Griechische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte 3515069151, 9783515069151

Der Sammelband von Studien des Marburger Althistorikers vereinigt in sich Arbeiten zur griechischen Geschichte und Numis

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German Pages 238 [244] Year 1996

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Table of contents :
INHALT
Vorwort
Spartaforschung und Spartabild
Die Griechen und das Geld
Antike Siegesprägungen
N. D. Fustel de Coulanges und die antike Gesellschaft
Ernst Curtius und Jacob Burckhardt
Griechische Geschichte zwischen Adolf Holm und Ettore Lepore
Zu Belochs Rezeption in Deutschland
Arnaldo Momigliano und die deutsche Geschichts- und Altertumswissenschaft
Die Griechen und die Anderen
Die Verdrängten – Zur Existenz des Historikers
Nachträge (1996)
Register
Verzeichnis der Abbildungen
Verzeichnis der Erstpublikationen
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Griechische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte
 3515069151, 9783515069151

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Karl Christ

Griechische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte HISTORIA Einzelschriften 106

Franz Steiner Verlag Stuttgart

KARL CHRIST GRIECHISCHE GESCHICHTE UNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE

HISTORIA ZEITSCHRIFT FÜR ALTE GESCHICHTE REVUE D’HISTOIRE · ANCIENNE J OURNAL OF ANCIENT HISTORY RIVISTA · · DI STORIA ANTICA

EINZELSCHRIFTEN HERAUSGEGEBEN VON HEINZ HEINEN/TRIER FRANÇOIS PASCHOUD/GENEVE KURT RAAFLAUB/WASHINGTON · D.C. HILDEGARD TEMPORINI/TÜBINGEN

GEROLD WALSER/BASEL ·

HEFT 106

FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART

1996

KARL CHRIST

GRIECHISCHE GESCHICHTE UND WISSENSCHAFTSGESCHICHTE

MIT 7 TAFELN

FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART

1996

CIP-Einheitsaufnahme DieDeutsche Bibliothek – [Historia / Einzelschriften] Historia : Zeitschrift für alte Geschichte. Einzelschriften. – Stuttgart : Steiner Früher Schriftenreihe Reihe Einzelschriften zu: Historia NE:Historia-Einzelschriften H. 106. Christ, Karl: Griechische Geschichte und 1996 Wissenschaftsgeschichte. –

Christ, Karl: Griechische Geschichte undWissenschaftsgeschichte Christ. –Stuttgart : Steiner, 1996 (Historia : Einzelschriften; H. 106) 1 06915– 515– ISBN 3–

/ Karl

ISO 9706

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig undstrafbar. Diesgilt insbesondere fürÜbersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung odervergleichbare Verfahren sowie fürdieSpeicherung inDatenverarbeitungsanlagen. © 1996byFranz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, SitzStuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Rheinhessische Druckwerkstätte, Alzey. Printed in Germany

INHALT

Vorwort

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Spartaforschung undSpartabild Die Griechen unddasGeld

9 59 78

Antike Siegesprägungen

N.D. Fustel deCoulanges unddieantike Gesellschaft

114 123 144 157

Ernst Curtius undJacob Burckhardt Griechische Geschichte zwischen Adolf HolmundEttore Lepore ZuBelochs Rezeption in Deutschland Arnaldo Momigliano unddiedeutsche Geschichts- undAltertumswissenschaft Die Griechen unddie Anderen

171 183

Die Verdrängten –ZurExistenz desHistorikers

187

Nachträge (1996)

219

Register Verzeichnis derAbbildungen Verzeichnis derErstpublikationen

226 237 238

VORWORT

Dervorliegende Sammelband vereinigt in sich Studien auseinem Zeitraum von über drei Jahrzehnten. In chronologischer Hinsicht stehen jene Arbeiten am Beginn, die im Felde der griechischen Numismatik entstanden, als sich der Verfasser –damals Stipendiat derKommission für Alte Geschichte undEpigraphik –insbesondere mitdenMünzen desantiken Siziliens sowie mitderhistorischen Auswertung derMünzfunde zubeschäftigen hatte.1 ImZusammenhang mitderMarburger Lehrtätigkeit rückten danndiewissenschaftsgeschichtlichen Ansätze in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Neben der Bemühung um Sparta und das Spartabild sind dabei insbesondere jene Beiträge hervorzuheben, die N.D. Fustel de Coulanges, E. Curtius, J. Burckhardt, A. Holm, K. J. Beloch, A. Momigliano undE. Lepore gewidmet waren. Mehrere unter ihnen entstanden aus deutsch-italienischen Initiativen zurErforschung der Wissenschaftsgeschichte der althistorischen Disziplin,2 wie sie für unsere Generation insbesondere A. Momigliano in Gang gesetzt hat.3 Andere sind im Umfeld der zahlreichen Kurzbiographien führender Althistoriker der Neuzeit erwachsen, die derAutor in zwei Bänden vorlegte.4 Insgesamt gesehen, dürften diezumTeil anentlegenen Stellen erschienenen Studien diewesentlichen Etappen dermodernen Forschungen über dasantike Hellas nachzeichnen. DieArbeiten wurden unverändert nachgedruckt. Nachträge undHinweise auf neuere Literatur zu denjeweiligen Themenkreisen sind amEnde des Buches in knapper Form zusammengefaßt. Der Verfasser ist den Herausgebern dieser Reihe für die Aufnahme der Sammlung in die angesehenen HISTORIA-Einzelschriften besonders dankbar, ebenso den Verlegern, die den Wiederabdruck erlaubten, nicht zuletzt Herrn Vincent Sieveking, derdasProjekt imSteiner Verlag vorbildlich betreute.

Marburg, April 1996

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Karl Christ

Vondenhier nicht aufgenommenen Untersuchungen seien erwähnt: Historische Probleme 395; Sizilien. Literaturüberder griechisch-sizilischen Numismatik, Historia 3, 1955, 383– blick der griechischen Numismatik, Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 5/6, 228; ZurChronologie dersyrakusanischen Münzprägung des IV. Jh. v. Chr., 1954/55, 181– Jahrbuch für Numismatik undGeldgeschichte 8, 1957, 21– 29. –Ergebnisse undProbleme 253 –Siehe zum der keltischen Numismatik undGeldgeschichte, Historia 6, 1957, 215– Gesamtbereich auch K. Christ, Antike Numismatik, Darmstadt 19913. Insbesondere gilt dies für K. Christ –A. Momigliano (Hrsg.), Die Antike im 19. Jahrhundert inItalien undDeutschland. Jahrbuch desitalienisch-deutschen historischen Instituts in Trient. Beiträge, Band 2. Bologna-Berlin 1988. Vergleiche A. Momigliano, Wege in die Alte Welt. Berlin 1991, vor allem jedoch dessen 1992. Contributi alla storia degli studi classici e del mondo antico. 9 Bände. Rom 1955– (Bd. 10 in Vorbereitung). Von Gibbon zuRostovtzeff. Darmstadt 19893; Neue Profile der Alten Geschichte. Darmstadt 1990. –Dazu nunauch VonCaesar zuKonstantin. München 1996.

SPARTAFORSCHUNG UNDSPARTABILD

Es ist noch niemals gelinde zugegangen, wennsich eine neue Macht „ bildete, undSparta ist wenigstens wirklich eine solche geworden im Verhältnis zuallem, wasringsum lebte; eshatesaber auchderganzen gebildeten Weltauferlegen können, daß sie Kenntnis nehmen mußvon ihmbis an denAbend ihrer Tage, so groß ist derZauber eines mächtigen Willens, selbst über späte Jahrtausende, auch wennkeine Sympathie dazumithilft.“ (J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte. I. Ed.Darmstadt 1956,93.) Jahrhunderte hindurch, ja überzweiJahrtausende hinweg hatderBegriff „ Sparta“ dieverschiedenartigsten Assoziationen ausgelöst, Politiker wieGelehrte fasziniert, ebenso entschiedene Ablehnung wievolle Bewunderung odergarbegeisterte Nachahmung hervorgerufen. Dabei stehen –ähnlich wieimFalle derattischem Demostatistische Größen einerseits und kratie oderderklassischen römischen Republik – historische Bedeutung wie Macht der Tradition andererseits in einem extremen Gegensatz. Eine Herrenschicht, die selbst in der Blütezeit ihres Staates undihrer Gesellschaft nurwenige tausend Menschen umfaßte, beherrschte zeitweilig den größten Teil Griechenlands. Sparta wurde nicht allein zumPrototyp desklassischen griechischen Polizeistaates schlechthin, zumGegenbild derattischen Demokratie mitihrem Anspruch, demVollbürger ein Maximum anFreiheit zugewährleisten, sondern darüber hinaus zumvollendeten Verfassungsmodell, das die Herrschaft einer Minderheit in Staat undGesellschaft wirksam undaufDauer garantierte. Doch schon inderAntike warhistorische Realität erstarrt, umgewandelt undzu einem Mythos erhoben worden, wurde ein historischer Prozeß in enthistorisierte Schemen umgesetzt. AufGrund bestimmter politischer wiegesellschaftlicher Interessen wurden konkrete historische Erscheinungen, diesich innerhalb eines einmaligen undspeziellen Kräftefeldes ausgebildet hatten, idealisiert undideologisiert. Schon inderAntike formiert sich„ , „thelegend of Sparta“ lemirage spartiate“ , „the –wiediebezeichnenden Titel jener modernen Werke lauten, die Spartan Tradition“

sich mit diesem Phänomen befaßten.1 Gerade weil jene Sparta-Tradition alles andere als einheitlich war, nahm sie schließlich einungewöhnliches Ausmaß an.Vorallem umfaßte siedieverschiedensten Ebenen: die primär wissenschaftliche Bemühung umein historisch adäquates

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F. OLLIER, Le mirage spartiate. Étude surl’idéalisation deSparte dans l’antiquité grecque. I. De l’origine jusqu’auxcyniques. Paris 1933; II. Dudébut del’école cynique jusqu’à la fin de la cité. Paris 1943. NDr. 1973; E. N.TIGERSTEDT, The Legend of Sparta inClassical Antiquity. 3 Bde. Stockholm 1965– 1978; E. RAWSON, The Spartan Tradition in European Thought. Oxford 1969. –Das Kapitel Per unastoria dell’idea di Sparta nella cultura moderna bei P. JANNI, La Cultura diSparta Arcaica. 1.Rom1965, 15– 42 wurde durch dieMonographie vonE. RAWSON

überholt.

Spartaforschung undSpartabild

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Spartabild ebenso wiejene Fülle vonWertungen undÄußerungen über Sparta, die Spartaner, Idole der spartanischen Geschichte (Lykurg, Pausanias, Agis und Kleomenes) oder bestimmte Ereignisse (Thermopylen) bei Dichtern, Künstlern, Politikern undMilitärs. Doch sie umfaßte ebenso die Vermittlung spartanischer Normen im Bereich der Erziehung, in Jugendbewegung, Männergruppen, nicht zuletzt in unzähligen elitären undweniger elitären Schulen. Die Tradition Spartas ist so gleichsam auf allen Stufen der europäischen Gesellschaft zu fassen, im universitären Bereich undbei führenden Philosophen vomRange eines Hegel und Toynbee nicht weniger alsin Konvikten, Colleges und„ Adolf-Hitler-Schulen“ . Forschungsstand, wissenschaftliche Erkenntnis undallgemeines Geschichtsbild sind dabei auch hier keineswegs identisch. Verständnis, Mißverständnis und Manipulation derspartanischen Tradition durchliefen eine weite Skala. DieSpezialforschung hatte es ziemlich schwer, die mit Lykurg verbundenen Vorstellungen kritisch zu reduzieren, ein angemessenes Bild der Kultur des archaischen Sparta durchzusetzen, in derbürgerlichen Gesellschaft Verständnis fürdieEigenart spartanischer Homoerotik zu vermitteln oder zu einer nüchternen Einschätzung der Vorgänge andenThermopylen zugelangen. Andererseits ist ebenso unverkennbar, daßauchdiese Spezialforschung durch Gegenwartsimpulse akzentuiert, wennnicht gar, wie in denZeiten dernationalsozialistischen Ära, teilweise politischen Zielsetzungen untergeordnet unddeformiert wurde. Die Vorstellung wäre banal, daß alle Studien eines bestimmten Zeitraumes lediglich dieherrschende Ideologie derbetreffenden Epoche, derjeweiligen Gesellschaft oder desspeziellen Staates aufdie spartanische Geschichte undZivilisation projizieren würden. Eine solche Annahme wäre für das nationalsozialistische spätkapitalistischen Westen“oder für die Deutschland ebenso falsch wiefürden„ dem historischen Materialismus offiziell verpflichtete Deutsche Demokratische Republik. In Wirklichkeit sind die Wechselbeziehungen sehr viel schwieriger zu erfassen, vielschichtiger und differenzierter. Für sie eine erste Orientierung zu geben ist dasZiel dieser einleitenden Skizze. Dabei sollen insbesondere diedeutschen Entwicklungen des 18. bis 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt stehen.

I Die Wiedergewinnung des klassischen

Altertums

in der Renaissance

leitete

zwar in ganz Europa eine Epoche neuer Beschäftigung mitdenErscheinungen der spartanischen Gesellschaft und Geschichte ein, sie führte indessen zu keinem einheitlichen undinsich geschlossenen Spartabild.2 Parallel zurNeuentdeckung der antiken Autoren,

2

vorallem Platons, Xenophons undPlutarchs, kamesvielmehr zur

Die folgende Skizze fußt auf der Pionierarbeit von E. RAWSON. Für alle Einzelheiten und Belege sei daher generell auf dieses vorzügliche Werk verwiesen. (Siehe zu ihm auch die 233; G. HUXLEY, Gnomon Rezensionen vonO. MURRAY, The Classical Review 21, 1971, 231– 379, letztere insbesondere für 718; G. BOAS, History andTheory 10, 1971, 374– 43, 1971, 717– denamerikanischen unddenErziehungsbereich, die bei RAWSON nurgestreift werden konnten.)

15.– 17.Jahrhundert

11

Konzentration auf einzelne Elemente undAspekte der Überlieferung, wobei zunächst moralisierende undim weitesten Sinne pädagogische Interessen überwogen. Die Grundlage dafür boten nicht allein diebeliebten Übersetzungen vonPlutarchs bioi paralleloi, sondern nicht weniger jene der Moralia und der Apophtegmata Laconica, die sich denkbar weitester Resonanz erfreuten. Schon seit dem 15. Jh. wurde Sparta so zueinem Erziehungsideal. Es gewann eine Funktion, diees noch lange Zeit inFürstenspiegeln wieinähnlichen Schriften behaupten sollte. DochseitdemZeitalter derReformation erlangte daneben auchdieverfassungspolitische Perspektive immer größere Bedeutung. Dasich damals dasProblem der Begrenzung absoluter Königs- undFürstenmacht inneuer, existentieller Dringlichkeit stellte, wurde gerade denspartanischen Ephoren seit denTagen Melanchthons undCalvins besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die 1579 erschienene Schrift >Vindiciae contra Tyrannos< ist ein klassisches Beispiel für die bewußte Aktualisierung undPolitisierung spartanischer Institutionen in diesem weiteren Zusammenhang. Doch die Reihe derAutoren, die sich bei ihren politischen undverfassungsrechtlichen Erörterungen auf dashistorische exemplum Spartas beriefen, umfaßte selbst noch J. Althusius (Politica methodice digesta. 1603) undH. Grotius (De iure belli et pacis. 1625). Ihnen allen wargemeinsam, daßes ihren Schriften nicht inerster Linie umdiespartanische Geschichte undZivilisation ging, sondern umdieLegitimation eigener politischer Überzeugungen durch denHinweis aufdas imeinzelnen nurvage bekannte spartanische Vorbild. Seit Thomas Morus’Utopia (1516) spielte dasspartanische Gesellschafts- und Staatsmodell zudem, wenn auch wiederholt mißverstanden, in der Konstruktion frühneuzeitlicher Utopien eine nicht geringe Rolle. Während Familie undEigentum von Utopisten und Gesellschaftstheoretikern mehr und mehr in Frage gestellt wurden, spartanische Phänomene damit durchaus gebilligt waren, ließ sich freilich J. Bodin inseinen Six livres delaRépublique (1576) davon nicht irritieren, sondern hielt inseiner Kritik einzelner Elemente derspartanischen Gesellschaft konsequent andentraditionellen christlichen Normen fest. Bezeichnend fürdas 16.und17.Jh. wurden daneben jedoch die zahlreichen Vergleiche derLebensformen undSitten exotischer Völker mitjenen Spartas, wie sie schon in Bartolomé de las Casas’ monumentaler Apologetica Historia de las Indias (1527 ff.) gemäß aristotelischen Kriterien zufinden waren. Mitdembreitangelegten undgediegenen Werk vonN.Cragius (DeRepublica Lacedaemoniorum libri IV. 1593) begann danndie Reihe derprimär wissenschaftlich orientierten Spartaliteratur des 17. Jh.3 War Cragius noch vor allem an der Erforschung der spartanischen Institutionen undanderVermittlung spartanischer Tugenden interessiert, so wurde ein Teil derfolgenden Untersuchungen vondem

3

Noch durch den Thesaurus Graecarum Antiquitatum, contextus et designatus ab Jacobo 2675 fand dasWerk eine weite Verbreitung, ebenso Gronovio. Vol. V. Venedig 1732, 2497– dieerstmals 1666 erschienenen Miscellanea Laconica desJohannes Meursius (Jan deMeurs), 2496, diebewußt –mitenzyklopädisch-antiquarischem Charakter dasBuchvonN. a.O., 2281– CRAGIUS ergänzen sollten. Erstpublikation: Io. Meursii Miscellanea Laconica, sive variarum antiquitatum Laconicarum l. IV nunc primum editi cura Samuelis Rudendorfii. Amstelodami 1666.

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Spartaforschung

undSpartabild

Pseudoproblem derParallelität spartanischer undjüdischer Verfassung, mehrnoch durch die Konstruktion von Genealogien undVerwandtschaftsbeziehungen zwischen jenen beiden Völkern absorbiert. Die Wertschätzung des spartanischen Verfassungsmodells im Sinne einer idealisierten Mischverfassung4 hielt auchimelisabethanischen England an.Milton bewunderte Sparta noch immer, dannwurde Cromwell mitLykurg verglichen. Zu einem derbedeutsamsten Autoren derÄraCromwells wurde dergroße Kritiker des Lord-Protektors, James Harrington, dessen >Oceana< von 1656 starke Beachtung fand. DaHarrington dabei aufeine vertiefte Bemühung umdiehistorischen Grundlagen politischer Vorstellungen größten Wertlegte, wurde Sparta vonihmineinen ähnlichen Rang erhoben wie RomundVenedig.5 Nach derRückkehr derStuarts begann die Diskussion umdie beste Verfassungsform undumdie Beschränkung monarchischer Macht vonneuem. Sowurden auchinHenry Nevilles Plato Redivivus (1681) wieder einmal spartanische Normen imallgemeinen unddasVorbild Lykurgs im besonderen beschworen, dabei nicht weniger positiv bewertet als einige Zeit später in Walter Moyles >An Essay on the Roman, andon the Lacedaemonian, Governments< (1698). AnderWiederbelebung undVergegenwärtigung derTradition Spartas hatten indessen auch andere literarische undkünstlerische Formen einen bedeutenden Anteil. Plutarchs Lebensbeschreibungen vonAgis undKleomenes regten während desspäten 16. undimganzen 17. Jh. immer wieder zudramatischen Gestaltungen an, wie zumBeispiel denjenigen vonG. Guérin de Bouscal (1640, 1642) undJ. Dryden (1692). Aber auch andere spartanische Könige wurden nunaufderBühne präsentiert, so Pausanias durch Ph.Quinault (1662) undAgesilaos durch Corneille (1666). Schließlich nahm sich auch die Oper des späten 17. unddes frühen 18. Jh. spartanischer Themen an. Im 18. Jh. sollten die Entwicklungen in Frankreich auch für unsere spezielle Thematik entscheidend werden. Schon Fénelon hatte in seinen >Dialogues des Morts< Leonidas zumidealen König stilisiert, in >Les Aventures deTélémaque< (1699) schließlich spartanische Erziehungsgrundsätze zumindest indirekt gewürdigt. Nicht durch Montesquieu, derim>L’Esprit desLois< von 1748 Sparta nicht entfernt so starke Beachtung schenkte wie Rom, sondern durch J.-J. Rousseau wurde dann gerade Sparta wieder in denMittelpunkt vonprinzipiellen geistigen Auseinandersetzungen gerückt: „Habe ich vergessen, daßimeigentlichen Schoße Griechenlands jene Stadt emporwuchs, diesowohl durch ihre glückliche Unwissenheit wie durch die Weisheit ihrer Gesetze berühmt ist –jene Republik eher von Halbgöttern denn von Menschen –so sehr schienen ihre Tugenden denen der

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5

Siehe hierzu speziell

W. NIPPEL,

Mischverfassungstheorie undVerfassungsrealität

in Antike

undfrüher Neuzeit. Stuttgart 1980 (Geschichte undGesellschaft, 21). Die fundamentale Bedeutung, die Sparta für Harrington besaß, geht schon allein daraus hervor, daß gerade sein Spartabild in zwei Gegenschriften attackiert wurde, in MATTHEW WRENS Considerations onMr. Harrington’s Commonwealth of Oceana (1677) undin HENRY AnAccount STUBBS TheCommenwealth of Oceana putinto theBallance andfound toolight – of theRepublic of Sparta withoccasional Animadversions uponMr.James Harrington andthe Oceanistical Model (1660).

18.Jahrhundert 17.–

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Menschheit überlegen zusein. O Sparta, dauernder Gegenbeweis gegen eine eitle Doktrin! Während –geführt von den schönen Künsten –die Laster in Athen zusammen ihren Einzug hielten unddorteinTyrann mitsoviel Eifer dieWerke des Dichterkönigs sammelte, jagtest dudie Künste unddie Künstler, die Wissenschaf6 tenunddieGelehrten ausdeinen Mauern.“ Rousseau hatnicht nurhier, im>Discours surles sciences et les artsRecherches philosophiques surlesGrecs< (1788)8 derLakonophilie gleichsam denwissenschaftlichen Boden, als er Plutarchs Leben des Lykurg kritisch analysierte unddessen Inhalt alsvielfach anachronistisch zuentwerten suchte. Die Revolutionäre von 1789 fanden ihre Ideale zunächst in der athenischen Demokratie undvor allem in derrömischen Republik.9 Erst nachdem 1792/3 der protestantische Geistliche Rabaut-Saint-Étienne auf vorbildliche Elemente der spartanischen Verfassung hingewiesen hatte, blieb dasSparta-Thema für geraume Zeit ein Argument in derleidenschaftlichen politischen Diskussion, obwohl dem spartanischen Gesetzgeber Lykurg zumeist Solon vorgezogen wurde undSparta – insgesamt gesehen –eher eine zweitrangige Rolle spielte. Zugrößerer Bedeutung gelangte es freilich vorübergehend durch die Erziehungskonzeption des Comité

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9

J. J. ROUSSEAU, Über Kunst undWissenschaft, in: DERS., Schriften zurKulturkritik. Hrsg. von K. WEIGAND. Hamburg 21971, 21. Vergleiche G. BORGHERO, Sparta tra Storia e Utopia. Il significato e la funzione delmito di Sparta nelpensiero diJ. J. ROUSSEAU. Cagliari 1973. Vgl. TH.SCHLEICH, Aufklärung undRevolution. Die Wirkungsgeschichte G. B. de Mablys in 1914). Stuttgart 1981 (Sprache undGeschichte, 5). Frankreich (1740– Damit setzte sich insbesondere CHR.G. HEYNE, DeSpartanorum rep. et institutis iudicium sine Facile cupiditate et ira factum, Soc. Regiae scient. Gott. Comm. IX, 1787/8 auseinander: „ itaque velex hacprofessione intelligitur, neque magnopere admirari meLacedaemonios, nec

tamen omnino deprimere; verum agere id ut argumenta utrinque accuratius inspiciam, inprimisque videam Viri Cl. de Pauw docte disputata quo fundo quaque antiquitatis auctoritate –Zu nitantur; quidve abopinione, coniectura, suspicione, odiove et cupiditate sit profectum.“ C. DEPAUWundder französischen Entwicklung siehe N. LORAUX et P. VIDAL-NAQUET, La 1870, in: R. R. BOLGAR formation de l’Athènes bourgeoise: essai d’historiographie 1750– 1870. Cambridge 1979, 180ff. (Ed.), Classical Influences onWestern Thought A.D. 1650– H. T. PARKER, The Cult of Antiquity andthe French Revolutionaries. Chicago 1937; H.-W. JÄGER, Politische Metaphorik imJakobinismus undimVormärz. Stuttgart 1971.

14

Spartaforschung

undSpartabild

d’Instruction Publique delaConvention Nationale vonEnde 1792, dieanspartanische Prinzipien anknüpfte. Danach traten andere Aspekte der Sparta-Tradition in den Vordergrund: So griff Gracchus Babœ uf um 1793 im Zusammenhang mit seinen Agrar- und Wirtschaftstheorien wieder einmal auf Lykurg und Agis zurück. Dichtern und Komponisten wurde injenen Jahren derEhrenname eines „neuen Tyrtaios“verliehen, Robespierre vonC.-J. Trouvé mitPausanias verglichen. DieRevolutionskriege unddie ÄraNapoleons mobilisierten dann wieder die heroischen Reminiszenzen. Schon 1793 nannte sich die Stadt Saint-Marcellin im Rahmen einer Entchristianisierungskampagne in «Thermopyles» um.DerThermopylen- undLeonidasstoff wurde in Loaisels >Combat de Thermopyles ou l’école des guerriers< (1794) ebenso gestaltet wieindem«tableau lyrique» vonG.dePixérécourt >Léonidas ou le départ des Spartiates< (1799) oder schließlich in Davids berühmtem Leonidasgemälde, das 1814 erstmals ausgestellt wurde.

II

In der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jh. war Sparta zunächst nur von untergeordneter Bedeutung. Gottsched, der in seinem >Agis, König von Sparta< (um 1745) die Apotheose eines „bürgerlichen“Agis wagte, lehnte sich wie üblich anPlutarch undandenStil derklassischen französischen Tragödie an. Eine neue Perspektive findet sich dagegen bei Winckelmann. In dessen >Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in Malerei undBildhauerkunst< von 1755 wurde Sparta zujener Stätte, in welcher das normative griechische Körperideal unter derAufsicht derEphoren dankeines einfachen, natürlichen undharten Lebensstils realisiert worden war. Jene ideal gesehenen nackten Körper aber hätten den Künstlern einzigartige Modelle geboten, ohne die wiederum die Vollendung der griechischen Kunstwerke nicht denkbar war. Doch so groß Winckelmanns Einfluß auf Goethe und die deutsche Klassik werden sollte10, die ästhetisch-idealisierende bürgerliche Betrachtung wandte sich mehr undmehr Athen11 zu. Ungeachtet dereinseitigen Idealisierung des Griechentums, die in derzweiten Hälfte des 18. Jh. auf vielen Ebenen desdeutschen Kulturraums einsetzte, blieben 10 Zur geistigen Entwicklung allgemein siehe W. REHM, Griechentum und Goethezeit. Bern 41968; A. HENTSCHKE –U. MUHLACK, Einführung indieGeschichte derKlassischen Philologie. Darmstadt 1972; P. SZONDI, Antike undModerne in der Ästhetik der Goethezeit, in: DERS., 265; R. PFEIFFER, History of Classical Poetik undGeschichtsphilosophie. I. Frankfurt 1974, 111– 1850. Oxford 1976; U. MUHLACK, ZumVerhältnis vonKlassischer PhiloloScholarship 1300– gie undGeschichtswissenschaften im 19.Jh., in: Philologie undHermeneutik im 19.Jh. Hrsg. 239. ZuWinckelmann: C. JUSTI, Winckelmann und vonH.FLASHAR u.a. Göttingen 1979, 225– seine Zeitgenossen. 3 Bde. Leipzig 51954; S. MAZZARINO, II mutamento delle idee sulla 53. ‘antichità’ nell’ottocento, Helikon 9/10, 1969/70, 39– DennGriechenland stieg und HUMBOLDT: „ 11 Charakteristisch dafür ist dieÄußerung vonW.VON sank mit Athen ...“G esammelte Schriften III. Berlin 1904, 181. –Generell W. STADLER, Wilhelm vonHumboldts Bild derAntike. Zürich 1959; M.PAVAN, SuWilhelm vonHumboldt 346. e la comprensione dell’antichità classica, Parola delPassato 20, 1965, 326–

Winckelmann, Herder, Schiller

15

die Autoren Sparta gegenüber nicht unkritisch. Herder etwa konstatierte: „Lykurg hatte freiere Handals Solon; er ging aber in zualte Zeiten zurück undbaute einen Staat, als ob die Welt ewig imHeldenalter derrohen Jugend verharren könnte. Er führte seine Gesetze ein, ohne ihre Wirkungen abzuwarten, undfür seinen Geist wäre es sehr wohl die empfindlichste Strafe gewesen, durch alle Zeitalter der griechischen Geschichte die Folgen zu sehen, die sie teils durch Mißbrauch, teils durch ihre zu lange Dauer seiner Stadt undbisweilen demganzen Griechenlande 12 verursacht haben.“ Gleichwohl rühmte auch Herder „ das hohe Edle“des „Gemeinsinnes“in den griechischen Staaten, feierte auch er die Haltung derThermopylenkämpfer: „ Die Grabschrift jener Spartaner, diebeiThermopylä fielen: Wanderer, sag’s zuSparta, daßseinen Gesetzen gehorsam Wirerschlagen hier liegen

bleibt allemal derGrundsatz derhöchsten politischen Tugend, bei demwir auch zwei Jahrtausende später nurzubedauren haben, daßer zwareinst aufderErde der Grundsatz weniger Spartaner über einige harte Patrizier-Gesetze eines engen Landes, noch nie aber dasPrincipium fürdiereinen Gesetze dergesamten Menschheit hat werden mögen. Der Grundsatz selbst ist der höchste, denMenschen zu ihrer 13Warfür Herder AufGlückseligkeit undFreiheit ersinnen undausüben mögen.“ klärung gleichsam mitAthen identisch, so Patriotismus mitSparta. So folgerte er: Da nunPatriotismus undAufklärung die beiden Pole sind umwelche sich alle „ Sittenkultur derMenschheit beweget: so werden auch Athen undSparta immer die beiden großen Gedächtnisplätze bleiben, auf welchen sich die Staatskunst der 14 Menschen über diese Zwecke zuerst jugendlich-froh geübt hat.“ Stand für Herder die Ausbildung derHumanität als entscheidendes Kriterium der menschlichen Geschichte fest, so ähnlich für Schiller der „Zweck der Mensch. In seiner Vorlesung von 1789 über >Die Gesetzgebung des Lykurgus und heit“ ein vollendetes KunstSolonSchulen dergriechischen Poesie< lautet: „

Romantik

–K. O. Müller

19

gelangt. Indem erseine Konzeption des„ Dorischen“vorallem vonPindar ableitete, wurde die frühe griechische Lyrik als genuin dorisch qualifiziert, als dasZentrum des Dorischen schlechthin aber Sparta herausgestellt, das so zugleich denälteren und reineren Strang griechischer Tradition verkörperte. Stammeseinheit und Stammescharakter wurden damit stark akzentuiert, speziell dasDorische gleichzeitig aber auch mit demNatürlichen der Frühzeit identifiziert, die „Männerliebe“ folglich ebenso positiv gesehen wiedieNacktheit derdorischen Menschen beiihren Übungen oderjenes allgemeine Streben nachdemIdeal desSchönen, dasSchlegel überhaupt als Grundzug des dorischen Lebens verstanden wissen wollte. Parallel dazuging seine Kritik amVerhalten derJonier. Nicht zuletzt durch Schlegel wardieEinheit dergriechischen Stämme undihres identischen Charakters, strukturiert insbesondere durch den konsequenten Antagonismus desDorischen unddesJonischen, als Grundmuster dergriechischen Zivilisation undGeschichte eingeführt worden.36 A. Böckh37 undJ. F. C. Kortüm38 griffen diese Ideen auf, am folgenschwersten sollte indessen die bewußte Historisierung dieser Konzeption durch K. O. Müller werden, derdaranging, eine breit angelegte >Geschichte hellenischer Stämme undStädte< zu verfassen, ein Werk, dasseit 1820 zuerscheinen begann undin den 1824 publizierten Bänden II undIII über>Die Dorier< seinen Höhepunkt erlebte, danach aberunvollendet blieb. Wie in seiner Lehr- und Forschungstätigkeit39, so suchte Müller auch hier die Bereiche von Mythologie und Religion, Archäologie und Geographie, Philologie undPhilosophie, Verfassung, Sitten undGeschichte zuverbinden. Sein Ansatz war

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zumStudium dieser Schule ist derCharakter derDorier selbst während ihrer schönsten Zeit, welchen manaus demThucydides undauch aus demPindar kennen lernt. Der Ton ihrer Sittlichkeit warGröße, Einfalt, Ruhe; friedlich unddochheldenmütig, lebten sie ineiner edeln Freude. Eben dieser Geist: Größe, Einfalt undRuhe, beseelte ihre Verfassungen und ihr bürgerliches Leben, erzeugte ihre gerühmte Eunomie. Die Grundlage ihres Charakters war eine schöne Anhänglichkeit an väterliche Sitte undväterlichen Glauben. Ihre Bildung, ihre Tugend selbst wareine väterliche Sitte.“A.a.O., 10. Undin den>Vorarbeiten ...< hieß es: „ Aber nicht auf den Begriff des Gesetzes und der Gerechtigkeit war der dorische Staat gegründet, in welcher Hinsicht er wenigstens unsern Forderungen undAnsichten vomRecht undeinem aufdasRecht gegründeten Staat übelentsprechen würde; sondern es warderZweck desdorischen Staats dieEinheit oderdievollkommene Gemeinschaft aller inihmverbündeten Kräfte unddurch ihn gebildeten Naturen, unddie ausdiesem gemeinsamen Leben hervorragende Liebe undBegeisterung deredlen Geschlechter undfreien Bürger; die bald unter den besonderen Gestalten dermännlichen Freundschaft, derRuhmbegierde oder derAufopferung fürdasVaterland hervortrat, zuderaberderallgemeine Keimschon indemstillen Gemüt und Bewußtsein jenes schönen, gemeinsamen Lebens lag.“a .a.O., 604. Vgl. zu diesem Themenkreis ausder modernen Literatur insbesondere E. WILL, Doriens et Ioniens: essai sur la valeur ethnique appliqué à l’étude d’histoire et de civilisation grecque. Paris 1956; I. WEILER, Von ‚Wesen‘, ‚Geist‘ und ‚Eigenart‘ der Völker der Alten Welt, Innsbrucker Beiträge zurKulturwissenschaft 18, 1974, 243 ff. A. BÖCKH, Enzyclopädie undMethodologie derPhilologischen Wissenschaften. Leipzig 1877, 281 ff. J. F. C. KORTÜM, ZurGeschichte Hellenischer Verfassungen. Heidelberg 1821. Zu K. O. MÜLLER siehe: O. undE. Kern, Karl Otfried Müller. Lebensbild in Briefen an seine Eltern mit demTagebuch seiner italienisch-griechischen Reise. Berlin 1908; K. O. MÜLLER, 1840. 2 Bde. hrsg. von S. REITER. Berlin 1950. Briefe aus einem Gelehrtenleben. 1797–

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somit unvergleichbar komplexer als derjenige Schlegels, die Wirkung des Werks, das in so vielfacher Hinsicht derromantischen Zeitströmung entgegenkam, nicht zuletzt deshalb besonders tief. DerStamm derDorier wurde auchvonMüller gleichsam individualisiert undin all seinen Äußerungen undHandlungen als organische Einheit betrachtet.40 Natur und Landschaft, Mythen und Religion formierten nach ihm das Wesen dieses Stammes, dieStruktur seiner Gesellschaft undschließlich auchdieInstitutionen des Staates41 ebenso wie die äußeren Vorgänge der politischen Geschichte. Die durchgehende Idealisierung derretrospektiven Orientierung Spartas dankderVerfassung Lykurgs aber war für Müller entscheidend. Im Festhalten an den traditionellen Gesellschafts- undVerfassungsstrukturen sah er zugleich die Behauptung einer naturhaften undreligiös sanktionierten Ordnung. Ob es sich umdiese Strukturen oderumSpartas Erziehungssystem handelte, Müller erblickte inihnen stets Bindungen und „Kunstwerk“zugleich. Alles, was seiner einseitig idealisierenden Betrachtungsweise entgegenstand, wurde beiseite geschoben oder harmonisiert, die Lage derHeloten42 ebenso wiedieInstitution derKrypteia.43 Zu-undUnterordnung desEinzelnen gegenüber demGanzen belegte Müller als Grundzug dorischen Wesens in Religion wiein Philosophie, Musik wieArchitektur, in der Gesellschaft wie im spezifisch spartanischen Freiheitsbegriff.44 Diese Dominanz von Einheit undGemeinschaft aber waren nicht allein Resultate von Erziehung oder Zwang, sondern Ausfluß vongelebter Tradition, auf Überzeugung undfesten Bindungen beruhenden Normen, kurzum eines durch unddurch harmonischen Lebens. –Es kann kaumüberraschen, daßMüllers methodisch neuartiger und anspruchsvoller Ansatz auf ebenso leidenschaftliche Kritik stieß wie seine verklärenden Wertungen.45 Sehr viel überraschender ist, daß das einseitige Werk weithin respektiert blieb, während desganzen 19. Jh. undweit darüber hinaus von keiner anderen Gesamtdarstellung übertroffen, in seiner Grundkonzeption zumeist nurindirekt korrigiert wurde. In seinen in denzwanziger Jahren des 19. Jh. wiederholt vorgetragenen, erstmals 1837 publizierten Vorlesungen überdie>Philosophie derGeschichte< gingG. W.F. Hegel naturgemäß voneiner sehrviel breiteren Basis ausalsK. O.Müller, mit dessen Position er sich kritisch auseinandergesetzt hatte.46 Im Rahmen seiner weltgeschichtlichen Konzeption undTeleologie fielen hier wie auch an anderen 397. Siehe dazu Die Dorier. II. Breslau 21844, 392– 15. A.a.O., 1– A.a.O., 28 ff. A.a.O., 37 ff. „ Die hohe Freiheit des Spartiaten wie des Hellenen überhaupt war eben nichts als ein lebendiges Glied desGanzen zusein, während wasmanin neuerer Zeit gewöhnlich Freiheit nennt, darin besteht, vom gemeinen Wesen möglichst wenig in Anspruch genommen zu werden“ ; a.a.O., II, 2. 45 AufdieRezensionen vonE. R. LANGE, Jenaer Allgemeine Literatur-Zeitung 1824, 242 ff. und F. C. SCHLOSSER, Heidelberger Jahrbücher 1824, 898ff. erwiderte Müller mitseinen Prolegomena zueiner wissenschaftlichen Mythologie. Göttingen 1825. 46 G. W. F. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie derGeschichte. Ed. Stuttgart 1961, 370, Anm. wendet sich gegen Müllers Interpretation geschriebener Gesetze.

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K. O. Müller –Hegel

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Stellen seines Werks nicht wenige positive Äußerungen über „ dieGriechen“allgemein.47 DochPriorität besaß fürHegel dabei ganzeindeutig dieDemokratie athenischer Prägung. Diese Demokratie stellte eine Entwicklungsphase dergriechischen Geschichte dar, indersich Sittlichkeit undFreiheit harmonisch durchdrangen, eine Phase, welche autonome Reflexion, Subjektivismus undausgeprägte Partialinteressen noch nicht kannte, ebensowenig die Verselbständigung des politischen Bereichs. DasIndividuum wurde hier imGegenteil mitSitte undobjektivem Willen identifiziert, selbst herausragende Individuen waren inderZeit vonSolon bis Perikles voll integriert. Als spezielle Faktoren dieser Form vonDemokratie wurden imübrigen Orakel, Sklaverei undKleinstaat hervorgehoben. Es ist evident, daßdiese Konzeption Hegels durch sein stark abstrahierendes philosophisches System ebenso determiniert wurde wie durch die Aufnahme des Freiheitsbegriffes und der Emanzipationsgedanken des 18. Jh. Es ist evident, daß vonhier auskein Wegzueiner Idealisierung derDorier undSpartas imSinne von K. O. Müller führen konnte. Sparta repräsentierte für Hegel deshalb lediglich „die starre abstrakte Tugend, dasLeben fürdenStaat, aber so, daßdie Regsamkeit, die Freiheit der Individualität zurückgesetzt ist. Die Staatsbildung Spartas beruht auf Anstalten, welche vollkommen das Interesse des Staates sind, die aber nur die 48Schon diese geistlose Gleichheit undnicht die freie Bewegung zumZiel haben.“ beiden ersten Sätze vonHegels Sparta-Abschnitt zeigen seine prinzipiell negative Bewertung an,diedannauchkonsequent durchgehalten wurde. , ihr Im Charakter der Spartaner lag für Hegel eine „unmenschliche Härte“ Verhältnis „ zu denUnterjochten (war) noch härter als das derTürken gegen die . Lykurgs Versuch, die Gleichheit Sklavenschiff“ Griechen.“Ihr Staat glich einem „ wie des Grundeigentums herbeizuführen, wareine Illusion. Er zeigte lediglich, „ töricht es sei, eine Gleichheit auf gezwungene Weise veranstalten zu wollen, welche, so wenig sie eine Wirksamkeit hat, noch dazu die wesentliche Freiheit, 49.Auch die Institution der nämlich die Disposition über dasEigentum, vernichtet“ Ephoren wurde negativ gesehen: „Ihre Gewalt wurde tyrannisch, der ähnlich, welche Robespierre und seine Anhänger eine Zeitlang in Frankreich ausgeübt 50 haben.“ Schließlich trat auchinSparta trotz aller rigiden Sicherungen desSystems –wie in Athen –„dasselbe Verderben ein, daß das Subjekt sich für sich gegen das allgemeine sittliche Leben geltend zumachen sucht: aber dazeigt sich unsbloß die einzelne Seite derpartikularen Subjektivität, dasVerderben als solches, dieblanke Immoralität, die platte Selbstsucht, Habsucht, Bestechlichkeit. All diese Leiden29), in: wichtig dieStelle inG. W.F. HEGEL, Vorlesungen überdieÄsthetik (1820– 14. Frankfurt 1970, 25 ff. –Aus der reichhaltigen Spezialliteratur seien hervorgehoben: E. WOLFF, Hegel unddie griechische Welt, Antike undAbendland 1, 1945, 31; W. 181: R. MÜLLER, Hegel undMarx über die antike Kultur, Philologus 116, 1977, 1– 163– HEISE, ZurKrise desKlassizismus inDeutschland, in: Hellenische Poleis. Ed.E. CH.WELSKOPF.

47 Besonders

DERS., Werke.

Berlin 1973, 1706 ff.

48 G. W. F. HEGEL, 49 A.a.O., 369 f. 50 A.a.O., 370.

Vorlesungen über die Philosophie derGeschichte, a.a.O., 368.

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Spartaforschung

undSpartabild

schaften tunsich innerhalb Spartas undbesonders indenPersonen seiner Feldherrn hervor, diemeistens vomVaterlande entfernt, dieGelegenheit erhalten, aufKosten deseigenen Staates, als derer, welchen sie zumBeistande geschickt sind, Vorteile 51 zuerlangen.“ Das deutsche Spartabild weist so zwischen Herder und Hegel keineswegs einheitliche Konturen auf. Positiven Aspekten undMüllers verklärender Gesamtkonzeption stehen kritische Beleuchtungen der inhumanen Züge entgegen, die liberalen Kräfte des deutschen Bildungsbürgertums gaben in der Regel Athen den Vorzug vor dem„ Feldlager“amEurotas. Immerhin sind K. O. Müllers >Dorier< selbst insEnglische übersetzt worden, denvorbildlichen „Patriotismus“ derSpartaner hatte auch ein Herder gerühmt. Perspektiven dieser Arttraten nunwohl füreinige Zeit indenHintergrund, völlig verschüttet waren sieindessen nie, undeinJahrhundert später sollten sie dannkatastrophale Auswirkungen haben. Umdie Mitte des 19.Jh. wurden dannaberauchimZugezeitgenössischer Perspektiven derDualismus Athen-Sparta überbetont undnicht zuletzt ideale politische Verhältnisse voneiner Verbindung dergroßen Einzelpersönlichkeit mitdemokratischen Kräften erhofft. In solchen Perspektiven sollten Mommsens Caesarbild undCurtius’Periklesbild die Erwartungen desdeutschen Bürgertums verkörpern.

III Obwohl in den Zeitraum zwischen der Mitte des 19. Jh. unddemEnde des Ersten Weltkriegs tiefgreifende politische undwirtschaftliche Veränderungen fielen, dominierten auf geistigem und pädagogischem Gebiet die Kontinuität

neuhumanistischer Traditionen undzunächst auchnochderVorrang desgymnasialen Bildungssystems. Dochnicht weniger stark wurden Spartaforschung undSpartabild dieser Epoche durch die allgemeine Expansion von Geschichts- undAltertumswissenschaften geprägt, eine Expansion, die sich in derlangen Reihe vonDarstellungen der griechischen Geschichte, bedeutsamen universal-historischen Entwürfen und Weltgeschichten ebenso niederschlug wie in einer wahren Flut von Spezialforschungen zuEinzelfragen undschließlich auchimBeginn einer systematischen archäologischen Ausgrabungstätigkeit in Sparta undin derPeloponnes. Dieimdeutschen Bereich maßgebend werdenden Darstellungen eines Grote52, Kortüm53, Curtius54, Duncker55, Busolt56, Holm57, vonPöhlmann58, Ed. Meyer59,

51 A.a.O., 380. 1856. Vgl. unten Anm.63. Vgl. zudiesem 52 G. GROTE, History of Greece. 12Bde. London 1846– unddenfolgenden Werken W. VISCHER, Über die neueren Bearbeitungen der Griechischen 129 (= DERS., Kleine Schriften. Hrsg. Geschichte, Neues Schweizerisches Museum 1861, 109– 533), R. VON PÖHLMANN, Die Geschichte derGriechen und vonH.GELZER. Leipzig 1877, 511– das 19. Jh., in: DERS., Aus Altertum undGegenwart. N. F. München 1911, 277 ff.

53 J. F. CHR.KORTÜM, Geschichte Griechenlands vonderUrzeit biszumUntergang desAchäischen Bundes. 3 Bde. Heidelberg 1854. 9. Siehe unten S. 25 ff. 1867. 61887– 54 E. CURTIUS, Griechische Geschichte. 3 Bde. Berlin 1857–

55 M. DUNCKER, Geschichte des Altertums, Leipzig III. 1856; IV. 1857 (Von der3. Aufl. an= Bd. VIII. Danach fortgesetzt bisPerikles indenBänden VIII. 1884 undIX. 1886). ZuDunckers V– 61; R. HAYM, DasLeben Max Werk siehe B. NIESE, Göttingische Gelehrte Anzeigen 1884, 49– Dunckers, Berlin 1891.

George Grote

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Beloch60, Ranke61 und Burckhardt62 –um lediglich die wichtigsten zu nennen – können hier nur in einer exemplarischen Auswahl gestreift werden. Dabei seien diejenigen vonG. Grote, E. Curtius, K. J. Beloch undJ. Burckhardt aufGrund ihrer Resonanz undBedeutung, aberauchaufGrund derOriginalität derAutoren undder Relevanz ihrer Äußerungen für unsere Thematik bewußt in denVordergrund gerückt. George Grotes umfangreiche Griechische Geschichte, dieschon vierJahre nach derPublikation desersten Bandes auch in einer vollständigen deutschen Übersetzung zuerscheinen begann63 undbis zumEnde des Jahrhunderts immer wieder themost distinguished example leidenschaftlich diskutiert wurde, ist kürzlich als “ of Benthamite historiography”64qualifiziert worden. Sie ist indessen auch eine konsequente Reaktion auf die antidemokratischen Positionen eines Mitford65 und Gillies66 undein frühes Beispiel fürdie wechselseitige Durchdringung entschiedenerliberaler Überzeugungen undhistorischer Wertung. DadieFreiheit desIndividuums für Grote ein entscheidendes Kriterium darstellte, entwarf er ein völlig idealisiertes Bild desperikleischen Athen67, dasfürihndieFreiheit invorbildlicher 1904. III. 2. 1893– 8. 2. Aufl.: Bd. I– 56 G. BUSOLT, Griechische Geschichte. 2 Bde. Gotha 1885– 1894. 57 A. HOLM, Griechische Geschichte. 4 Bde. Berlin 1886– 58 R. VONPÖHLMANN, Grundriß der griechischen Geschichte. München 1889 (= Griechische Geschichte undQuellenkunde. München 51914).

1902. 2. Aufl. 1907 ff. 9. Aufl. in 59 ED.MEYER, Geschichte desAltertums. 5 Bde. Stuttgart 1884– 8 Bdn. Essen 1984. 1904. 2. Aufl. 8 Bde. 1912– III, 2. Straßburg 1893– 60 K. J. BELOCH, Griechische Geschichte. I– 1927.

61 L. VONRANKE, Weltgeschichte. I. Leipzig 1881. 1902. 62 J. BURCKHARDT, Griechische Kulturgeschichte. 4 Bde. Basel 1898– 63

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G. GROTE, Geschichte Griechenlands. Übertragen von N. N. W. MEISSNER u. E. HÖPFNER. 6

1859. –Vergleiche zuPersönlichkeit undWerk Grotes A. Bde. mitRegisterbd. Leipzig 1850– MOMIGLIANO, George Grote andtheStudy of Greek History. London 1952 (= DERS., Studies in 74); R. VON PÖHLMANN, ZurBeurteilung Georg Grotes und Historiography. London 1966, 56– seiner Griechischen Geschichte, in: DERS., AusAltertum undGegenwart. München 21911, 261; GEORGE GROTE. Sein Leben undWirken aus Familienpapieren, Tagebüchern und 228– Originalbriefen zusammengestellt vonHarriet Grote. Übers. vonL. SELIGMANN. Leipzig 1874. –Selbst WILAMOWITZ machte hier keine Ausnahme: „ Die Modernen kann ich einfach nicht lesen, Grote, wie immer, ausgenommen.“18.5.1881 an Th. Mommsen. Mommsen und 1903. Berlin 1935, 116. Wilamowitz. Briefwechsel 1872– M. L. CLARKE, George Grote. London 1962, 106. 1810. –Deutsche Übersetzung vonH. W. MITFORD, History of Greece. 5 Bde. London 1784– 1808. K. A. EICHSTÄDT in 6 Bdn. Leipzig 1802– J. GILLIES, The history of ancient Greece, its colonies undconquests. 2 Bde. London 1786. – 1797. Deutsche Übersetzung in4 Bdn. Leipzig 1787– Jene Freiheit individuellen Handelns, nicht allein vondenübermäßigen Einschränkungen des „ Gesetzes, sondern auch vonderTyrannei eifersüchtiger Meinung, derArt, wiesie Perikles zu Athen schildert, gehört einer Volksherrschaft, woes keinen auserwählten Einen oder Wenige gibt, die verehrt werden und den Ton angeben, naturgemäßer als irgend einer anderen Regierungsform. Aber sogar in Demokratien ist sie sehr selten: auch können wir nicht verbergen, daß keine Regierung moderner Zeiten demokratische, aristokratische oder monarchische, etwas demBilde von edelmüthiger Duldsamkeit gegen sociales Abweichen undgegen dieWillkür individuellen Geschmackes Ähnliches bietet, wiewires inderRede des A.a.O., III. Leipzig 1853, 429. athenischen Staatsmannes lesen.“

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Spartaforschung

undSpartabild

Weise zur Entfaltung kommen ließ. Die Institution der Sklaverei wurde dabei hingenommen, obwohl Grote in deraktiven Politik entschieden für ihre Abschaf-

fung eintrat.68

Sparta gegenüber blieb Grotes Grundhaltung dagegen vonAnfang an äußerst kritisch. Dabei hateres sich keineswegs leicht gemacht undsich mitdenAussagen derwichtigsten Quellen ebenso eingehend auseinandergesetzt wiemitdenWertungenderneueren Spezialforschung, insbesondere denThesen vonK. O.Müller und C. Thirlwall. ImWiderspruch gegen Müller hielt er gerade daran fest, daßSparta nicht als „ dervollständige Typus derdorischen Principien, Tendenzen undGefühle“ betrachtet werden könne, undkonstatierte vielmehr: „ dielykurgische Constitution prägte ihnen (d.h. denSpartanern) aber eine eigenthümliche Tendenz ein, welche sie ausdemgewöhnlichen Gange herausnahm undsie vonallen Staaten amwenigsten passend machte, alseinBeispiel derKlassenattribute desDorismus aufgestellt 69 Die Verfassung selbst wurde von Grote als „eine geschlossene zu werden.“ die, als untergeordnet, unscrupulöse undwohlrespectierte Oligarchie“bezeichnet, „ jene Theile in sich schloß, die einst die herrschenden gewesen waren, die Könige unddenSenat, die dasGehässige desSystems durch einen jährlichen Wechsel der herrschenden Ephoren minderte, ohne den Schaden aufzuheben. Wir müssen zu gleicher Zeit die Regierung vonderlykurgischen Disciplin undErziehung unterscheiden, die ohne Zweifel dazu führte, denReichen mit demArmen gleich zu 70 machen inBezug aufdaspraktische Leben, aufGewohnheiten undLebensgenuß.“ Grote, der sich auch persönlich so entschieden undaktiv für die Entfaltung freier, uneingeschränkter Bildung in einem durchaus fortschrittlichen Sinne engagierte, waren dieResultate vonLykurgs Erziehungssystem alles andere als sympadaß der von Lykurgos gebildete spartanische thisch. Für ihn stand vielmehr fest, „ Charakter ein niederer Typus ist, der durch exclusive undallzuviele körperliche Disciplin rohundwildgemacht, –sogar derElemente derBuchstaben entbehrend, – inihre eignen engherzigen Specialitäten versenkt, undalles darüber Hinausgehende zu verachten gelehrt, –alle die Eigenschaften, die zur Erlangung von Herrschaft erforderlich sind, besitzt, aberkeine, diedieHerrschaft populär undheilsam fürdie 71 Unterthanen zumachen berechnet sind, ...“ Spätere Kritiker vonGrotes Werk haben beanstandet, daßderehemalige Bankier und Abgeordnete den Problemen der Gesellschaft und Wirtschaft nicht die gebührende Priorität beigemessen hätte.72 In einem Punkte aber war Grote in höchstem Maße sensibilisiert, dort nämlich, woes umdie Fragen von Gleichheit undEigentum ging, undgerade in diesen Punkten entsprachen seine Wertungen ganz gewiß auch den Überzeugungen des aufsteigenden Bürgertums des 19. Jh. Grote räumte ein, daß„ die lykurgische Disciplin ... sehr kräftig dazu (diente), dem menschlichen Geiste dieIdee derGleichheit unter denBürgern beizubringen, –d. i.

68 69 70 71 72

George Grote ... vonH.GROTE. Leipzig 1874, A.a.O., I. Leipzig 1850, 662. A.a.O., 676. A.a.O., 702. R. VONPÖHLMANN, A.a.O., 236 ff.

84 f.

George Grote

–Ernst Curtius

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dieVerneinung aller Ungleichheit, diesichnicht aufirgend einpersönliches Attribut gründet, –insofern sie die Gebräuche, Genüsse undFähigkeiten derReichen jenen derArmen assimilirt; unddieGleichheit, die so in Idee undTendenz existirte und den Wunsch des Gründers zu verkünden schien, wurde durch die späteren

Reformatoren zueiner positiven Verordnung ausgedehnt, welche erzuerst realisiert 73 hatte, vonwelcher aber seine ausgearteten Nachfolger zurückgetreten waren.“ Vorallem in denFragen derLandverteilung, desBodenrechts unddesGrundeigentums setzte sichGrote besonders intensiv undausführlich mitdenHypothesen der zeitgenössischen Forschung, nicht zuletzt mit denen des immer wieder Dr. Thirlwall“auseinander. Grotes Bilanz lautete: „Lykurgos apostrophierten „ versucht weder dieArmen reich, nochdieReichen armzumachen, aber beiden legt er dieselbe unterjochende Zucht auf, –dieselbe Lebensweise, vornehme Trägheit undKraft ohne Kenntnisse, dieselbe Kost, Kleidung, Mühen, Beraubungen, Ausdauer, Strafen undUnterwürfigkeit. FürPolitikstudirende ist es belehrend wenigstens, wie ungenügend es auch sein mag, –daß, bei aller dieser Gleichheit im Verfahren, es doch nur damit endigt, eine Gemeinde geschaffen zu haben, in welcher nicht allein dieLiebe zuüberlegener Macht, sondern auch die Liebe zum 74 Gelde mächtig undspeciell entwickelt dasteht.“ Derheute weithin vergessene Ernst Curtius75 darf alseingeradezu klassischer Vertreter derneuhumanistischen Geschichts- undAltertumswissenschaft Deutschlands im 19. Jh. gelten. Die Anhänger dieser Tradition waren in der Regel keine Revolutionäre; sie dachten nicht an eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft, obwohl sie deren Mängel häufig genug deutlich sahen. Politisch hatte für sie die nationale Einigung Priorität, imübrigen setzten sie zumeist auffortschrittliche Regierungen undLandesherren. Keineswegs identifizierten sichdiese Männer gänzlich mit den staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen ihrer Zeit; ihre Enttäuschungen nach der Revolution von 1848 undnach späteren Fehlentwicklungen sowie ihre bildungsaristokratische Haltung legten ihnen den Rückzug in einen , oder sie führten zu apolitischen Individualismus nahe –wie bei J. Burckhardt – politischen Außenseiterrollen, wiebeiTh.Mommsen. 9 zuletzt ineiner Diezwischen 1857 und1867 indreiBänden publizierte, 1887– 6. Auflage erschienene Griechische Geschichte vonErnst Curtius wardieinDeutschland in derzweiten Hälfte des 19. Jh. amweitesten verbreitete Darstellung dieses Stoffes überhaupt. Ihr Autor, ein Schüler von K. O. Müller, wareine besonders harmonische, künstlerische Natur, einMann, dersich aufdemschwierigen Parkett des preußischen Hofes ebenso sicher zu bewegen wußte wie später inmitten der Rankünen der Berliner Akademie. Dabei ist Ernst Curtius eine Persönlichkeit gewesen, die schwere Krisen durchzustehen hatte, so 1840 denToddes43jährigen Lehrers K. O. Müller in Athen76, 1848 die Berliner Revolutionstage in seiner

73 A.a.O., 709.

74 A.a.O., 723. 83. 75 Siehe K. CHRIST, VonGibbon zuRostovtzeff. Darmstadt21979, 68– 76 E. CURTIUS, Ein Lebensbild in Briefen. Hrsg. vonFR.CURTIUS. Berlin 1903, 232 ff. –Noch im Jahre 1880 konstatierte Curtius: „ Die ideale Auffassung der klassischen Altertumskunde repräsentiert er doch in seltener Weise.“Lebensbild. A.a.O., 659. –Siehe auch E. CURTIUS,

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damaligen Funktion alsPrinzenerzieher77, 1851denTodseiner ersten Fraunachnur kurzer, glücklicher Ehe.78 In seiner Lehre undin seinen Forschungen verkörperte Curtius –wieMüller – die Verbindung philologischer, religionswissenschaftlicher, archäologischer, ästhetischer und historischer Perspektiven, wobei er noch den zusätzlichen Vorzug besaß, die griechische Landschaft aus Autopsie zukennen undihre Eindrücke in seinem Werk zu verarbeiten. Trotz Curtius’entschiedener Kritik andemRivalen Grote79 gehörte auchsein HerzAthen, seine Bewunderung demgroßen Staatsmann nationalem“ Perikles80. Athen setzte erunter „ Aspekt schlechthin mitGriechenland gleich, nurdort entfaltete sich dasgeistige Leben invollem Umfang. Seine Bewertungderattischen Demokratie blieb indessen zwiespältig. Ähnlich wieJ. Burckhardt ist auch Curtius nie über die persönlichen Erfahrungen mit denpolitisierten und radikalisierten Massen während derrevolutionären Exzesse hinweggekommen.81 DenDoriern, underst recht Sparta, stand Curtius vonAnfang anetwas reserviert gegenüber. „ Die Dorier selbst sindimmer karg in derÜberlieferung gewesen; es warnicht ihre Art, vondem,wassiegethan, viel Worte zumachen; ... IhrSinnen und Können war dempraktischen Leben, der Erledigung bestimmter Aufgaben, 82 –So werden sie in die einem ernsten, zweckvollen Handeln zugewendet.“ Peloponnesische Geschichte eingeführt. In Lykurgs Verfassung kamnach Curtius

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ZumGedächtnis an Karl Otfried Müller, in: Alterthum undGegenwart. Gesammelte Reden 260. undVorträge. II. Berlin 21886, 247– A.a.O., 367 ff. A.a.O., 444 ff. „ Ich erkenne ja gerndenganzen Werth einer umsichtigen nüchternen, gelehrten Behandlung desStoffes an,wiesieGrote gegeben hat.Aberesfehlt docheinerseits diewahre Unbefangenheit des Historikers undandererseits wieder das eigentliche Verständniß des hellenischen Geistes! Unddann, welche Willkür undEinseitigkeit derÜberlieferung gegenüber! AberFleiß undAusführlichkeit undwortreiche Schaustellung aller Forschungen, das imponiert immer ammeisten! Darüber vergißt mangern, daßkein einziger Charakter lebendig undpersönlich unsentgegentritt unddaßmanniemals vomStandpunkte eines räsonnirenden Beobachters in –Brief andenBruder, 6.3.1859. LebensdenZusammenhang derDinge hineingezogen wird.“ bild, a.a.O., 553. Seit Solon ist die griechische Geschichte wesentlich eine Geschichte Athens. VonAthen ist „ Alles ausgegangen, was ihr Bewegung undInhalt gegeben hat; auf Seiten Spartas undder anderen Staaten ist kein selbständiges Wollen, kein Streben nach nationalen Zielen; da sind keine Kräfte thätig, als die Verneinung des Widerspruchs, keine Triebfedern, als die des Kurz, Hasses undfeindseliger Mißgunst.“Griechische Geschichte. II. Berlin 41874, 794. –„ Perikles’Bedeutung besteht recht eigentlich darin, daßer alle großen undfruchtbaren Ideen früherer Zeiten insichvereinigte, abergeläutert, geordnet undingroßartigem Zusammenhange;“ a.a.O., 403. „ Die unheimlichen, friedlosen, dummen Massen machen die Geschichte, nichts Erhebendes geschieht, wirhaben keinen Staat, keine Kirche, keine Kunst, keine Literatur, esisteine elende Wirthschaft unddie Primaner undStudenten des20. undderfolgenden Jahrhunderte werden sich mitEkel vonunserer Epoche fortwenden. Alles wahre Glück wirdmehrimMikrokosmos der Familie, in denengen Kreisen der Freundschaft undLiebe zu suchen sein, welche die Religion erwärmt undPoesie undWissenschaft erfrischen.“–29. 8. 1848; Lebensbild, a.a.O., 391.

82 Griechische Geschichte. I. Berlin 41874, 143.

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„ alles auf Vermittlung an, auf versöhnende Ausgleichung der Gegensätze, auf Begründung eines nach beiden Seiten vorteilhaften Vertragsverhältnisses. Daß dies aufeine dauerhafte Weise gelungen ist, bleibt füralle Zeiten eines derglänzendsten 83 Ergebnisse staatsordnender Klugheit.“ Mit Emphase betonte Curtius die Bedeutung derErziehung in Sparta: „Kriegerische Tüchtigkeit wardaseinseitige Ziel spartanischer Jugendbildung sowie die Bedingung fürdenGenuß dereingeräumten Rechte undVortheile; denndieGeburt allein gewährte keinen Anspruch.“UndimGegensatz zuvielen späteren „ RassenAlso die Zucht, die Disciplin machte den forschern“konstatierte er eindeutig: „ 84Gleichzeitig wurden indessen auch die Spartiaten, nicht das Blut der Ahnen.“ Auch warihre ganze engen Grenzen dieser Erziehung ins Bewußtsein gerufen: „ Bildung darauf angelegt, daß sie weder Beruf noch Neigung hatten, sich mit politischen Dingen zubefassen, undihr Gesichtskreis viel zueng, umüber allge85 meine undnamentlich über auswärtige Angelegenheiten einUrteil zuhaben.“ Die zentralen Abschnitte derplastischen Beschreibung des spartanischen LeWeil aber das Leben im Ganzen so bens klangen denn auch deutlich genug: „ beschaffen war, daßes demmenschlichen Freiheitstriebe wenig Genüge schaffte, einLeben voll Zwang undstrenger Satzung, somußte es imInteresse desGesetzgebers liegen, den Verkehr nach außen zu hemmen, damit nicht der Einblick in behaglichere undmenschlichere Lebensverhältnisse denSpartiaten ihreheimathlichen Zustände verleide. Dasganze Gemeindeleben hatte denCharakter desZurückgezogenen, desUndurchsichtigen undHeimlichen ... Wenn manvon den Höhen des Taygetos in das hohle Land hinabblickte, so mußte es wie ein großer Exercierplatz erscheinen, und wie der Standort eines schlagfertigen Heers, das in einer unterworfenen Landschaft lagerte. Umdie bestimmten Stunden rückte dieJugend aufdieTurnplätze amEurotas, sammelte sich die Mannschaft in ihren festgeordneten Gruppen, nie ohne Waffen oder denStab, dasZeichen derMacht, durch denkurzen Tuchmantel, daswallende Haar undden Bart vondenanderen Menschenklassen streng unterschieden undEhrerbietung von ihnen verlangend. Alles, auch die Feste, hatte einen militärischen Charakter. Commandiren undGehorchen –das war die Wissenschaft des Spartaners; nach 86 diesem Zuschnitte warauch seine Rede kurz undknapp.“ Preis dieser der Einseitigkeit, StarrAugen Curtius ’ in war Doch entscheidend Jh. v. Chr., dasSparta 4. Sparta über des denn es das hieß So heit undBorniertheit. geistiges Leben, ohne Sparta, selbst „ politischen Macht: auf demHöhepunkt seiner Stande, Griechenwar außer sittlichen von Mächten und Ahnung keine hatte auch nehmen und hatte nichts zu konnte nur es leiten; zu und land wahrhaft zueinigen geben; es verstand nur mit roher Gewalt freie Gemeinden zu unterdrücken und 87 oligarchische Parteiregierungen einzuführen.“

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A.a.O., 172. A.a.O., 180. A.a.O., 179. A.a.O., 181 ff. III. Berlin31874, 250.

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Noch im „Schlußwort“seiner zuletzt auf insgesamt 8 Bände angewachsenen >Griechischen Geschichte< bekannte KarlJulius Beloch, daßesschon vierzig Jahre vorher seine Absicht war,„ einBuchzuschaffen, dasfürunsere Zeit werden könnte, 88.Ineinem temperamentvollen Überblick wasCurtius fürseine Zeit gewesen war“ über die älteren Darstellungen dergriechischen Geschichte billigte er demgroßen Vorgänger zwar eine „warme Begeisterung für die ästhetische Seite des Griechentums“zu,kreidete ihmdannaber dochan:„ politisches Verständnis fehlte ihm (sc. Curtius) ganz, undan der wirtschaftlichen Entwicklung ging er achtlos vor89 Beloch selbst, ein Non-Konformist aus Prinzip und oft verletzender über.“ Polemiker, gehörte jener neuen Generation von Althistorikern an, die seit den achtziger undneunziger Jahren des 19.Jh. inzunehmendem Maße Anregungen der Nationalökonomie undSozial- undWirtschaftsgeschichte aufgriff undsomit methodisch völlig neue Wege ging. Sein erklärtes Ziel waren insbesondere die Berücksichtigung vonStatistik undBevölkerungsgeschichte wie derWirtschaftsgeschichte allgemein –wobei er freilich amVorrang derGeistesgeschichte nicht rüttelte.90 Die Überbetonung der Rolle der Einzelpersönlichkeit in der Geschichte kritisierte er ebenso vehement wiedieMißachtung derRolle derMassen in derGeschichte.91 Vondiesen Prinzipien undÜberzeugungen sind auchdieüber dasganze Werk verstreuten Abschnitte überSparta geprägt. Esisttypisch fürBeloch, daßerzuallen wichtigen Komplexen eingehende quellenkritische Untersuchungen durchführte, dieListen undGenealogien derspartanischen Könige zusammenstellte92, ein Verzeichnis derNauarchen erarbeitete93, die Bevölkerungsentwicklung unddasAusmaßderterritorialen Entwicklung exakt zuklären suchte94 undschließlich auchdie sozialen Mißstände undFehlentwicklungen im Sparta des 4. Jh. v. Chr. scharf beleuchtete95. Dochnicht mitsolchen primär konstruktiven Untersuchungen provozierte er seine Zeitgenossen, sondern vor allem mit der Vielzahl oft durchaus begründeter Einwände gegen die communis opinio, die häufig genug mitätzender Schärfe vorgetragen wurden. So hieß es zudenseit Schlegel undK. O. Müller dominierenden Kategorien: WasdieNeueren seit Otfried Müller vondemGegensatz zwischen dorischem und „ ionischem Charakter zu erzählen wissen, steht in der Luft undberuht auf einer 96Im übriVerwechslung des spartanischen mit demallgemein dorischen Wesen.“ genwaren fürBeloch nicht dieDorier, sondern dieMakedonen „ derrassenreinste 88 K. J. BELOCH, Griechische Geschichte, IV. 2. Berlin 21927, V. 89 A.a.O., I, 2. Berlin 21926, 11. 90 „ Das Wesentliche ist die geistige Entwicklung.“A.a.O., IV, 2. Berlin 21927, VII. –Zu K. J. BELOCH und seinem Werk siehe K. CHRIST, Von Gibbon zu Rostovtzeff. Darmstadt 21979, 285. 248– Die naive Geschichtsbetrachtung sieht nurdie Helden; die 91 A.a.O., I, 1. Straßburg 21912, 1 ff.: „ Massen, die hinter ihnen stehen, kümmern sie nicht.“ 92 A.a.O., I, 2. Berlin 21926, 171ff.; IV, 2. Berlin 21927, 154. 93 II, 2. Berlin21931, 269 ff. 94 III, 1. Berlin 21922, 282 ff. 95 III, 1. a.a.O., 345 ff. 96 I, 1. Straßburg 21912, 96, Anm. 2.

Karl Julius Beloch

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griechische Stamm“ 97.ZurDorischen Wanderung hießesapodiktisch: „ Die‚dorische Wanderung‘, die einen so breiten Platz in unseren Darstellungen dergriechischen Geschichte einzunehmen pflegt, vonderdieArchäologen so viel zusagen wissen, 98EinGesetzgeber Lykurg hatfürBeloch „niemals isteine Erfindung derNeueren.“ gelebt“ , auchdieGroße Rhetra (Plut., Lyk. 6) warnachihmnicht echt.99 Beloch war vielmehr derÜberzeugung, daßdieLakedämonier „ihreGesetze füreine Offenbarung des Lichtgottes (hielten); Tyrtaeos glaubte, sie seien aus Delphi gekommen, während in der Vorstellung der späteren Zeit der Gott zum Heros Lykurgos (dem ‚Lichtbringer‘) wurde, der vondemdelphischen Orakel nurdie Sanktionen seiner 100. Gesetze empfangen habe“ Völlig inseinem Element warBeloch danninseiner Bekämpfung derLeonidasLeonidas Legende. In derDarstellung selbst hieß es noch relativ zurückhaltend: ” trifft alsFeldherrn derVorwurf, nicht mitdernötigen Umsicht gehandelt zuhaben; er hat die Stärke seiner Stellung überschätzt undnicht ernsthaft genug mit der Möglichkeit einer Umgehung gerechnet. Als Soldat hater seine Pflicht getan, wie siejeder Spartaner vonEhre anseiner Stelle getan haben würde. Daßvollends ein spartanischer König es ertragen könnte, als Besieger aus einer Schlacht heimzukehren, schien einunfaßbarer Gedanke, bisderletzte ausLeonidas’Geschlecht, der Sozialreformer Kleomenes, bei Sellasia zeigte, daßesdochmöglich war.DerGlanz besonderen Heldentums, derLeonidas’ Namen umstrahlt, ist also nicht voll verdient; er verdankt ihn nicht so sehr sich selbst, als der Sache, für die er gefallen 101Sehr viel deutlicher wurde Beloch in derparallel dazupublizierten quellenist.“ kritischen Spezialuntersuchung >Die Legende vonLeonidasGriechischer KulturgeschichteConstantinGriechische Kulturgeschichte< bei denSpezialisten fand152, dietiefe

Inbetreff deralten Griechen glaubte manseit dergroßen Erhebung 147 DieSchlüsselstelle lautet: „ desdeutschen Humanismus imvorigen Jahrhundert imklaren zusein: imWiderschein ihres kriegerischen Heldentums undBürgertums, ihrer Kunst undPoesie, ihres schönen Landes und Klimas schätzte mansie glücklich, undSchillers Gedicht ‚dieGötter Griechenlands‘faßte den ganzen vorausgesetzten Zustand ineinBild zusammen, dessen Zauber noch heute seine Kraft nicht verloren hat. Allermindestens glaubte man, die Athener des perikleischen Zeitalters hätten Jahr ausJahr ein im Entzücken leben müssen. Eine der allergrößten Fälschungen des geschichtlichen Urteils, welche jemals vorgekommen, undumso unwiderstehlicher, je unA.a.O., II, Ed.Darmstadt 1956, 348. schuldiger undüberzeugter sie auftrat.“ 148 Siehe zumBeispiel dieBeurteilung derspartanischen Politik imZeitalter derPerserkriege als , weit abvonjeder Aufnahme „ blinder Egoismus undkaltes Preisgeben derübrigen Griechen“ der „Leonidas-Legende“A.a.O., I, 114. 149 Vgl. K. CHRIST, Nachwort, in: J. BURCKHARDT, Die Zeit Constantins des Großen. München 1982, 355 ff. 150 A.a.O., I, 11. 151 A.a.O., 152 W. KAEGI hat zu Beginn seiner Einleitung zu Recht auf die Schlüsselrolle hingewiesen, die dabei den Sätzen von U. VONWILAMOWITZ-MOELLENDORFF in dessen Vorwort zum 2. Band der >Griechischen Tragödien< vom28. 8. 1899 zukommt. WasSparta anbetrifft, sohatte Burckhardt dasSakrileg begangen, die Lykurg-Studie desprinceps philologorum nicht zuzitieren.

Jacob Burckhardt

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Kluft auf, die schon damals zwischen denMethoden undWertungen eines solchen klassischen Werkes undjenen derprimär fachspezifischen Einzeluntersuchungen bestand. Dervolle Umfang derindiesem Zeitraum vorgelegten Spezialstudien kannhier nicht detailliert beschrieben werden.153 Hier lassen sich lediglich dieSchwerpunkte aufzeigen und einige, für die Etappen der Forschung charakteristische Arbeiten schärfer beleuchten. Dabei istesnicht dasgeringste Verdienst derSpezialisten jener Epoche, daß damals einige grundlegende Handbücher zu den Institutionen des spartanischen Staates erschienen, die für die gesamte internationale Forschung geraume Zeit hindurch eine verläßliche Basis bildeten. Dies gilt trotz ihrer primär positivistischen Grundtendenz vor allem für die Werke vonG. Gilbert154 undG. Busolt155, aberauchimengeren Bereich derGeographie, Landeskunde, Topographie und archäologischen Bestandsaufnahme für jene von E. Curtius156 und A. Philippson157. Daß auch Sparta von der damals in Gang gekommenen modernen Schlachtfelderforschung profitierte, dürfte nicht überraschen.158 Im engeren archäologischen Bereich wurden jene Ausgrabungen epochemachend, die in den Jahren zwischen 1906 und 1910 von Angehörigen der British School at Athens, insbesondere unter derLeitung vonR. Dawkins, amHeiligtum der Artemis Orthia durchgeführt wurden. Die 1929 vorgelegte Publikation159 der Keramik, Dachterrakotten, Inschriften, desEisengeldes undderMünzen, derBronzen, tönernen Masken, Kalksteinskulpturen, Elfenbeinschnitzereien, Bleifigürchen, vieler anderer Fundobjekte und nicht zuletzt der Architektur dieses zentralen spartanischen Heiligtums vermittelte erstmals aucheinkonkretes Bild derZivilisationdesarchaischen Sparta160. Siemarkierte zugleich denAnfang einer regen, bisin 153 Es sei verwiesen auf die in der Form gelegentlich selbst lakonischen, im Gehalt besonders wertvollen Übersichten bei M. CLAUSS, Sparta. München 1983, 189 ff. 154 G. GILBERT, Der Staat der Lakedaimonier undAthener. Leipzig 1891.21893 (Handbuch der griechischen Staatsalterthümer, 1). (DERS., The Constitutional Antiquities of Sparta andAthens. London 1895.) –Ein weitverbreiteter Vorgänger warK. F. HERMANN, Lehrbuch der griechischen Staatsaltertümer. I, 1. Freiburg 61889. Vgl. auch C. F. HERMANN, Antiquitatum Laconicarum libelli quatuor. Marburg 1841.

155 G. BUSOLT, Die Lakedämonier und ihre Bundesgenossen. I. Leipzig 1878. Die zum festen : 2 Bde. 1920– Griechische Staatskunde“ Begriff gewordene undnoch immer unentbehrliche „ 1972. DerBd. 2 wurde vonH.SWOBODA bearbeitet, dort bes. S. 633– 1926.31926. NDr. 1963– 737. 156 E. CURTIUS, Peloponnesos. 2 Bde. Gotha 1851/2. 157 A. PHILIPPSON, Der Peloponnes. Versuch einer Landeskunde auf geologischer Grundlage. I. Berlin 1891. –Unübertroffen: DERS., Die griechischen Landschaften III, 2. Frankfurt 1959. – Die ältere Literatur zurGeographie undTopographie beiF. BÖLTE, RE IIIA, 1265 ff. (1929) s. v. Sparta undJ. T. HOOKER, Sparta. Geschichte undKultur. Stuttgart 1982, 293. 158 E. LAMMERT, Die neuesten Forschungen auf antiken Schlachtfeldern in Griechenland. III. 274; J. KROMAYER, Sellasia, 212; 252– Sellasia, NeueJahrbücher fürPhilologie 13, 1904, 195– 537; H. DELBRÜCK, Geschichte der Bulletin de Correspondance Hellénique 34, 1910, 508– Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. I. Berlin 1900 (zuletzt: 31923. NDr. 1964).

159 R. M. DAWKINS, The Sanctuary of Artemis Orthia. London 1929. Die Ausgrabung selbst bedeutet methodisch einen 160 Siehe E. KUNZE, Gnomon 9, 1933, 1: „

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die Gegenwart anhaltenden modernen archäologischen Spezialforschung, an der zeitweilig auch deutsche Archäologen mit bedeutenden Beiträgen beteiligt waren161, einer Spezialforschung, die inzwischen jedoch vor allem von griechischer Seite selbst forciert wird162. ImUnterschied zurSituation aufdemarchäologischen Sektor warderZuwachs neuer historischer Primärquellen imBereich dergesamten schriftlichen Überlieferung bescheidener. Gewiß kamen wertvolle undbedeutende Entdeckungen von Papyri fürdiefrühe Lyrik undin Gestalt der„ Hellenika Oxyrhynchia“hinzu, doch insgesamt gesehen stand hier die intensivere Edition undKommentierung derseit langem bekannten schriftlichen Quellen –Herodots, Thukydides’, Xenophons, Aristoteles’, Polybios’, Plutarchs undPausanias’vorallem –imVordergrund.163 Es ist bezeichnend, daßsich die moderne Quellenkritik noch immer insbesondere auf die Komplexe umLykurg, dieGroße Rhetra oder Plutarchs Quellen konzentrierte. Die Resonanz der oft lebhaften Diskussion blieb indessen überwiegend auf den universitären unddenzumTeil –wie Gymnasialprogramme dokumentieren –auf beachtlichem wissenschaftlichem Niveau stehenden gymnasialen Sektor beschränkt. Auch dieNeufunde oder wichtigeren Neubearbeitungen vonInschriften164 gewannen für Sparta schon auf Grund der bekannten Voraussetzungen niemals jene Bedeutung wiezumBeispiel fürAthen unddieGeschichte desAttischen Seebundes oder fürdenBereich anderer griechischer Poleis undHeiligtümer. Neben der Quellenkritik lag der Schwerpunkt der Spezialforschung nach wie voraufderErörterung derInstitutionen indenFeldern derpolitischen, militärischen , undder Verfassungsgeschichte, in zeitlicher Hinsicht auf demSparta „Lykurgs“ der Perserkriege unddes Peloponnesischen Krieges. Es bedeutete dagegen einen echten wissenschaftlichen Fortschritt an vernachlässigter Stelle, als E. von Stern 1884 seine >Geschichte derspartanischen undthebanischen Hegemonie< publizierte.

Inanderer Hinsicht bedeutsam wurde derBeitrag vonE. Bethe überdiedorische Knabenliebe165, eine Untersuchung, dietrotz mancher problematischer Hypothesen Wendepunkt in der Entwicklung der Bodenforschung in Griechenland. Voraussetzungslos, unmittelbar ausderkritischen Beurteilung desBefundes, ausBeschaffenheit undLagerung der Erde undausdenVerhältnissen derBaureste zueinander, ist dieGeschichte deswährend des ganzen Altertums benutzten Platzes inihren wesentlichen Zügen unwiderlegbar sicher festgestellt worden.“ 85. W. VONMASSOW, VomAmyklaion, Athenische Mitteilungen 52, 1927, 1– 161 E. BUSCHOR – 162 Siehe die neueren Übersichten bei L. F. FITZHARDINGE, The Spartans. London 1980, 171 ff.; J. T. HOOKER, Sparta, Stuttgart 1982, 293 ff. sowie in derunten Anm. 164 genannten Bibliographie von J. G. TAIPHAKOS. 163 Vgl. hierzu die in derZeittafel S. 49 f. genannten Editionen, Kommentare undSpezialuntersuchungen. 164 Grundlegend W. KOLBE, Inscriptiones Graecae. V, 1. Inscriptiones Laconiae et Messeniae. Berlin 1913. –Die epigraphische Spezialliteratur hatJ. TAIPHAKOS, Lakonikai Spoudai 2, 1975, 441 ff. zusammengestellt. 165 E. BETHE, Die dorische Knabenliebe –ihre Ethik undihre Ideale, Rheinisches Museum 62, 475. –Ein Wiederabdruck dieser wichtigen Studie ist für den Band K. SIEMS 1907, 438– (Hrsg.), Sexualität undErotik in derAntike (Wege derForschung, 605) vorgesehen.

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am Anfang der nüchternen wissenschaftlichen Erforschung der spartanischen Homoerotik steht, inmitten derbürgerlichen Prüderie deswilhelminischen Deutschlands einkeineswegs selbstverständliches Unterfangen. AuchderAufsatz vonM.P.Nilsson ausdemJahre 1912 ist fürdasVerständnis derspartanischen Institutionen undderspartanischen Lebensformen vongrundlegender Bedeutung geworden.166 Ein im selben Jahr erschienener Beitrag von G. Dickins167 über die große Zäsur des 6. Jh. in den Strukturen von Gesellschaft und Staat –Finleys „sixth-century-revolution“168–löste eine anhaltende Kontroverse aus, dieauchheute nochnicht zueinem vollen consensus geführt hat.Nochvordem Ausbruch desErsten Weltkriegs setzten indessen auchschon dieBemühungen von H.Jeanmaire umdie Krypteia unddie antiken Initiationsriten in weiterem Zusammenhang ein169 sowie jene vonA.J. Toynbee, derSparta biszuletzt seine besondere Aufmerksamkeit schenkte170. Daßdaneben auchdieitalienische Forschung, derK. J. Beloch wichtige Impulse vermittelt hatte, mitdenMonographien vonA. Solari171 undL. Pareti172 hervorzutreten begann, zeigt dasallgemeine Interesse, dasSparta damals vondereuropäischen Forschung entgegengebracht wurde –aber auch dieganze Vielfalt derPositionen undWertungen, diedamals formuliert worden sind. 340. 166 M.P. NILSSON, DieGrundlagen desspartanischen Lebens, Klio 12, 1912, 308– 42. 167 G. DICKINS, The Growth of Spartan Policy, Journal of Hellenic Studies 32, 1912, 1– 168 M. I. FINLEY, Sparta, in: J.-P. VERNANT (Hrsg.), Problèmes de la guerre en Grèce ancienne. 160. Paris 1968, 143– 150. 169 H.JEANMAIRE, La cryptie Lacédémonienne, Revue des Études Grecques 26, 1913, 121– 275; DERS., 170 A. J. TOYNBEE, The Growth of Sparta, Journal of Hellenic Studies 33, 1913, 246– The Rise andDecline of Sparta, in: DERS., Some Problems of Greek History. Oxford 1969, 417. –Für Toynbees Spartabild ist entscheidend, daß nach ihm die Messenier im 2. 152– Messenischen Krieg, dener indieZeit zwischen 650 und620 v. Chr. datiert, Spartas weitere Entwicklung diktierten: „ Dermessenische Aufstand wareine sofurchtbare Erfahrung, daßer dasspartanische Leben fest inElend undEisen bannte. Seitdem waresdenSpartanern niemals gegeben, auszuspannen, niemals vermochten sie sich vonihrer Nachkriegsreaktion freizumachen. DieEroberung nahmdieEroberer gefangen, ganz wiedieEskimo vonihrer Eroberung einer arktischen Umwelt versklavt wurden. WiedieEskimo in die Speichen desJahreszyklus derNahrungssuche gefesselt wurden, so wurden die Spartaner andieAufgabe gefesselt, ihre messenischen Heloten niederzuhalten. Die Spartaner statteten sich für die Leistung ihres Gewaltstückes durch dieselbe Methode wiedieOsmanen aus,indem sievorhandene Institutionen der Erfüllung neuer Aufgaben anpaßten. Aber während die Osmanen vondemreichen sozialen Erbe des Nomadentums zehren konnten, waren die Institutionen der Spartaner eine Anpassung des sehr primitiven sozialen Systems der dorischen Barbaren, die in der

nachminoischen Völkerwanderung inGriechenland eingedrungen waren. Hellenische Traditionschrieb diese Leistung demLykurg zu.AberLykurgos warnicht einMensch –nureinGott; undihre wirklichen Urheber waren wahrscheinlich eine Reihe vonStaatsmännern, dieerst im 6. Jh. v. Chr. lebten. Imspartanischen System wieimosmanischen warderHauptzug, derfür die Wirksamkeit ebenso wiefürdie verhängnisvolle Starrheit unddenschließlichen Zusammenbruch des Systems verantwortlich ist, die große Mißachtung dermenschlichen Natur.“– KEMPSKI. München 31979, A.J. TOYNBEE, DerGangderWeltgeschichte. Übersetzt vonJ. VON 251 ff. 171 A. SOLARI, Ricerche spartane. Livorno 1907. 172 L. PARETI, Storia di Sparta arcaica. I. Florenz 1917.

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IV Der militärische Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs im November 1918 löste einen ungewöhnlich tiefgreifenden politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt geistigen Gärungsprozeß aus, der in der Vielfalt seiner Ausdrucksformen wieimintellektuellen Rang seiner Artikulationen die scheinbar vergleichbare Phase nach 1945 beiweitem übertraf.173 DieSuche nachneuen staatlichen und politischen Formen verlieh gerade derGeschichts- undAltertumswissenschaft eine existentielle Dimension. Die Bemühungen, historische Erkenntnis mit zeit-

geschichtlichem Erleben zuverbinden, Geschichte überhaupt völlig neuzu sehen undfürdieMeisterung vonGegenwart undZukunft zuaktivieren, erfaßten in den zwanziger und dreißiger Jahren weite Kreise. Gerade Sparta zog nicht nur althistorische Spezialisten an,sondern auchTheodor Däubler174 ebenso wieGottfried Benn175. Noch immer dominierte indessen der Pluralismus der Wertungen. Es bestand keine geistesgeschichtliche Einsträngigkeit, diezwangsläufig undmitNotwendigkeit zupolitischer Manipulation imSinne desRassismus undzudenspäterenExzessen nationalsozialistischer Politik hätte führen müssen.

Im engeren fachwissenschaftlichen Bereich Deutschlands waren es zunächst zweijüngere Althistoriker, diedenGangderwissenschaftlichen Diskussion entscheidend prägten, zwei Gelehrte zugleich, für welche später die nationalsozialistische Perversion deshistorischen Sparta auchzumpersönlichen Schicksal werden sollte: Victor Ehrenberg (1891–1976)176 und Helmut Berve (1906–1979)177. Ehrenberg lebte seit 1939 alsEmigrant inEngland, während Berve zumRektor derUniversität

173 In unserem engeren Zusammenhang dürfte es genügen, aufdieknappen, aber eindringlichen Rückblicke hinzuweisen, dieH.SCHAEFER, VICTOR EHRENBERGS Beitrag zurhistorischen Erforschung desGriechentums, Historia 10, 1961, 387 f. (DERS., Probleme derAlten Geschichte. Göttingen 1963, 428 f.) undFR. TAEGER (zitiert bei K. CHRIST, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft. München 1982, 225 f.) gaben. 174 TH.DÄUBLER, Sparta. Ein Versuch. Leipzig 1923. 376. Nachdruck in: G. BENN, 175 G. BENN, Dorische Welt, Europäische Revue 10, 1934, 364– 856. Vergleiche auch Gesammelte Werke. 3. Essays und Aufsätze. München 1975, 824– a.a.O., 8. Autobiographische Schriften. München 1975, 2172. Über die Dorier äußert sich Ihr Traum ist Züchtung undewige Jugend, Göttergleichheit, großer Wille, Benn wie folgt: „ stärkster aristokratischer Rassenglaube, Sorge über sich hinaus für das ganze Geschlecht.“ (836) „ DieErziehung gehtnuraufdieses Ziel: Schlachten undUnterwerfung.“(837) „Dorisch ist dieKnabenliebe, damit derHeldbeimMannbleibt, dieLiebe derKriegszüge, solche Paare standen wieeinWall undfielen. Es warerotische Mystik: derRitter umarmte denKnaben wie derGatte dasWeib undübertrug ihmseine Arete, vermischte ihnmit seiner Tugend.“(838) derAusgangspunkt, dieKeimzelle desgriechischen Geistes“ Zugleich warSparta nachBenn„ (847). Ging es Benn auch wohl in erster Linie umdasVerhältnis vonStaat undKunst, so sind seine Formulierungen doch zugleich typisch fürdieBegrifflichkeit seiner Zeit auch außerhalb desengeren nationalsozialistischen Einflußbereichs. 176 ZuV. EHRENBERG siehe neben demo. g. Beitrag vonH.SCHAEFER (Anm. 173) dieNachrufe von J. VOGT, DasGöttliche imDiesseits suchen, FAZ. 30. 1. 1976 undGnomon 48, 1976, 423– 426, ferner E. EHRENBERG, Sehnsucht –meingeliebtes Kind. o. O. (Oberursel) 1963; Nationalsozialismus undAntike. Hamburg 1977, 41 f., 202 f. 787. 177 Vgl. denNekrolog vonA. HEUSS, HELMUT BERVE, HZ230, 1980, 779–

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Leipzig undzum„Kriegsbeauftragten derdeutschen Altertumswissenschaft“aufstieg. So groß die Gegensätze zwischen denbeiden Männern waren, die in streng wissenschaftlicher Arbeit höchsten Ansprüchen genügten, so evident ist es, daßes ihnen letzten Endes nicht nurumeine sich selbst genügende, esoterische Forschung ging, sondern umWirkungen überdasFachhinaus178, wobei sie freilich –zumTeil gewiß unbewußt –Entwicklungen Vorschub leisteten, die ihren eigenen Normen völlig widersprachen. Ehrenbergs Bemühungen umSparta waren vonAnfang aneingeordnet injenes Bestreben, dasihnsein ganzes Leben lang erfüllen sollte, denStaat derGriechen insgesamt in seiner Eigenart zuerfassen unddabei immer wieder dasspartanische unddasathenische Modell zukonfrontieren.179 AberimUnterschied zuU.Kahrstedts mißglücktem Versuch, ein „ Griechisches Staatsrecht“zu entwerfen180, ging es Ehrenberg stets umdie Mitberücksichtigung dergesellschaftlichen181 Komponente: Für Sparta war der Weg zur Harmonie von Staatsverfassung undGesellschaft „ dieser, daßdiedurch eine Unzahl ungeschriebener rigoroser Normen zurZwangseinheit verurteilte Gesellschaft desSpartiatentums derart imStaate aufgeht, daßder Einzelne zumbloßen Teil des Staates wird. Es istjene Idee, die später ausÜbersteigerung des Staatsgedankens die Philosophie zur Grundlage ihrer Formungen macht. Das gesellschaftliche Dasein wird –naturgemäß durch gesellschaftliche Mittel –soweit aufgelöst, daßwenigstens im Prinzip die Gleichheit des Besitzes gegeben ist, daßdemEinzelnen alle wirtschaftliche Tätigkeit genommen wird, daß selbst dieAngelegenheiten vonFamilie undHausverstaatlicht werden. DasWesen dieser Gestaltung, die wir als Verstaatlichung undAufhebung der Gesellschaft bezeichnen können, weil innerhalb des Staatsvolkes der Lakedaimonier eine Gesellschaft sich nie bilden konnte undnie gebildet hat, ist für die Spartaner selbst im Worte ‚Kosmos‘lebendig gewesen, ihnen also alsvollendete harmonische Ordnung erschienen. Es bleibt davon unberührt, daßdie tatsächliche Entwicklung die Idee nicht in Vollkommenheit bestehen ließ, daßdiezwangsweise zurEinheit gemachte unddamit aufgehobene Gesellschaft sich doch immer wieder neugebildet undso ihr ewiges vomStaate unterschiedenes Sonderleben auch hier bewiesen hat.“182 Wie nicht wenige Althistoriker seiner Generation warauch V. Ehrenberg tief durch das Erleben des Ersten Weltkrieges geprägt worden. Auch dieser liberale Jude wurde vondermilitärischen „Gemeinschaft derMänner“Spartas fasziniert. Er scheute deshalb auch nicht davor zurück, in seinen, schon durch dasGenos bedingt, eher positivistischen RE-Artikel überSparta diefolgenden Sätze aufzunehmen: „ ... EHRENBERG „ mehr-als-wissenschaftlichen Sinne“ Erfahrung undLehre“in einem „ bereits in der Monographie Neugründer des Staates. München 1925, VIII. Zu H. BERVES Auffassungen V. LOSEMANN, Programme deutscher Althistoriker in der „ Machtergreifungs, Quaderni di storia 11, 1980, 63 ff. phase“ 179 DerStaat derGriechen. Zürich 21965. 180 Vgl.dazuEHRENBERGS leidenschaftliche Kritik inseinem Beitrag Spartiaten undLakedaimonier, Hermes 59, 1924, 60 ff. (= DERS., Polis undImperium. Zürich 1965, 192 ff.). 181 Unübertroffen: V. EHRENBERG, Aristophanes unddas Volk von Athen. Eine Soziologie der altattischen Komödie. Zürich 1968. 182 V. EHRENBERG, Neugründer des Staates. München 1925, 110 f.

178 So betont

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dieEinseitigkeit dieses Menschentums ist seine Größe. Niemals wieder istdasIdeal disziplinierter Männlichkeit insolcher Reinheit aufgestellt worden. Dasgrößte aber ist, daßdiese männliche undsoldatische Gesellschaft imuneingeschränkten Dienste des Nomos steht, der als Verkörperung ihres Staates, ihres religiösen Glaubens, ihrer Sitte undTradition ihreinziger Herr ist. Nurdeshalb ist es möglich gewesen, daß diese Gesellschaft ihr Eigenleben völlig dem Staate geopfert hat. Ein Ideal ist dazu da,nie erfüllt zuwerden. Aber es wirkt gerade durch das, wassein soll, nicht 183Ehrenberg konnte nicht ahnen, wierasch seineigenes Spartadurch das, wasist.“ 184genommen wurde. Ideal in denDienst eines modernen „ totalitären Staates“ Gegen Ehrenbergs These, daßein spartanischer Gesetzgeber des6. Jh. v. Chr. seine neuen Maßnahmen demmythischen Staatsgründer Lykurg zugeschrieben und so gleichsam sanktioniert hätte, damit wie Kleisthenes in Athen für Sparta zum Neugründer desStaates“geworden wäre, hatte sogleich H.Berve Stellung bezo„ genundimZusammenhang einer längeren Gnomon-Rezension erstmals auchsein Dereigenartige Kosmos undder eigenes Spartabild indenGrundzügen formuliert: „ ihntragende spartanische Geist, wiewirihnausderhistorischen Zeit kennen, sind nicht gemacht, sondern gewachsen ausdenletzten zeitlosen Tiefen einer Volksseele heraus, von deren spröder Härte auch in archaischer Zeit die Herbheit der Tyrtaioslieder unddie erschütternde Männlichkeit derBerliner Leichenzugschale zeugen. Kein einzelner Gesetzgeber, am wenigsten ein Reformator, hat diesem Geist jene großartig starre Prägung gegeben, dieerJahrhunderte lang getragen hat, sie ist dasWerk einer Zeit, welche mitdemNachlassen desüberwältigenden jonischen Kultureinflusses, der bei dem mächtigsten Festlandsstaate vielleicht am mächtigsten gewesen war,allenthalben imMutterlande dieeigenen Kräften befreite unddeninGärung befindlichen einzelnen Staatsgebilden zuihrer klassischen Form verhalf.“185Offenkundig führt hier eine Linie zurromantisch-idealistischen TraditionvonSchlegel undK. O.Müller zurück –obwohl Berve selbst alles andere alsein Romantiker war. Wenige Jahre später trug Berve dann sein Spartabild in eindrucksvoller und geschlossener Weise aufder3. Fachtagung derklassischen Altertumswissenschaft zuWeimar vor186, eine Konzeption, welche durch Berves balddanach erscheinende >Griechische Geschichte< zuweitester Resonanz gelangen sollte. Denn auch dort Das historisch Bedeutsame :„ Kosmos“ schilderte er fasziniert denspartanischen „ ist die kategorische Absage an alle lösenden, reichen, genießerischen Tendenzen 183 RE III A, 1383 s. v. Sparta, Geschichte (1929). 184 A Totalitarian State, in: V. EHRENBERG, Aspects of the Ancient World. Oxford 1946, 94–104. – In: FromSolon to Socrates. London 1968, 46 und388, Anm.52 entschloß sich Ehrenberg den authoritarian”state adäquateren Ausdruck “

zuwählen.

185 Gnomon 1, 1925, 311. 22. –BERVES Wirkung in seiner 186 H. BERVE, Sparta, Historische Vierteljahrschrift 25, 1931, 1– Zeit ist kaum verständlich ohne eine angemessene Berücksichtigung seiner Sprache und insbesondere seines Stils: eines straffen, dynamischen Stils mit gelegentlich autoritären Setzungen, der mitunter auch demPathos Raum gab, sich in seiner Klarheit, Energie und Prägnanz jedoch eindrucksvoll vondenschwammigen Phrasen vieler zeitgenössischer Autoren abhob.

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der ausgehenden Adelszeit, die bewußte, leidenschaftliche Hinwendung unddie einseitige Hingabe andieErfüllung deshöchsten Manneswertes imRahmen fester Gesetze, die solchem Streben erst Möglichkeit, Form undZiel geben, es über die Willkür und Ungebühr des Persönlichen, des Regellosen erheben. So dient der Kampf, derdemSpartaner wiejedem dorischen Mannals glückvollste Betätigung gilt, mitBewährung derAreté deseinzelnen zugleich demSchutze derWelt dieser Areté, demKosmos. Derist ihmeine göttliche Stiftung wiedemMönch seinOrden, undgleich einem Orden schließt manin Sparta sich nungegen dieAußenwelt ab, dienichts Positives geben, höchstens denKosmos zersetzen kann.“187 Diese bereits vor1933 formulierten Wertungen undÜberzeugungen sollten ein kaumvorstellbares Gewicht undeine zunächst kaumzuahnende Bedeutung erlangen, als sich Berve völlig mit der „nationalen Revolution“identifizierte undim Bereich derdeutschen Altertumswissenschaft rasch zueinem ihrer entschiedensten und angesehensten Repräsentanten wurde.188. Für das allgemeine Spartabild der nationalsozialistischen Ärasind nicht diebeiläufigen Äußerungen Hitlers über den vorbildlichen „Rassestaat“189,dienureinen kleinen Personenkreis erreichten, nicht 187 H.BERVE, Griechische Geschichte. I. Freiburg 1931, 157f. (Seinen Vergleich mitdemOrden hatBerve auch später gerne wiederholt, z.B. unten S. 46). –Ungeachtet derweithin zustimmenden Resonanz, die Berves Darstellung fand, wurde doch gelegentlich gerade an seinem Spartabild Kritik geäußert, so z.B. vonJ. HASEBROEK, Gnomon 8, 1932, 343: „ Auch für das Doriertum ... ist die vonB. gegebene Charakterisierung in deroutrierten, fast manierierten Formmeines Erachtens nicht haltbar.“

188 Die Einzelbelege bei V. LOSEMANN, Nationalsozialismus undAntike. Hamburg 1977, 206 f. undDERS., Programme Deutscher Althistoriker in der„Machtergreifungsphase“, Quaderni di storia 11, 1980, 63 ff. –Es versteht sich vonselbst, daßBerve injenen Jahren immer wieder denRang Spartas betonte, so zumBeispiel in seinem Beitrag >Was ist vondergriechischen WerdenWert vonVölGeschichte lebendig?< Süddeutsche Monatshefte 33, 1935/6, 724: „ kern, Staaten odermenschlichen Gesellschaften nurdanach mißt, wassieanWerken derKunst unddes reinen Geistes aufzuweisen haben, demkann Sparta öde undroh erscheinen, doch sollte auch er nicht vergessen, daßdergrößte Denker derGriechen hier wenn irgendwo ein Vorbild würdigen Lebens sah. Dennnicht in Schöpfungen eines hohen Geistes, auch nicht in bahnbrechenden Leistungen, sondern in der vollkommenen Gestaltung des gemeinschaftlichenLebens erkannte derHellene diehöchsten Werte desMenschentums. ... Darum istSparta auch nicht ein überzüchtetes Gebilde, sondern eine der größten Taten des griechischen Genius.“

189 Nach E. NOLTE, DerFaschismus in seiner Epoche. München 21965, 500 bezeichnete Hitler in ; nach J. C. denklarsten Rassenstaat derGeschichte“ einer Rede desJahres 1929 Sparta als „ Ein verzweifelter FEST, Hitler. Frankfurt 1973, 989 soll er imFebruar 1945 geäußert haben: „ Kampf behält seinen ewigen WertalsBeispiel. Mandenke anLeonidas undseine dreihundert Die Tischgesprächen“kamHitler zweimal aufSparta zusprechen: „ Spartaner.“Auchinden„ 4. 2. Suppe, dieichinHolstein gefunden habe, istmeines Erachtens dieSuppe derSpartaner.“ 1942. Stuttgart 1942 –nach H. PICKER, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941– MankannaufdieDauer mit6000 spartanischen Familien nicht 340 000 Heloten 1963, 173. –„ meistern undKleinasien undSizilien dazu beherrschen. Daß das überhaupt einige hundert Jahre gelang, ist ein Beweis für die Großartigkeit dieses Blutes.“A .a.O., 177 (17. 2. 1942) – Schon im„ 2. Buch“formuliert Hitler: „ Die Herrschaft der6000 Spartaner über 3 ½ Hunderttausend Heloten warnurdenkbar infolge desrassischen Hochwerts derSpartaner. Dieser aber wardas Ergebnis einer planmäßigen Rasseerhaltung, so daß wir im spartanischen Staat den ersten völkischen zu sehen haben. Die Aussetzung kranker, schwächlicher, mißgestalteter

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Görings pathetische Beschwörung derThermopylen während desEndkampfes von Stalingrad190 oder R. W. Darrés der Blut-und-Boden-Mystik verhaftete undmit seinen konfusen Agrarrechtstheorien verquickte Vorstellungen desidealen Bauernstaates191 am wichtigsten geworden –um von den Auslassungen des ReichserKinder, d.h. deren Vernichtung warmenschenwürdiger undinWirklichkeit tausendmal humaneralsdererbärmliche Irrsinn unserer heutigen Zeit, diekrankhaftesten Subjekte zuerhalten.“ G. L. WEINBERG, Hitlers zweites Buch., Stuttgart 1961, 56. Zuletzt V. LOSEMANN, Nationalsozialistische Weltanschauung undHerrschaftspraxis 1933– 1935, in: K. MALETTKE (Hrsg.), 52, bes. 23 ff. DerNationalsozialismus anderMacht. Göttingen 1984, 9– 190 „Meine Soldaten, die meisten voneuch werden voneinem ähnlichen Beispiel der großen gewaltigen Geschichte Europas gehört haben. Wennauch damals dieZahlen klein waren, so gibt es letzten Endes doch keinen Unterschied derTat als solcher. Vor 2 1/2 Jahrtausenden stand in einem kleinen Engpaß in Griechenland ein unendlich tapferer undkühner Mannmit dreihundert seiner Männer, stand Leonidas mitdreihundert Spartanern, auseinem Stamm, der wegen seiner Tapferkeit undKühnheit bekannt war.Eine überwältigende Mehrheit griff diese kleine Schar immer wieder aufsneuean.DerHimmel verdunkelte vonderZahlderPfeile, die abgeschossen wurden. Auch damals war es ein Ansturm von Horden, der sich hier am nordischen Menschen brach. Eine gewaltige Zahl vonKämpfern stand Xerxes zurVerfügung, aber die dreihundert Männer wichen undwankten nicht, sie kämpften einen aussichtslosen Kampf, aussichtslos abernicht inseiner Bedeutung. Schließlich fiel derletzte Mann. Indiesem Engpaß steht nuneinSatz: ‚Wanderer, kommst dunachSparta, soberichte, duhabest unshier liegen sehen, wie dasGesetz es befahl!‘Es waren dreihundert Männer, meine Kameraden, Jahrtausende sind vergangen, undheute gilt jener Kampf undjenes Opfer dort noch so heroisch, immer noch als Beispiel höchsten Soldatentums. Undes wird noch einmal in der Geschichte unserer Tage heißen: Kommst dunachDeutschland, so berichte, duhabest unsin Stalingrad kämpfen sehen, wie dasGesetz, dasGesetz für die Sicherheit unseres Volkes es befohlen hat.“–Zitiert nach: J. WIEDER, Stalingrad unddie Verantwortung des Soldaten. München 1962, 327 f. 191 R. W. DARRÉ wollte Sparta insbesondere als idealen Bauernstaat verstanden wissen, nicht in erster Linie als Militärstaat. In seiner Monographie Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse. München 1929, schilderte er denAufbau des spartanischen Staates zuIn diesem nächst in enger Anlehnung an Busolt (157 ff.). Dann kamer zu demSchluß: „ erstaunlich klar undeinfach aufgebauten spartanischen Staate wirdmannichts entdecken, was auf einen schmarotzenden, ausschließlich demSchwerte unddemGrund undBoden gegen-

über ohne Verantwortungsbewußtsein dahinlebenden nomadischen Adel schließen lassen einBeispiel könnte.“ A.a.O., 162. Diejährliche Kriegserklärung andieHeloten warnachihm„ dafür, daßdie Spartaner durchaus kein Volk gewesen sind, demderKrieg selbstverständlich war. In diesen Maßnahmen scheint sich doch echtes nordisches, schwerfälliges Bauernblut kundzutun, welches denKampf zwarbejaht, aberdenKrieg als solchen nurbei außergewöhnlichen Anlässen kennt. Kein Nomadenvolk derWelt ist bisher je auf denGedanken gekommen, mit einer unterworfenen Bevölkerung, die so viele Schwierigkeiten machte wie die

Heloten, derart umständlich –undmanmußsagen: miterstaunlichem Verantwortungsgefühl gegen das menschliche Leben –zu verfahren.“Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse. München 1933, 166. –Imgleichen Jahre wiedasWerk vonDarré erschien auch die später zu kanonischem Rang gelangende Monographie vonH. F. K. GÜNTHER, Rassen42 geschichte deshellenischen unddesrömischen Volkes. München 1929, inderSparta S. 37– Die Lykurgische Verfassung versucht unbewußt, die abgehandelt wurde. Günther meinte: „ Rassenschichtung zuerhalten, bewußt, Erbgesundheit zufördern.“A.a.O., 38. –Ein anderes Beispiel jener Richtung botH.FUNKE, Rasse, Leistung undSchicksal inSparta. Diespartanische Geschichte ein Sieg des Standesbewußtseins über den Willen zur Volksgemeinschaft, Der 64. Morgen 5, 1929, 56–

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ziehungsministers Rust192, derPädagogen vomSchlage eines E. Krieck193 undder beflissenen Schulmänner zuschweigen. Fürdasallgemeine Spartabild dieser Zeit waren auch die einschlägigen Habilitationsschriften194 undDissertationen195 und dieaktualisierenden Zeitschriftenaufsätze196 wenig erheblich. Sondern amwichtigsten wurde dafür Helmut Berves kleines Spartabuch ausdemJahre 1937, dasauch 1944 nocheinmal nachgedruckt worden ist. Aufdiese Schrift mußdaher hier näher eingegangen werden. Die Kontinuität der Gesamtkonzeption mit Berves früheren Wertungen ist evident, obwohl der Autor in seiner Apotheose des dorischen Geistes und des dorischen Menschen, inerster Linie jedoch desdorischen Adels, hierweiter gingals jemals zuvor. So konstatierte er bereits für die Anfänge, daßes „ zu einer blutsmäßigen Vermischung derEinwanderer mitderansässigen Bevölkerung“niekam, „ dazu warderGeist derDorier zuaristokratisch exklusiv, ihr Instinkt zurein und stark.“(15) In Sparta konnte nach Berve „ derGeist dernordischen Einwanderer, derin so vielen Zügen sich germanischem Wesen verwandt zeigt, dieideale Form (16). desLebens verwirklichen, dieinihmvonNatur angelegt war“ Ihren Höhepunkt erreichte Berves Idealisierung Spartas in seiner eingehenden Beschreibung des spartanischen Kosmos: „Schwere äußere Erfahrung und der Durchbruch tiefster Instinkte undWerte desdorischen Menschen wirkten zusammen, jene bewunderswerte Leistung hervorzubringen, die wir als Schöpfung des historischen Sparta bezeichnen dürfen.“(34) Die „neue Lebensordnung“aber, zu die Selbstformung des Adels“verstanden der Sparta hier fand, wollte Berve als „ zu den ganz wissen. Die neue Gestaltung des Gemeinschaftslebens zählte er „ großen, ewig beispielhaften Schöpfungen desHellenentums“ . Auch hierbei wurde daßes nicht bloß Kriegsnot, sondern ein sittlicher, ausdenletzten Tiefen betont, „ des dorischen Wesens quellender Wille war, der, aufgerufen durch die äußere (36). Gefahr desAugenblicks, eine dauernde Form schuf“ Bemerkenswert ist Berves Versuch, dasSelbstverständnis desdorischen Adels, umden seine Gedanken immer wieder kreisten, zu erfassen: „Denn wie in der Tempelform, die nicht ohne Grund diedorische heißt, dasGesetz desGanzen den einzelnen Baugliedern ihr Lebensrecht gibt, so empfindet der dorische Adel in Sparta, anders als der individualistischer gestimmte Jonier, den einzelnen jetzt

Ichlasse keinen Zweifel darüber, daßwireine ArtSpartiatentum großziehen müssen unddaß 192 „ diejenigen, die nicht bereit sind, indiese Spartiatengemeinschaft einzutreten, darauf verzichten müssen, jemals Staatsbürger zu werden.“B. RUST, Ansprache bei der Eröffnung der Hochschule fürLehrerbildung inLauenburg/Pommern am24. 6. 1933, zitiert nachH.SCHOLTZ, Nationalsozialistische Ausleseschulen. Göttingen 1973,

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193 Zuseiner Konzeption: K. CHRIST, Römische Geschichte unddeutsche Geschichtswissenschaft. München 1982, 200. 194 E. KIRSTEN, Die dorische Landnahme. Habilschr. Heidelberg 1940; O.-W. VONVACANO, Lelegia. Eine vorgriechische Siedlung aufdemKufówuno bei Sparta. Habilschr. Graz 1944. 195 Vgl. unten S. 49. 196 Als Beispiele seien erwähnt: E. KIRSTEN, Die Entstehung des spartanischen Staates, Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 1936, 385– 400; K. GROSS, Thermopylai in künstlerischer Gestaltung bei Herodot, Neue Jahrbücher fürAntike unddeutsche Bildung 3, 94. 1940, 87–

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durch dieOrdnung desGanzen gerechtfertigt, nuralsGlied desGanzen wertvoll... Einem Orden gleich, demdergeformte spartanische Adelweiteherähnelt alseinem modernen Staat, strebt die Gemeinschaft deredlen Männer danach, ihr Gesetz zu verwirklichen, dasgöttliche Fügung aufgerichtet hat, unddieses Gesetz verlangt Kriegertum auch ohne Kriege, Enthaltsamkeit auch ohne Zwang derVerhältnisse, Gleichheit trotz der tatsächlichen Ungleichheit der einzelnen, ihrer Herkunft und ihres Besitzes.“(38f.) Offensichtlich begeisterte sich Berve für alle Elemente undInstitutionen dieser aristokratischen Männergesellschaft Spartas. In derAussetzung jener Knaben, die als„unbrauchbar“befunden wurden, saherlediglich dasAufgreifen alter „Stammessitte einer natürlichen Zuchtwahl“(39). Die Päderastie „ diente ... demKosmos“ (47). „Bändigung derTriebe undihre Einfügung in die nureine Zielrichtung frei lassende Gemeinschaftsform schafft hier wiedort (d.h. in Sparta wiein denRitterorden desMittelalters) einen Typus desHerrenmenschen, derin demselben Maße sein Ansehen steigert, indemer dieBedürfnisse undWünsche natürlicher Menschlichkeit unter sich läßt.“(45) Ein „ an Gehorchen gewöhnter undzumBefehlen berufener Herrenmensch“(121) war das Produkt spartanischer Erziehung, die wiederum nuraus ihrem genuin aristokratischen, männlich-militärischen Geist zu Dieser Geist ist aber auchdereherne Hort adligen Sinnes gewesen, begreifen war: „ als dieser Sinn ringsum in Hellas erstarb, undhatin seiner unbeugsamen Starrheit dieIdee eines höheren Lebens biszuletzt aufrechterhalten.“(44) Bezeichnenderweise endete Berves Darstellung schon mit der Schlacht von Mantinea imJahre 362v.Chr.DenEpilog bildete danneinpathetischer Hinweis auf WiedieZeitlosigkeit :„ Spartas Rolle als„ WertinderGeschichte desAbendlandes“ eines Kunstwerkes darin beschlossen liegt, daß es letzte Triebe undSehnsüchte menschlichen Seins verleiblicht in Wort oder Bild, so ist die Ewigkeit historischer Erscheinungen andieVerwirklichung letzter menschlicher Aufgaben geknüpft. In diesem Sinne besitzt die Geschichte Spartas Ewigkeit für alle dem griechischen Volk letztlich verwandten Völker, zudenen wirunsheute bewußter zählen alsje. Denn wasGesetz undGemeinschaft, Hingabe, Haltung undForm, wasdie Kraft eines stolzen Willens, Versuchung der Macht, Unehrlichkeit einer scheinbaren Größe bedeutet, das stellt sie in einfachen, großen Bildern vor unseren fragenden

Blick.“(147)

Berve hatte schon früh vom wissenschaftlichen Standpunkt aus Bedenken gegen die banalen Exzesse grobschlächtiger Anwendung der Rassenlehre und anderer zentraler Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung auf die Geschichte desAltertums geäußert.197 Umso überraschender wares, daßauch sein Buch letzten Endes mitvielen Grundvorstellungen dieser Ideologie konform ging: Die Verfechter desrassischen Primats desnordischen „Herrenmenschen“konnten sich in ihm ebenso bestätigt finden wie die Organisatoren der Ausmerzung 197 H.BERVE, Antike undnationalsozialistischer Staat, Vergangenheit undGegenwart 24, 1937, 268: „ soeinfach, daßalles Positive indogermanisch odergar, wiemanvielfach sehrunbekümmert sagt, nordisch sei, während alles andere etwa derMittelmeerrasse angehöre, liegen die Dinge wahrlich nicht.“Vgl. auch DERS., Sparta. Leipzig 1937, 7.

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„ lebensunwerten“Lebens oder diePropagandisten eines neuen, männlich-militärischen Geistes. Berves Identifikation mitdemStaat derdorischen Herrenmenschen ging soweit, daßselbst dieinhumanen Zügedieser Gesellschaft implizit gerechtfertigt wurden. Die Kälte gegenüber allem Nicharistokratischen, gegenüber UrBastarden“ , Heloten undallen Nichtprivilegierten einwohnern, später Messeniern, „ insgesamt, die zurkonsequenten Verabsolutierung desspartanischen Herrenstandpunktes komplementär ist, bleibt einer dererschreckendsten Züge dieses Buches. Gewiß waren Berve dieverbrecherischen Konsequenzen undFolgen dernationalsozialistischen Ideologie während desZweiten Weltkrieges unbekannt, als er sein Spartabuch im Jahre 1937 veröffentlichte. Als 1944 die zweite Auflage erschien, dürfte mancher Leser –nach Stalingrad –mitEntsetzen jene Sätze gelesen haben, diebeiBerve dieVorgänge andenThermopylen feierten. DenndasHeldentum der daß sie, fern von der dreihundert Spartiaten umLeonidas lag nach ihm darin, „ Heimat, aneiner Stelle, wohin derBefehl sie gestellt hatte, aushielten auskeinem Wiedie Größe, so lag auch die (78). „ anderen Grunde, als weil es so Befehl war“ Wirkung derTat gerade in ihrer Nutzlosigkeit.“(79)198 Sparta undHelmut Berve waren indernationalsozialistischen Ärageradezu zu Synonymen geworden. Inmitten derausdenverschiedensten Strömungen genährten allgemeinen Sparta-Hochkonjunktur versuchte Berve einerseits die modischen Auslassungen eifernder Ignoranten zu zügeln199, andererseits blieb er trotzig bei seinem Stoff: Noch für den2. Mai 1945 wurde in München vonihmein Vortrag über dasThema „Sparta“angekündigt200. Doch alle Beschwörungen desHeldentums an den Thermopylen201 und die von Richard Harder besorgte Verbreitung

198 Die entsprechenden Sätze sind in H.BERVE, Gestaltende Kräfte derAntike. München 21966, 132 f. wiederabgedruckt worden. 11. 199 H. BERVE, Vier Sparta-Bücher, Gnomon 17, 1941, 1– 200 V. LOSEMANN, Nationalsozialismus undAntike. Hamburg 1977, 231, Anm. 173. 201 Verständnis undMißverständnis der Schlacht an den Thermopylen, insbesondere aber die Mobilisierung dieser Tradition hätten längst eine eigene Untersuchung verdient. Aus der umfangreichen modernen Spezialliteratur über die Schlacht an denThermopylen seien hier lediglich hervorgehoben: J. B. BURY, TheCampaign of Artemisium andThermopylae, Annual of the British School at Athens 2, 1895/6, 83–104; W. K. PRENTICE, Thermopylae and 18; FR. Artemisium, Transactions of the American Philological Association 51, 1920, 5– 241; H.SCHAEFER, DieSchlacht beidenThermopylen, MILTNER, ProLeonida, Klio 28, 1935, 228– 517 (= DERS., Probleme der Alten Geschichte. Göttingen 1963, Die Wandlung 3, 1948, 504– 27; A. DASCALAKIS, 166); J. R. GRANT, Leonidas ‘Last Stand’, Phoenix 15, 1961, 14– 153– Problèmes historiques autour dela bataille desThermopyles. Athen 1962; DERS., Les raisons réelles dusacrifice de Léonidas et l’importance historique de la bataille des Thermopyles, 82; J. A. S. EVANS, The ’Final Problem’ at Thermopylae, Greek, Studii Clasice 6, 1964, 57– 237; G. B. PHILIPP, Wie das Gesetz es befahl? Roman andByzantine Studies 5, 1964, 231– 45; J. A. S. EVANS, Bemerkungen zueiner neuen Leonidaslegende, Gymnasium 75, 1968, 1– 406; R. HOPE SIMPSON, Notes on Thermopylae and Artemisium, Historia 18, 1969, 389– 11. Es ist kein Zufall, daß der Beitrag >Sparta, Leonidas’ Decision, Phoenix 26, 1972, 1– 29 mitderBeschwörung des Vorbild undMahnung< vonFR.MILTNER, Die Antike 19, 1943, 1– Nordisches Rassengut als der Hauptbestandteil des Beispiels der Thermopylen einsetzte, „ rassenpsychologischen Spartanertums“(7) stand auch für Miltner außer Frage, obwohl er „ Ausdeutungen gegenüber Vorsicht“(8) walten lassen wollte. Zuwelchen Folgerungen dieser ja nicht unkritische Althistoriker kam, zeigt seine Beurteilung des„statischen“Charakters der

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altspartanischer Kampflieder

undSpartabild

des Tyrtaios202 vermochten den „Endsieg“nicht

mehr herbeizuzwingen. EswarkeinZufall, daßBerves Position ineinem 1940 erschienenen Arbeitsheft

der Adolf-Hitler-Schulen >Sparta. Der Lebenskampf einer nordischen Herrenschicht< ausführlich zumAbdruck gelangte, dennvon 1933 anorientierte sich die

nationalsozialistische Erziehungspolitik immer wieder amspartanischen Modell.203 Es ist hier nicht derOrt, umdiese vielfältigen Auswirkungen nachzuzeichnen und zubelegen. Insgesamt gesehen bleibt zukonstatieren, daßidealisierte Konzeptionen spartanischer Agoge im Sinne von Ehrenberg undBerve eine kaum vorstellbare Breitenwirkung erlangten. Es sollte nicht übersehen werden, daßderSparta-Kom-

plex deshalb fürdenNationalsozialismus sehrhandfeste undpraktische Auswirkungen hatte, weit elementarere undexistentiellere als wohl jede andere Phase der Neubelebung spartanischer Tradition.

Eswilldünken, daßeinederartige entwicklungsfeindliche Grundspartanischen Außenpolitik: „ haltung zudemin Sparta aufs höchste ausgeprägten Kriegertum ebenso imWiderspruch steht wiezuallem, waswirvondemWesen desnordischen Menschen zuwissen glauben, dersichja gerade in der Gestalt des spartanischen Kämpfers kundzutun scheint undin der restlosen Hingabe an die Gemeinschaft dergleichem Blut entsprossenen Menschen. Mankönnte zunächst geneigt sein, diesen Widerspruch ausderdurch die Erkenntnisse derSprachforschung erhärteten Mischung nordischen Rassengutes mitdemillyrischen Menschentum zuerklären, sofern wir in diesem mitdinarischen Rassebestandteilen zurechnen haben. Doch auch dem dinarischen Menschen wird man nicht grundsätzlich Entwicklungsfreudigkeit und Entfaltungssinn absprechen können, mag auch zeitweilig in ihm die Dynamik in höherem Maße potentiell gebunden denn kinetisch wirksam sein. Man wird daher bei sorgsamem

202 203

Abwägen unserer gewiß noch äußerst lückenhaften rassenpsychologischen Kenntnisse eher der Auffassung zuneigen, daß die beiden hier miteinander vermengten Grundbestandteile einander positiv hätten ergänzen undin ihrer Wirkfähigkeit hätten steigern müssen; undman wirdvielleicht gerade inderbesonderen Stärke derGemeinschaftsidee eine solche gesteigerte A.a.O., 28. Wirkung desZusammenklanges derbeiden Elemente erblicken wollen.“ Diegeschichtliche Stellung desTyrtaios“lautet dasThema eines Institutsbriefs Harders vom „ April 1945. LOSEMANN, a.a.O., 172. Im Reichsministerialblatt für Wissenschaft, Erziehung... 1938, 74 wurde für den GeDie Geschichte derindogermanischen Völker schichtsunterricht im allgemeinen dekretiert: „ imsüdlichen Lebensraum ist dieAuseinandersetzung ihres Erbgutes mitfremden Einflüssen ... Mißachtung der unerbittlichen Gesetze der Rasse führte diese Völker schließlich zur Zersetzung des Blutes undder Seele unddamit zu Entartung undUntergang.“Zu Sparta Die Gesetzgebung Spartas in ihrer rassischen undbevölkerungsspeziell wurde verfügt: „ politischen, soldatischen undsozialistischen Ausrichtung. Derrassische Untergang Spartas.“ A.a.O., 74. Als charakteristisches Beispiel derRealisierung dieses Konzeptes darf das von DIETRICH KLAGES verfaßte Schulgeschichtsbuch >Volk undFührerGriechischer Geschichte

im Rahmen der AltertumsgeschichteGriechischer GeschichteGriechische Geschichte. Mit besonderer Berücksichtigung der geistesgeschichtlichen und kulturmorphologischen Zusammenhänge