Wandlungen und Brüche: Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte [1 ed.] 9783737009140, 9783847109143


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Wandlungen und Brüche: Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte [1 ed.]
 9783737009140, 9783847109143

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Johannes Feichtinger / Marianne Klemun / Jan Surman / Petra Svatek (Hg.)

Wandlungen und Brüche Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte

Mit 5 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Rektorats der UniversitÐt Wien, der Historisch-Kulturwissenschaftlichen FakultÐt der UniversitÐt Wien und des Instituts fþr Geschichte der UniversitÐt Wien.  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Innenhof des HauptgebÐudes der UniversitÐt Wien  Marianne Klemun und Fred Zimmermann Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-0914-0

Inhalt

Vorwort (Dankesworte)

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Feichtinger / Marianne Klemun / Jan Surman / Petra Svatek Wandlungen und Brüche. Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wissenschaftsphilosophie im Kontext und Ressourcenmobilisierung Lorraine Daston Kreative Missverständnisse. Zum Begriffspaar objektiv/subjektiv im englischen Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . .

23

Oliver Hochadel »Wir beseitigen das alte Paradigma!« Wie Paläoanthropologen Thomas Kuhn verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Cornelius Borck Wissenschaftsphilosophie im Windschatten der Weltpolitik. Wie Karl Poppers Idee der Falsifikation im Exil zum Erfolgsmodell wurde . . . . .

37

Friedrich Stadler Der »Naturforscher« Ernst Mach als Grenzgänger und Grenzüberschreiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Disziplinenwandel Sonˇa Sˇtrb#nˇov# Wissenschaftler zwischen zwei Diktaturen. Tschechoslowakische Biochemiker im Exil in Großbritannien von 1939 bis 1945 . . . . . . . .

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6

Inhalt

Annette Mülberger Bruch und Kontinuität in der Psychologie in Spanien vor und nach dem Bürgerkrieg (1936–1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Jörg Rheinberger Die Anfänge der Molekularbiologie in Deutschland

77

. . . . . . . . . . . .

Gerhard Baader Ludwig Teleky zwischen Gewerbehygiene und Arbeiterbewegung

. . . .

85

Monika Löscher Zwischen Aufklärung und Sittlichkeit. Zum Spannungsverhältnis von Eugenik und Öffentlichkeit im katholischen Milieu im Österreich der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Robert Frühstückl »Mitten in den Problemen der Wirklichkeit«. Überlegungen zu einer Ideologie der angewandten Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Institutionen Juliane Mikoletzky Von der Ingenieurschule zur Forschungsuniversität. Wandlungen der TH/TU Wien im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Johannes Mattes Wissenschaftspolitische Grenzverhandlungen. Zur Gründung der Lehrkanzel für Höhlenkunde an der Universität Wien (1929) . . . . . . . 119 Brooke Penaloza Patzak Die Emergency Society for German and Austrian Science and Art, 1920–1927. Eine Einführung in eine beinahe unbekannte Hilfsorganisation und der Mehrwert ihrer Erforschung . . . . . . . . . . 127 Klaus Taschwer Der Wiener Kreis und die Universität Wien revisited. Skizzen zu einer Neuinterpretation des philosophischen Denkkollektivs als kleiner Versuch in politischer Epistemologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Inhalt

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Akademien Herbert Matis Dual Use Research. Kooperationen der k. k. Kriegsmarine und der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien . . . . . . . . . . . . 145 Christine Ottner Zwischen Kontinuität und Wandel. Forschungsorganisation an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien um 1900 . . . . . . . 155 Renate Mayntz Nützliche Grundlagenforschung? Variationen über ein altes Thema

. . . 165

Wissensordnung Meta Niederkorn-Bruck Untersuchung zu Texten aus der Wiener Mathematischen Schule in den Bücherbeständen der Kartause Aggsbach im ausgehenden Mittelalter . . 173 Thomas Stockinger Zacharias episcopus incertae sedis. Diplomatik und Überlieferungsgeschichte einer irrig ausgestellten Fahrkarte für den Zug der europäischen Literargeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Thomas Wallnig Monarchia Austriaca und Res publica litteraria als Ressourcen füreinander? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Annelore Rieke-Müller Dresdner Romantik 1806 bis 1809. Caspar David Friedrichs Tetschener Altar aus kulturwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . 199

Verwaltungswissen Peter Becker Brockhausen unplugged. Reden und Schreiben über den Staat um 1900 . 211 Katalin Str#ner Wessen Wissenschaft und in welcher Sprache? Gesellschaften und Sprachen in den Naturwissenschaften im Budapest der 1860er und 1870er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

8

Inhalt

Birgit Johler Museale Praktiken in Zeiten politischer Umbrüche. Zum Erwerb der »Mythenbibliothek« nach 1945 durch das Österreichische Museum für Volkskunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Metamorphosen Tibor Frank Michael Polanyi: Der Wissenschaftler und seine politisch erzwungenen Wandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Andre Gingrich Karriere um jeden Preis? Der Völkerkundler Walter Hirschberg in Viktor Christians Wiener Einheit des SS-»Ahnenerbe« . . . . . . . . . . . . . . 253 Dieter Hoffmann / Hubert Laitko Peter Adolf Thiessen (1899–1990). Diener vieler Herren . . . . . . . . . . 265 Anna Lindemann Metamorphose. Von Hans Ernst Schneider zu Hans Werner Schwerte . . 285

Visualisierung und Mediatisierung Margit Berner Die Kopie als Objekt. Abgüsse in der Anthropologischen Sammlung des Naturhistorischen Museums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Birgit Nemec Visuelle Kulturen der Anatomie in Zeiten politischer Umbrüche . . . . . 301 Ulrike Spring Die Arktis als Wiener Wissensraum. Öffentlichkeit und Wissenschaft im späten 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Dynamiken und Revolutionen Gary B. Cohen Der Kampf der Konservativen gegen den »Schulballast«. Eine Episode aus der österreichischen Bildungsgeschichte der 1880er Jahre . . . . . . . . . 319 Paulus Ebner Mitbestimmung oder Revolution? Die österreichischen Studierenden in den 1960er und 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

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Inhalt

Bettina Wahrig Haschisch unter den Barrikaden. Ein Nachtrag in Form einer Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Praktiken Carola Sachse Bullen, Hengste, Wissenschaftler. Diplomatische Tiere im Kalten Krieg

. 345

Verena Halsmayer Planungswissen als ›applied economics‹. Effekte makroökonomischer Interventionsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Dirk Rupnow Ausländerforschung. Frühe Studien zu den »Gastarbeitern« in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Politische Kulturen Tatjana Buklijas (Dis)-Kontinuitäten von Vererbung und Entwicklung im Wien des frühen 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Thomas König Heinrich Drimmel und die österreichische Hochschulpolitik in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Christian Fleck Über die Rolle von bedeutender Intelligenz, hingebendem Fleiß und liebenswürdigen charakterlichen Anlagen als Qualifikationen für wissenschaftliche Karrieren in Österreichs Zweiter Republik . . . . . . . 391 Autor/inn/en

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

Vorwort (Dankesworte)

Dieser Band ist der Mitarbeit einer Menge von Autor/inn/en zu verdanken, die mit Ihren Beiträgen die Publikation konstruktiv bereichert haben. Dem Verlag, besonders Frau Anke Moseberg und Herrn Oliver Kätsch, sei für die schnelle und kompetente Abwicklung des Druckes auch gedankt. Dem Rektorat der Universität Wien, vor allem dem Vizerektor für Forschung und Internationales, Univ.-Prof. Dr. Jean-Robert Tyran, der Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Univ.Prof. Dr. Claudia Theune-Vogt, und besonders dem Institut für Geschichte der Universität Wien, repräsentiert durch Univ.-Prof. Dr. Andrea Griesebner und Univ. Prof. Dr. Peter Becker, allen sei für die nach der externen Begutachtung erfolgte Finanzierung des Bandes gedankt. Johannes Feichtinger, Marianne Klemun, Jan Surman und Petra Svatek, Juli 2018

Johannes Feichtinger / Marianne Klemun / Jan Surman / Petra Svatek

Wandlungen und Brüche. Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte. Einleitung

Wenn 45 Autorinnen und Autoren gemeinsam Wissenschaftsgeschichte schreiben, so gibt es einen Anlass. Mitchell Ash feiert Geburtstag, seinen siebzigsten. Ihm ist dieses Buch gewidmet. Er verfolgt kein geringeres Anliegen, als die »Beziehungsgeschichte von Wissenschaft und Politik« im 20. Jahrhundert in transnationaler Perspektive neu aufzurollen.1 »Wissenschaftswandlungen« und »politische Brüche« sind zu Schlagworten der Wissenschaftsgeschichte geworden.2 Wandlungen und Brüche stellen reflexionsbedürftige Kategorien dar, die auf verschiedenen Ebenen, der politischen, systemischen, räumlichen oder epistemischen, und als dynamische Beziehungsverhältnisse konzipiert werden. Aus diskursiver Perspektive lassen sie mehrfach aufeinander bezogene Interdependenzen sowie Gestaltungsoptionen sichtbar werden. Wandlungen und Brüche manifestieren sich vielfältig: institutionell, in Kooperationen und Mitgliedschaften, biografisch, in Forschungsprogrammen, -praktiken und -apparaturen, in wissenschaftlicher Produktion, in Formen der rhetorischen Rechtfertigung und Repräsentation, der Mediatisierung und Popularisierung wissenschaftlichen Handelns sowie in der Umgestaltung ganzer Wissenschaftskulturen durch neue politische Regime und »ideologische Neukonstruktionen« von Wissenschaftslandschaften sowie durch die emigrationsbedingte »Verbindung bzw. Vermischung von Forschungs- und Denkstilen«.3 1 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik, eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 11–46. 2 Ders., Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawliczek (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 19–37. 3 Ebd., S. 30–33; ders., Wissenschaftswandel in Zeiten politischer Umwälzungen: Entwicklungen, Verwicklungen, Abwicklungen, in: Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 95 (1995) 3, S. 1–21, S. 12; ders., Reflexionen zum Ressourcenansatz, in: Sören Flachowsky/Rüdiger Hachtmann/Florian Schmaltz (Hg.), Ressourcenmobilisierung und Forschungspraxis im NS-Herrschaftssystem, Göttingen 2016, S. 535–553, S. 549.

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In diesem Buch geben junge und arrivierte Wissenschaftshistoriker/innen Einblick in die vielfältigen Dimensionen, die Wandlungen und Brüche in der Wissenschaftsgeschichte besitzen. Die Autor/inn/en greifen dabei auf Ash zurück, der die beiden Begriffe in einer Vielzahl empirischer Fallstudien für die Wissenschaftsgeschichte fruchtbar macht. Zunächst werfen wir einen schlaglichtartigen Blick auf die Beiträge der Autor/inn/en. Die Grundzüge der Überlegungen Ashs versuchen wir abschließend summarisch darzustellen. Er konzipiert Wissenschaft und Politik als zwei miteinander »vernetzte« und ineinandergreifende »Handlungsfelder«4, »als Ressourcen für einander«5, welche die entscheidenden »Ermöglichungs- bzw. Verunmöglichungsbedingungen«6 für den »Wissenschaftswandel«7 darstellen. Wissenschaftsphilosophie im Kontext und Ressourcenmobilisierung: Die Autor/ inn/en verstehen Ressourcenmobilisierung mehrheitlich als zentralen Bestandteil der Produktivität von Wissensinnovation. Als analytische Kategorie ist ihr Potenzial bei unterschiedlichsten Phänomenen der historischen Arbeit ergiebig. Es sind nicht die bekannten Narrative, sondern eher Zoomeinstellungen anhand von wissenschaftlichen Episoden und Konstellationen, die Wissenschaft anders erklären. Das äußerst ertragfähige Begriffspaar subjektiv/objektiv erweist sich, so Daston beim Blick auf die Kant’sche Neubestimmung und ihre Rezeption bei einigen englischen Zeitgenossen, in »Biegungen« und »vielfältigen Brechungen« verstrickt. Eine Mehrstimmigkeit ist getragen von anregenden »kreative[n] Missverständnisse[n]« (Daston), die als Partikel dieser Aufbietung wirksam sind. Die Schattenseite der produktiven Ressourcenmobilisierung jedoch lässt sich im Falle des häufig (wenn nicht am häufigsten) zitierten Kuhn’schen Paradigmas manchmal auch als Vereinnahmung innerhalb einer angewandten Rhetorik bestimmen, so im Falle der spanischen Paläoanthropologen in den 1980er und 1990er Jahren nachgewiesen (Hochadel). Intellektuelle Biographien eines Karl Popper und eines Ernst Mach verorten sich in »verschlungenen Wegen« (Borck) zwischen Politik und Wissenschaft: Einmal kreuzen sie sich im persönlichen Zusammentreffen von Popper und Eccles über die Vermittlung von Marianne Fillenz in der Emigration, das andere Mal als inhaltliche Integration aller Wissensbereiche in einer übergreifenden Theorie und Methodologie des Wiener Kreises (Stadler). Disziplinenwandel: Wenn der Blick des Wandels der Disziplinen durch politische Brüche wie totalitäre Regime, des Nationalsozialismus und Kommunis4 Ders., Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten, Stuttgart 2002, S. 32–51, S. 34. 5 Ebd., S. 34. 6 Ders. 2016, S. 544. 7 Ders. 1995, S. 1–21.

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mus, bedingt zur Zwangsmigration führt und Lebenswege zwischen den Regimen bis hin zur Rückkehr verfolgt werden, lassen sich mehrmalige persönliche Brüche zwischen Anpassung und Abkehr aufzeigen (Sˇtrb#nˇov#). Der Gefahr, politischen Wandel beziehungsweise Umbrüche in ihrer negativen Auswirkung für die Wissenschaften mit diesen gleichzusetzen oder sogar noch zu überschätzen, kann entgegengewirkt werden. Dabei ist das »Wechselwirkungsmodell« Ashs brauchbar, wie etwa im Falle der Psychologie am Beispiel des Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939), wenn die Studie zeitlich ausgedehnt wird und besonders auch Kontinuitäten mitbedacht werden (Mülberger). Den Wandel in spezifischen Wissenschaftsfeldern behandeln viele der Autor/inn/en als verschränkte Wandlungen, eingebettet in politische Prozesse, in denen sich die Methoden wie in einer Matrix, in spezifischen lokalen Kontexten modulierend, stabilisierten. Sie erfolgen epistemisch bei der Etablierung der Molekularbiologie in Deutschland bzw. Tübingen (Rheinberger) oder in der praktischen Umsetzung der Sozialen Hygiene in enger Verzahnung mit den Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei in Österreich (Baader), auch in einem spezifischen Verständnis der katholischen Leseart der Eugenik in Österreich (Löscher). Mitunter kann die Frage der Verwertbarkeit innerhalb einer Disziplin im Rahmen eines politischen Systems wie dem Nationalsozialismus zur Neukonstruktion, so im Falle der Mathematik, als Ressource wirken (Frühstückl). Institutionen: Wie im genannten Beispiel lässt sich die Anwendungsorientiertheit als leitende Kategorie innerhalb eines im Wandel befindlichen »MittelZweck-Verhältnisses« auch beim Blick auf die Entwicklung von Institutionen konstatieren. Dieses stellt sich bei der Betrachtung des k.k. Polytechnischen Instituts und seiner Wandlung zur Technischen Universität Wien als sinnvoll heraus (Mikoletzky). Im Falle der weltweit einzigen Gründung einer Lehrkanzel für Höhlenkunde an der Universität Wien im Jahre 1929 zeigt sich, dass die »Umgestaltung der Ressourcenkonstellation« durch komplexe »Ent- und Abgrenzungsstrategien« (Mattes) innerhalb von Vereinen, staatlichen Kommissionen und Instituten zusammenlief. Immer ist Wirkmächtigkeit eine Konsequenz, so auch nachweisbar bei Hilfsorganisationen wie etwa der Emergency Society for German and Austrian Science and Art, 1920–1927. Sie bringen migrantische Netzwerke in den USA mit lokalen in Österreich verbunden ans Licht (Penaloza Patzak). Neue Akzente bezüglich der Erklärung der Entstehung des Wiener Kreises lassen sich dann gewinnen, wenn der Gegensatz zwischen Ideologie und den strukturellen Konflikten innerhalb der Wiener Philosophischen Fakultät kontextualisiert eben als zentrale Triebkraft der Mobilisierung verstanden wird (Taschwer). Akademien: Forschungskooperation und Forschungsorganisation als Paradigmen der Akademiegeschichte werden an konkreten Entitäten festgemacht, in denen sowohl politisch-internationale als auch wissenschaftliche Kriterien

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gleichzeitig miteinander verflochten repräsentiert sind. So ist es die »dual use research« der österreichischen Novara-Expedition, die beiden Entitäten, Wissenschaft und Militär, internationale Sichtbarkeit verbürgt (Matis), oder die Gründung eines Kartells der deutschsprachigen Akademien, die den Wandel des Forschungsbetriebs im Spannungsfeld von Tradition und Innovation um 1900 zu verorten hat (Ottner). Das ambivalente Verhältnis zwischen erkenntnisorientiertem und nützlichem Wissen, freier Forschung und Anwendungsforschung stellt sich bei genauer Analyse und dem Vergleich zwischen den beiden politischen Regimen im geteilten Deutschland keineswegs so deutlich unterschiedlich dar, wie man es im Vornhinein annehmen würde (Mayntz). Wissensordnung: In eine andere Welt der Handlungsspielräume führen vergleichende Studien über die Kataloge der Klosterbibliotheken des ausgehenden Mittelalters. Wie Fenster geleiten sie uns zu den Wissensräumen, deren Zugriffe auf Ordnungen und Texte nicht nur heute Wertschätzung erfahren, sondern bereits den vernetzten Zeitgenossen und Wissensträgern soziale Gebrauchsräume eröffneten (Niederkorn-Bruck). Eindeutig falsche Erkenntnissplitter lassen sich auf dem Weg von den Katalogen zu den Kompilationen als hartnäckig fortlebende Wissenselemente verfolgen und die Effizienz dieser Formate bestätigen (Stockinger). Die gemeinsame Ausgrenzung einer dritten Entität, des religiös gebundenen Wissens, das zwischen der Monarchia Austriaca und der Res publica litteraria als Ressourcen füreinander zu positionieren wäre, lässt andere Einblicke in diese Beziehungsgeschichte und die ihr unterlegten Kategoriensysteme erwarten als die bereits bekannten (Wallnig). Caspar David Friedrichs Tetschener Altar erweist sich als direkter Ausdruck der napoleonischen Zeit mit ihren Brüchen. Der Künstler auf der Suche nach einem natürlichen System in der Natur artikuliert Ästhetik, Natur- und Menschheitsgeschichte sowie Religion und Staat als organische Einheit (Rieke-Müller). Verwaltungswissen: Kommunikation birgt Gestaltungsoptionen in sich, die je nach Adressatengruppe verändert genutzt werden. Auf variante »Sprechweisen« in differenten, aber gleichzeitig vorhandenen »Settings« (Becker) lassen sich Experten ein, weil sie überzeugen möchten. Das Verwaltungsreformprojekt des Staates im frühen 20. Jahrhundert in Österreich beschäftigte den Staatstheoretiker Carl Brockhausen. Je nach Adressatenkreis entfernte er sich von der strengen Fachbegrifflichkeit und griff zu kreativen Metaphern und Sprachbildern, um seine Anliegen zu kommunizieren (Becker). Im Budapest der 1860er Jahre dienten wissenschaftliche Soireen gleichsam den Naturwissenschaftlern untereinander als Netzwerk wie auch ihrem Publikum zur Verbreitung aktueller Erkenntnisse (Str#ner). Im Falle des Erwerbs eines nationalsozialistischen Bücherbestandes im Umbruchjahr 1945 kamen dem langjährigen Direktor des Volkskundemuseums, einem vormaligen NSDAP-Mitglied, Erfahrungen mit »strategischem Verwal-

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tungs-Handeln« realisiert als sprachliche Anpassung auf patriotische Ausrichtung veränderter Optionen gegenüber den Behörden zugute (Johler). Metamorphosen: Epochenübergreifende Biographien, ausgesetzt den politischen Wandlungen, schärfen den Blick für Diskontinuitäten und Kontinuitäten. Michael Polanyis intellektuelle Reisen, seine Doppelmigration – drei Länder (Ungarn, Deutschland, England), drei Wissenskulturen (Medizin, Chemie und Wissenschaftsphilosophie) und drei Sprachen überschreitend – sind ein schillerndes Beispiel der Karriere eines Intellektuellen, der infolge seiner politischen Visionen und Erfahrungen als Liberaler Metamorphosen durchläuft, die gleichzeitig von großen Enttäuschungen durchwirkt sind (Frank). Willfährig hingegen und die gegebenen Bedingungen der NS-Zeit ausnützend, vermag die Assistententätigkeit des späteren Professors für Völkerkunde in Wien (1962– 1975) Walter Hirschberg (1904–1996) im Dienste der Organisation »Ahnenerbe« seiner Karriere zu dienen (Gingrich). Erklärungsbedürftig sind berufliche Aufstiege, wie die des Physikochemikers Peter Adolf Thiessen, der sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR über »den politischen Abgrund hinweg« gleichermaßen die Wissenschaftspolitik beider Staaten an oberster Stelle und als »Diener vieler Herren« maßgeblich mitgestaltete (Hoffmann und Laitko). Welche Umformung durchläuft eine Persönlichkeit, ihr Identitätswechsel, die sich vom überzeugten Nationalsozialisten und Volkskundler Hans Ernst Schneider zum linksliberalen Germanisten Prof. Hans Schwerte bewegt, ließe sich fragen. Als besonders produktiv stellt sie einen zwar fragwürdigen, aber eigenen Weg der »Selbst- und Weltveränderung« nach 1945 dar (Lindemann). Visualisierung und Mediatisierung: In den letzten Jahren ein zentrales Anliegen der Wissenschaftsgeschichte, machen sie den Zusammenhang von Wissenschaft und Politik auf besondere Weise evident. Am Beispiel der Schädelabgüsse des Naturhistorischen Museums wird diese Verbindung nachvollziehbar, da ihr Wert und ihre Bedeutung sich in Abhängigkeit von Politik und anderen Faktoren änderten. In Zwangssituationen der politischen Systeme entstanden, wirkten sie als »Ressourcenensembles«, die den Besuchern rassistische Konzepte materiell vermittelten (Berner). Auch die Lehratlanten der Anatomie, die im dichten Knäuel von sozialistischen, populären, katholischen und faschistischen Positionen je nach Neukonzeption einen Faden entwirren lassen, erweisen sich als visualisierte den politischen Kontexten angepasste »Vorstellungen von Norm und Reform« (Nemec). Ungleichzeitigkeiten zwischen Wissenserwerb und Wissensvermittlung bei der Rückkehr der österreichischungarischen Nordpolexpedition nach Wien artikulierten sich insofern einmalig, als einerseits die wissenschaftliche Effizienz des Unternehmens in Wien angezweifelt wurde, andererseits die überbordende Präsenz der Unternehmung in den Medien nicht erwünscht war (Spring). Dynamiken und Revolutionen: Die deutliche Zunahme an Einschreibungen

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im sekundären und tertiären Bildungsbereich in der Habsburgermonarchie rückte das öffentliche Bildungswesen in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in den Fokus der öffentlichen, von Konservativen bestimmten Debatte und führte zu Maßnahmen der Zugangsbeschränkung durch die Politik, deren Erfolg jedoch von der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Dynamik in den 1890er Jahren letztlich eingeholt wurde (Cohen). Ebenso öffentliche Aufmerksamkeit erlangten auch die studentischen Protestformen der Jahre 1968/69 in Österreich, die letztlich zu den Reformen der gesetzlich fixierten studentischen Partizipation 1975 führten, wobei diese Entwicklung durchaus als große Umwälzung bewertet werden kann (Ebner). Politische und wissenschaftliche Umbrüche, als »Zeitfaltungen« verstanden, vermischen sich im Dunstkreis des Risorgimento ebenso wie auch die Selbstexperimente mit Haschisch, die eine wissenschaftliche wie auch literarische Ausbeute liefern (Wahrig). Praktiken: Wenn Zuchtbullen, Hengste, Wissenschaftler und die BugwashConferences on Science and World Affairs zwischen den zwei Machtblöcken des Kalten Krieges oszillieren und in die jeweiligen unterschiedlichen Praktiken der Tierzüchtung wie auch der Diplomatie als miteinander verschränkt und von politischer Machtsymbolik getragen behandelt werden, dann artikulieren sich die Wege des Austauschs ähnlich vieldeutig wie ihre Kommunikatoren (Sachse). Wenn staatliche ökonomische Steuerungsprozesse als Assemblagen von Artefakten, Inskriptionen und Praktiken der makrohistorischen Planungen des skandinavischen Wohlfahrtstaates erörtert werden, dann werden Infrastrukturen der Regierungstechniken erst sichtbar (Halsmayer). Wenn die von den österreichischen Sozialpartnern ausgehende sozialwissenschaftliche Forschung über die seit den 60er Jahren bestehende Ausländerbeschäftigung in die Diskussion über den Status der 1970er Jahre als Umbruchzeit einbezogen wird, dann zeigt sich die Tatsache, dass diese Studien an der Entstehung des »Problemdiskurses« über Ausländer in Österreich massiv beteiligt waren (Rupnow). Politischen Kulturen: Die engen Beziehungen zwischen Biologie und intellektuellen Traditionen lassen sich am Beispiel der Forschungen im Wien des frühen 20. Jahrhunderts als spezifische lokale »Kultur der Vererbung« bezeichnen (Buklijas). Ein spezieller Zugang zur Eugenik baute auf Darwins Theorie, nicht jedoch auf Malthus’ Paradigma und auf eine holistisch motivierte Reaktion gegen reduktionistische Ansätze. Die katholisch-konservativ gefärbte Haltung des Sektionschefs und Unterrichtsministers Heinrich Drimmel mit seiner deutlichen Nähe zum Österreichischen Cartellverband CV führte dazu, dass er mit seinem Engagement für die Universitäten stets politisch handelte, indem er sich vom politischen Katholizismus nicht löste und bei Berufungen die Zugehörigkeit zum CV bei Kandidaten als unerlässlich verstand (König). Das ohne Ausschreibung erfolgte Berufungsverfahren des Berufspolitikers und Unterrichtsministers Ernst Kolb und seine Ernennung zum Professor des Rechts an

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der Universität Innsbruck im Jahre 1957 ist für Fleck ein Exempel, das symptomatisch für die biotopische Standespolitik der (Selbst)rekrutierung von Professoren in der Zweiten Republik bis zum Jahre 1975 als politische »Handlungsfacette« steht. Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander : Mitchell Ash schreibt Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte. Dabei stellen vor allem wissenschaftliche Institutionen den Rahmen für Wissensproduktion dar. Institutionen sind selbst mit Macht ausgestattet und in spezifische Machtverhältnisse eingebettet, nach denen intern Entscheidungen getroffen werden; sie sind aber auch externen, d. h. staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Anforderungen ausgesetzt. Davon ausgehend, betrachtet er die beiden Handlungsfelder Wissenschaft und Politik als ein Geschäft, von dessen Abschluss beide Seiten durch neue Gestaltungsmöglichkeiten profitieren können. Soziologische Ansätze (u. a. von Pierre Bourdieu) aufgreifend, versteht Ash Wissenschaft als Akteur/inn/en-, Institutionen-, Diskurs- und Praktiken- geleitetes Forschen und Handeln, Politik als ein staatlich-administratives und forschungsinstitutionelles Agieren. Beide Kategorien werden als voneinander untrennbare, vernetzte Handlungsfelder begriffen, als »moving targets«8 : »All das, was zu einer gegebenen Zeit als Wissenschaft und was als Politik gelten mag«, befindet sich, so Ash, »im ständigen Wandel«.9 Konstant bleibt allerdings das »Mittel-ZweckVerhältnis«10, das sich in der Mobilisierbarkeit bzw. Mobilisierung bestimmter Ressourcen bemisst. Ressourcen sind vielgestaltig, von materieller, kognitiver, diskursiver oder praktischer Art und umfassen u. a. auch rhetorische Strategien. Ermöglichungs- bzw. Verunmöglichungsbedingungen: Sie schärfen den Blick für Handlungsspielräume, die sich für Forscher/inn/en durch Wandlungen und Brüche eröffnen oder verschließen. Von ihnen hängen Berufskarrieren, Forschungspraktiken und Programme wissenschaftlicher Produktion ab. »Ermöglichungsverhältnisse«11 sind in Zeiten politischer Umbrüche und staatlicher Regimewechsel besonders untersuchungswert, weil der Wissenschaftswandel »sowohl konzeptioneller als auch institutioneller Art am häufigsten durch Verwicklungen – d. h. durch neue, komplexe Verbindungen vor allem zum Staat«12 in Gang gesetzt und sichtbar gemacht werden kann. Wissenschaftswandel und politische Umwälzungen: Die Verknüpfung dieser spezifischen Ressourcen zu Ensembles, so genannte »Ressourcenensembles«13, und die »Ermöglichungsverhältnisse« sind das Mittel, über das Akteurinnen und 8 9 10 11 12 13

Ders. 2016, S. 537. Ebd., S. 538. Ebd., S. 544. Ders. 2006, S. 36. Ders. 1995, S. 3. Ders. 2016, S. 536.

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Akteure verfügen, um Wandlungen in der Wissenschaftspraxis herbeizuführen. In Zeiten »politischer Umwälzungen«14 werden »Ressourcenensembles« auf den Prüfstand gestellt und neu verhandelt. Die Politik bestimmt, wer Wissenschaftler sein darf und was geforscht wird, und die Wissenschaft entscheidet, welche Ressourcen sie im Rahmen welcher neuen Projekte mobilisiert, wie sie welches Wissen erzeugt bzw. nicht erzeugt.15 Politische Brüche bedingen die »Um- oder Neugestaltung von Ressourcenkonstellationen«16 und verändern überhaupt die »Ermöglichungs- und Verunmöglichungsbedingungen« für wissenschaftliche Produktion. In Zeiten von politischen Brüchen zeigt sich durch die neu auszuhandelnden »Ermöglichungsverhältnisse«17 und »verändernden Vernetzungen«18 der »völlig intendierte Gebrauch«19 der Wissenschaft durch die Politik und nicht zuletzt auch vice versa. Von einer »Indienstnahme«20 der Wissenschaft durch die Politik ist keine Rede mehr. Wissenschaftler/innen werden als »bewusst, zuweilen recht selbstbewusst handelnde Subjekte«21 analysierbar. Brüche erscheinen als selbst»verordnet«, Wandel und Kontinuitäten als »konstruiert«.22 Damit gewinnt auch Wissenschaftsverantwortung eine historische Dimension,23 detto: wissenschaftliche Praktiken und Diskurse. Mit diesem – hier nur kursorisch zusammengefassten – Ansatz hat Mitchell Ash an der Universität Wien, an der er zwei Jahrzehnte lang erfolgreich gelehrt hat, die Wissenschaftsgeschichte als ein Fach der Allgemeingeschichte etabliert. Diese Innovation darf die Universität Wien mit ihren politischen Brüchen, Antisemitismus-, Rassismus-, Gewalt-, Diktatur-, Vertreibungs- und Vernichtungserfahrungen, Verwerfungen, Brüchen und Wandlungen im 19. und 20. Jahrhundert,24 als Erfolg verbuchen.

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Ders. 1995. Ders. 2016, S. 537. Ders. 2006, S. 25. Ebd., S. 36. Ders. 2002, S. 34. Ebd., S. 32. Ders. 1995, S. 4; ders. 2010, S. 17. Ders. 2002, S. 33. Ders., Verordnete Umbrüche, konstruierte Kontinuitäten. Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 903–923. 23 Ders., Wissenschaft und Verantwortung. Zur Historisierung einer diskursiven Formation, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Universität im öffentlichen Raum (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 10), Basel 2008, S. 311–344. 24 Vgl. ders., Die Universität Wien in den politischen Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: ders./Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft. 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert. Band 2, Göttingen 2015, S. 29–172.

Wissenschaftsphilosophie im Kontext und Ressourcenmobilisierung

Lorraine Daston

Kreative Missverständnisse. Zum Begriffspaar objektiv/subjektiv im englischen Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts Mitchell Ash zu seinem 70. Geburtstag gewidmet

Wissen und Wissenschaft wachsen nicht nur durch Innovation. Kreative Missverständnisse spielen auch eine Rolle, insbesondere wenn Begriffe in andere Sprachen und Kontexte übersetzt werden. Diese Fallstudie zeigt wie die kantianischen Termini »objektiv« und »subjektiv« im 19. Jahrhundert im englischen Sprachraum adaptiert wurden. Knowledge and science grow not only through innovation but also through creative misunderstanding, especially when concepts are translated into other languages and contexts. This case study shows how the Kantian philosophical terms »objective« and »subjective« were adapted to the anglophone intellectual context in the nineteenth century.

An meine erste Begegnung mit Mitchell Ash erinnere ich mich nicht mehr – so lange ist sie her. Aber ich erinnere mich sehr wohl an den ersten Vortrag, den ich von ihm hörte: Eine Analyse der amerikanischen Karriere des Psychologen Kurt Lewin, Professor an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin bis 1933 und dann, nach seiner Flucht aus Deutschland, an der University of Iowa und am Massachusetts Institute of Technology bei Boston. Statt auf die vielen Missverständnisse und die Verzerrung von Lewins Theorien im amerikanischen Kontext zu fokussieren, hat Mitch ein sehr nuanciertes Bild von Lewins Transformation als Psychologe im Exil gezeichnet und dabei die Kreativität dieses Prozesses in den Vordergrund gestellt. Angefangen mit der Aussprache seines Namens erfand Lewin sich neu, und nicht im negativen Sinne von Verdrängung oder gar Adaption, sondern im positiven Sinne eines Lernprozesses. Etliche Intellektuelle aus dem deutschsprachigen Raum konnten sich im amerikanischen Exil nie zurechtfinden, und einige hat dieser Verlust sogar zum Selbstmord getrieben. Lewin hingegen sah das Potential einer fruchtbaren Hybridisierung seiner Theorien mit amerikanischen Ideen und auch sozialpolitische Erfordernisse als willkommene Herausforderung an. »Assimilation« wäre ein zu schwaches und zu negatives Wort, um diese Transformation zu beschreiben. Nach Mitch’s Darstellung ist es Lewin gelungen,

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Lorraine Daston

etwas genuin Neues aus seiner Begegnung mit der amerikanischen Psychologie zu schaffen. Wie Mitch in einem späteren Aufsatz zu diesem Thema schrieb: »Kurt Lewin not only adapted to the intellectual and institutional situation of American psychology in the 1930s and 1940s; he helped to shape that situation.«1 Der Vortrag, den ich vor mehreren Jahrzehnten hörte, ist lang in Erinnerung geblieben, weil seine Vorstellung von der Begegnung zwischen unterschiedlichen intellektuellen Traditionen so erfrischend anders war, als die meisten Wissenschaftshistoriker damals annahmen. Das herrschende Modell solcher Begegnungen ähnelte entweder einem Spiegel oder einem Krieg. Im besten Fall war die Rezeption einer importierten Idee oder Theorie in einer anderen Kultur eine eins-zu-eins-Abbildung des Originals, nur übersetzt in eine Fremdsprache: der Spiegel. In schlimmsten Fall gab es unüberwindbare Spannungen zwischen den importierten Ideen und der neuen Umwelt, mit dem Ergebnis von Verzerrung oder sogar Verlust: den Krieg. Vor diesem Hintergrund war die Idee, dass eine intellektuelle Begegnung beide Seiten verändern konnte – und dies sogar auf eine produktive Art und Weise – eine Offenbarung. In diesem kurzen Aufsatz möchte ich Mitch’s fruchtbare Idee auf eine andere Rezeptionsgeschichte anwenden, nämlich auf diejenige des Begriffs der Objektivität in der deutschen und englischen Sprache der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Verwandte Wörter in den europäischen Sprachen stammen aus dem Lateinischen Adjektiv obiectivus (und sind fast immer mit subiectivus gepaart). In den philosophischen Debatten des 14. Jahrhunderts zwischen Nominalisten und Realisten bezog sich obiectivus auf Objekte des Bewusstseins (z. B. Ideen von Universalien); subiectivus auf Dinge per se – also, mehr oder weniger das genaue Gegenteil von der heutigen Definition dieses Gegensatzpaares. Es war Kant, der diesen altmodischen scholastischen Termini ein neues philosophisches Leben und zugleich völlig neuen Sinn verlieh. Kants Terminus »objektiv« bezog sich auf »die Formen der Sinnlichkeit« (z. B. Zeit und Raum), also die Bedingungen für Erfahrung; »subjektiv« hingegen auf die »Realien der Empfindung als bloß subjektiver Vorstellung.«2 In allen europäischen Hauptsprachen wurden Kants neue Termini schnell und eifrig aufgenommen – aber in keiner (nicht einmal im Deutschen) im ur1 Mitchell G. Ash, Cultural Contexts and Scientific Change in Psychology : Kurt Lewin in Iowa, in: Wade E. Pickren/Donald A. Dewsbury (Hg.), Evolving Perspectives on the History of Psychology, Washington, D.C. 2002, S. 385–406, S. 401. 2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [A:1781 bzw. B:1787], Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel. Band 3, Frankfurt a. M. 1968, S. 160 (A96), S. 71–77 (A22–30/B37–45); vgl. Günther Zoller, Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant. Zur systematischen Bedeutung der Termini »objektive Realität« und »objektive Gültigkeit« in der »Kritik der reinen Vernunft«, Berlin 1984. Weitere Einzelheiten zur Geschichte des Wortpaares in Lorraine Daston und Peter Galison, Objektivität, übersetzt von Christa Krüger, Frankfurt a. M. 2007, S. 28–36, S. 217–228.

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sprünglichen Kantischen Sinn. Warum nicht? Und mit welchen Konsequenzen für die spätere und in der Tat erstaunliche Karriere des Begriffspaars Objektivität/Subjektivität? Wenn die Rezeptionsgeschichte kein glatter Spiegel war, war es dann ein Krieg zwischen philosophischen Kulturen? Oder handelte es sich eher um eine fruchtbare Begegnung von »scientific microcultures«, wie Mitchell Ash die Verwandlung von Kurt Lewin in Berlin in Kurt Lewin in Iowa beschrieb? Hier muss ich mich auf die Rezeption im englischen Sprachkontext beschränken. Die erste Reaktion war schlicht Verwirrung. Der romantische Dichter und Philosoph Samuel Taylor Coleridge, der 1798 Vorlesungen in Göttingen besuchte und vielleicht dort von Kants Philosophie erfuhr, meinte, Kant habe einige Ideen des englischen Empirikers Francis Bacon neu erfunden: »the true and original realism«.3 Aber der Coleridge’sche Realismus hätte wahrscheinlich Bacon wie auch Kant erschrocken: »Now the sum of all that is merely OBJECTIVE we will henceforth call NATURE, confining the term to its passive and material sense, as comprising all the phenomena by which its existence is made known to us. On the other hand the sum of all that is SUBJECTIVE, we may comprehend in the same of SELF and INTELLIGENCE. Both conceptions are in necessary antithesis.«4

Nach Coleridge war die Wissenschaft des Objektiven, also Naturphilosophie, bloß eine Vorstufe der Wissenschaft des Subjektiven (»intelligential philosophy«): »The necessary tendence therefore of all natural philosophy is from nature to intelligence; […] The highest perfection of natural philosophy would consist in the perfect spiritualization of all the laws of nature into the laws of intuition and intellect.«5 Weder Kant noch Bacon hätten sich in dieser Behauptung wiederfinden können. Nichtsdestotrotz war Coleridge völlig überzeugt, dass er das Wesentliche von beiden Philosophen destilliert und synthetisiert hatte. Diese Zwangsehe von britischem Empirismus und deutschem Idealismus kam bei Coleridges Landsleuten gut an. »Objective« und »subjective« tauchen in englischen Werken immer häufiger auf, aber eingebettet in ganz andere philosophische Kontexte. Bei Thomas De Quincey schwangen immer noch mittelalterliche scholastische Assoziationen mit, als er seine durch Opium erzeugten Träume in Confessions of an English Opium Eater (1821) beschrieb: »[…] these [dreams of water] haunted me so much, that I feared lest some dropsical state or tendency of the brain might thus be making itself (to use a metaphysical word) 3 Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria [1817], ed. J. Shawcross. 2 Bände, Oxford 1973, Band 1, S. 178; vgl. Peter Galison, Objectivity Is Romantic, American Council of Learned Societies Occasional Paper 47 (1999). 4 Coleridge 1973, Band 1, S. 174. 5 Ebd., S. 175.

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objective; and that the sentient organ might be projecting itself as its own object.«6 Hier hieß »objective« genau das Gegenteil von dem, was Coleridge behauptet hatte: der Zustand des Gehirns »objektiviert« sich als Albtraum. In einer Fußnote zu der 1856 erschienenen Edition seines Buches erkannte De Quincey die scholastischen Resonanzen des Wortes »objective«, zögerte aber nicht, seine Anwendung des Wortes mit derjenigen zu verbinden, die sich inzwischen durchgesetzt hat: »This word [objective], so nearly unintelligible in 1821, so intensely scholastic, and consequently, when surrounded by familiar and vernacular words, so apparently pedantic, yet, on the other hand, so indispensable to accurate thinking, and to wide thinking, has since 1821 become too common to need any apology.«7

Während De Quincey den Terminus »objective« in der Philosophie des späten Mittelalters verortete, hat die Mehrheit seiner Landsleute das Wortpaar objective/subjective als aus dem Deutschen importierte Begriffe wahrgenommen. In seiner Übersetzung von Goethes Farbenlehre von 1840 schrieb Charles Eastlake, erster Direktor der britischen National Gallery, in einer Fußnote: »The German distinction between subject and object is so generally understood and adopted, that it is hardly necessary to explain that the subject is the individual, in this case the beholder ; the object, all that is without him.«8 Eastlakes Erklärung, die er selber für überflüssig hielt, divergierte stark nicht nur von Kant, sondern auch von Coleridge und erst recht von De Quincey – ein Zeichen nicht nur der Fluidität, sondern auch der Nützlichkeit des Wortpaares. Der Kunstkritiker John Ruskin lehnte die Termini entschieden ab und machte deutsche Schwerfälligkeit sowie englisches Gehabe für deren bedauerliche Verbreitung verantwortlich: »German dullness, and English affectation, have of late much multiplied among us the use of two of the most objectionable words that were ever coined by the troublesomeness of metaphysicians, namely, ›objective‹ and ›subjective‹.«9 Ruskin war sich aber sicher, dass er die anstößigen Wörter nur allzu gut verstanden hatte. Letztendlich seien sie nichts Anderes als die alten Primär- und Sekundärqualitäten von Boyle, Locke und Berkeley in neuer Kleidung – und genauso falsch in ihrer Unterscheidung zwischen esse und percipi: 6 Thomas De Quincey, The Confessions of an English Opium Eater [1821], in: The Works of Thomas De Quincey. 15 Bände, Edinburgh 1863, Band 1, S. 265. 7 Ebd., S. 265f. 8 Johann Wolfgang von Goethe, Theory of Colours, übersetzt von Charles Lock Eastlake [1840], Cambridge, MA 1970, S. 1–2. 9 John Ruskin, Modern Painters [1843–60], in: E.T. Cook und Alexander Wedderburn (Hg.), The Works of John Ruskin. 39 Bände, London 1903–1912, Band 5, S. 201.

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»›Blue‹ does not mean the sensation caused by a gentian on the human eye; but it means the power of producing that sensation: […] And, therefore, the gentian and the sky are always verily blue, whatever philosophy may say to the contrary ; and if you do not see them blue when you look at them, it is not their fault, but yours.«10

Auf der einen Seite mit (deutscher) Tiefsinnigkeit und auf der anderen Seite mit (deutscher) Unverständlichkeit konnotiert, ist das Wortpaar objective/subjective zu einer Art philosophischem Rorschach-Deutungstest geworden. Je nachdem wie man diesen benutzte, konnte man Allianzen mit Wilhelm von Ockham, Bacon, Locke, Schelling und natürlich Kant schließen. In seinem Roman The Moonstone (1868) machte sich der Schriftsteller Wilkie Collins über die nebulöse Qualität der objektiv/subjektiv-Unterscheidung lustig. In einem Austausch mit Franklin erklärt sein Held Betteredge: [Franklin] »The question has two sides,« he said. »An Objective side, and a Subjective side. Which are we to Take?« [Betteredge] »He [Franklin] had had a German education as well as a French. […] It is one of my rules in life, never to notice what I don’t understand. I steered a middle course between the Objective and the Subjective side. In plain English I stared hard, and said nothing.«11

Die Versuchung, Wilkie Collins’ satirischen Bemerkungen recht zu geben, ist auf den ersten Blick ziemlich stark. Was konnte das Gegensatzpaar »objective/ subjective« nicht bedeuten? Die englischsprachige Rezeption dieser Termini war erstaunlich vielseitig und hochkreativ : Schelling begegnete Bacon, Ockham traf auf Goethe, und Locke winkte Kant zu. Je nach Autor und Kontext konnte das Wortpaar immer wieder neu angepasst werden, ohne seinen dunklen Charme zu verlieren. Die Biegungen waren aber nicht beliebig, genauso wenig wie die Transformation von Kurt Lewins psychologischen Theorien es war. Selbst in der englischen Sprache sind die Termini »objective« und »subjective« immer als Paar aufgetreten; in allen Kontexten handelte es sich um einen epistemologischen, keinen ontologischen Unterschied. In diesem Sinne ist die sonst sehr kreative englischsprachige Rezeption Kant treu geblieben. Es ging nicht um die Welt an sich, sondern um menschliche Erkenntnisse der Welt. Die Rezeption der neuen philosophischen Termini war jedoch keine glatte Spiegelung, sondern eher die vielfältige Brechung eines dunklen Abbilds.

10 Ebd., S. 202. 11 Wilkie Collins, The Moonstone [1868], Harmondsworth 1986, S. 75.

Oliver Hochadel

»Wir beseitigen das alte Paradigma!« Wie Paläoanthropologen Thomas Kuhn verstehen

Thomas S. Kuhns The Structure of Scientific Revolutions gehört zu den einflussreichsten wissenschaftshistorischen Werken. Am Beispiel von vier Kontroversen aus der Paläoanthropologie zeigt dieser Artikel die Bandbreite der Rezeption Kuhns. Diese reicht von instrumenteller Vereinnahmung bis hin zur radikalen Selbstreflexion über das Funktionieren der eigenen Disziplin. Thomas S. Kuhn’s The Structure of Scientific Revolutions is one of the most influential works in the history of science. Using the example of four controversies from paleoanthropology, this article shows the large spectrum of the reception of Kuhn by prehistorians, ranging from a mere instrumental appropriation to a radical reflection about the mechanisms of their own discipline.

Alles, was die Studienanfänger punkto Wissenschaftsgeschichte kannten, war Thomas S. Kuhns The Structure of Scientific Revolutions. Diese Erfahrung machte jedenfalls ein bekannter Wiener Wissenschaftshistoriker wiederholt in seiner Einführungsvorlesung. Er beschloss daher auf dieses ›Vorwissen‹ der Studierenden einzugehen und zeigte auf seiner ersten Folie ein Foto des berühmten Autors. Auf der zweiten Folie stand dann aber : »Vergesst Kuhn!«1 Diese kleine Episode kündet von einem Missverhältnis. Zweifellos ist Structure ein Klassiker.2 Aber – und darum ging es jenem Wiener Professor – innerhalb der methodischen Diskussion der Wissenschaftsgeschichte spielt das Buch Kuhns von 1962 schon seit vielen Jahren bestenfalls eine untergeordnete Rolle.3 Die neueren maßgebenden Ansätze der Disziplin – material turn, spatial 1 Jener Historiker selbst hält etwa die Konzepte von Ludwik Fleck für »weitaus brauchbarer«; Klaus Taschwer, Von wissenschaftlichen Paradigmen und ihrem Wechsel, in: Der Standard, 25. 4. 2012, S. 14. 2 Robert J. Richards/Lorraine Daston (Hg.), Kuhn’s Structure of Scientific Revolutions at Fifty. Reflections on a Science Classic, Chicago 2016. 3 Siehe etwa Mitchell G. Ash, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie – Einführende Bemerkungen, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 35 (2012) 2, S. 87–98, S. 88f.

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turn, communicative turn, global turn – sind außerhalb der Wissenschaftsgeschichte aber wenig geläufig. Structure bleibt das mit großem Abstand meistzitierte – 15.635 Mal zwischen 1962 und 2012 – wissenschaftshistorische Werk. Andrew Abbott wertete hierfür nur englischsprachige Artikel aus Zeitschriften mit peer-review aus, die eigentliche Anzahl der Zitationen dürfte also noch ungleich höher sein. Abbott errechnete auch, dass Structure in 94 Prozent der Fälle (Tendenz steigend) ohne Seitenangabe zitiert wurde. Er konstatiert daher, dass »the majority of those who have cited the book have not read most – or perhaps any – of it.«4 Abbott identifiziert drei größere disziplinäre Felder, in denen sich das Gros der Zitationen von Structure findet: Wissenschaftsgeschichte und -philosophie, Sozialwissenschaften (inklusive Politikwissenschaften) sowie – erst in jüngerer Zeit – Erziehung und Management. Die Naturwissenschaften – also den eigentlichen Gegenstand von Kuhns Untersuchung – nennt Abbott nicht. Allerdings finden sich auch in der Physik Beispiele der Anrufung Kuhns, etwa in der Debatte über das ›Black Hole information paradox‹, also die höchst umstrittene Frage, ob die ›Information‹, die in einem Schwarzen Loch verschwindet, vollkommen verloren geht. Leonard Susskind schreibt in seiner gegen Stephen Hawking gerichteten Streitschrift über seine Lektüre von Structure: »Generally, like most physicists, I am not very interested when philosophers opine about how science works, but Kuhn’s ideas seemed right on target; they managed to put into focus my own fuzzy thoughts about the way physics had advanced in the past and, more to the point, how I hoped it was progressing in 1993.« Und weiter : »I felt that the Black Hole War was a classic struggle for a new paradigm.«5 Diese Zitate sind typisch für die Vereinnahmung Kuhns. Der berühmte Autor und sein noch berühmterer Paradigmenbegriff werden zu wichtigen rhetorischen Ressourcen für die Legitimation der eigenen Position innerhalb einer wissenschaftlichen Debatte, geprägt durch konträre Standpunkte. Dieser Artikel möchte anhand eines bestimmten Feldes, der Paläoanthropologie und prähistorischen Archäologie, genauer fragen, was Kuhn und seine Structure so attraktiv machen. Die Frage nach menschlichen Ursprüngen ist bekanntlich notorisch für scheinbar unlösbare Grundsatzfragen, Kontroversen sind daher endemisch. Trotz gleicher Evidenzen (also etwa hominide Fossilien oder Steinwerkzeuge) stehen sich Lager oder Schulen gegenüber, deren Interpretationen und Szenarien unvereinbar miteinander sind – wofür Kuhn den 4 Andrew Abbott, Structure as Cited, Structure as Read, in: Richards/Daston (Hg.) 2016, S. 167–182, S. 168–175, Zitat S. 175. 5 Leonard Susskind, The Black Hole War. My Battle with Stephen Hawking to Make the World Safe for Quantum Mechanics, New York/Boston/London 2008, S. 263f. Auf die Kuhn-Referenzen in der Kontroverse zwischen Susskind und Hawking machte mich dankenswerterweise Kanta Dihal aufmerksam.

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Begriff der Inkommensurabilität geprägt hatte. Anhand von vier Kontroversen aus den 1980er- und 1990er-Jahren soll die erstaunliche Bandbreite der Rezeption und Vereinnahmung Kuhns aufgezeigt werden.

Der erste Europäer Am 26. Mai 1994 hievte Nature ein fossiles Schienbeinfragment auf das Cover und fragte: »The first European?« Der Fund britischer Paläoanthropologen um Mark Roberts aus Boxgrove im Süden Englands sollte 500.000 Jahre alt sein.6 Der katalanische Archäologe Eudald Carbonell – seit 1991 Ko-Direktor der Ausgrabungen im nordspanischen Atapuerca – erinnerte sich Jahre später wie folgt an seine ambivalente Reaktion: »Ich war angenehm überrascht, aber tief in mir war ich überzeugt, dass diese Entdeckung kein Nature-Cover verdiente.«7 Die Angelegenheit war dringend und Carbonell rief gleich sechs seiner Mitarbeiter in sein Büro an der Universitat Rovira i Virgili in Tarragona: »Ich nahm die Grappaflasche hervor, schloss die Tür und sagte zu ihnen: ›Jungs, wir beseitigen das [alte] Paradigma. Ab jetzt werden sie mit uns rechnen müssen.‹«8 Das Forscherteam beschleunigte daraufhin die Ausgrabungen der ›vielversprechenden‹ Schicht TD6 in der Sierra de Atapuerca und bereits sechs Wochen später, am 8. Juli 1994, wurden dort hominide Fossilien gefunden. Die Analyse ergab ein Alter von mehr als 780.000 Jahren und führte im Jahre 1997 zur Benennung einer neuen Art, Homo antecessor. Der älteste Europäer kam nun aus Spanien. Das laut Carbonell angeblich so mächtige (und nun demontierte) ›Paradigma‹ besagte, dass Europa erst vor etwa einer halben Million Jahre besiedelt wurde. Diese ›short chronology‹ war aber gerade erst von Wil Roebroeks und Thijs van Kolfschoten formuliert worden. Die beiden niederländischen Archäologen versuchten damit dem ›Wildwuchs‹ von Dutzenden ihrer Ansicht nach höchst fragwürdigen Funden entgegenzuwirken, die seit etwa Mitte der 1970er-Jahre eine viel frühere Besiedelung Europas zu belegen schienen. Wissenschaftsphilosophisch gesehen bedienten sich Roebroeks und van Kolfschoten aber eines

6 Mark B. Roberts/Chris B. Stringer/S. A. Parfitt, A hominid tibia from Middle Pleistocene sediments at Boxgrove, UK, in: Nature 369 (1994), S. 311–313. 7 Eudald Carbonell/Jos8 Mar&a Bermffldez de Castro, Atapuerca: Perdidos en la colina. La historia humana y cient&fica del equipo investigador, Barcelona 2004, S. 301. Alle Übersetzungen aus dem Spanischen sind von mir. 8 Rosa Maria Bosch/Josep Corbella, A partir de ahora van a contar con nosotros, in: La Vanguardia, 30. 5. 1997, S. 25; ganz ähnlich auch in Josep Corbella et al., Sapiens: el llarg cam& dels hom&nids cap a la intel·ligHncia, Barcelona 2000, S. 83f.

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Popperschen Theorems. Der Vorteil der ›short chronology‹: sie sei leicht falsifizierbar.9 Carbonell berichtet die Boxgrove-Grappa-Episode in Retrospektive, also nach dem spektakulären Fund von 1994.10 So vermag er den bereits manifesten Triumph mit Hilfe Kuhns und seines Paradigmenbegriffes gleichsam theoretisch zu verorten und zu unterfüttern.11 Anders verhält es sich im Fall des katalanischen Paläontologen Josep Gibert. Wie Carbonell suchte auch er nach dem ›ersten Europäer‹ und wurde vermeintlich im August 1982 in Andalusien fündig. An der Grabungsstelle Vente Micena nahe Orce tauchte das Fragment einer Schädeldecke auf, der sogenannte Hombre de Orce. Im Frühjahr 1983 entbrannte eine heftige Debatte zwischen Gibert und dem – wie er es nannte – ›Establishment‹. Führende Paläoanthropologen argumentierten, dass das Fragment von einem Esel und nicht von einem Hominiden stamme. In der jahrzehntelang anhaltenden Polemik – Gibert starb 2007– nutzte dieser immer wieder Begriffe und Denkfiguren Kuhns, um seinen Fund und sein neues ›Paradigma‹ – die früheste Besiedelung Europas erfolgte über Gibraltar und nicht über Kleinasien – zu verteidigen.12 Schon in einem Zeitungsinterview von 1986 berief er sich auf die Structure: Laut Kuhn führe jeglicher Wandel in der Wissenschaft zu Widerstand und Kontroverse. Und noch 2004 schreibt Gibert unter Verweis auf die »Ideen von Khün [sic!]« in seinem populärwissenschaftlichen Buch, dass die Wissenschaft inhärent konservativ sei und das Neue nicht anerkennen wolle: »Etablierte Paradigmen zu überwinden ist sehr schwierig.« Gibert stilisiert sich als heterodoxer und marginalisierter Revolutionär und verweist auf andere jahrzehntelang verkannte Entdeckungen der menschlichen 9 Wil Roebroeks/Thijs van Kolfschoten, The Earliest Occupation of Europe – a Short Chronology, in: Antiquity 68/260 (1994), S. 489–503. 10 Zu den Vermarktungs- und Popularisierungsstrategien des Atapuerca-Forschungsteams s. Oliver Hochadel, El mito de Atapuerca. Or&genes, ciencia, divulgacijn, Bellaterra 2013. 11 Carbonell führt weiter aus, dass er eine Schwäche für Epistemologie, insbesondere für »Khun [sic!] und Lakatos« habe, Carbonell/Bermffldez de Castro 2004, S. 301. Zwei Jahre später publizierte Carbonell zusammen mit dem Biologen Policarp Hortol/ zwei Texte, die sich auch als wissenschaftsphilosophisch verstehen. Darin berufen sie sich unter anderem auf Kuhn und seine Structure, benutzen den Paradigmen-Begriff aber in anderen, viel generelleren Zusammenhängen. Also etwa: biologische Wissenschaften lösten Physik als »Paradigma« ab, so dass sich eher von einem unsystematischen und eklektischen Gebrauch Kuhn’scher Terminologie sprechen lässt. Policarp Hortol//Eudald Carbonell, Ciencia paradigm#tica y paradigma cient&fico, in: Elementos 1 (2006), S. 9–13, insbesondere S. 10; Eudald Carbonell/Policarp Hortol/, Entendre la ciHncia des de dins, Tarragona/Arola 2006, S. 68–70. 12 In seiner Arbeit zu Gibert verweist Miquel Carandell immer wieder auf dessen »Anleihen« bei Kuhn: Miquel Carandell Baruzzi, Orce Man. A Public Controversy in Spanish Human Origins Research 1982–2007, phil. Diss. Universitat Autknoma de Barcelona 2015, S. 94, 110, 123, 167, 208.

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Prähistorie wie die zunächst als Fälschung denunzierten Höhlenmalereien von Altamira oder den von Raymond Dart 1925 postulierten, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg als hominid anerkannten Australopithecus africanus.13 Das Beispiel von Josep Gibert und seines Hombre de Orce zeigt, dass Kuhn insbesondere für Außenseiter attraktiv ist.

Der erste Amerikaner Analog zur Debatte über die Besiedelung Europas streiten Archäologen insbesondere seit den 1980er-Jahren auch intensiv über die Frage, ob der amerikanische Kontinent erst vor 12.000 Jahren besiedelt wurde (von der sogenannten Clovis-Kultur, so die ›Late Dater‹) oder schon deutlich früher (so die ›Early Dater‹). Die Kontroverse verlief nach dem immergleichen Muster : Die Early Dater präsentieren neue ›Belege‹, etwa Steinwerkzeuge; die Late Dater versuchen diese dann zu zerpflücken. Die Literaturwissenschaftlerin Jeanne Fahnestock stellte schon 1989 mit Blick auf die Clovis-Kontroverse fest, dass die Archäologen – und zwar beide Seiten – »perhaps unfortunately« Kuhns Structure gelesen hätten und den Begriff des Paradigmenwechsels bemühten, um ihre eigene Forschung zu erklären.14 So schrieb etwa der Late Dater Robert Owen: »[…] the controversy as to who and when were the first Americans has reached what Kuhn has called the ›paradigm debate‹ state in the development of a science.«15 Beide Seiten suchten sich als Minderheit zu stilisieren, der aber – das ist ja gleichsam das Narrativ von Structure – die Zukunft gehöre. Fahnestock sieht aber auch einen positiven Effekt in der Debatte: »The persistence of disputes about what constitutes evidence and what can be inferred from it has also forced many archaeologists to become aware of modes of arguing in their field.«16

13 Josep Gibert, El hombre de Orce. Los hominidos que llegaron del sur, Cordoba 2004, S. 52. 14 Jeanne Fahnestock, Arguing in Different Forums: The Bering Crossover Controversy, in: Science, Technology, & Human Values, 14 (1989), S. 26–42, S. 29. 15 Robert C. Owen, The Americas: The Case against an Ice-Age Human Population, in: Fred H. Smith/Frank Spencer (Hg.), The Origins of Modern Humans: A World Survey of the Fossil Evidence, New York 1984, S. 517–563, S. 549. 16 Fahnestock 1989, S. 27.

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Der erste Mensch Eine weitere, mitunter episch anmutende Kontroverse ist die Frage, ob sich der Homo sapiens nur in Afrika (Out-of-Africa) oder an mehreren Orten, also auch in Asien, entwickelte und es zu einer beständigen Vermischung der Populationen kam (Multi-Regional-Theory). Diese Debatte wurde in den 1980er- und 1990erJahren enorm kontrovers und zum Teil mit harten Bandagen geführt.17 Insbesondere der US-amerikanische Prähistoriker Geoffrey Clark reflektierte in mehreren Aufsätzen der 1990er-Jahre darüber, wie es zu diesem ›Dialog der Tauben‹ kommen konnte. Er listet etwa die – einander häufig direkt widersprechenden, also inkommensurablen – Vorannahmen beider Seiten auf. In Clarks Analyse sind Kuhn und seine Structure die wichtigsten Bezugspunkte, um die scheinbar völlige Unvereinbarkeit der beiden Szenarien verstehen zu können.18 In der Zeitschrift Evolutionary Anthropology gab es 1999 sogar eine kleine Debatte, ob Kuhn dazu tauge, die endemischen Kontroversen in der Human Origins Research zu erhellen und zu verstehen, was Jack Chamberlain und Walter Hartwig emphatisch bejahten. Matt Cartmill hingegen argumentierte, dass es in der Human Origins Research nie eine Phase der ›normal science‹ gegeben habe. Von Beginn an, also ab Mitte des 19. Jahrhunderts, sei stets gestritten worden.19 Dieser Einwand ist einerseits sicherlich berechtigt. Andererseits ist aber auch klar, dass es Prähistorikern wie Carbonell, Gibert oder Owen – wie überhaupt wohl sehr vielen Autoren, die Kuhn zitieren – in erster Linie darum geht, ihn für ihre kontroversen Ansichten in Anspruch nehmen. Man mag angesichts dieser mitunter ungelenk wirkenden und recht durchsichtigen Vereinnahmungsversuche einfach nur den Kopf schütteln. In der historischen Analyse sollte es aber nicht um ein ›richtiges‹ Verständnis von Kuhn und seiner Structure gehen. Fruchtbar – und dies wollte diese kleine Sammlung an Fallbeispielen zumindest andeuten – ist vielmehr die Frage nach den jeweiligen individuellen Motivationen und disziplinären Kontexten der Kuhn-Rezeption. Die vier Kontroversen zeigen die durchaus beachtliche Bandbreite der 17 Oliver Hochadel, Die Knochenjäger. Paläoanthropologen als Sachbuchautoren, in Andy Hahnemann/David Oels (Hg.), Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 29–38. 18 Geoffrey A. Clark, Paradigms in science and archeology, in: Journal of Archeological Research 1/3 (1993), S. 203–234; ders., Origine de l’homme. Le dialogue de sourds, in: La Recherche 25/263 (März 1994), S. 316–321; ders., Through a Glass Darkly : Conceptual Issues in Modern Human Origins Research, in: Geoffrey A. Clark/Catherine M. Willermet (Hg.), Conceptual Issues in Modern Human Origins Research, New York 1997, S. 60–76. 19 Jack G. Chamberlain/Walter C. Hartwig, Thomas Kuhn and paleoanthropology, in: Evolutionary Anthropology 8 (1999), S. 42–44; Matt Cartmill, Revolution, Evolution, and Kuhn: A Response to Chamberlain and Hartwig, in: Evolutionary Anthropology 8 (1999), S. 45–47.

Wie Paläoanthropologen Thomas Kuhn verstehen

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jeweiligen Vereinnahmungen. Häufig, aber eben nicht immer ist die Berufung auf Kuhn und seine Structure eine wichtige rhetorische Ressource im Ringen um wissenschaftliche Autorität. Ein Begriff wie ›Paradigma‹ dient Prähistorikern wie Clark aber auch dazu, das ›Funktionieren‹ und die disziplinären Eigenheiten des eigenen Forschungsfeldes zu verstehen. Structure vermag so eine Reflexion über die zentrale Bedeutung von Vorannahmen (und Ideologien) anzustoßen. Vorerst sollten wir Thomas Kuhn also nicht vergessen. Die Rezeption seiner wissenschaftshistorischen Arbeit in einer Vielzahl von Disziplinen ist selbst zur Wissenschaftsgeschichte geronnen.

Cornelius Borck

Wissenschaftsphilosophie im Windschatten der Weltpolitik. Wie Karl Poppers Idee der Falsifikation im Exil zum Erfolgsmodell wurde

Das Treffen von Karl Popper mit dem Neurophysiologen John Eccles in Dunedin, Neuseeland, im Mai 1945, das dem Falsifikationsprinzip zu seinem Siegeszug in der Wissenschaftsphilosophie verhalf, war nicht nur selbst eine Folge erzwungener Emigration, sondern beleuchtet die vielfältigen Verflechtungen von Wissenschaft und Politik, bis zur Indienstnahme wissenschaftlicher Freiheit für politische Ziele. The meeting of Karl Popper with the neurophysiologist John Eccles in Dunedin, New Zealand, in May 1945 – itself a result of forced migration – brought the principle of falsification to prominence in philosophy of science. This famous episode demonstrates the multiple interconnectedness of science with politics.

Zu den berühmten Zeugnissen eines freien Worts in den Wissenschaften zählt der Einspruch von Archibald Vivian Hill Mitte November 1933 gegen die Vertreibungspolitik der Nationalsozialisten. Der britische Physiologe und Nobelpreisträger nutzte seine Huxley Memorial Lecture in Birmingham für eine öffentliche Anklage der deutschen Regierung: »No country has excelled Germany in its contribution to science in the last hundred years, no universities were traditionally freer and more liberal than the German. One felt that the intellectual co-operation of Germany was a necessity in setting science on an international basis. I had intended, in this address, to urge an even closer cooperation. Germany, however, has lately rendered such intellectual co-operation impossible by offending the first and most fundamental rule, that of providing freedom of thought and research. It seemed impossible, in a great and highly civilized country, that reasons of race, creed or opinion, any more than the colour of a man’s hair, could lead to the drastic elimination of a larger number of the most eminent men of science and scholars, many of them men of the highest standing, good citizens, good human beings. Freedom itself is again at stake.«1

1 Archibald Vivian Hill, International Status and Obligations of Science, in: Nature 132 (1933), S. 952–954, S. 954.

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Die Rede wurde noch vor Jahresfrist in Nature (in gekürzter Form) abgedruckt und in Deutschland genau zur Kenntnis genommen. Johannes Stark, der zwar ebenfalls Nobelpreisträger war, der sich aber aufgrund von Querelen um die von ihm verfochtene »deutsche Physik« aus der Universität zurückgezogen hatte und der erst durch den Machtwechsel und die NS-Vertreibungspolitik zum Leiter der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt aufgestiegen war, verteidigte die Erlasse des neuen Regimes in einer zynisch verharmlosenden Gegendarstellung in Nature im Februar 1934, die noch auf derselben Druckseite von Hill als Steilvorlage für einen dringenden Spendenaufruf für den Academic Assistance Council genutzt wurde, weil ganz entgegen Starks Darstellung weiterhin Wissenschaftler aus Deutschland vertrieben würden.2 Der deutsch-britische Streit fand eine bemerkenswerte Zuspitzung, als sich im Sommer des folgenden Jahres die internationale Elite der physiologischen Forschung zum Weltkongress in Leningrad und Moskau traf. Hill, der dort kurzfristig für den erkrankten Vizepräsidenten eingesprungen war, also quasi offiziell für den Kongress sprach, lancierte einen kurzen Text in der sowjetischen Zeitung Isvetja, in dem er Hitler mit bitterem Humor für den unerwarteten Zustrom guter Mitarbeiter dankte. Isvestja steigerte die Provokation noch weiter, indem sie Hills Beitrag mit einer Karikatur auf der Titelseite illustrierte. Entsetzt telegraphierte der deutsche Botschaftsrat Fritz von Twardowski nach Berlin: »Karikatur darstellt Figur ohne Porträtähnlichkeit auf einem Sockel, ist aber durch Ähnlichkeit Uniform und Hakenkreuz als Nationalsozialist gekennzeichnet. Figur hat in Hand Keule, auf der Hakenkreuz angebracht. Auf Sockel ist Aufschrift angebracht: Von dem dankbaren deutschen Gelehrten. Man sieht ferner zwei als Deutsche erkenntliche Gelehrte, Karikaturunterschrift: Hier sieht man, wer uns die Möglichkeit gab, ruhig über die Nervenphysiologie zu arbeiten. Wieso? Sehr einfach! Sie haben uns aus Deutschland ausgewiesen.«3

Die deutschen Diplomaten pochten auf Drängen der deutschen Regierung auf eine offizielle Entschuldigung, welche die Physiologen der deutschen Delegation möglichst geräuschlos zu erreichen suchten, um nicht abermals in schlechtes Licht zu rücken.4 2 Die Schreiben von Johannes Stark und Archibald Vivian Hill wurden gedruckt in: Nature 133 (1934), S. 290. 3 Telegramm vom 9. 8. 1938, Bundesarchiv (BArch) R4901: 15. Intern. Kongr. Physiol. Leningrad/Moskau, Blatt 210. 4 Der Tübinger Biochemiker Franz Knoop erläuterte den Vorgang in seinem Kongressbericht an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung folgendermaßen (BArch R4901: 15. Intern. Kongr. Physiol. Leningrad/Moskau, Blatt 216): »Die Situation war kritisch. Eine Abreise der Deutschen mußte, wenn irgend angängig vermieden werden. Sie hätte nur einem Triumph des internat. Judentums gedient. Eine offizielle Forderung, beispielsweise des Führers der deutschen Abordnung an die ihm persönlich unbekannten Ver-

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Die Entfernung der Wissenschaftler jüdischer Abstammung aus dem deutschen Staatsdienst bildete bekanntlich den Auftakt zur Vernichtungspolitik der Nazis und muss deswegen grundsätzlich in diesem Zusammenhang gesehen werden. Zugleich war sie ein Stück Wissenschaftspolitik – und wurde als solche hier von Hill kritisiert und von ihm z. B. den Rhodes-Scholarships als internationaler Mobilitätshilfe und Ausbildungsförderung gegenübergestellt (die von ihrem Stifter freilich zutiefst kolonialistisch motiviert gewesen waren). Hills Akzentverschiebung von seinem moralischen Einspruch in Nature zum ironischen politischen Lob in Leningrad verdeutlicht, wie von einigen Akteuren selbst in diesem krassen Fall einer Vertreibungspolitik Wissenschaft und Politik durchaus als Ressourcen füreinander wahrgenommen wurden.5 Inzwischen sind die massiven Folgen der erzwungenen Emigration während der NS-Zeit, die weit über die Einzelschicksale der Betroffenen hinaus auf die Forschungsdynamiken der verschiedensten Fachkulturen ausstrahlten, vielfach nachgezeichnet worden.6 Hills zugespitzte These von der Vertreibung deutschsprachiger Wissenschaftler als politischer Ressource neuer Forschungen soll im Folgenden am Einzelbeispiel der eigentlich unwahrscheinlichen Begegnung von John Eccles mit Karl Popper skizziert werden. Die beiden trafen sich im Mai 1945, also zwischen der deutschen Kapitulation und dem amerikanischen Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki, in Dunedin auf Neuseeland, weil Eccles dort an der Otago University Professor für Physiologie war und Popper am Canterbury College in Christchurch, ebenfalls auf der Südinsel Neuseelands, eine Dozentenstelle für Philosophie innehatte. Eccles lud Popper zu einem Zyklus von fünf Vorlesungen über Principles of Scientific Method ein, woraus eine lebenslange Freundschaft entstand, die schließlich in das gemeinsame Buch The Self and Its Brain mündete. Vor allem aber motivierte die Begegnung Eccles dazu, sein Experimentalsystem mithilfe von Poppers Konzept der Falsifizierung aus einer theoretischen Sackgasse zu befreien: In dem berühmten Streit, ob die Signalübertragung zwischen Nervenzellen elektrisch oder über chemische Neurotransmitter erfolge, hatte Eccles sich frühzeitig als entschiedener Anhänger der elektrischen Hypothese exponiert und sich trotz wachsender Gegenbefunde in dieser Position verrannt, bis treter Rußlands und Englands, wäre vermutlich von dem ungemein verwöhnten und anspruchsvollen Hill abgelehnt worden.« 5 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/ Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten, Stuttgart 2002, S. 32–51. 6 Für die Geschichtswissenschaft vgl. zuletzt Andreas W. Daum/Hartmut Lehmann/James J. Sheehan (Hg.), The Second Generation: Pmigr8s from Nazi Germany as Historians, New York 2016; für die hier herausgegriffenen Neurowissenschaften vgl. Frank W. Stahnisch/Gül A. Russell: New Perspectives on Forced-Migration in Neuroscience during the Twentieth Century – Introduction, in: Journal of the History of the Neurosciences 25 (2016), S. 219–226.

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Popper ihm mit seiner Wissenschaftsphilosophie die Möglichkeit eröffnete, seine Niederlage als wissenschaftlichen Durchbruch umzudeuten: »Because I was deeply imbued with the Popperian philosophy, I regarded this falsification of my cherished electrical inhibitory theory – my dream child! – as an occasion for rejoicing.«7 Und Popper verdankte Eccles seine Anerkennung als Wissenschaftsphilosoph: »I am (I think) the only philosopher who has thus shown that his views of science are fertile.«8 Dieses für die Wissenschaftsgeschichte so folgenreiche Zusammentreffen liefert ein eindrückliches Beispiel, wie Emigrationswege fruchtbar als Verflechtungsgeschichte rekonstruiert werden können. Aber erst eine ressourcenorientierte Forschung lässt hier die pragmatischen wie epistemischen Möglichkeitsbedingungen hervortreten. Das beginnt bereits bei Eccles’ Ausbildung, denn der Australier hatte nur dank eines Rhodes-Scholarships nach Oxford kommen können, wo er im Labor von Charles Sherrington auf viele weitere Ausländer stieß, die hier dank der von Hill erwähnten internationalen Förderprogramme ihre Ausbildung erhielten. Von Oxford wechselte Eccles 1937 zurück nach Melbourne und machte sein Labor zu einem Mekka der Neurophysiologen ganz im Sinne der Isvestja-Karikatur : Stephen Kuffler kam nach dem »Anschluss« Österreichs als jüdischer Flüchtling aus Wien und kurz darauf auch Bernhard Katz. Der hatte noch als Medizinstudent in Leipzig die Debatte in Nature gelesen und sich gleich nach Abschluss seiner Doktorarbeit auf den Weg zu Hill gemacht, weil er als Sohn eines staatenlosen jüdischen Pelzhändlers für sich in Deutschland keine Zukunft gesehen hatte. Nach seinem PhD bei Hill kam er 1939 mit einem Beit-Fellowship zu Eccles. Die gemeinsame Forschertätigkeit dieses produktiven Trios sollte jedoch nicht von langer Dauer sein, denn als der Zweite Weltkrieg sich bis nach Asien ausbreitete, bedeutete das für Katz eine Auszeit von der Wissenschaft beim Militär – endlich verbunden mit einer Staatsbürgerschaft – und für Eccles einen Stillstand der Forschung, aus dem heraus er eine neue Position suchte und an die Otago University in Dunedin auf Neuseeland wechselte, wo es dann zur Zusammenkunft mit Popper kommen sollte. Popper war bereits 1935 aus seiner Heimatstadt Wien aufgebrochen. Aus einer 7 John C. Eccles, My living dialogue with Popper, in: Paul Levinson (Hg.), In pursuit of truth. Essays on the philosophy of Karl Popper on the occasion of his 80th birthday, Atlantic Highlands 1982, S. 221–236, S. 225. Das war freilich Eccles’ verdichteter Rückblick auf eine sehr viel kompliziertere Geschichte, weil Poppers Logik der Forschung nicht Eccles’ experimentelle Praxis umzusteuern vermochte, sondern nachträglich der schließlich unvermeidlichen Niederlage seines Forschungsprogramms einen neuen Sinn gab, vgl. Cornelius Borck, Soups and Sparks Revisited: John Eccles’ Path from the War on Electrical Transmission to Mental Sparks, in: Nuncius 32 (2017), S. 286–329. 8 Eccles Archives Medizingeschichte Düsseldorf (EAMD), Brief von Karl Popper an John Eccles vom 2. 5. 1970, 2US-1113-1970-05-02.

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aufstrebenden, zum Protestantismus konvertierten jüdischen Familie stammend, hatte Popper die Schule vor der Matura verlassen, sich zunächst marxistischen Studierenden angeschlossen, nach einer Möbeltischlerlehre und einer Ausbildung zum Volksschullehrer schließlich 1928 bei Karl Bühler promoviert und anschließend als Lehrer für Mathematik und Physik gearbeitet. Parallel beschäftigte er sich viel mit philosophischen Themen und den Ideen des Wiener Kreises, woraus 1934 die Logik der Forschung hervorging, in der er das Leitprogramm des Logischen Positivismus als unerreichbar kritisierte. 1935 nahm er unbezahlten Urlaub und ging nach England (während seine Frau und Lehrerkollegin noch in Wien blieb, um Geld zu verdienen), wo er u. a. Bertrand Russell begegnete und Friedrich August von Hayek kennenlernte, der ihn 1945 an die London School of Economics holen sollte. Ohne Aussicht auf eine Stelle für ihn, der nicht ins zunehmend faschistisch geprägte Österreich zurückwollte, nahm er das Angebot der Dozentenstelle in Neuseeland an, wohin er 1937 zusammen mit seiner Frau emigrierte. Im Unterschied zum bereits etablierten Eccles war Popper während seiner Jahre in Neuseeland also noch kein berühmter Philosoph, erschwerend kam hinzu, dass er erst ganz wenig in Englisch publiziert hatte und die Dozententätigkeit keine Forschung vorsah. Aus dieser Isolation heraus verfasste er sein wichtigstes politisches Buch (für das er freilich erst bei seiner Rückkehr nach England einen Verlag fand), The Open Society and Its Enemies, in dem er als Reaktion auf die verdüsterte Weltlage eine radikale Kritik totalitärer Positionen seit Platon formulierte. – Auch hier greifen intellektuelle Biographie und Emigrationsgeschichte also nicht einfach ineinander, sondern werden die persönlichen Erfahrungen zur Ressource für die politische Reflexion und philosophische Analyse. In Christchurch machte sich Popper allerdings einen gewissen Namen als scharfer Denker und brillanter Rhetoriker. Das allein hätte freilich kaum gereicht, Eccles auf ihn aufmerksam werden zu lassen; der listige Weltgeist bediente sich noch eines weiteren, der Flucht vor den Nazis geschuldeten Zufalls. Diesmal ist es die Geschichte von Marianne Fillenz, die deutschsprachig in Temeswar in Rumänien aufgewachsen und als 15-Jährige nach Neuseeland gekommen war, weil ihre Familie zufällig ein Ausreiseformular für dieses Land ergattert hatte. Schon während ihrer Schulzeit in Christchurch besuchte sie Vorlesungen an der Universität und hörte so Poppers erste Ausführungen zur Offenen Gesellschaft. Später studierte sie dann Medizin in Dunedin und begeisterte sich für den neuen Experimentalkurs, den Eccles dort gerade aufgebaut hatte. Sie erzählte Eccles von ihrem beeindruckenden Philosophie-Dozenten (der sich gleichwohl noch an anderer Stelle über ihn versicherte, bevor er Popper einlud) und sie war auch die Einzige in Eccles’ Umfeld, die Poppers Logik der Forschung lesen konnte, denn die englische Übersetzung sollte erst 15 Jahre später erscheinen. Gemeinsam fertigten Fillenz und Eccles eine Mitschrift von

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Poppers Vorlesungen in Dunedin an, deren Inhalt Fillenz bereits aus dem Buch kannte. Sie vervielfältigten hektographisch ihre Mitschrift und versandten sie an Kollegen in aller Welt.9 Das Beispiel der Begegnung von Eccles und Popper belegt also nicht nur, dass die »Wissenschaftswandlungen und politische[n] Umbrüche im 20. Jahrhundert« ganz unmittelbar – wenngleich auf verschlungenen Wegen – etwas »miteinander zu tun« hatten,10 sondern ihre wechselseitige Abhängigkeit erklärt, wie selbst noch die bis heute dominante Leitideologie naturwissenschaftlicher Forschung sich letztlich der deutschen Vertreibungspolitik verdankt. Zum »Denkmal der deutschen Gelehrten für Hitler«, das die Isvestja als Karikatur entworfen hatte, gab es übrigens ein bemerkenswertes Gegenstück in Form einer kleinen Spielzeugfigur in A.V. Hills Labor. Bernhard Katz war sie noch in Erinnerung, als er in seinem Nachruf auf Hill seinen ersten Besuch bei ihm beschrieb: »I knew about A.V.’s reputation as a scientist and had been impressed by his outspoken comments on the Nazi regime; now, I was struck by […] the friendly way in which he greeted me […]. He then took me around the laboratory, introduced me to his colleagues, and showed me some special items on display, which had been imported from Germany. Among them was a little toy figure of Hitler, with a movable saluting arm, mounted on a Plasticine pedestal stuck against the wall.«11

9 John Eccles/Marianne Fillenz (Hg.), Principles of scientific method; notes on lectures by Dr. K. R. Popper, at the University of Otago from May 22nd to 26th, 1945. Ein Exemplar mitsamt der Versendeliste ist in den Eccles Archives Medizingeschichte Düsseldorf erhalten geblieben, EAMD, 1E-101. 10 Mitchell G. Ash, Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawliczek (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 19–37. 11 Bernhard Katz, Archibald Vivian Hill, 26 September, 1886–3 June 1977, in: Biographical Memoirs of the Fellows of the Royal Society 24 (1978), S. 71–149, S. 108f.

Friedrich Stadler

Der »Naturforscher« Ernst Mach als Grenzgänger und Grenzüberschreiter*

Im Jahre 1895 übernahm der Physiker und Naturwissenschaftler Ernst Mach trotz scharfer Kritik an der akademischen Philosophie einen philosophischen Lehrstuhl an der Universität Wien. Hier entwickelte er seine fächerübergreifende Theorie und Methodologie weiter und wurde dadurch zu einem Vorläufer der gegenwärtigen historischen Epistemologie, genetischen Erkenntnistheorie und einer integrierten Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie. In 1895, the physicist and natural scientist Ernst Mach took over a chair of philosophy at the University in Vienna despite his strong criticism of academic philosophy. Here, he further developed his interdisciplinary theory and methodology and thereby became a precursor of contemporary historical and genetic epistemology and the history and philosophy of science (HPS).

* Kurzfassung des im Rahmen der »Wiener Vorlesungen« am 15. Juni 2016 im Hauptgebäude der Universität Wien als Auftaktveranstaltung zur internationalen Ernst Mach Centenary Conference an der Universität Wien gehaltenen Vortrags. Die Proceedings dieser Konferenz erscheinen in 2 Bänden 2018 im Springer Verlag, hg. vom Autor. Der Text wird auch im deutschen Band publiziert und basiert auf folgenden einschlägigen Publikationen des Autors: Vom Positivismus zur »Wissenschaftlichen Weltauffassung«. Am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich von 1895 bis 1934, Wien/München 1982. Rudolf Haller/ Friedrich Stadler (Hg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien 1988; darin: Friedrich Stadler, »Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung«, Wien 1988, S. 11–57; Ders., Der Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext (20152). Die Hauptwerke Machs sind erschienen in der Ernst Mach Studienausgabe (Berlin), hg. von Friedrich Stadler, zusammen mit Michael Heidelberger, Dieter Hoffmann, Elisabeth Nemeth, Wolfgang Reiter, Jürgen Renn, Gereon Wolters: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886), hg. von Gereon Wolters 2008; Erkenntnis und Irrtum (1905), hg. von Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler 2011; Die Mechanik in ihrer Entwickelung. Historisch-kritisch dargestellt (1883), hg. von Gereon Wolters und Giora Hon 2012; Populärwissenschaftliche Vorlesungen (1896), hg. von Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler 2014; Die Prinzipien der Wärmelehre (1896), hg. von Michael Heidelberger und Wolfgang Reiter 2016; Die Prinzipien der physikalischen Optik (1921), hg. von Dieter Hoffmann (2018).

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Ernst Mach war ein international anerkannter Experimentalphysiker und Naturwissenschaftler, als er nach Professuren in Graz und Prag am Höhepunkt seiner Karriere im Jahre 1895 den für ihn eingerichteten Lehrstuhl für »Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften« an der Universität Wien übernahm. Die Tatsache, dass Machs Büste im Wiener Rathauspark steht und nicht im Arkadenhof der Universität Wien, ist erklärungsbedürftig. Was bewog diesen passionierten »Naturforscher« (so seine Selbstbezeichnung), der sich Zeit seines Lebens als »Sonntagsjäger« in der Philosophie betrachtete,1 gerade diesen philosophischen Lehrstuhl zu übernehmen, der die Grundlage bildete für seine Nachfolger bis hin zu Moritz Schlick, dem Begründer des Wiener Kreises? Um diese Frage zu beantworten, muss man auf Machs geistige Entwicklung eingehen: seine jugendliche Kant-Lektüre als Schlüsselerlebnis sowie seinen Dialog mit zeitgenössischen Philosophen wie z. B. mit Franz Brentano, Wilhelm Jerusalem, Theodor und Heinrich Gomperz, bis hin zu Pierre Duhem und William James. Die breite und unterschiedliche Rezeption Machs im Wiener Kreis (mit Wittgenstein und Popper an der Peripherie) spiegelt zugleich dessen fächerübergreifende Wirkung wider, was sich auch im volksbildnerischen »Verein Ernst Mach« (1928–1934) niederschlug. Die späte Entdeckung Machs durch den streitbaren Paul Feyerabend polarisierte genauso wie dessen Streitschrift Against Method (1970).2 Trotz dieser starken Wirkungsgeschichte war Machs pessimistisches Resümee erstaunlich, wonach am Beginn des 20. Jahrhunderts wieder eine dominante »aprioristische Wende« im Sinne Kants eingetreten sei. Ich will im Folgenden kurz illustrieren, warum Mach zu Recht als ein Vorläufer der aktuellen historischen Epistemologie und Wissenschaftsphilosophie gelten kann – darüber hinaus als ein Theoretiker und Praktiker der Interdisziplinarität und Wissenschaftsforscher mit einer einheitlichen Betrachtungsweise aller Wissenschaften – von der Natur zur Kultur und Gesellschaft. Ernst Mach (1838–1916) prägte im Wiener Fin de SiHcle um 1900 die geistige Landschaft. Wer war dieser Forscher, der in Philosophie, Politik und Literatur gleichermaßen Aufmerksamkeit erregte und polarisierte – z. B. zwischen Materialismus und Idealismus, Realismus und Positivismus, Bolschewismus und Austromarxismus, Impressionismus und Naturalismus? Und der noch heute für Kontroversen darüber sorgt, ob er Wegbereiter der Relativitätstheorie war oder 1 Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1905, S. VII. 2 Paul Feyerabend, Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge, in: Michael Radner/Stephen Winokur (Hg.), Analyses of Theories and Methods of Physics and Psychology, Minneapolis 1970, S. 17–130.

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die Atomistik abgelehnt habe? Ohne Zweifel steht der Mach’sche »Positivismus« – er selbst hat diese Bezeichnung für seine Lehre übrigens nicht verwendet – am Beginn eines labyrinthischen Streites seit der Jahrhundertwende, vom angeblichen Gigantenkampf zwischen Mach und Boltzmann, der heftigen Planck-MachKontroverse, dem Frontalangriff von Lenin und Genossen bis hin zum Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1969).3 Neben diesen publikumswirksamen Schaukämpfen und Variationen eines ideologisierten »Positivismusstreites« vollzog sich in der Naturwissenschaft und Philosophie eine bemerkenswerte Renaissance des Mach’schen Werkes. Seine experimentellen Arbeiten eröffnen noch immer fruchtbare Forschungsperspektiven. In der Psychologie wird Mach als Pionier der Gestaltpsychologie, wegen seiner historisch-kritischen Methode als Wegbereiter einer integrierten Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie und schließlich auch als Vorreiter der heutigen »Evolutionären Erkenntnistheorie« gehandelt. Mach erscheint also mindestens aus zwei Gründen bedeutsam: erstens als eine intellektuelle Zentralfigur des geistigen Wien der Jahrhundertwende mit zahlreichen »Wiener Kreisen«,4 und zweitens als Naturwissenschaftler, Theoretiker und Historiker der Wissenschaften – nicht zuletzt auch als Pädagoge und Lehrbuchautor (genetische Lerntheorie). Die historisch-soziale und evolutionäre Betrachtungsweise aller Wissenschaften entsprach seiner sozialreformerischen Gesinnung und politischen Praxis. Damit präsentierte Mach zur Überwindung des mechanischen Materialismus und der metaphysischen Systemphilosophie inmitten der »Krise der Naturwissenschaften« eine empirische Einheit von Physik, Physiologie und Psychologie im Rahmen eines monistischen Weltbilds.5 Er sah programmatisch als Aufgabe der Wissenschaft die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und die Anpassung der Gedanken aneinander.6 Damit reagierte Mach auf die durch die naturwissenschaftliche Entwicklung ausgelösten erkenntnistheoretischen und methodologischen Probleme mit originellen Lösungsversuchen: Elementenlehre, Ökonomieprinzip und historischkritische Methode auf evolutionärer Grundlage bildeten zentrale Bestandteile seiner Wissenschaftsauffassung, die er in bewusst aufklärerischer Absicht als gesellschaftliches Phänomen in den Dienst der Menschheit gestellt wissen wollte. Wie sehr diese Innovation in der scientific community aber auch auf Widerstand stieß, zeigen nicht nur die Debatten zwischen Mach, Boltzmann und Planck samt 3 Theodor Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt/Neuwied 1969. 4 Edward Timms, Dynamik der Kreise, Resonanz der Räume. Die schöpferischen Impulse der Wiener Moderne, Weitra 2013. 5 Ernst Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, Prag 1872, S. 57ff. 6 Ders. 1905, S. 164ff.

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Anhängern oder die Briefwechsel mit der wissenschaftlichen Avantgarde seiner Zeit, sondern auch Machs eigene pessimistische Einschätzung der Wirkung seines Werkes.7 So spiegelt die damalige wie gegenwärtige emotionale bis polemische Reaktion auf Machs Werk zugleich das Problem eines fächerübergreifenden Weltbildes mit praktischem Anspruch auf Humanisierung von Wissenschaft und Gesellschaft – dem Mach selbst als Förderer von Volksbildung, Frauenemanzipation, Sozial- und Schulreform Ausdruck verlieh.8 Mach selbst erinnert sich, »ein schwaches elendes Kind« gewesen zu sein, »das sich sehr langsam entwickelte«.9 Bemerkenswert ist sein Hinweis auf lebhafte visuelle Eindrücke in der frühen Kindheit, weil – lange vor Jean Piagets genetischer Erkenntnistheorie – die geistige Entwicklung des Kindes (speziell seiner eigenen und die seiner Kinder) eine entscheidende Rolle für Machs Methodik und Didaktik spielen sollte. Beide Faktoren verdichteten sich zu einem der wichtigsten Mach’schen Prinzipien, nämlich zum historisch-genetischen und evolutionistischen Problemverständnis, illustriert durch ein intellektuelles Schlüsselerlebnis beim Anblick einer Windmühle.10 Diese kindlichen Einsichten führten Mach nach eigener Aussage von einem animistischen Naturverständnis zu rationalem Denken über den Begriff der Ursache im Allgemeinen, besonders thematisiert bei Kant und L8vy-Bruhl. Entscheidend für Machs Entwicklung war die Tatsache, dass er vom siebten bis zum neunten Lebensjahr von seinem Vater privat unterrichtet wurde, was sein Interesse für die praktische Technik weckte.11 Im Revolutionsjahr 1847/48 trat er in das Benediktinerstift Seitenstetten ein, das er kritisch-ironisch kommentierte. So kann es nicht verwundern, dass Machs Lehrer seinem Vater rieten, den Jungen ein Handwerk erlernen zu lassen. Zum zweiten Mal wurde Mach zu Hause unterrichtet, wo er durch die Lektüre antiker Autoren einen besseren Zugang zu den klassischen Sprachen fand, jedoch Mathematik und Physik weiter favorisierte und seine Wertschätzung des Handwerks erwarb. Hier scheint sowohl Machs These des Zusammenhangs von Alltag und Wissenschaft angelegt wie auch die aufklärerisch-soziale Gesinnung durch die Liberalität seiner Familie gefördert worden zu sein. Die Tätigkeit als Tischler 7 Ders., Die Mechanik in ihrer Entwickelung. Historisch-kritisch dargestellt, Leizpig 71912 (1883), S. IX. 8 Vgl. die Korrespondenz, z. B. den Brief Bertha v. Suttners an Mach (1903), in: K. D. Heller, Ernst Mach. Wegbereiter der modernen Physik. Mit ausgewählten Kapiteln aus seinem Werk, Wien/New York 1964, S. 161. 9 Ernst Mach, »Autobiographie« (1913), in: John Blackmore, Three Autobiographical Manuscripts by Ernst Mach, in: Annals of Science 35 (1978), S. 401–418 und Dieter Hoffmann/ Hubert Laitko (Hg.), Ernst Mach. Studien und Dokumente zu Leben und Werk, Berlin 1991, S. 428–441, S. 411. 10 Ebd., S. 411 und 417. 11 Ebd., S. 412.

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vermittelte Mach das für seine wissenschaftliche Arbeit relevante Verständnis für Handarbeit, das er später als Anhänger der Revolutionen von 1789 und 1848 durch die Solidarität mit der österreichischen Arbeiterbewegung aktiv zeigen sollte. Seine aufgeschlossene Erziehung, die das Interesse an Natur und Gesellschaft gleichermaßen weckte, wurde allerdings mit dem Eintritt in das öffentliche Piaristengymnasium in Kremsier (Mähren) von Schuldrill abgelöst. Als positive Ausnahme erwähnt Mach seinen Lehrer der Naturgeschichte, der die Lamarck’sche Entwicklungslehre und die Kant-Laplace’sche Kosmogonie unterrichtete, aber »ohne ein Wort über die Unvereinbarkeit dieser Lehren mit jenen der Bibel zu verlieren«.12 Seinem Geschichtslehrer konzedierte Mach umfangreiche Quellenkenntnis, durch die niemand den Eindruck gewinnen konnte, »daß die weltlichen und geistlichen Führer der Menschen nur das ihnen ›von Gott anvertraute‹ Wohl ihrer Untertanen ›allein‹ im Sinne gehabt hätten.«13 Diese Erfahrungen bildeten eine wichtige Motivation für Machs erwähnte Tätigkeit als Lehrbuchautor, Lehrplanverfasser und Popularisierer wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Schule und Volksbildung. So schätzte er die Thun-Hohenstein’sche Unterrichtsreform mit Exner und Bonitz und ihre Auswirkungen auf das frühe österreichische Gymnasium. In seiner Jugend war vor allem ein Buch aus der väterlichen Bibliothek eine der wichtigsten Anregungen für Machs geistige Entwicklung, nämlich Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, das für ihn der kritische Ausgangspunkt für seine weitere antimetaphysische Entwicklung werden sollte.14 Im Alter von 17 Jahren legte Mach am Gymnasium in Kremsier die Reifeprüfung ab und inskribierte an der Wiener Universität Mathematik und Physik (bei von Ettingshausen, Grailich und Petzval), wo der ambitionierte Student Mängel in den naturwissenschaftlichen Fächern beklagte. So musste er sich autodidaktisch weiterbilden, und es gelang ihm im Physikalischen Institut ein erster experimenteller Erfolg mit der Konstruktion eines Apparates zum Nachweis der Existenz einer – damals bezweifelten – akustischen Erscheinung, des so genannten »Doppler-Effekts«. Im Jänner 1860, nach fünf Jahren Studium, erlangte er den Doktorgrad der Philosophie (mit seiner physikalischen Dissertation »Über elektrische Entladung und Induktion«). In Anspielung auf den antiquierten Prüfungsmodus konnte sich Mach vorstellen, »er sei durch den Nachweis umfassender Unwissenschaft ›magister liberalium artium‹ geworden.«15 Die existenzielle Lage des frischgebackenen Doktors war so miserabel, dass er sich mit Nachhilfestunden durch12 13 14 15

Ebd., S. 413. Ebd. Ebd., S. 414. Ebd.

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bringen musste – trotzdem konnte er sich 1861 als Privatdozent für Physik habilitieren. Er hielt private Vorlesungen über Fechners Psychophysik und Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen. Durch den Kontakt mit den beiden Physiologen Ernst Brücke und Carl Ludwig wurde Machs Interesse an Sinnesphysiologie geweckt, was ihn nach eigenen Angaben zu erkenntnistheoretischen Untersuchungen ermunterte. Diese Verknüpfung von Physik, Physiologie und Psychophysik war und blieb eines der charakteristischen Merkmale seines »neutralen Monismus«. In dieser Zeit lernte er in Wien seinen lebenslangen Freund, den Literaten, Techniker und Sozialreformer Josef Popper-Lynkeus (1838–1921) kennen, mit dem ihn engste geistige Gemeinsamkeiten verbanden.16 Beide unterstützten die Arbeiterbewegung und wirkten zusammen in der »Wiener Fabier-Gesellschaft«17 – und beide wurden von Einstein verehrt. Die frühe Lehrtätigkeit führte Mach ferner auf die »historische Darstellung als die einfachste und verständlichste, die allgemeine begriffliche Zusammenfassung enthüllte das ökonomische Motiv der Erkenntnislehre, und die Auffassung der Wissenschaft als Teil einer allgemeinen Lebens- und Entwicklungserscheinung vollendete schließlich den Charakter der biologisch-ökonomischen Erkenntnislehre«.18 Die Ausrichtung auf Medizin und Physiologie inspirierte den begabten Experimentalphysiker z. B. zur Theorie der Pulswellenzeichner und Registrierapparate, vor allem zu zahlreichen Arbeiten über das Gehörorgan, wofür er 1864 eine kleine finanzielle Förderung der Wiener Akademie der Wissenschaften erhielt. Dies ermöglichte indirekt die Erforschung des Labyrinths im Ohr, auf der Josef Breuer weiter aufbauen sollte19 und die zu den bahnbrechenden Resultaten des späteren Nobelpreisträgers Robert B#r#ny (1914) führen sollte. Im Jahre 1864 begann Machs wissenschaftlicher Aufstieg mit der Berufung als Ordinarius für Mathematik und von 1866 bis 1867 für Physik an die »etwas vernachlässigte« Universität Graz.20 Er las über Differential- und Integralrechnung sowie analytische Geometrie. Dort lernte er den Nationalökonomen Emmanuel Hermann kennen, durch den er zum methodologischen Ökonomieprinzip angeregt wurde; er gewöhnte sich daran, »die geistige Tätigkeit des Forschers als eine wirtschaftliche oder ökonomische zu bezeichnen.«21 16 Vgl. Ingrid Belke, Die sozialreformerischen Ideen von Josef Popper-Lynkeus (1838–1921) im Zusammenhang mit allgemeinen Reformbestrebungen des Wiener Bürgertums um die Jahrhundertwende, Tübingen 1978. 17 Lewis S. Feuer, Einstein and the Generations of Science, New York 1974, S. 28. 18 Mach 1913, S. 415. 19 Albert Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse in Leben und Werk Josef Breuers, Bern 1978; Wolfram Swoboda, Physik, Physiologie und Psychophysik, in: Haller/Stadler (Hg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien 1988, S. 356–403. 20 Mach 1913, S. 415. 21 Heller 1964, S. 15; Rudolf Haller, Grundzüge der Machschen Philosophie, in: Haller/Stadler

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Der Lehrstuhl für Experimentalphysik in Prag, auf den Mach im Jahre 1867 berufen wurde, war für ihn eine ideale Position, die er bis zu seinem Abgang nach Wien 1895 innehatte. Hier legte er den Grundstein für seine internationale Reputation.22 In Prag geriet Mach in den Jahren 1872/73 als Dekan der Philosophischen Fakultät und 1879/80 als Rektor der Prager Universität in den Sog des schwelenden Nationalitätenstreits, der 1882/83 mit der Teilung in eine deutsche und eine tschechische Universität seinen Höhepunkt erlebte. Mach selbst war – als Gegner jedes Nationalismus – vergeblich gegen die Teilung und für eine zweite tschechische Universität eingetreten.23 In seinem ersten Prager Jahr veröffentlichte Mach eine kurze Mitteilung Über die Definition der Masse (1868), die Friedrich Adler als die entscheidende Schrift in Machs Lebenswerk betrachtet, weil darin zum ersten Mal der mechanische Materialismus aus den Fugen gehoben worden sei, und zwar mit der Frage »Was ist Materie?« aus vollständig neuer Sicht.24 Zu den wichtigsten Publikationen Machs aus der Prager Zeit zählen Optisch-akustische Versuche (1873), Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen (1875) sowie diverse stroboskopische Untersuchungen. Gleichzeitig nahm Mach – durch Krankheit veranlasst – seine historisch-kritischen Studien wieder auf, welche in die Veröffentlichung Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit (1872) einmündete. Darin lehnte er bereits jede metaphysische und einseitig mechanische Auffassung der Physik genauso ab wie die apriorisch-synthetischen Kategorien der absoluten Bewegung, des absoluten Raumes und der absoluten Zeit als überflüssige Substanzbegriffe. In dieser grundlegenden Arbeit wird das Prinzip der Denkökonomie formuliert und die Vorarbeit für Machs nachfolgende Hauptwerke Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-kritisch dargestellt (1883) und Die Prinzipien der Wärmelehre. Historisch-kritisch entwickelt (1896) geleistet. Die Mechanik – in aufklärender, antimetaphysischer Absicht verfasst – sollte die historische Analyse der Erkenntnis als die Methode zum Verständnis der Mechanik herausstreichen. Durch die Einbeziehung der Arbeiten von Gustav R. Kirchhoff und Hermann Helmholtz konnte Mach seine Vorstellung von der »Natur der Wissenschaft als einer Ökonomie des Denkens« weiter ausarbeiten.25 Die anti-essentialistische Methodologie ist darin, ebenso die sprachkritische angelegt, und

22 23 24 25

1988, S. 64–86; ders., Poetische Phantasie und Sparsamkeit. Ernst Mach als Wissenschaftstheoretiker, in: ebd., S. 342–355. Mach 1913, S. 415. Heller 1964, S. 18–19; Hoffmann 1991. Friedrich Adler, Ernst Machs Überwindung des mechanischen Materialismus, Wien 1918, S. 15. Mach 1883, 91933, S. VI.

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es wird eine fallibilistische Erkenntnislehre – lange vor Karl Popper – vertreten, wie sie später in Erkenntnis und Irrtum als Programm ausformuliert wurde.26 Zur Förderung dieser Zielsetzung verbindet Mach die Kriterien der Einfachheit und Schönheit mit dem Prinzip der Forschungsökonomie. Die historisch-kritische, evolutionäre Methode sowie biologisch-psychologische Erklärungsmuster lassen ihn die Mechanik aus den »aufgesammelten Erfahrungen des Handwerks durch intellektuelle Läuterung« beschreiben und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Geschichte, Alltag und Wissenschaft im Längsschnitt herstellen.27 In seiner Wärmelehre behandelte Mach die Grundbegriffe der Temperatur und der Wärmekapazität aus historisch-genetischer Sicht und erläuterte die Prinzipien der Energieerhaltung und der Entropie.28 Bereits seit den 1870er Jahren hatte er mit Unterbrechungen an einer Geschichte der Optik gearbeitet, deren Veröffentlichung aber immer wieder hinausgezögert, bis er schließlich die posthume Herausgabe durch seinen Sohn Ludwig bestimmte, die im Jahre 1921 mit dem umstrittenen von Ludwig gefälschten Vorwort gegen die Relativitätstheorie erfolgte.29 In der Prager Zeit (1886) war das erkenntnistheoretische Hauptwerk Beiträge zur Analyse der Empfindungen (1886) erschienen. Die darin enthaltene Kritik am Kant’schen »Ding an sich« und am »unveränderlichen Ich« war zugleich eine Absage an das christliche Dogma der persönlichen Unsterblichkeit und ließ Mach eine Verwandtschaft zum Buddhismus (H. Gomperz 1916 über Mach als »Buddha der Wissenschaft«30) erkennen. Sein Grundanliegen in Erkenntnis und Irrtum (1905) war die These vom Monismus des physischen und psychischen Geschehens. Dieser psycho-physische Monismus ergänzt seinen Anti-Idealismus (in Anspielung auf Lenin, Planck und andere), schließlich die natürliche, einheitliche Weltauffassung mit einem empiristischen Erkenntnisbegriff. Ferner erläutert Mach die ökonomisch und biologisch inspirierte Erkenntnistheorie und gesteht in seiner typischen Bescheidenheit die prinzipielle Unabgeschlossenheit seiner Lehre als Diskussionsgrundlage ein, die er in seinen Populärwissenschaftlichen Vorlesungen (1896) weiter präsentierte – ein Sammelband, der die enge Verwandtschaft mit dem amerikanischen Pragmatismus (Peirce, James, Dewey) dokumentiert.31 26 Ebd., S. 465. 27 Ebd., S. 485. 28 Vgl. Ernst Mach, Die Prinzipien der Wärmelehre. Historisch-kritisch entwickelt, Leipzig 1896. 29 Vgl. Gereon Wolters, Mach I, Mach II, Einstein und die Relativitätstheorie. Eine Fälschung und ihre Folgen, Berlin/New York 1978. 30 Heinrich Gomperz, Ernst Mach, in: Archiv für Philosophie 22 (1916) 4, S. 321–328. 31 Vgl. Erik C. Banks, The Realistic Empiricism of Mach, James, and Russell. Neutral Monism

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In der Analyse der Empfindungen (1886) behandelt Mach das zentrale Thema einer empirischen Fundierung der Wissenschaften durch Integration von Philosophie, Physik, Physiologie und Biologie. Die antimetaphysische Elementenlehre wird unter dem Einfluss von Berkeley und Hume sowie der Psychophysik Fechners ausgearbeitet und begründet einen (fächerübergreifenden) neutralen Monismus.32 Darin wird einmal mehr Machs Abneigung gegen metaphysische Philosophie dokumentiert und die prinzipielle Unvollständigkeit des wissenschaftlichen Weltbildes unterstrichen. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Im Jahre 1895 wurde Ernst Mach auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für »Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften« an die Universität Wien berufen.33 Diese Rückkehr nach Wien erfolgte in der kurzen Phase einer Koalition der Vereinigten Linken (Deutschliberale, Vereinigte Fortschrittspartei, Deutschkonservative) mit dem Kultusminister Madeyski von Poraj unter »heftigsten Agitationen von clericaler Seite«34 mithilfe von Theodor und Heinrich Gomperz auf Universitätsebene. Machs Wiener Lehr- und Forschungstätigkeit wurde jedoch bereits 1898 stark beeinträchtigt, als der 61jährige Forscher einen Schlaganfall mit einer schweren rechtsseitigen Lähmung erlitt, der ihn aber in voller geistiger Frische ließ. Nach mehreren Unterbrechungen musste er schließlich im Jahre 1901 sein Pensionierungsgesuch einreichen.35 Nach der vorzeitigen Emeritierung wurde Mach zum lebenslänglichen Mitglied des Herrenhauses, der Ersten Kammer des Reichsrates, ernannt, nachdem ihm 1896 der Titel Hofrat verliehen worden war, doch lehnte er – seiner Gesinnung entsprechend – den angebotenen Adelstitel ab. Trotz seines schlechten Gesundheitszustandes ließ er sich im selben Jahr im Krankenwagen zur Abstimmung über den Neunstundentag ins Parlament bringen – eine Prozedur, die er 1907 bei der Abstimmung über das allgemeine Wahlrecht wiederholte. Spätestens in seinem 1899 verfassten Testament schlug sich die Solidarität mit der Sozialdemokratie konkret nieder.36

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Reconceived, Cambridge 2014; Friedrich Stadler, Ernst Mach and Pragmatism – The Case of Mach’s Popular Scientific Lectures (1895), in: Sami Pihlström/Friedrich Stadler/Niels Weidtmann (Hg.), Logical Empiricism and Pragmatism, Cham 2017, S. 3–14. Vgl. Ernst Mach, Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 71918, S. VI. Vgl. Josef Mayerhöfer, Ernst Machs Berufung an die Wiener Universität, in: Symposium aus Anlaß des 50. Todestages von Ernst Mach, Freiburg i. Br. 1966, S. 12–25; John Blackmore, Ernst Mach. His Life, Work, and Influence, Berkeley/Los Angeles/London 1972, S. 145–163. Mach an Meinong, in: Rudolf Kindinger (Hg.), Philosophenbriefe. Aus der wissenschaftlichen Korrespondenz von Alexius von Meinong, Graz 1965, S. 91. Vgl. John Blackmore/Klaus Hentschel (Hg.), Ernst Mach als Außenseiter, Wien 1985, S. 29–30. Vgl. Adler 1918, S. 27.

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Diese Grundeinstellungen hat Mach auch in seinem letzten großen Werk Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung (1905) dokumentiert, in der er eine Zusammenfassung speziell seiner Wiener Lehr- und Forschungstätigkeit und seiner gesamten bisherigen Arbeit liefert. Die Naturwissenschaft wird biologisch, psychologisch und sozial erklärt und der Vorrang der praktischen Forschungsarbeit gegenüber theoretischer Abstraktion behauptet. Allein diese Ablehnung metaphysischer Systemphilosophie lässt Mach das Bekenntnis ablegen, er sei »gar kein Philosoph, sondern nur Naturforscher«, mit dem Bestreben, »nicht etwa eine neue Philosophie einzuführen, sondern eine alte abgestandene aus derselben zu entfernen […]«.37 Er liefert hier eine Gesamtschau des aktuellen Forschungsstandes in der Psychophysik sowie der Denk- und Wahrnehmungspsychologie. Zukunftsweisend für den späteren Wiener Kreis ist die Behandlung des Leib-Seele-Problems als eines Scheinproblems und der hypothetische Charakter unseres Wissens, wenn er folgert, »daß es dieselben psychischen Funktionen, nach denselben Regeln ablaufend, sind, welche einmal zur Erkenntnis, das andere Mal zum Irrtum führen, und daß nur die wiederholte, sorgfältige, allseitige Prüfung uns vor letzterem schützen kann«38 – übrigens ein Plädoyer gegen jeden naiven Induktivismus und für eine hypothetische Bestätigungstheorie mit heuristischer Methode. Zusammen mit den Prinzipien des Empirismus, Nominalismus, der Denk- und Forschungsökonomie und schließlich mit einem sprachkritischen und wissenschaftsorientierten Philosophiebegriff ist damit auch der geistige Boden für die Herausbildung des späteren Logischen Empirismus aufbereitet. Nach der frühzeitigen Pensionierung war Mach praktisch an sein Zimmer in Gersthof gefesselt. Er konnte aber mit Hilfe einer speziellen Schreibmaschine weiter wissenschaftlich tätig sein, wenn auch nicht mehr am Puls der aktuellen experimental-physikalischen Forschung. Das dürfte wohl der Grund dafür gewesen sein, dass er sich in seinen letzten Lebensjahren vorwiegend historischsozialen und anthropologischen Studien widmete. In seiner letzten Schrift Kultur und Mechanik (1915) rekonstruiert er die Entwicklung von Mechanik und Wissenschaft seit der Urgeschichte auf sozioökonomischer Grundlage. Im Mai 1913 übersiedelte Mach zu seinem ältesten Sohn Ludwig nach Vaterstetten bei München. Dort verstarb der »Naturforscher«, Humanist und Pazifist mitten im Ersten Weltkrieg am 19. Februar 1916 – von seinem Sohn abgeschirmt. Die Feuerbestattung auf dem Münchner Ortsfriedhof fand dem Wunsch des Verstorbenen entsprechend im engsten Kreise statt. Dies entspricht Machs Einheit 37 Mach 1905, 31917, S. VII; Zur Entstehungsgeschichte vgl. auch Erwin Hiebert, Introduction, in: Ernst Mach, Knowledge and Error. Sketches on the Psychology of Enquiry, Dordrecht 1976, S. I–XXX. 38 Mach 1905, 31917, S. 125.

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von Leben und Werk, worüber er allgemein in der Analyse der Empfindungen radikal und eindrucksvoll geschrieben hatte.39 Machs Lebenswerk zeigt einen starken, fächerübergreifenden Einfluss in der Philosophie, in den Natur- Kulturund Sozialwissenschaften bis hin zur Politik, Literatur und Kunst.40 Für die aktuelle Bewertung von Machs Werk und Wirkung gilt noch immer, was Albert Einstein bereits in seinem Nachruf 1916 geschrieben hat:41 »Tatsache ist, daß Mach durch seine historisch-kritischen Schriften, in denen er das Werden der Einzelwissenschaften mit so viel Liebe verfolgt und den einzelnen auf dem Gebiete bahnbrechenden Forschern bis ins Innere ihres Gehirnstübchens nachspürt, einen großen Einfluß auf unsere Generation von Naturforschern gehabt hat. Ich glaube sogar, daß diejenigen, welche sich für Gegner Machs halten, kaum wissen, wieviel von Mach’scher Betrachtungsweise sie sozusagen mit der Muttermilch eingesogen haben […] Von mir selbst weiß ich mindestens, daß ich insbesondere durch Hume und Mach direkt und indirekt sehr gefördert worden bin«.

39 Mach 1886, 21900, S. 17. 40 Vgl. Thiele 1978; Haller/Stadler 1988; Friedrich Stadler, History and Philosophy of Science. Zwischen Deskription und Konstruktion, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 35 (2012), S. 217–238; ders., History and Philosophy of Science: Between Description and Construction, in: Maria Carla Galavotti u. a. (Hg.), New Directions in the Philosophy of Science, Cham [u. a.] 2014, S. 747–767. Vgl. dazu die Schwerpunkthefte der »Berichte zur Wissenschaftsgeschichte« (2–3, 2012) als Dokumentation der internationalen XLVIII. Tagung der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte in Wien 2011. Dazu: Mitchell Ash, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie – Einführende Bemerkungen, S. 87–98. Diese Tagung spiegelte u. a. das langjährige gemeinsame Bemühen von Mitchell Ash und dem Autor an der Universität Wien um eine integrierte Betrachtung von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie in der Lehre und Forschung. 41 Albert Einstein, Ernst Mach, in: Physikalische Zeitschrift, zit. nach Heller 1964, S. 151–157, hier S. 152f.

Disziplinenwandel

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Wissenschaftler zwischen zwei Diktaturen. Tschechoslowakische Biochemiker im Exil in Großbritannien von 1939 bis 1945*

Das Münchner Abkommen 1938 und die anschließende Okkupation der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland zwangen eine große Anzahl tschechoslowakischer Intellektueller, Zuflucht im Westen zu suchen. Nach Kriegsende sahen sie sich jedoch mit einem neuen totalitären System in Zentraleuropa konfrontiert. In diesem Artikel werden die Schicksale einer kleinen Gruppe tschechischer Biochemiker in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs skizziert, um so Einblicke in die Bedingungen wissenschaftlichen Exils sowie zur Situation der exilierten Akademiker nach 1945 zu ermöglichen. The Munich Treaty in 1938 and the occupation of Czechoslovakia by Nazi Germany in 1939 forced a number of Czechoslovak intellectuals to seek asylum in Great Britain. When the war ended, however, they were faced with a new totalitarian system in Central Europe. In this study, I will investigate the fate of a selected group of Czech biochemists in Great Britain during the Second World War in order to provide a closer insight into the circumstances of scientific exile and the situation the refugee academics were faced with after the war.

Der Aufstieg des Nationalsozialismus und die britische Hilfe für das akademische Exil Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland im Jahr 1933 war Großbritannien unter den ersten Staaten, die den gefährdeten Intellektuellen Zuflucht gewährten. Die beispiellose Verfolgung und der Exodus von Wissenschaftlern, vor allem jener mit jüdischen Wurzeln,1 bewirkte eine unmittelbare * Dieser Artikel ist eine aktualisierte und gründlich umgearbeitete Version eines früheren Arˇ eskoslovensˇt& biochemici ve Velk8 Brit#nii v letech 1939–1945 tikels, Sonˇa Sˇtrb#nˇov#, C [Tschechoslowakische Biochemiker in Großbritannien in Jahren 1939–1945], in: Anton&n Kostl#n/Dev#t# Mark8ta (Hg.), Veˇda v exilu, Pr#ce z deˇjin veˇdy 21 (2009), S. 109–133. Hier finden sich auch weiterführende Literatur und Danksagungen. Der Artikel wurde von Jan Surman übersetzt und von Josef Schiffer bearbeitet. 1 Mitchell Ash hat darauf aufmerksam gemacht, dass mit der Verwendung von Begriffen wie »Jude« und »Rasse« zugleich die NS-Definitionen von Identität übernommen werden, vgl.

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Reaktion in wissenschaftlichen Kreisen dieses Landes. Am 22. Mai 1933 wurde daher auf Initiative von Lord Beveridge und anderen prominenten britischen Wissenschaftlern das Academic Assistance Council (AAC) ins Leben gerufen, mit dem Ziel, »einen Fond zu gründen, der primär, aber nicht ausschließlich, der Unterstützung vertriebener Lehrer und Forscher sowie der Suche nach geeigneten Stellen für sie an Universitäten und wissenschaftlichen Institutionen gewidmet ist«.2 In den 1930er und 1940er Jahren halfen das AAC und seine Nachfolgeorganisation, die Society for the Protection of Science and Learning (SPSL), bei der Rettung und Arbeitsbeschaffung für etwa 2.600 Wissenschaftler aus Deutschland und dem okkupierten Europa, darunter vielen aus der Tschechoslowakei. Der Unterzeichnung des Münchner Abkommens im September 1938 folgte nicht nur die Annektierung des Sudetenlandes durch Nazi-Deutschland, sondern dieses wirkte sich auch unmittelbar auf die innenpolitische Situation des verkleinerten Staates aus. Schon während der sogenannten Zweiten Republik, noch vor der Besetzung der »Rest-Tschechei« durch Hitler, wurden offizielle anti-jüdische Maßnahmen eingeführt, und viele Personen, die als Juden galten, begannen die zunehmende Notwendigkeit von Emigration zu erwägen. Die Situation wurde nach dem 15. März 1939 durch die deutsche Okkupation der »Rest-Tschechei« weiter verschärft. Viele Intellektuelle und junge Menschen sahen sich zur Flucht ins Ausland gezwungen, und Großbritannien bot als erster Staat eine helfende Hand.3 Schon im Oktober 1938 war das British Committee for Refugees from Czechoslovakia (BCRC) gegründet worden, um für besonders gefährdete Personen eine vorläufige Unterbringung in Großbritannien zu gewährleisten. Dieser freiwilligen Organisation folgte am 21. Juli 1939 der von der Mitchell G. Ash, Forced Migration and Scientific Change in the »Age of Extremes«, in: Marco Stella/Sˇtrb#nˇov# Sonˇa/Kostl#n Anton&n (Hg.), Scholars in Exile and Dictatorships of the 20th Century, May 24–26, 2011. Prague Conference Proceedings, Prag 2011, S. 15–29, S. 15–16. Deshalb werde ich versuchen, üblicherweise verwendete Termini wie »jüdische Wissenschaftler« oder Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur »jüdischen Rasse« zu vermeiden. 2 Zur Gründung des AAC vgl. Academic Assistance Council – Aid for displaced German professors, in: British Medical Journal 1 (3 June 1933), S. 974. Im Jahr 1936 wurde das AAC in die Society for the Protection of Science and Learning (SPSL,1936–98) umgestaltet; im Jahr 1999 wurde diese in Council for Assisting Refugee Academics (CARA) umbenannt und seit 2014 lautet ihr Name Council for At-Risk Academics, vgl. Shula Marks/Paul Weindling/Lara Wintour (Hg.), In Defence of Learning. The Plight, Persecution and Placement of Academic Refugees, 1933–1980s (Proceedings of the British Academy 169), Oxford u. a. 2011. 3 Zu den verschiedenen Wellen erzwungener Migration von Intellektuellen zunächst in die und später aus der Tschechoslowakei vgl. Anton&n Kostl#n/Sonˇa Sˇtrb#nˇov#, Czech Scholars in Exile, 1948–1989, in: Marks/Weindling/Wintour (Hg.) 2011, S. 239–256. Vgl. auch Anton&n ˇ eskoslovensk# akademie veˇd [Flucht in die Emigration und die Kostl#n, 5teˇky do emigrace a C Tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften], in: Sonˇa Sˇtrb#nˇov#/Anton&n Kostl#n (Hg.), Sto cˇesky´ch veˇdcu˚ v exilu, Praha 2011, S. 19–207.

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britischen Regierung eingerichtete Czechoslovak Refugee Trust, gemeinsam administriert von der britischen und der tschechoslowakischen Regierung (ab 1940 der Exil-Regierung)4 und finanziert vom Czechoslovak Refugee Fund.5 Dieser unterstützte auch die SPSL, die etwa 143 tschechoslowakische Akademiker/innen betreute. Die SPSL wurde auch von verschiedenen weiteren Stiftungen, von privaten Geldgebern und ab Januar 1940 auch vom British Government’s Central Committee for Refugees gefördert.6 Durch die SPSL sollten insbesondere auch die exilierten tschechoslowakischen Akademiker an britischen Universitäten Aufnahme finden, damit sie »ihre wissenschaftliche Position wiederherzustellen oder zu verbessern« vermochten.7

Institute in Cambridge, die tschechoslowakischen Biochemikern Zuflucht boten Unter den britischen Wissenschaftlern, die exilierten Akademikern aus ganz Europa ihre Unterstützung anboten,8 war der Nobelpreisträger Frederick Gowland Hopkins, Direktor des Dunn Institute of Biochemistry in Cambridge und einer der weltweit führenden Biochemiker.9 Dort fand eine Anzahl von Wissenschaftlern Zuflucht, darunter die späteren Nobelpreisträger Hans Adolf Krebs und Ernst Chain. Nicht zuletzt war auch die Biochemikerin und Mikrobiologin Marjory Stephenson, bekannt als Begründerin der chemischen und der allgemeinen Mikrobiologien und informelle Leiterin des Labors für chemische Mikrobiologie des Medical Research Council (MRC) in Cambridge, in die Hilfe eingebunden.10 Dieses an Hopkins’ Institut angegliederte Labor führte in den 1930er Jahren eigene Forschungsprogramme zum bakteriellen Stoffwechsel 4 Vgl. National Archives, Kew, HO 294, Commentary to Czechoslovak Refugee Trust Records, http://discovery.nationalarchives.gov.uk/details/r/C9158 (abgerufen am 31. 1. 2018). 5 Der Czechoslovak Refugee Fund verwaltete eine Schenkung der britischen Regierung vom Herbst 1938 an die Tschechoslowakei in der Höhe von vier Millionen Pfund für die Unterstützung der Flüchtlinge. Er wurde nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei dem britischen Finanzministerium unterstellt. 6 Ebd.; vgl. auch Nicolas Baldwin, The Society for the Protection of Science and Learning Archive, Bodleian Library, Oxford 1988, S. 6–7. 7 N. Searle an Dobson, Czech Refugee Trust Fund, 30. 4. 1940. Bodleian Library, University of Oxford, Archive of the Society for the Protection of Science and Learning, MS SPSL (= ASPSL) 108/2. 8 Dieser Absatz basiert vor allem auf Sˇtrb#nˇov# 2009 und Sonˇa Sˇtrb#nˇov#, Holding Hands with Bacteria. The Life and Work of Marjory Stephenson, Heidelberg 2016, besonders S. 61–67. 9 Mark Weatherall/Harmke Kamminga, Dynamic Science. Biochemistry in Cambridge 1898–1949, Cambridge 1992. Zu Hopkins’ Biografie siehe Joseph Needham/Ernest Baldwin (Hg.), Hopkins and Biochemistry, 1861–1947, Cambridge 1949. 10 Vgl. Sˇtrb#nˇov# 2016.

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durch. Stephensons bahnbrechenden Arbeiten zogen auch einige der Exilanten an das Labor, so den Biochemiker Hans Krebs, bevor er 1935 als Professor für Biochemie an die Universität Sheffield berufen wurde.11 Während des Krieges war Stephenson von der Regierung mit der Koordination kriegswichtiger Projekte betraut. Eine dritte Institution in diesem Zusammenhang war das MRC Dunn Nutritional Laboratory in Cambridge, das als ein Ableger von Hopkins’ Institut gegründet worden war und dessen Direktor Leslie Julius Harris (1898–1973) zu den Topspezialisten auf dem Gebiet der Vitaminforschung zählte.12 An diesen Institutionen fanden vier Exilanten aus der Tschechoslowakei Zuflucht, die im Mittelpunkt dieser Abhandlung stehen: Katerˇina (Katja, K#tˇa) Osˇancov#, geb. Sgalitzerov# (1920–2003)13, Arnosˇt Kleinzeller (1914–1997)14 und Egon Hynek Kod&cˇek (1908–1982)15 ; über den vierten Wissenschaftler, Jan Herbert Waelsch, sind nur wenige Informationen zu finden.16

Flucht nach Großbritannien und Ankunft in Cambridge Die Jüngste der vier tschechischen Biochemiker, Katerˇina Sgalitzerov#, wuchs als Tochter eines bekannten Prager Juristen auf. Nach Abgang vom Gymnasium 1938 erhielt sie ein Flüchtlingsstipendium, das ihr das Studium am Girton 11 Zu Details vgl. Sˇtrb#nˇov# 2016, S. 65–68. 12 Zur Geschichte dieser Institution vgl. Alison A. Paul, 60 years of research at the Dunn Nutrition Unit, in: Nutrition Bulletin 12 (2007) 2, S. 116–121; vgl. auch Weatherall/Kamminga 1992, S. 64–66; vgl. L. J. Harris, in: British Medical Journal (7. 7. 1973), S. 54. 13 Zu Katerˇina Osˇancov#, geb. Sgalitzerov#, vgl. das Interview der Autorin mit ihrer Tochter Veˇra Haurov# (20. April 2004), emails von Kate Perry, Archivarin am Girton College (29. April, 5. Mai 2004) und zwei kurze Nachrufe: [Per], In memoriam RNDr. Katerˇiny Osˇancov8, CSc., in: Vy´zˇiva a potraviny 3 (2003), S. 94; Frantisˇek Osˇanec, Katerˇina Osˇancov#Sgalitzerov# (Sgalitzer) 1920–2003, in: Girton College Annual Review (2003), S. 119. Frau Haurov#, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, erzählte mir, dass ihre Mutter nie über ihre Vergangenheit sprach: »Die Vergangenheit war tot für sie, sie schaute immer in die Zukunft.« 14 Vgl. Arnosˇt Kotyk, Arnosˇt Kleinzeller, in: Sonˇa Sˇtrb#nˇov#/Anton&n Kostl#n (Hg.), Sto cˇesky´ch veˇdcu˚ v exilu, Praha 2011, S. 322–324; Jose A. Zadunaisky/Arnost Kleinzeller, A Man for All Seasons, in: Journal for Experimental Zoology 279 (1997), S. 393–397; Karel Jan#cˇek/ Jirˇina Kol&nsk#/Renata Rybov#, Obituary – Arnosˇt Kleinzeller, MD, PhD, DSc, in: Physiological Research 46 (1997), S. U4–U5. 15 Vgl. D. L. Fraser/Elsie M. Widdowson, Egon Hynek Kodicek, in: Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society 29 (1983), S. 297–331; Kod&cˇek Egon, in: Ludmila Hlav#cˇkov#/ Petr Svobodny´ et al., Biograficky´ slovn&k prazˇsk8 l8karˇsk8 fakulty 1348–1939. D&l. I, Praha 1993, S. 273. Der Nachlass von Kod&cˇek befindet sich in den Contemporary Medical Archives Centre CMAC, Wellcome Institute for the History of Medicine GC/65 Kodicek Egon (1908–1982). 16 Quellen zu Waelsch siehe weiter unten.

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College für Frauen in Cambridge ermöglichte, wo sie nur einen Tag vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im August 1939 ankam. Bevor sie Prag verließ, hatte sie an der Koordination der von Sir Nicholas Winton organisierten Kindertransporte mitgewirkt, die hunderten, vor allem jüdischen Kindern das Leben retteten. Am Girton College studierte Katerˇina Naturwissenschaften. Nach Abschluss ihres BA-Studiums17 arbeitete sie bis 1944 am MRC Dunn Nutritional Laboratory. Abenteuerlich verlief auch die Flucht von Kleinzeller und Kod&cˇek. Arnosˇt Kleinzeller, Sohn einer Mittelschichtfamilie aus Mähren, studierte an der Masaryk-Universität in Brünn Medizin und Naturwissenschaften. Schon während des Studiums forschte er dort im biochemischen Labor von Vladim&r Mor#vek am onkologischen Krankenhaus und Krebsforschungszentrum Du˚m fflteˇchy (heute Masaryku˚v onkologicky´ fflstav) an Zellkulturen. Bereits kurz nach Studienabschluss beendete das Münchner Abkommen seine Karriere, und er wurde ungeachtet der Proteste von Mor#vek wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen. Nach der Okkupation der Tschechoslowakei flüchtete er mit seinem Bruder nach Polen, und das BCRC half ihm dabei, Großbritannien zu erreichen. In London traf Kleinzeller glücklicherweise John B. S. Haldane, der ihn dabei unterstützte, mit einem Stipendium (wohl von der SPSL) bei Hans Krebs an der Universität Sheffield zu studieren. Ab 1941 ermöglichte es ihm ein Stipendium der Rockefeller Foundation gemeinsam mit Dorothy und John Needham am Hopkins Biochemistry Department in Cambridge wissenschaftlich zu arbeiten. Egon Hynek Kod&cˇek, Sohn eines Arztes in Südböhmen war, verblieb nach seinem Medizinstudium an der Prager Karls-Universität als Demonstrator an der Abteilung für Interne Medizin, wo er erfolgreiche Studien zu Vitaminen und Hormonen begann. Unter der Anleitung des künftigen Nobelpreisträgers Jaroslav Heyrovsky´ erlernte er die polarographische Methode, die er zur Analyse von Vitamin C und Folsäure anwendete. 1936 heiratete Kod&cˇek seine frühere Schulkameradin Jindrˇisˇka Hradeck#, eine Ärztin für Augenheilkunde.18 Im Jahr darauf wurde ihre erste Tochter Jana geboren. Im Jahr 1938, als er eben zum Leiter der endokrinologischen Abteilung ernannt worden war, wurde dieses harmonische Leben rüde unterbrochen. Am 15. Dezember wurde Kod&cˇek wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen.19 Ihm wurde rasch klar, dass die Flucht unvermeidlich war, für die er schon Vorkehrungen getroffen hatte. Schon eine Woche nach dem Münchner Abkommen hatte Kod&cˇek auf Rat des Pro17 Osˇancov# erhielt ihren MA-Abschluss aus Cambridge erst 1947, als sie wieder in Prag war. 18 Jindrˇisˇka Kod&cˇkov#, roz. Hradeck# [Jindrˇisˇka Kod&cˇkov#, geb. Hradeck#], in: Hlav#cˇkov#, Svobodny´ 1993, S. 273–274. 19 Fragebogen mit der Überschrift »Confidential Information«. ASPSL 383/2, vermutlich mit 2. Februar 1939 zu datieren, wie seine dort beigefügte Biografie, die Kod&cˇek gemeinsam mit dem Fragebogen an die SPSL sandte.

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fessors für Interne Medizin und Leiters der Abteilung Josef Peln#rˇ an die SPSL in London geschrieben. Diese stellte ihm finanzielle Unterstützung in Aussicht, falls er eine Stelle in England finden sollte. Kod&cˇek bewarb sich bei Leslie Harris, dem Direktor des Dunn Nutritional Laboratory in Cambridge und schloss dem Antrag eine Befürwortung von Heyrovsky´ bei: »Herr Egon Kod&cˇek […] ist mir bekannt als ein seriöser wissenschaftlicher Arbeiter an modernen Problemen der Biochemie, wie der quantitativen Bestimmung von Vitaminen und Hormonen in lebendiger Materie. […] Ich habe deshalb keine Zweifel, dass seine Mitarbeit von großem Wert für jede medizinisch-wissenschaftliche Institution wäre.«20 Anfang 1939 bot Harris Kod&cˇek einen Forschungsplatz in seinem Institut an.21 Daraufhin konnte er mit Hilfe der SPSL ein britisches Visum beantragen. Inzwischen hatten die Nationalsozialisten am 14. März die Tschechoslowakei besetzt, was die Flucht von Kod&cˇeks Familie zu einem abenteuerlichen Unternehmen machte: Gestapo-Offiziere mussten bestochen werden, um zu den notwendigen Papieren zu kommen, und von Kod&cˇeks Frau Jindrˇisˇka musste eine gefälschte Scheidung arrangiert werden.22 Letztlich fand die Familie in Großbritannien wieder zueinander, und Kod&cˇek konnte eine Stelle an MRC Dunn Nutritional Laboratory, dem er zeitlebens verbunden blieb, antreten. Jan (Johann) Herbert Waelsch, der Sohn des verstorbenen Mathematikers Emil Waelsch (1863–1927), Professor an der Deutschen Technischen Hochschule in Brünn, erreichte Cambridge im Juli 1939, nachdem er gemeinsam mit seiner Frau Alzˇbeˇta (1911–?) über Polen geflüchtet war.23 Waelsch, der an der Deutschen Universität Prag sein Studium in Naturwissenschaften und in Medizin abgeschlossen hatte, wird in den Jahren 1939 bis 1941 als Mitarbeiter von Hopkins genannt,24 arbeitete in dieser Zeit aber bei Majory Stephenson.25

20 Unterstützungsschreiben von Heyrovsky´, datiert mit 2. 11. 1938, vermutlich an die SPSL gerichtet. ASPSL383/2. 21 Heyrovsky´ an Hill, 18. 5. 1939, Harris an Kod&cˇek, 11. 5. 1939. ASPSL383/2. 22 Vgl. Fraser/Widdowson 1983, S. 300–302. 23 [Czechoslovak] Ministry of Social Welfare, Repatriation Department Questionnaire of J. H. Waelsch, 18. 2. 1945; N#rodn& archiv Praha, Fond MV-L, karton 59, sign. 2-1/869, vgl. https:// www.ushmm.org/online/hsv/source_view.php?SourceId=20824 (abgerufen am 29. 1. 2018). 24 Vgl. Roster of Sir F.G. Hopkins’ Collaborators and Colleagues, in: John Needham/Ernest Baldwin (Hg.), Hopkins and Biochemistry, Cambridge 1949, S. 333–353, bes. S. 351. Im Repatriierungs-Fragebogen vom Februar 1945 gab Waelsch als Beruf klinischer Pathologe und als Wohnort London an. 25 Sˇtrb#nˇov# 2016, S. 71.

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Leben und Arbeit während der Kriegszeit Der Zweite Weltkrieg führte die vier tschechischen Biochemiker im Exil in Cambridge zusammen. Alle waren mit dem Dunn Biochemistry Institute und dem Medical Research Council verbunden, wo sie an geheimer kriegsrelevanter Forschung auf dem Gebiet der Biochemie arbeiteten.26 Zwei von ihnen, Kleinzeller und Waelsch, traten in das MRC Laboratory of Chemical Microbiology von Stephenson ein.27 Kleinzeller, bereits ein anerkannter Biochemiker, bewarb sich 1942, auf Rat seines früheren Mentors Krebs, um ein Stipendium des MRC für die Arbeit mit Stephenson, die seine Bewerbung energisch unterstützte: »Dr. Kleinzeller ist in jeder Hinsicht ein Wissenschaftler, der die Unterstützung verdient […]. Er ist sehr tatkräftig, effizient und arbeitsam, und sowohl ein guter Chemiker wie Biochemiker.«28 Da die Ernährung der britischen Bevölkerung eines der zentralen Probleme während des Krieges war, fasste Kleinzeller den Entschluss, in Stephensons Labor zu Fettmetabolismus und -formation in der Hefe Torulopsis lipofera29 zu forschen, um alternative Nahrungsquellen zu finden. Waelsch wurde in jene Projekte eingebunden, die hygienische Probleme in den Krankenhäusern lösen halfen: Er untersuchte dafür die Wirkung von Harnstoff als Antiseptikum in Verbindung mit der Wundheilung sowie die Produktion des Enzyms Urease in Bakterien E. coli, die Zystitis (Entzündung des Harntrakts) verursachen.30 Für Kod&cˇek und Sgalitzerov# (spätere Osˇancov#), die allem voran an Fragen der Ernährung interessiert waren, bot die Anstellung am MRC Dunn Nutritional Laboratory eine einzigartige Möglichkeit. Kod&cˇek konnte in Cambridge auf seine Erfahrung mit Untersuchungen an Vitaminen zurückgreifen. Er registrierte sich als PhD-Student, unterrichtete ab 1941 daneben unentgeltlich am 26 Informationen zur Forschung des MRC während des Kriegs finden sich in Committee of Privy Council for Medical Research, Medical Research in War, Report of the Medical Research Council for the years 1939–1945, London 1947. National Archives, Kew, Medical Research Council, FD 2/26. 27 Für Details und Quellen zur Arbeiten von Kleinzeller und Waelsch in Labor von Stephenson vgl. Sˇtrb#nˇov# 2016, S. 69, S. 72. 28 Application of Research Grant for A. Kleinzeller, 1. 12. 1942, MRC Archives 2036/1/I, Chemical Microbiological Research Unit Cambridge – Staff. In der Zwischenzeit wurden die MRC Archives an die National Archives, Kew umgesiedelt, womit die Dokumente neue Signaturen erhielten. 29 Arnosˇt Kleinzeller, Fat formation in Torulopsis lipofera, in: Biochemical Journal 38 (1944), S. 480–492. 30 Vgl. Stephenson an Mellanby, 6. 9. 1941, MRC Archives 2036/2/II (1936–1945). Wahrscheinlich verließ Waelsch das Labor im Jahr 1941, um danach wieder als Mediziner zu praktizieren. Im Jahr 1943 ist er im Medizinischen Register angeführt: http://www.familyrela tives.com/search/data_medical_register_midwives.php?page=47434& fn (abgerufen am 27. 11. 2017).

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University Department of Biochemistry und erwarb 1942 den PhD mit Studien zum Vitamin B3 (Nicotinsäure). Kod&cˇeks chemische Prüfverfahren an Vitaminen wurden ein wesentlicher Bestandteil von Dunns kriegsrelevanter Forschungstätigkeit, in der u. a. Nährwerte von Lebensmitteln für das British Food Investigation Board untersucht wurden.31 Kod&cˇek musste sich aber mit einer befristeten Anstellung zufriedengeben; er konnte zunächst als »Ausländer in einem Regierungsinstitut keine offizielle Anstellung« erlangen.32 Sgalitzerov#-Osˇancov#, die 1941 in das Dunn Nutritional Laboratory eintrat, wurde in den Jahren 1941 bis 1944 über ein Forschungsstipendium des Imperial Bureau of Plant Breeding and Genetics bezahlt und betrieb, wie Kod&cˇek, Forschungen zu Vitaminen und Ernährung, die ihre weitere berufliche Laufbahn in den Ernährungswissenschaften prägten. Erwähnenswert sind auch private Ereignisse: 1941 wurde Waelschs Tochter Maria Helene geboren, und 1943 erblickte Ivana, die zweite Tochter der Familie Kod&cˇek, das Licht der Welt. Im gleichen Jahr heiratete Kleinzeller die deutsche Exilantin Lotte Rauter (geb. 1925), und beide waren wiederum Trauzeugen bei der Hochzeit von Katerˇina Sgalitzerov# und Frantisˇek Osˇanec, einem Soldaten im tschechoslowakischen Panzerkorps in der britischen Armee.

Im Dienst der tschechoslowakischen Exilregierung Als sich 1940 in Großbritannien die tschechoslowakische Exilregierung bildete, begann sie sogleich eine Gruppe von Beratern mit im Exil lebenden Spezialisten zu organisieren. 1941 wurde Kod&cˇek zum offiziellen wissenschaftlichen Berater für Fragen der Ernährung bestellt,33 wofür er ein Stipendium von monatlich 30 Pfund erhielt,34 das seine Finanzierung durch den SPSL ersetzte. Er strich die Bedeutung von gesunder Ernährung, Wohnsituation und vor allem die Rolle von Bildung hervor, wie man seinem 1942 erschienenen Artikel entnehmen kann: »Ein Bildungssystem von demokratischer Ausrichtung muss initiiert werden, basierend auf einer internationalen Übereinkunft, um die positiven und wertvollen Seiten des nationalen Lebens in allen Bereichen zu nutzen. Nach dem

31 P.T.O. an Skemp 4. 3. 1946. ASPSL383/2. 32 Memo mit der Überschrift »Confidential« von 3. 1. 1942, adressiert an die SPSL. ASPSL383/2. Er wurde erst im Jahr 1947 als unbefristeter Mitarbeiter des MRC eingestellt. 33 Certificate of Juraj Sl#vik, Minister of Interior of the Czechoslovak Republic, datiert am 23. 7. 1941. ASPSL383/2. 34 Kod&cˇek an Simpson 19. 8. 1941. ASPSL383/2.

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Krieg ist die Bildung ein vorrangiges Hilfsprogramm und die Wissenschaftler aller Nationen sind aufgerufen, zu diesem Zweck beizutragen.«35 Am 17. Februar 1943 wurde der offizielle tschechoslowakische Gesundheitsrat beim Minister für Soziales (Ministerstvo soci#ln& p8cˇe) ins Leben gerufen, als ein »beratendes und planendes Organ für Gesundheitsfragen nach dem Krieg«.36 Die tschechoslowakische Exilregierung entwarf zu diesem Zeitpunkt Pläne für den Wiederaufbau nach dem Krieg, nicht nur auf dem Gebiet der Ernährung, sondern auch der Medizin, des Sozialen, der Bildung, der Beschäftigung und anderer Felder. Kleinzeller, Osˇancov# und Kod&cˇek wurden Mitglieder der Kommission für Ernährung.37 Im Juni 1944 wurde Kleinzeller als Vollzeitbeamter im Ministerium für Soziales eingestellt, verantwortlich für Fragen der Rekonstruktion des öffentlichen Gesundheitswesens.38 Einiges weist darauf hin, dass Katerˇina Osˇancov# 1944 dem tschechoslowakischen Roten Kreuz beitrat und in dieser Funktion Großbritannien noch vor Kriegsende verließ.39 Nach Auskunft ihrer Tochter Veˇra Haurov# kehrte sie als Mitglied einer Mission des tschechoslowakischen Roten Kreuzes zurück in die Tschechoslowakei, wobei ihre lange Reise in die Heimat über den Nahen Osten und die Sowjetunion führte. Die Geschichte der tschechischen Biochemiker im Exil in Großbritannien wäre ohne die Anmerkung unvollständig, dass Kod&cˇek und Kleinzeller hochoffiziell vom Militärdienst in der tschechoslowakischen Exilarmee befreit waren, um ihren vollen Einsatz für die kriegsrelevante Forschung sowie die Unterstützung der tschechoslowakischen Exilregierung zu ermöglichen. Dennoch wurde Kod&cˇek, ungeachtet seiner Aktivitäten, wiederholt und ohne jede Grundlage vorgeworfen, dass er den Militärdienst in tschechoslowakischen Einheiten verweigert hätte. Diese peinliche, politisch motivierte Affäre, die wohl die spätere Entscheidung Kod&cˇeks, nach dem Krieg in Großbritannien zu bleiben, beeinflusste, ging von dubiosen persönlichen Intrigen in Regierungszirkeln aus.40 Die Archive des Ministers für das Innere im Exil beinhalten auch die Meldung eines 35 Egon Kod&cˇek, Post-war relief as a starting point to post-war world reconstruction, in: Advancement of Science, pt. 5, Januar 1942, S. 303–304, S. 304. ˇ eskoslovensk8 zdravotn& rady 1943–1944, N#rodn& archiv Praha, MSP-L, 36 Zpr#va o cˇinnosti C fond Ministerstvo soc. p8cˇe Londy´n, sign. 11-41/2/5, karton 62. 37 Ebd., S. 4. 38 Frantisˇek Neˇmec (Minister für Soziales) an den Staatssekretär im Außenministerium Hubert Ripka, 14. 6. 1944. N#rodn& archiv Praha, Fond Ministerstav soci#ln& p8cˇe Londy´n, MSP-L, sign.11-25, karton 57. 39 The Red Cross collected for the funds for the victims of the Gestapo in Czechoslovakia and help of the children, in: Cambridge Daily News, 8. 6. 1944. Zeitungsausschnitt des Artikels im Nationalarchiv in Prag, MVL-L 2-10/617/1, karton 38. 40 Die Affäre wurde von Kod&cˇek in einer privaten Notiz beschrieben sowie in der weiteren Korrespondenz, die im SPSL-Archiv verwahrt wird.

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gewissen Mr. Johnson, der berichtete, dass Osˇancov# als lokale Vertreterin der ˇ eskoslovensko) Anfang 1943 auf einer VerJungen Tschechoslowakei (Mlad8 C sammlung der Freien Deutschen Jugend in Cambridge gesprochen habe.41 Kann in dieser unbedeutenden Episode bereits der Keim eines künftigen Regimes gesehen werden, das alle seine Bürger überwachte?

Zurück in die Nachkriegs-Tschechoslowakei? Die Tschechoslowakei wurde am 8. Mai 1945 durch amerikanische und sowjetische Einheiten befreit. Dennoch stand die künftige politische Entwicklung des Landes von Anfang an unter starkem Druck der Sowjetunion, die dabei von lokalen Kommunisten unterstützt wurde. Deshalb sahen sich viele tschechoslowakische Wissenschaftler im Exil, die berufliche und private Pläne für die Zukunft schmiedeten, mit der schwierigen Entscheidung konfrontiert, ob sie nach dem Krieg in ihre Heimat zurückkehren sollen. Die meisten von ihnen hatten im Holocaust den Großteil ihrer Familie verloren und die künftige politische Entwicklung in der Tschechoslowakei schien düster und unsicher. Die Situation kulminierte 1948 in einem kommunistischen Staatsstreich, der nur drei Jahre nach Kriegsende das demokratische Land für die nächsten 40 Jahre einer weiteren Diktatur unterwarf. Schließlich trennten sich die Wege der drei exilierten Biochemiker. Kod&cˇek besuchte mit seiner Ehefrau die Tschechoslowakei unmittelbar nach dem Krieg. Obwohl das Land formal noch demokratisch war, bekamen sie die allgegenwärtige Kontrolle durch die Kommunisten zu spüren. In deprimierter Stimmung kehrten sie nach Großbritannien zurück und entschieden, nie wieder in die Tschechoslowakei zurückzukehren. Viele Jahre später beschrieb Kod&cˇek seine Eindrücke folgendermaßen: »Die Zerstörungen waren nicht sehr umfangreich. Die Menschen jubelten und waren optimistisch, sie konnten nicht glauben, dass die Russen ihr Land besetzen würden. Vom gewaltigen Schlag des Münchner Abkommens hatte sich das tschechoslowakische Volk jedoch nie erholt. […] In dieser Stimmung wollten die Menschen einfach nur den Frieden. Sie hätten Widerstand leisten können, aber sie taten es nicht. Ich verabscheute es dort. Bei meiner Rückkehr hatte ich das Gefühl, als ob ich auf den Gräbern wandelte.«42 Die weitere Laufbahn Kod&cˇeks in Cambridge war spektakulär. Er wurde 1963 zum Direktor des Dunn Nutrition Institute berufen, wo er seine Forschungen an 41 Bericht von Mr. Johnson, datiert am 9. 6. 1943. Nationalarchiv in Prag, Fond Ministerstva vnitra, MV-L 322, 2-90/10886, karton 322. Solche Aktivitäten konnten das Ministerium im Hinblick auf anti-deutsche Ressentiments in der tschechoslowakischen Regierung interessieren. 42 Fraser/Widdowson 1983, S. 303.

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Vitaminen fortsetzte und zu einem weltbekannten Experten für Vitamin D wurde. Er erhielt zahlreiche internationale Preise, bekam den Titel eines Commander of the Order of the British Empire verliehen und wurde 1973 zum Fellow der Royal Society ernannt. Dennoch hat er nie den Kontakt mit seinen tschechischen Kollegen abgebrochen und wurde 1969 zum Ehrenmitglied der Jan ˇ esk# Evangelista Purkyneˇ Tschechoslowakischen Medizinischen Gesellschaft (C ˇ ˇ ˇ l8karsk# spolecnost Jana Evangelisty Purkyne) gewählt. Arnosˇt Kleinzeller kehrte gleich nach dem Krieg in die Tschechoslowakei zurück und begann am Staatsinstitut für Gesundheit zu arbeiten. Die Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei43 verbesserte seine Aufstiegschancen, und nach 1948 wurde er zum Leiter der Abteilung für Fermentationschemie und Mykologie an der Prager Universität für Chemie und Technologie (Vysok# sˇkola chemicko-technologick#) ernannt, wo ihn sein Verhalten als kompromissloser Kommunist jedoch sehr unpopulär machte. Schließlich wurde er aufgrund des latenten Antisemitismus des kommunistischen Regimes sowie der zunehmenden Verfolgung von aus dem Westen zurückgekehrten Menschen entlassen. Das rettete ihn paradoxerweise für die Wissenschaft, denn nach 1958 wurde Kleinzeller Leiter des Labors für Zell- und Gewebemetabolismus am Institut für Mikrobiologie der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, wo er endlich seine bei Krebs und Stephenson gesammelten Erfahrungen umsetzen konnte. Seine kleine Forschungsgruppe wurde zum weltweiten Vorreiter in Fragen des Zellmetabolismus und des Membrantransports. Trotz seiner Erfolge erfuhr Kleinzeller die permanente Frustration, seine wissenschaftlichen Ambitionen unter den rigiden Verhältnissen des kommunistischen Regimes nicht voll ausschöpfen zu können, was 1966 zu seiner zweiten Emigration führte. Diesmal ging er für immer in die USA, wo er 1967 die Professur für Physiologie an der Universität of Pennsylvania annahm. Nach ihrer Rückkehr in die Tschechoslowakei war Katerˇina Osˇancov# bestrebt, ihre Ideen für Volksernährung, die sie in Großbritannien entworfen hatte, umzusetzen und begann im Ministerium für Ernährung zu arbeiten. 1951 nahm sie einen Posten im Forschungsinstitut für Volksernährung (5stav pro vy´zkum vy´zˇivy lidu) an. Nach der Invasion der Armeen des Warschauer Paktes 1968 wurde das Institut geschlossen und die Forschergruppe, in der Osˇancov# arbeitete, wurde dem Institut für Hygiene und Epidemiologie (später Staatliches Institut für Gesundheit) untergeordnet. Trotz der harten Bedingungen im

43 Kleinzellers politische Orientierung manifestierte sich schon während des britischen Exils. Er war Mitglied der Czechoslovak Trade Union Group London-Southwest (Odborov# skupina cˇeskoslovensk# Londy´n-Jihoz#pad). Vgl. die Einladungen zu den Treffen im Nationalarchiv in Prag, MSP-L, sign. 11-23-1, karton 57.

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kommunistischen Regime44 wurde sie Schritt für Schritt zu einer international anerkannten Autorität in Sachen Ernährung. Sie konzentrierte sich vor allem auf Fragen des Übergewichts, das sie als eine der ersten Expert/inn/en weltweit als ein epidemiologisches Phänomen betrachtete. Ihre Forschung und deren Popularisierung von den 1960er bis in die 1980er Jahre waren entscheidend für Einführung einer gesünderen Ernährungsweise bei der tschechoslowakischen Bevölkerung, die im kommunistischen Regime unter einer unzulänglichen Auswahl an Lebensmitteln und fehlgeleiteten politisch motivierten Konzepten litt.

Ausblick Das Schicksal der tschechischen Biochemiker im Exil ist typisch für das Phänomen der erzwungenen Migration, das Mitchell Ash 2011 in der denkwürdigen Konferenz in Prag analysiert hat.45 Es ist in großen Teilen symbolhaft für diese Zeit und dokumentiert wie totalitäre Systeme ihr wissenschaftlichen Talente unterdrückten und ihnen nicht erlaubten, ihre Fähigkeiten in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Das totalitäre NS-System zwang sie in die Emigration, wo es ihnen unter sehr schwierigen Bedingungen gelang, wissenschaftliches Prestige zu gewinnen. Dennoch erachteten sie es auch als ihre Pflicht, Aktivitäten zu verfolgen, die sie auf ihre Nachkriegsrolle als wissenschaftliche Organisatoren vorbereiteten. Auf diese Weise versuchten sie, die Welt der Wissenschaft mit jener der Politik zu vereinen, um zur demokratischen Entwicklung der Nachkriegs-Tschechoslowakei beizutragen. Die dafür relativ günstige Periode der Nachkriegsdemokratie dauerte nur zwei Jahre an.46 Nach dem Februarumsturz 1948 schätzte das entstehende kommunistische Regime das Wissen und die Erfahrung der Wissenschaftseliten, die aus dem Westen zurückgekehrt waren, nicht besonders.47 Für das neue Regime waren sie potenzielle Unruhestifter, die antikommunistische Ideale mitgebracht hatten. Daher mussten sie, um nicht Verfolgung zu riskieren, ostentativ ihre Loyalität beweisen, sich ideologisch anpassen und dem Regime bedingungslos dienen. 44 In den 1950er Jahren musste ihr Ehemann Frantisˇek Osˇanec wie viele andere ehemalige Angehörige tschechoslowakischer Einheiten, die auf der Seite der Westmächte gekämpft hatten, im Bergbau arbeiten. So ging das neue Regime mit seinen Helden um. 45 Vgl. Ash 2011. 46 Bereits in dieser Zeit, wie Kod&cˇek zu Recht vermerkte, wurden die demokratischen Rechte eingeschränkt, vgl. Kostl#n 2012, S. 38–41. 47 Die meisten deutschsprachigen exilierten Wissenschaftler durften nicht in die Tschechoslowakei zurückkehren, selbst wenn sie Antifaschisten waren oder aufgrund ihrer »Rasse« verfolgt worden waren, vgl. Kostl#n/Sˇtrb#nˇov# 2011, S. 245–246; Kostl#n 2011, S. 139–140.

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Als Ergebnis dieser Studie lassen sich drei mögliche Wege festhalten, wie die exilierten Wissenschaftler angesichts dieser komplexen Situation reagierten (abgesehen vom lebensgefährlichen aktiven Widerstand): in der Emigration zu verbleiben (Kod&cˇek), nach Hause zurückzukehren und sich mit dem neuen Establishment arrangieren (Kleinzeller) oder ein Teil der »grauen Zone«48 zu werden (Osˇancov#). Die zweite Emigration von Kleinzeller, die aus Enttäuschung über das rigide kommunistische System erfolgte, war nicht atypisch; es gab zwischen 1948 und 1969 mehrere solche Fälle unter den tschechischen Wissenschaftler/inne/n.49 In Hinblick darauf ist es wichtig, auf einige Fragen einzugehen, die Mitchell Ash anregte, und zwar die Unterscheidung der Begriffe Migration, Emigration und Exil sowie die Frage nach »Verlust« und »Gewinn«.50 Nach der Definition von Ash enthält der Begriff »Emigration« die Dimension von freier Wahl; wenn jedoch der Emigrant oder die Emigrantin den Verlust ihrer kulturellen Wurzeln nachhaltig bedauert und seine/ihre Aktivitäten in Hinblick auf die Rückkehr in das Heimatlandausrichtet, dann ist der Terminus »Exil« eher angebracht. Die Protagonisten dieser Abhandlung sind deshalb als »Exilanten« zu bezeichnen, da sie nicht vorhatten, in Großbritannien zu bleiben und sich intensiv auf ihre Rückkehr vorbereiteten. Kod&cˇek wurde zum Emigranten, als er sich entschied, seiner Heimat für immer den Rücken zu kehren. Auch in Kleinzellers Fall war seine zweite Ausreise eine Emigration. Ash bewertet auch die Auswirkungen von »Verlust« und »Gewinn« als Ergebnisse von Zwangsmigration neu und unterscheidet zwischen der Bedeutung der beiden Begriffe für die Menschen einerseits und die Wissenschaft andererseits.51 Die Geschichte der exilierten Wissenschaftler dokumentiert, wie die Diktatur in ihrem Machtbereich einerseits wissenschaftliche Entwicklung und Karrieren behinderte, andererseits aber »die Zwangsmigration Karrieren«, wie Ash festhält ermöglichte, »die in den kleinräumigeren und restriktiveren Uni48 Die »Graue Zone« ist ein Begriff, der in 1970er Jahren von dissidenten Historikern eingeführt wurde, um die Menschen zu beschreiben, die weder Dissidenten waren noch einen Teil des Establishments bildeten. Sie nahmen an den »Strukturen« teil, blieben aber gleichzeitig in Kontakt mit ihren früheren Kollegen, die Dissidenten waren. Später wurde dieser Begriff auf Personen ausgedehnt, die das kommunistische Regime ablehnten und traditionelle Werte schätzten, aber aus unterschiedlichen Gründen die formellen politischen Rituale befolgten, was ihnen die Arbeit an Stellen ermöglichte, die ihren Qualifikationen entsprachen (meistens ohne leitende Posten zu übernehmen). Vgl. Jirˇina Sˇiklov#, Sˇed# zjna a budoucnost disidentu˚ ˇ eskoslovensku [Die Graue Zone und die Zukunft der Dissidenten in der TschechoslovC wakei] für die Zeitschrift Social Research 2004, abgedruckt in verkürzten Fassung: Sˇed# zjna Jirˇiny Sˇiklov8 [Die Graue Zone von Jirˇina Sˇiklova], https://www.novinky.cz/kultura/43752-se da-zona-jiriny-siklove.html (abgerufen am 19. 11. 2017). 49 Vgl. Sˇtrb#nˇov#/Kostl#n 2011 und auch Kostl#n 2011. 50 Ash 2011, S. 15–18. 51 Ebd., S. 19–22.

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versitäten und Wissenschaftssystemen Zentraleuropas ausgeschlossen waren«. Und sie verweist auf die Tatsache, »dass der Druck auf neue Verhältnisse zu reagieren, zu Innovationen geführt habe«, die anderweitig vielleicht niemals zustande gekommen wären.52 Das gilt insbesondere für die Karriere von Kod&cˇek. Das Exil bot allen drei tschechischen Biochemikern die Chance auf eine erstklassige wissenschaftliche Ausbildung, und es ermöglichte ihnen die Einbindung in internationalen Netzwerke. Allerdings konnte nur einer von ihnen (Kod&cˇek) diese Gelegenheit in vollem Umfang nutzen, da er sich dafür entschied, in einem demokratischen Land zu bleiben. Gleichzeitig behinderte das totalitäre kommunistische System die Karrieren jener Forscher, die nach Hause zurückgekehrt waren und sich dem System unterwerfen hatten müssen (Kleinzeller und Osˇancov#). Es wurde ihnen erlaubt, ihre Forschungen weiter zu betreiben, zum wissenschaftlichen Fortschritt beizutragen und Innovationen umzusetzen, wenn auch nur in sehr bescheidenem Maßstab. Zudem wurden sie von Führungspositionen ferngehalten, die im kommunistischen Regime nicht den hervorragenden Spezialisten, sondern nur jenen zustanden wurden, die dem System loyal dienten. Übersetzung aus dem Englischen von Jan Surman, bearbeitet von Josef Schiffer

52 Ebd., S. 22.

Annette Mülberger

Bruch und Kontinuität in der Psychologie in Spanien vor und nach dem Bürgerkrieg (1936–1939)*

Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gab es unter den spanischen Psychiatern und Pädagogen ein starkes Interesse an der Psychologie. Die Arbeit von Liberalen und Republikanern wird in dieser Zeit besonders deutlich. In der Francozeit finden wir eine neue Wissenschaftslandschaft, bei der der Klerus eine zentrale Rolle im Universitätswesen spielt. Trotzdem sind auch hier Kontinuitäten erkennbar. During the first decades of the twentieth century we find a strong interest in psychology among Spanish psychiatrists and pedagogues. The work of liberals and republicans is especially noteworthy. During the Franco regime we find a new scientific landscape in which the role of the clergy in the university system was crucial. Nevertheless, there are also continuities.

Einleitung Im Allgemeinen stimmen Geschichtsforscher darin überein, dass der Bürgerkrieg einen der tiefsten Einschnitte in der Geschichte Spaniens mit sich brachte. Schon während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren die gesellschaftlichen Spannungen stark zu spüren. Trotzdem zeichnet sich dieser frühere Zeitabschnitt durch kulturelle Produktivität und Innovation aus, so dass man von einem »silbernen Zeitalter« der spanischen Kultur spricht.1 Damit ist der Aufschwung in der Literatur und der Wissenschaft gemeint, der unter anderem mit dem Nobelpreis von Santiago Ramon y Cajal (1906) gekrönt wurde. In der Wissenschaftsgeschichte wird diese Blütezeit auf den Einfluss der Institucijn Libre de EnseÇanza (ILE) und der ihr zugehörigen Junta de Ampliacijn de Estudios (JAE) zurückgeführt, die den Kontakt mit dem Ausland sowie die Gründung wichtiger Forschungsinstitutionen ermöglichte und förderte. * Diese Arbeit entstand im Rahmen meines jetzigen Forschungsprojekts Markierung menschlicher Unterschiede: Psychometrie und Eugenik in Spanien 1900–1950, gefördert durch das Ministerio de Econom&a y Competitividad, HAR2014–58699P. 1 Vgl. Luis E. Otero, La ciencia en EspaÇa 1814–2015. Exilios, retornos, recortes, Madrid 2017.

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Annette Mülberger

Je mehr in der Geschichtsschreibung die positiven Aspekte und der internationale Einfluss der spanischen Wissenschaft und Kultur dieser Jahre herausgestrichen werden, desto stärker ist der Kontrast mit den Kriegs- und Nachkriegsjahren. Der Ausbruch des Bürgerkriegs hatte direkte Konsequenzen für das Universitätsleben. Viele Hochschulen wurden geschlossen oder umgewandelt.2 Schon 1936 begann die politische Verfolgung von Professoren. Zu Ende des Krieges (1939) befand sich das Land in einem jämmerlichen Zustand. Ein wichtiger Teil der bekannten und einflussreichen Figuren mussten ins Exil.3 An den Universitäten fand ein politischer »Säuberungsprozess« statt, der zu Hinrichtungen, Vertreibungen und Sanktionen führte. Es wurden Personen und Institutionen, die mit der liberalen Ideologie verbunden waren, entlassen und die Lehrstühle durch regimetreues Personal ersetzt. Zudem wurde 1940 vom Regime anstelle der JAE der Consejo Superior de Investigacijn Cient&fica (CSIC) gegründet, ein Rat, der die Forschung anführen und alle akademische Aktivitäten überwachen sollte. Seit längerer Zeit befassen sich spanische Historiker und Historikerinnen mit dem Bürgerkrieg und seinen Konsequenzen für die Wissenschaft. Das historische Panorama führt leicht dazu, diese als Opfer des politischen Wandels zu sehen. Die Nachbürgerkriegszeit wird im Allgemeinen als »Bruch« beschrieben, der sich durch den Verlust an (Meinungs-)Freiheit und einer wertvollen Wissenschaftstradition auszeichnet. Ruiz etwa spricht von einem »tiefgreifenden Traditionsbruch«,4 der den früheren Reformbemühungen ein Ende setzte und diese durch eine antiliberale und national-katholische Haltung ersetzte. Die Abwertung geht sogar so weit, dass manche behaupten, in der Franco-Diktatur hätte es schließlich überhaupt keine Wissenschaft mehr gegeben. In diesem Sinne schreibt Otero: »Es handelt sich um einen historischen Rückfall, von dem die spanischen Universitäten sich erst wieder mit der Einführung der Demokratie erholten […].«5 Im »anti-wissenschaftlichen« Milieu des Franquismus werden demzufolge akademische Tätigkeiten jeglichen wissenschaftlichen Wertes entleert. Die wenigen, die geschätzt werden, erscheinen als »Anomalie«, als etwas, was »trotz« der ungünstigen Umstände entstand. Diese Interpretation dominiert bis heute die Geschichtsschreibung der Psychologie.6 2 Vgl. Carnicer Ruiz/Miguel ]ngel, Die spanischen Universitäten während der Franco-Diktatur, in: John Connelly/Michael Grüttner (Hg.), Zwischen Autonomie und Anpassung. Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2003, S. 101–127. 3 In diesem Fall spricht man nicht von »brain drain« oder »Auszug des Geistes« sondern von der »fuga de cerebros«, wörtlich Gehirnflucht. 4 Ruiz 2003. 5 Otero 2017, S. 187. 6 Francisco Tortosa (Hg.), Una historia de la psicolog&a moderna, Madrid 1998; Heliodoro Carpintero, Historia de la psicolog&a en EspaÇa, Madrid 2004.

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Mit Recht haben Geschichtsforscher wie Camprub& diesen Ansatz kritisiert und auf eine zu simple Identifikation zwischen Wissenschaft und Demokratie zurückgeführt. Neue Arbeiten zeigen, wie die Forschung und Tätigkeiten der Physiker, Ingenieure und Psychiater ein aktiver und wichtiger Teil des politischen Machtapparats der Diktatur waren.7 Es ist an der Zeit, auch in der Psychologiegeschichte einen neuen Interpretationsansatz zu suchen. Erstens gilt es den Traditionsbruch selber zu relativieren, indem man auch Kontinuitäten identifiziert und untersucht. Zweitens wäre es interessant ein »Wechselwirkungsmodell« anzuwenden, wie es Ash vorschlägt:8 Ein Modell, das hilft, die »Verwicklungen« bzw. die »vernetzten Handlungsfelder« zwischen Wissenschaft und Politik besser herauszuarbeiten. Im Folgenden werde ich andeuten, wie dies im Fall der Psychologie aussehen könnte (eine tiefere Ausarbeitung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen).

Die Psychologie vor Ausbruch des Krieges Wenn es um die Psychologie zu Anfang des 20. Jahrhunderts geht, dann finden wir in der Geschichtsschreibung vor allem die Beiträge von Figuren, die sich politisch für die Demokratisierung und Liberalisierung des Landes eingesetzt haben. Ein Beispiel ist der renommierte Psychiater Luis Simarro (1851–1921), der 1902 die erste spezifische Professur für »experimentelle Psychologie« an der Universität von Madrid besetzte. Simarro war Republikaner, Freimaurer (Gran Maestre del Gran Oriente EspaÇol) und sein ganzes Leben lang politisch sehr aktiv.9 Die Psychologie wurde auch außerhalb der Universität betrieben und geför7 Vgl. z. B. Xavier Roqu8, Cultures of research and the international relations of physics through Francoism: Spain at CERN, in: Amparo Gjmez/Antonio Fco. Canales/Brian Balmer, Science policies and 20th-century dictatorships, Surrey 2015, S. 121–140; Lino Camprub&, Los ingenieros de Franco. Ciencia, catolicismo y guerra fr&a en el estado franquista, Barcelona 2017; Ricardo Campos/]ngel Gonz#lez de Pablo (Hg.), Psiquiatr&a e higiene mental en el primer franquismo, Madrid 2016; Ricardo Campos/]ngel Gonz#lez de Pablo (Hg.), Psiquiatr&a en el primer franquismo: saberes y pr#cticas para un »nuevo estado«, in: Dynamis 37 (2017) 1 (Themenheft). 8 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 11–46; Mitchell G. Ash, Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawliczek (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 19–37; Mitchell G. Ash, Wissenschaftswandel in Zeiten politischer Umwälzungen: Entwicklungen, Verwicklungen, Abwicklungen, in: Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 95 (1995) 3, S. 1–21. 9 Vgl. Assumpcik Vidal, Luis Simarro y su tiempo, Madrid 2007.

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dert. Ein zentraler Ausgangspunkt war die schon genannte ILE. Sie trug entscheidend zur Entwicklung einer modernen Pädagogik und Psychologie bei. Die leitende Figur der Institution war der Jurist und Pädagoge Francisco Giner de los R&os (1839–1915), ein Republikaner, der sich für säkulare und demokratische Erziehung einsetzte. Durch die ILE und ihr weitreichendes soziales Netzwerk entstand in Spanien – in Konkurrenz zu den katholischen Schulen – ein alternatives und anerkanntes Schulsystem. Auch übernahm Spanien in dieser Zeit eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Psychotechnik. Sowohl in Barcelona als auch Madrid wurden öffentliche Institute zur Berufsberatung gegründet, die durch emsige Aktivität versuchten, ihren gesellschaftlichen Einfluss zu maximieren. Unter anderem wurden in der Zeit in Barcelona, unter der Leitung des Psychiaters und Psychologen Emilio Mira y Ljpez (1896–1964) zwei internationale Konferenzen zur Psychotechnik organisiert (1921 und 1930). Mira war Mitglied einer linksradikalen katalanischen Partei (PSUC), äußerte sich in öffentlichen Diskussionen zu politischen Themen und beteiligte sich am Bürgerkrieg als Vorstand des Psychiatrischen Dienstes der Republikanischen Armee.10

Die Psychologie nach dem Bürgerkrieg Die meisten Psychologiehistoriker/innen benutzen auch hier die Rhetorik des kompletten Bruchs, als Kontrast zu dem positiven Bild der Psychologie vor dem Krieg. Carpintero erklärt: »[…] der Krieg bedeutet einen Einschnitt in die […] Tradition der wissenschaftlichen Psychologie, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in Schwung kam und sich seit den dreißiger Jahren [gewisser] internationaler Anerkennung und Hochachtung erfreute.«11 Viele Intellektuelle, deren Arbeit für die Psychologie relevant war, wie zum Beispiel Emilio Mira, Domingo Barn8s, ]ngel Garma und Mercedes Rodrigo mussten fliehen. Manche kamen zurück, aber wurden vom akademischen Leben ferngehalten (so der Psychiater und Psychologe Jos8 Germain, 1897–1986). Institutionen wie die ILE wurden geschlossen und die Erinnerung an ihre Beiträge ausgelöscht. Am Ende der Republik dominierte in der Gesellschaft ein ultrakonservativer und repressiver Lebensstil. Francos Regime »übte einen rigorose Überwachung der spanischen Gesellschaft aus […].«12 Tortosa und Carpintero behaupten, dass 10 Vgl. Annette Mülberger/Ana Maria Jacj-Vilela, Es mejor morir de pie que vivir de rodillas: Emilio Mira y Ljpez y la revolucijn social, in: Dynamis 27 (2007), S. 309–332. 11 Carpintero 2004, S. 183. 12 Ebd.

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diese Zensur und Kontrolle ganz besonders die Psychologie betroffen habe.13 Der CSIC und das gesamte Universitätswesen hatten zur Aufgabe, die traditionellen und spirituellen Werte der »Hispanidad« des »goldenen Zeitalters« zu promovieren und damit zum Wiederaufbau der klassischen und christlichen Einheit der Wissenschaften beizutragen.14 In der Praxis bedeutete das das Aufleben der Scholastik. Um den Umschwung der Philosophie, der Psychologie und der Pädagogik in diese ideologische Richtung zu leiten, wurde der Dominikaner Manual Barbado (1886–1945) aus Rom zurückgeholt. Er erhielt den (einzigen) Lehrstuhl für experimentelle Psychologie (den früher Simarro besetzt hatte). Innerhalb des CSIC gründete er 1940 das philosophische Institut Luis Vives. In seinem wichtigsten Werk zur Einführung in die experimentelle Psychologie (1943) erklärte er Aristoteles zum Gründer des Faches und die Heiligen Albertus Magnus und Thomas von Aquin als seine bedeutendsten Denker. Seine neoscholastische Perspektive gab die Richtlinie der philosophischen und psychologischen Lehre in ganz Spanien an, da sie »[…] als einzige von der Kirche akzeptiert wird und als Basis einer soliden religiösen Kultur dienen kann.«15 In Spanien hatte die katholische Kirche seit der liberalen Revolution 1868, und ganz besonders seit Beginn der Zweiten Republik an Macht verloren. Die Regierung hatte Güter und Grundstücke enteignet und ihre Rolle im Erziehungswesen reduziert durch die Unterstützung der ILE und eines öffentlichen Schulsystems. Franco erkannte bald, dass er für Aufbau und Festung seines Regimes auf die Unterstützung der Kirche angewiesen war. Dadurch ergaben sich für die Kirche nach dem Krieg das, was Ash ein neu ausgehandeltes »Ermöglichungsverhältnis« nennt, verbunden mit einer »Neugestaltung von Ressourcenkonstellationen«.16 Durch diese – freilich nicht konfliktfreie – Koalition zwischen Regime und Kirche wurde dem Dominikaner Barbado die institutionelle Macht über die Organisation der drei genannten Wissensbereiche zugespielt. Durch die Allianz des Regimes mit der Kirche entstanden somit für ihn neue Handlungsmöglichkeiten und Handlungsfelder. Barbado versuchte, durch den scholastischen Ansatz die Psychologie an Philosophie und Theologie zu binden bzw. ihnen erstere unterzuordnen, und gleichzeitig den »Materialismus« zu bekämpfen. Jedoch hatte er nur fünf Jahre Zeit, um diese Projekte vor seinem Tod zu verwirklichen. Schon 1945 ergaben sich durch sein Dahinscheiden neue Handlungsmöglichkeiten für andere historische Figuren, die im Hintergrund auf 13 Vgl. ebd.; Tortosa 1998. 14 L. E. Otero/M. NuÇez/G. Gjmez/J.M. Ljpez/R. Simjn, La destruccijn de la ciencia en EspaÇa. Depuracijn universitaria en el franquismo, Madrid 2006, S. 67. 15 Manuel Barbado, Estudios de psicolog&a experimental. Band 1, Madrid 1946, S. 21. 16 Mitchell G. Ash, Reflexionen zum Ressourcenansatz, in: Sören Flachowsky/Rüdiger Hachtmann/Florian Schmaltz (Hg.), Ressourcenmobilisierung. Wissenschaftspolitik und Forschungspraxis im NS-Herrschaftssystem, Göttingen 2017, S. 535–553.

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ihre Chance gewartet hatten und wenig dogmatisch oder gar nicht an der Scholastik festhielten. So schaffte der schon genannte und vom Regime bestrafte Germain den Weg zurück in die Universität. Durch geschickte Beziehungen und Politik erreichte er Jahre später die Institutionalisierung der Psychologie.

Schlussbemerkung: Wo bleibt die Kontinuität? Wir haben gesehen, dass in der Sekundärliteratur die Rolle des Bürgerkrieges und des neuen gesellschaftlichen Rahmens, der durch die totalitäre Herrschaft des Franco-Regimes gekennzeichnet war, als Bruch dargestellt wird – ein Bruch, der vom Regime selber, das von dem »neuen Spanien« sprach, gefördert wurde. Er beinhaltet den Wechsel von der Republik zur totalitären Militärdiktatur sowie das Ende einer wissenschaftlichen Tradition des »silbernen Zeitalters«. Durch die starken Veränderungen auf den verschiedenen Ebenen (Personal, Institutionen, Forschungs- und Denkstil etc.) handelt es sich um eine »ideologische Neukonstruktion der Wissenschaftslandschaft«.17 Dabei wurden der akademische Platz der Psychologie und ihre Rolle als Wissensgebiet und politisches Instrument neu definiert. Auch wenn historische Arbeiten inzwischen das politische Engagement von einigen Psychologen wie Simarro oder Mira behandelt haben, fehlt es bis heute noch an einer genaueren Analyse dieser »Verwicklungen«18 zwischen Psychologie und Regime in den Jahren der Franco-Diktatur. Wie schon zu Anfang gesagt, sollte meiner Meinung nach auch die Kontinuität dieser Geschichte näher betrachtet werden. Zum Schluss will ich hierzu zwei Aspekte nennen. Erstens gilt, dass die spanischen Universitäten sowohl vor als auch nach dem Krieg vor allem der Lehre (und Titelverleihung) dienten. Das klägliche Budget, mit dem sie von der Regierung ausgestattet wurden, erlaubte im Allgemeinen keine gut ausgerüsteten Labore und schon gar nicht kostspielige Instrumente. Forschung war daher nur begrenzt möglich. Zweitens haben neue Arbeiten gezeigt, dass die neo-thomistische Psychologie nicht von Barbado nach dem Krieg neu in Spanien eingeführt wurde, sondern schon vorher existierte.19

17 Ash 2006, S. 30–33. 18 Ders. 1995, S. 1–21. 19 Siegrid Leyssen/Annette Mülberger, Psychology from a Neo-Thomist Perspective: The Louvain-Madrid connection, in: Rajesh Heynickx/St8phane Symons (Hg.), So What’s New about Scholasticism? How Neo-Thomism Helped Shape the Twentieth Century, Berlin 2018, S. 181–204.

Hans-Jörg Rheinberger

Die Anfänge der Molekularbiologie in Deutschland*

Der Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die Geschichte der Molekularbiologie in Deutschland. Im Zentrum steht dabei das Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik, das 2014 das Jubiläum seines fünfzigjährigen Bestehens beging. The contribution gives a brief sketch of the history of molecular biology in Germany. Its focus is on the Max Planck Institute for Molecular Genetics, whose fiftieth anniversary was celebrated in 2014.

Als der geschäftsführende Direktor des Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik in Berlin-Dahlem, Martin Vingron, mich fragte, ob ich bereit wäre, anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Instituts einen historischen Überblick über die Molekularbiologie in Deutschland zu geben, sagte ich ohne Zögern zu. In diesem Institut verbrachte ich meine experimentellen Lehrjahre. Es hat sich tief in meine Erinnerung sowie in meine Arbeit als Wissenschaftshistoriker eingeschrieben. Seit den 30er Jahren und im Laufe der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts begann sich vor allem in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien eine neue Biologie herauszubilden. Der Terminus Molekularbiologie, der für sie geläufig werden sollte, geht auf Warren Weaver zurück,1, 2 der damals die Division Naturwissenschaften der Rockefeller Foundation leitete und der den neuen Nexus von Biologie – vor allem Genetik –, Chemie und Physik mit den finanziellen Ressourcen der Stiftung föderte, wo immer er in Amerika und Europa erfolgversprechende Ansätze dazu sah. Der Begriff der Molekularbiologie stand * Der vorliegende Text ist die deutsche Fassung eines Vortrags, der anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik im Dezember 2014 gehalten wurde. Er möge den hier zu Ehren von Mitchell Ash gebundenen Blumenstrauß als ein nicht zuletzt persönlich gefärbter Beitrag bereichern. 1 »[…] ein neuer Wissenschaftszweig – Molekularbiologie – der beginnt, viele Geheimnisse betreffend die letzten Einheiten der lebenden Zelle zu lüften.« (The Rockefeller Foundation. Annual Report, New York 1938, S. 40. Übersetzung des Zitates: Hans-Jörg Rheinberger)

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Hans-Jörg Rheinberger

in einer unüberhörbaren Resonanz zum wachsenden Selbstverständnis der Epoche als Atomzeitalter. Was das Atom für die Wissenschaften der unbelebten Natur bedeutete, versprach das Molekül für die Wissenschaften vom Leben, insbesondere des Menschen, zu werden. In einer Triangulation zwischen Biochemie, Biophysik und Genetik nahm eine hybride Wissenschaft Gestalt an. Zusammengefasst führte sie vier heterogene Bestandteile zusammen: die Erprobung und Anwendung einer ganzen Batterie neuer analytischer – biophysikalischer, biochemischer, mikrobieller – Techniken; die Einführung einfacher, sich rasch vermehrender Modellorganismen; die Herausbildung neuer Formen wissenschaftlicher Zusammenarbeit jenseits der klassischen Disziplinengrenzen; und schließlich die Etablierung einer Sichtweise auf die grundlegenden Lebensprozesse, die sich an der Kybernetik, der Informationstechnologie und der Linguistik orientierte. Am Anfang spielte Deutschland dabei noch eine Rolle. In den frühen 30er Jahren war auf dem Campus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem das Potential, diese Entwicklung mitzugestalten, versammelt. Robert Olby, der erste umfassende Chronist der Geschichte der Molekularbiologie, bemerkte dazu: »Die richtigen Ingredienzien für die Entwicklung der Molekularbiologie waren, so scheint es, in Dahlem vorhanden – vor allem eine leistungsstarke Schule der theoretischen und praktischen Röntgenstrukturanalyse.«2 Es sollte jedoch anders kommen. Viele der jungen und vielversprechenden Forscher, die damals an einem der Dahlemer Kaiser-Wilhelm-Institute (KWI) arbeiteten – unter ihnen Max Delbrück (KWI für Chemie), Fritz Lipmann, Curt Stern, Victor Hamburger (alle drei KWI für Biologie), um nur einige von ihnen zu nennen – verließen Deutschland nach dem politischen Umbruch von 1933, nahmen ihr Wissen und ihre Verheißungen mit sich und wurden zu Wegbereitern der neuen Biologie vor allem in den Vereinigten Staaten.3 Das blühende Kaiser-Wilhelm-Institut für Faserstoffchemie mit Michael Polanyi, Reginald Oliver Herzog, Hermann Franz Mark und anderen wurde noch 1933 gänzlich aufgelöst. Polanyi ging nach Manchester, Herzog nach Istanbul und Mark nach Wien. Außer dem Pionier der physiologischen Entwicklungsgenetik Alfred Kühn trug nur eine der verbliebenen Gruppen in Dahlem vor und auch während des Zweiten Weltkrieges wesentlich zur Molekularisierung der Biologie bei. Das war die zur Mitte der 30er Jahre auf Initiative von Adolf Butenandt (KWI für Biochemie) und Fritz von Wettstein (KWI für Biologie) gegründete Arbeitsgruppe Virusforschung mit dem Biochemiker Gerhard Schramm, dem Zoologen Hans 2 Robert Olby, The Path to the Double Helix. The Discovery of DNA (1974), New York 1994, S. 40. 3 Vgl. Reinhard Rürup/Michael Schüring, Schicksale und Karrieren. Gedenkbuch für die von den Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertriebenen Forscherinnen und Forscher, Göttingen 2008.

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Friedrich-Freksa (beide KWI für Biochemie) und dem Botaniker Georg Melchers (KWI für Biologie).4 Gegen Ende des Krieges wurde die Gruppe nach Tübingen evakuiert. An der Universität Tübingen fand damals Unterschlupf, was von den KWIs für Biologie und Biochemie übrig geblieben war. Mit Ausnahme von Melchers, der seinen Platz im Max-Planck-Institut (MPI) für Biologie fand, wurde die Virusgruppe 1954 in das neu gegründete Max-Planck-Institut für Virusforschung überführt. So wurden die MPIs in Tübingen – und in München, wohin Butenandts MaxPlanck-Institut für Biochemie 1956 verlegt wurde – zu Kristallisationspunkten der verspäteten Etablierung der Molekularbiologie in Deutschland. Wendell Stanley, der bereits Mitte der 30er Jahre Tabakmosaikvirus-Stämme nach Dahlem geschickt hatte, wurde zu ihrem einflussreichen internationalen Mentor. Um die Mitte der 50er Jahre waren dies – neben dem MPI für Physikalische Chemie in Göttingen – die einzigen Forschungseinrichtungen in Deutschland, die für sich beanspruchen konnten, an der internationalen Forschungsfront der molekularen Genetik mitzuwirken. Neben der mangelnden technischen Ausrüstung darf man nicht vergessen, dass die Generation junger Wissenschaftler, die in Deutschland nach 1945 die Entwicklungen aus der angelsächsischen Welt hätten aufgreifen können, zu einem erheblichen Teil ein Opfer des Krieges geworden war. Folglich musste zunächst einmal eine neue Kohorte von Forschern herangebildet und im Ausland mit den neuen Technologien vertraut gemacht werden. Aber bis in die Mitte der 50er Jahre konnte die Zahl junger Postdoktoranden, die ein oder zwei Jahre an britischen oder amerikanischen Universitäten verbracht hatten und auf diesem Weg mit der neuen Forschungswelt in Kontakt gekommen waren, an den Fingern zweier Hände abgezählt werden. Unter ihnen waren der Mediziner und Biochemiker Wolfhard Weidel (1949/50 am California Institute of Technology, später Direktor am MPI für Biologie in Tübingen); der Chemiker Friedrich Cramer (1953 an der Cambridge University, später Direktor am MPI für Experimentelle Medizin in Göttingen); der Physiker Alfred Gierer (1953 am Massachusetts Institute of Technology, später Direktor am MPI für Virusforschung in Tübingen); und der Mikrobiologe Thomas Trautner (1953 an der Urbana University in Illinois, später Direktor am MPI für Molekulare Genetik in Berlin). 1953 präsentierten der Physiker Francis Crick und der Biologie James Watson, die damals am Cavendish Laboratory in Cambridge zusammenarbeiteten, eine Doppelhelixstruktur für Desoxyribonukleinsäure. Damit wurde nicht nur das 4 Vgl. Kristie Mackrakis, The Survival of Basic Biological Research in National Socialist Germany, in: Journal of the History of Biology 26 (1993), S. 519–543; Hans-Jörg Rheinberger, Virusforschung an den Kaiser-Wilhelm-Instituten für Biochemie und für Biologie, 1937–1945, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000, S. 667–698.

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Goldene Zeitalter der Molekularbiologie eingeläutet, sie erhielt auch ihr mächtiges, bis heute allgegenwärtiges Symbol: die molekulare Doppelspirale. Im Jahr 2000 hatte ich die Gelegenheit, ein Interview mit Friedrich Cramer, der 1953 in Cambridge war, zu führen. Er erinnerte sich an die Situation in Deutschland zu Beginn der 50er Jahre: »Also, es gab Chemie, und es gab Botanik, Zoologie im klassischen Sinne. Es war eigentlich nichts auf diesem Gebiete [Molekularbiologie]. Es herrschte im Gegenteil eine Feindseligkeit gegenüber diesen modernen Richtungen, unter denen ich als aus dem Ausland Heimgekehrter nicht wenig zu leiden hatte.«5 Mit der Identifizierung der DNA als materielles Substrat der Vererbung hatte die Genetik ein molekulares Fundament erhalten. 1958 proklamierte Crick das sogenannte Dogma der Molekularbiologie, in Kürzestfassung: DNA macht RNA, RNA macht Protein. Alle bahnbrechenden Einsichten in die molekulare Basis der Vererbung, die in diesem Jahrzehnt gewonnen wurden, verdankten sich der Arbeit mit Mikroorganismen, vor allem Bakterien sowie Viren und Bakteriophagen. Zwei Klassen von Makromolekülen und ihre Wechselwirkung standen dabei im Zentrum: die Nukleinsäuren und die Proteine. Um 1960 war die experimentelle und begriffliche Kernstruktur der molekularen Genetik – Replikation, Transkription, Translation – in Umrissen sichtbar und die Entschlüsselung des genetischen Codes in Reichweite. 1958 war auch das Jahr, in dem eine Denkschrift zur Lage der Biologie in Deutschland für Aufsehen sorgte.6 Sie war im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft verfasst worden. Nicht weniger als ein Drittel der fünfzehn Unterzeichner des Pamphletes kam aus der kleinen Universitätsstadt Tübingen, und vier dieser fünf waren an den Tübinger Max-Planck-Instituten beheimatet. Das Memorandum hielt fest, dass die Biologie wie keine andere Naturwissenschaft eine »tiefgreifende Evolution« durchlaufe und dass vor allem die Entwicklung neuer physikalischer und chemischer Methoden der Grundlagenforschung in der Biologie »ganz neue Wege« erschlossen hätten.7 Die Denkschrift forderte nicht nur, die durch den Krieg verursachten »Verluste« auszugleichen – wie man euphemistisch formulierte –, sondern auch, mit dem vorgerückten Stand der Grundlagenforschung in anderen hochentwickelten Ländern gleichzuziehen. Die deutschen Universitäten waren von dem Idealzustand weit entfernt, den die Petitionäre der Denkschrift skizzierten – unter ihnen der Zoologe und Virusforscher Friedrich-Freksa (Tübingen), der Biochemiker Feodor Lynen (München) und der Botaniker Joseph Straub (Köln). Ihrer Vision zufolge sollte 5 Interview des Autors mit Friedrich Cramer, Göttingen, 22. September 2000. 6 Denkschrift zur Lage der Biologie. Im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft verfaßt von Dr. Arwed H. Meyl. Denkschriften zur Lage der Deutschen Wissenschaft 4, Wiesbaden 1958. 7 Denkschrift 1958, S. iii.

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ein Fachbereich Biologie an einer Volluniversität neben Lehrstühlen für Zoologie und Botanik zusätzlich mindestens je einen Lehrstuhl für Genetik, für Mikrobiologie und für Biochemie aufweisen. Eine Ballung dieser Art gab es Mitte der 50er Jahre mit der Ausnahme von Tübingen an keiner deutschen Universität, wo die Direktoren der drei MPIs – Biologie, Virusforschung, Biochemie – in die universitäre Lehre und Forschung eingebunden waren. So kam denn auch von hier der damals sichtbarste deutsche Beitrag zur aktuellen molekularbiologischen Forschung, wo Gerhard Schramm, Alfred Gierer und Karl-Wolfgang Mundry 1956 in Fortsetzung der Virusarbeiten in der KWG und parallel zu den Forschungen von Heinz Fraenkel-Conrat in Berkeley – einem weiteren Emigranten aus Deutschland – zeigen konnten, dass der infektiöse Bestandteil des Tabakmosaikvirus seine RNA war.8 1961 ließ sich Max Delbrück für zwei Jahre vom California Institute of Technology beurlauben, um mit Carsten Bresch vom Göttinger MPI für Physikalische Chemie bis zu seinem Tode 1957 von Karl Friedrich Bonhoeffer geleitet ein neues Institut für Genetik mit molekularer Orientierung an der Universität Köln aufzubauen.9 Hier fand dann 1961 der erste Phagenkurs in Deutschland statt – 16 Jahre nach seiner Etablierung in Cold Spring Harbor. Die Initiative zur Gründung des Kölner Instituts ging auf Straub zurück, der gleichzeitig mit seiner Universitätsfunktion ab 1961 Direktor am Kölner MPI für Züchtungsforschung war. Das neue Institut sollte den internationalen Stand der molekularen Genetik an einer deutschen Universität repräsentieren. Im gleichen Jahr erfolgte die Gründung der Stiftung Volkswagenwerk. Sie finanzierte nicht nur das Institut für Genetik in Köln mit, sondern sah es unter ihrem ersten Generalsekretär Gotthard Gambke als eine ihrer Hauptmissionen an, der Molekularbiologie in Deutschland flächendeckend zum Durchbruch zu verhelfen.10 Zur Zeit ihrer Gründung verfügte die Stiftung über finanzielle Ressourcen in der gleichen Größenordnung wie die DFG – damals etwa einhundert Millionen DM. Alfred Gierer bemerkte, als ich ihn danach fragte, wie er die frühen 60er Jahre in Erinnerung habe, dass nun endlich »[…] Dinge geschahen, die geschehen sollten – aber reichlich spät.«11 Im November 1962 bestellte die Biologisch-Medizinische Sektion der MPG 8 Vgl. Karen-Beth G. Scholthof/John G. Shaw/Milton Zaitlin (Hg.), Tobacco Mosaic Virus. One Hundred Years of Contributions to Virology, St. Paul MN 1999; vgl. auch Christina Brandt, Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischen Code, Göttingen 2004. 9 Vgl. Simone Wenkel/Ute Deichmann, Max Delbrück and Cologne. An Early Chapter of German Molecular Biology, New Jersey u. a. 2007. 10 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Die Stiftung Volkswagenwerk und die Neue Biologie. Streiflichter auf eine Förderbiographie, in: Impulse geben – Wissen stiften, 40 Jahre VolkswagenStiftung, Göttingen 2002, S. 197–235. 11 Interview mit Alfred Gierer, 17. Oktober 2000 in Tübingen.

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eine Kommission mit dem Ziel der Einrichtung eines MPI für Molekulare Genetik in Berlin. Zusammen mit Straub aus Köln waren es vor allem die MPIDirektoren in Tübingen, die innerhalb der Gesellschaft für eine völlige Neuorientierung des früheren Berliner Max-Planck-Instituts für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie nach der Emeritierung seines Direktors Hans Nachtsheim plädierten. Es sollte das erste Forschungsinstitut in Deutschland werden, das den Terminus Molekulare Genetik im Titel trug. Nach dem Willen der Kommission sollte sich das Institut vollständig auf die Arbeit mit Bakterien und Viren konzentrieren und die Erforschung der Nukleinsäuren und Proteine sowie ihre Wechselwirkung ins Zentrum stellen. Die Max-Planck-Gesellshaft bemühte sich, Gunther Stent von der University of California in Berkeley als Gründungsdirektor zu gewinnen. Stent war mit vierzehn Jahren von Berlin 1938 über Belgien in die Vereinigten Staaten geflüchtet.12 Die Versuche, ihn nach Berlin zu bringen, scheiterten jedoch. Stent, der das Arbeiten mit Phagen bei Delbrück in Pasadena gelernt hatte, versprach aber, das Institut bei seinem Aufbau zu begleiten. Er wurde zum ersten externen wissenschaftlichen Mitglied berufen.13 Das Institut nahm seine Arbeit 1964 mit zwei Direktoren auf. Der Chemiker Heinz Schuster hatte seit Mitte der 50er Jahre an der Struktur, Funktion und Mutabilität von Nukleinsäuren gearbeitet. Zusammen mit Schramm und Wolfram Zillig hatte er am MPI für Virusforschung die Phenol-Extraktion von Nukleinsäuren entwickelt, die rasch integraler Bestandteil des Methodenarsenals zur Gewinnung höhermolekularer Nukleinsäuren aus Zellhomogenaten wurde. Zum Zeitpunkt seiner Berufung verbrachte er gerade bei Robert Sinsheimer ein Forschungsjahr in Pasadena. Heinz Günter Wittmann hatte Agronomie, Biologie und Chemie studiert und als Postdoc die Jahre 1956/57 bei Art Knight in Berkeley verbracht. In Tübingen führte er danach seine Forschungen bei Melchers am MPI für Biologie fort. Er unternahm den Versuch, den genetischen Code zu entschlüsseln, indem er die RNA des Tabakmosaikvirus spezifisch und systematisch mutierte und die dadurch bedingten Aminosäure-Austausche im Hüllprotein des Virus identifizierte. Thomas Trautner folgte 1965 als dritter Direktor. Er hatte Mikrobiologie studiert und als gerade einmal Einundzwanzigjähriger an der University of Urbana in Illinois gelernt, mit Phagen zu arbeiten. In den späten 50er Jahren hatte er zusammen mit Bresch die Phagenarbeit am MPI für Physikalische Chemie in Göttingen etabliert. Nachdem er 1964 in Berkeley zum Assistenzprofessor berufen worden war, wechselte er von dort ein 12 Über seine Kindheit in Berlin, die Flucht und seine Arbeit als amerkikanischer Offizier nach Kriegsende hat er ausführlich in seiner Autobiographie berichtet: Gunther Stent, Nazis, Women and Molecular Biology. Memoirs of a Lucky Self-Hater, Kensington CA 1998. 13 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, II. Abt, Rep. 1 A, BMS, Kommission Molekulare Genetik.

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Jahr später nach Berlin. Das Institut wurde schnell zu einem internationalen Fokus für molekulargenetische Forschung. In den nächsten 25 Jahren konzentrierten sich die Arbeiten der drei Abteilungen auf DNA-Replikation und Genregulation einschließlich DNA-Methylierung sowie der Erforschung der Struktur und Funktion der Ribosomen und der Proteinbiosynthese. Aber darüber werden hier andere berichten. Schließen möchte ich mit einer persönlichen Erinnerung. Ich lernte das Institut als eine internationale und interdisziplinäre Insel auf dem FU-Campus kennen, als ich ab 1978 meine Diplom- und danach meine Doktorarbeit in der Gruppe von Knud Nierhaus an Wittmanns Abteilung schrieb. Die Abteilungen selbst nahm ich als Student jedoch eher als voneinander getrennte Sphären wahr. An einem Ort jedoch kamen alle zusammen, und zwar am Elektronenmikroskop des Instituts. Es stellte so etwas wie einen instrumentell vermittelten Treffpunkt dar. Dann waren da noch die Mittwochskolloquien Thomas Trautners, in denen über Arbeiten aus dem ganzen Institut referiert wurde. Bei einem dieser Kolloquien, ich erinnere mich noch lebhaft, stellte ich institutsöffentlich zum ersten Mal die Ergebnisse meiner Doktorarbeit vor.14

14 Hans-Jörg Rheinberger, Eine neue, dritte Bindungsstelle am E. coli Ribosom: Nachweis und funktionelle Charakterisierung, rer. nat. Diss. Freie Universität Berlin 1982.

Gerhard Baader

Ludwig Teleky zwischen Gewerbehygiene und Arbeiterbewegung

Dieser Artikel setzt sich mit der von Ludwig Teleky in Österreich betriebenen Sozialen Hygiene auseinander, die eine enge Verbindung mit der Sozialdemokratischen Partei aufzuweisen hatte. Eine Verzahnung zwischen Medizin, Partei und Gewerkschaften brachte einen Aufschwung dieser Forschungsrichtung an der Universität Wien und gleichzeitig auch ihre praktische Umsetzung in der Gesundheitsfürsorge und im Versicherungssystem. This article deals with Social Hygiene practiced by Ludwig Teleky in Austria, which was closely connected with the Social Democratic Party. The interlinking of medicine, party and trade unions brought an upswing in this field of research at the University of Vienna as well as its practical implementation in health care and the insurance system.

Gewerbehygiene, für die Ludwig Teleky (1872–1957) steht, ist nicht nur in Österreich mit den sozialen Kämpfen des 19. Jahrhunderts verbunden, bei denen die Gewerkschaften und die Sozialdemokratischen Parteien Deutschlands und Österreichs bald die führende Rolle spielen sollten. In Deutschland war, begleitet von Streiks und Arbeitskämpfen, endlich 1878 eine verbindliche Gewerbeaufsicht durch nichtärztliche Gewerbeinspektoren eingeführt worden.1 Nach diesem Vorbild wurde auch in Österreich 1883 ein Gewerbeinspektorat geschaffen. Bekannt wurde seine Tätigkeit durch die Reportagen des Gründers der österreichischen Sozialdemokratie Viktor Adler, als er 1888 in der Gleichheit, dem 1870 gegründeten Sozialdemokratischen Organ für die Interessen des Volkes, über die menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Ziegelarbeiter am Wienerberg berichtete und damit eine Intervention des zuständigen Gewerbeinspektors veranlasste.2 So überrascht es nicht, dass im 1888 auf dem Gründungsparteitag der Österreichischen Sozialdemokratischen Partei verab1 Vgl. Andreas Wulf, Der Sozialmediziner Ludwig Teleky (1872–1957) und die Entwicklung der Gewerbehygiene zur Arbeitsmedizin, Frankfurt a. M. 2001, S. 33–35. 2 Vgl. Victor Adler, Die Lage der Ziegelarbeiter, in: Gleichheit Nr. 48 v. 1. Dezember 1888, 49 v. 5. Dezember 1888 und 51 vom 27. Dezember 1888.

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schiedeten Hainfelder Programm die Forderung nach einer lückenlosen und ehrlichen Arbeiterschutzgesetzgebung enthalten ist, die im Wiener Programm von 1901 weiter konkretisiert wurde: »Ausbau des Gewerbe-Inspektorats, Vermehrung der Inspektoren, Mitwirkung« – wie es auch schon im Hainfelder Programm geheißen hat –»der Arbeiterorganisationen an der Durchführung des Arbeitsschutzes und der Kontrolle der Durchführung des Arbeitsschutzes durch die von ihnen gewählten Inspektoren und Inspektorinnen.« Doch waren der Gewerbeaufsicht damals dort Grenzen gesetzt, »wo ihre eigentliche Aufgabe lag, nämlich die Durchsetzung präventiver Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen und chronischen berufsbedingten Krankheiten auch gegen das betriebswirtschaftliche Interesse der Unternehmer nach möglichst geringen Produktionskosten.«3 Die Gewerbehygiene dieser Art war, nicht anders als die Soziale Hygiene und die Sozialversicherungsmedizin, ein Teil einer Sozialen Medizin, die in Österreich vom öffentlichen Gesundheitswesen und von der eugenisch bestimmten Sozialhygiene zu differenzieren ist.4 Ebenso wie bei den Gewerbeinspektoren wurde bei der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung in Österreich 1888/89 das deutsche Vorbild maßgebend. Andererseits wurde in Österreich für die Soziale Medizin die Tatsache wichtig, dass bereits bestehende Kassen in die gesetzliche Krankenversicherung integriert wurden. Diese Kassen sind es, die einen wichtigen Beitrag zur Genese der Sozialen Medizin leisteten. Das betrifft auch die Genossenschaftskrankenkassen als Pflichtorganisation von Arbeitern, die bei Mitgliedern von Innungen beschäftigt waren. Dazu gehört auch der 1868 gegründete »Verband der Genossenschaftskrankenkassen Wiens« und die im ärztlichen Dienst mit ihm kombinierte »Arbeiter-Kranken- und Unterstützungs-Kasse in Wien«. In ihm hatten im Rahmen der Klassenauseinandersetzungen dieser Zeit »um 1890 sozialdemokratische Gruppen die Gehilfenversammlungen der Handwerksgenossenschaften […] erobern können.«5 Unter deren Ärzten befinden sich 1905 115 praktische Ärzte und 15 Spezialärzte, von denen gemäß einer Liste von 1921 23 habilitiert waren. Wichtig ist dabei, dass es sich mit zwei Ausnahmen und zwei unklaren Fällen »ausschließlich um ›jüdische‹ Hochschullehrer handelte«, deren Diskriminierung »im staatlichen Bereich« und Einbindung in »die sozialdemokratisch verwaltete Krankenkassenstruktur […] eine Symbiose von Wissenschaft und Krankenkassenpraxis«6 produzierte. Zu ihnen gehört der 1909 für Soziale Medizin habilitierte Ludwig 3 Wulf 2001, S. 35. 4 Hier wie im Folgenden beziehe ich mich auf die ungedruckte Dissertation von Michael Hubenstorf, Die Genese der Sozialen Medizin als universitäres Lehrfach in Österreich bis 1914. Ein Beitrag zum Problem der Disziplinbildung und wissenschaftlicher Innovation, med. Diss. Freie Universität Berlin 1992, hier 5.7.4 und besonders 6, These 6. 5 Hubenstorf 1992, 5.5.3.1. 6 Ebd., 3.4.1.2.

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Teleky, dessen Kassenfunktion Berufskrankheiten umfasste. Das bedeutet, dass die Wiener Sozialmedizin »ihren Ausgangspunkt von einer sicheren Verankerung in der Naturwissenschaft«7 nahm. Denn ihre Vertreter waren bereit – nicht nur im Organ ihrer Kassen, dem »Arbeiterschutz« –, »ihr Wissen und ihre Forschungstätigkeit zur wissenschaftlichen Legitimation der Forderungen der Arbeiterbewegung«8, über die Fragen der Gewerbehygiene hinaus, einzusetzen. Damit traten sie in die Fußstapfen der Versicherungsmedizin,9 allerdings verbunden mit dem für sie charakteristischen humanitären Anspruch. Auch in ihrer Tätigkeit in den Krankenhausambulatorien ging es ihnen nicht nur um die Förderung des medizinischen Fortschritts, um Modernität, Effizienz, Organisation und Rationalisierung, sondern um das Eindringen sozialer Erkenntnisweisen in die Klinik.10 Sie blieben der naturwissenschaftlichen Medizin verpflichtete Mediziner, für die der soziale Blickwinkel nur der Ausgangspunkt für eine spezifische Prägung ihrer klinischen Arbeiten war. Ihre Mutterdisziplin blieb dabei stets die Innere Medizin und nicht – wie in Deutschland – die Hygiene. Das gilt auch für den wichtigen österreichischen Sozialmediziner Maximilian Sternberg. Er habilitierte sich 1894 für Innere Medizin und wurde ein Jahr später Chefarzt des sozialdemokratisch dominierten Verbands der Genossenschaftskrankenkassen Wiens. Soziale Medizin war für ihn als soziale Prophylaxe ein Grenzgebiet der Medizin und der praktischen Sozialpolitik. Damit ist sein gesellschaftlicher Bezugsrahmen – wie später auch bei Teleky – »der soziale und politische Schnittpunkt von sozialliberalem Bürgertum und reformistischer Sozialdemokratie«.11 Die akademische Eingliederung des Faches in die Medizin blieb jedoch schwierig. Zwar hat Sternberg seit dem Wintersemester 1896/97 Vorlesungen aus Sozialer Medizin gehalten, zwar wurde er 1903 zum a.o. Professor ernannt, zwar wurde ihm auch ein Lehrauftrag für Vorlesungen über Krankheits- und Unfallversicherung erteilt, zwar wurde 1908 Soziale Medizin zum Habilitationsfach erklärt und 1909 Sternbergs Habilitation auf Soziale Medizin erweitert, doch konnte er die Errichtung einer eigenen Lehrkanzel, die zusätzlich noch Gewerbemedizin umfassen sollte, nicht durchsetzen.12 Andererseits ist Sternberg 1902 als Schriftführer eines von der Gesellschaft der Ärzte in Wien eingesetzten Komitees bezüglich von Maßregeln hinsichtlich der Prophylaxe und Bekämpfung der Tuberkulose zu finden, dem auch bereits Ludwig Teleky angehörte. Trotz der Entdeckung des Tuberkelbazillus durch Robert Koch 7 8 9 10 11 12

Ebd., 5.5.1. Ebd., 3.4.2.3. Ebd., 3.4.2.4.4. Ebd., 3.4.2.1.2. Ebd., 5.5. Ebd., 5.5.1–5.5.4.2.

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war die Bedeutung des alten dispositiven Ansatzes, den auch Robert Koch nicht ganz leugnete, nicht verschwunden. Prophylaxe steht im Mittelpunkt von Sternbergs Ausführungen. Zwar liefen alle von der Kommission empfohlenen Einzelmaßnahmen, wie Schulhygiene anstatt Schulhaus-Hygiene, auf ein kombiniertes »Schul-, Städte und Gewerbe-hygienisches Programm« hinaus.13 Doch der zweite dieser Kommission angehörende Sozialmediziner Ludwig Teleky entwickelte außerhalb der Kommission schon 1902 ein darüber hinausführendes Konzept. Für ihn ist es das Proletariat selbst, das »erfolgreicher als es durch die Volksheilstätten geschieht, […] den Kampf gegen die Tuberkulose« führt, »indem es sich bessere Arbeits- und Existenzbedingungen erkämpft.«14 Somit ist es für Teleky »die wirtschaftliche und politische Organisation der Arbeiterklasse«15, die sich selbst die Voraussetzung für das Absinken der Tuberkulosesterblichkeit in den Großstädten schafft. Damit hatte Teleky mit dem Marxismus »ein allgemeines Erklärungsmodell gefunden, das seine Forschungen anleitete«16, ebenso wie mit dem von Anton Loew gegründeten Hilfsverein für Lungenkranke ein Aktionsfeld.17 Dieser Weg vom Linksliberalismus seines Elternhauses zum eigenen marxistischen Standpunkt lässt sich auch aus Telekys Leben ablesen. Er war der Sohn des angesehenen Praktikers Hermann Teleky, der als Angehöriger der liberalen Wiener Gesellschaft dem Kreis der Fabier18 angehörte. Dieser Kreis schlug auf der Basis ihrer liberalen Grundüberzeugungen soziale Reformen vor und wurde in der Wohnung der Familie Teleky gegründet.19 Zudem beeinflussten ihn auch andere sozialärztliche medizinisch-wissenschaftliche Vereine, denen Hermann Teleky angehörte, wie die Gesellschaft der Ärzte, das Wiener medizinische Doktoren-Kollegium und der 1892 von den jungen Sekundarärzten Max Herz und Hermann Schlesinger gegründete stark fachlich und weltanschaulich liberale Wiener medizinische Club, wo auch Sternberg zu finden war. Sternberg war damals schon Chefarzt »der traditionsreichsten und exponiertesten, schon 1868 gegründeten Krankenkasse der Wiener Arbeiterbewegung«, nämlich der »Allgemeinen Arbeiter-Kranken und Unterstützungscasse«, und stand damit »an der ärztlichen Spitze einer prominent sozialdemokratischen Organisation«.20 Aufgrund dieser Tätigkeit konnte er im Club »eine Vermittlungsfunktion zwischen 13 Ebd., 5.5.4.3. 14 Ludwig Teleky, Über die Grenzen der öffentlichen Gesundheitspflege in der heutigen Gesellschaftsordnung, in: Die neue Zeit 21 (102/1903) 1, S. 184 zit. nach: Wulf 2001, S. 22. 15 Ludwig Teleky, Die Sterblichkeit an Tuberkulose in Österreich 1873–1904. Wiener Klinische Wochenschrift 19 (1906) S. 1167; zit. nach: Andreas Wulf S. 22. 16 Hubenstorf 1992, 5.7.4.1. 17 Vgl. Wulf 2001, S. 21. 18 Hubenstorf 1992, 3.2.2. 19 Ebd., 5.7.1. 20 Ebd., 5.5.3.1.

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Wissenschaften und Krankenkassen« ausüben. Als dieser Klub 1901 in die Gesellschaft für Innere Medizin (ab 1903 »und Kinderheilkunde«) in Wien überführt wurde und der berühmte Kliniker »Hermann Nothnagel den Vorsitz übernahm, war Hermann Teleky nach Nothnagel […] einer der drei Redner, der im Namen des zehn Jahre alten Klubs […] das Wort ergriff. In der Person von Ludwig Telekys Vater manifestierte sich also beinahe direkt der Konnex von Innerer Medizin und daraus hervorgehende ›Sozialer Medizin‹«. Damit befand er sich bereits »inmitten einer für soziale Fragen aufgeschlossenen Wissenschaftlergruppe«.21 Diese häusliche Atmosphäre wird auch für den jungen Ludwig Teleky bestimmend, besonders seitdem er aus ökonomischen Gründen nicht das Studium der Nationalökonomie, sondern das der Medizin ergriffen hatte. Auch politisch wird er in dieser Zeit radikaler. Er wird Vorstandsmitglied im Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein, einem vom Ökonomen und Vater des Austromarxismus sowie akademischen Lehrer fast aller Austromarxisten Carl Grünberg gegründeten »Kommunikationsforum liberaler, sozialliberaler, sozialdemokratischer bzw. demokratischer Studenten der nicht-deutschen Nationalitäten«.22 Wie sehr Teleky selbst dem Austromarxismus angehörte, zeigt, dass er fünf Jahre neben dem Austromarxisten Rudolf Hilferding stellvertretender Obmann der 1893 gegründeten Freien Vereinigung sozialistischer Studenten war – wie sie seit 1909 hieß. Darüber hinaus gehörte er ebenso wie andere Austromarxisten, wie der mit ihm anlässlich des 1. Mai 1893 verhaftete Julius Sesser, Rudolf Hilferding, Karl Renner und Max Adler, dem Heiligen-LeopoldKreis an, der nach dem Treffpunkt dieser Gruppe im II. Gemeindebezirk benannt war. Auf diese Weise wollten die Kreis-Mitglieder dieser Lesegruppe dem Marxismus-Defizit der Sozialdemokraten – wie sie meinten – begegnen. Die Partei war jedoch in vielen Fragen uneins. Das betraf vor allem die nationale Frage. Die Gruppe um Engelbert Pernerstorfer war deutschnational und sozialistisch eingestellt, die Mitglieder um Karl Renner waren stärker sozialistisch orientiert, und Otto Bauer war der Theoretiker des Nationalismus in der Sozialdemokratie gewesen. Nach Aussage seines sich als linkssozialistisch bezeichnenden Schülers Sigismund Peller war Teleky – wie Peller es ausdrückt – rechtssozialistisch eingestellt. Er war »organisierter Sozialdemokrat, der nationalpolitisch zwischen (Viktor) Adler – (Karl) Renner und (Engelbert) Pernerstorfer stand.« Teleky versucht in diesen Auseinandersetzungen eine vermittelnde Position einzunehmen. So hielt er zum Beispiel am 3. März 1904 in dem von Hilferding als Kristallisationspunkt der austromarxistischen Bewegung gegründeten wissenschaftlichen Verein »Zukunft« einen Vortrag zum Thema Der Arzt in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, der in der von Engelbert Pernerstorfer her21 Hubenstorf 1992, 5.7.1. 22 Ebd., 3.2.5.

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ausgegebenen Zeitschrift Deutsche Worte veröffentlicht wurde.23 Auch im ersten Jahrgang der Zeitschrift Der Kampf, dem von 1907 bis 1934 bestehenden Theorieblatt der Austromarxisten, war Teleky vertreten.24 Entsprechend seiner Verankerung in der Partei hatte Teleky früh in seinen Felduntersuchungen zur Phosphornekrose nicht nur die Zustimmung und Hilfe der Arbeiter zu seinen Untersuchungen gesucht, sondern auch die Unterstützung der sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen. In diesem Fall war die Unterstützung durch die Gewerkschaften in Form des Verbandes der Arbeiterschaft der Papier-, der chemischen und der Gummiindustrie Österreichs besonders wichtig.25 Dazu passt auch, dass Teleky der erste Spezialarzt für Gewerbekrankheiten beim Verband der Krankenkassen Wiens, Niederösterreichs und des Burgenlands wurde; seine Berufung wäre ohne das Eindringen von Sozialisten aus dem austromarxistischen Umfeld in die Krankenkassenadministration unmöglich gewesen.26 Diese enge Zusammenarbeit mit den Arbeitern und Gewerkschaften hat Teleky in seiner Tätigkeit als Landesgewerbearzt in Düsseldorf fortgesetzt. Er war damit unter den Landesgewerbeärzten eine Ausnahme und das betraf auch seine Forschungsprojekte. Besonders ist hier auf seine Zusammenarbeit mit dem Metallarbeiter-Verband in Zusammenhang mit der Aufnahme der Staublungenerkrankungen in die 2. Betriebskrankheitenverordnung 1929 hinzuweisen.27 Das ist das politische Kapital, das Ludwig Teleky in seine berufliche Karriere einbringen konnte. Nach seinem Medizinstudium, in das er auch Seminare bei den Statistikern Karl Theodor von Inama-Sternegg28 und seinem Schüler Franz Juraschek ebenso wie beim Ökonomen Eugen Philippovich integrierte, der Karl Marx und Adam Smith zu vereinen versuchte,29 begann Teleky seine chirurgische Ausbildung. Seine Spezialisierung für die Kinderchirurgie führt auch zu seiner Arbeit von 1902 über die Laugenverätzung der Speiseröhre, vor allem bei Kindern. Über Prophylaxe in Nothnagel’scher Tradition hinaus warnt er vor dem Verkauf konzentrierter Laugen im Kleinhandel. Diese Vorschläge, bei dem sich bei ihm Gesundheitspädagogik und Verbraucherschutz verbinden, trägt er nicht nur auf wissenschaftlichen Tagungen den Wiener Ärzten vor oder publiziert sie in Fachorganen, sondern verbreitet sie entsprechend den Tendenzen der Gesundheitsaufklärung der Arbeiterbewegung »für die allgemeine Öffentlichkeit«

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Vgl. Hubenstorf 1992, 5.7.1. Ebd., 3.2.1. Ebd., 5.7.3.3. Ebd., 5.7.4.2. Vgl. Wulf 2001, S. 117–121. Hubenstorf 1992, 3.2.4. Ebd., 3.2.2.

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in einem Artikel in der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung.30 Diese Verbindung von politischer und wissenschaftlicher Ressource werden bei den gewerbemedizinischen Arbeiten zum Arbeiterschutz noch deutlicher, die den wesentlichen Hauptteil von Telekys Lebenswerk ausmachen. Hier hat er etwas in die Medizin eingeführt, »was man als eine Art ›soziologischer Feldforschung‹ für den Bereich Gesundheit bzw. Krankheit benennen kann«.31 Teleky hatte nämlich zum ersten Mal 1904 »bei einem Streik der slowakischen Kohlenablader der Wiener Nordbahn eine empirische Erhebung über den Gesundheitszustand der Arbeiter gemacht, die er bei Perlmutterdrechslern und anderen Arbeitergruppen immer im Zug von Streiks fortsetzte.« Stets hat Teleky dabei seine medizinische Qualifikation, angereichert um sein Studium der Statistik bei Karl Theodor von Inama-Sternegg und Franz Juraschek, mit »praktischer Mitarbeit in der Gesundheitsfürsorge« verbunden; das gilt bereits für seine Arbeiten zur Phosphornekrose, von denen schon kurz die Rede war. Dies alles sollte darüber hinaus »in einen komplexen Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen der Arbeiter und der direkten, unmittelbaren Organisation des technischen Produktionsprozesses sowie den makroökonomischen Bedingungen der Weltmarktverflechtung« gestellt werden. Deshalb musste Teleky seine direkten Erhebungen auch um Informationen zur Produktions-, Betriebs- und Arbeiterstatistik, zu den Welthandelsströmen im Zündwarensektor, zur Technikgeschichte der Zündwarenfabrikation und schließlich zur Geschichte der speziellen Arbeiterschutzvorschriften ergänzen. Marxistische Theorie und Forschung zusammen mit den Betroffenen zur Beseitigung von eklatanten Missständen gingen bei ihm eine unzertrennliche Einheit mit exakter Wissenschaftlichkeit ein. So wurde auch »der parlamentarische Kampf um das Weißphosphorverbot, den Telekys Patient, der sozialdemokratische Parteiführer Viktor Adler, gestützt auf Telekys Expertisen 1908/09, ausfocht, sicher einer der Höhepunkte dieser Form der Feldforschung, Wissenschaft und politischer Umsetzung.«32 Doch es gab noch andere Arbeitsfelder in Telekys früher Wiener Zeit; es sei hier nur auf seinen bereits erwähnten Anteil an der Tuberkulosebekämpfung, seinen Kampf gegen die Bleivergiftung und auf Arbeiten zu Fragen der Krankenund Unfallversicherung bzw. der Entschädigung von Berufskrankheiten hingewiesen.33 Trotz dieser frühen Festlegung Telekys auf gewerbehygienische Fragestellungen hatte die Fakultät in Zusammenhang mit dem Habilitationsgesuch Telekys am 26. Februar 1908 zwar die »Soziale Medizin« – wie schon erwähnt – als eigenes Habilitationsfach genehmigt, jedoch die Errichtung einer Abteilung 30 31 32 33

Ebd., 5.7.3.1. Ebd., 5.7.3.3. Ebd., 5.7.3.3. Ebd., 5.7.4.

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für Gewerbekrankheiten und Unfallfolgen verworfen. So wurde Teleky 1909 Professor für Soziale Medizin und hielt am 25. Mai seine Antrittsvorlesung Die Aufgaben und Ziele der sozialen Medizin.34 Diese Habilitationen für Soziale Medizin waren nicht auf Wien beschränkt; es sind fünf weitere in Cisleithanien nachweisbar.35 In Wien war dies mit der Errichtung eines Seminars für Soziale Medizin verbunden, dessen Errichtung Teleky am 18. Oktober 1910 beantragte; sie wurde am 22. November bestätigt und fand ihren Platz in der am 4. November 1912 eröffneten I. Medizinischen Klinik. Ihr Direktor Carl von Noorden hatte dies ausdrücklich befürwortet und es stand überdies in der Tradition der Herkunft der Sozialen Medizin aus der Inneren Medizin in Wien. Die leugnete van Noordens Nachfolger Karel Frederik Wenckebach und veranlasste 1914 die Verdrängung von Telekys Seminar aus seiner Klinik. Teleky fand für sein Seminar einen neuen Platz im Universitätshauptgebäude.36 Für ihn ging es darum, sein sozialmedizinisches Seminar zu einem Zentrum im Krankenkassenbereich über die Gewerbehygiene hinaus zu machen.37 Damit griff er bewusst auf seine eigenen sozialdemokratischen Ressourcen zurück. Insgesamt kann man jedoch bald Gegentendenzen feststellen; denn auf dem Gebiet der späteren Republik Österreich stagnierte ab 1917/18 die Entwicklung der Sozialmedizin. Nicht anders als in Deutschland wurde eine biologistisch-rassenhygienisch ausgerichtete Sozialhygiene, durchtränkt von Antisemitismus,38 wie sie von den Hygienikern Ignaz Kaup39 und Hans Reichel40 vertreten wurde, zum Allgemeingut. Beide waren an der Verdrängung der Sozialen Medizin beteiligt; als Teleky am 7. Dezember 1917 einen Antrag auf Errichtung einer Lehrkanzel für Soziale Medizin stellte, wurde dieser vom Dekan Arthur Schattenfroh kommentarlos zurückgeschickt. Auch sein Antrag auf Verleihung des Titels eines außerordentlichen Professors vom Juli 1918 wurde abschlägig beschieden. Auch als Telekys Schüler Sigismund Peller 1919 und der Tuberkulose-Spezialist Alfred Götzl 1921 den Antrag auf Habilitation für Soziale Medizin stellten, wurden beide abgelehnt.41 In dieser Zeit der »Krise des Reformismus«42 publiziert Teleky, wie auch andere Sozialmediziner, immer weniger in sozialdemokratischen Organen wie dem Arbeiterschutz. Stattdessen wählte er Fachorgane, wie die Wiener klinische Wo-

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Ebd., 5.7.5. Ebd., 5.7.7. Ebd., 5.7.5 und 6 These 4. Ebd., 5.7.6. Ebd., 6 These 2. Vgl. Peter Schwarz, Julius Tandler zwischen Humanismus und Eugenik, Wien 2017, S. 145–147. 40 Vgl. ebd., S. 147–151. 41 Hubenstorf 1992, 5.7.5. 42 Ebd., 5.7.3

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chenschrift, um sich unangreifbar zu machen.43 So war auch in der neuen Republik die Situation nicht einfach. Zwar greift er 1918 in die Diskussion um die Schaffung eines Staatsamts für Volksgesundheit ein und ist zumindest als Kandidat für den Posten des Staatssekretärs in diesem neu errichteten Staatsamt im Gespräch,44 doch hat er nicht mehr die nötige Rückendeckung in der Sozialdemokratischen Partei. Viktor Adler, dessen Hausarzt er war, ist 1918 gestorben.45 Hinzu kam, dass »Telekys sozialmedizinisches Konzept auf der gegebenen Verbändestruktur, auf freier Wohltätigkeit und allenfalls auf einer demokratischen Vergesellschaftung von unten, wie sie den traditionellen sozialistischen Anschauungen entsprachen« aufbaute, »während nunmehr auch die Sozialdemokratie im Zuge der Umstrukturierungen des Krieges auf etatistische, quasimilitärische Organisationsformen setzte.«46 Dafür war nicht er, sondern der eugenisch orientierte Anatom Julius Tandler der Mann der Stunde.47 Somit sieht er in Österreich immer weniger einen Ort, wo er seine Vorstellungen verwirklichen kann; sein Vortrag über Gesundheitsfürsorge in der Gesellschaft der Ärzte vom 18. Juni 1920 klingt schon wie ein Abschied. Teleky spricht von nur bescheidenen Arbeitsmöglichkeiten für die Soziale Medizin in Wien. So nimmt er, der auch im internationalen Feld ein ausgewiesener Gewerbehygieniker war, 1921 das Angebot an, als preußischer Landesgewerbearzt des Rheinlandes und als Dozent an die Westdeutsche sozialhygienische Akademie als der Ausbildungsstätte für staatliche Kreisärzte und für kommunale Ärzte in Fürsorge- und Beratungseinrichtungen nach Düsseldorf zu wechseln. Seine Zeit dort hat im Detail Andreas Wulf dargestellt. Wichtig ist hier, dass er sein wissenschaftliches Potential nicht nur bei den Arbeitsschutzverordnungen, wie schon in Wien, gemeinsam mit den Arbeitern entwickeln und in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften umsetzen kann. Politik ist hier Ressource für die Wissenschaft und Wissenschaft für die Politik.

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Ebd., 6 These 3. Vgl. Schwarz 2017, S. 263 Anm. 488; Hubenstorf 1992, 6 These 8. Ebd., 5.7.3.3. Vgl. Michael Hubenstorf, Österreichische Arbeiter-Emigration, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft I, Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940, Wien/München 1987, S. 369f. 47 Hubenstorf 1992, 5.7.3.3.

Monika Löscher

Zwischen Aufklärung und Sittlichkeit. Zum Spannungsverhältnis von Eugenik und Öffentlichkeit im katholischen Milieu im Österreich der Zwischenkriegszeit*

Die österreichische katholische Kirche nahm lange Zeit nicht an aktuellen biopolitischen und eugenischen Diskursen teil. Erst in der päpstlichen Enzyklika Casti connubii, die Ende 1930 erschien, manifestierte sich die grundsätzliche Akzeptanz eugenischer Ideen, wenngleich sie die Sterilisierung verbat und sich auf eine positive Eugenik über Sozial- und Familienpolitik beschränkte. Mit dieser Stellungnahme der Amtskirche konnte sich nun eine katholische Eugenik – wenngleich in bescheidenem Ausmaße – auch in Österreich konstituieren. Dem katholischen Ärzteverein der St. Lukas Gilde kam dabei eine besondere Rolle in der Wissensvermittlung zu, die sehr stark von katholischen Wertevorstellungen geprägt war. Dies führte zu ganz spezifischen Versuchen der Popularisierung von Wissen, die einem spannungsgeladenen Geflecht von Wissenschaft, (Teil-)Öffentlichkeit und katholisch dominierten Moraldiskursen unterstand. For a long time, the Austrian Catholic Church did not participate in contemporary biopolitical and eugenic discourses. It was only in the papal encyclical Casti connubii, published in late 1930, that the basic acceptance of eugenic ideas manifested itself, although it forbade sterilization and was limited to positive eugenics through social and family policy. As a result of this official statement Catholic eugenics could be established in Austria – albeit on a small scale. The Catholic Medical Association St. Luke Guild played a special role in the transfer of knowledge, which was strongly influenced by Catholic values. This resulted in the specific attempt to popularize knowledge, embedded within a network of science, (segments of) the public, and Catholic-dominated moral discourses.

Eugenische Ideen in den verschiedensten Ausformungen wurden von Seiten aller weltanschaulichen Richtungen vertreten. Wenn dies auch in unterschiedlichem Ausmaß passierte und eugenisches Gedankengut nicht unumstritten blieb, so kam es doch gegen Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts in sehr vielen Ländern zur Gründung von Vereinen und Gesellschaften, die konkrete eugenische Maßnahmen verlangten. Der englische Naturwissenschaftler Francis Gal* Eine längere Version des Aufsatzes erschien ursprünglich in: Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander : Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2007, S. 319–337.

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ton, der als eigentlicher Begründer der Eugenik gilt, führte 1883 diesen Begriff ein.1 Später definierte er sie als »die Wissenschaft, die sich mit allen Einflüssen befasst, welche die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern und welche diese Eigenschaften zum größtmöglichen Vorteil der Gesamtheit zur Entfaltung bringt«.2 Er verstand Eugenik sowohl als wissenschaftliches als auch sozialpolitisches Programm, und ab diesem Moment, ab dem eugenische Entwürfe einer Menschenverbesserung die Ebene der Utopien verlassen haben, trat sie in Interaktion mit der Öffentlichkeit. Denn die Personen, die sich im EugenikDiskurs zu Wort meldeten, betrachteten sie als Anwendungswissenschaft und die Öffentlichkeit als Anwendungsfeld eugenischer Praktiken. Seitens der »Wissenden« hatte man nun Interesse, den zu »eugenisierenden« Menschen eugenische Werte näherzubringen und diese aufzuklären. Somit unterstand die Eugenik einem spannungsgeladenen Dreieck von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Das katholische Milieu in Österreich, das eine TeilÖffentlichkeit darstellte, sah sich zudem den katholischen Werten wie »Sittlichkeit« und »Tugend« verpflichtet, wodurch die Vermittlung eugenischer Wissensbestände in Konflikt mit der Religion geriet. Wie sahen nun diese Austausch- und Kommunikationsbeziehungen zwischen Eugenik und Öffentlichkeit aus? Wenn das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit als Interaktions- und Aushandlungsprozess betrachtet wird, stellt sich die Frage nach der Durchsetzung konkurrierender Repräsentationen von »Welt« und damit auch nach Wertesystemen und Herrschaftsverhältnissen.3 In diesem Sinne kann die Popularisierung von Eugenik nicht nur als eine einfache Weitergabe von Wissen verstanden werden. Es geht immer sowohl um Existenz- als auch Verlustängste der herrschenden Elite als auch um soziale und gesellschaftliche Kontrolle des Reproduktionsverhaltens der vermeintlichen »Unterschichten« und gesellschaftlicher Randgruppen. Hinter einer Legitimations- und Vermittlungsproblematik, die bestand, weil man sich katholischen Werten verpflichtet sah, standen pluralistische Vorstellungen sowohl von Eugenik als auch von Öffentlichkeit. »Eugenik« konnte mit verschiedenen Inhalten aufgefüllt werden, und dieser Begriff transportierte mehrere Vorstellungen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, worunter die eben im Entstehen begriffene Genetik nur eine war. Will man eine Geschichte der katholischen Eugenik in Österreich darstellen, 1 Francis Galton, Inquiries into human faculty and its development, London 1883, S. 24–25. 2 Francis Galton, Entwürfe zu einer Fortpflanzungshygiene, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 2 (1905), S. 812–829, S. 812. 3 Ulrike Felt, Die Stadt als verdichteter Raum der Begegnung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Reflexionen zu einem Vergleich der Wissenschaftspopularisierung in Wien und Berlin um die Jahrhundertwende, in: Constantin Goschler (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin (1870–1930), Stuttgart 2000, S. 185–220, S. 185.

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so muss man zunächst auf die vielen Leerstellen verweisen, auf die man im Laufe der Quellen- und Literatursuche stößt. Eugenik und Rassenhygiene wurden in katholischen Kreisen kaum wahrgenommen. Fragen der Sterilisation oder der natürlichen Geburtenplanung als mögliche eugenische Maßnahmen waren in moraltheologischen Kreisen alles andere als ein dominierendes Thema. Zur Konstituierung von Vereinen, die sich sowohl als katholisch verstanden als auch um die Propagierung von eugenischen Ideen bemüht waren – wenn auch schlussendlich in bescheidenem Ausmaße – kam es erst Anfang der 1930er Jahre. Von einzelnen Theologen sind schon ab 1911 in ihren Diskursen über die »sittliche Erlaubtheit« von Sterilisation und später auch über die natürliche Geburtenplanung Äußerungen zu Eugenik bekannt. Den Moraltheologen, die sich hier zu Wort meldeten, ging es aber nicht um die Wissenschaft der Eugenik.4 Auch wenn sie eugenische Ideen prinzipiell gutgeheißen haben, betrieben sie keine Grundlagenforschung und entwickelten keine eugenische Maßnahmenkataloge bzw. hatten überaus unklare Vorstellungen davon.5 Popularisierung von eugenischem Wissen war ihnen kein Anliegen, und es handelte sich lediglich um die Aussagen von Individuen, die an keine organisierte Form von Eugenik angebunden waren. Eine Stellungnahme der katholischen Amtskirche erfolgte erst Ende 1930 mit der Enzyklika von Pius XI., Casti connubii – Über die christliche Ehe in Hinsicht auf die gegenwärtigen Verhältnisse, Bedrängnisse, Irrtümer und Verfehlungen in Familie und Gesellschaft. Die Enzyklika hatte explizit erklärt, die Erteilung »heilsame[r] Ratschläge zur Erziehung einer starken und gesunden Nachkommenschaft [sei] der gesunden Vernunft durchaus nicht zuwider«.6 Die Sterilisation hingegen galt als gegen das Naturrecht gerichtet und wurde verurteilt. In Österreich setzte nun das eigentliche Interesse an Eugenik in katholischen Kreisen ein und es kam zur Gründung der St. Lukas Gilde und der Vereinigung

4 Vgl. etwa Albert Schmitt, Vasectomia. Eine neue Operation und ihre Erlaubtheit, in: Zeitschrift für katholische Theologie 35 (1911), S. 66–78; ders., Die Frage nach der Erlaubtheit der Vasektomie, in: Zeitschrift für katholische Theologie 37 (1913), S. 912–916; Josef Grosam, Die Sterilisation auf Grund privater Autorität und auf Grund gesetzlicher Ermächtigung, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 83 (1930), S. 59–79, S. 285–306, S. 497–523, S. 701–722. 5 Vgl. Albert Schmitt, Rezension zu Joseph Mayer, Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker, in: Zeitschrift für katholische Theologie 51 (1927), S. 421–423, S. 423 sowie Josef Grosam, Lehren der Enzyklika, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 84 (1931), S. 783–788, S. 786. 6 Die Enzykliken des Hl. Vaters Pius XI. Casti connubii und Divinus illius magistri über Ehe und Erziehung, authentische deutsche Übersetzung, Innsbruck 1936, S. 25. Ausführlicher zur Enzyklika s. a. Monika Löscher, Katholische Eugenik in Deutschland und in Österreich im Kontext der päpstlichen Eheenzyklika Casti Connubii, in: Römische Quartalschrift 109 (2014), S. 24–55.

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christlich-deutscher Ärzte. Beide waren in unterschiedlichem Ausmaße um die Popularisierung von Eugenik bemüht. Die katholischen Mediziner/innen, die sich an Eugenik interessiert zeigten, gaben damit erst relativ spät ein Lebenszeichen von sich. Erst lange nachdem eugenische Forderungen nach der Sterilisation »Erbminderwertiger« erhoben oder in theologischen Kreisen vor einem drohenden »Volkstod« gewarnt und das Bild einer »naturgetreuen Normalfamilie« mit einer großen Kinderschar gezeichnet worden war, organisierten sich im naturwissenschaftlich-medizinischen Bereich Katholik/inn/en in Vereinen. Damit reagierte man innerhalb der katholischen Ärzt/innen/schaft auf einen Diskurs, prägte ihn aber lange Zeit nicht. Die Aktivitäten waren dann dafür umso vielfältiger. Diese Form einer katholischen Eugenik war aber nicht nur als Abwehr und Verurteilung jener Form der Eugenik konzipiert, die wesentlich auf dem Selektionsgedanken und auf den Forderungen nach Sterilisation beruhte, sondern wollte eine katholische Variante adaptieren und gesellschaftsfähig machen. Die Akteure der St. Lukas Gilde waren im katholischen Milieu in Österreich die entschlossenste Gruppe, die sich mit eugenischen Ideen auseinandersetzte und entsprechende Maßnahmen forderte. Ihre Mitglieder waren auch als medizinische Berater/innen bzw. Vortragende beispielsweise für die Katholische Frauenorganisation, für das Josefswerk für christliche Ehen und für den im Austrofaschismus gegründeten Verband Familienschutz tätig. Letztlich standen auf diese Weise alle Leute, die in den 1930er Jahre mit katholischer Eugenik zu tun hatten, in einem Naheverhältnis zur Gilde. Die Mitglieder, neben Mediziner/ innen waren auch einige Theologen aktiv, waren der Meinung, dass Katholizismus und Eugenik keinen Widerspruch bildeten, und sie vertraten die Ansicht, dass es ihre Pflicht sei, eine »gesunde und wahrhaft christliche, mit den Lehren katholischer Moral im Einklang stehende Eugenik« in das Volk zu tragen.7 Gebunden an die päpstliche Eheenzyklika wurde eine positive Eugenik vertreten. Daneben fanden auch einige Maßnahmen der negativen Eugenik wie etwa die Verwahrung von »Erbminderwertigen« in Anstalten Akzeptanz. Schwangerschaftsabbruch, Sterilisation oder gar Euthanasie waren kein Thema. Stattdessen setzte man hauptsächlich auf eine Erziehung zur eugenischen Verantwortung und katholischen Eheberatung. In eigenen Ehe- und Schwangerschaftsberatungsstellen bemühte man sich um die Vermittlung einer erbbiologisch-katholischen Sexualmoral. Dort sollte mittels der erbbiologischen Aufklärung eine eugenisch motivierte und damit »richtige« Partnerwahl propagiert werden. Die St. Lukas Gilde verstand sich vor allem als gesellschaftliches

7 N.N., Unsere Arbeit, in: St. Lukas 2 (1934), S. 17–24, S. 22–23.

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Erziehungsprogramm, bei dem der Arzt die Funktion des Vermittlers und des Hüters der »Volksgesundheit« bzw. »Erbgesundheit« einnahm.8 Die St. Lukas Gilde wandte sich an ein bestimmtes Segment der Öffentlichkeit, das als Teilöffentlichkeit, bestehend aus Medizinerkolleg/inn/en, Priestern und in der Fürsorge tätigen Personen, identifiziert werden kann. Diese wurden über die neuesten Ergebnisse der Vererbungswissenschaft unterrichtet und hatten wiederum dieses Wissen an die zu eugenisierende Bevölkerung weiterzugeben. Damit kam dieser Teilöffentlichkeit eine wichtige Rolle als Multiplikator der Wissensvermittlung zu. Manche Vorträge waren auch für »gebildete Laien« zugänglich und wurden in der Zeitschrift St. Lukas veröffentlicht. Vorträge über Erbbiologie und Vererbung entwickelten sich zu einer regelmäßigen Veranstaltung. So wurde im Jänner und Februar 1934 ein eigener Kurs über Vererbung für Priesteramtskanditaten angeboten. Das geschah mit Einwilligung des Erzbischofs von Wien, Kardinal Innitzer,9 was bedeutete, dass die Verbreitung und Vermittlung dieses neuen Wissens explizit die Zustimmung der amtskirchlichen Hierarchie fand. Relevant für die Analyse des Stellenwertes der Gilde als Institution der Wissensvermittlung ist die Frage nach den vermittelten Wissensbeständen. Welche Konzepte von Vererbung wurden von den Mitgliedern vertreten? Diese Frage nach den Inhalten des wissenschaftlichen Wissens ist aber im Zusammenhang mit Wissenstransfer und katholischem Milieu eigentlich sekundär, denn es ging der Gilde weniger um Fragen der Grundlagenforschung als vielmehr darum, dieses Wissen so zu übersetzen, dass es vom breiten katholischen Milieu akzeptiert werden konnte. Hier lautete die Maxime, dass nichts eugenisch wirksam sein könne, was der katholischen Moral widerspreche. Damit war der eugenische Maßnahmenkatalog bereits eingeschränkt und blieb – gebunden an die Richtlinien von Casti connubii – auf einen moralischen Appell an die Vernunft beschränkt, da etwa Abtreibung, Sterilisation und Familienplanung als moralisch verwerflich galten. Aber auch der »Aufklärung« waren durch die Vorstellungen der katholischen Sittlichkeit enge Grenzen gesetzt, denn es »schickte« sich im katholischen Milieu einfach nicht, über diese Themen zu reden, die so private Bereiche wie Sexualität und Fortpflanzung betrafen. Damit war die Erziehung zu eugenischer Verantwortung mit Problemen konfrontiert, denn es fehlte schlichtweg die Sprache für eine derartige Aufklärung. Aus diesem Grund sind es die Fragen nach den Formen der Kommunikation und der Sprache der Trägerschichten der Wissenschaftspopularisierung, die als wesentliche Bestimmungsfaktoren des Vermittlungsdiskurses betrachtet werden müssen. Die Schriften katholischer Eugeniker/innen sind dezidiert von einer Sprache ge8 N.N., Nolite timere, passilus grex, in: St. Lukas 1 (1933), S. 1. 9 N.N., Unsere Arbeit, in: St. Lukas 2 (1934), S. 17–24, S. 23.

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prägt, die aus dem katholischen Sittlichkeitsdiskurs entnommen war. Katholische Tugenden wurden dabei mit eugenischen Werten identifiziert. Die Schlüsselwörter im katholischen eugenischen Diskurs waren »Keuschheit«, »Mäßigung«, »Willensbildung«, »Verantwortung« und »Sittlichkeit«. So wurden die Forderungen nach vorehelicher Keuschheit, Enthaltsamkeit in der Ehe, wenn »minderwertiger« Nachwuchs zu erwarten war, und auch die »Zügelung diverser Begierden« wie auch Mäßigung vor allem in Bezug auf Alkohol zum »Schutz« des »Erbgutes« nicht nur moraltheologisch, sondern auch erbbiologisch gerechtfertigt.10 Dies bedeutete, dass den Vorstellungen von Sittlichkeit und katholischen Werten eine größere Bedeutung zukam als der wissenschaftlichen Grundlagenforschung und dem Versuch der Ausdifferenzierung der Eugenik als eigenes Fach an den Universitäten. Im Kontext der Wissensvermittlung eugenischer Prämissen spielte auch die literarische Trivialisierung eine wichtige Rolle. In verschiedenen Kurzgeschichten und Novellen sollte in einfacher Form das eugenische Ideal weitergegeben werden. Die Vermittlung von eugenischen Inhalten anhand dieser Literaturgattung war offensichtlich auch eine Variante der Wissenschaftspopularisierung. An Stelle von wissenschaftlichen Artikeln, die in einer für den Laien unverständlichen und komplexen Fachsprache geschrieben waren, setzte man in diesen Kurzgeschichten auf Vereinfachung und Anschaulichkeit. Dadurch konnte eine wesentlich größere Leser/innen/schaft mittels populären Kommunikationsformen erreicht werden. Man erinnerte an katholische Tugenden und rief zur sittlichen Umkehr in moralischer und eugenischer Hinsicht auf. Den katholischen Leser/innen wurde mitgegeben, dass »Minderwertigkeiten« und »Erbkrankheiten« in einer katholischen Lebenswelt weniger folgenreich seien – solange katholische Normen und Praktiken verinnerlicht würden.11

Zusammenfassung Viele Katholik/inn/en in Österreich hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend das Gefühl der Auflösung der katholischen Lebensordnung. Eugenik wurde in diesem Zusammenhang als eine mögliche Lösung für viele empfundene Missstände gesehen. Die Akteure waren auf eine staatliche, aber auch auf eine 10 Vgl. die Arbeiten von Pater Peter Schmitz, Die modernen eugenischen Bestrebungen in theologischer und soziologischer Bedeutung, Innsbruck 1934; Tihamer Tjth, Die Eugenik vom katholischen Standpunkt, Wien/Zürich 1937 und auch Albert Niedermayer, Was hat die Enzyklika Casti connubii der modernen Medizin zu sagen, Sonderabdruck aus: Katholisches Jahrbuch 1932. 11 Vgl. Josefine Stegbauer, Der Weg, in: Das Familienglück 9 (1934) 1, S. 12–15; Fanny WibmerPedit, Der Fluch, in: Das Familienglück 8 (1933) 6, S. 11–16.

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amtskirchliche Unterstützung bei der Umsetzung ihrer eugenischen Programme angewiesen und bedienten sich dabei vor allem rhetorischer Ressourcen. In diesem Zusammenhang kann man von einer Verwissenschaftlichung der Moral bzw. der Religion wie auch von einer Katholisierung der Wissenschaften reden: Naturwissenschaftliche Argumente wurden in einen moraltheologischen Diskurs hineingetragen, bzw. umgekehrt fanden moraltheologische Argumente Eingang in einen naturwissenschaftlichen Diskurs. So wurden beispielsweise überlieferte Glaubensvorstellungen und -inhalte nicht nur moraltheologisch, sondern zunehmend auch naturwissenschaftlich erklärt. Damit war katholische Eugenik nichts anderes als eine Form eines Anstandsdiskurses in einem bestimmten historischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext. In der katholischen Presse, in Ratgebern, Ehebüchern, Predigten und Hirtenbriefen wurden Vorstellungen und Verhaltensvorschriften, allgemeine Handlungsregeln, Normen und Werte aufgestellt, die sowohl in einem moraltheologischen als auch in einem wissenschaftlichen Kontext gelesen werden konnten. So war katholische Eugenik nichts anderes als der Versuch einer Rekatholisierung, in der »Sittlichkeit« als zentraler Punkt eines »Gesundungsprogrammes« nun auch in moralischer Hinsicht hochstilisiert wurde.

Robert Frühstückl

»Mitten in den Problemen der Wirklichkeit«. Überlegungen zu einer Ideologie der angewandten Mathematik

Der Beitrag untersucht anhand zweier Beispiele unterschiedliche, aber zusammenhängende Formen einer Rhetorik der Verwertbarkeit von mathematischem Wissen in den 1930er und 1940er Jahren. Gemeinsam können sie als Versuch einer ideologischen Neukonstruktion der Disziplin unter den politischen Verhältnissen des NS-Regimes gelesen werden. This paper analyses two examples of the rhetoric of usability of mathematical knowledge in the 1930s and 1940s. It is argued that both can be seen as ideological reconstruction of the discipline under the specific conditions of the Nazi-regime.

Angewandte versus reine Mathematik im Dritten Reich Das titelgebende Zitat stammt aus einem Vortrag des Mathematikers HansJoachim Luckert, den dieser im September 1937 auf einer Tagung des Mathematischen Reichsverbands (MR) in Bad Kreuznach gehalten hat.1 In seiner vollen Länge lautet es wie folgt: »Die Mathematik ordnet sich genau so in den allgemeinen Kulturzusammenhang ein wie die anderen Wissenschaften, und sie sollte genau so wie diese eine praktische Wissenschaft sein, die nicht nur indirekt, sei es durch ihre logische Schulung oder durch die theoretische Hilfeleistung anderen Gebieten gegenüber, sondern direkt durch unmittelbaren Einfluß auf die Fragen des Lebens ihren Wert erweist, eine Wissenschaft, die mitten in den Problemen der Wirklichkeit steht.«2

Gegenstand der Tagung war die Frage nach Berufsaussichten für Absolventen der Mathematik, abseits der akademischen Karriere oder des Schuldienstes. Insbesondere ging es um die Frage nach Arbeitsplätzen in der technischen Industrie. Das Interessante an diesen Diskussionen ist, dass sie verknüpft wurden mit der 1 Hans-Joachim Luckert, Der Mathematiker in Technik und Industrie, in: Jahresberichte der Deutschen Mathematikervereinigung 47 (1937), S. 242–250. 2 Ebd., S. 249.

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Kreierung eines bestimmten Typs von Mathematikern, der einerseits wesentlich praktisch orientiert sein sollte, andererseits aber über eine umfassende universitäre Ausbildung im Gesamtgebiet der Mathematik zu verfügen hatte. Wesentlicher Bestandteil dieser Kreation war dabei immer auch eine Abgrenzung von einer als abstrakt und abgehoben beschriebenen mathematischen Kultur an den Universitäten sowie die Bestimmung der wesentlichen Funktion des Industriemathematikers als Übersetzer zwischen der mathematischen Wissensproduktion an den Hochschulen und der Anwendung dieses Wissens durch Ingenieure in den Industriebetrieben. Die bisherige wissenschaftsgeschichtliche Forschung zum Einsatz von Mathematikern und von mathematischem Wissen in der Rüstungsforschung des Nationalsozialismus war lange Zeit dominiert von Herbert Mehrtens, insbesondere von seinem Aufsatz Mathematics and War: Germany, 1900–19453 in dem die Entwicklungen, die auch hier beschrieben werden sollen, zum überwiegenden Teil unter dem Aspekt einer mit politischem Kalkül vorgetragenen Verkaufsrhetorik betrachtet werden: »The mathematicians created the figure of the ›industrial mathematician‹ as a new objective for mathematical training. […] To show that mathematics was a practical and useful subject.«4 Ein Beispiel für eine solche Rhetorik ist der bereits erwähnte Beitrag von Hans-Joachim Luckert, der selbst als Mathematiker in der Industrie aktiv war und in seinem Vortrag auf seine Erfahrungen beim »Übergang von der Arbeit an der Hochschule zur Industrie«5 zurückgreifen konnte, ein Übergang der ihm zufolge alles andere als leicht zu bewerkstelligen war : »Die Stellung desjenigen, der aus der Welt mathematischer Denkweise in die des Ingenieurs kommt, ist bestimmt nicht leicht. Hier hat man eine andere Arbeitsweise, andere Raum- und Zeitbegriffe, eine andere Lösungsart der Probleme.«6 Dass Mathematiker und Ingenieure überhaupt zusammen arbeiten können, ist also keineswegs eine unproblematische Voraussetzung. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Luckert selbst von einem Grenzgebiet spricht, das sich an den Schnittstellen zwischen den Mathematikern und den Ingenieuren konstituiert. In diesem nun hätten die Industriemathematiker ihre besondere Rolle zu spielen, denn diese sind ihm zufolge diejenigen, die »sich in das betreffende Grenzgebiet einarbeiten und somit nicht nur rein mathematische Fragen, sondern allgemeine Aufgaben des ganzen Gebietes bearbeiten.«7 Damit verbinden sich wiederum bestimmte 3 Herbert Mehrtens, Mathematics and War. Germany, 1900–1945, in: Paul Forman/Jos8 M. S#nchez Ron (Hg.), National military establishments and the advancement of science and technology. Studies in 20th Century History, Dordrecht u. a. (1996), S. 87–134. 4 Ebd., S. 104. 5 Luckert 1937, S. 242. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 245.

Überlegungen zu einer Ideologie der angewandten Mathematik

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Anforderungen nicht nur an die Arbeitsweise, sondern an die Person insgesamt. So ist es eine grundlegende Forderung an den Mathematiker für die Arbeit in der Industrie, eine Orientierung auf die praktische Behandlung und das heißt konkret, auf das Suchen nach numerischen Lösungen für bestimmte Probleme zu haben. Eine Anforderung allerdings, die selbst keineswegs als unkompliziert empfunden wurde. »Junge Mathematiker, die frisch von der Hochschule kommen und sich wenig oder gar nicht mit praktischer Mathematik befaßt haben, denken bisweilen allerdings, daß es doch eigentlich unter ihrer Würde liege, öfters langweilige schematische Rechnungen durchzuführen.«8 Mit den Anforderungen an die inhaltliche Ausrichtung der mathematischen Arbeitspraxis in der Industrie verbindet sich also auch eine Anforderung an das Selbstverständnis als Angehöriger der Disziplin, das von jenem, dass an den Universitäten vorherrscht als abweichend betrachtet wurde. Etwas präziser äußert sich Luckert zu diesen Fragen in einem Folgebeitrag, der ein Jahr später erschien. Die Anforderungen an den Industriemathematiker werden hier wie folgt umschrieben: »Kenntnis praktischen Rechnens, die Fähigkeit, mathematische Kenntnisse und Methoden auf die Probleme der Praxis anzuwenden […], vor allem aber, nach dem Urteil der Industrie, gute Anpassungsfähigkeit an die gestellten Probleme, Regsamkeit, schnelles Vertrautsein mit den Belangen der Industrie, Initiative, gesunder Menschenverstand, Zuverlässigkeit, Ausdauer – also gerade auf die persönlichen Eigenschaften wird von seiten der Industrie besonderer Wert gelegt; denn die Eignung richtet sich mehr nach der Persönlichkeit als nach der Vorbildung.«9

Mathematisches Wissen als politische Ressource Ein Wechsel des Schauplatzes, von Bad Kreuznach nach Wien fünf Jahre später, offenbart ein ähnliches Bild. Im Juli 1942 wendet sich Anton Huber, der nach dem »Anschluss« 1938 zum Ordinarius für Mathematik an der Universität Wien berufen wurde, mit einem Schreiben an das Reichserziehungsministerium (REM) in Berlin, in dem er um die Errichtung eines ordentlichen Lehrstuhls für Versicherungsmathematik und Mathematische Statistik ansucht.10 Die Gründe für diesen Schritt sind vielfältig und reichen von der rein administrativen Feststellung der Notwendigkeit für das Fach in der Lehre vorzusorgen bis hin zu einer ausgefeilten Bewerbung der mannigfachen praktischen Verwertbarkeit gut ausgebildeter Statistiker für die verschiedensten sowohl politischen als auch 8 Ebd. S. 247. 9 Hans-Joachim Luckert, Bemerkungen zur Ausbildung des Industriemathematikers, in: Jahresberichte der Deutschen Mathematikervereinigung 48 (1938), S. 258–260, S. 259. 10 UAW (Universitätsarchiv Wien) Z. 288 ex 1942/43, Philosophische Fakultät, Anton Huber an das Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin, 4. 7. 1942.

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militärischen Zwecke. Vor seiner Zeit in Wien war Huber ordentlicher Professor in Freiburg in der Schweiz,11 wo er im Jahr 1935 auch der NSDAP beitrat.12 Mit ihm bekam das mathematische Seminar in Wien nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich eine Kraft, die sich vor allem der angewandten Mathematik widmete. Damit verbunden war eine Veränderung in der inhaltlichen Ausrichtung des Mathematischen Seminars, die so nicht intendiert war. Der Besetzungsvorschlag der Fakultät sah an erster Stelle Johann Radon, an zweiter Leopold Vietoris und erst an dritter Stelle Anton Huber vor. Dabei hatte der Berichterstatter Karl Mayrhofer, ebenfalls Ordinarius am Mathematischen Seminar und ebenfalls Mitglied der NSDAP, keinen Zweifel daran gelassen, dass Radon für die Position des zweiten Ordinarius im Grunde die einzige Wahl sei.13 Auch in der Abschrift des Besetzungsvorschlags, der dem Bundesministerium übermittelt wurde, heißt es: »Dabei ist das Ministerium dringend zu bitten, nichts unversucht zu lassen, um die Berufung Radon’s nach Wien zu erreichen.«14 Obwohl Radon bereits die Zusage gegeben hätte, einen Ruf an die Universität Wien anzunehmen,15 ist dieses Vorhaben letztlich gescheitert und Anton Huber wurde zum Nachfolger des Zahlentheoretikers Philipp Furtwängler ernannt. Auffällig ist darüber hinaus auch, dass Huber in seinem Selbstverständnis als Mathematiker jenem, das im ersten Abschnitt beschrieben wurde, sehr nahe kommt. Gemeint ist eine Ausrichtung auf die Anwendbarkeit des mathematischen Wissens verbunden mit einer grundsätzlich praktischen Orientierung. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass er sich in einigen seiner Publikationen vor allem mit bestimmten Näherungsmethoden zur numerischen Lösung bestimmter Probleme beschäftigt hat.16 In seiner Argumentation für den versicherungsmathematisch- und statistischen Lehrstuhl kommt diese Orientierung folgendermaßen zum Ausdruck: »Es ist ferner wünschenswert, daß die erwähnten Vorlesungen nicht bloß auf die Bedürfnisse jener Studierenden zugeschnitten werden sollen, die später ihren Beruf an öffentlichen oder privaten Versicherungsinstituten ausüben, sondern es sollen insbesondere jene über mathematische Statistik so eingerichtet werden, daß auch die Stu11 UAW Z. 797 ex 1938/38, Philosophische Fakultät, I. Besetzungsvorschlag für das nach Prof. Furtwängler mit September 1938 freiwerdende Ordinariat. 12 UAW PH PA Huber, Anton, Z. 1934 ex 1946/47, Schreiben des Dekanats der philosophischen Fakultät an die Registrierungsbehörde für den 19. Bezirk, 4. 8. 1947. 13 UAW Z. 797 ex 1937/38, Philosophische Fakultät, Protokoll der Kommissionssitzung über die Regelung des Faches Mathematik. 14 Ebd., I. Besetzungsvorschlag für das nach Prof. Furtwängler mit September 1938 freiwerdende Ordinariat. 15 Ebd. 16 Für ein frühes Beispiel siehe: Anton Huber, Bestimmung des größtmöglichen Konvergenzintervalls für das Newton’sche Näherungsverfahren, phil. Diss. Universität Wien 1924.

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dierenden anderer Fächer wie z. B. der Geographie, der Sozialwissenschaften, der Biologie, der Anthropologie u.s.w. Gelegenheit haben, die für die Erforschung der mannigfachen wirtschaftlichen und rassischen Verflechtungen immer stärker in Gebrauch kommenden statistischen Methoden kennen und sachgemäß anwenden zu lernen. Daß in dieser Richtung tüchtige, geschulte Kräfte nach dem Siege für die geistige und wirtschaftliche Erschließung des Ostraumes dringend gesucht werden dürften […], braucht wohl nicht betont zu werden.«17

Zum Bereich potenzieller Anwendungsfelder für mathematisches Wissen werden hier die Biologie, die Anthropologie, aber auch Bevölkerungspolitik bzw. Sozialwissenschaften im Allgemeinen erklärt. Vor dem Hintergrund der rassistischen Eroberungs- und Sozialpolitik des Nationalsozialismus wird hier ein Angebot an das Regime formuliert, über den politischen Gebrauch angewandter Mathematik zu verhandeln. Dass diese Rhetorik der Nützlichkeit in ihrem Eifer, den Machthabern entgegenzukommen und nationalsozialistische Terminologie unterzubringen, in einigen Fällen nicht ohne Absurditäten ausfällt, lässt sich übrigens ebenfalls an diesem Beispiel zeigen. Denn wo in der ursprünglichen, von Huber selbst unterzeichneten Version von »wirtschaftlichen und rechtlichen Verflechtungen« die Rede ist, wird das in der korrigierten Reinschrift zu »wirtschaftlichen und rassischen Verflechtungen« geändert.18 Dennoch waren diese Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt. In der Antwort aus Berlin wird lediglich anheimgestellt, »nach Beendigung des Krieges« darauf zurückzukommen.19 Dabei darf man aber nicht den Fehler machen, mit dem Hinweis auf die nicht stattgefundene Realisierung der Vorhaben oder der zuweilen durchscheinenden Zweckrationalität der Argumentation schon deren Irrelevanz zu behaupten. Denn dass es diese Rhetorik in dieser Form gegeben hat, zeigt, dass diese Anwendungen durchaus im Raum des Denkbaren gelegen sind. Sie gibt mithin Auskunft über historisch vorhandene Denkhorizonte, die Disziplin der Mathematik im sozialen und politischen Gefüge des NS-Staates zu verorten. Es sind gerade diese Denkhorizonte, die von Bedeutung sind, wenn es darum geht, historischen Wandel bei der »Mobilisierung rhetorischer Ressourcen«20 zu analysieren.

17 UAW Z 288 ex 1942/43, Philosophische Fakultät, Anton Huber an das Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin, 4. 7. 1942. 18 Ebd., Abschrift des Schreibens durch Angestellte Grubinger, ohne Datum. 19 Ebd. Abschrift von WP Nr. 2218, Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen Wien, 6. 10. 1942. 20 Mitchell Ash, Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawliczek (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 19–37, S. 30.

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Fazit Im Vorhergehenden wurden zwei Beispiele für einen bestimmten Diskurs über die Anwendbarkeit mathematischen Wissens angeführt. Inwiefern kann hier nun von einer Ideologie der angewandten Mathematik, wie dies im Titel geschehen ist, gesprochen werden? Luckert sah das Problem der Anwendung mathematischen Wissens insbesondere in der technischen Industrie als eines, das in einem Grenzgebiet zwischen Mathematikern und Ingenieuren auftritt. Für ihn war mit dieser Feststellung auch eine bestimmte Anforderung an die Mathematiker verbunden, die die Fähigkeit entwickeln mussten, zwischen ihrer Sprache und der der Ingenieure übersetzen zu können. Für Huber ging es dagegen darum, die politische Nützlichkeit der Mathematik in den Vordergrund zu stellen. Gemeinsam ist beiden Beiträgen die spezifische Art der instrumentellen Vernunft, die sie bewerben und die als Mobilisierung rhetorischer Ressourcen im Sinne einer ideologischen Kohärenz nach Mitchell Ash gelesen werden kann, bei der eine »inhaltliche Affinität der Ziele und zuweilen auch der Methoden von Wissenschaften mit der jeweils vorherrschenden Weltanschauung behauptet«21 wird. Sie wird in diesen Beispielen hergestellt, in dem der in der Praxis tätige Mathematiker mit normativ aufgeladenen Vorstellungen von Lebensnähe und Lebenswirklichkeit in Verbindung gebracht wird. Denn beworben wird weniger das abstrakte, mathematische Wissen, sondern die konkrete Person, die tüchtige, geschulte Kraft, die mit ihrer Disziplin mitten in den Problemen der Wirklichkeit steht und das Wissen dort zum Einsatz bringt.

21 Ebd.

Institutionen

Juliane Mikoletzky

Von der Ingenieurschule zur Forschungsuniversität. Wandlungen der TH/TU Wien im 19. und 20. Jahrhundert

Der Beitrag beleuchtet am Beispiel der TH/TU Wien die Veränderungen in Zielsetzung und Selbstverständnis der österreichischen technischen Hochschulen. The chapter highlights some of the changes regarding the intentions and self-conceptions of Austrian universities of technology, using the example of the TH/TU Wien.

Versuche einer vergleichenden Gesamtbetrachtung der Entwicklung der österreichischen Hochschulen im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert haben derzeit Konjunktur, was vielleicht auch einer Reihe von Jubiläen geschuldet ist.1 Die fachspezifischen, insbesondere die technischen Hochschulen finden in diesem Diskurs allerdings nur am Rande Berücksichtigung, bestenfalls als heraufziehende ›Konkurrenz‹ zu den bestehenden Universitäten. Tatsächlich folgten sie, in ihrer Mehrzahl Schöpfungen des 19. Jahrhunderts, die den Bedürfnissen des anbrechenden Industriezeitalters in besonderer Weise Rechnung tragen sollten, zunächst einem eigenen Entwicklungspfad. Am Beispiel der Technischen Universität Wien (TU Wien) und ihrer Vorgängerorganisationen sollen daher einige Wandlungen dieses Hochschultypus im 19. und 20. Jahrhundert skizziert und Veränderungen der damit zusammenhängenden Ressourcenkonstellationen aufgezeigt werden. Bei seiner Gründung 1815 unterschied sich das k.k. polytechnische Institut in Wien nach Ausstattung und Programmatik deutlich von den bereits bestehenden polytechnischen Schulen in Prag und Graz. Sein Organisationskonzept sah eine 1 Vgl. Mitchell G. Ash, Die Universität Wien in den politischen Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: ders./Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft. 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert. Band 2, Göttingen 2015, S. 29–172; zuletzt ders., Die österreichischen Hochschulen in den politischen Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Johannes Koll (Hg.), »Säuberungen« an österreichischen Hochschulen 1934–1945. Voraussetzungen, Prozesse, Folgen, Wien–Köln–Weimar 2017, S. 2–72. Immer noch nicht überholt die Pionierarbeit von Walter Höflechner, Die Baumeister des künftigen Glücks, Graz 1988.

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»universitas scientiarum technicarum« als multifunktionale Einrichtung vor, deren oberstes Ziel die Förderung von Qualität und Innovationskraft von Industrie und Gewerbe in der Monarchie war. Erreicht werden sollte dies vorrangig durch die Ausbildung zukünftiger Gewerbetreibender durch »wissenschaftlichen Unterricht«.2 Mit der von Beginn an statutenmäßig verankerten Lernfreiheit war man hier den Universitäten um Jahrzehnte voraus. Dazu war das Institut großzügig mit einer Reihe von Sammlungen ausgestattet worden, die auch als Anschauungsmaterial für die Bevölkerung dienen sollten. Eigene Forschung als Aufgabe ergibt sich hingegen nur implizit aus der als wissensbasiert konzipierten Lehre sowie aus der Funktion des Instituts als »Technische Kunstbehörde«: Seine Professoren dienten als Expertenpool für technische Fragen jeder Art, der von öffentlichen Stellen ebenso wie von Industrie und Gewerbe bald intensiv in Form von Begutachtungen in Anspruch genommen wurde. Die Anbindung des Instituts an Gesellschaft und Politik war somit von Beginn an außerordentlich eng, der wechselseitige Ressourcenbezug unübersehbar. Zugleich war die durchzuführende ›Forschung‹ damit als anwendungsorientiert definiert. Dass diese Aufgabe ernst genommen wurde, zeigt u. a. die Herausgabe einer eigenen wissenschaftlichen Zeitschrift, der Jahrbücher des k.k. polytechnischen Instituts in Wien (1819–1839), die auch Originalbeiträge veröffentlichte. Allerdings stellte sich bald heraus, dass diese Konzeption langfristig die Möglichkeiten des Instituts überforderte. In dem Maße, wie die Anzahl der Studierenden zunahm und ihr Altersschnitt zurückging, entwickelte sich in der Praxis statt der ›Lernfreiheit‹ ein stark verschultes System, das spätestens seit den 1840er Jahren als nicht mehr entsprechend empfunden wurde. Außerdem entstand eine gewisse Überfrachtung des Instituts mit gewerbefördernden Zusatzaufgaben. Die Reform des gewerblichen Unterrichts führte 1851 zu einer Neuordnung der Vorbildung durch die Etablierung der Realschule als eigener Schultypus.3 Zwischen 1864 und 1875 erfolgte dann eine grundlegende Umgestaltung aller polytechnischen Lehranstalten der Monarchie, die ab 1872 in technische Hochschulen umbenannt wurden, im Sinne einer Konzentration auf die Ausbildungserfordernisse für technische Experten. Die Einführung von sogenannten ›Fachschulen‹ sollte vor allem die Differenzierung des Lehrangebots angesichts der rasant fortschreitenden technischen Entwicklung erleichtern, Studienpläne die Qualität der Ausbildung heben (womit die formal durchaus hoch gehaltene Lernfreiheit zwar nicht aufgehoben, aber eingeschränkt wurde). Ein 2 Verfassung des kaiserl. Königl. Polytechnischen Instituts in Wien, Wien 1818, S. 5. 3 Zu den Thunschen Reformen allgemein vgl. Christof Aichner/Brigitte Mazohl (Hg.), Die Thun-Hohenstein’schen Universitätsreformen 1849–1860. Konzeption – Umsetzung – Nachwirkungen, Wien/Köln/Weimar 2017.

Von der Ingenieurschule zur Forschungsuniversität

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wichtiger Treiber der Reformdiskussion waren die seit 1848 gegründeten Standesorganisationen der Ingenieure, die etwa im Falle der Technischen Hochschule Wien (TH Wien) einen nachweisbaren Einfluss auf die Festlegung von Lehrkanzelwidmungen und Studieninhalten nahmen.4 Bisherige Zusatzfunktionen wurden ausgelagert oder zurückgedrängt. Die Forschung als Aufgabe der Hochschule war jedoch auch im Organisationsstatut von 1875, das bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gültig blieb, nicht erwähnt. An der Technischen Hochschule in Wien festigte sich damit ein Selbstverständnis als ›Ingenieurschule‹, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägend blieb. Ziel der folgenden hochschulpolitischen Bestrebungen war die weitere formale Angleichung an die Universitäten in ihrer Rolle als Zuteilungsinstitutionen von Berechtigungen und sozialen Positionen durch die Erlangung formaler Abschlüsse, eines geschützten Titels für Absolventen (Diplom-Ingenieur) und des Promotionsrechts. Forschung wurde zwar durchaus betrieben, oft im Rahmen selbständiger Tätigkeit der Professoren oder in Kooperation mit der Industrie. Eine systematische Untersuchung dazu fehlt bisher weitgehend. Zum Thema wurde die Forschung aber erst in den Reformdiskussionen um die Jahrhundertwende: Erstmals forderten die Professoren Studienreformen nicht nur im Sinne einer Aktualisierung und Straffung der Studienpläne, sondern auch einer »Entlastung« der Lehrenden von ihren umfangreichen Prüfungsverpflichtungen, um ihnen mehr Zeit für eigene wissenschaftliche Arbeit zu schaffen. Dabei wurde stets festgehalten, dass Forschung nicht »um ihrer selbst willen zu pflegen« und die Lehrfreiheit durch die praktische Anwendbarkeit der Ergebnisse begrenzt sei.5 Vehement wurde (unter nachdrücklichem Hinweis auf ausländische, insbesondere deutsche und Schweizer Hochschulen) eine bessere Ausstattung mit »eigenen technischen Hilfseinrichtungen« gefordert,6 insbesondere mit Labors und ›Versuchsanstalten‹ (Institute gab es mit Ausnahme des 1902–04 errichteten Elektrotechnischen Instituts an der TH Wien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht). Das Festhalten an der anwendungsorientierten Forschung als ›Alleinstellungsmerkmal‹ der technischen Hochschulen barg aber auch Probleme, wie die Auseinandersetzung um den Ausbau des mechanischtechnischen Laboratoriums an der TH Wien zur Technischen Versuchsanstalt (TVA) zeigt. Um ihre Errichtung im Verband der Hochschule wurde um 1900 heftig gestritten: Einerseits boten die für Prüfaufträge zu zahlenden Gebühren eine neue, »autonome« Ressource für die Finanzierung von Personal und For4 Vgl. dazu Juliane Mikoletzky, Vom Polytechnischen Institut zur Technischen Hochschule. Die Reform des technischen Studiums in Wien 1850–1875, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 15 (1995), S. 79–100. 5 Komitee-Bericht über die Reform der Technischen Hochschule in Wien, Wien 1911, S. 11. 6 Vgl. August Prokop, Ausbau und Ausgestaltung der k.k. technischen Hochschulen Österreichs, Wien 1896, S. 14–15.

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schungsinfrastruktur ; andererseits wurde betont, dass externe Prüfaufträge die für »lebenswichtig« gehaltenen Verbindung zur »Praxis« garantierten. Erst durch diese würden neue Fragestellungen an die technische Forschung generiert und so die Fortentwicklung der technischen Wissenschaften stimuliert.7 Der Erste Weltkrieg bewirkte eine Verschiebung der Gewichte: Aufgrund des Rückgangs der Studierenden, die in großer Zahl zum Wehrdienst eingezogen wurden, reduzierte sich der Ressourcenbedarf für die Lehre. Die frei werdenden personellen und räumlichen Kapazitäten konnten nun für die Forschung genutzt werden: Teils wurden militärische Dienststellen in für Unterrichtszwecke nicht benötigte Labors und andere Räumlichkeiten der Hochschule einquartiert, teils erfolgte eine neue Form der Auftragsforschung im Rahmen der kriegswirtschaftlichen Verwendung von Hochschulangehörigen.8 Dadurch ergab sich vorübergehend eine starke Ausweitung der Ressourcen für die Forschung. Auch inhaltlich erhielten die technischen Wissenschaften neue Impulse, wobei eine Umsetzung neuer Erkenntnisse für die Lehre wegen kriegsbedingter Geheimhaltungsvorschriften oft nicht sofort möglich war. Die Untersuchung von Inhalt und Umfang dieser Kooperationen und vor allem ihrer Nachwirkungen bleibt allerdings weiterhinein Desiderat. Nach 1918 schlugen sich die Kriegserfahrungen jedenfalls in einer organisatorischen und inhaltlichen Ausdifferenzierung nieder, die eine stärkere Forschungsorientierung signalisierte: Neue Unterabteilungen und Studienzweige wurden an der TH Wien ab 1920 gerade in jenen Bereichen etabliert, die während des Krieges Forschungsschwerpunkte gewesen waren, wie die Technische Physik und die Gas- und Feuerungstechnik. Im Studiengang Technische Physik wurde erstmals anstelle der üblichen ›Programme‹ für die II. Staatsprüfung eine sogenannte ›Diplomarbeit‹ gefordert, die eine selbständige Bearbeitung von Forschungsfragen verlangte. Auch die Finanzierungsgrundlage der Forschung veränderte sich, nicht zuletzt aufgrund der sinkenden Unterstützung durch den Staat und weitgehend fehlender öffentlicher Forschungsförderung. Schon vor dem Krieg war es üblich gewesen, dass Unternehmen die Hochschule mit Sachspenden unterstützten, gewissermaßen im Gegenzug zur Vermittlung qualifizierter Absolventen. Nun bemühte sich die TH Wien selbst, durch gezielte 7 Vgl. Juliane Mikoletzky, Hochschule und Industrie in Österreich am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Technischen Hochschule in Wien, in: 25. Österreichischer Historikertag, St. Pölten 2008, Tagungsbericht, St. Pölten 2010, S. 518–524, bes. S. 523. 8 Zum Folgenden s. Juliane Mikoletzky, »An der Seite der Heerführer steht der Ingenieur«: Hochschulen, Technik und Krieg 1914–1918 am Beispiel der Technischen Hochschule in Wien, in: Herbert Matis/Juliane Mikoletzky/Wolfgang Reiter (Hg.), Wirtschaft, Technik und das Militär, Wien 2014, S. 349–368; Juliane Mikoletzky/Paulus Ebner, Die Technische Hochschule in Wien 1914–1955. Band 1/1: Verdeckter Aufschwung zwischen Krieg und Krise (1914–1937). Technik für Menschen. Festschrift 200 Jahre TU Wien, Wien 2016, S. 29–65.

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Einwerbung von Fördermitteln der Industrie neue Ressourcen zu erschließen. Dazu wurde 1921 eine »Freie Vereinigung« (ab 1926 »Verband der Freunde der Technischen Hochschule in Wien«) gegründet, um vor allem Absolventen anzusprechen, die inzwischen in Wirtschaft und Politik Karriere gemacht hatten. Auf diese Weise konnte die Hochschule für einige Jahre die fehlenden staatlichen Mittel zumindest punktuell ausgleichen. So wurden u. a. 1926 ein Hydrologisches Institut mit Wasserbaulabor, 1928 das Schwachstrominstitut, 1929 ein Erdbaulaboratorium errichtet. Es handelte sich hier weniger um eine mäzenatische Unterstützung als um Sponsoren, die auch ein Interesse an der durchzuführenden Forschung hatten. Erst ab etwa 1930 versiegte diese Quelle aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise. Die Auswirkungen der immer drastischeren staatlichen Einsparungsmaßnahmen der 1930er Jahre machen die Verve nachvollziehbar, mit der sich die Wissenschaftler der TH in Wien nach dem »Anschluss« 1938 auf die nun offenstehenden reichsdeutschen Fördertöpfe stürzten – die Selbstmobilisierung der Wissenschaft für das NS-Regime findet auch hierin eine Begründung.9 Es wurden nicht nur umfangreiche Finanzierungswünsche an die neuen Machthaber gerichtet. Im Zusammenhang mit der »Gleichschaltung« österreichischer Forschungseinrichtungen bemühte sich die TH Wien außerdem (erfolglos), diese oder zumindest deren apparative Ausstattung in den Verfügungsbereich der Hochschule zu ziehen, so die Versuchsanstalt für Kraftfahrzeuge und die Schiffbautechnische Versuchsanstalt. Mit Kriegsausbruch 1939 wiederholten sich die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs: Neuerlich erfolgte die Okkupierung freier Ressourcen der Hochschule durch die Rüstungsindustrie. Neu war, dass sich Wissenschaftler nunmehr aktiv um Forschungsmittel bzw. Forschungsaufträge bewerben konnten und mussten. Im Rahmen der Mitwirkung an großen Bauvorhaben, etwa dem Bau von Autobahntunneln, die komplexe technische Probleme aufwarfen, wurden überdies erste Erfahrungen mit Forschungskooperationen über Institutsund Disziplingrenzen hinaus gemacht. Gegen Kriegsende dominierte an der TH in Wien, wie der damalige Rektor Sequenz bemerkte, die Forschung bei weitem über die Lehre: »Es gibt wohl kaum noch ein Institut oder Lehrkanzel an unserer Hochschule, die nicht kriegswichtige Forschungs- oder Planungsaufträge durchzuführen hätten […]. Für Zwecke der Forschung stehen beträchtliche Mittel zur Verfügung, sodass viele Institute ihren Besitz an wissenschaftlichen Geräten ergänzen und sogar neue Einrichtungen anschaffen konnten.«10 Auch wenn der gesamte Komplex der kriegswirtschaftlichen Verflechtung der Hoch9 Vgl. dazu Mikoletzky/Ebner. Band 1/2: Nationalsozialismus – Krieg – Rekonstruktion (1938–1955), Wien 2016, bes. S. 121–141. 10 Ebd., S. 138–139.

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schulen und deren Fernwirkungen für die Zeit nach 1945 noch weiterer Untersuchungen bedarf, kann man wohl davon ausgehen, dass diese Erfahrungen für die TH Wien einen entscheidenden Wendepunkt hinsichtlich ihres Selbstverständnisses als (auch) Forschungseinrichtung ausmachten. Ab 1945 stand zunächst ein Wiederaufbau der Hochschulen im Vordergrund. In den 1950er Jahren wurde jedoch deutlich, dass eine umfassende Modernisierung des Hochschulwesens notwendig war, wenn Österreich wissenschaftlich den Anschluss an Westeuropa und die USA finden und wirtschaftlich wettbewerbsfähig werden wollte. Damit begann ein breiter Diskurs zur Hochschulreform, an dem sich auch Vertreter der TH Wien intensiv beteiligten.11 Einen ersten Meilenstein setzte das (manchmal unterschätzte) Hochschulorganisationsgesetz (HOG) 1955: Es fasste das geltende Hochschulrecht für alle tertiären Einrichtungen zusammen und bestimmte die Aufgaben der Hochschulen erstmals explizit mit ›Forschung und Lehre‹. Ganz wesentlich für eine Stärkung der universitären Forschung war nun der Zugang zu Ressourcen außerhalb der ordentlichen Budgetierung. Die Technischen Hochschulen befanden sich da in einer gewissen Zwickmühle, weil sie einerseits angewandte Forschung betreiben wollten (für die das Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau zuständig war), andererseits als Hochschulen mit Ausbildungsauftrag weiterhin zum Unterrichtsministerium ressortierten, das jedoch die Forschungsfinanzierung für Universitäten strikt auf die »Grundlagenforschung« beschränken wollte. Eine Lösung brachte hier erst das Forschungsorganisationsgesetz 1967, das erstmals in Österreich staatliche Förderinstitutionen für beide Bereiche errichtete (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung FWF, Forschungsförderungsfonds für die gewerbliche Forschung FFF). Das Universitätsorganisationsgesetz (UOG) 1975 veränderte schließlich die Organisationsstrukturen im Hochschulbereich grundlegend. Die Umbenennung der Technischen Hochschulen in »Technische Universitäten« deutete nicht nur begrifflich eine Stärkung der Forschungsorientierung an. Die folgenden Reformschritte (UOG 1993, UG 2002) setzten diese Linie fort, indem den Universitäten durch die wachsende Autonomie gegenüber dem Ministerium auch wachsende Möglichkeiten (und Verpflichtungen) zur Innensteuerung der Forschungsaktivitäten im Wege der Ressourcenzuteilung eingeräumt wurden. Heute versteht sich die TU Wien als Forschungsuniversität, die ihr disziplinäres Profil aus ihren Forschungsschwerpunkten ableitet, eine enge Kooperation mit Wirtschaft und Industrie anstrebt und sich hinsichtlich ihres (Aus-)Bildungs11 Vgl. zum Folgenden zusammenfassend Rupert Pichler/Michael Stampfer, Forschungspolitik in Österreich nach dem Krieg. Offene Gegensätze, stillschweigende Arrangements, in: Wolfgang L. Reiter/Juliane Mikoletzky/Herbert Matis/Mitchell G. Ash (Hg.), Wissenschaft, Technologie und industrielle Entwicklung in Zentraleuropa im Kalten Krieg, Wien 2017, S. 33–66.

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auftrags zum Prinzip der »forschungsgeleiteten Lehre« bekennt.12 In gewisser Weise schließt sich hier der Kreis zu den Ausgangsvorstellungen, die der Gründung des Wiener polytechnischen Instituts zugrunde lagen.

12 Entwicklungsplan der TU Wien 2016+, S. 7–10, https://www.tuwien.ac.at/fileadmin/t/tuwi en/docs/leitung/ep_2016_plus_dezember2016.pdf (abgerufen am 3. 10. 2017); vgl. auch Franz G. Rammerstorfer (Hg.), Von der Technischen Hochschule zur Forschungsuniversität, Festschrift 200 Jahre TU Wien. Band 2, Wien 2015.

Johannes Mattes

Wissenschaftspolitische Grenzverhandlungen. Zur Gründung der Lehrkanzel für Höhlenkunde an der Universität Wien (1929)

Ent- und Abgrenzungsstrategien in der Politik und Wissenschaft sind als politische Handlungen eng mit dem Wechsel von Ressourcenkonstellationen verknüpft. Am Beispiel der 1929 gegründeten Lehrkanzel für Höhlenkunde an der Universität Wien untersucht der Beitrag Abgrenzungsprozesse, die bei der Bildung wissenschaftlicher Disziplinen wirksam werden. Strategies of delimitation and demarcation in politics and science are connected closely with transformations in the constellation of resources. Using the foundation of the chair of speleology at the University of Vienna in 1929 as an example, the article examines the influence of demarcation processes on the formation of scientific disciplines.

Wissenschaft ohne Grenzen ist undenkbar. Fragestellungen zu umgrenzen und aufzugliedern, Forschungsgebiete ein- oder abzugrenzen und dabei zwischen Wissen, Pseudo- und Nichtwissen zu differenzieren, zählen zu wesentlichen Charakteristika wissenschaftlichen Handelns. Epistemische Praktiken der Abgrenzung werden dabei in inhaltlicher, sozialer und räumlicher Dimension wirksam: So werden z. B. inhaltliche Grenzen und Übergangszonen zwischen Disziplinen – wie auch diese selbst – beständig neu ausverhandelt. Hierarchische Wissensordnungen spiegeln sich häufig in der sozialen Gliederung und Distinktion der Wissensträger wider. Zudem werden bei der Institutionalisierung wissenschaftlicher Forschungsfelder Einrichtungen geschaffen, die nicht nur Begegnungszonen und Transferbereiche bieten, sondern durch die Exklusivität ihres Zugangs auch ausgrenzen. Ebenso wie den Abgrenzungsprozessen fällt den Praktiken der Entgrenzung eine besondere Bedeutung zu. Reisende und Zwischenhändler des Wissens schlagen Brücken, überqueren inhaltliche Grenzen, verknüpfen unterschiedliche Wissensräume, Disziplinen, soziale Gruppen, Netzwerke und vermitteln zwischen lokalen, regionalen und globalen Kulturen. So wie gewisse Forschungsfelder über die Begrenzung ihres finanziellen Spielraums klagen, wird die Politik aufgefordert, eine ethische Entgrenzung der Forschung hintanzu-

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halten. Dabei sind Ab- und Entgrenzungsprozesse – auch innerhalb der wissenschaftlichen Forschung – als immanent politische Handlungen zu verstehen.

Ressourcenkonstellationen und Abgrenzungsstrategien Mitchell Ash appelliert in seiner Analyse des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik, ihren Kontinuitäten und Wandlungen im langen 20. Jahrhundert für eine Entgrenzung der beiden Handlungsfelder. Nicht als Form einer einseitigen Instrumentalisierung, sondern als »Ressourcen für einander«, als »gegenseitig mobilisierbare Ressourcenensembles«1 interagieren Wissenschaft und Politik, sind als »moving targets«2 von wechselnden Allianzen, Vernetzungen und Brüchen geprägt. Damit sind Wissenschaftswandlungen zu politischen Umbrüchen durch einen Wechsel der Ressourcenkonstellation erklärbar. Ent- und Abgrenzungsstrategien innerhalb und zwischen Feldern der Wissenschaft und Politik können wiederum als Bedingung oder Folge einer Umgestaltung der Ressourcenkonstellation verstanden werden und sich in Form realer oder symbolischer Handlungen in die Forschungslandschaft einschreiben. Als »konstruierte Kontinuitäten«3 sind Grenzen einem steten Wandel unterworfen, ebenso wie die Interaktion von personellen, institutionellen und diskursiven Ressourcen wechselnde Konstellationen schafft. Nicht selten liegen ja Ressourcen selbst auf Grenzen und werden von mehreren Allianzen gleichzeitig erschlossen, oder Forschungsfelder wie die Höhlenkunde verorten sich bewusst am Schnittpunkt disziplinärer Grenzen, um auf mehrere Ressourcen zugreifen zu können. Das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Praxis des unterirdischen Reisens entstandene Spezialistentum organisierte sich ausgehend von Wien in Form natur- bzw. höhlenkundlicher Vereine und vernetzte dabei institutionelle und personelle Ressourcen aus unterschiedlichen Feldern. Die zentrale Rolle Wiens für die internationale Entwicklung der Höhlenkunde lässt sich anhand der spezifischen Ressourcenkonstellation in der Reichshaupt- und 1 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger von Bruch/ Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formation, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2002, S. 32–51; vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/ Aleksandra Pawliczek (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 19–37. 2 Mitchell G. Ash, Reflexionen zum Ressourcenansatz, in: Sören Flachowsky/Rüdiger Hachtmann/Florian Schmaltz (Hg.), Ressourcenmobilisierung. Wissenschaftspolitik und Forschungspraxis im NS-Herrschaftssystem, Göttingen 2016, S. 535–553. 3 Ash 2002, S. 50.

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Residenzstadt erklären: 1) durch ihre Lage am Schnittpunkt der Verkehrswege zwischen den damals bekannten und später ›nationalisierten‹ Höhlengebieten Slowenischer Karst, Aggteleker/Slowakischer Karst, Mährischer Karst und dem Salzkammergut; 2) durch die spezifische Verschränkung von Politik und Wissenschaft und ihrem beiderseitigen Interesse an dem ökonomischen und forschungsorientierten Teilaspekten des Höhlenphänomens. So trafen sich während der Vereinssitzungen nicht nur anerkannte Wissenschaftler aus etablierten oder sich noch konstituierenden Disziplinen wie Erdwissenschaften, Zoologie oder Geographie, sondern ebenso Sachbearbeiter aus dem Ackerbauministerium, Lehrer, Künstler, Juristen, Mitglieder des Herrenhauses und Autodidakten aus dem vermögenden Bürgertum. Die inhaltliche und z. T. soziale Entgrenzung nach innen ist allerdings nur mit der zugleich vollzogenen Abgrenzung nach außen, gegenüber sozial unterprivilegierten Gruppen wie niedere Beamten, Handwerker, Bauern oder Arbeiter verständlich, die zwar ebenso das Unterirdische aufsuchten, aber abgesprochen wurde, sich wissensbasiert mit dem Höhlenphänomen zu beschäftigen. Zugleich erschwerte die diskursive Verortung der Höhlenkunde am Schnittpunkt von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit allerdings auch die Disziplinbildung als eigenständiges Fach. Im Folgenden werden die Abgrenzungsprozesse nach außen (zu anderen Disziplinen) und nach innen (innerhalb des Forschungsfelds), die zur Gründung der von 1929 bis 1938 an der Universität Wien bestehenden und bis heute international einzigen Lehrkanzel für Höhlenkunde führten, getrennt analysiert.

Abgrenzungspolitik nach außen Die Wandlungen in der Ressourcenkonstellation während des Ersten Weltkriegs bildeten die Voraussetzung zur Institutionalisierung der Höhlenkunde als staatliches Wirtschafts- und Forschungsunternehmen. Unter Erfolgsdruck stehende Beamte am Ackerbauministerium, die selbst in höhlenkundlichen Kreisen verkehrten, entwickelten dabei das durchaus unrealistische Vorhaben, durch Abbau phosphorhältiger Höhlenerde den Ausfall von Düngemittelimporten aus Übersee zu kompensieren. Die noch 1916 ins Leben gerufene Ministerialkommission für Höhlenforschung (nach 1918 Staatliche bzw. Bundeshöhlenkommission), Gesetzesbeschlüsse, welche das Vorrecht Höhleninhalte abzubauen dem Staat zusprachen, sowie die Neuprägung von Begriffen wie »Höhlenwirtschaftskunde« oder »Höhlenunterrichtspolitik« sind als Ergebnis veränderter Ressourcenensembles zu nennen:

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»Der Geologe und der Morphologe, der Petrograph und der Mineralchemiker, der Zoologe, der Botaniker und der Paläontologe, der Geograph und der Meteorologe, endlich der Anthropologe und der Prähistoriker haben die verschiedenen in ihren Forschungsbereich fallenden Probleme in Angriff genommen, die sich bei der wissenschaftlichen Erschließung von Höhlen ergaben. Zuletzt ist zu der Reihe […] der Wirtschaftspolitiker getreten. Die Erschließung der Drachenhöhle bei Mixnitz hat die in enger Gemeinschaft tätigen Forscher zum Bewusstsein gebracht, […] dass die ganze, große Kette von Fragen sich zu einem geschlossenen Kreise vereinigt: […] der Speläologie.«4

Auffallend ist dabei, dass die Bundeshöhlenkommission zwar von einem hohen Ministerialbeamten geleitet, aber weitgehend aus jungen, unmittelbar vor oder nach der Habilitation sich befindenden Wissenschaftlern bestand, die zugleich mit der industriellen Erschließung der Lagerstätten und der wissenschaftlichen Auswertung des dabei gewonnenen Fundmaterials betraut wurden. Diesem spezifischen Konglomerat aus Politik und Wissenschaft gehörte in führender Stellung der Paläontologe Othenio Abel an, welcher dem beständigen Zustrom von Fundmaterial zu dem von ihm geleiteten paläobiologischen Lehrapparat der Universität Wien seine wissenschaftliche Karriere verdankte. Zudem ist vor allem der Prähistoriker Georg Kyrle zu nennen, der sich zwar habilitieren konnte, aber 1917 im Zuge eines Vorstandswechsels am Institut für Urgeschichte leer ausgegangen war und »lediglich« als Staatskonservator am Bundesdenkmalamt eine Anstellung fand. Da Kyrle eine Professur für Urgeschichte verwehrt geblieben war, sollte die Notwendigkeit, die Höhlenkunde als aufstrebendes Fach akademisch zu nobilitieren, als Argument dienen, um auch ihm eine Lehrkanzel zu verschaffen. Bereits 1921 wurde im Rahmen einer Vortragsreihe der Bundeshöhlenkommission die »allgemeine wissenschaftliche Bedeutung der Speläologie« als Integrativ- bzw. »Gruppenwissenschaft« verortet, an dessen Vorgabe sich spätere Handbücher orientierten: »Wir sind ein kleiner Staat geworden und das hat naturgemäß eine Intensivierung des Interesses für das, was wir haben, zur Folge […]. Wie es bei Disziplinen, welche zwischen den Grenzen anderer liegen, […] so häufig der Fall ist, ist es zu einer selbstständigen Entwicklung der Speläologie […] noch nicht gekommen. Die Speläologie ist nicht bloß eine wissenschaftliche Zwischendisziplin, sie ist vielmehr eine Gruppenwissenschaft.«5

4 Othenio Abel, Die Gründung der Speläologischen Gesellschaft in Wien, in: Speläologisches Jahrbuch 4 (1923) 1/2, S. 1–13. 5 Richard von Wettstein, Die allgemeine wissenschaftliche Bedeutung der Speläologie, in: Berichte der staatlichen Höhlenkommission 2 (1921) 3/4, S. 109–113.

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Für eine Disziplinbildung erwies sich jedoch die fächerübergreifende Vernetzung innerhalb der Höhlenkommission und der 1922 als Gelehrtengremium gegründeten Speläologischen Gesellschaft als nachhaltiges Hindernis. Trotz der maßgeblichen Unterstützung von Abel und dem Bärenhöhlen-Geheimbund6 – einem wissenschaftspolitisch einflussreichen Kartell deutschnationaler Professoren – gestalteten sich die von 1922 bis 1929 erfolgten mehrfachen Versuche, Kyrle als Professor für Höhlenkunde zu installieren, als schwieriges Unterfangen. So verdeutlichen zahlreiche Protokolle von Fakultätssitzungen, dass insbesondere die mangelnde inhaltliche und methodische Abgrenzung zu sich soeben etablierenden, jungen Disziplinen wie der Urgeschichte zu besonderem Missfallen und Widerstand führte.7 Als Reaktion versuchten höhlenkundliche Kreise ab Mitte der 1920er Jahre die Grenzen zu den sie umgebenden Forschungsfeldern durch mehrere Maßnahmen zu schärfen: 1) Gründung speläologischer Zeitschriften- und Buchreihen, die gemeinsam von Gelehrten und Ministerialbeamten redigiert und durch die Staatsdruckerei vervielfältigt wurden; 2) Publikation von Handbüchern wie Kyrles Grundriss der theoretischen Speläologie8, die das Feld terminologisch und methodisch absichern sollten; 3) gesetzliche Verpflichtung des Staates, selbst Höhlenforschung zu betreiben, welche zur Gründung eines Speläologischen (Forschungs-)Instituts am Landwirtschaftsministerium und höhlenkundlicher Fachreferate (z. B. am Bundesdenkmalamt) führte; 4) Veranstaltung internationaler Kongresse und enge Kooperation mit Speläologen in Deutschland und Ungarn; 5) Aufbau akademischen Nachwuchses durch Etablierung eines unbefristeten Lehrauftrags für Höhlenkunde an der Universität Wien; 6) diskursive Verortung als spezifisch österreichische Wissenschaftsdisziplin und Präsenz in der Öffentlichkeit mittels einer gemeinverständlichen Vortragsreihe.

Abgrenzungspolitik nach innen Ausdruck dieser zunehmend verdichteten Ressourcenkonstellation war auch eine Abgrenzung des Forschungsfelds nach innen, welche sich vor allem in der um 1920 erfolgten Verwendung des Begriffs »Sp8l8ologie/Speläologie« ab6 Vgl. Klaus Taschwer, Geheimsache Bärenhöhle. Wie eine antisemitische Professorenclique nach 1918 an der Universität Wien jüdische Forscherinnen und Forscher vertrieb, in: Regina Fritz/Grzegorz Rossolinski-Liebe/Jana Starek (Hg.), Alma Mater Antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939 (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (VWI) 3), Wien 2016, S. 221–242. 7 Vgl. UAW (Universitätsarchiv Wien), PH PA 2398 Kyrle, Georg, 7. 12. 1916–16. 7. 1937 (Akt). 8 Georg Kyrle, Grundriss der theoretischen Speläologie, Wien 1923.

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zeichnet. Wurde im Französischen damit noch jedwede Beschäftigung mit dem Höhlenphänomen umschrieben, führte man den Begriff im Deutschen zur gezielten Abgrenzung bzw. Hierarchisierung der von Gelehrten betriebenen staatlichen Speläologie und der von fachlichen Laien vereinsmäßig organisierten Höhlenkunde bzw. -forschung ein. So wurden in den neu gegründeten speläologischen Fachzeitschriften und Buchreihen auch nur mehr vereinzelt Beiträge von vereinsmäßigen Höhlenforschern abgedruckt, die in Folge eigene Publikationsorgane entwickelten. Nicht von ungefähr beginnt Kyrles Handbuch mit einer generellen Abwertung der bisher erschienenen Literatur : »Wenn man in der gesamten speläologischen Literatur, soweit sie überhaupt für wissenschaftliche Benützung in Betracht kommt, Umschau hält, wird man eine scharfe Abgrenzung und systematische Gliederung […] vermissen. Dieser Mangel geht auf die historische Entwicklung der Speläologie zurück.«9 Teil dieser Abgrenzungspolitik war auch eine Veränderung in der Forschungspraxis, die 1920 durch die verordneten Organisationsgrundsätze für die staatliche Höhlenforschung10 in Paragrafenform gegossen wurde. Die mit dem Titel »Expedition« aufgewerteten Forschungsfahrten in Höhlen wurden nun unter wissenschaftlicher Leitung durchgeführt, höhere Genauigkeitsansprüche an Karten und Messtechnik gestellt, neue wissenschaftliche Messinstrumente wie Anemometer und Verdunstungswaage eingesetzt, quantifizierende Forschungsmethoden etabliert und die Mitglieder der Forschergruppen strenger hierarchisiert. Mit der Einführung einer amtlichen Höhlenführerprüfung und der Gründung eines unter wissenschaftlicher Leitung stehenden staatlichen Schauhöhlenunternehmens, das mit der touristischen Erschließung der bundeseigenen Höhlen betraut wurde, grenzte sich der im Feld der Höhlenkunde tätige Personenkreis weiter voneinander ab. Damit das Feld nicht in »Touristik und Dilettantismus zerflattere«11, wurden Höhlenforscher und Höhlenführer der wissenschaftlichen Führung von Speläologen unterstellt. Dass die Gründung einer Lehrkanzel für Höhlenkunde schließlich 1929 gelang, ist als Ergebnis einer modifizierten Ressourcenkonstellation zu werten. Einflussreiche Vertreter des Felds hatten in mehreren Ministerien höhere Beamtenposten inne, die Schaffung nationaler speläologischer Institute im Ausland wie in Italien, Frankreich und Rumänien war bereits erfolgt oder stand unmittelbar bevor und letztlich hatte vor allem das gut ausgestattete Speläologische Institut am Landwirtschaftsministerium auch die Begehrlichkeiten aka9 Ebd., S. 3. 10 Staatliche Höhlenkommission, Organisationsgrundsätze für die staatliche Höhlenforschung, in: Berichte der staatlichen Höhlenkommission 1 (1920) 1/2, S. 6–13. 11 UAW, PH PA 2398 Kyrle, Georg, 7. 12. 1916–16. 7. 1937 (Akt), Kommissionsbericht über den Antrag, Dr. Georg Kyrle zum ao. Professor für Höhlenkunde zu ernennen (Manuskript), 22. 2. 1928, 4 S.

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demischer Kreise geweckt. Im Kommissionsbericht der Philosophischen Fakultät wurde die Ausrichtung des Nominalfachs »Höhlenkunde« mit anderen Forschungsfeldern verglichen: »In methodischer Hinsicht besitzt die Höhlenkunde eine Verwandtschaft mit der Geographie, […] Meereskunde, Bibliotheks- und Zeitungswissenschaft. […] Es müsse dabei besonders berücksichtigt werden, daß sich weite Kreise in Österreich für die Höhlenforschung interessieren. Diese Kräfte organisiert und der Wissenschaft nutzbar gemacht zu haben, […] ist eben der Verdienst Kyrles.«12

Die abschließende Entscheidung für die deutsche Bezeichnung »Höhlenkunde« (statt »Speläologie«) wurde vom Professorenkollegium sprachpolitisch begründet. In der Rigorosenordnung wurde allerdings festgehalten, dass die »Höhlenkunde ein gemeinsames Arbeitsgebiet verschiedener Disziplinen darstelle« und die Betreuung und Abnahme von Dissertationen im Feld der Höhlenkunde nicht vorrangig der neu geschaffenen Professur obliegen, sondern zugleich dem »Fache zuzuweisen sind, dem der Gegenstand gehört.«13 Bei der 1931 erfolgten Eingliederung des Speläologischen Instituts in die Universität Wien schlug sich die innere Differenzierung des Felds auch in administrativen Grenzziehungen nieder. So unterstand das Institut nunmehr dem Landwirtschafts- und dem Unterrichtsministerium zugleich, war jedoch in Fragen der akademischen Lehre direkt dem Dekanat der Philosophischen Fakultät unterstellt. Dass die Lehrkanzel für Speläologie schließlich 1938 – ein Jahr nach dem Tod des Inhabers – aufgelöst und das Inventar des Instituts nach München verbracht wurde, um dort den Grundstock für die neu gegründete Forschungsstätte für Karst- und Höhlenkunde im SS Ahnenerbe zu bilden, ist ebenfalls als Ergebnis einer gewandelten Ressourcenkonstellation zu werten, dessen Erforschung noch aussteht.

12 OeStA (Österreichisches Staatsarchiv)/AVA Unterricht UM allg. Akten 900, Universität Wien, Philosophie: Höhlenkunde (Signatur 4G, Fasz. 863), Schreiben des Dekanats der philosophischen Fakultät an das Unterrichtsministerium betreffend Rigorosenordnung (Manuskript), 19. 1. 1931, 2 S. 13 UAW 1916–37, 4 S.

Brooke Penaloza Patzak

Die Emergency Society for German and Austrian Science and Art, 1920–1927. Eine Einführung in eine beinahe unbekannte Hilfsorganisation und der Mehrwert ihrer Erforschung

Auf Einladung des Anthropologen Franz Boas kam im Frühling 1920 eine Gruppe prominenter Deutsch-Amerikaner aus den Bereichen Wissenschaft, Finanzwesen und öffentlicher Wohlfahrt zusammen, um die Emergency Society for German and Austrian Science and Art (ESGASA) ins Leben zu rufen. Anhand von Archivmaterialien präsentiert dieser Artikel eine Skizze von dieser nach wie vor nur wenig bekannten Hilfsorganisation. In spring of 1920, a group of prominent German Americans with involvements spanning the sciences, finance, and public welfare met at the invitation of anthropologist Franz Boas to bring to life the Emergency Society for German and Austrian Science and Art (ESGASA). Based on archival documents this research presents an intimate sketch of this little-known aid organization.

Der Historiker Mitchell Ash hat einen Richtungswechsel in der Wissenschaftsgeschichte mitgestaltet, der zur Anerkennung von Wissenschaft und Politik als symbiotische Handlungsfelder führte.1 Mit Werken zur Verflechtung von Politik, Wissenschaftsemigration und Wissenschaft regte er ein Verständnis von Migration und wissenschaftlichem Wandel als kulturell und historisch bedingte Prozesse an, deren Bearbeitung sowohl die entsendende als auch die aufnehmende Perspektive umfassen sollte.2 Daraus erwächst ein Bewusstsein für das 1 Dieser Beitrag ist Mitchell Ash gewidmet, der mich bei der Arbeit an meiner Dissertation mit seiner intellektuellen Gewandtheit und Großzügigkeit betreute. Meine Forschungsarbeit erhielt Unterstützung von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und dem Botstiber Institute for Austrian-American Studies. Mein aufrichtiger Dank gebührt Charles Greifenstein von der American Philosophical Society (APS) und Kate Adler, die mir Zugang zu Jahresberichten und Archivmaterial gewährten; Barbara Louis für die gewandte Übersetzung; der Arbeitsgruppe für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Wien für entscheidende Vorschläge und den Herausgebern für die Gelegenheit, zu diesem Band beizutragen. 2 Siehe z. B. Mitchell G. Ash/Alfons Söllner (Hg.), Forced Migration and Scientific Change: Emigr8 German-Speaking Scientists after 1933, Cambridge 1996; Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten, Wiesbaden 2002, S. 32–51; ders., Wissenschaft und Politik. Eine Bezie-

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Potenzial einzelner Migranten oder migrantischer Netzwerke, als Akteure in der Zirkulation von Wissen zu wirken, ebenso für die Wirkmächtigkeit von Interaktionen zwischen Wissenschaftlern und Philanthropie und für den Einfluss von Ressourcenbeschaffung auf wissenschaftliche Agenden. Jedoch verlangt dieses Forschungsfeld nach Erweiterung in eine maßgebliche Richtung, nämlich die Nutzbarmachung von Ressourcen oder Arbeitsmaterial als Träger von wissenschaftlichen Austauschprozessen. Die Emergency Society for German and Austrian Science – oder ESGASA – wurde während des Zerfalls von Weltreichen nach dem Ersten Weltkrieg und inmitten von wirtschaftlichen und politischen Krisen sowie während des Boykotts deutscher Wissenschaft gegründet. Dabei bilden die Themen wissenschaftlicher Wandel, politische Brüche und Migranten als Akteure in multivalenten Austauschprozessen das Herzstück dieser Geschichte. Eine Analyse dieser kurzlebigen Gesellschaft hat das Potenzial, Aufschluss über die Mechanismen wissenschaftlicher Beziehungen der Zwischenkriegszeit sowohl innerhalb als auch zwischen den USA, Deutschland und Österreich zu geben. 1919 sah sich die wissenschaftliche Arbeit in Deutschland und Österreich mit Ressourcenknappheit in jeder Hinsicht konfrontiert. Allein in der Anthropologie und Ethnologie ist zu beobachten, dass Arbeitsbereiche im Museum für Völkerkunde Berlin zeitweilig geschlossen waren, weil die Kohle zum Heizen fehlte; der Betrieb in der unterbesetzten Rudolf-Virchow-Stiftung (einem führenden Forschungsförderer) wurde beinahe ausgesetzt, und die Anthropologische Gesellschaft in Wien berichtete von Papierknappheit und finanzieller Notlage.3 Eine Gruppe bedeutender Deutsch-Amerikaner aus den Bereichen Wissenschaft, Finanzwesen und öffentlicher Wohlfahrt traf sich im Mai 1920 in Lower Manhattan, um diese Turbulenzen zu besprechen. Sie riefen schließlich jene Vereinigung ins Leben, die später als ESGASA bekannt wurde. Trotz der Prominenz der Personen und Organisationen, die an der Beschaffung, Verteilung und am Erhalt von Geldmitteln auf beiden Seiten des Atlantiks beteiligt waren, ist heute wenig über diese Gesellschaft bekannt.4 hungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 11–46; ders., Reflexionen zum Ressourcenansatz, in: Sören Flachowsky/Rüdiger Hachtmann/Florian Schmaltz (Hg.), Ressourcenmobilisierung und Forschungspraxis im NS-Herrschaftssystem, Göttingen 2016, S. 535–553. 3 Siehe z. B. Andrew Evans, Anthropology at War. World War I and the Science of Race in Germany, Chicago 2010, S. 192–199. 4 Die Verfasserin wird sich damit ausführlich in einem neuen Projekt Science Showing the Way : The Emergency Society for German and Austrian Science and Art, 1920–1927 befassen. Für Hinweise auf die ESGASA siehe Alexa Geisthövel, Intelligenz und Rasse: Franz Boas’ psychologischer Antirassismus zwischen Amerika und Deutschland, 1920–1942, Bielefeld 2013, S. 114; Christian Fleck, A Transatlantic History of the Social Sciences, London 2011, S. 82–83; Silke Fengler/Günther Luxbacher, »Aufrechterhaltung der gemeinsamen Kultur.« Die Deut-

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Ihr Gründer und Präsident Franz Boas sah die Gesellschaft als zeitlich befristete Vereinigung nordamerikanischer Initiativen, um die Wissenschaften in Europa zu unterstützen. Die Maßnahmen erwuchsen jedoch aus der Nachkriegsarbeit der Germanistic Society of America und konzentrierten sich bald auf Deutschland und Österreich. Boas, der in der Entwicklung der modernen amerikanischen Anthropologie eine zentrale Rolle spielte, wurde 1858 in Minden, Westfalen geboren und erhielt seine prägende Ethnologie-Ausbildung im Königlichen Museum in Berlin, bevor er in die USA emigrierte. Während seiner gesamten Karriere hielt er die Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen aufrecht.5 Er und drei andere Funktionsträger, darunter der Bankier und Philanthrop James Speyer als Schatzmeister, übten ihre Funktionen über die gesamte Lebensdauer der Gesellschaft hinweg aus. Auf seinem Höhepunkt im Jahr 1923 hatte sich der Vorstand von ursprünglich acht Mitgliedern auf 21 erweitert. Die im ersten Jahresbericht der Gesellschaft geschilderte Notsituation betraf die zunehmende intellektuelle Isolation Deutschlands und Österreichs, die aus mangelndem Zugang zu Arbeitsmaterialien und ausländischen Publikationen erwuchs und sich durch rapide ansteigende Druckkosten verschärfte, wobei Letztere zur Auflösung sogar von etablierten Zeitschriften führten. Infolgedessen wurden »Männer, die vom Verlangen nach Wahrheit verzehrt, bereitwillig Hunger und Mangel erdulden, wenn sie sich nur ihrer intellektuellen Arbeit hingeben könnten […] ihrer ureigensten Werkzeuge beraubt.« Entschlossen, zumindest ein Mindestmaß an Kontinuität inmitten politischer und wirtschaftlicher Turbulenzen wiederherzustellen, bestand der Ansatz der ESGASA darin, die noch erhaltenen wissenschaftlichen Strukturen zu stärken, Netzwerke für den internationalen Austausch von Publikationen wieder aufzubauen und neues Geld in Umlauf zu bringen. Die Gesellschaft lehnte Almosen ab und beharrte darauf, dass es den Nationen »ermöglicht werden muss, die Arbeit wieder aufzunehmen, und nur die Wissenschaft kann den Weg weisen.« Zugleich warnte sie davor, dass »ein chaotisches Deutschland oder Österreich den Rest der Welt mit sich in den Ruin ziehen werde«, wenn keine Hilfe zur Verfügung gestellt werden sollte. Die frühen Maßnahmen konzentrierten sich auf die Finanzierung

sche Forschungsgemeinschaft und die Österreichisch-Deutsche Wissenschaftshilfe in der Zwischenkriegszeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011), S. 303–328; Bernd Weiler, Die Ordnung des Fortschritts, Bielefeld 2006, S. 397; und George W. Stocking, The Ethnographer’s Magic and Other Essays in the History of Anthropology, Madison 1992, S. 106. 5 In ihrem Projekt Guiding the Transmission of Knowledge: The Transatlantic Mobilization of People and Things in the Development of US Anthropology, 1883–1933 beschäftigt sich die Verfasserin dieses Beitrags mit dem Einfluss von Boas’ langfristigen intellektuellen und materiellen Austauschprozessen mit deutschen und österreichischen Kolleg/inn/en auf die Entwicklung der Anthropologie (phil. Diss. Universität Wien, voraussichtlich Herbst 2018).

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von Publikationen, die Erhöhung von Gehältern und das Werben um Mitgliedschaften für europäische Gesellschaften, die in Gold bezahlt werden sollten.6 Für die ersten Hilfeleistungen der ESGASA wurden Berlin, München und Wien ausgewählt. Boas, der über die Nichtvereinigung Deutschlands und Österreichs klagte und eine Bevorzugung eines der beiden Länder unbedingt vermeiden wollte, warb um Berater aus beiden Ländern.7 Aus Deutschland, wo die ESGASA-Mitglieder sowohl beruflich als auch sonst tief verwurzelt waren, kamen umfassende Information, aus Österreich allerdings weniger. Die Korrespondenten aus Deutschland zeigten sich über die distanzierte Haltung ihrer französischen und britischen Kollegen beunruhigt. Ebenso bemängelten sie, dass nur wenige Nationen bereit waren, den Austausch von Publikationen wie in der Vorkriegszeit wieder aufzunehmen, was die Anschaffung von ausländischen Veröffentlichungen wirtschaftlich möglich gemacht hätte.8 Im Spätfrühling 1920 schließlich erhielt Boas Antwort von einer Gruppe, die sich selbst als Repräsentanten der »gelehrten Kreise Österreichs« bezeichnete. Darunter war auch der Botaniker und Vizepräsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Richard Wettstein, der als Vorsitzender der Österreichisch-deutschen Arbeitsgemeinschaft einer Union zwischen Österreich und Deutschland ebenfalls wohlwollend gegenüberstand. Diese Gruppe war sehr an einer Kooperation mit der ESGASA interessiert. Ihrer Aussage zufolge sei die Wiederaufnahme der internationalen Beziehungen für die österreichischen Wissenschaftler äußerst erstrebenswert und der Zusammenbruch der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und des Schriftenaustauschs als »eine der schmerzlichsten Folgen« des Krieges für die akademische Welt zu werten. Solche Stimmen waren auch aus Berlin zu hören.9 Ende 1920 wurden Wettstein, nunmehr Präsident der kurz zuvor eingerichteten Notgemeinschaft der deutsch-österreichischen Wissenschaft (NDÖW), und Friedrich Schmidt-Ott, Präsident der ebenfalls neuen Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (NGDW), in den Beirat für Internationales und Auszahlungen (foreign advisory and disbursement board) der ESGASA berufen.10 In

6 ESGASA Annual Report (ESGASA AR), 1921, S. 2–3. 7 Boas/Schmidt-Ott, 27. 10. 1920, ESGASA B2, #4, F5, APS. Eine Union als wünschenswertes Ziel wurde im wissenschaftlichen Kontext noch kaum untersucht; viele der an der ESGASA Beteiligten teilten jedoch diese Ansicht. 8 Luschan/Boas, 1. 1. 1920; Penck/Boas, 6. 1. 1920, beide R. 20, APS. 9 Gelehrte Österreichs/Boas, 4. 5. 1920, BC B61; vgl. Penck/Boas, 6. 1. 1920, R. 20, beide APS. 10 ESGASA AR, 1921, S. 6. Die Gründung der NDÖW im Jahr 1920 (in einigen ESGASA-Jahresberichten als Notgemeinschaft der österreichischen Wissenschaft angeführt, nicht zu verwechseln mit der Österreichisch-deutschen Wissenschaftshilfe, gegründet 1929) wurde bisher noch nicht untersucht. Zur NGDW siehe Erwin Janchen, Richard Wettstein: Sein Leben und Wirken, Wien 1933, S. 98–100; und Fengler/Günther 2011, S. 303–328. Siehe

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der Annahme, dass die Mittelbeschaffung für konkrete Fälle leichter zu realisieren sei als für die Wissenschaft allgemein, startete Boas eine Kampagne, um Beiträge von und für Spezialisten in bestimmten Bereichen zu sammeln. Dies erwies sich als einigermaßen erfolgreich, jedoch wird aus der Äußerung des Botanikers Robert Almer Harper, dass »wir nicht um den Gedanken umhin kommen, dass sie selbst diese Probleme geschaffen haben«, ein weitverbreiteter Hinderungsgrund für die Aufbringung von Mitteln deutlich, der sonst nicht so explizit ausgesprochen wurde.11 Von Boas kam dazu eine pointierte Bemerkung im Zusammenhang mit der Knox-Porter-Resolution vom Juli 1921 zur Beendigung der amerikanischen Beteiligung am Ersten Weltkrieg. Er schrieb, dass sich die Deutschen zwar nicht viel davon erwarteten, aber die Resolution zumindest die ESGASA-Beiträge von deutsch-amerikanischen Geschäftsleuten ankurbeln würde.12 1923 verlagerte die ESGASA ihre Aktivitäten vom Publikationsaustausch auf die finanzielle Unterstützung von »reiner« Wissenschaft, wie sie es nannte, außerdem von Geisteswissenschaften und einem Stipendienprogramm. Die Leitung der ESGASA zeigte sich überzeugt, dass ihre Mission eine Angelegenheit von wachsendem internationalem Interesse war, wobei sie auf die jüngsten Appelle des League of Nations International Committee on Intellectual Cooperation (ICIC) zugunsten Österreichs verwies. Obwohl ihr Optimismus gerechtfertigt war, gab es dabei Grenzen, wie die offensichtliche Nichtberücksichtigung Deutschlands durch die ICIC veranschaulicht, das nach wie vor als Aggressor im Ersten Weltkrieg wahrgenommen wurde und vom Völkerbund seit dessen Gründung im Jänner 1920 ausgeschlossen war.13 Die Antwort der ESGASA auf diese Ausklammerung war vorsichtig und doch zuversichtlich, ebenso wie Boas’ persönliche Überzeugung, dass »sofern nicht wieder etwas unternommen wird, das Widerstand hervorruft, die Wissenschaftswelt […] vollständig einlenken wird.«14 Sein Zorn war einem Brief an den ICIC-Vorsitzenden Henri Bergson vorbehalten: Wenn das Komitee die »Anti-Mittelmächte-Stimmung«, die den International Research Council (IRC) als neu gegründeten Dachverband der

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weiters Ulrich Marsch, Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Gründung und frühe Geschichte 1920–1925, Frankfurt a. M. 1994. Harper/Boas, 24. 3. 1921, R. 23, APS. Boas addendum, 3. 7. 1921, ESGASA B1, #3, F1, APS. ESGASA AR, 1923, S. 3; ICIC circular, 11. 11. 1922, R. 23, APS; League of Nations pamphlet, Nov. 11, 1922, R. 23, APS. In einem vertraulichen Brief an Karl Kerkhof verzögerte Boas die Veröffentlichung von Der Krieg gegen die deutsche Wissenschaft (Wittenberg 1922) mit dem Argument, dass »die Angelegenheit in ein paar Jahren wieder aufgegriffen werden sollte […] zum jetzigen Zeitpunkt […] wäre es besser, die Frage gänzlich ruhen zu lassen,« Boas/Kerkhof, 15. 11. 1922, R. 23, APS.

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Wissenschaftsakademien antreibt, überwinden könnte, »werden demütigende Almosen nicht mehr notwendig sein.«15 Die letzten Jahre der ESGASA sind nur spärlich dokumentiert. Die Zahl der Mitglieder erreichte 1923 mit 1.570 Personen ihren Höhepunkt. In diesem Jahr reduzierte die Gesellschaft ihre Förderung an die medizinischen Wissenschaften, die nach Ansicht des Direktoriums ohnehin von der Rockefeller Foundation großzügige Unterstützung erfuhren, und förderte mit der Zurverfügungstellung von Lehrmaterialien stattdessen die Kooperation mit der German-American School Association, die dadurch den Dialog zwischen Lehrern im ländlichen Raum und ihren Kollegen in den Städten aufrechterhalten sollte.16 1924 wurde die Reichsmark eingeführt. Deutschland akzeptierte den Dawes-Plan und der Schilling ersetzte die Österreichische Krone. Die Auszahlungen der ESGASA erreichten 1925 ihren Höhepunkt. Als Reaktion auf US Pressemeldungen über zunehmende Stabilität argumentierte die ESAGA, dass »solche Fortschritte, wenn sie denn existieren, sich nicht unmittelbar auf die schwerwiegende Situation von Wissenschaftlern und Künstlern auswirken«, und dass deutsche und österreichische Institutionen erst jetzt die langfristigen Konsequenzen der verlorenen Investitionen zu spüren beginnen würden, die sie während der Vorkriegsjahre abgesichert hätten.17 Die einstimmige Entscheidung von Völkerbund und IRC im 1926 Deutschland aufzunehmen, was sich auf der wissenschaftlichen Ebene durch die Aufhebung der Ausschlussklausel bezüglich Deutschland im IRC widerspiegelte, markierte zwar eine Wende in den internationalen Beziehungen, aber der Routinebetrieb blieb nach wie vor prekär und die Empfänger von ESGASA-Hilfeleistungen fürchteten um ihre Unterstützung. Als die Beiträge und Mitgliedschaften 1926 stark zurückgingen, war die Gesellschaft gezwungen, ihre Auszahlungen zu reduzieren. Die Nachricht, dass sich die Beiträge soweit verringert hätten, dass die Gesellschaft ihre Arbeit womöglich ganz aufgeben müsste, trug zudem zur wachsenden Beunruhigung bei.18 Insgesamt zahlte die ESGASA mehr als 100.000 Dollar an über 200 Empfänger. Mit Ausnahme des letzten Jahres ging der Großteil des Geldes an Deutschland, was angesichts der Verbindungen des Landes mit dem Direktorium der Gesellschaft kaum überrascht. Die Gesamtheit der einzelnen Zahlungen eröffnet faszinierende Einblicke in die sich wandelnden Interessen und Agenden, die auf beiden Seiten des Atlantiks aber auch transatlantisch verhandelt wurden und die Wissenschaftslandschaft der Zwischenkriegszeit formten. Während Boas’ so15 16 17 18

Boas/Bergson, 8. 12. 1922, R. 23, APS. ESGASA AR, 1924, S. 3–6. ESGASA AR, 1926, S. 3. Boas/Pior, 4. 8. 1926, Allgemein Akten »Eisenkiste« (AAE), 13. 10-7 (ehm. 13. 20); Pior/Boas, 28. 8. 1926, AAE, 13. 10-6 (ehm. 13. 19), Naturhistorisches Museum, Wien, Archiv für Wissenschaftsgeschichte.

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ziale und politische Aktivitäten in den USA, insbesondere in Bezug auf Menschenrechte und intellektuelle Freiheit, wohlbekannt sind, wissen wir sehr wenig darüber, inwieweit sich dieser Aktivismus auf sein Herkunftsland erstreckte. Die Bemühungen der in Zeiten extremer wissenschaftlicher und politischer Zersplitterung gegründeten ESGASA um die Wiederherstellung und Förderung wissenschaftlicher Kontinuität ging zumindest in einigen prominenten Fällen mit der Befürwortung einer deutsch-österreichischen Union einher. Somit dient die ESAGA als vielversprechendes Modell für eine Untersuchung der Rolle von Netzwerken aus Migranten und Einheimischen in der Mobilisierung von wissenschaftlichen Ressourcen, aber auch für das Potenzial solcher Vereinigungen, bestimmte wissenschaftliche oder politische Agenden voranzutreiben. Auf gewisse Konstellationen zu fokussieren verspricht sogar noch mehr : So hat es etwa den Anschein, dass die Beziehungen mit Wettstein mit der konkreten Absicht gepflegt wurden, die Hilfsleistungen auf Österreich auszudehnen. Dies bietet die einzigartige Gelegenheit, die Mechanismen der Änderung von wissenschaftlichen Kooperationen und den Einfluss einer Person auf die Ressourcenverteilung zu untersuchen. Bezüglich der bisher noch nicht aufgearbeiteten Rolle Wettsteins in der Wissenschaftsförderung der Zwischenkriegszeit bleibt noch viel zu tun. Jahresberichte und Korrespondenzen belegen seine Schlüsselrolle in der Mittelvergabe und ermöglichen, die Reaktionen der ESGASA auf einzelne Anfragen einzuschätzen. 1922 und 1923 wurden zum Beispiel Förderungen aufgrund von Wettsteins Empfehlungen nahezu verdoppelt. Es steht außer Frage, dass die großzügigen Zahlungen an die Österreichische Botanische Zeitschrift, die Zoologisch-Botanische Gesellschaft und an die Biologische Versuchsanstalt Wien mit seinen langfristigen Verbindungen zu ebendiesen zu tun hatten.19 Die Sorgen um die Zukunft der ESGASA gegen Ende 1926 waren durchaus gerechtfertigt. Für 1927 liegt keine Mitgliederliste vor, und die Auszahlungen überstiegen die Einnahmen bei weitem. Das Direktorium war weder bereit, das Projekt aufzugeben, noch davon überzeugt, dass die Krise überstanden war. Aber die allgemeinen Geschäftskosten und die schwindenden Einnahmen brachten es dazu, »schweren Herzens […] aufgrund mangelnder Unterstützung 19 Zur Biologischen Versuchsanstalt, die von allen Empfängern in Österreich die meisten Gelder erhielt, siehe Wolfgang Reiter, Zerstört und vergessen: Die Biologische Versuchsanstalt und ihre Wissenschaftler/innen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (1999), S. 585–614; Johannes Feichtinger/Stefan Sienell/Klaus Taschwer/Heidemarie Uhl, Experimentalbiologie im Wiener Prater: Zur Geschichte der Biologischen Versuchsanstalt 1902–1945, Wien 2016; Johannes Feichtinger, The Biologische Versuchsanstalt in Historical Context, in: Gerd B. Müller (Hg.), Vivarium. Experimental, Quantitative, and Theoretical Biology at Vienna’s Biologische Versuchsanstalt (MIT Press Vienna Series in Theoretical Biology), Cambridge MA 2017, S. 53–73.

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die Einstellung der Aktivitäten zu empfehlen.«20 Im Februar 1927 lösten Boas, Speyer und der Korrespondenzsekretär Frederick Heuser die ESGASA auf und übergaben die verbleibenden Mittel an Wettstein und Schmidt-Ott.21 Die ESGASAverschmolz wieder mit der nach wie vor bestehenden Germanistic Society, und potenzielle Unterstützer wurden angewiesen, ihre Anfragen künftig an eben diese zu richten.22

20 ESGASA AR, 1927, S. 6. 21 Ebd., S. 14. 22 Ebd., S. 6.

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Der Wiener Kreis und die Universität Wien revisited. Skizzen zu einer Neuinterpretation des philosophischen Denkkollektivs als kleiner Versuch in politischer Epistemologie

In der bisherigen Literatur über die Geschichte des Wiener Kreises fehlt bislang eine adäquate Berücksichtigung seines unmittelbaren Umfelds an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. Dank neuer Erkenntnisse über die skandalösen Zustände, die dort in den 1920er Jahren herrschten, erscheint sowohl die Formierung des Denkkollektivs wie auch dessen Denkstil in einem andern Licht: nämlich als Reaktion auf die ideologisch motivierten Machenschaften der mehrheitlich antisemitischen Professoren aus den Geisteswissenschaften. Previous literature on the history of the Vienna Circle so far has lacked adequate consideration of its immediate environment at the Philosophical Faculty of the University of Vienna. Thanks to new insights into the scandalous conditions that prevailed there in the 1920s, both the formation of the thought collective and its thought style appear in a different light: namely as a reaction to the ideologically motivated machinations of the majority of anti-Semitic professors from the humanities.

Ein kurzer Briefwechsel statt einer Einleitung Im Herbst 1933 schickte der polnische Bakteriologe Ludwik Fleck ein Buchmanuskript an den Philosophen Moritz Schlick und bat den Ordinarius an der Universität Wien, bei der Publikation seiner Studie behilflich sein.1 Die Antwort geriet zur höflichen Abfuhr, und Schlick ersparte sich eine ausführliche Begründung, denn dafür würde er »sehr viel Zeit und Raum gebrauchen«.2 Warum 1 Abgedruckt in Ludwik Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse herausgegeben von Sylwia Werner und Claus Zittel, Berlin 2011, S. 561–563. Der Brief an Schlick findet sich erstmals in Auszügen wiedergegeben in: Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt a. M. 1997, S. 59, Fn. 54. Ich halte mich bei der Interpretation dieses Briefwechsels an Michael Hagner, Wie Stimmungen auf die Dynamik der Erkenntnis wirken. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 10. 2011, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/ sachbuch/ludwik-fleck-denkstile-und-tatsachen-wie-stimmungen-auf-die-dynamik-der-er kenntnis-wirken-11487729.html (abgerufen am 1. 2. 2018). 2 Ebd., S. 563.

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Schlick so wenig mit Flecks Arbeit anfangen konnte, ist leicht nachzuvollziehen: Es handelte es sich – in den Worten Flecks – um die Inkommensurabilität zweier Denkstile. Zum einen befasste sich Schlick so wie die meisten seiner Wiener Kolleg/inn/en vor allem mit der Physik, an der sich auch ihre wissenschaftliche Weltauffassung orientierte, während der Mediziner Fleck die Lebenswissenschaften zum Thema seiner Erörterungen machte. Zum anderen suchte der Wissenschaftsphilosoph, wie die meisten anderen Denker/innen in seinem Umfeld, nach überhistorischen Kriterien wissenschaftlicher Erkenntnis. Fleck hingegen betonte die Abhängigkeit wissenschaftlicher Fakten vom historischen Kontext und wies an konkreten Fallstudien die soziale, kulturelle und psychologische Bedingtheit dieser Tatsachen nach. Dieses Spannungsverhältnis zwischen einer Wissenschaftstheorie, die auf normative Prinzipien der Erkenntnisentstehung abzielt, und den Fallstudien von soziologisch und kulturhistorisch geschulten Wissenschaftshistoriker/inne/n besteht bis heute. Die Bedeutung der beiden Ansätze hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aber stark verschoben: Flecks Buch, das unter dem Titel Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache 1935 in Basel erschien, fand zwar bis zu der von Thomas S. Kuhn mit verursachten Wiederentdeckung Anfang der 1960er Jahre nur relativ wenige Leser/innen.3 Doch seitdem wurde Fleck vom lange verkannten Außenseiter zu einem der meistzitierten Wissenschaftsforscher der Gegenwart, während Schlick und der Wiener Kreis eher nur mehr als philosophiehistorisches Forschungsobjekt interessant erscheinen. Aus der Perspektive einer an Fleck geschulten Wissenschaftsgeschichte nehmen sich die bisherigen philosophiehistorischen Annäherungen freilich eher bescheiden aus, zumal diese oft genug in einem Circulus vitiosus gefangen sind: Der Wiener Kreis lässt sich nun einmal schlecht mit den Konzepten des Wiener Kreises und in Affirmation seiner Anliegen kritisch erforschen.

Soziologische Geschichten der Philosophie Doch lässt sich Flecks wissenschaftssoziologisches Instrumentarium, das an den historischen Lebenswissenschaften geformt wurde, überhaupt auf ein Denkkollektiv im Bereich der Philosophie anwenden? Oder unterliegt die philosophische Erkenntnisproduktion einer anderen Eigendynamik als die der Lebenswissenschaften? Letzteres legt die ambitionierteste soziologische Studie zur Geschichte der Philosophie nahe: Randall Collins’ über 1000-seitige Studie The 3 Zur komparativen Einschätzung von Kuhn und Fleck durch Mitchell G. Ash, vgl. Klaus Taschwer, Von wissenschaftlichen Paradigmen und ihrem Wechsel, in: Der Standard, 25. 4. 2012, S. 14.

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Sociology of Philosophies, die 2002 mit dem Ludwik Fleck Prize der Society for Social Studies of Science ausgezeichnet wurde.4 In seinem Überblick über mehr als 2000 Jahre Philosophiegeschichte kommt der US-Soziologe zum Schluss, dass die entscheidenden Katalysatoren philosophischer Erkenntnisproduktion Auseinandersetzungen zwischen den Fachvertreter/inne/n seien. Neues entstehe laut dem auf Konflikten spezialisierten Soziologen Collins in der Philosophie vor allem aus der Kritik anderer philosophischer Ansätze. Entsprechend legt er seinen methodischen Fokus auf die konkreten Kontexte, in denen diese Gedanken geformt werden: auf intellektuelle Netzwerke, auf deren Verbündete und deren Gegner. Collins geht auch kurz auf den Wiener Kreis ein, das entsprechende Unterkapitel heißt denn auch The Vienna Circle as a Nexus of Struggles.5 Was er da in aller Kürze rekonstruiert, ist eine hilfreiche Verortung der Wiener-Kreis-Repräsentanten im Kontext der damaligen deutschsprachigen Universitätsphilosophie, wo sie sich insbesondere von den verschiedenen Spielarten des Neokantianismus und der Phänomenologie abgrenzten. Diese etwas schematisch geratene Darstellung hat einiges für sich, wählt den Fokus aber zu ›philosophisch‹ und räumlich zu weit. Die Formierung des Denkkollektivs wie auch dessen inhaltliche Positionen sind, so lautet hier die These, sehr viel besser zu verstehen, wenn bei den historischen Rekonstruktionen das Augenmerk auf einen engeren Kontext gelegt wird: nämlich das unmittelbare akademische Umfeld an der Universität Wien. Dank rezenter Erkenntnisse über die Zustände an der Philosophischen Fakultät in den 1920er Jahren6 wird nicht nur das Schicksal des Wiener Kreises in den 1930er Jahren verständlicher, wie auch schon zuvor behauptet wurde.7 Die neueren Recherchen legen vielmehr nahe, dass der Denkerzirkel selbst schon eine Reaktion auf die universitären Zustände darstellt. Erste Ansätze für solche Studien – wie Günther Sandners Projekt über die »Politik des Logischen Empirismus«8 oder die Arbeiten von Denis Fisette – liegen bereits vor. Fisette etwa hat die Gründung des Vereins Ernst Mach, mit der 1928 die öffentliche Phase des Wiener Kreises begann, mit konkreten Veränderungen bei der Philosophischen Gesellschaft der Universität Wien in Verbindung gebracht.9 Dieser traditionsreichste Diskussionszirkel der Philosophischen Fa4 Randall Collins, The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change, Cambridge/London 1998. 5 Ebd., S. 720–730. 6 Vgl. u. a. Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, insbesondere S. 99–134. 7 Vgl. Stadler 1997, S. 557–619. 8 http://homepage.univie.ac.at/guenther.sandner/?q=node/315 (abgerufen am 1. 2. 2018). 9 Denis Fisette, Austrian Philosophy and its Institutions: Remarks on the Philosophical Society

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kultät, der seit seiner Gründung 1886 ein wichtiges öffentliches Forum für philosophische wie auch natur- und geisteswissenschaftliche Debatten bot, wurde unter ihrem Obmann Robert Reininger im November 1927 in die Kant-Gesellschaft eingemeindet und degradierte sich dort selbst zu deren Ortgruppe Wien. Für die durchwegs Kant-kritischen Repräsentanten des Wiener Kreises, die in den Jahren zuvor im Rahmen der Philosophischen Gesellschaft zahlreiche Vorträge gehalten hatten, musste das einem Affront gleichkommen. Also schuf man sich mit dem Verein Ernst Mach, so die nachvollziehbare Argumentation Fisettes, eine eigene öffentliche Plattform.10 Entsprechende Passagen der 1929 erschienenen Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis stützen diese Interpretation.

Lokale Kontexte der Formierung Der inoffizielle Beginn der philosophischen Diskussionsrunden, die dann allmählich zum Wiener Kreis wurden, fand freilich bereits im Herbst 1924 statt. Und auch dieser Zeitpunkt der ersten Zusammentreffen wie die dabei verhandelten Themen erscheinen in einem völlig neuen Licht, wenn man einige bislang übersehene Ereignisse an der Universität Wien und an der Philosophischen Fakultät in den Blick nimmt: Über das Wesen von Wissenschaft nachzudenken, sich philosophisch an den Naturwissenschaften zu orientieren, gegen Metaphysik zu argumentieren, lag – so lautet hier die These – gleichsam in der Luft. Auch in dieser Konstituierungsphase des Wiener Kreises kam Robert Reininger eine wichtige Rolle zu, der 1922 zum Ordinarius für die Geschichte der Philosophie ernannt wurde. Im Kommissionsbericht heißt es über Reininger unter anderem prophetisch: »Er kommt von Kant, schien dabei zunächst positivistischer Wendung geneigt, aber er geht immer weiter über Kant hinaus und von Kant hinweg, vermutlich idealistischer Metaphysik entgegen.«11 Praktisch zeitgleich übernahm Reininger auch die Leitung der Philosophischen Gesellschaft vom Philosophen und Pädagogen Alois Höfler, der im Februar 1922 starb und in der Programmschrift des Wiener Kreises explizit gewürdigt wurde. Unter Reiningers Ägide bot die Philosophische Gesellschaft immer weniger Raum für Diskussionen und driftete in Richtung Geisteswisof Vienna (1888–1938), in: Anne Reboul (Hg.), Mind, Values, and Metaphysics. Philosophical Essays in Honour of Kevin Mulligan. Bd. 1, Cham et al. 2014, S. 349–374. 10 Ebd., S. 365. 11 Zitiert nach Hans-Joachim Dahms, Der Neubeginn der Wiener Philosophie im Jahre 1922. Die Berufungen von Schlick, Bühler und Reininger, in: Janette Friedrich (Hg.), Karl Bühlers ›Krise der Psychologie‹. Positionen, Bezüge und Kontroversen im Wien der 1920er/30er Jahre, Heidelberg et al. 2018, S. 3–32, S. 24.

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senschaften und eben auch Metaphysik ab – quasi mit dem Höhepunkt der Eingliederung in die Kant-Gesellschaft im Jahr 1927. Hatte Otto Neurath, ein späteres Mitglied des Wiener Kreises, vor 1922 noch Referate in diesem Forum gehalten, so war es damit unter Reininger vorbei. Doch es gab an der Universität Wien in der ersten Hälfte der 1920er Jahre noch zahlreiche weitere Vorfälle und missliche Entwicklungen, die bei fortschrittlichen Studierenden und Lehrenden für Diskussionsstoff sorgten. Eine frühe Thematisierung dieser Missstände findet sich im Text Die Pflanzstätten der Wissenschaften als Brutstätten der Reaktion des Privatgelehrten Rudolf Goldscheid, der ohne jede universitäre Anbindung wesentliche Beiträge zur Formierung der Soziologie im deutschsprachigen Raum leistete.12 Mit seinem Blick von außen forderte Goldscheid bereits im März 1923 zum Kampf für eine »einheitliche wissenschaftliche Weltauffassung« auf und nahm damit einen Schlüsselbegriff des Wiener Kreises vorweg. Goldscheids Hauptanliegen war es, »die Hochschulen der Macht der Reaktion zu entreißen«, um auf diese Weise »an den Hochschulen der unvoreingenommenen Wissenschaft zur Herrschaft zu verhelfen«13 – auch dies waren, etwas weniger polemisch formuliert, zwei der Kernforderungen des Wiener Kreises. Deren Mitgliedern war der Text mit Sicherheit vertraut: Als sich Professoren der Universität Wien nach dem Wiederabdruck von Goldscheids Polemik in der Zeitschrift Arbeit und Wirtschaft im Februar 1926 so irritiert zeigten, dass sie deshalb die Sommerkurse der Hochschule aussetzen wollten, schaltete sich niemand anderer als Moritz Schlick vermittelnd ein.14 Dabei nahm Goldscheid in seinem Artikel gar nicht einmal auf konkrete Vorfälle Bezug, die diese »Macht der Reaktion« veranschaulicht hätten. Davon gab es freilich genug – um nur drei Beispiele zu geben: Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurden alle Versuche einer Demokratisierung und Öffnung der Universität abgeschmettert, die von linken Universitätslehrern wie Leo Spitzer oder Paul Kammerer vorgeschlagen worden waren. Während unmittelbar nach Kriegsende einzelne linke Wissenschafter (wie etwa der Biologe Kammerer) dabei scheiterten, eine Professur zu erhalten, wurden etliche rechte Denker wie Othmar Spann berufen. Zugleich unterstützten führende Professoren der Universität die radikalen antisemitischen Forderungen der Deutschen Studentenschaft nach einem Numerus Clausus für jüdische Studierende und Lehrende – so auch Rektor Karl Diener Ende 1922 in der Reichspost.

12 Ders., Die Pflanzstätten der Wissenschaften als Brutstätten der Reaktion, in: Die Wage 4 (Nr. 3, 3. März 1923), S. 137–143. 13 Ebd., S. 143. 14 Vgl. Stadler 1997, S. 565.

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Universitätspolitische Skandale 1923/24 Nach der Erstveröffentlichung des prophetischen Texts von Goldscheid Anfang 1923 und unmittelbar vor den ersten Zusammenkünften des Wiener Kreises im Herbst 1924 kam es an der Philosophischen Fakultät zu einer Häufung von besonders drastischen Fällen universitärer Diskriminierung, die auch viel öffentliches Echo fanden. So lehnte das Professorenkollegium der Philosophischen Fakultät Ende 1923 die Habilitation des bestens qualifizierten Physikers Karl Horovitz vor allem deshalb ab, weil er von Professoren des antisemitischen Geheimzirkels Bärenhöhle, der ab 1923 an der Philosophischen Fakultät die Fäden zog, als »Kommunist« und in der nationalsozialistischen Deutsch-Österreichischen Tageszeitung als »Jude« denunziert wurde. Horovitz war im Übrigen Sozialdemokrat und konfessionslos. Zwei weitere Ablehnungen aus dieser Zeit betrafen die sozialdemokratischen Habilitationswerber Sigismund Peller und Maximilian Lambertz. Diese und andere antisemitische bzw. anti-linke Diskriminierungen durch eine mehrheitlich rechtskonservative Professorenschaft nahmen der Historiker Ludo Moritz Hartmann und der Mathematiker Hans Hahn – eines der Gründungsmitglieder des Wiener Kreises – im Frühling 1924 zum Anlass, um im sozialdemokratischen Organ Der Kampf die Lage an der Universität Wien und mögliche Gegenmaßnahmen zu diskutieren. Im Juli 1924 wurden die Skandale dann sogar Gegenstand einer parlamentarischen Anfrage der Sozialdemokraten, die einiges Medienecho fand, aber an der Situation an der Universität, deren Vertreter sich auf die »Autonomie« beriefen, nichts änderte – im Gegenteil. 1924 resignierte noch der von Moritz Schlick unterstützte Philosoph, Historiker und Physiker Edgar Zilsel mit seinen Habilitationsplänen, weil ihm und Schlick klar wurde, dass es dafür in der Professorenschaft keine Mehrheit geben würde.15 Schließlich gab es im Sommer 1924 noch einen weiteren Uni-Skandal, der in Wien nicht nur in der akademischen Welt breit diskutiert wurde und für einiges Aufsehen sorgte: Dem Prähistoriker Josef Bayer, Mitentdecker der Venus von Willendorf, wurde aufgrund einer Intervention deutschnationaler Professoren der Universität Wien im Unterrichtsministeriums die Leitung der ethnographischen Sammlung des Naturhistorischen Museums entzogen. Bayer wandte sich daraufhin im Juli 1924 an Journalisten sämtlicher wichtiger Tageszeitungen Wiens, informierte sie über den Sachverhalt, beklagte einen rein politisch motivierten Eingriff in die Wissenschaft und denunzierte die intervenierenden Professoren ihrerseits als Hakenkreuzler, was von den Zeitungen auch groß

15 Für eine knappe Zusammenfassung dieser Texte, Diskriminierungen und weitere Vorfälle vgl. Taschwer 2015, S. 114–126.

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berichtet wurde.16 (Bayer hielt sich dabei an den Ratschlag Hartmanns, der im Kampf kurz zuvor empfohlen hatte, die Öffentlichkeit zu mobilisieren, um so Missstände an der Universität Wien wirkungsvoller zu bekämpfen.) In all diesen Fällen ging es immer auch um den Streit zwischen Wissenschaft und Ideologie, um weltanschauliche Deutungshoheiten – und meist auch um unausgesprochene strukturelle Konflikte innerhalb der Professorenschaft der Philosophischen Fakultät. Dort hatten die ideologisierenden Geisteswissenschafter traditionell die Mehrheit und nützten diese nun auch, um erstens in die Naturwissenschaften »hineinzuregieren« und zweitens ab 1922/23 ihre Hegemonie durch geisteswissenschaftliche Institutsgründungen und Berufungen »rassisch« und ideologisch genehmer Professoren auszubauen. Dass sich angesichts dieser von der Universitätsgeschichte allzu lange vergessenen und verdrängten Umstände, die sich just im Juli 1924 verdichteten, im folgenden Wintersemester physikalisch und philosophisch interessierte Denker – rund die Hälfte davon jüdischer Herkunft – regelmäßig zu treffen begannen, um über eine Verwissenschaftlichung der Philosophie nachzudenken, sich zu den Werten der Aufklärung zu bekennen, metaphysische Positionen zu kritisieren und um der wissenschaftlichen Weltauffassung zur Durchsetzung zu verhelfen, erscheint in diesem neuen Licht alles andere als ein Zufall. Warum aber haben dann die Vertreter des Wiener Kreises in den bekannten Protokollen und Publikationen auf die konkreten Um- und Zustände der Universität Wien nicht stärker Bezug genommen? Das liegt erstens in der Natur der Sache philosophischer Überlegungen (zumal zu Grundlagenfragen der Wissenschaft), die an sich schon entkontextualisierend sind. Zweitens musste man sich damals aufgrund der Dominanz der rechtskonservativen Professoren davor hüten, mit Kritik zu konkret zu werden: Josef Bayer etwa wurde aufgrund seiner Kritik seitens der Disziplinarkommission der Universität Wien die Lehrberechtigung lebenslang entzogen. Drittens aber erscheinen in diesem Licht einige Passagen in der Programmschrift 1929 – wie etwa die »wissenschaftliche Weltauffassung« mit der begrifflichen Bezugnahme auf Goldscheid – (universitäts-)politisch noch exponierter, als in den meisten bisherigen philosophiehistorischen Deutungen angenommen.

16 Zum Fall Bayer vgl. Kamila Maria Staudigl-Ciechowicz, Das Dienst-, Habilitations- und Disziplinarrecht der Universität Wien 1848–1938. Eine rechtshistorische Untersuchung zur Stellung des wissenschaftlichen Universitätspersonals, Göttingen 2017, S. 763–770.

Akademien

Herbert Matis

Dual Use Research. Kooperationen der k. k. Kriegsmarine und der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien

Am Beispiel von Forschungskooperationen zwischen Militär und Wissenschaft wird demonstriert, dass das sogenannte »dual use«-Prinzip schon im ausgehenden 18. Jhdt. und vor allem im 19. Jhdt. verbreitet war. England ging hier mit seiner Royal Navy voraus, aber auch die Habsburgermonarchie verfolgte ähnliche Doppel-Strategien mit ihrer Kriegsmarine. Die Gewinnung militärisch wichtiger Informationen, wirtschaftliche Interessen, Kolonisierungsbestrebungen und Ausbildungsziele spielten dabei eine Rolle, gleichzeitig sollten aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse auf den Gebieten der Geographie, Astronomie, Ozeanographie, Zoologie, Botanik, Länder- und Völkerkunde gewonnen werden. Die wechselseitige Unterstützung zwischen der k. k. Kriegsmarine und der 1847 gegründeten Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien wird insbesondere anhand der Novara-Expedition beschrieben. Using the example of research co-operations between military and science, this article demonstrates that the so-called »dual use« principle was already applied in the late eighteenth and even more so in the nineteenth century. While England led the way with its Royal Navy, the Habsburg Monarchy pursued similar double strategies with its »Kriegsmarine«. Central to this strategy was the pursuit of crucial military information, economic interests as well as attempts of colonialization and educational goals. At the same time, the gain of scientific knowledge in the fields of geography, astronomy, oceanography, zoology, botany, regional geography and anthropology played a crucial role. By focusing on the Novara expedition in particular, the following article exemplifies the mutual support between the imperial and royal Habsburg navy and the Imperial Academy of Sciences, founded in Vienna in 1847.

Forschungskooperationen zwischen dem militärischen und zivilen Sektor, wie sie heute gerne unter dem Begriff der »dual use research«, also Forschung für einen doppelten Verwendungszweck, gefasst werden, sind keineswegs so neu, wie man annehmen könnte. Heute findet der Begriff lediglich in einem recht eng umschriebenen Sinne Verwendung, etwa um damit Wirtschaftsgüter, Software und Technologien zu beschreiben, die sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dienen. Dabei spielen sich überschneidende Interessenlagen eine entscheidende Rolle: Einerseits versucht das Militär durch eine Einbeziehung der

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zivilen Forschung einen Zugang zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen in relevanten Bereichen zu gewinnen, andererseits versuchen Forscher und Forscherinnen damit eine Verbreiterung ihrer finanziellen Ressourcen und Infrastruktur zu erreichen.1 Der damalige Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Herbert Mang, hat dies 2004 folgendermaßen charakterisiert: »Fraglos steht die Kooperation zwischen Verteidigung und Wissenschaft außerhalb der üblichen Wissenschaftskooperationen. Außer Zweifel steht aber auch, dass damit Freiheitsgrade verfügbar gemacht werden und wurden, welche zusätzliche Möglichkeiten eröffnen, die im üblichen Forschungsrahmen nur mit großem Aufwand oder gar nicht zugänglich sind. Solche Kooperationen […] hat es schon immer gegeben.«2

Diese Motivlage war vielleicht früher nicht so deutlich erkennbar, sie spielt jedoch schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit Forschungsreisen eine Rolle, die von der jeweiligen Marine durchgeführt wurden. Wenn im Folgenden die wechselseitige Unterstützung zwischen der k. k. Kriegsmarine und der 1847 gegründeten Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien insbesondere anhand der Novara-Expedition beschrieben werden soll, so markiert dies einen bestimmten Abschnitt in der internationalen Forschungsstrategie, in dem derartige Kooperationen keineswegs ein Einzelfall waren. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die britische Royal Navy zu verweisen, die schon im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts Schiffe auf Expeditionen aussandte, vor allem um neue nautische und kartographische Erkenntnisse zu gewinnen, eventuelle Handelsbeziehungen anzubahnen, und die Ausbildung von Offizieren und Mannschaft unter realistischen Bedingungen zu verbessern, aber auch zum Zweck des ›Flagge-Zeigens‹ auf den Weltmeeren zu Prestigezwecken. Ein willkommener Nebenzweck war die wissenschaftliche Erkundung von zum Teil erst neu entdeckten Gebieten. Auf diese Weise wurden neben militärisch wichtigen Informationen und Ausbildungszielen auch zahlreiche wissenschaftliche Kenntnisse auf den Gebieten der Geographie, Astronomie, Ozeanographie, Zoologie, Botanik, Länder- und Völkerkunde gewonnen. 1 An der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde z. B. in der Gesamtsitzung vom 4. März 1994 eine eigene Kommission für die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Dienststellen des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Sport gegründet, mit der Zielsetzung, »für Projekte der Grundlagenforschung von Mitgliedern der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, deren Fragestellungen auch für das Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport eine gewisse Relevanz besitzen, die finanzielle Unterstützung des Bundesministeriums zu gewinnen.« 2 Vorwort von Präsident Herbert Mang in: Hans Wallner/Alfred Vogel/Friedrich Firneis, Österreichische Akademie der Wissenschaften und Streitkräfte 1847 bis 2009. Zusammenarbeit im Staatsinteresse, Projektbericht 11, Wien 2009, S. 12.

Kooperationen der k. k. Kriegsmarine und der Kaiserlichen Akademie

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Der bekannteste Entdeckungsreisende war wohl Kapitän James Cook, der bereits auf seiner ersten Weltumseglung 1768–1771 mit der Bark »Endeavour«3 den damals erst 25-jährigen Botaniker Joseph Banks mitgenommen hatte.4 Dieser stammte aus einer begüterten Familie, finanzierte zum Teil die Expedition und wurde durch ein von ihm zusammengestelltes Team junger Naturforscher begleitet. Ursprünglicher Zweck der Reise waren astronomische Beobachtungen im Zusammenhang mit dem Venusdurchgang vom 3. Juni 1769 zur genaueren Messung der Erde-Sonne-Distanz, doch diente die Reise auch dazu, britische Kolonialinteressen in der südlichen Hemisphäre zu begründen. Auf Cooks zweiter Weltumseglung 1772–1775 mit den beiden dreimastigen Bark-Seglern »Resolution« und »Adventure«, die zunächst in den Südatlantik, dann durch den Indischen Ozean und antarktische Gewässer in den Südpazifik und zu den Inseln Polynesiens sowie schließlich um Kap Hoorn herum wieder zurück nach England führte, wurde Cook von dem deutschen Naturforscher Johann Reinhold Forster5 und dessen Sohn Johann Georg Adam Forster6 begleitet. Auf ihrer dreijährigen Reise konnten diese auf Neuseeland, den Tonga-Inseln, Neukaledonien, Tahiti, den Marquesas und der Osterinsel wichtige neue Erkenntnisse in Zoologie, Botanik, vergleichender Länderkunde, Anthropologie und Ethnologie gewinnen, aber auch Besitzansprüche Großbritanniens in diesem Teil der Welt unterstreichen. Diesen Zwecken diente auch die von Ende 1831 bis 1836 dauernde Weltumsegelung der 242 t-Brigg »Beagle« unter dem Kommando von Kapitän Robert Fitzroy, der von der Royal Navy mit nautischen, chronometrischen und kartographischen Vermessungen und Aufnahmen betraut worden war. An dieser Reise nahm auf Empfehlung seines Lehrers, des in Cambridge tätigen Geologen Adam Sedgwick, der bei Reisebeginn erst 22-jährige Charles Robert Darwin teil, der ja in der Geschichte der Naturwissenschaften und darüber hinaus einen besonderen Platz einnimmt, gilt er doch als einer der Begründer der modernen Evolutionstheorie.7 Darwin, der aus einem gut situierten Haus stammte und Enkel des bekannten Naturforschers Erasmus Darwin war, legte mit den auf 3 Als Bark bezeichnete man damals ein zumindest dreimastiges Großsegelschiff mit einer Länge zwischen 35 und 40 Metern, einer Breite von durchschnittlich neun Metern, einem Tiefgang bis vier Metern, und einem Fassungsvolumen bis zu 400 BRT (1.132 m3). Die Besatzung betrug zwischen 70–120 Mann. Bei den Barks der Royal Navy handelte es sich häufig um umgebaute und mit Kanonen und Drehbassen bestückte ehemalige Frachtschiffe. 4 Patrick O’Brien, Joseph Banks. A Life, Chicago 1997, https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_ Banks (abgerufen am 27. 12. 2017). 5 https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Reinhold_Forster (abgerufen am 27. 12. 2017). 6 https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Forster (abgerufen am 27. 12. 2017). 7 Allerdings ist dies nicht ganz zutreffend, denn schon vorher war der Gedanke an eine evolutionäre Entwicklung unter Naturwissenschaftlern durchaus verbreitet, wenn man z. B. an die verbreiteten Vorstellungen von ›Transmutation‹ denkt.

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dieser langen Reise gewonnenen Erkenntnissen den Grundstein seiner späteren naturwissenschaftlichen Karriere. Hingegen konnten jene Naturforscher, die in habsburgischen Diensten bereits im 18. und frühen 19. Jahrhundert Forschungsreisen nach Übersee unternahmen, lange Zeit auf keine Unterstützung durch die kaiserliche Marine hoffen, schon weil diese zu solchen langdauernden maritimen Expeditionen gar nicht in der Lage war. Die von 1754 bis 1759 in Westindien durchgeführten Forschungsreisen des aus Leiden stammenden Naturforschers Nikolaus Joseph Jacquin, ein Proteg8 von Gerard van Swieten, der in österreichischen Diensten zahlreiche neue Pflanzen beschrieb und diese nach dem System von Carl Linn8 taxonomisch erschloss, wurden auf privaten Handelsschiffen durchgeführt.8 Von der Sammeltätigkeit des späteren Professors für Chemie und Botanik an der Wiener Universität profitierten nicht nur deren Botanischer Garten, sondern auch die kaiserlichen Gartenanlagen von Schloss Schönbrunn. Auch die 1817 im Zusammenhang mit der Vermählung von Erzherzogin Maria Leopoldine von Österreich, der Tochter des österreichischen Kaisers Franz I., mit dem portugiesischen Thronerben Dom Pedro unternommene wissenschaftliche BrasilienExpedition folgte nicht dem »dual use«-Prinzip. Es entsprang dieses Projekt einer Initiative von Staatskanzler Fürst Metternich und wurde wissenschaftlich betreut vom Leiter des Hof-Naturalien-Cabinets Karl Franz Anton von Schreibers, dem späteren ersten Direktor des Naturhistorischen Museums in Wien. Die Hauptlast der Forschungsleistung vor Ort in den Jahren 1817 bis 1835 trug allerdings dessen Mitarbeiter Johann Natterer. Die Marine stellte lediglich die beiden Fregatten »Austria« und »Augusta« für die Überfahrt zur Verfügung.9 Ganz in der Tradition der britischen Expeditionsreisen stand hingegen die mehrfach beschriebene Weltumsegelung der schweren Fregatte »Novara« in den Jahren 1857 bis 1859.10 Die Initiative dazu ging vom 1854 installierten neuen Oberkommandierenden der kaiserlichen Marine Erzherzog Ferdinand Maximilian aus, der für die Realisierung des Vorhabens die 1850 im Arsenal von Venedig zu Stapel gelassene und sechs Jahre später in Pola umgebaute Fregatte »SMS Novara« unter dem Kommando des damals 41-jährigen Kommodore Bernhard von Wüllerstorf-Urbair auswählte.11 Das 50,35 m lange und 13,80 m 8 Marianne Klemun/Helga Hühnel, Nikolaus Joseph Jacquin (1727–1817) – ein Naturforscher (er)findet sich, Göttingen 2017. 9 https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Natterer und http://www.nhm-wien.ac.at/museum/ geschichte__architektur/expeditionen_des_19_jahrhunderts (abgerufen am 27. 12. 2017). 10 Im Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (AÖAW) befinden sich dazu vier Kartons an Akten. Die Akten der Jahre 1856–1862 befinden sich in Karton 1, die Akten der Jahre 1863–1869 in Karton 2, die Akten der Jahre 1870–1878 in Karton 3, und die Akten der Jahre 1879–1889 sowie die »Varia« in Karton 4. 11 Vgl. dazu allgemein: Renate Basch-Ritter, Die Weltumseglung der Novara 1857–1859, Graz 2008. Die wissenschaftlichen Ergebnisse waren äußerst ertragreich und brachten sowohl

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breite dreimastige Schiff hatte eine Verdrängung von 2.107 Tonnen. Das Schiff war ursprünglich, wie die bereits erwähnten Expeditionsschiffe der Royal Navy, als Bark mit Schrattsegeln am letzten Mast getakelt. Sie war aber nahezu doppelt so groß als die »Beagle«. Im Zusammenhang mit der Weltumseglung wurde das Schiff umgebaut und als Vollschiff getakelt, das Deckshaus wurde vergrößert und eine Bibliothek eingerichtet, die Zahl der Kanonen wurde von 42 auf 30 reduziert, um Platz zu gewinnen.12 Für das leibliche Wohl der 345 Offiziere, Seekadetten und Besatzungsmitglieder, der sieben Wissenschaftler und vier sonstigen wissenschaftlichen Mitarbeiter kamen als technische Neuerungen erstmals eiserne Trinkwasserbehälter, Emailgeschirr, Nahrungskonservierung mit Konserven, Duschanlagen sowie Destillierapparate zur Süßwassergewinnung zum Einsatz.13 Hinter dem Plan standen einerseits das Interesse des Marinekommandanten Erzherzog Ferdinand Maximilian, aber auch wirtschaftliche Überlegungen des damaligen Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Bauten Karl Freiherr von Bruck. Dieser hatte bereits am 19. Februar 1856 auch an das Präsidium der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien ein Schreiben gerichtet, in dem erstmals der Wunsch nach einer wissenschaftlichen Kooperation bekundet wurde. Der Ozeanograph und Direktor der Marinesternwarte in Triest Franz Schaub fasste dessen Inhalt folgendermaßen zusammen: »Der k. k. Vizeadmiral von Dahlrup hat bei dem k. k. Kriegsministerium beantragt, Behufs der Uebung der Mannschaft und Förderung der kommerziellen Zwecke mit einem unserer Kriegsschiffe eine Seefahrt ins atlantische und stille Meer zu unternehmen […] Es schien mir ferner ebenso nützlich, als der Achtung, welche jeder Staat der Wissenschaft schuldig ist, entsprechend, das dieser Expedition auch bestimmte wissenschaftliche Aufgaben gestellt und selbst ein oder zwei Männer der Wissenschaft beigegeben würden.«14

Die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften wurde mit der Planung, Durchführung und Herausgabe der wissenschaftlichen Forschungsaufgaben im Rahmen einer eigens von ihr am 30. Oktober 1856 eingesetzten Kommission beauftragt. Dieser Kommission gehörten von der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse die wirklichen Mitglieder Baumgartner, Ettingshausen, der Kriegsmarine als auch der Akademie höchste Anerkennung. Selbst Charles Darwin bezog sich in seinem Werk The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1871) mehrfach auf Ergebnisse dieser Expedition. Als 1859 der Krieg zwischen Österreich und Frankreich sowie Piemont-Sardinien ausgebrochen war, wurde der Fregatte von den Feindstaaten freies Geleit auf der Heimreise zugesichert, allerdings war bereits der Frieden von Villafranca geschlossen worden, bevor das Schiff das Mittelmeer erreichte. 12 https://de.wikipedia.org/wiki/SMS_Novara_(1850) und https://austria-forum.org/af/Aus triaWiki/SMS_Novara_(1850) (abgerufen am 27. 12. 2017). 13 http://www.novara-expedition.org/de/geschichte.html (abgerufen am 27. 12. 2017). 14 Archiv der Akademie der Wissenschaften (AÖAW), Novara Expedition, Karton 1, Zl. 939/ 1856 Schreiben von J. Schaub, Astronom der k. k. Marine vom 25. 10. 1856.

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Fenzl, Fitzinger, Hyrtl, Koll#r, Littrow, Schrötter-Kristelli und Unger sowie von der philosophisch-historischen Klasse Pfizmaier und Miklosich an. Man versicherte sich bei der Planung auch der Mitwirkung der Geographischen Gesellschaft, der Geologischen Reichsanstalt, der Zoologisch-Botanischen Gesellschaft, und der Gesellschaft der Ärzte.15 Zunächst sollten für die Reise die nötigen kompetenten Wissenschaftler ausgewählt werden, wobei lediglich zwei von der Akademie nominiert werden durften. Deren Wahl entfiel schließlich auf den damals erst 28-jährigen aus Esslingen in Württemberg stammenden und seit 1853 an der Geologischen Reichsanstalt tätigen Privatdozenten Ferdinand Hochstetter, während für den Bereich Zoologie und Botanik der immerhin schon 50-jährige Kustos der Mollusken-Sammlung im Zoologischen Hof-Cabinet (später Naturhistorisches Museum) Georg Frauenfeld gewählt wurde. Letzterer schlug dann von seinen Mitarbeitern den Tierpräparator und Zoologen Johann Zelebor vor. Beworben hatten sich im Zuge des Auswahlverfahrens auch das Akademiemitglied Leopold Fitzinger (Zoologie)16 und der Berliner Geologe Adolf Gurlit, die aber beide keine Berücksichtigung fanden.17 Die anderen Expeditionsteilnehmer wurden entweder vom Marineoberkommando direkt bzw. auch auf Vorschlag von Minister Bruck nominiert. Es waren dies Karl Scherzer (Länder- und Völkerkunde)18 und der von diesem vorgeschlagene Eduard Schwarz (Medizin und Anthropologie); weitere Teilnehmer waren der Gartenbauspezialist Anton Franz Jellinek, der Fotograph Wenzel Lehmann19, sowie der Maler Josef Sell8ny.20 Astronomische, hydrographische und meteorologische Beobachtungen wurden durch den Schiffskommandanten Wüllersdorf selbst vorgenommen.21 Die Expedition

15 AÖAW, Novara Expedition, Karton 1, Zl. 448 u. 449/1857. 16 Fitzinger gehörte auch der von der Akademie eingesetzten Kommission an. Als gegen die Wahl von Frauenfeld in einer Lokalzeitung heftig polemisiert und recht unsachliche Bedenken vorgebracht wurden, vermutete Akademie-Generalsekretär Anton Schrötter von Kristelli dahinter eine Intrige des abgelehnten wirklichen Mitglieds Leopold Fitzinger. Wiener Courier Nr. 289 v. 9. 12. 1856. AÖAW, Novara Expedition, Karton 1, Zl. 1125/1865. 17 AÖAW, Novara Expedition, Karton 1, Zl. 1066/1865. Der Doktorand der Medizin Josef Bahslinger, der sich angeboten hatte, auf eigene Kosten an der Reise mitzuwirken, wurde ebenfalls abgelehnt. AÖAW, Novara Expedition, Karton 1, Zl. 1046/1856. 18 Scherzer, ein Anhänger der 1848er Revolution, war übrigens deswegen seinerzeit noch auf einer polizeilichen Fahndungsliste gestanden. 19 Auf Ansuchen des Generalsekretärs Schrötter wurden auch Hochstetter und Frauenfeld in der Photographie unterrichtet. AÖAW, Novara Expedition, Karton 1, Zl. 1149/1865. 20 Dieser war ein Proteg8 von Erzherzog Ferdinand Maximilian, mit dem er bereits einige Reisen durchgeführt hatte, und betätigte sich auch als Gartenarchitekt. 21 Dieser war dafür durch seine Ausbildung an der Wiener Universitätssternwarte unter den bekannten Astronomen Littrow und Schaub qualifiziert, hatte danach die Marinesternwarte in Venedig geleitet und Unterricht in Astronomie und Nautik auf der dortigen Marineakademie erteilt. Es handelte sich um ein relativ junges Team: Wüllerstorff zählte bei Reiseantritt

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wurde mit zahlreichen modernsten Instrumenten ausgestattet22 und erhielt recht detaillierte Instruktionen, wobei man auch auf Vorschläge von Universitäten und Museen eingegangen ist.23 Die 551 Tage dauernde Reise führte über 51.686 Seemeilen von Triest über Gibraltar, Madeira, Rio de Janeiro und das Kap der Guten Hoffnung in den Indischen Ozean, weiter über Ceylon und Madras nach Singapur, dann Java, Manila, Hongkong, Schanghai und die Salomon-Inseln, Sydney, Auckland und Tahiti. Die Rückreise führte über Valpara&so um das Kap Hoorn zu den Azoren und danach wiederum durch die Straße von Gibraltar zurück ins Mittelmeer und nach Triest, das am 26. August 1859 erreicht wurde.24 Die wissenschaftliche Planung durch die Akademie wurde von der Regierung mit 8.000 fl CM unterstützt, von der math.-nat. Klasse kamen weitere 6.150 fl 16 12 kr CM. Der Staat gewährte dann eine zusätzliche außerordentliche Dotation von 14.000 fl CM an Unterstützung für diverse Forschungsvorhaben.25 Den für die Reise ausgewählten Wissenschaftlern wurden umfangreiche Instruktionen mitgegeben, die einerseits auf Wünschen wissenschaftlicher Sammlungen, andererseits auf Vorgaben der von der Akademie eingesetzten Kommission beruhten. Die Akademie im Rahmen ihrer mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse und die Marinesektion des k. k. Kriegsministeriums stellten die notwendigen Instrumente zur Verfügung.26 Laut Mitteilung der k. k. CameralHauptbuchhaltung vom 18. November 1860 betrug der bereinigte Gesamtaufwand für die rein wissenschaftliche Seite der Expedition 25.030 fl 34 kr CM, wovon der Großteil auf Gehälter der Wissenschaftler, Reisekosten bei Landgängen, Transport- und Verpackung, Zölle sowie Konservierungskosten für die gesammelten Exponate entfiel.27 Der wissenschaftliche Ertrag der Expedition war beeindruckend und fand weltweit Anerkennung. Dazu zählten die erste geologische Aufnahme Neuseelands, sowie erdmagnetische, tektonische, hydrographische und meereskundlichen Forschungen insbesondere im südlichen Pazifik.28 Umfangreiche Sammlungen an botanischem, zoologischem, paläontologischem und völkerkundlichem Material bereicherten die österreichischen Museen (insbesondere

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41, Hochstetter 28, Schwarz 26, Zelebor 38, Scherzer 36, Sell8ny 33 Jahre, Frauenfeld war der Älteste mit 50 Jahren. AÖAW, Novara Expedition, Karton 1, Zl. 841/1857 Verzeichnisse von Instrumenten. AÖAW, Novara Expedition, Karton 1, Zl. 153 und Zl. 1175/1856 sowie 97/1857 Instruktionen. Nahezu zeitgleich erfolgte unter österreichischer Flagge die Weltumsegelung des aus Istrien stammenden Handelsschiffkapitäns Ivo (Giovanni) Visin mit seiner Brigg »Splendido« in den Jahren 1851 bis 1859, der sogar am 2. August 1858 in Shanghai auf die Novara getroffen ist, https://de.wikipedia.org/wiki/Giovanni_Visin#cite_note-2 (abgerufen am 27. 12. 2017). AÖAW, Novara Expedition, Karton 1, Zl. 203/1857. Ebd., Zl. 153/1856. Ebd., Zl. 1050/1860. Hochstetter konnte u. a. Tsunamis als Folge tektonischer Verschiebungen erklären.

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das spätere Naturhistorische Museum in Wien, dem ursprünglich auch das Völkerkundemuseum angegliedert war). Auf Basis von mitgenommenen Blättern von Erythroxylum coca kam es zur ersten chemischen Analyse der Wirkstoffe von Kokain.29 Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich erteilte am 15. Februar 1863 der Akademie der Wissenschaften den Auftrag zur wissenschaftlichen Bearbeitung und Veröffentlichung der Forschungsergebnisse. Diese setzte dazu eine eigene Kommission unter dem Vorsitz ihres Präsidenten Andreas Freiherr von Baumgartner ein, die in den Jahren 1863 bis 1876 dreiundzwanzigmal tagte. Im Jahre 1876 lag das Novara-Werk vollständig vor. Die Novara-Kommission kümmerte sich in den nachfolgenden Jahren um die Vergabe des Werkes an wissenschaftliche Institutionen in aller Welt und löste sich 1889 auf; die restlichen vorhandenen Bände wurden an das Naturhistorische Hofmuseum übertragen.30 Scherzers bereits 1861 veröffentlichter dreibändiger Reisebericht Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde, der am Beginn der Veröffentlichungen stand, wurde zum Bestseller und sehr bald in mehrere Sprachen übersetzt; eine zweibändige Volksausgabe erreichte auch ein breiteres gebildetes Publikum. Hochstetter veröffentlichte 1863 seine geologischen Forschungen in Neuseeland, womit die eigentliche naturwissenschaftliche Auswertung der neugewonnenen Erkenntnisse begann. Für die Bearbeitung und Herausgabe der bei der akademischen Verlagsbuchhandlung Carl Gerolds Sohn erschienenen insgesamt 21 Bände, die nautisch-physikalische, meereskundliche, geologische, botanische, zoologische, anthropologisch-ethnographische, linguistische, medizinische und statistisch-kommerzielle wissenschaftliche Ergebnisse zum Gegenstand hatten31, erhielt die Akademie dann durch vier Jahre hindurch jeweils 20.000 fl CM von der Regierung ausgesetzt. Die Vollendung der Arbeiten nahm allerdings dreizehn Jahre (1863–1876) in Anspruch. Die Aufstellung, Katalogisierung und Bearbeitung der umfangreichen Sammlungen geschah ebenfalls im Rahmen einer von beiden Klassen der Akademie beschickten Kommission in den Jahren 1858 bis 1888.32 Die gesammelten über 26.000 Exponate wurden der Öffentlichkeit präsentiert: Zunächst erfolgte unter der Leitung von Frauenfeld im Oktober 1859 in sechs Sälen des sog. 29 https://de.wikipedia.org/wiki/Novara-Expedition (abgerufen am 27. 12. 2017). 30 AÖAW, Novara Expedition, Karton 1, Zl. 232/1889. 31 https://de.wikisource.org/wiki/Reise_der_österreichischen_Fregatte_Novara_um_die_Erde _in_den_Jahren_1857,_1858,_1859; https ://archive.org/details/reisedersterre191313wl ; https://archive.org/details/reisedersterre91wl (abgerufen am 27. 12. 2017); darüber hinaus wurden Ergebnisse in den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaften veröffentlicht. 32 Vgl. Richard Meister, Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien 1847–1947, Wien 1947, S. 95–96, S. 289, S. 291.

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Neugebäudes im k. k. Gartenpalais im Augarten eine provisorische Schaustellung der Exponate, hinzu kam 1861 auch die zunächst in Triest ausgestellte ethnographische Sammlung.33 Nach der Auflösung der Ausstellung im Augarten wurden die Sammlungen administrativ der Akademie einverleibt und dann dem 1889 neu eröffneten k. k. Naturhistorischen Museum in Wien übergeben.34 Die erfolgreiche Kooperation zwischen Wissenschaft und Militär fand auch in weiteren wissenschaftlichen Unternehmungen eine Fortsetzung: Der Akademie wurde 1874 die Veröffentlichung der wissenschaftlichen Resultate der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition unter Leitung von Carl Weyprecht und Julius Payer anvertraut, wobei die Marine dafür die »Admiral Tegetthoff« abgestellt hatte. Diese Expedition wurde aber nicht extra durch die Regierung gefördert, sondern von einem privaten Sponsor, nämlich Hans Graf Wilczek, finanziert.35 Auch die Teilnahme Österreichs am Internationalen Polarforschungsjahr 1882/83, in dessen Rahmen unter der Leitung von Korvettenkapitän Emil von Wohlgemuth auf der Insel Jan Mayen östlich von Grönland systematische meteorologische, physikalische, zoologische, botanische und geologische Untersuchungen und Messungen durch die Akademie durchgeführt wurden, finanzierte deren späteres Ehrenmitglied Wilczek.36 Die 1867 gegründete Kommission zur Erforschung der physikalischen Verhältnisse des adriatischen Meeres setzte ebenfalls eine Zusammenarbeit mit der Marine voraus. In den Jahren 1868–1914 führte die kaiserliche Marine insgesamt 85 Missionen vor allem in Ostasien und Australien durch, darunter eine erneute Weltumsegelung durch die Korvette »Erzherzog Friedrich« zwecks Beobachtung des Venusdurchgangs in Yokohama am 8. Dezember 1874. Als die Wiener Akademie im Rahmen ihrer mathematisch-naturwissenschaftlichen Klassen je eine Kommission für Meeresforschungen im östlichen Mittelmeer sowie für ozeanographische Forschungen einsetzte, stellte die Marine dafür in den folgenden Jahren die Schiffe »Pola« und »Taurus« für Untersuchungen des Reliefs des Meeresbodens, Tiefentemperaturmessungen, chemische Analysen und Erkundung der Tiefseefauna in der Adria und im Marmarameer ab. Zusätzlich 33 Die naturhistorischen und ethnographischen Sammlungen erworben während der Weltfahrt Sr. K k. apost. Majestät Kriegsfregatte »Novara« unter dem Commando des Commodore Freiherrn Bernhard von Wüllersstorf-Urbair, Wien 1863. 34 http://www.novara-expedition.org/de/geschichte.html (abgerufen am 27. 12. 2017). 35 Eine von Carl Weyprecht 1874 dem Meer übergebene Flaschenpost, in der die Ereignisse dieser Expedition vor der notwendig gewordenen Aufgabe des Schiffes »Tegetthoff« geschildert werden, wurde 1978 von dem russischen Polarforscher Wladimir Serow gefunden und befindet sich heute im Besitz der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Derartige Flaschenpostsendungen wurden auch von der Novara-Expedition ausgesandt. AÖAW, Novara Expedition, Karton 1, Zl. 300 u. 776/1858. 36 Vgl. Meister 1947, S. 120–121. Graf Wilczek wurde von der Gesamtakademie 1884 wie zuvor schon Baron Wüllerstorf-Urbair zum Ehrenmitglied gewählt.

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wurden Beobachtungsstationen in Triest, Pola, Zara, Ragusa, Curzola, Punta d’Ostro, Lesina, Fiume und Korfu errichtet.37 Es ging bei den Reisen allerdings manchmal nicht nur um die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern um handfeste wirtschaftliche Interessen: Schon bei der Novara-Expedition dachte man an die Möglichkeit, an die gescheiterten Kolonisationsversuche der Österreichischen Ostindischen Kompanie Ende der 1770er Jahre auf den Nikobaren im Golf von Bengalen anzuknüpfen, die nunmehr allerdings in dänischem Besitz waren.38 Diese Pläne wurden jedoch ebenso wenig umgesetzt, wie diejenigen, vermutete Nickelerzlager in Melanesien zu erschließen. Als nämlich die von den beiden Korvetten »Saida« und »Fasana« in den Jahren 1892 bis 1895 durchgeführten Missionen nach Australien solche Hoffnung erweckten, sandte man 1897/98 das Kanonenboot »Albatros« zwecks Unterstützung geologischer und biologischer Forschungen auf den Salomoninseln nordöstlich von Australien aus. Als der wissenschaftliche Expeditionsleiter Bergrat Heinrich Freiherr Foullon de Norbeeck, ein Seekadett und zwei Matrosen bei einem Landgang auf Guadalcanar von Eingeborenen getötet wurden, brach man die Expedition ergebnislos ab.39 Ein von politischer Seite angestrebter wirtschaftlicher Nutzen konnte im Zuge dieser Expeditionsreisen jedenfalls nicht erzielt werden. Das »dual use«-Prinzip funktionierte vor allem in der Zusammenarbeit zwischen Akademie und Kriegsmarine auf wissenschaftlichem Gebiet, wo beide Seiten davon profitierten. Insbesondere die mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse der noch relativ jungen Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften erreichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge dieser Kooperation ein hohes Ansehen in der internationalen scientific community.40

37 Wallner u. a. 2009, 43–45. 38 Ausführlich dazu David Weiss/Gerd Schilddorfer, Novara – Österreichs Traum von der Weltmacht, Wien 2010; vgl. auch Johann Wagner, Österreichische Kolonialversuche in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, phil. Diss. Universität Wien 1955, https://aus tria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Essays/Geschichte/Novara-Expedition (abgerufen am 27. 12. 2017). 39 Wallner u. a. 2009, S. 46. 40 Es sei erwähnt, dass in Erinnerung an die Expedition an der Victoria University of Wellington in Neuseeland heute noch ein Novara Visiting Scholar Program und eine eigene Lecture Series eingerichtet ist; vgl. auch James Braund (Hg.), Ferdinand Hochstetter and the contribution of German-speaking scientists to New Zealand natural history in the nineteenth century, in: Gemanica Pacifica 10, Frankfurt a. M. 2012.

Christine Ottner

Zwischen Kontinuität und Wandel. Forschungsorganisation an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien um 1900

Im Jahr 1893 schlossen sich die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien und einige deutsche Akademien zu einem Verband zusammen, um große Forschungsvorhaben kooperativ zu organisieren. Ausgehend von der Gründung dieses »Kartells« fragt der Beitrag am Beispiel der Akademie in Wien nach dem Wandel ihrer Forschungsorganisation um 1900. In 1893, the Imperial Academy of Sciences in Vienna and some German Academies formed an association to organise substantial joint research projects in various scientific disciplines. The Imperial Academy serves as an example to look at the foundation of this socalled »academic cartel« as well as at the changes in its research organization around 1900.

Im 19. Jahrhundert wurde die institutionelle Struktur des modernen europäischen Forschungsbetriebes grundgelegt und ein Ensemble von zunehmend normierten Ausbildungs- und Forschungspraktiken sowie nationalen und internationalen professionellen Netzwerken konstituiert.1 Die Verflechtung von Wissenschaft und Politik macht besonders die Jahrzehnte vor und nach 1900 zu einer Sattelzeit, die sich auch als zukunftsweisend für die wissenschaftlichen Einrichtungen im 20. Jahrhundert erwies.2 Der enorme wissenschaftliche Aufschwung stellte zahlreiche Institutionen vor die Herausforderung, ihre Rolle und ihr Selbstverständnis neu definieren zu müssen. Hierzu zählten auch die Wissenschaftsakademien. Seit längerem betont die Forschungsliteratur deren

1 Vgl. Mitchell G. Ash, Die Wissenschaften in der Geschichte der Moderne (Antrittsvorlesung, Wien 2. April 1998), in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 10 (1999) 1, S. 105–129, S. 106. 2 Vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 11–46; Jens Thiel, Wissenschaftslandschaft und Wissenschaftsakademien um 1900, in: Sybille Gerstengarbe/Jens Thiel/Ru¨diger vom Bruch unter Mitarbeit von Simon Renkert und Sophia Nenninger (Hg.), Die Leopoldina. Die Deutsche Akademie der Naturforscher zwischen Kaiserreich und fru¨ her DDR, Berlin 2016, S. 11–35.

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Funktionsverlust im 19. Jahrhundert:3 Dieser wird oft in Relation zur großen Bedeutung wissenschaftlicher Sozietäten im 17. und 18. Jahrhundert gesehen.4 Als weiteres Argument gilt der Aufschwung der Universitäten als eigentliche Forschungsträger, denen die Akademien ohne entsprechende Kapazitäten und Mitarbeiterstäbe zunehmend hinterher hinkten und sich auf die Funktion von Kommunikationszentren, Aufsichtsorganen und Gutachtergremien beschränkten.5 Der vorliegende Beitrag untersucht, inwiefern die Wissenschaftsakademien diesen Herausforderungen mit einer Veränderung ihrer Forschungsorganisation zu begegnen versuchten. Dies soll am Beispiel der Kaiserlichen Akademie in Wien verdeutlicht werden. Die Stellung und der Aufgabenbereich der Akademien beschäftigten im 19. Jahrhundert zahlreiche Akteure im wissenschaftlichen Feld. Hierunter ragt der Begründer der modernen Altertumswissenschaften Theodor Mommsen heraus. Bereits 1858 hatte er vor der Königlich-Preußischen Akademie in Berlin sein Wissenschaftsverständnis verdeutlicht: Anhand des lateinischen Inschriftenunternehmens bekannte er sich zum positivistisch-antiquarischen Vollständigkeitsanspruch, rückte damit die arbeitsteilige Erforschung und Systematisierung der gesamten Überlieferung in den Mittelpunkt, relativierte individuelle Arbeit und setzte groß angelegte Kooperationen auch auf institutioneller Ebene voraus.6 Die Umsetzung dieser Vorstellungen gelang ihm über mehrere Jahrzehnte als Sekretar der Preußischen Akademie: »Wie der Grossstaat und die Grossindustrie, so ist die Grosswissenschaft, die nicht von einem geleistet, aber von einem geleitet wird, ein nothwendiges Element unserer Culturentwicklung, und deren rechte Träger sind die Akademien oder sollten es sein« – so resümierte Mommsen viele Jahre später.7 Der »Großbetrieb« wurde, ausgehend von den Altertumswissenschaften, zu einem Paradigma, das auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen große Vorbildwirkung entfaltete.8 Als etwa Mommsens Akademiekollege, der Astro3 Vgl. Thiel 2016, bes. S. 16. 4 Vgl. Caspar Hirschi, [Artikel] Akademie, in: Marianne Sommer/Staffan Müller-Wille/Carsten Reinhardt (Hg.), Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 2017, S. 211–224, zum 17. und 18. Jahrhundert bes. S. 16–20. 5 Vgl. Bernhard vom Brocke, Verschenkte Optionen. Die Herausforderung der Preußischen Akademie durch neue Organisationsformen der Forschung um 1900, in: Jürgen Kocka (Hg.) unter Mitarbeit von Rainer Hohlfeld und Peter Th. Walter, Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen, Forschungsberichte, Band 7), Berlin 1999, S. 119–147, S. 125. 6 Stefan Rebenich, Die Altertumswissenschaften und die Kirchenväterkommission an der Akademie. Theodor Mommsen und Adolf Harnack, in: Kocka 1999, S. 199–233, S. 200. 7 Theodor Mommsen, Antwort an Adolf Harnack auf dessen Antrittsrede, in: Sitzungsberichte der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1890 (1890) 2, S. 791–793. 8 Vgl. Stefan Rebenich/Gisa Franke (Hg.), Theodor Mommsen und Friedrich Althoff. Brief-

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nom Arthur von Auwers, einen fundierten, umfassenden Sternkatalog anregte, argumentierte er damit, dass zu diesem groß dimensionierten Unternehmen »allein eine Akademie berufen« sei, die den »Großbetrieb« nicht nur als ihre wichtigste Aufgabe erkannte, sondern auch als »Berechtigung und Notwendigkeit ihrer selbständigen und fundirten Existenz«.9 Akademiemitglieder unterschiedlicher Fachbereiche sahen also klare Aufgabenbereiche vor : Sie forcierten große kooperative Vorhaben, betonten die dahingehende Kompetenz der Akademie und ließen diese Fähigkeit im Selbstverständnis der Akademie(n) letztlich zu ihrem Legitimationsgrund werden.10 Die Protagonisten der Kaiserlichen Akademie in Wien orientierten sich ebenfalls an diesen Leitbildern. Besonders deutlich wird dies an einer Denkschrift des Wiener Ordinarius für Klassische Philologie Wilhelm von Hartel, die er als Akademiemitglied 1892 vorlegte: Darin berief der sich auf die großen vorbildhaften Unternehmen der Berliner Akademie, wies auf das sinkende Ansehen der Akademie und die mit ihr konkurrierenden Einrichtungen hin, deutete die finanziellen Engpässe an, die sich durch größere Kooperationen leichter beheben ließen, und betonte die Aufgabe, umfassende Gemeinschaftsarbeiten zu übernehmen, die einzelne Gelehrte nicht leisten konnten.11 Die Institutionalisierung internationaler Zusammenarbeit sei, so Hartel, das eigentliche Fernziel. Zunächst regte er aber ein »akademisches Cartell« zwischen den Wissenschaftsakademien in Wien, Berlin und München und den wissenschaftlichen Gesellschaften in Göttingen und Leipzig an. Hartel stellte auch erste mögliche konkrete gemeinsame, arbeitsteilige Projekte auf dem Gebiet der Altertumswissenschaften in Aussicht. Nach intensiven Vorverhandlungen wurde dieses Kartell als »Verband wissenschaftlicher Körperschaften« 1893 ins Leben gerufen.12

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wechsel 1882–1903 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 67), München 2012, S. 13f; Stefan Rebenich, Die Erfindung der »Großforschung«. Theodor Mommsen als Wissenschaftsorganisator, in: Hans-Markus von Kaenel u. a. (Hg.), Geldgeschichte versus Numismatik. Theodor Mommsen und die antike Münze, Berlin 2004, S. 5–20; Rüdiger vom Bruch, Mommsen und Harnack: Die Geburt von Big Science aus den Geisteswissenschaften, in: Alexander Demandt/Andreas Goltz/Heinrich Schlange-Schöningen (Hg.), Theodor Mommsen. Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 121–141. Arthur von Auwers, [Ansprache], in: Sitzungsberichte der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1900 (1900) 1, S. 657–669, Zitat S. 668. Vgl. Hubert Laitko, Die Preußische Akademie der Wissenschaften und die neuen Arbeitsteilungen. Ihr Verhältnis zum »Kartell« der deutschsprachigen Akademien und zur KaiserWilhelm-Gesellschaft, in: Kocka 1999, S. 149–173, S. 153. [Wilhelm von Hartel], Promemoria betreffend die Bildung eines Verbandes wissenschaftlicher Körperschaften, 1892 Juni 12, in: Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 43 (1893), S. 185–196. Martin Gierl, Geschichte und Organisation. Institutionalisierung als Kommunikationsprozess am Beispiel der Wissenschaftsakademien um 1900 Abhandlungen der Akademie der

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Mit Blick auf die Kaiserliche Akademie eignet sich das Kartell als neue interakademische Organisationsform für eine Betrachtung in zwei Richtungen: Einerseits ist die Kartellgründung als Höhepunkt in einem Prozess zu sehen, in dessen Rahmen – politisch nicht zufällig – bereits ab 1867/68 innerhalb der Akademie über neue Organisationsformen diskutiert worden war. Andererseits bildet die Kartellgründung auch den Ausgangspunkt für eine Welle an größeren Projekten, die 1899 zu einer internationalen Akademievereinigung, der Internationalen Assoziation der Akademien (IAA), führten und im Rahmen der Kaiserlichen Akademie weitere neue Organisationsformen katalysierten. Zum besseren Verständnis empfiehlt sich eine knappe Erläuterung der Genese und Struktur der Kaiserlichen Akademie, die 1847 nach langjährigen Bemühungen gegründet wurde. Damit verband sich der Anspruch, einen gesamtstaatlichen Zentralpunkt innerhalb der Monarchie zu schaffen; gleichzeitig sollte die neugegründete Akademie jedoch einfach nur neben den vorhandenen wissenschaftlichen Einrichtungen der Monarchie und nicht in übergeordneter Funktion bestehen.13 Die beiden Akademieklassen, die philosophisch-historische und die mathematisch-naturwissenschaftliche,14 richteten rasch Kommissionen ein, die sich speziellen Aufgaben widmeten und – ähnlich wie in anderen Akademien – zu einem wesentlichen Arbeitsinstrument wurden.15 Ein vom Kaiser ernannter Kurator fungierte als Kontaktperson zu den staatlichen Stellen, da kein direkter Kontakt zwischen Akademie und denselben vorgesehen war.16 Im Vergleich zum altertumswissenschaftlichen Fokus etwa der Preußischen Akademie war in Wien von Beginn an das historische Element sehr stark vertreten: Vornehmlich ging es um die Sammlung, Aufbereitung und Edition von Geschichtsquellen. Dies ist dem Bemühen um politische Legitimierung und patriotische Mobilisierung zugunsten des Gesamtstaates (vor allem auch nach 1848) geschuldet, lässt sich aber auch als Kontinuum der vormärzlichen For-

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Wissenschaften zu Göttingen, philologisch-historische Klasse, dritte Folge, Band 233), Göttingen 2004, S. 213–320. Vgl. Christine Ottner, Zwischen Wiener Localanstalt und Centralpunct der Monarchie: Einzugsbereich und erste Geschichtsforschungsunternehmen der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, in: Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 143 (2008) 1, S. 171–196. Zur Benennung und Einteilung der Klassen: Gudrun Pischinger, Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt? Eine Funktionsanalyse der Historischen Kommission der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien 1847 bis 1877, ungedr. phil. Diss. Universität Graz 2001, S. 48. Vgl. Bernhard vom Brocke, Wege aus der Krise: Universitätsseminar, Akademiekommission oder Forschungsinstitut. Formen der Institutionalisierung in den Geistes- und Naturwissenschaften 1810–1900–1995, in: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. M. 1999, S. 191–215. Vgl. Pischinger (2001), S. 38.

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schungstradition sehen.17 Die produktiven geschichtswissenschaftlichen Unternehmungen und Publikationen dienten jedenfalls bis zum beginnenden 20. Jahrhundert als Aushängeschild der Akademie.18 Die ersten deutlichen Bemühungen, einen Wandel im Forschungsbetrieb herbeizuführen, datieren aus der Zeit des österreichisch-ungarischen Ausgleichs und der Dezemberverfassung von 1867. Es zeichneten sich Selbstbestimmungstendenzen ab, die auch im Sinne der konstitutionellen Monarchie zu sehen sind; dies zeigen etwa die Versuche, sich vom Kurator etwas abzugrenzen und die Akademie dem Ministerium für Cultus und Unterricht zu unterstellen. Aus derselben Zeit stammen auch einige Anträge auf Projektsubventionen, die von der Akademie direkt an das Ministerium gerichtet wurden.19 Die Tendenzen gipfelten 1868 in einem Antrag auf grundlegende Reformen der inneren Organisation der Akademie:20 Dieser Antrag zeigt die enge Verbindung zwischen ihren Aufgaben, ihrem Profil und ihrer Forschungsorganisation. So beklagte die Reformpartei die marginale Rolle der Akademie bei der Neugestaltung des Unterrichtswesens und bei der Errichtung neuer wissenschaftlicher Institutionen sowie ihre Funktion als bloße »Verlagsbuchhandlung« und »Publicationsanstalt«. Die beiden Akademieklassen sollten daher, so der Reformvorschlag, in neue Unterabteilungen, sogenannte »Sectionen«, gegliedert werden, um den notwendigen Grad fachlicher Vielseitigkeit zu wahren. Konkret wurde etwa für die philosophisch-historische Klasse eine historische, philosophische, philologische, archäologische, geographisch-statistische, rechts-und staatswissenschaftliche Sektion anvisiert.21 Nach zähen Verhandlungen stimmte die Mehrheit der Akademiemitglieder gegen die Reform: Man berief sich auf die erfolgreichen großen Arbeiten in den dauerhaften Kommissionen. Die Bildung von fachlichen Sektionen anstelle der bisherigen Kommissionen wurde von den Reformgegnern vehement abgelehnt, denn sie beharrten auf der alleinigen Einteilung in die beiden Klassen. Das Fazit der Mehrheit richtete sich gegen jede Erneuerung: »Das sichtliche Prosperiren unseres Institutes beruht wesentlich auf […] [der] Stetigkeit seiner Grundlagen.«22 Dennoch zeichneten sich in den Reformdiskussionen von 1868 eben jene 17 Vgl. Christine Ottner, Historical Research and Cultural History in Nineteenth-Century Austria: The Archivist Joseph Chmel (1798–1858), in: Austrian History Yearbook 45 (2014), S. 115–133. 18 Siehe etwa Suess’ Rede zur 50-Jahr-Feier im Almanach 1897. 19 Als Beispiel: Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium für Cultus und Unterricht (MCU), Unterricht Allgemein 1848–1940, Signatur 15, Fasz. 2914, MCU 5222, präs. 4. Juli 1867: Die Akademie ersucht um Zuschuss für die Erforschung der physikalischen Verhältnisse des adriatischen Meeres. 20 Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 19 (1869), S. 41–48. 21 Ebd., S. 107–109. 22 Ebd., S. 59.

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Herausforderungen ab, die bei der Gründung des Akademiekartells 1892/93 erneut zur Diskussion standen: der Funktionsverlust und die Konkurrenz durch andere wissenschaftliche Einrichtungen, der Anspruch, die Einheit der Wissenschaften in zwei Klassen zu repräsentieren bei gleichzeitiger Notwendigkeit, das sich auffächernde Wissen angesichts der zunehmenden Spezialisierung zu integrieren – und all das verbunden mit der Frage, ob man mit dem traditionellen Arbeitsinstrument der akademieeigenen Kommissionen diesen Herausforderungen überhaupt gewachsen sei. Die Idee, die Kooperation mehrerer Wissenschaftsakademien auch institutionell zu verankern, war in Berlin im Rahmen von Gesprächen zwischen Theodor Mommsen und dem preußischen Ministerialbeamten Friedrich Althoff entstanden. Ursprünglich sollte das Akademiekartell altertumswissenschaftlich orientiert sein. Die Anregung zu einer Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akademien ging nämlich auf den Thesaurus Linguae Latinae zurück, der die Erschließung der gesamten erhaltenen lateinischen Literatur von der Antike bis um 600 n. Chr. anvisierte.23 Mommsen kontaktierte über seinen Fachkollegen, den zuvor genannten Philologen Wilhelm von Hartel, die Akademie in Wien. Hier wurde die Kartellidee umgehend mit dem fachlich renommierten Geologen Eduard Suess erörtert, der als Generalsekretär der Kaiserlichen Akademie beträchtlichen Einfluss hatte und dem Vorhaben sehr positiv gegenüberstand. Im Rahmen dieser Zusammenkunft dürfte der Gedanke entstanden sein, im Rahmen des Akademiekartells auch naturwissenschaftliche Projekte zu organisieren.24 Suess stellte Überlegungen an, welche aktuellen Arbeiten »über die Grenzen der einzelnen Staaten hinausgreifend auf internationalem Wege« ausgeführt wurden und welche sich künftig durch kooperative Organisation bewerkstelligen ließen.25 Hierzu zählten unter anderem geowissenschaftliche Schweremessungen und arbeitsteilige Projekte auf botanischem, astronomischem und meteorologischem Gebiet. Die Proponenten Mommsen, Hartel und Suess entwarfen die Statuten, nahmen Kontakt mit den anvisierten Partnerakademien und Sozietäten in München, Göttingen und Leipzig auf und warben für die Idee des Kartells. In Wien beriet man darüber umgehend akademieintern. Als politisch prekär erwies sich dabei besonders der Umgang mit den innerhalb der österreichisch-ungarischen

23 Vgl. Martin Hertz, Bedeutung, Geschichte, Plan und voraussichtliche Kosten eines lateinischen Wortschatzes [Denkschrift], in: Sitzungsberichte der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften (1891) 2, S. 671–690. 24 Vgl. Eduard Suess, Erinnerungen [Autobiographie], Leipzig 1916, S. 419. 25 Vgl. Eduard Suess an Theodor Mommsen, 1892 Juni 10, in: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Akten der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1812–1945, II–XII, 1: »Acta betreffend das Cartell der deutschen Akademien 1892–1907«, fol. 1r–6v.

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Monarchie bereits bestehenden Wissenschaftsakademien.26 Trotz anfänglicher Ansätze hatte die Akademie ihre gesamtstaatliche Rolle bisher nicht erfüllt. Interessanterweise gab es nun im Rahmen der Kartellverhandlungen durchaus Wünsche, auch die Ungarn, Tschechen und Polen zu berücksichtigen.27 Bei den anschließenden Beratungen behielt man von Wiener Seite durchaus den Aspekt im Kopf, das Kartell nicht nur allgemein international, sondern besonders auch auf Österreich-Ungarn auszudehnen. Eine von Eduard Suess nur inoffiziell erstellte Liste weist neben zahlreichen internationalen Gesellschaften in England, Frankreich, Italien, Belgien, Russland, aber auch Amerika explizit die Königliche böhmische Gesellschaft der Wissenschaften, die Tschechische Akademie der Wissenschaften und Künste, die Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Prag und die Akademien in Krakau, Budapest und Bukarest aus.28 Dementgegen beharrte die Preußische Akademie in den offiziellen Kartellverhandlungen auf einer zweijährigen Aufnahmesperre. Diese Sperre wurde von den anderen Partnerakademien in Göttingen, München und Leipzig vorerst abgelehnt. Dennoch konnten auch sie sich nach Zustandekommen des Kartells 1893 nicht für eine umgehende Integration der Akademien in Österreich-Ungarn erwärmen, obwohl die Kaiserliche Akademie erneut einen Vorstoß in diese Richtung unternahm.29 Die Preußische Akademie verweigerte überhaupt nach zähen internen Diskussionen den Kartellbeitritt, und zwar mit dem offiziellen Vorwurf, die Wiener Akademie habe von Anfang an die Ausdehnung des Kartells auf »fremdländische Akademien« beabsichtigt und damit den »bescheidenen« Berliner Wunsch nach einer zweijährigen Aufnahmesperre ignoriert.30

26 Vgl. Erik Amburger/Michael Cies´la/L#slj Sziklay (Hg.), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 3), Essen 1987; Friedrich Gottas, Universitäten, Wissenschaftliche Gesellschaften und Akademien im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts, in: Richard G. Plaschka/Horst Haselsteiner/Anna M. Drabek (Hg.), Mitteleuropa – Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge aus österreichischer und ungarischer Sicht (Zentraleuropa-Studien 4), Wien 1997, S. 43–61. 27 Vgl. Wilhelm Hartel an Theodor Mommsen, 1892 Juni 30, in: Staatsbibliothek Berlin, Nachlass Theodor Mommsen I: Wilhelm von Hartel, Mappe 2. 28 Vgl. Liste der einzuladenden Körperschaften (Konzept), erstellt von Eduard Suess, in: Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (künftig: AÖAW), Kartell, Karton 1, Mappe 1893, sine numero, sine dato. 29 Z. B. Akademie Wien an Akademie München, 1893 März 31, Konzept (Eduard Suess), expediert 1893 April 1, in: AÖAW, Kartell, Karton 1, Mappe 1893, Aktenzahl 315c; Antwort aus Göttingen: 1893 April 21, ebd., Aktenzahl ad 315a. 30 Protokoll der Plenarsitzung der Akademie in Berlin (Auszug), 1893 Februar 16, in: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Akten der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften 1812–1945, II–XII, 1: »Acta betreffend das Cartell der deut-

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Auch ohne Beteiligung der Preußischen Akademie nahmen die Kartellpartnerakademien nun erste umfangreiche gemeinsame Projekte in Angriff. Die Kaiserliche Akademie arbeitete, hier nur als Beispiele, an der Konzeption für die Vergabe eines Forschungsstipendiums am botanischen Institut in Buitenzorg auf Java und an einer Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit. Nach der Ablehnung Berlins fokussierte das Kartell außerdem langsam auf die Geowissenschaften, etwa auf geologische Schweremessungen.31 Mit Blick auf die künftige Forschungsorganisation der Kaiserlichen Akademie steht das Kartell von 1893 in einem Spannungsfeld aus Kontinuität und Wandel: Es dürften in den Vorverhandlungen zum letzten Mal die Fragen nach der Stellung der Akademie innerhalb der Habsburgermonarchie aufgekommen sein. Akademieintern hatte man sich vom ursprünglich gesamtstaatlichen Anspruch bereits seit langem entfernt. Allerdings gab es nun durchaus Versuche, etwa von Seiten des Geologen Eduard Suess, die wissenschaftlichen Akademien Österreich-Ungarns als eigene Institutionen in den Kartellverband einzubeziehen. Nach der Ablehnung durch die Partnerakademien fügte man sich in Wien allerdings rasch, und das Kartell präsentierte sich endgültig als deutsch-zentrierte Organisation. Interessant ist außerdem, dass die Akademie hier weitgehend unabhängig vom Kurator agierte. Dieser wurde, zumindest offiziell, erst einige Monate nach der Statutendebatte über den neuen Verband informiert.32 Außerdem gewährt ihre aktive Beteiligung an den Verhandlungen Einblicke in ihr großes Interesse an der Organisation gemeinschaftlicher Forschungsvorhaben. Das Kartell markiert daher auch den Übergang von einer »Publikationsakademie« zu einer »Projektakademie«, wie Martin Gierl es am Beispiel Göttingens gezeigt hat, das heißt also zu einer Wissenschaft organisierenden Institution.33 Im Selbstverständnis der Akademie spielte der Kartellverband fortan eine wichtige Rolle, wie etwa die Jubiläumsreden deutlich machen.34 Ebenso wichtig war die Möglichkeit, diese Art der Zusammenarbeit international zu erweitern, was schließlich 1899 zur Gründung der Internationalen Assoziation der Aka-

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schen Akademien 1892–1907«, fol. 43r–44r, Zitate fol. 43r ; siehe auch das folgende Rücktrittsschreiben Mommsens in Rebenich/Franke 2009, S. 647–650. Vgl. Gierl 2004, S. 280. Vgl. Akademie Wien (Präsidium) an den Kurator (Erzherzog Rainer), 1893 April 5, Konzept von der Hand Suess’, Unterzeichnete: Arneth, Suess, expediert 1893 April 7, in: AÖAW, Kartell, Karton 1, Mappe 1893, Aktenzahl 339 ex 1893, präs. April 5. Martin Gierl, Little Big Science: Die Reform der Göttinger Akademie der Wissenschaften und die Wissenschaftsorganisation um 1900, in: Rüdiger vom Bruch/Sybille Gerstengarbe/Jens Thiel/Simon Renkert (Hg.), Wissenschaftsakademien im Zeitalter der Ideologien. Politische Umbrüche – wissenschaftliche Herausforderungen – institutionelle Anpassung (Acta Historica Leopoldina 64), Halle 2014, S. 91–108, S. 91. Als Beispiel: Eduard Suess, Vortrag zur feierlichen Sitzung am 30. Mai 1897, in: Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 47 (1897), S. 243–264, S. 253.

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demien führte.35 Akademieintern hielt sich das Instrument der Kommissionen mit erstaunlicher Kontinuität: Ihre Anzahl nahm infolge des Kartells und der Internationalen Assoziation sogar noch deutlich zu.36 Dennoch machte sich um 1900 auch hier ein Wandel bemerkbar, als in einigen Kommissionen versucht wurde, für die anfallenden Arbeiten dauerhaftere Mitarbeiterstäbe zu etablieren.37 Angesichts der Herausforderungen in der Forschungsorganisation darf freilich nicht übersehen werden, dass sich auch die Universitäten der zunehmenden Hürde gegenübersahen, Menschenbildung, berufliche Fachbildung und wissenschaftliche Forschung mit der tatsächlichen Hochschulstruktur zu vereinen. In Deutschland mündete dies um 1900 in eine intensive Debatte, die auch mit der Preußischen Akademie zusammenhing.38 Der Akademie in Wien gelang es im Gegensatz zur Akademie in Berlin, vor dem Ersten Weltkrieg von einem Zusammenspiel aus Staat, Wissenschaft, Wirtschaft und privaten Fördermitteln zu profitieren und eigene Institute auf naturwissenschaftlichem Gebiet zu bekommen: Das Institut für Radiumforschung (1910) und die Biologische Versuchsanstalt (BVA, auch Vivarium; 1914 der Akademie übergeben) etwa waren ausdrücklich der reinen Forschung gewidmet. Demgemäß sollten sie laut Statut nicht als »Unterrichtsanstalt« dienen und »befreit vom engen Lehrbetrieb« der Universitäten agieren. Dennoch sollte dort nicht nur privat geforscht, sondern auch ein Beitrag zur akademischen und universitären Forschung geleistet werden.39 An der BVA war vor ihrer Übernahme durch die Akademie durchaus gelehrt worden: Bereits ihre Gründerväter hielten dort praktisch-experimentelle Kurse ab. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen außerdem, dass auch in der Zwischenkriegszeit weiterhin einige praktische Übungen an der BVA stattfanden, obwohl die Statuten dies eigentlich nicht vorgesehen hatten.40 35 Dazu ausführlich Gierl (2004), S. 321–394. 36 Vgl. ebd., S. 479f. 37 AÖAW, Historische Kommission, Karton 2, Sitzungsprotokolle 1902, Protokoll der Sitzung 1902 Jänner 15; ebd., Phonogrammarchiv, Karton 1, Aktenzahl 524 ex 1899, Antrag 1899 April 15. 38 Brocke 1999a, S. 136. 39 AÖAW, Vivarium, Promemoria von 1911 Jänner 11; vgl. außerdem: Biologische Versuchsanstalt der Kaiserlichen [!] Akademie der Wissenschaften in Wien [Übergabedokument, Statut, Geschäftsordnung, Leitungsordnung, Arbeitsordnung], in: Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 63. Jg. 1913, Wien 1914, S. 229–253, hier S. 231; dazu besonders auch Wolfgang L. Reiter, Zerstört und vergessen: Die Biologische Versuchsanstalt und ihre Wissenschaftler/innen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 10 (1999) 4, S. 585–614, S. 589; Silke Fengler, Kerne, Kooperation und Konkurrenz, Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950) (Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 3), Wien/Köln/Weimar 2014, S. 49–53. 40 Johannes Feichtinger, The Biologische Versuchsanstalt in Historical Context, in: Gerd B. Müller (Hg.), Vivarium. Experimental, Quantitative, and Theoretical Biology at Vienna’s

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Die beiden genannten Institute zeigen die Verschränkung ministerieller, universitärer und privater Ressourcen mit den Interessen der Akademie, womit sich in diesem Bereich durchaus innovative und flexible organisatorische Strukturen ergaben. Aus den vorangehenden Ausführungen wird außerdem das Spannungsfeld ersichtlich, in dem sich die Akademie mit ihrer Forschungsorganisation um 1900 bewegte: Während die typische Zweiklassenteilung bestehen blieb und auch nicht mehr infrage gestellt wurde, versuchte man die traditionellen Kommissionen mit neuen Akzenten zu versehen, um eine dauerhafte Basis für künftige internationale und interakademische Kooperationsformen zu schaffen.

Biologische Versuchsanstalt (MIT Press Vienna Series in Theoretical Biology), Cambridge MA 2017, S. 53–73, hier S. 60–63.

Renate Mayntz

Nützliche Grundlagenforschung? Variationen über ein altes Thema

Die Beziehung zwischen Grundlagenforschung und Anwendungsforschung spielt in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen politischen Regimen eine wichtige Rolle und wird unterschiedlich geregelt. Das wird am Beispiel der Akademie der Wissenschaften der DDR und der Max-Planck-Gesellschaft gezeigt. Scientific knowledge can be basic or applied. The relation between basic and applied research plays an important role in the ideological battles between different political regimes, and is regulated in different ways. This is illustrated by the examples of the East German Academy of Sciences and the West German Max-Planck-Society.

Das doppelte Gesicht von Wissen als Wert an sich und als Mittel zum Zweck ist die Grundlage der spannungsreichen Beziehung zwischen erkenntnisorientierter Grundlagenforschung und auf praktischen Nutzen bedachter angewandter Forschung. Während in allen entwickelten Ländern die verschiedenen Wirtschaftszweige in großem Umfang angewandte Forschung – F& E – betreiben, verlangt die Grundlagenforschung in sozialistischen wie kapitalistischen Ländern nach staatlicher Förderung. Die spannungsreiche Beziehung zwischen erkenntnisorientiertem und nützlichem Wissen wird jedoch in verschiedenen politischen Regimen auf verschiedene Weise gestaltet; das soll hier durch einen Vergleich von zwei mit Grundlagenforschung befassten Wissenschaftsorganisationen veranschaulich werden, der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) und der bundesdeutschen Max-Planck-Gesellschaft (MPG). In den vergangenen Zeiten des Kalten Krieges war der Gegensatz von politisch gelenkter, von vornherein auf vorgegebene praktische Zwecke gerichteter und freier, nur von Wissensdurst getriebener Forschung ein zentraler Baustein der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Nach westlichem Verständnis war die Forschungsfreiheit in totalitären Regimen – in der UdSSR und ihren Satelliten, aber zuvor auch im NS-Regime – in doppelter Hinsicht politisch eingeschränkt: Wissenschaftliche Forschung musste ideologisch kompatibel sein, und sie musste dem Regime auch praktisch dienen. Ideologisch

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kompatibel war eine Forschung, die im Dritten Reich die genetische Überlegenheit der arischen Rasse, in der Sowjetunion die Vererbbarkeit erworbener Merkmale (Lyssenkoismus) wissenschaftlich zu beweisen suchte; dem Regime praktisch dienen sollte Forschung, indem sie mächtige neue Waffen entwickelte und die Effektivität und Effizienz der Wirtschaft stärkte. Wesentliches Merkmal der ›Freien Welt‹ war dagegen nach eigenem Selbstverständnis die zwar durch moralische, nicht jedoch durch ideologische Imperative eingeschränkte Freiheit der Forschung, und damit auch die Existenz einer lediglich erkenntnisorientierten, öffentlich finanzierten Grundlagenforschung, die ihren Ressourcenverbrauch nicht durch Nützlichkeit zu legitimieren brauchte. Umso besser, wenn ihre Ergebnisse sich unerwartet als nützlich herausstellten; schließlich, so hieß es, ist nichts praktischer als eine gute Theorie. In den beiden nach 1945 entstandenen deutschen Staaten war der Sektor der außeruniversitären, staatlich geförderten Forschung sehr verschieden strukturiert.1 In der Bundesrepublik fand (und findet) die außeruniversitäre, staatlich finanzierte Forschung in verschiedenen Forschungsorganisationen statt, die sich relativ klar im Maß ihrer Grundlagenforschungs- oder Anwendungsorientierung unterscheiden: Die Ressortforschung und die Fraunhofer-Gesellschaft sind anwendungsorientiert, die Großforschungseinrichtungen betreiben ›anwendungsorientierte Grundlagenforschung‹ und die MPG ist der freien Grundlagenforschung verpflichtet; den thematisch sehr verschiedenen Instituten der Helmholtz-Gesellschaft ist lediglich der Modus ihrer Finanzierung durch Bund und Sitzland gemeinsam. Im Forschungssystem der DDR spielte die außeruniversitäre staatlich finanzierte Forschung zwar rein quantitativ eine größere Rolle als in der Bundesrepublik (in der DDR 26,9 %, in der BRD 13,5 %),2 war jedoch durch eine geringere Formenvielfalt gekennzeichnet und insgesamt stärker auf Nützlichkeit vor allem für die Wirtschaft ausgerichtet. Der weit überwiegende Teil der Forschung fand in drei Akademien statt: der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften, der Bauakademie und der 1946 zunächst als Gelehrtengesellschaft gegründeten Deutschen Akademie der Wissenschaften, der späteren AdW. Den drei Akademien wurden nach sowjetischem Muster Forschungseinrichtungen zugeordnet; die AdW wuchs so bis 1989 zu einer Trägerorganisation mit 60 Forschungsinstituten heran. Obwohl das Themenspektrum der AdW alle natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen umschloss, hieß es 1971 auf dem VIII. Parteitag, »dass die wissenschaftlich-technischen Aufgaben [der AdW; RM] konsequent aus den ökonomischen Erfordernissen, sowie aus den

1 Vgl. Renate Mayntz, Deutsche Forschung im Einigungsprozess. Die Transformation der Akademie der Wissenschaften der DDR 1089 bis 1992, Frankfurt a. M. 1994, S. 39–42. 2 Ebd., S. 40.

Nützliche Grundlagenforschung? Variationen über ein altes Thema

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konkreten Reproduktionsbedingungen der einzelnen Zweige, Kombinate und Betriebe abzuleiten sind.« Die gegensätzlichen Auffassungen über Sinn und Zweck wissenschaftlicher Forschung trafen im geteilten Deutschland hart aufeinander. Sieht man jedoch genauer hin, dann zeigt sich, dass der Gegensatz zwischen freier Grundlagenforschung im Westen und der Nützlichkeit verpflichteten Forschung im Osten in Wirklichkeit weniger krass war : Auch an der AdW wurde Grundlagenforschung betrieben, während in der auf freie Grundlagenforschung par excellence verpflichteten westdeutschen MPG in nicht geringem Umfang auf praktische Zwecke zielende Forschung stattfand – und weiter stattfindet. Zwei empirische Untersuchungen stützen diesen Befund: die Arbeit von Jochen Gläser und Werner Meske über die Akademie der Wissenschaften der DDR3 und meine eigene Untersuchung über die Bestimmung von Forschungsthemen in MaxPlanck-Instituten.4 Als größte Forschungsorganisation der DDR sollte die AdW zur Leistungssteigerung der Volkswirtschaft beitragen; sie sollte »bei ihren wissenschaftlichen Ergebnissen Spitzenniveau erreichen und gleichzeitig diese Ergebnisse möglichst rasch und in großem Umfang in ökonomische Effektivität umsetzen.«5 Quantitativ dominierte in der AdW die Forschung in industrierelevanten Disziplinen; hier waren Grundlagen- und Anwendungsforschung eng verflochten. Die Institute sollten wo immer möglich Finanzmittel von »Auftraggebern« einwerben. Anfang der 1980er Jahre kamen 75 % der Finanzmittel aus dem Staatshaushalt; dieser Anteil sollte ab 1986 auf 50 % sinken, was allerdings nicht ganz erreicht wurde.6 Auftraggeber waren hauptsächlich Betriebe und Kombinate, aber auch Ministerien und die Armee. Die Forschungsbereiche der AdW schlossen langfristige Kooperationsverträge mit den Industriekombinaten, die einzelnen Institute schlossen kurz- wie längerfristige Leistungsverträge über spezielle Forschungsaufgaben mit Kombinaten oder Kombinatsbetrieben ab. Nicht nur der Umfang, sondern auch die Verbindlichkeit von Vertragsforschung war hoch; bereits im Stadium der Planung von Forschungsaufgaben sollte deren Überführung und der daraus zu erwirtschaftende ökonomische Nutzen fixiert werden. Die Kombinate waren ihrerseits angehalten, die Anwendung der Forschungsergebnisse verbindlich festzulegen und in ihre Planung aufzunehmen.7 3 Vgl. Jochen Gläser/Werner Meske, Anwendungsorientierung von Grundlagenforschung? Erfahrungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Frankfurt a. M. 1996. 4 Vgl. Renate Mayntz, Die Bestimmung von Forschungsthemen in Max-Planck-Instituten im Spannungsfeld wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Interessen: Ein Forschungsbericht. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Discussion Paper 01/8, 2001. 5 Vgl. Gläser/Meske 1996, S. 126–127. 6 Vgl. ebd., S. 130–131. 7 Vgl. ebd., S. 126–127.

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In der AdW wurde im Übrigen nicht nur geforscht: Geschätzte 15 % der AdWMitarbeiter waren mit produktiven Aufgaben wie Bau und Verkauf von Geräten, mit dem Verlagswesen und mit diversen Dienstleistungen beschäftigt. Die aus produktiven Tätigkeiten stammenden Einnahmen machten einen nennenswerten Teil des AdW-Budgets aus; das Zentrum für wissenschaftlichen Gerätebau etwa finanzierte sich zu einem Viertel durch Aufträge.8 Das weit gefächerte Themenspektrum der AdW schloss jedoch auch Forschungsgebiete ein, bei denen, wie z. B. in der Astrophysik, keine praktische Anwendung absehbar war. Zwar stand die AdW »…ständig unter einem politischen Druck, solche Forschungen zugunsten volkswirtschaftlich ›wirksamer‹ [Forschung; RM] zu reduzieren, zumindest aber nicht zu erweitern.«9 Aber die Wissenschaftler selbst blieben auch in potentiell praxisrelevanten Forschungsgebieten oft an Grundlagenforschung interessiert; die Untersuchung von Gläser und Meske konstatiert deshalb einen ›wechselseitigen Verdrängungsdruck‹ von Grundlagen- und Anwendungsforschung. Obwohl die Orientierung der AdW an den Bedürfnissen der volkseigenen Wirtschaft dominant blieb, war erkannt worden, dass eine zu enge Zweckbindung auch eine potentiell anwendungsrelevante Grundlagenforschung behindert. So wurde 1976 auf dem IX. Parteitag festgestellt, dass »die Aufgaben für die Forschung […] stets zugleich aus den Bedürfnissen der Gesellschaft, den Reproduktionsbedingungen der sozialistischen Volkswirtschaft und dem Entwicklungsstand der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin abzuleiten sind.«10 Der vormalige Präsident der (westdeutschen) »Leopoldina«, Bethge, schätzte später, dass der Anteil echter Grundlagenforschung in den Instituten der AdW 15–20 % betragen habe.11 Das Themenspektrum der MPG ist dem der AdW vergleichbar ; die Institute sind in drei Sektionen gegliedert: eine geistes- und sozialwissenschaftliche (GW), eine biologisch-medizinische (BM) und eine chemisch-physikalischtechnische (CPT) Sektion. Unter der Überschrift »Mission der Max-PlanckGesellschaft« liest man im Jahresbericht für 2015: Die MPG »hat die Aufgabe, grundlegende Erkenntnisse zu erforschen und zu erschließen«; sie soll ihre Mittel so einsetzen, »dass internationale Spitzenleistungen in der Grundlagenforschung erbracht werden können.«12 Thematische Prioritäten werden bei Gründungs- und Berufungsentscheidungen MPG-intern gesetzt. Einmal gegründet, sind Institute in ihrer Themenwahl weitgehend autonom. Das jeweilige Themenprofil der MPG »ist weniger das Ergebnis bewusster Präferenz für be8 9 10 11 12

Vgl. ebd., S. 134. Ebd., S. 351. Mayntz 1994, S. 43. Vgl. ebd., S. 67. Evaluation. Die Verfahren der Max-Planck-Gesellschaft, hg. Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. 2015, S. 5.

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stimmte Forschungsgebiete oder Disziplinen als das Resultat eines historischen Prozesses, in dem sich nacheinander wirksam gewordene frühere Prioritäten und Einflussnahmen niedergeschlagen haben.«13 Die Einnahmen der MPG stammen überwiegend aus der institutionellen Förderung durch Bund und Länder. In den späten 1990er Jahren entfielen nur rund 10 % auf die Projektförderung.14 Dabei variiert der Drittmittelanteil beträchtlich zwischen den Sektionen und einzelnen Instituten. So erzielte 1996 nur ein Viertel der damals erfassten 58 Max-Planck-Institute (MPIs) im Durchschnitt mehr als 2 % der Einnahmen aus Drittmitteln, aber der Drittmittelanteil eines Instituts der CPT machte 52 % seines Haushalts aus. Der größte Teil der Drittmittel, über 60 %, kommt aus Förderprogrammen von Bundes- und Länderministerien und der EU. Häufig ist mit dieser Förderung eine generelle Erwartung künftiger Nützlichkeit verbunden, zum Beispiel für die Wirtschaft des Landes; aber auch der Wunsch, im internationalen Wissenswettlauf mitzuhalten, spielt oft eine Rolle.15 Deutlicher als durch das Einwerben von Drittmitteln verweisen offiziell ausgewiesene Kooperationen auf Praxisbeziehungen. Vor allem die Forschung in den Instituten der BM und der CPTwird von der Wirtschaft genutzt und teilweise auch in Kooperation mit Unternehmen durchgeführt. So berichtete 1996 jedes zweite MPI von Kooperation mit der Industrie, jedes dritte Institut hatte sogar Verbundforschungsprojekte. Dabei ergreifen oft die Wissenschaftler die Initiative zur Kooperation; verbreitet wurde über mangelndes Interesse der Praxis an verfügbarem, prinzipiell praxisrelevantem Wissen geklagt. Anwendungsnahe Projekte werden selten bereits bei der Formulierung eines übergreifenden Forschungsprogramms formuliert; sie entstehen im Verlauf zunächst erkenntnisorientierter Forschungslinien.16 MPI erzeugen nicht nur fallweise praxisrelevantes Wissen, sondern entwickeln auch neue Mess-, Untersuchungs- und Forschungstechnik; fast jedes zweite Institut berichtete 1996 über erzielte Patente und Lizenzvergaben. Ähnlich wie in der AdW erzielen auch MPI teilweise Einnahmen durch produktive Tätigkeiten. Die finanzstatistisch als ›eigene Einnahmen‹ zählenden Haushaltsmittel von MPI machten 1996 allerdings durchschnittlich nur knapp 2 % aus. Die in den beiden deutschen Staaten öffentlich geförderten Einrichtungen der Grundlagenforschung unterscheiden sich auf den ersten Blick deutlich in ihrer strategischen Orientierung: Während die AdW politisch auf Anwendungsorientierung gedrängt wurde, ist die Themenwahl in der MPG grundsätzlich er13 14 15 16

Mayntz 2001, S. 55. Mitteilung der MPG Finanzcontrolling vom 8. 6. 2017. Mayntz 2001, S. 31. Vgl. Mayntz 2001, S. 51.

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kenntnisorientiert. Tendenziell entsprechen dem Unterschiede in der Finanzierung der Forschung; vor der deutschen Vereinigung war der Finanzierungsanteil durch extern eingeworbene Mittel und durch eigene Einnahmen der Institute in der AdW höher als in der MPG. Die zahlenmäßigen Unterschiede sind jedoch weniger krass, als man es infolge der deutlich verschiedenen Grundorientierung beider Organisationen hätte erwarten können. So mag der Unterschied zwischen ihnen weniger im Umfang als in der Art des Zustandekommens und – vermutlich – dem inhaltlichen Profil ›nützlicher‹ Forschungsergebnisse liegen. Die deutsche Wiedervereinigung hat die öffentliche Diskussion um die Freiheit der Forschung beendet. Sie hat zugleich zu einer Abschwächung der bisherigen westlichen ›Alleinstellungsmerkmale‹ geführt. Heute darf in ganz Deutschland kritisch über Kapitalismus gesprochen und publiziert werden, und in ganz Deutschland neigt die wissenschaftliche Forschung dazu, ihren Verbrauch von öffentlichen Forschungsgeldern durch die Nützlichkeit ihrer Ergebnisse zu rechtfertigen. Das gilt heute auch für die MPG, wie man vermutlich durch eine Analyse von Max Planck Forschung, dem Wissenschaftsmagazin der MPG, belegen könnte. Zugleich ist der Anteil der Projektförderung an der Finanzierung der MPG gewachsen und hat nach 2000 gelegentlich sogar 15 % betragen.17 In Forschungsfeldern, die ein potentiell nützliches Wissen erzeugen, kommt es auch ohne politischen Druck und finanzielle Notwendigkeit spontan zur Wahl anwendungsorientierter Themen. Dafür ist allerdings die prinzipielle Praxisrelevanz eines Forschungsgebiets die Voraussetzung. Praktisch bedeutsam sind Wissensfragen, soweit es um Wissen über Gegenstände und Wirkungszusammenhänge geht, die für Menschen direkt oder indirekt folgeträchtig und von ihnen manipulierbar sind. Inhaltlich wird, was in einer Gesellschaft als nützliches Wissen gilt, von dem bestimmt, was jeweils politisch und in der Öffentlichkeit Priorität hat – Wirtschaftswachstum, Gesundheit oder militärische Macht. Aber nicht jede Wissensproduktion muss sich durch praktische Nützlichkeit rechtfertigen: erkenntnisorientierte ›Spitzenforschung‹ steht überall in internationalem Wettbewerb um Nobelpreise und um Prestige.

17 Vgl. ebd.; dies. 1994.

Wissensordnung

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Untersuchung zu Texten aus der Wiener Mathematischen Schule in den Bücherbeständen der Kartause Aggsbach im ausgehenden Mittelalter

Die Mönche des Ordens der schweigenden Mönche sind als Spezialisten im Hinblick auf höchste Qualität in der Textproduktion, der Anfertigung von Abschriften, das Textmanagement in Handschriften allgemein bekannt. Die Bedeutung der Bibliotheken der Kartäuser ist seit den großen Arbeiten Paul Lehmanns hinlänglich beleuchtet. Dieser Beitrag stellt den engen Kontakt zwischen Kartausen und Universitäten in den Mittelpunkt; wobei es hier konkret um die rasche Rezeption von Texten aus der Ersten Wiener Mathematischen Schule (Universität Wien) in der Kartause Aggsbach geht. Der Wissenstransfer erfolgt hier einerseits über die Benediktiner von Melk und Tegernsee, aber auch über direkten Kontakt der Kartäuser mit der Universität. The members of the order of the silent monks are commonly known as specialists with regard to the highest quality in text production, the production of transcripts as well as text management in manuscripts in general. The importance of the libraries of the Carthusians has been known since several major studies conducted by Paul Lehmann. The following article focuses on the close contact between Carthusians and universities, in particular on the rapid reception of texts from the Erste Wiener Mathematische Schule (University of Vienna) in the Carthusian monastery Aggsbach. This transfer of knowledge was undertaken by the Benedictines of Melk and Tegernsee and established through the direct contact of the Carthusians with the university.

Vorbemerkung Die Schilderung des Wegs des Gelehrten Poggio Braccolini vom Konzil von Konstanz ins Kloster, wo er in der Bibliothek wichtige Texte zu finden hofft, wird von Stephen Greenblatt in seinem Buch Die Wende. Wie die Renaissance begann als Aufhänger für die Charakteristik der Wende zur Renaissance verwendet.1 Poggio ist ein geradezu berüchtigter Bücherjäger ; warum führt ihn sein Weg in das Benediktinerkloster? Die Briefe Poggios an Niccolk Niccol& verdeutlichen 1 Stephen Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann, München 2012 (Kapitel I: Der Bücherjäger), S. 23, S. 32.

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sowohl die Ernsthaftigkeit der Suche nach den »antiken Texten« wie auch die Diskussion, wo man diese finden könne.2 Kloster-Bibliotheken sind Zentren der Gelehrsamkeit,3 die real existierend mitunter sogar zu einem Waffenarsenal hochstilisiert4 werden und keineswegs nur imaginierte,5 idealisierte Wissensräume darstellen. Dies belegen die in situ erhaltenen Bibliotheken ebenso wie jene, die als Bestände auch an ihrem neuen Aufenthaltsort respektive an ihren neuen Aufenthaltsorten über Signaturen, besser noch über erhaltene Bibliothekskataloge, als Bestand identifiziert und rekonstruiert werden können. Wenn solche Kataloge aus dem Mittelalter erhalten sind, wie das für die Kartause Aggsbach zutrifft, so wird die Rekonstruktion des Wissensraums durch den aufgeführten Inhalt nachvollziehbar. Wenn, wie in Aggsbach, die Standorte und Pulte aufgrund der Signaturen sehr genau charakterisiert werden können, dann wird der Raum selbst vorstellbar. Der aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts erhaltene Katalog6 der Kartause kann im Vergleich mit den Katalogen von Tegernsee7, Bursfelde8, St. Emmeram in Regensburg9 und Melk10 analysiert werden; es handelt sich dabei um ebenfalls etwa gleichzeitig angelegte Kataloge. Vor allem wird sich der Bestand am berühmten Katalog der Kartause Erfurt11 messen lassen müssen. In manchen der 2 Siehe zu den Briefen: Two Renaissance Book-Hunters: The Letters of Poggio Braccolini to Nicolaus de Nicolis, ed. and transl. by Phyllis Walter Goodhart Gordan, New York 1974; Stanley Morris, Early Italian Writing Books: Renaissance to Baroque, ed. by Nicolas Barker, Boston 1990, hier besonders Kapitel 1. 3 Siehe dazu Katalog der lat. Handschriften der bayerischen Staatsbibliothek München: Die Handschriften aus St. Emmeram in Regensburg Band 3, clm 14261–1400, neu beschrieben von Friedrich Helmer/Hermann Hauke/Elisabeth Wunderle (Wiesbaden 2011); – dazu auch: Peter Schmid/Rainer Scharf, Gelehrtes Leben im Kloster. Sankt Emmeram als Bildungszentrum im Spätmittelalter, München 2012. 4 Arno Mentzel-Reuters, arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden, Wiesbaden 2003. 5 Dietmar Rieger, Imaginäre Bibliotheken. Bücherwelten in der Literatur, München 2002. 6 Überlieferung des Katalogs Wien, ÖNB Cod. Ser. nova 2583. 7 Roland Götz, Kloster Tegernsee im 15. Jahrhundert, in: Franz Xaver Bischof/Martin Thurner (Hg.), Die benediktinische Klosterreform im 15. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 93–142; Winfried Müller, Die Anfänge der Humanismusrezeption im Kloster Tegernsee, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 92 (1981), S. 28–90. 8 Anja Freckmann, Die Bibliothek des Klosters Bursfelde im Spätmittelalter, Göttingen 2006. 9 Ingeborg Neske, Die Handschriften aus St. Emmeram in Regensburg Clm 14131–14260, Wiesbaden 2005. 10 Gottfried Glaßner/Meta Niederkorn-Bruck (Hg.), Universität und Kloster. Melk als Hort der Wissenschaftspflege im Bannkreis der Universität Wien (Thesaurus Mellicensis 3), Melk 2016; für das Mittelalter spezifisch: Meta Niederkorn-Bruck, Unterricht und Wissenschaftspflege im Spannungsfeld von Universität und Kloster : Neue Erkenntnisse zum Buchbestand und Bücherzuwachs der Melker Bibliothek zwischen 1365 und 1517, in: Glaßner/Niederkorn-Bruck 2016, S. 99–127. 11 Edition: Paul Lehman, Bistum Mainz, Erfurt (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz II, MBKD), München 1928.

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genannten Bibliotheken sind die Humanisten fündig geworden, Johannes Hinderbach auf der Suche nach Überlieferungen des Basilius12 oder Benedictus Chelidonius in Melk13. Für Aggsbach belegt die Korrespondenz zwischen den Benediktinern Bernhard von Waging aus Tegernsee, Johannes Schlitpacher aus Melk und dem Kartäuser Vinzenz von Aggsbach nicht nur die unversöhnliche Diskussion über die docta ignorancia des Cusaners, sie belegt immer wieder auch die Bitten um Abschriften von Texten verschiedenster Wissensgebiete; auch jener der Chronologie und der Astronomie.14 Johannes Keck, Studienkollege des Johannes Schlitpacher in Wien und Benediktiner aus Tegernsee, ist in diesen Aktionsradius durch seine Korrespondenz in verschiedene Diskurse eingebunden; die das eremitische Leben ebenso betreffen15 wie vor allem Fragen zur Astronomie. Aber nicht nur Klosterbibliotheken und Gelehrte aus diversen monastischen Umfeldern, sondern auch Universitätsbibliotheken16 und allenfalls Privatsammlungen von Gelehrten17 sind zu berücksichtigen, so etwa jene des Amplonius Ratinck von Bercka, der nach seinem Studium an den Universitäten Prag, Köln, Erfurt und Wien18 1387 schließlich wieder in Prag das magisterium artium erlangte und 1383 an der Universität Erfurt zum doctor medicinae promoviert wurde. Er trat in die Dienste des Erzbischofs von Köln ein; ab 1412 war er auch Dechant in St. Viktor/Mainz. Bereits 1410/12 hatte er selbst ein Verzeichnis 12 Donatella Frioli, Johannes Hinderbach (+ 1486) e l’abbazia di Tegernsee: per la tradizione manoscritta di Basilio Magno, in: Studi Cesare Scalon 2009, S. 265–286. 13 Meta Niederkorn-Bruck, Neue Erkenntnisse zum Buchbestand und Bücherzuwachs der Melker Bibliothek zwischen 1365 und 1517, in: Glaßner/Niederkorn-Bruck 2016, S. 99–127, S. 122. 14 Vgl. etwa Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1767. 15 Wilhelm Baum, Johannes Kecks Traktat über Klosterleben und Eremitentum für den Einsiedler Hans Frankenfurter im Halltal (1447). Ein Beitrag zur Geschichte des Klosters Tegernsee und zur Biographie des Nikolaus von Kues, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 97 (1986), S. 444–461. 16 Gerd Brinkhus/Arno Mentzel-Reuters, Handschriftenkataloge der Universitätsbibliothek Tübingen. Signaturen Mc 151 bis Mc 379 sowie die lateinischen Handschriften bis 1600 aus den Signaturengruppen Mh, Mk und aus dem Druckschriftenbestand, beschrieben unter Mitwirkung von Hedwig Röckelein u. a. unter Benutzung der Vorarbeiten von Eugen Neuscheler, Wiesbaden 2001. 17 Renate Jürgensen, Bibliotheca norica. Patrizier- und Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg zwischen Mittelalter und Aufklärung, Wiesbaden 2002. 18 Siehe dazu auch Paul Uiblein, Die Beziehungen der Wiener Universität zu anderen Universitäten, in: Kurt Mühlberger/Karl Kadletz (Hg.), Die Universität Wien im Mittelalter (Schriftenreihe des Universitätsarchivs [Wien] 11), Wien 1999, S. 123–178, S. 136–137. – Jetzt auch Meta Niederkorn-Bruck, Ex diligencia lectionis nascitur sciencia Dei (Proemium longum, I,1). Die Artes Liberalesa in den kartäusischen Buchbeständen, in: Sammeln, Kopieren, Verbreiten. Zur Buchkultur der Kartäuser gestern und heute. Publikation der Vorträge der Tagung, Ittingen 13.–16. Juli 2017 (=Analecta cartusiana, hg. Sylvain Excoffon und Coralie Zermatten, Lyon 2018), S. 221–251 (im Druck).

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seiner Bücher angelegt, in dem er 635 Bände verzeichnete.19 Dieser Bestand, als Bibliothek des Collegium Amplonianum bekannt, hat im Hinblick auf die Besonderheit des Aggsbacher Buchbestandes im Bereich der Astronomie und Medizin besonders hohen Wert.

Schrifttum aus der Universität – der Einfluss der ersten Wiener Mathematischen Schule in Aggsbach Vorrangig gilt es hier im Hinblick auf die Aggsbacher Bibliothek zu klären, ob es wirklich stimmt, dass in der »spezifischen Spiritualität die Ursache für die Errichtung und Pflege [der] großen Bibliotheken im Spätmittelalter zu suchen« sei. Ebenso ist zu untersuchen, ob, wie Anja Freckmann meint, der »von Lektüre und Kopiertätigkeit bestimmte Tagesablauf […] keinen Freiraum zur Beschäftigung mit der Wissenschaft um des menschlichen Wissensdrangs (curiositas) willen« zuließ. Frau Freckmann, aber auch andere Wissenschafter/innen, die sich mit den Reformorden des späten Mittelalters beschäftigen und hier naturgemäß dem Lektürekanon und den Bibliotheksbeständen Aufmerksamkeit schenken, stellen insbesondere die Kartäuser immer in den Kontext der Spiritualität. Wissenspflege und gar Wissenschaft wird ihnen nicht zugeschrieben. Das Studium bezieht sich in erster Linie auf das geistliche Schrifttum: Quomodo debeamus disponi pro studio in acquirendo scienciam et sapienciam.20 (Daher muss man zur Gewinnung von Wissen – sciencia – und Weisheit – sapientia – [durch die Texte] Sorge tragen). In der im Stil der akademischen Quaestio gehalten Abhandlung An christiano et precipue studenti theologie uti liceat dictis philosophorum21 wird auch bei den Kartäusern das Feld erweitert, und nicht nur im Hinblick auf die Philosophie. Seitdem in Klöstern Listen über den Buchbesitz angelegt werden, nehmen Texte zum Kalenderwesen und zur Zeitstruktur einen festen Platz darin ein. Monastisches Leben ist, wie jede auf eine Gemeinschaft ausgerichtete Lebensform, ohne Zeitbeobachtung nicht möglich. Termine müssen festgesetzt und eingehalten werden. Dennoch steht man den Naturwissenschaften kritisch gegenüber, sobald zu großer Forscherdrang in den Vordergrund zu rücken droht. Im Katalog der Erfurter Kartause wird das Spezifische und das durchaus nicht unkritische Urteil im Hinblick auf diese Literaturgattung zur Beschreibung der Handschrift N 14 festgehalten: »Computalia et astronomalia … alia multa hic 19 MBKD II, S. 5–95. Zur Biographie des Amplonius S. 1. 20 Almuth Märker, Das Prohemium longum der Erfurter Kartäuser Katalogs aus der Zeit um 1475 (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 35, 1–2), Bern 2008, S. 168. 21 Märker 2008, S. 434.

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habentur, qui tempus precisiossimum perdere faciunt perniciosa quia curiosa«22, oder noch deutlicher : »Hic multa continentur pro curiositate et eciam pro utilitate de coloribus et modo scribendi. Quomodo cornua resolvi possunt ad fundendum etc.« Dennoch wird in dem 1427/1445 im Gebrauch stehenden Aggsbacher Rechnungsbuch der Ankauf einer Sanduhr und eines Horologiums belegt23, gleichzeitig in Erfurt auch die Bauanleitung für Quadrant und Horalogium [!] verzeichnet24 ; damit stehen das Interesse und die Notwendigkeit an Instrumenten und Texten außer Zweifel. Im Aggsbacher Bibliothekskatalog finden wir in der Signaturengruppe K vorrangig Werke der Artes liberales, der Medizin und Nachschlagewerke: (K1 Vocabularius biblie; K1,2 Prima pars Katholicon; K 2,1 Huguccio maior25 ; K 3,1 Brito maior albus26 ; K 3,2 Brito; K 4,1 Vocabularius inligatus; K 4,2 Item vocabularius in coopertorio; K 5,1 Lucianus de expositione Vocabulariorum27; K 5,2 Vocabularius parvus). Dazu kommt spezifische kartusianische Historiographie K 6,2 Cronica priorum Carthusie, item ortus et decursus ordinis Carthusiensis, editus a magistro Henrico Kalkar, eiusdem ordinis prior.28 Ein Band, K 13,2, nimmt im Katalog besonders viel Raum in der Beschreibung ein, weil er als einziger unter allen in dieser Signaturengruppe die Texte einzelnen mit den Überschriften aufgeschlüsselt verzeichnet. Ein besonderer Platz gebührt dem Buch mit der Signatur K 13,2 aber aufgrund seines Inhaltes. Der Band belegt vor allem das spezifische Interesse und die rasche Rezeption universitärer Textproduktion zur Astronomie; geradezu ein Faible der Kartäuser für die Astronomie: Der Katalog verzeichnet:

22 Erfurt, Kartause, MBKD II S. 483. 23 St. Pölten, DOEZA, Rechnungsbuch, fol. Item Thomas [Prior] habet pro horologio 1 tl. XV den., item fur die Santur 1 tl. 12 den. 24 Erfurt, Kartause MBKD II, S. 483: »Ars faciendi virgam visorie, horologium Achas quadrantem«. Vgl. dazu auch Menso Folkerts, Mittelalterliche mathematische Handschriften in westlichen Sprachen in der Berliner Staatsbibliothek. Ein vorläufiges Verzeichnis, in: Mathematical Perspectives. Essays on Mathematics and its Historical Development 27 (1981), S. 53–93. 25 Wolfgang P. Müller, The Summa decretorum of Huguccio, in: The History of Canon Law in the Classical Period, 1140–1234: From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX, ed. by W. Hartmann and K. Pennington, Washington/DC 2008, S. 142–160. – Im Schlagwortverzeichnis sub voce Huguccio fol. 71v verzeichnet. 26 Wien, ÖNB Cod. Ser. Nova 2583, Sub voce Britonis im Schlagwortverzeichnis fol. 56r verzeichnet. – In der gedruckten Ausgabe mit dem Titel: Rodulphus : Questiones subtilissime Magistri Rodulphi Britonis super arte veteri; hier HS, nicht der Druck, Venetiis, Rubeus, 1499. 27 Wien, ÖNB Cod. Ser. Nova 2583. – Im Schlagwortverzeichnis Vocabulorum Luciani, K 51, fol. 105v. 28 Wien, ÖNB Cod. Ser. Nova 2583 Sub voce Carthusiensis ordinis (fol. 44r). – Im Schlagwortverzeichnis fol. 57v. Henricus Egher de Kalkar, Kartause Köln, gest. 1408.

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»Item tractatus de 12 signis radiati et planetis; Item excerpta quedam astronomie ad cognitionem et curam infirmitatum serviencia; Item liber Zahelis29 astronomie theorice et practice30 ; Item Messala31 de interpretatione; Item Messala32 de cogitatione et intentione; Item secreta Hermetis33 Manfrido rege Sicilie per Steffanum de Messina34 translata; Item epistula Metsalachach de rebus eclipsis et lune; Item excerpta de libris differencium Alfragani35 cum quibusdam tabulis mansionum lune et stellarum fixarum; Item tractatus perbrevis de domibus signorum; Item liber Hali36 de complexione planetarum cum sole in omnibus signis; Item tractatus de duodecim signis et tabulis eclipsis iam exspiratis; Item de speris planetarum et spissitudine et distancia earum. Item de motu eorundem; Item Albumasar37, de pluviis et mutatione temporum cum iudiciis sive iudiciis signorum annexis et tabulis; Item inicium cuiusdam tractatuli medicinalis; Item pronosticacio quedam secundum litteras nominum; Item tractatus de modo et viis medendi infirmitates; Item tractatus de iudicio et regulis urinarum, qui dicitur practica magistri Waltheri de Anglia; Item practicella medicinalis magistri Mundini38 Bononiensis; Item practicella Johannis de Parma medicinalis39 ; Item tra-

29 Zahel, Sahl ibn Bisr, Astrologe des 9. Jahrhunderts; gest. 845 – ein astrologisches Kompendium Kitab al-Ahkam; beeinflusste Dorotheos von Sydon; siehe Hasse 2016, S. 406. – Sein erfolgreichstes Werk – De temporibus – in Erfurt nicht verzeichnet. 30 Wien, ÖNB Cod. Ser. Nova 2583, Sub voce Astronomia theorice et practice Zahelis Wien, ÖNB Cod. Ser. Nova 2583, fol. 53v verzeichnet. 31 Mezzahalach – Es handelt sich um die Messahala (Masha ’Allah) des Ibn Athari [† c815]. 32 Erfurt, Collegium Amplonianum Messahalach; ed. S. 27. – In der Kartause Erfurt nicht verzeichnet. 33 Hermes; bereits Simon von Pharos berichtete über ihn – Traktat über die Fixsterne; Le Recueil des plus celebres astrologues des Simon de Phares. Pdit8 pour la soci8t8 de l’histoire de France par Jean-Patrice Boudet Tom Ier (Pdition critique), Paris 1997, S. 204–207. 34 Paolo Lucentini, L’Ermetismo magico del XIII, in: Menso Folkerts/Richard Lorch (Hg.), Sic itur ad astra. Studien zur Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften. FS für den Arabisten Paul Kunitzsch zum 70. Geburtstag, Wiesbaden 2000, S. 409–450, S. 421: Michael Scotus – getrieben von der veracitas scientiae – im Auftrag Kaiser Friedrichs II. – »L’autorit# di Ermete, ricordato tra i doctores dell’ astrologia« – (Centiloquium) Steffano da Messina war Übersetzer. 35 Ahmad Ibn Muhamad ibn Katir al-Fargani (830–860) bed. Kompendium zur Ptolomeischen Astronomie; durch Johannes von Sevilla und Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzt. – Oft von den Renaissancegelehrten mit Afrarabi, dem Peripathetiker, wirkte im 13. Jahrhundert, verwechselt, vgl. Hasse 2016, S. 33. 36 Haly filius Abenragel; bedeutender Astrologe im 11. Jhdt; wohl 1041 verstorben, vgl. Hasse 2016, S. 372. Werke im 13. Jahrhundert übersetzt; siehe Hasse 2016, S. 371. – Erfurt: Haly Abenragel, Commentum in Ptolomeum Collegium Universitatis, ed., S. 156. – In der Kartause Erfurt nicht verzeichnet. 37 Hasse 2016, S. 61–62. – Albumasar, oft aus Spanien stammend bezeichnet, ist tatsächlich in Balh, im heutigen Nordafghanistan geboren (Seidenstraße!), lebte um 787–886, vgl. Hasse 2016, S. 63. – In Erfurt, Collegium Amplonianum Albumazar arabicus, ed. S. 22. 38 Anothomia, di Mondino de’ Liuzzi da Bologna, XIV secolo. A cura di Giorgi, Piero P. e Pasini, Gian Franco. Introduzione, ricerca anatomica, revisione del testo italiano, note critiche, biografia e bibliografia: Giorgi, Piero P. Trascrizione, apparato critico, traduzione ed iconografia: Cavazza, Albertina e Pasini, Gian Franco (1992). – Joannes Adelphus bezeichnet Mundinus in der Vorbemerkung zur Drucklegung des Textes (Martin Flach, Basel 1513):

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ctatus medicinalis de conferentibus et nocentibus; Item quoddam notabile de spiritibus et vitalibus«.

Nach einem Einschub über die Behandlung der Frage der unbefleckten Empfängnis folgt abermals40 astronomisches Schrifttum: Item tractatus de stellis fixis, und div. Texte zur Medizin: Item cantica medicinalia Avicenne41 cum commento Averrois42 ; Item tractatulus de simplicibus medicinis cordialibus; Item diverse cure infirmitatum oculorum, aurum, dencium etc. Auch die Bände K 14,2 sowie 15,1 bis 15,3 bieten ebenso Texte zur Astronomie/Chronologie: Item varie computationes de etatibus mundi43 und 15,1 bis 15,3 (K 15,1 Item Kalendarium Gmuend44 ; Ibidem compotus Nurnbergensis45) und Musik. Wie kann es nun dazu kommen, dass in einer Kartause so hohes Interesse an den akademischen Diskursen besteht? Hier sind einmal mehr die Netzwerke zwischen der Universität und dem monastischen Umfeld (in diesem Fall zu den Kartäusern und Benediktinern) erkennbar. Johannes von Gmunden, Georg Peuerbach, Johannes Regiomontanus sind die prominenten Vertreter des Faches an der Artistenfakultät der Wiener Universität im zweiten und dritten Drittel des 15. Jahrhunderts. Unter ihren Hörern befanden sich unter anderem Johannes Keck und Johannes Schlitpacher. Beide werden auch als Benediktiner und als solche als Protagonisten der Melker Reform Prominenz erlangen. Bedeutung aber gewinnen sie nicht nur durch ihre monastischen Aufgabenfelder, sondern – was vor allem für unser Thema von Bedeutung ist – durch die Vermittlertätigkeit der Wissenschaft im Zusammenhang mit dem Wissensgut der Wiener Mathematischen Schule. Für Aggsbach kommt vor allem dem Melker Benediktiner Johannes Schlitpacher in der Vermittlung Bedeutung zu. Es ist auch kein Zufall, dass in der Melker Handschrift, aus dem Besitz des Johannes Schlitpacher, in einer Randbemerkung bei der Abschrift eines Briefes des Vinzenz am unteren

39 40 41 42

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»Mundinus ipse physicus preclarissimus, quem omnis studentium universitas colit ac veneratur«. Erfurt; Collegium Amplonianum (wie Anm. 18) S. 53. – Im Katalog der Kartause nicht verzeichnet. Wien, ÖNB Cod. Ser. Nova 2583, hier bereits fol. 45r. Avicenna, gest. 1037, wird oft zu einem Zeitgenossen des Averroes gemacht – vor allem in biobibliographischem Schrifttum der Renaissance (etwa Foresti); vgl. Hasse 2016, S. 35. Gottlieb, Aggsbach, MBKÖ I, S. 609 schreibt hier anstelle von Averrois – autoris. – Zur Bedeutung des Textes siehe auch Detlef Döring, Die Bestandsentwicklung der Bibliothek der Philosophischen Fakultät der Universität zu Leipzig von ihren Anfängen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts: ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Leipziger Universität in ihrer vorreformatorischen Zeit (Zentralblatt für Bibliothekswesen, Beiheft 99), Leipzig 1990, S. 73. Wien, ÖNB Cod. Ser. Nova 2583, im Schlagwortverzeichnis de Etatibus mundi varie, fol. 67r. Wien, ÖNB Cod. Ser. Nova 2583, Sub voce Calendarium – Im Schlagwortverzeichnis fol. 57v. – Aber auch sub voce Kalendarium fol. 75v verzeichnet. Wien, ÖNB Cod. Ser. Nova 2583, Sub voce Compotus im Schlagwortverzeichnis fol. 58v verzeichnet.

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Meta Niederkorn-Bruck

Rand des Blattes als Nachsatz belegt ist, dass einige andere die Traktate zur Astronomie des Georg von Peuerbach lesen möchten:46 »aliqui interpretationem Comete Georgii aliqui libenter legerent.«47 Die Verquickung mit anderen, sozusagen tagesaktuellen Fragen belegt die Lebendigkeit des Briefwechsels; denn ebenso ist hier zu lesen, dass der Kartäuser um einen konkreten Hinweis dafür bittet, ob die Missa contra paganos in solemnis – also als Festmesse zu lesen sei: »si habetis [scil. ordinationem] eam communicate nobis«.48 Warum also soll sich ein Kartäuser mit den Artes liberales, und hier besonders mit der Astronomie, beschäftigen, wenn er doch durch diese eher zum Hochmut verlockt würde, wie im Prohemium der Kartause Erfurt, unter Berufung auf Augustinus, explizit gewarnt wird. »Melius est enim scire infirmitates nostras quam naturas rerum«.49 Die Grammatik wird unter dem Aspekt des Lesens und Verstehens der Schrift ausführlich befürwortet (Abschnitt VI/11-VI/19), dennoch warnt das Prohemium – in langer Tradition stehend – vor der Neugier : »Curiositas est studium perscrutandi ea, que scire nulla est utilitas.«50 Ebenfalls deutlich ist auch der Vorbehalt den Artes gegenüber auch im Vorwort zur Signaturengruppe N, in welcher die »Libri arcium liberalium et scienciarum speculativarum et naturalium«51 verzeichnet werden. Der Astronomie gegenüber wird der Vorbehalt schließlich noch deutlicher ausgedrückt; der Abschnitt über die »Computalia et astronomicalia« schließt Johannes Hagen den Bestand zusammenfassend mit einer Warnung ab: »Alia multa hic habentur, que tempus preciosissimum perdere faciunt perniciose quia curiosa.«52 Die Aggsbacher räumen, wie gezeigt werden konnte, dem Schrifttum der ersten Mathematischen Schule an der Universität Wien53 hohen Stellenwert ein; jenem Schrifttum, das von Johannes Hagen im Katalog der Erfurter Kartause als eines klassifiziert wird, das eigentlich zu den curiosa zu rechnen ist; und selbst Jean Mabillon rät noch im ausgehenden 17. Jahrhundert in seinem Tractatus de studiis monasticis54 vor allzu ausgeprägter Neugier ab. Wir wissen aber, dass 46 47 48 49 50 51 52 53

Melk, StiB, Cod. 1767 pag. 399, unterer Rand. Melk, StiB Cod. 1767 pag. 399, unterer Rand. Melk, StiB Cod. 1767 pag. 399, unterer Rand. Märker 2008 I, S. 116. Ebd., S. 231. Erfurt, Katalog, MBKD II, S. 480. Ebd., S. 483. Günther Hamann (Hg.), Der Weg der Naturwissenschaft von Johannes von Gmunden zu Johannes Kepler, Wien 1988; Maria Firneis, Astronomische Instrumente aus der Zeit des Johannes von Gmunden, in: Rudolf Simek (Hg.), Johannes von Gmunden, Wien 2006, S. 139–149; Paul Beck/Gottfried Glaßner/Meta Niederkorn-Bruck, Das wissenschaftliche Umfeld der jungen Universität am Beispiel der Ersten Wiener Schule der Astronomie, in: Glaßner/Niederkorn-Bruck 2016, S. 84–98. 54 Jean Mabillon, Josef Porta, Armand Jean Le Bouthillier de Ranc8, Tractatus de Studiis monasticis. Volumen alterum sive Appendix, Venetiis 1730, S. 189–219.

Untersuchung zu Texten aus der Wiener Mathematischen Schule

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beide – sowohl Johannes Hagen als auch Jean Mabillon – den Spagat zwischen curiositas, studium und utilitas hervorragend gemeistert haben, obwohl sie selbst mehrfach ausführlich vor der curiositas warnen. Gehörten sie doch zu jenen, die sich ausführlich auch mit der Harmonisierung von Ungereimtheiten zwischen dem Wissen über Zeitverlauf und festgefügter kirchlicher Lehre Gedanken machten. Die curiositas der Mauriner in der Person eines Dom Bernard de Montfaucon und eines Dom Thierry Ruinart führt zur Begründung der Paläographie als Wissenschaft und zur Byzantinistik; knapp danach unterliegt die Kartause Aggsbach der josephinischen Klosteraufhebung, während die Benediktiner weiter forschen. Es sind die Wissensinteressen des sozialen Raumes,55 die ein Bibliothekskatalog abzeichnet; zweifellos. Es ist aber auch ein Zeugnis für das Wissensinteresse eines sozialen Raumes, wenn Klöster aufgehoben, ihre Bibliotheken heute dennoch erforscht werden – also über die Forschung die Bibliotheken als Wissensraum Bestand haben.

55 Idee des sozialen Raume – Klosterbibliothek – hier angelehnt an: Christel Erika Meier, Enzyklopädischer ordo und sozialer Gebrauchsraum. Modelle der Funktionalität einer universalen Literaturform, in: Christel Meier (Hg.), Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, München 2002, S. 511–532.

Thomas Stockinger

Zacharias episcopus incertae sedis. Diplomatik und Überlieferungsgeschichte einer irrig ausgestellten Fahrkarte für den Zug der europäischen Literargeschichte

Wie funktionieren die »literarischen Maschinen« (M. Gierl), die einmal erzeugtes ›wissenschaftliches‹ Wissen sammeln, erschließen und weitergeben: Kompilationen, Lexika, Datenbanken? Setzen wir ihre Effizienz und Neutralität zu Recht voraus? Der Beitrag zeigt am Einzelfall einer bio-bibliographischen ›Schwarzfahrt‹ einige ihrer Unvollkommenheiten. »Literary machines« (M. Gierl) – compilations, encyclopedias, databases – are used to collect, sort and index ›scientifically‹ generated knowledge and to keep it available over time. But how do they work, and are they as efficient and as neutral as we like to assume? This paper uses a single case of a bio-bibliographical ›joyride‹ to point out some significant imperfections. »The image conjured up is of a train in which Greeks and Latins, spurious and genuine authorities, sit side by side until they reach a stop marked ›Renaissance‹. Then grimfaced humanists climb aboard, check tickets, and expel fakes in hordes through doors and windows alike.«1

Wem eindringliche Sprachbilder so leicht von der Hand gehen wie Anthony Grafton, der scheut sich auch nicht, sie sofort wieder zu zerschlagen. Auch in der zitierten Passage ersinnt er die Metapher von echten und unechten antiken Autor/inn/en als Fahrgästen eines durch die Zeiten dampfenden Zuges der Überlieferung und von Gelehrten als gestrengen Kontrolleur/inn/en nur, um gleich darauf eine solche Vision der Gelehrsamkeitsgeschichte als »rectilinear and teleological« zu verwerfen2 und eine weit komplexere Darstellung anzubieten. Was im Folgenden über eine lange ›Schwarzfahrt‹ in diesem Zug berichtet 1 Anthony Grafton, Invention of Traditions and Traditions of Invention in Renaissance Europe: The Strange Case of Annius of Viterbo, in: Anthony Grafton/Ann Blair (Hg.), The Transmission of Culture in Early Modern Europe, Philadelphia 1990, S. 8–38, S. 10. 2 Ebd., S. 11.

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Thomas Stockinger

wird, ist nicht bahnbrechend, zumal naiv-triumphale Fortschrittserzählungen längst nicht mehr zum State of the Art in der Geschichte der Kulturwissenschaften gehören. Dennoch mag ein Blick auf die Umstände dieses Falles zu verstehen helfen, wie sehr es an der Funktionsweise des Zuges selbst und der Eisenbahngesellschaft liegt, wer wie lange mitfährt, ohne dass ein besonderes Geschick zum vorsätzlichen Einschleichen nötig wäre. Die Eisenbahngesellschaft meint dabei den Wissenschaftsbetrieb, verstanden im Sinne von Mitchell Ash als »soziales Teilsystem«,3 der Zug die »literarische Maschine«4 – das Ensemble an Techniken und Praktiken – zur Sammlung und Weitergabe von ›wissenschaftlichen‹ Wissensbeständen. Als Fahrkarte mag der Komplex von Aussagen gelten, der die Ansetzung einer Autorin/eines Autors begründet, im Kern nicht mehr als die Verknüpfung eines Textes mit einem Namen. Wichtig ist, dass diese Fahrkarte zusätzlich zu ihrem Sachinhalt die Beglaubigung durch zumindest eine autorisierte Person umfasst; erst dies macht sie zu einer Urkunde5 über die Berechtigung zur Weiterfahrt. Die Handschrift Clm 14473 der Bayerischen Staatsbibliothek München gehörte bis zur Säkularisation zur Bibliothek der Abtei St. Emmeram in Regensburg.6 Ihre verschiedenen Teile, zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert geschrieben, enthalten Lebensgeschichten von Heiligen. An erster Stelle steht eine Kompilation über den hl. Georg, die mit einem Bericht zur angeblichen Auffindung seines Hauptes im Lateran durch Papst Zacharias (741–752) schließt. Darauf folgt eine Predigt zum Georgsfest unter der Rubrik »Sermo Zacharie episcopi de sancto Georgio«.7 In die neuzeitliche Gelehrsamkeit fand diese Überlieferung Eingang, als die österreichischen Benediktiner Bernhard und Hieronymus Pez 1717 nach St. Emmeram kamen und den dortigen Handschriftenbestand nach Texten sichteten, die für ihre gelehrten Vorhaben – ein bio-bibliographisches Lexikon benediktinischer Schriftsteller/inn/en sowie eine Quellensammlung zur Ge3 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/ Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51, S. 33. 4 So, in Bezug auf biographische Lexika: Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997, S. 535. 5 Dass Fahrscheine alle Wesensmerkmale von Urkunden aufweisen, pflegte bereits ein Mitbegründer der Lehre von neuzeitlichen Urkunden festzuhalten: Heinrich Otto Meisner, Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, Leipzig 1950, S. 18, S. 22. 6 Friedrich Helmer/Julia Knödler/Günter Glauche, Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis. Band 4/Series Nova 2: Katalog der lateinischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die Handschriften aus St. Emmeram in Regensburg. Teil 4: Clm 14401–14540, Wiesbaden 2015, S. 243–248. 7 Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 14473, Bl. 9v–14r.

Diplomatik und Überlieferungsgeschichte einer irrig ausgestellten Fahrkarte

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schichte Österreichs – von Wert sein konnten.8 Dabei fiel auch die Georgspredigt auf und wurde einige Jahre später ediert,9 wobei Bernhard Pez in einer Vorrede erörterte, wer jener Bischof ›Zacharias‹ gewesen sein mochte. Von den Autoren dieses Namens, die er in literarhistorischen Werken vorfand, schloss er den Prämonstratenser Zacharias Chrysopolitanus (von BesanÅon) aus, weil dieser kein Bischof war, und die meisten anderen, weil von ihnen nur griechische Texte bekannt waren. Als plausibelste Option erschien ihm der 907 gestorbene Bischof Zacharias von Säben; festlegen wollte sich Pez aber nicht darauf.10 Mehrere wichtige Punkte waren ihm entgangen. Offenbar berücksichtigte er nur den Text der Predigt, nicht den Reliquien-Erhebungsbericht; sonst hätte er gesehen, dass mit ›Zacharias‹ der Bischof von Rom gemeint war. Unsicher bleibt, ob ihm der Codex in Melk vorlag oder aus St. Emmeram eine Abschrift nur des einen Textes übermittelt wurde. Beide Verfahren kamen bei Pez’ Editionen zum Einsatz;11 das letztere würde die Dekontextualisierung der Predigt leichter erklären. An dieser lag es, dass der Text nicht als Werk des Papstes Zacharias publiziert wurde. Auch das wäre indes ein Irrtum gewesen, denn die Georgspredigt hat einen anderen Urheber : den 1072 gestorbenen Benediktiner und Kirchenreformer Petrus Damiani. Unter seinem Namen ist sie vielfach überliefert und war vor 1717 schon mehrmals gedruckt worden.12 Allerdings gibt es keinen Hinweis, dass diese Ausgaben für Pez greifbar waren.13 Und selbst wenn es so gewesen wäre, hätte er nur durch Vertrautheit mit Petrus Damianis Werken oder durch Zufall auf die richtige Spur kommen können; der Emmeramer Codex bot dazu keinen Anhaltspunkt. Bei der Ausstellung der Fahrkarte für »Bischof Zacharias eines ungewissen Bischofssitzes« spielten also mehrere Faktoren zusammen: Den Ausgangspunkt bildete das Vorgehen des mittelalterlichen Kompilators, der Petrus Damianis Predigt und die Biographie des Papstes Zacharias kombiniert hatte. Der Tunnelblick des Editors Pez löste diese Verbindung wieder und führte zur Ansetzung 8 Thomas Stockinger, Der Besuch der Brüder Pez in St. Emmeram 1717. Beobachtungen zur Arbeitsweise und zu den Zielen antiquarischer Ordensgelehrsamkeit, in: Bernhard Löffler/ Maria Rottler (Hg.), Netzwerke gelehrter Mönche. St. Emmeram im Zeitalter der Aufklärung, München 2015, S. 79–155. 9 Bernhard Pez, Thesaurus anecdotorum novissimus. Band 4/2, Augsburg/Graz 1723, Sp. 15–24. 10 Ebd., S. v–vi. 11 Vgl. Christine Glassner, Der »Thesaurus anecdotorum novissimus« des Melker Benediktiners Bernhard Pez, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 113 (2002), S. 341–370, S. 355–360. 12 Mit Nachweis der alten Drucke: Giovanni Lucchesi (Hg.), Sancti Petri Damiani Sermones ad fidem antiquorum codicum restituti, Turnhout 1983, S. 55–61. 13 Freundliche Mitteilung von P. Gottfried Glassner (Melk).

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eines schattenhaften Bischofs. Die Ursache lag in der Zeit- und Arbeitsökonomie eines Forschungsvorhabens, das die Kapazitäten Pez’ und seiner Helfer bis an ihre Grenzen und darüber hinaus forderte. Hinzu kam der Stand der Vernetzung und Suchbarkeit relevanter Wissensbestände, der im frühen 18. Jahrhundert noch nicht hinreichte, um gute Voraussetzungen für eine Klärung zu bieten. Dieser Stand wurde in den folgenden Jahrhunderten sukzessive verbessert – allerdings ohne Schaden für den Bischof ›Zacharias‹. Etliche Stationen seiner Fahrt lassen sich ermitteln. Nur eine ist als längerer Aufenthalt zu bezeichnen: Der Brixner Dompriester Joseph Resch fand in seiner Bistumsgeschichte von 1765 Gefallen an der Identifikation mit Zacharias von Säben. Er druckte Pez’ Edition samt Vorrede ab, kommentierte sie und wollte sogar errechnen, wann die Predigt gehalten worden sei.14 Auf Einsichtnahme der Handschrift beruhte seine Arbeit sichtlich nicht. Noch früher, 1746, fand ›Zacharias‹ Eingang in ein großes Nachschlagewerk zu den Autoren des Mittelalters: die Bibliotheca latina des Johann Albert Fabricius.15 Aber auch Pez’ Quellensammlung entwickelte sich zu einem Standardwerk mit Autorität. Auf sie verweisen zwei der wichtigsten literargeschichtlichen Werkzeuge des 19. Jahrhunderts: Potthasts Bibliotheca historica medii aevi16 und die Patrologia des Abb8 Migne.17 Von hier geht die Reise zu ähnlichen Hilfsmitteln des 20. Jahrhunderts,18 schließlich zu den Normdatenbanken der Gegenwart, von denen jene der Deutschen Nationalbibliothek19 und der BibliothHque nationale de France20 dem ›Zacharias‹ Eintrag und Nummer einräumen. Es zeigt sich: Das beste Verkehrsmittel für einen, dessen Fahrausweis keiner näheren Prüfung standhält, sind stark besetzte Schnellzüge, in denen die Mitfahrenden dicht an dicht sitzen und die Kontrolleur/inn/en sich hastig durch die Massen drängen müssen. Gemeinsam ist diesen Werken, dass es umfassende Sammlungen sind, deren Zwecke vor allem Vollständigkeit erfordern. Viele wurden zudem von kleinen Teams oder gar Einzelpersonen in kurzer Zeit be14 Joseph Resch, Annales ecclesiae Sabionensis nunc Brixinensis. Band 3, Augsburg 1765, S. 326–332. 15 Johann Albert Fabricius/Christian Schöttgen, Bibliotheca latina mediae et infimae aetatis. Band 6, Hamburg 1746, S. 919. 16 August Potthast, Bibliotheca historica medii aevi, Berlin 1862, S. 716. 17 Jacques-Paul Migne (Hg.), Patrologiae cursus completus. Series latina. Band 186, Paris 1854, Sp. 619–626. 18 Rodrigue LaRue/Gilles Vincent/Bruno Saint-Onge, Clavis scriptorum graecorum et latinorum. Band 3, Trois-RiviHres 1985, S. 2540f; Vittorio Volpi, Dizionario delle opere classiche. Band 2, Milano 1994, S. 1814. 19 Zacharias, Episcopus, in: Katalog der Deutschen Nationalbibliothek, http://d-nb.info/gnd/ 100706827 (abgerufen am 7. 9. 2017). 20 Zacharias (11..–11..; 8vÞque), in: BnF Catalogue g8n8ral, http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/ cb145322901 (abgerufen am 7. 9. 2017).

Diplomatik und Überlieferungsgeschichte einer irrig ausgestellten Fahrkarte

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arbeitet – ›der Potthast‹ etwa in gerade drei Jahren.21 Die in den Einträgen enthaltenen Informationen sind entweder bloße Verweise auf Vorgängerwerke oder unveränderte Übernahmen wie bei Migne, der die Edition und Vorrede Pez’ reproduzierte. Der Vorgang ist Bahnfahrer/inne/n wohlbekannt: Oft wird eine einmal entwertete Fahrkarte beim neuerlichen Vorweisen nach einem Umstieg nicht wieder geprüft, der Zangenabdruck von der ersten Kontrolle ist zu ihrem wichtigsten Beglaubigungsmittel geworden. Mitunter wird sogar ein neues Ticket anstelle des alten ausgestellt und ersetzt es. Im Laufe der Weitergaben der Angaben über ›Zacharias‹ war es in jedem Fall die Autorität einer früheren Publikation, auf die sich die Übernahme gründete, keine Prüfung der Grundlagen, der die ›Fahrkarte‹ nie standgehalten hätte. Die metaphorische Fahrkarte hat also auch in jener Hinsicht den Charakter einer Urkunde, dass ihre ›rechtliche‹ Gültigkeit – hier : nach den ›Gesetzen‹ der Gelehrtenrepublik – von ihrer sachlichen Richtigkeit zu unterscheiden ist und vorrangig von der Identität der Ausstellenden und der Form der Ausfertigung abhängt.22 Bemerkenswert ist, dass das Umsteigen in Lokalbahnen, deren Personal mehr Zeit hat und das örtliche Publikum besser kennt, zwar riskanter ist, aber nicht immer zur Aufdeckung führt. Im 20. Jahrhundert haben zumindest fünf Einzeluntersuchungen sich mit Clm 14473 oder mit Pez’ Arbeit daran befasst. Johann Aufhauser beschrieb die Handschrift und versuchte nähere Bestimmungen einiger ihrer Texte; zur Predigt des ›Zacharias‹ verwies er aber kommentarlos auf Pez.23 Wolfgang Haubrichs dagegen erkannte das Werk Petrus Damianis und vermerkte die falsche Zuordnung – an unauffälliger Stelle, daher ohne Wirkung auf den Wissensstand der Nachschlagewerke.24 Sowohl bei der Katalogisierung des Pez-Nachlasses25 als auch bei jener des Emmeramer Bestandes in München wurden zunächst die Ansetzungen für Text und Autor, welche die kanonischen Hilfsmittel boten, übernommen.26 Bei Recherchen zur Edition der Korrespon-

21 Markus Wesche, Potthast, Franz August, in: Hans Günter Hockerts u. a. (Hg.), Neue Deutsche Biographie. Band 20, Berlin 2001, S. 661–662. 22 Zur Unterscheidung von »legal authenticity«, »diplomatic authenticity« und »historical authenticity« konzise: Luciana Duranti, Diplomatics: New Uses for an Old Science, in: Archivaria. The Journal of the Association of Canadian Archivists 28 (1989), S. 7–27; 29 (1989), S. 4–17; 30 (1990), S. 4–20; 31 (1990), S. 10–25; 32 (1991), S. 6–24; 33 (1991), S. 6–24, hier Band 28, S. 17. 23 Johann Baptist Aufhauser, Das Drachenwunder des heiligen Georg in der griechischen und lateinischen Überlieferung, Leipzig 1911, S. 180f. 24 Wolfgang Haubrichs, Georgslied und Georgslegende im frühen Mittelalter. Text und Rekonstruktion, Königstein im Taunus 1979, S. 299. 25 Christine Glassner, Neuzeitliche Handschriften aus dem Nachlass der Brüder Bernhard und Hieronymus Pez in der Bibliothek des Benediktinerstiftes Melk, Wien 2008, S. 47. 26 Vorabversionen der später in Helmer/Knödler/Glauche 2015 publizierten Beschreibungen

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Thomas Stockinger

denz der Brüder Pez ergab es sich zugleich eher zufällig, die Predigt des vermeintlichen ›Zacharias‹ einer Volltextsuche in Datenbanken mittelalterlicher Texte zu unterziehen, wobei sich rasch ihre tatsächliche Identität erwies.27 Es wäre falsch, aus der Überlieferungsgeschichte der falschen Fahrkarte einen Disziplinarfall gegen die beteiligten Mitglieder der Zugteams zu konstruieren. Obwohl niemand von ihnen, angefangen bei Pez, die potentiell verfügbaren Untersuchungsmöglichkeiten ausschöpfte, handelten sie im Rahmen ihrer jeweiligen Aufgaben pflichtgemäß. Würden alle Fahrgäste in jedem Zug nach Personaldokumenten gefragt und diese würden durch Rückfrage bei den Behörden des Wohnorts verifiziert, dann könnte kein Zug fahren. Dass die verfügbaren Mittel seit der Zeit Pez’ leistungsfähiger und schneller geworden sind, – dass es etwa 2013 vom Schreibtisch aus möglich war, den Text zuzuordnen, sofern nur die richtige Suchanfrage eingegeben wurde –, macht einen bedeutenden Unterschied. Es braucht aber immer noch den Anlass, die Frage zu stellen. Der Wissenschaftsbetrieb – nicht nur der Literarhistorie und Bibliothekswissenschaft, sondern aller Disziplinen – ist existenziell darauf angewiesen, bisher gewonnene Erkenntnisse in gesammelter, geordneter und erschlossener Form verfügbar zu machen und zu halten. Zu diesem Zweck laufen seit Jahrhunderten gewaltige »literarische Maschinen«, deren Formen sich von handschriftlichen Kompendien über gedruckte Sammlungen und Lexika zu Karteien, Datenbanken und Linked Open Data entwickelt haben. Ungeachtet ihrer unverzichtbaren Wichtigkeit neigen Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichte dazu, sie weniger zu beachten als die Forschung, die neue Erkenntnisse generiert. Das dürfte ein Fehler sein, denn es setzt ein störungsfreies und neutrales Wirken dieser Informationssysteme voraus, das nicht gegeben ist. Die Frage nach der Neutralität ließe sich für etliche der Werke aufwerfen, in die ›Zacharias‹ einging. Pez wollte einerseits den Benediktinerorden durch Sammlung von dessen Autor/inn/en aufwerten, andererseits bestimmten theologischen Ansätzen Geltung verschaffen.28 Potthasts Bibliotheca entstand als Instrument für die Monumenta Germaniae Historica, ein Projekt, das der Konstruktion nationaler Identität durch Publikation von Geschichtsquellen diente.29 Mignes Patrologia

wurden online zugänglich gemacht. Darin fand sich noch im Juni 2013 die Zuschreibung an Zacharias, die nach einem Hinweis des Verfassers berichtigt wurde. 27 Ein kurzer Hinweis auf den Sachverhalt bereits in Stockinger 2015, S. 124. 28 Thomas Stockinger/Thomas Wallnig, Bernhard Pez: An Austrian Benedictine Scholar between Sacred Antiquarianism and New Practices of Scholarship, in: Erudition and the Republic of Letters 1 (2016), S. 79–105. 29 Daniela Saxer, Monumental Undertakings: Source Publications for the Nation, in: Ilaria

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entsprang dem Anliegen der Behauptung eines universellen Anspruchs der katholischen Kirche gegen Säkularisierung und Nationalismen.30 Diese Zwecke beeinflussten nachweislich editorische Praktiken und inhaltliche Entscheidungen. Am Fall des ›Zacharias‹ lässt sich aber nicht so sehr dies zeigen als eine strukturell bedingte Anfälligkeit, die aus der Antithese der Zielsetzungen ›Vollständigkeit‹ und ›kritische Prüfung‹ ebenso resultiert wie aus der (durch keinen technischen Fortschritt zu behebenden) Tendenz, die aufwändigen Informationssysteme mit dem Minimum benötigter Ressourcen auszustatten. Vertrauen in die Beglaubigung von Wissen durch frühere Bearbeitungen ist keine Dysfunktion, sondern notwendige Funktionsbedingung von Wissenschaft – auch wenn es im Einzelfall dysfunktionale Resultate erbringen mag, und obwohl es vielen Selbstbeschreibungen von Wissenschaft widerspricht. Solche strukturellen Unvollkommenheiten zu erkennen, zu verstehen und unaufgeregt in die gesellschaftlichen Debatten über Wissenschaft einzubringen, die oft zwischen naiver Glorifizierung und undifferenzierter Verteufelung keinen Mittelweg kennen, zählt zu den Aufgaben einer kritischen kulturwissenschaftlichen Wissenschaftsgeschichte, wie sie Mitchell Ash in seinem Schaffen konsequent vertreten hat.

Porciani/Johan Tollebeek (Hg.), Setting the Standards. Institutions, Networks and Communities of National Historiography, Basingstoke/New York 2012, S. 47–69. 30 Zu Migne liegen zwei unterschiedlich wertende Monographien vor: Ralph Howard Bloch, God’s Plagiarist. Being an Account of the Fabulous Industry and Irregular Commerce of the Abb8 Mign8, Chicago/London 1994; Adalbert G. Hamman, Jacques-Paul Migne. Le retour aux pHres de l’Pglise, Paris 1975.

Thomas Wallnig

Monarchia Austriaca und Res publica litteraria als Ressourcen füreinander?

Warum hatte Karl VI. keinen Wissenschaftsminister? Welche erbländischen und reichischen Zuständigkeiten hätte Gottfried Wilhelm Leibniz für seine Wiener Akademiepläne mitberücksichtigen müssen? Wie konnten Wissenschaft und Politik »Ressourcen füreinander« sein, bevor sie im 19. Jahrhundert die heute gängigen Bestimmungen erfuhren? Der Beitrag entwickelt diese und andere Fragen anhand von Beobachtungen zur Monarchia Austriaca des frühen 18. Jahrhunderts. Why did Charles VI not have a minister of scientific and scholarly affairs? What administrative competences – for the Empire and for the Habsburg lands – should Gottfried Wilhelm Leibniz have taken into consideration for his Viennese academy plans? How could science/scholarship and politics be »resources for each other« during a period before they would come to receive their modern-day definitions over the course of the nineteenth century? This paper addresses these and other questions from the perspective of the Austrian Monarchy of the early eighteenth century.

Wenn Wissenschaft und Politik Ressourcen füreinander sind, waren es dann nicht auch die Gelehrtenrepublik und der frühneuzeitliche Fürstenstaat? Wenn zwischen den Feldern der Wissensgenerierung und der politischen Entscheidung seit dem Beginn der Moderne Interaktion herrscht, warum betrachten wir dann nicht die vormodernen Genealogien dieser Konstellation? Ist am Ende die Zäsur selbst – wo immer man sie im 19. Jahrhundert auch platzieren mag – nur eine historiographische Phantasie? Sie ist es nicht, wenn man von einer unzweideutig an moderne Staatlichkeit gebundenen Wissensproduktion her denkt. Die Universitäten und Akademien des 19. und 20. Jahrhunderts standen in einem weitaus engeren Verhältnis zu politischen Entscheidungsprozessen, als dies ihre Vorgängerinstitutionen im 16. und 17. Jahrhundert taten, und die Entstehung von Verwaltungswissen setzt die Entstehung von Verwaltung voraus. Wenn man aber, mit Mitchell Ash, sowohl für »Wissenschaft« als auch für »Politik« offene

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Thomas Wallnig

Begriffe zulässt,1 so erscheinen dadurch beide deutlich in ihrer historischen Gebundenheit. Wissenschaft und Politik sind nicht nur Ressourcen füreinander, sie haben sich in ihrer modernen Form auch aneinander – in Abgrenzung voneinander, in Beziehung zueinander, und, vereinfachend gesagt, in gemeinsamer Ausschließung eines dritten Faktors: des religiös gebundenen Wissens – entwickelt. Topisch ist das Verhältnis der Mächtigen zum Wissen ein Dauerthema, dessen genealogische Angel man bis an die Grenzen der Schriftlichkeit schlechthin rück-auswerfen kann. Man kann die biblischen Propheten ebenso bemühen wie Marc Aurel, Otto von Freising ebenso wie Niccolk Machiavelli, doch betreten erst mit der Entwicklung wissensgebundener Verwaltungsabläufe jene intermediären Akteure die Szenerie, bei denen sich das Regierungswissen, gleichsam vom Träger gelöst, an universell veranschlagte Systeme rückgebunden zeigt. Das hochmittelalterliche gelehrte Kirchenrecht schuf eine Folie, der auch die fürstlichen Verwaltungen um den Beginn der Neuzeit folgten. Natürlich hinkt der Vergleich zwischen Bartolo von Sassoferrato und Joseph von Sonnenfels, zwischen den Pariser Thomisten und den Pariser Physiokraten, zwischen Colbert und Althoff. Doch wird er sehr wohl gangbar, wenn die Frage eben nicht nur nach den inhaltlichen Parametern gestellt wird, sondern nach der Art und Weise, wie Wissen und Herrschaft – Wissenschaft und Politik – einander in den jeweiligen Konstellationen bedingten und gegenseitig definieren halfen. Diese Frage ist keineswegs schmückendes Beiwerk einer Wissenschaftsgeschichte, die nach dem Auszug aus »Paradigm-Land« (Reingold)2 nach einer neuen methodischen Fundierung sucht. Sie ist vielmehr das Fundament einer tatsächlich bilateral gedachten Interaktionsgeschichte – »Beziehungsgeschichte«3 – von Politik und Wissen, die am anderen Ende an eine vom Begriff des »Staatswissens« her neu gedachte Politikgeschichte anknüpfen kann.4 Nach der wissenschaftsgeschichtlichen Seite hin wird so gleichsam eine praxeologische Reintegration von Ideengeschichte möglich, die dann Ideen als Verhandlungsmasse von Praktiken, als bewusste Eisbergspitze von Interaktionsmustern auffasst, nicht als geschichtsphilosophische Metakategorien. Damit werden Ideen auch (wieder?) kompatibler mit den praxeologisch unterlegten Kategoriensystemen der Technik- und Naturwissenschaftsentwicklung: »Objektivität« ist

1 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 11–46, hier S. 19. 2 Nathan Reingold, Through Paradigm-Land to a Normal History of Science, in: Social Studies of Science 10 (1980) 4, S. 475–496. 3 Vgl. Ash 2010. 4 Peter Collin/Thomas Horstmann (Hg.), Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden 2004.

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vielleicht das prominenteste Beispiel.5 Zugleich kann solch ein Ansatz wissensund wissenschaftsgeschichtlich gedachter Politikgeschichte auch eminent erhellend für die Historizität vermeintlich stabiler Kategorien und Referenzräume im politischen, gesellschaftlichen und sozialen Diskursfeld sein. Von einem diesbezüglich besonders signifikanten Beispiel – dem Wien der 1710er und 1720er Jahre – handeln die folgenden Ausführungen. Die ersten beiden Jahrzehnte der Herrschaft Karls VI. als Kaiser sahen Wien als potentielles gelehrtes Referenzzentrum für gänzlich unterschiedliche Wissensräume mit unterschiedlichen Wissenstraditionen: Italien, wo zahlreiche Territorien sich nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges nach Wien hin orientierten; das Reich, wo nach den Kriegen gegen das Osmanische Reich und Frankreich auch in den protestantischen Reichsteilen eine tendenziell Wien-freundliche Stimmung herrschte; schließlich jenes ›Österreich‹, das territorial durch die Eroberungsfeldzüge am Balkan, staatsrechtlich durch die Pragmatische Sanktion und ideologisch in der Folge des Österreichischen Erbfolgekrieges Gestalt annahm, lange bevor es 1804 staatsrechtliche Relevanz erhielt. Keine dieser Problemlagen – verbunden jeweils mit einer ganz spezifischen Verbindung von Verwaltungsaufbau und Wissensverstaatlichung – ist in den entsprechenden »Scheidungsgeschichten« des 19. und 20. Jahrhunderts hinreichend berücksichtigt worden: nicht für Italien, wo zwischen einer Risorgimento-Optik des Autochton-Italienischen und einer quasi-revisionistischen Betonung habsburgischer Errungenschaften kaum Platz für die Frage nach der Rolle dieser Konstellation für Institutionen und Praktiken des Wissens blieb (ein prominentes Beispiel dafür ist die Landesaufnahme in der Lombardei); nicht für ›Deutschland‹, wo die im mittleren 18. Jahrhundert einsetzende Erzählung von der preußischen Überlegenheit und der Strahlwirkung Göttingens bis in die Gegenwart fortgeschrieben wird, wo kaum Interesse an der Vorgeschichte der preußischen Erfolgsgeschichte selbst und ihren protestantischen wie katholischen Alternativen, etwa in Augsburg, Nürnberg, Hannover, Mainz oder Erfurt – besteht; wo der Aufbau und die Konsolidierung einer ›österreichischen‹ Staatlichkeit, wie sie zwischen 1748 und 1790 fraglos stattfand, zu Unrecht in eins gesetzt wird mit der »Herausentwicklung« aus dem Reich, wo es doch – eben eigentlich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein – um eine Behauptung Wiens und Habsburgs im Reich ging, auch in wissenspolitischen Fragen. Dass eben diese Perspektive im langen Ringen um die Deutungshoheit über ›Deutschland‹ auch großdeutsch-nationalsozialistische Narrative exzellent bedient hat, muss dabei stets mitbedacht werden.6 Am ehesten hat die Komplexität des ›österreichischen‹ Paradigmas an 5 Lorraine Daston/Peter Galison, Objectivity, New York 2007. 6 Heinrich von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart. 2 Bände, München 1950.

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der Nahtstelle von Wissenschaft und Politik in den vergangenen Jahren aus der Perspektive des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts die gebührende Beachtung gefunden.7 Doch wollte Gottfried Wilhelm Leibniz, als er sich 1712 bis 1714, in den ersten Regierungsjahren Karls VI., zum fünften Mal in Wien aufhielt, eben eine Akademie für das Reich gründen.8 Er hatte seine ersten wissenschaftsorganisatorischen Initiativen gesetzt, als er sich in den 1660er Jahren, in Diensten des Mainzer Fürsterzbischofs und Reichskanzlers, um ein Periodikum zur Anzeige von Neuerscheinungen im Reich bemühte. Er hatte die Nähe zwischen seinen späteren Dienstgebern, den Hannover’schen Welfen, und den Habsburgern begleitet und gefördert, nicht zuletzt im Hinblick auf die Heiraten (und Konversionen) der Kaiserinnen Amalie Wilhelmine und Elisabeth Christine; erstere war Leibniz’ Hauptansprechpartnerin für die Akademiepläne. Schließlich reiht sich Leibniz ein in eine lange Serie ›deutscher‹ Gelehrter, die im späten 17. Jahrhundert unter Bezugnahme auf Kaiser und Reich gelehrte Strukturen schaffen wollten: von der ersten ›Akademie‹ im Reich, der Leopoldina, über Christian Franz Paullinis »Historisches Reichscolleg« bis hin zu Peter Lambeck, dem Konvertiten aus Hamburg, der als Präfekt der Wiener Hofbibliothek deren Bedeutung im Reich und in der Res publica litteraria zu seinem Programm machte. Doch an wen sollte sich Leibniz wenden? Karl VI. hatte keinen Wissenschaftsminister, nicht einmal einen »information master«.9 Dass Intervention in wissenschaftsorganisatorischen Fragen nicht ohne Patronagebeziehungen auskommt, ist kein vormodernes Spezifikum, sondern ein Konstituens der Rede von der »Beziehungsgeschichte«. Somit ist nachvollziehbar, warum Leibniz’ Initiative über seine »Landsfrau«, die Kaiserinwitwe, und ihre gelehrte Hofdame Klencke abgewickelt wurde. Doch tut sich eben hinter diesem ersten Schritt persönlicher Einflussnahme bei Hof die institutionelle Leerstelle auf, der unser Interesse gilt. Der 2018 erscheinende erste Band der Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der frühen Neuzeit10 zeigt eindrucksvoll, warum es keinen

7 Mitchell G. Ash/Jan J. Surman (Hg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918, Basinkstoke 2012. 8 Zum Folgenden: Thomas Wallnig, Leibniz verlässt Wien, ohne eine Akademie gegründet zu haben – was nachher geschah, in: Herta Nagl-Docekal (Hg.), Leibniz heute lesen, Berlin 2018, S. 175–184. 9 Jacob Soll, The Information Master. Jean-Baptiste Colbert’s Secret State Intelligence System, Ann Arbor 2009. 10 Vgl. Thomas Winkelbauer/Michael Hochedlinger/Petr Mata (Hg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Band 1: Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen (MIÖG), Wien

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Wissenschaftsminister Karls VI. geben konnte. Unter den erbländischen, reichischen, höfischen und sonstigen Dikasterien der Monarchia Austriaca, die – in Wien – im weitesten Sinn mit Fragen der Wissensorganisation befasst sein konnten, kommen etwa in Frage: das Hausarchiv ; verschiedene Bereiche und Institutionen in der Zuständigkeit des Obersthofmeisteramtes, so die Hofbibliothek oder die Hofhistoriographie; das Hofbauwesen; die zum Oberstkämmereramt ressortierenden kaiserlichen Sammlungen; reichische Institutionen wie der Reichshofrat; ›österreichische‹ Institutionen wie der Hofkriegsrat. Freilich lassen sich im Zuge der maria-theresianischen Reformen der landesfürstlichen Zentralverwaltungen Behörden greifen, die ein dezidiert nicht-reichisches, auf den habsburgischen Länderverband hin ausgerichtetes Portfolio aufweisen, wie die Sanitätshofdeputation, die Bücherzensur(hof)kommission (ab 1753) und die Studienhofkommission (ab 1760). Sie bereiten das vor, was 1848/9 zum Ministerium für Cultus und Unterricht werden sollte. Doch war in den 1710er Jahren, einer Phase eminenten politischen Umbruchs, diese spätere Orientierung am habsburgischen Einheitsstaat weder ausgemacht noch alternativlos. Die Erzählung vom Scheitern der Leibniz’schen Akademiepläne als bewegte und defizitäre Vorgeschichte der Akademiegründung 1847 ist sattsam bekannt.11 Weniger bekannt sind hingegen die tatsächlichen wissensorganisatorischen Anläufe in der unmittelbaren Folge der Leibniz’schen Initiative.12 Vereinfachend könnte man mutmaßen, dass eine Lösung des für die ›österreichische‹ Hofpartei – vornehmlich Prinz Eugen und Hofkanzler Philipp Ludwig Graf Sinzendorff – vordringlichsten Anliegens durch die Gründung der »Ingenieur-Akademie« 1717/8 gefunden wurde:13 die Verfügbarmachung von militärisch verwertbarem Staatswissen für die Expansion nach (Süd-)Osten, aber auch für das Vorhaben der Landesvermessung. Im historischen Bereich war für den Hof nicht nur eine adäquate dynastische Geschichtsdarstellung, sondern auch der Anspruch auf die Deutungshoheit über das Reichsrecht von Relevanz; dadurch erklärt sich der Zugriff von Wiener Entscheidungsträgern – nicht selten Konvertiten – auf benediktinische Gelehrte, die gut mit mitteldeutschen, meist lutherischen »Reichspublicisten« vernetzt waren und mit diesen die Abneigung gegen die Jesuiten und kuriale Politik teilten. Was von Leibniz in seinen Denkschriften als Akademie in drei Klassen angelegt worden war (eine »literarische«, eine ma2018. Der Autor dankt dem Herausgeber Thomas Winkelbauer für die Überlassung des Inhaltsverzeichnisses. 11 Richard Meister, Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien 1847–1947, Wien 1947. 12 Thomas Wallnig, Leibniz verlässt Wien, S. 175–184. 13 Friedrich Gatti, Geschichte der K. und K. Technischen Militärakademie. Band 1: Geschichte der K.K. Ingenieur- und K.K. Genie-Akademie, 1717–1869, Wien 1901.

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thematische und eine physikalische Klasse), zerfiel somit gewissermaßen in Teilprojekte, und der oft konstatierte Mangel an finanzieller und ideeller Unterstützung durch ›den Kaiser‹ korrespondiert eben zugleich mit dem Fehlen einer eigentlichen Zuständigkeit. Indem der Akademieplan auf benediktinische Gelehrtennetzwerke (und die Hoffnung auf eine entsprechende Finanzierung), dann auf Teile der ›italienischen‹ Intellektuellen in Wien projiziert wurde, wandelte er sich in seiner institutionellen Natur und wissenschaftlichen Ausrichtung, vor allem hin zum »Litterarischen« im vormodernen Wortsinn. Als einzige Einrichtung mit einem inhaltlich kohärenten und institutionell konsequenten Anspruch auf Wissen kann der Jesuitenorden angesprochen werden: Jesuiten an den Universitäten übten, zwar theoretisch landesfürstlich delegiert, aber doch ihrer eigenen Wissenssystematik verpflichtet, große Teile der theologischen und philosophischen Zensur aus. Sie wachten, mit zunehmend akkomodierender Haltung, über die Einhaltung bzw. kontrollierte Überschreitung der vom Thomismus vorgegebenen Grenzen.14 Sie vertraten konsequent eine ultramontane Reichskirchenpolitik – auch in der Zeit, als sich Kaiser und Papst als neue Nachbarn in Italien feindlich begegneten und damit plötzlich die Herrschaftstheorie des Hoch- und Spätmittelalters wieder in Diskussion stand. Repräsentierte der Jesuitenorden somit in der Konstellation der 1710er Jahre den, überspitzt gesagt, einzigen in puncto Wissen und Institutionalität kohärenten Ort, so galt das nicht für seine Gegner, die im Gegenteil, wie angedeutet wurde, auf beiden Ebenen nicht heterogener hätten sein können. Verbindend war, was sich gegen Rom, das kirchliche Lehramt und die Jesuiten, gegen Thomismus und Scholastik artikulierte. Das konnte aber Pietro Giannones antikurialer giurisdizionalismo im weiteren Umfeld der Hofbibliothek ebenso sein wie der originär französische Jansenismus Amalie Wilhelmines;15 der kameralistisch unterlegte Pragmatismus des Prinzen Eugen16 ebenso wie das Ringen der Partei um Reichsvizekanzler Schönborn um eine von Rom möglichst unabhängige – und über die Konfessionsgrenze hinweg möglichst einheitlich organisierte – Reichskirche;17 der revisionistische positivtheologische Monastizismus der Benediktinergelehrten, die sich eigentlich eine Erneuerung der spätmittelalter14 Ulrich L. Lehner, Introduction: Catholicism and Enlightenment. Past, Present, and Future, in: Jeffrey Burson/Ulrich L. Lehner (Hg.), Enlightenment and Catholicism in Europe. A Transnational History, Notre Dame/IN 2014, S. 1–40. 15 Elisabeth Garms-Cornides, Zur spirituellen Prägung der Stifterin. Jugendjahre der Wilhelmina Amalia von Braunschweig-Lüneburg in Paris, in: Helga Penz (Hg.), Das Kloster der Kaiserin 300 Jahre Salesianerinnen in Wien, Petersberg 2017, S. 35–42. 16 Trotz jüngerer Studien nicht überholt: Maximilian Braubach, Prinz Eugen von Savoyen. Eine Biographie. 5 Bände, Wien 1963–1965. 17 Hugo Hantsch, Reichsvizekanzler Friedrich Karl Graf von Schönborn (1674–1746). Einige Kapitel zur politischen Geschichte Kaiser Josefs I. und Karls VI., Augsburg 1929.

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lichen Klosterreformen erhofften, ebenso wie der akkomodierende Wolffinanismus eines Gottlieb Michael Hansch;18 die poetisch-ästhetischen Aspirationen eines Apostolo Zeno und Pietro Metastasio für das Italienische, eines Johann Christoph Gottsched und Franz Christoph Scheyb für das Deutsche, eines Johann Karl Newen von Newenstein für das imperial-antikisierende Latein zur Zeit Karls VI., ebenso wie die naturkundliche Sammlungstätigkeit des Göttweiger Abtes Gottfried Bessel. Dass allerdings gerade die Jesuiten mit ihrem »mathematischen Kabinett« an der Universität Wien selbst die Öffnung der Physik hin zur Experimentalphysik vollzogen, macht die Lage nicht übersichtlicher. Dennoch gab es unter Karl VI. mehrere hochrangige Aristokraten, bei denen etliche Fäden im Bereich Wissensorganisation zusammenliefen. Es wäre illusorisch zu meinen, dass sich irgendeine der oben genannten Richtungen ohne entsprechende höfische – und das heißt in aller Regel hocharistokratische – Patronage hätte Gehör verschaffen können. Neben dem Prinzen Eugen, dessen intellektuelles Profil noch über weite Strecken neu zu bestimmen bleibt, kristallisieren sich hier vor allem zwei weitere Persönlichkeiten als zentrale Handlungsträger heraus: Obersthofkanzler Philipp Ludwig Graf Sinzendorff, Sohn des »ungetreuen« Hofkammerpräsidenten, in den ersten vier Dezennien des 18. Jahrhunderts der maßgebliche Gestalter der habsburgischen Außenpolitik, und Johann Wilhelm Graf Wurmbrand-Stuppach, protestantischer »Reichspublicist« aus Niederösterreich, auf brandenburgischen Vorschlag Mitglied des Reichshofrates und später – 1728, bereits Katholik – dessen Präsident. Die drei Genannten finden sich in den allermeisten der beschriebenen Prozesse auf die eine oder andere Weise involviert,19 ihre Korrespondenzen20 sind, nicht nur im Hinblick auf die hier verfolgte »Ressourcen-Frage«, praktisch unausgewertet. Hier – bei den Inhalten und den Praktiken – gilt es aber anzusetzen, will man greifen, was genau in der werdenden Monarchia Austriaca »Ressourcen für einander« sein konnten. Nun ist es klar, dass die hocharistokratischen Patrone gelehrte Karrieren beförderten, um selbst im Bedarfsfall über facheinschlägiges Personal zu verfügen (Sinzendorff); dass Initiativen gesetzt wurden, um case studies zu deren institutioneller Verstetigung vorweisen zu können (Landesaufnahme); dass die Notwendigkeit von Wissen als Herrschaftsrequisit neben Geburt sich auch in der

18 Bruno Bianco, Wolffianismus und katholische Aufklärung. Storchenaus Lehre vom Menschen, in: Harm Klueting/Norbert Hinske/Karl Hengst (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, S. 67–103. 19 Stefan Benz, Zwischen Tradition und Kritik. Katholische Geschichtsschreibung im barocken Heiligen Römischen Reich, Husum 2003. 20 Wurmbrand: Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Ser. N. 2770/1. Sinzendorff und Prinz Eugen: Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Große Korrespondenz.

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Aristokratie herumsprach (Kaunitz)21; dass also in der politisch und epistemisch plurivalenten Situation der 1710er bis 1730er Jahre – ein fin de siHcle ante litteram – kein unmittelbarer Handlungsbedarf zur Klärung der Zuständigkeiten bestand. Der Leidensdruck kam 1740/8, mit dem Österreichischen Erbfolgekrieg und der an ihn anschließenden Reformtätigkeit; und mit dieser kam die Eindeutigkeit. Das untote Echo der früheren Ambivalenzen klingt freilich noch bis in die Gegenwart nach.

21 Grete Klingenstein, Der Aufstieg des Hauses Kaunitz. Studien zu Herkunft und Bildung des Staatskanzlers Wenzel Anton, Göttingen 1975.

Annelore Rieke-Müller

Dresdner Romantik 1806 bis 1809. Caspar David Friedrichs Tetschener Altar aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

Der Tetschener Altar von 1807/08 und sein Maler Caspar David Friedrich wurden bisher aus kunsthistorischer Perspektive analysiert. Die Historische Kulturwissenschaft stellt Ansätze zur Verfügung, mit denen das Bild auch wissenschaftshistorisch in den Blick genommen und in die politische Situation der napoleonischen Zeit eingeordnet werden kann. So far, the Tetschener Altar from 1807/08 and his painter Caspar David Friedrich have been analysed only from the perspective of history of art. The Historische Kulturwissenschaft provides approaches to look at the picture through the lens of the history of science and to put it into the context of the political situation during the Napoleonic period.

Um die Weihnachtszeit 1808 gab es in Dresden eine Ausstellung, in der ein einziges Ölgemälde zu sehen war : Im Atelier des Landschaftsmalers Caspar David Friedrich (1774–1840) konnte die interessierte Öffentlichkeit sein Kreuz im Gebirge besichtigen, in der Kunstgeschichte auch als Tetschener Altar bekannt. Das Bild stand im abgedunkelten Raum auf einem mit schwarzem Tuch bedeckten Tisch, der Künstler selbst war nicht anwesend.1 Die Besucher reagierten beeindruckt. Gleichwohl gab das Kunstwerk Anlass zum sogenannten Ramdohr-Streit, der wenige Wochen später entbrannte und zwischen dem privatisierenden, ehemals hannoverschen, dann preußischen Beamten und Experten für die italienische Kunst Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr auf der einen und einigen Freunden Friedrichs in Dresden auf der anderen Seite über Zeitschriften ausgetragen wurde.2 Darin ging es nach über1 Vgl. Johannes Grave, Caspar David Friedrich, München/London/New York 2012, S. 91f. Dort auch die Forschungsliteratur zu Friedrich; ders., Ästhetische Opposition gegen Napoleon. Caspar David Friedrich, der Dresdener Romantiker-Kreis und der Weimarer Hof, in: Stadt Hanau (Hg.), Napoleon und die Romantik. Impulse und Wirkungen (Historische Kommission für Hessen 83), Marburg 2016, S. 37–58; Werner Busch, Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003. Das Gemälde befindet sich heute in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. 2 Der Ramdohr-Streit wird immer wieder thematisiert, vgl. beispielsweise Grave 2012, S. 91–96;

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einstimmender Meinung der kunsthistorischen Forschung um zwei verschiedene Kunstauffassungen, Klassizismus versus Romantik, sowie um die Einteilung der Kunst in Fächer. Ramdohr unterzog das Gemälde einer inhaltlichen und technischen Fundamentalkritik. Insbesondere wetterte er jedoch dagegen, dass »die Landschaftsmalerei sich in die Kirchen schleichen und auf Altäre kriechen will.« Man könne nicht mittels Allegorien aus der Natur Andacht erzeugen. Der Tetschener Altar sei »mit einem Geiste in Verbindung«, der die »unglückliche Brut der gegenwärtigen Zeit, und das schauderhafte Vorgesicht der schnell heraneilenden Barbarei« zeige. Er sei Zeichen eines »System[s], das daraus hervorleuchtet«.3 Diese Äußerungen sprechen dafür, dass es ihm um mehr als um Kunst ging. Auch August Otto Rühle von Lilienstern, seit 1806 beurlaubter preußischer Offizier, nun Kammerherr am Weimarer Hof und ein enger Freund des Malers, war dieser Ansicht: Ramdohrs Kritik sei »auf eine ganze Klasse von Menschen gerichtet, deren Thun und Denken dem seinigen diametral entgegenstrebt.«4 Friedrichs Malerfreunde konzedierten zurückhaltender technische Schwächen, betonten jedoch, jedem Maler müsse man individuelle künstlerische Lösungen zugestehen. Der Maler selbst äußerte sich öffentlich nur kurz in einer durch einen Freund in Weimar vermittelten Stellungnahme.5 Zur Objektgeschichte ist bekannt, dass der Künstler das Gemälde 1807/08 nach einer eigenen, schon 1807 ausgestellten Zeichnung mit ähnlichem Sujet malte, nun jedoch das Format sowie einige Details änderte und dafür neue Naturstudien vornahm. Zudem wurde das Altarbild mit einem von Friedrich selbst entworfenen vergoldeten Rahmen versehen. Der Adressat erschließt sich weder aus schriftlichen Quellen noch aus dem Bild selbst, das nicht konfessionell festgelegt ist. Jahrzehntelang folgte die Forschung der Darstellung Rühle von Liliensterns. Dieser schrieb 1810,6 das Gemälde sei als Hochzeitsgeschenk des Grafen von Thun-Hohenstein für seine Braut und für eine Kapelle im Tetschener

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die Texte fast komplett gedruckt in Sigrid Hinz, Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, 2. Aufl., München 1974, S. 133–188. Im Folgenden werden das Altarblatt und seine »Bildakte« (Horst Bredekamp) kulturwissenschaftlich im Sinne Ernst Cassirers als materielles Ding und aus unterschiedlichen Fachperspektiven analysiert. Siehe zur Theorie und Methode allg. Siegfried Müller/Annelore Rieke-Müller, Dinge, Bilder und die Geschichtswissenschaft (in Vorbereitung). Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr, Ueber ein zum Altarblatt bestimmtes Landschaftsgemälde des Herrn Friedrich in Dresden, in: Zeitschrift für die elegante Welt (1809), Sp. 89–119, Sp. 91. Anonym, Reise eines Künstlers mit der Armee im Jahre 1809. 3 Bände, Rudolstadt 1810–11, Band 1, S. 66f. Diese Stelle ist in der Forschung bisher nicht beachtet worden. Die Stellungnahme Friedrichs wurde wohl vom Weimarer Theologen Johannes Karl Hartwig Schulze aus einem ausführlicheren Brief Friedrichs vom 8. 2. 1809 entnommen und weitergeleitet: Hinz 1974, S. 151–153. Anonym 1810, Band 1, S. 73. Zu dieser Objektbiographie vgl. Busch 2003, S. 34–37; Grave 2012, S. 101f.

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Schloss in Nordböhmen gedacht gewesen, das zum Kaisertum Österreich gehörte. In Tetschen hing das Gemälde jahrzehntelang. Erst 1977 erwies sich Rühles Darstellung als – man muss es so sagen – vom Freund bewusst gelegte falsche Spur. Vermutungen, das Werk sei ursprünglich für den König von Schweden gedacht gewesen, den Landesherrn Friedrichs in Schwedisch-Pommern, oder für die Kapelle eines herzoglichen Schlosses im Kleinstaat Mecklenburg-Strelitz, ließen sich bisher nicht verifizieren. Von dort stammten sowohl die preußische Königin Luise als auch die Eltern des Künstlers.7 Die falsche Spur von 1810 war möglicherweise politisch begründet, denn das Geschehen spielte sich nach der preußischen Niederlage gegen napoleonische Truppen, nach dem Ende des Alten Reiches 1806 und wenige Wochen vor dem Fünften Koalitionskrieg zwischen Österreich und Napoleon ab, der auch auf sächsischem Boden ausgetragen wurde und gravierende Folgen für Österreich hatte. Der Maler selbst war dezidiert antinapoleonisch eingestellt. Der mit ihm befreundete Historienmaler Ferdinand Hartmann hatte in seinem Verteidigungsartikel von 1809 davon gesprochen, das Gemälde sei für »eine der ausgezeichnetsten, gebildetsten und zartfühlendsten Frauen bestimmt« – Eigenschaften, die um diese Zeit eher Königin Luise zugesprochen wurden.8 Möglicherweise wollte Rühle seinen Freund vor Schwierigkeiten in den Rheinbundstaaten Sachsen und Sachsen-Weimar schützen. Was ist im Gemälde Kreuz im Gebirge dargestellt? Der Künstler kommentierte wie folgt: »Auf einem Felsen steht aufgerichtet das Kreuz, unerschütterlich fest wie unser Glaube an Jesum Christum. Immer grün durch alle Zeiten während stehen die Tannen ums Kreuz, gleich unserer Hoffnung auf ihn, den Gekreuzigten.«9 Dieser blicke zur untergehenden Sonne, deren Strahlen auf dem Bild den Himmel ausfüllen und das Kruzifix beleuchteten. Friedrich war von seiner Jugend in Greifswald an lutherisch-pietistisch beeinflusst und in die physikotheologische Naturanschauung eingeführt worden, mittlerweile wohl auch von weiteren Theologen beeinflusst.10 Die Frage der Darstellung religiöser Inhalte besaß für einen Landschaftsmaler wie ihn fundamentales Gewicht, wollte er 7 Vgl. Detlef Zapf, Caspar David Friedrichs verborgene Landschaften. Die Neubrandenburger Kontexte, Greifswald 2014. 8 Ferdinand Hartmann, Über Kunstausstellungen, in: Phöbus (1808) 11/12, (erschienen 1809), S. 57–71, S. 62f. Weitere Versuche, Friedrich zu schützen siehe anonym, 1810. Band 1, S. 74, 79. 9 Journal des Luxus und der Moden (1809) 4, S. 239f., gedruckt in: Hermann Zschoche (Hg.), Caspar David Friedrich. Die Briefe, Hamburg 2005, S. 53. Siehe auch Grave 2012, S. 100. Der Künstler hatte gegenüber der Studie offenbar den Fels vergrößert und den Standort einiger Bäume auf dem Fels verändert. 10 Vgl. Busch 2003, S. 159ff. Zur romantischen Naturphilosophie siehe zusammenfassend Ilse Jahn, Konsolidierung und Neubildung von Disziplinen und Theorien im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Geschichte der Biologie, 3. Aufl., Heidelberg, Berlin 2000, S. 274–301.

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nicht auf die rational gesetzten und tradierten allegorischen Zeichen zurückgreifen, die um 1800 ihre Verbindlichkeit verloren hatten. Die aktuelle Forschung sieht deshalb in Friedrichs gesamtem Werk die Darstellung individueller Perspektivität auf Natur dargestellt: die Entfremdung des Einzelnen, die Unmöglichkeit, Naturwahrheit wahrzunehmen und in Natur aufzugehen.11 Dieser Schluss soll im Folgenden weiter differenziert werden. Es ist bekannt, dass Friedrich akribische Detailstudien von Naturobjekten durchführte.12 Um 1800 war er bereits als Zeichner von Landschaftsansichten insbesondere von Rügen und schließlich in seiner Dresdner Zeit auch des Elbsandsteingebirges geschätzt, die in ihrer Genauigkeit herausragten. Kunsthistoriker konnten aber auch belegen, dass er Naturstudien collageartig neu zusammensetzte oder in Einzelheiten – Perspektive, Größenverhältnisse –veränderte. Die Verortung Friedrichs im naturkundlichen Kontext seiner Zeit lenkt den Blick zunächst nach Weimar. Der einflussreiche Minister Johann Wolfgang von Goethe kaufte 1804 oder 1805 zwei Zeichnungen für seine eigene Sammlung an: eine norddeutsche Landschaftsansicht und eine Gebirgslandschaft mit ausformulierten Gesteinsformationen.13 Im selben Jahr ließ er den »Natursinn« des Malers und den »poetischen Gehalt der Erfindung« loben, also die Kombination von Naturstudium und Umsetzung in Landschaftsmalerei.14 Nach jahrelanger, wohl in erster Linie politisch begründeter Entfremdung zwischen Friedrich und dem eher Napoleon zuneigenden Goethe nach 1810 äußerte dieser 1816 den Wunsch, der Künstler möge Darstellungen von Wolken für seine eigenen naturkundlichen Arbeiten nach dem System von Luke Howard anfertigen. Friedrich lehnte mit dem mehrdeutigen Argument ab, »die leichten, freien Wolken« solle man nicht »sklavisch in diese Ordnungen« einzwängen.15 Seine Perspektive auf Natur war eine andere. Goethe war wohl aus einem ganz speziellen Grund auf die konkrete Motivwahl des Künstlers aufmerksam geworden. Er befasste sich seit Jahrzehnten mit Fragen der Morphologie und Geologie. Granit, das Gestein, aus dem die Hünengräber bestehen, die Friedrich in seinen Rügenzeichnungen darstellte, betrachtete er als das »Urgestein«, das »älteste, würdigste Denkmal der Zeit«. Sie waren für ihn Zeugnis einer übergreifenden Ordnung nach der Sintflut, die die heutige Erdoberfläche durch Schichtung von Sedimenten geformt habe.16 Diese 11 Vgl. Grave 2012, S. 88–125. Die Sinnoffenheit des Werks wird in der Forschung häufig hervorgehoben, wird es doch dadurch anschlussfähig zur Kunst der Moderne. 12 Zur Schaffenspraxis Busch 2003, S. 82–141; Grave 2012, S. 173ff. 13 Vgl. Grave 2012, S. 113ff. und S. 150. 14 Zu Ankäufen durch den Weimarer Hof ab 1810 als Ausdruck antinapoleonischer patriotischer Auffassungen Grave 2016. Dort auch zur Vermittlung durch Rühle. 15 Grave 2012, S. 122f. 16 Andrea Gnam, »Geognosie, Mineralogie und Angehöriges«. Goethe als Erforscher der Erd-

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romantisch-naturphilosophische Auffassung, als ›Neptunismus‹ bezeichnet, vertrat vor allem der Mineraloge an der sächsischen Bergakademie in Freiberg, Abraham Gottlob Werner. Dessen Lehre verbreitete der Schelling- und Wernerschüler Gotthelf Heinrich Schubert ab Ende 1806 in einer öffentlichen Vorlesung in Dresden, eingebunden in Ausführungen zu Natur- und Menschheitsgeschichte und zum Menschen als Naturwesen.17 Goethe dürfte in den Landschaftsdarstellungen Friedrichs also außer ihrer künstlerischen Qualität auch ›geognostische‹ bzw. ›morphologische‹ Landschaftsbilder gesehen haben, in denen Natur- und Menschheitsgeschichte verschränkt waren und die seinen Interessen und Anforderungen an Naturwissenschaft entsprachen. Diese gingen zwar nicht mit den künstlerischen Zielen des Malers parallel, wohl aber mit denen seines Freundes Rühle von Lilienstern.18 Zu seiner Naturdarstellung im Gemälde von 1807 gibt Friedrich selbst Hinweise durch seine Auswahl der Naturdinge und in seiner Stellungnahme im Ramdohrstreit mit der Bemerkung, das Kreuz sei »fest« verankert, und indem er von »immer grünem Epheu« und »immer grünen Tannen« spricht.19 Ramdohr hatte die für ein Landschaftsgemälde ungenügend differenziert gemalten Felsen bemängelt, dessen Masse wie ein »Kegel« erscheine.20 Tatsächlich wird er nicht als eindeutige Gesteinsformation definiert, anders als die Pflanzen, die durch ihre Gestalt und ihr Grün klar erkennbar sind. Stattdessen war für den Künstler die Festigkeit des Felsen das entscheidende Kriterium für seine Darstellung, und dieses Merkmal versuchte er offenbar durch Gesteinsmasse zu repräsentieren. Denn Friedrich kannte 1807 weder aus seiner norddeutschen Heimat oder aus Dänemark noch aus dem Elbsandsteingebirge oder Nordböhmen festes Gestein, das einen für die Komposition nötigen, deutlichen Gipfel geformt hätte. Die Säulen des Elbsandsteins eigneten sich dafür nicht. Aus dem bisher Gesagten lässt sich der Schluss ableiten, dass sich der Künstler zwei Problemen gegenübersah: der sinnvollen Auswahl von Naturphänomenen für sein Thema anhand deren artspezifischen Merkmalen und ihre individuelle Visualisierung. Es ging

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geschichte, in: Matthias Luserke (Hg.), Goethe nach 1999. Positionen und Perspektiven, Göttingen 2001, S. 79–87; ähnlich Reinhart Wegner, Zeiterfahrung und historisches Bewußtsein bei Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich, in: Klaus Ries (Hg.), Romantik und Revolution. Zum politischen Reformpotential einer unpolitischen Bewegung, Heidelberg 2012, S. 207–219. Vgl. Gotthilf Heinrich von Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808, S. 179ff. Siehe dazu Theodore Ziolkowsi, Dresdener Romantik. Politik und Harmonie, Heidelberg 2010, S. 78–86. Allg. vgl. Günther Rühle, Otto August Rühle von Lilienstern. Ein Freund Heinrichs von Kleists, Kleist-Jahrbuch 1987, Berlin 1987, S. 76–97. Rühle publizierte um 1807 eine »Weltkarte« und 1810 eine »Oro-Hydrographische General-Karte« von Sachsen und angrenzenden Gebieten, die auf eigenen Messungen beruhte. Friedrich 1809, S. 239f. Zitiert nach Grave 2012, S. 93.

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ihm also nicht um Allegorien, wie Ramdohr wohl aufgrund seiner klassizistischen Kunstauffassung und durch eine Bemerkung des Staatsphilosophen Adam Müller annahm. Dieser hatte 1807 in seiner öffentlichen Vorlesung zur Landschaftsmalerei in Dresden von der Darstellung einer »Weltallegorie« gesprochen, die der Mensch in »Erinnerung von Erlebtem« empfinde und an die sich »unzählige kleine Allegorien und Träume« bänden.21 Stattdessen suchte Friedrich nach einer künstlerischen Annäherung an Natur, um die Übereinstimmung von individueller Wahrnehmung und allgemeiner Bedeutung visueller Zeichen zu sichern.22 Diesen Anspruch verwirklichte Friedrich, indem er Sonnenstrahlen, Pflanzen und Gestein als Einzelelemente extrem verdichtet mit dem Kruzifix zu einer Sinneinheit montierte. Die Naturdinge malte er zwar als individuelle Vertreter ihrer Art (»Tannen«, »Epheu«), sprach ihnen jedoch dabei durch bestimmte Merkmale auch Repräsentationscharakter als Zeichen zu (»immer grüne« Blätter und Nadeln). Der Maler verstand solche ›natürlichen Zeichen‹ der göttlichen Schöpfung offenkundig als Symbole mit einem dem Betrachter unmittelbar einleuchtenden Sinn: »Die Kunst tritt als Mittlerin zwischen die Natur und den Menschen. Das Urbild ist der Menge zu groß zu erhaben um es erfassen zu können. Das Abbild, als Menschenwerk liegt näher dem Schwachen«, formulierte er in den 1830er Jahren.23 Der Künstler war danach fähig, die Perspektivität des Betrachters aufzuheben, indem er Zeichen aus der Natur flächig und ohne eindeutige Perspektive vor Augen stellte. Der das Kreuz umschlingende Efeu sowie der Rahmen integrierten das Motiv in die Heilsgeschichte. Friedrichs Problem entsprach der romantisch-naturphilosophischen Suche nach einem ›natürlichen System‹ in der Natur,24 deren Zeichen durch individuelle Einbildungskraft, durch Assoziation bzw. Intuition und analog zur Erfahrung erkannt und entschlüsselt werden konnten. Für Friedrich stellten sich die im Tetschener Altarblatt verwendeten Motive aus der Natur in ihrem Symbolgehalt als festgefügt dar, eindeutig und daher durch seine Beschreibung in einfachen Worten erklärt. Sie waren jedem zugänglich, der glaubte, und wurden von ihm zu einem ebenfalls festgefügten Sinngehalt verbunden. Die Einsicht in das Scheitern dieses Ansatzes ist meines Erachtens erst eine Entwicklung der folgenden Jahre bis etwa 1815, auch wenn Adam Müller das Problem schon 1808

21 Adam Müller, Etwas über Landschaftsmalerei, in: Phöbus (1808a) 5, S. 71–73, S. 72. Es ging ihm dabei offenkundig nicht um Allegorien im kunsthistorischen Sinn, sondern um ein romantisch-naturphilosophisches Gesamtbild des Lebens. 22 Zum Problem um 1800 vgl. Busch 2003, S. 122. 23 Um 1830, nach Busch 2003, S. 171 und S. 204, Anm. 35. 24 Vgl. Jahn 2000, S. 296–301; Adam Müller, Vorlesungen über das Schöne, 2. Theil, in: Phöbus (1808b) 3, S. 3–31, S. 5, wandte sich ebenfalls gegen Systeme.

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sah.25 Dabei strebte Friedrich jedoch kein ›natürliches System‹, keine Ordnung einzelner Symbole zu einem Ganzen an. Wie der Theologe Schleiermacher und viele Naturphilosophen sah er die Möglichkeit der Repräsentation dieser Ordnung vielmehr in der Geometrie, also in der Konstruktion seines Bildaufbaus mithilfe geometrischer Formen: Symmetrie, goldener Schnitt, Kurven.26 Waren die bisher analysierten Naturdinge unveränderlich, trat auch die Zeit mit ihren Entwicklungen und Brüchen, also Geschichte, im Bild auf. Eine zentrale Position im Tetschener Altar nimmt die untergehende Sonne ein, deren Strahlen das Kruzifix beleuchten. Die Sonne repräsentiert Stetigkeit, im andauernden Rhythmus von Auf- und Untergehen. Jedoch formulierte Friedrich in seiner kurzen Stellungnahme, »mit Jesu Lehre« sei »eine alte Welt« gestorben, »die Zeit, wo Gott der Vater unmittelbar wandelte auf Erden […]. Diese Sonne sank, und die Erde vermochte nicht mehr zu fassen das scheidende Licht.«27 Die Sonne als natürliche Kraft steht hier wie die anderen Naturobjekte des Gemäldes für die Ewigkeit der Naturgesetze, darüber hinaus jedoch auch für die bald wieder aufscheinende helle Zeit. Diese Visualisierung und Beschreibung eines Bruches in der Menschheitsgeschichte, verbunden mit der natur- und heilsgeschichtlich abgesicherten Hoffnung auf die Zukunft lässt erkennen, dass sich der Künstler in die Perspektive seiner Freunde im Umkreis der Zeitschrift Phöbus eingebunden fühlte. Darauf deutet auch die Bemerkung Hartmanns hin, »neuere Künstler« versuchten in ihrer Kunst »das Eigenthümliche ihrer Zeit, die höheren Ansichten der Natur und der Wissenschaft zu entwickeln«.28 Die ausführliche Beschreibung eines Jahreszeitenzyklus von Caspar David Friedrich durch Schubert stützt diese Annahme ebenfalls.29 Darin betonte er, der Künstler habe Jahreszeiten und Lebenszeiten dargestellt, als »Bildungsgeschichte unserer Natur« und als »künftige Welt«.30 Das Bestreben der Gruppe zielte seit 1806 darauf ab, Ästhetik, Natur- und Menschheitsgeschichte, Religion und Politik in einem einzigen umfassenden Modell zu fassen. In ihrem romantisch-naturphilosophisch begründeten Zugriff interpretierten sie mit politischer Konnotation Individuum, Familie und Staat

25 Vgl. Müller/Rieke-Müller (in Vorbereitung); Müller 1808a, S. 72. Zur Position Friedrichs um 1815 vgl. Grave 2012, S. 107. 26 Vgl. Jahn 2000, S. 296–301 sowie in Bezug auf Schleiermacher : Busch 2003, S. 138–141 und S. 165f. 27 Hier zitiert nach Zschoche 2005, S. 52f.; vgl. Grave 2012, S. 100. 28 Hartmann 1809, S. 70. 29 Gotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808, S. 303–307. Die Forschung ist sich nicht einig, ob es sich bei diesem Zyklus um jenen von 1803 oder einen unvollständig überlieferten von 1808/07 handelt. Zum Zyklus von 1803 vgl. Wegner 2012. Zu späteren Zyklen siehe Grave 2012, S. 227ff. 30 Schubert 1808, S. 302.

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als »organische Wesen«,31 die mittels ihrer inneren natürlichen Kräfte und ihrer Beziehung zur Außenwelt eine analoge voranschreitende »Bildungsgeschichte« aufwiesen.32 Das »innere Streben« des Menschen – also seine Emotionen – sollte vom Glauben kanalisiert und getragen werden.33 Der an der Universität Göttingen ausgebildete Staatswissenschaftler und Historiker Adam Müller sowie der Theologe und Mediziner Schubert formulierten diese Auffassungen 1806 bis Anfang 1809 in ihren Vorlesungen, die teilweise schon 1808 gedruckt wurden und wohl Ramdohr zu seinen scharfen Angriffen auf das sich ausbreitende ›System‹ veranlassten. Auch der schon genannte Rühle von Lilienstern gehörte zum Kreis, ein enger Freund des Dichters Heinrich von Kleist und Mitfinanzier der Zeitschrift. Kleist stieß wohl Mitte 1807 ebenfalls dazu, bevor die Gruppe 1809 infolge des 5. Koalitionskrieges auseinander ging. Rühle, der strategische Kopf in der Gruppe, griff solche Gedanken auf und publizierte dazu 1809 unter dem Kürzel »RvL« ein 1807 und 1808 entwickeltes, dreistufiges Geschichtsmodell. Versteckt zwischen Ausführungen zu anderen Themen formulierte er darin eine ganz eigene, auf die politische Zukunft ausgerichtete Vision von Europa. Danach befinde sich die »zwischen Natur und Religion schwebende Menschheit« im Übergang vom zweiten zum dritten Stadium.34 Das zweite Stadium sei als »Verstandes- oder intellektuelles Alter« durch »Zwietracht und Krieg« gekennzeichnet, das dritte bringe Europa als »StaatenVernunft oder religiöses Alter« ein »inneres lebendiges Gleichgewicht« und daraus folgend Frieden. Das »menschliche Geschlecht« finde seinen »natürlich gegebenen Zweck in der Gesellschaft«, wobei die Freiheit des Einzelnen durch seine Religiosität gelenkt werden müsse. Wie Adam Müller sah Rühle für die Zukunft eine Neuordnung Europas, die zu fünf der Natur gemäß arrondierten »Staats-Republiken« als »organische Rechtsstaaten« führen werde.35 Zu diesen sollte außer Österreich auch ein nicht näher bestimmtes, geeintes ›Deutschland‹ gehören. Es scheint, als habe Caspar David Friedrich den geschichtlichen Übergang 31 Ebd., S. 301; vgl. Müller 1808b. 32 Schubert 1808, S. 301f.; vgl. zur Freundesgruppe zusammenfassend Ziolkowski 2010. Er gibt zahlreiche Einzelhinweise, beispielsweise S. 82f., 131f., 382, ohne das Gemeinsame zu bestimmen und Rühles Rolle zu erkennen. Besonders deutlich wird die Methode in Schuberts »Ansichten«. Dort auch deutliche Verweise auf die aktuelle politische Situation, S. 302, ebenso in Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst. Band 1, Berlin 1809, S. 260ff., vor allem S. 290ff., beruhend auf seinen Vorlesungen von 1808 bis 1809. 33 Schubert 1808, S. 306; Müller 1809, S. 296f. 34 RvL, Hieroglyphen oder Blicke aus dem Gebiete der Wissenschaft in die Geschichte des Tages, Dresden, Leipzig 1809, S. 83f.; die folgenden Zitate S. 83–86, S. 78 und 102. Diese unter »mathematischem Gesichtspunkt« (S. 71) geschriebene Publikation wurde bisher von der einschlägigen Forschung nicht berücksichtigt; vgl. auch im Anhang von Band 2, S. 552 zum gotischen Dom als »neuer Fels«. 35 Müller 1809, S. 282.

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zum religiösen Zeitalter als Hoffnung und Appell in der Form einer religiösen Sinneinheit ins Bild gesetzt.

Verwaltungswissen

Peter Becker

Brockhausen unplugged. Reden und Schreiben über den Staat um 1900

Die Verwaltungsreformprojekte des frühen 20. Jahrhunderts rückten die Experten ins Rampenlicht, wo sie ihre Vorstellungen vom Staat und seiner Reform präsentieren konnten. Dieser Beitrag fragt nach den Veränderungen im Sprechen der Wissenschafter über den Staat, wenn sie die ›Sprechsituationen‹ veränderten. The administrative reform projects of the early twentieth century put the experts in the limelight, where they could present their ideas about the state and its reform. This article asks about the changes in the ways in which scholars spoke about the state when they changed the setting.

Für Carl Brockhausen war der Staat der Habsburgermonarchie gelebte Erfahrung, wissenschaftliche Herausforderung und Gegenstand seines Gestaltungswillens. In den Debatten über den Staat agierte er somit in verschiedenen Rollen. Er war ein Mann des Katheders ebenso wie ein Mann der Feder. Am Schreibtisch brillierte er mit staatsrechtlichen Analysen und mit dem Entwurf normativer Regelungen für ein breites Spektrum von Materien. Mit seinen Arbeiten zur Verwaltungsreform und zur österreichischen Gemeindeordnung wandte er sich an ein Fachpublikum und fand auch außerhalb der österreichischen Fachgemeinde begeisterte Aufnahme. Das belegt eine Bemerkung des deutschen Staatsrechtlers Hugo Preuss, der ein Zitat von Brockhausen an den Beginn seiner vergleichenden Überlegungen zur Verwaltungs- und Staatsreform stellte und sich weitgehend an den Argumenten von Brockhausen orientierte.1 Brockhausen wollte nicht nur im beschränkten Kreis der Gelehrten Gehör finden. Er richtete sich auch an die Praktiker der Verwaltung, die er als »Elite der Beamten« und als zukünftige »Bildner des Staates« verstand. Es war ihm daher ein Anliegen, sie über die wichtigsten Aufgaben einer Verwaltungs- und 1 Hugo Preuß, Verwaltungsreform und Staatsreform in Österreich und Preußen (1912), in: ders., Gesammelte Schriften. Band 2: Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, hg. von Detlef Lehnert, Christoph Müller, Tübingen 2009, S. 732–749, S. 732.

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Staatsreform zu informieren.2 Während des Krieges trat er mit politisch-patriotischen Äußerungen vor ein noch größeres Publikum. Das brachte ihm die zweifelhafte Ehre einer Aufnahme in Die letzten Tage der Menschheit ein, wo ihn Karl Kraus mit beißendem Spott verriss, wobei er ihn fälschlich als Historiker adressierte und dem Historiker Friedjung an die Seite stellte.3 Carl Brockhausen war kein Einzelfall mit seiner ›schlampigen‹, nicht eindeutigen Beziehung zum Staat. Staatswissenschaftler und Experten des öffentlichen Rechts hatten häufig Verwaltungserfahrung bzw. entsprechende Funktionen im Staatsapparat. So war Friedrich Tezner gleichzeitig Mitglied des Verwaltungsgerichtshofes und lehrte an der Universität Wien Verwaltungs- und Staatsrecht. Edmund Bernatzik hatte als Staatsrechtler, Rektor der Universität Wien und Mitglied des Reichsgerichts eine ebenso vielfältige Einstellung zum Staat, die Josef Redlich noch übertraf: Als liberaler Politiker, Experte für englisches öffentliches Recht und Strippenzieher für die geplante Verwaltungsreform in den 1910er Jahren war er noch stärker in das Wechselspiel von analytischer Distanz und gestalterischem Naheverhältnis eingebunden. Sie alle erhielten zur Zeit der Jahrhundertwende eine zunehmende Bedeutung in der öffentlichen Debatte über die Projekte zur Staats- und Verwaltungsreform. In ihren Stellungnahmen lässt sich eine ganz spezifische Position zum Staat erkennen. Als Wissenschaftler beanspruchten sie für sich die Fähigkeit, die richtigen Fragen an Staat und Verwaltung zu stellen. Damit wollten sie zu einer Versachlichung der Debatte über Verwaltungsreform beitragen. Denn letztlich handelte es sich bei dieser Reform um »ein Problem, das zu berechnen ist« – und von Fachmännern wie Brockhausen auch berechnet werden konnte!4 Das gemeinsame Anliegen der Versachlichung führte nicht zu einheitlichen Positionen. Diese unterschieden sich je nach den Schwerpunktsetzungen im Hinblick auf die Herausforderungen und die Lösungsansätze: Verfahrensreformen oder grundlegender Umbau des Staates sind die beiden Eckpunkte, zwischen denen sich eine große Bandbreite von normativen Umgestaltungen des Staates und der Verwaltung aufspannten. Die Staatsrechtler der Jahrhundertwende sind aufgrund ihrer wissenschaftlichen Kommentare ein unverzichtbarer Bezugspunkt für jede Studie zu Staat, Regierung und Verwaltung in der späten Habsburgermonarchie.5 Für diesen 2 Karl Brockhausen, Österreichische Verwaltungsreformen. Sechs Vorträge in der Wiener Freien Staatswissenschaftlichen Vereinigung, Wien 1911, S. 2. 3 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, hg. von Franz Schuh (Österreichischer Eigensinn. Eine Bibliothek, hg. v. Bernhard Fetz), Jung& Jung: Salzburg/Wien, 2014, S. 95–97. 4 Brockhausen 1911, S. 2. 5 Vgl. exemplarisch Jana Osterkamp, Cooperative Empires. Provincial Initiatives in Imperial Austria, in: Austrian History Yearbook 47 (2016), S. 128–146 und Gerald Stourzh, Länder-

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Essay möchte ich sie aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachten. Sie eignen sich aufgrund ihrer vielfältigen Beziehungen zum Staat – als Wissenschaftler mit analytischer Distanz, als Praktiker mit Funktionen innerhalb des Institutionengefüges des Staates und als Normadressaten – für einen neuen Blick auf ein Thema, das Mitchell Ash so treffend auf den Punkt gebracht hat: die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Staat, Wissenschaftler und Politik. In meinem kurzen Essay kann ich leider nur einen Aspekt herausgreifen. Ich werde mich auf das Sprechen über den Staat konzentrieren, den man ja als eine allgegenwärtige und doch nur schwer fassbare Entität begreifen kann. Innerhalb fachwissenschaftlicher Abhandlungen tritt die Herausforderung, eine adäquate Sprache für diese komplexe Entität zu finden, weniger deutlich zutage. Die Spezialisten konnten auf ein geteiltes Begriffsrepertoire und einen gemeinsamen Denkstil zurückgreifen. Sobald ein breiteres Publikum angesprochen wurde und sich der Ort des Redens über den Staat veränderte, kam ein anderes sprachliches Repertoire ins Spiel. Wie sich das Setting auf die Art und Weise auswirkte, in der über den Staat gesprochen und geschrieben werden konnte, verfolge ich am Beispiel der Äußerungen von Brockhausen. Meine Wahl fiel auf ihn, weil von ihm Stellungnahmen zur Verwaltungsreform in drei unterschiedlichen ›Sprechsituationen‹ vorliegen. Die erste war die Fachpublikation, erarbeitet im Büro und der Bibliothek als den sicheren Orten der Herstellung von Wissen. Das zweite Setting ist der Vortragssaal der Wiener freien staatswissenschaftlichen Vereinigung, wo er »vor einem Kreise zumeist höherer Verwaltungsbeamten« sprach, nur mit einem Kollegienheft6 ausgerüstet. Der dritte Ort befindet sich in den Räumlichkeiten des Gremiums der Wiener Kaufmannschaft in Wien, wo die Enquete zur Verwaltungsreform unter der Leitung von Josef Redlich im Jahr 1912 stattfand. Als Experte sollte er dort auf der Grundlage eines ihm vorher übermittelten Fragebogens Stellung zu Fragen von Staat und Verwaltung beziehen, durfte jedoch keine »schriftlichen Operate« verlesen und musste seine Überlegungen im Rahmen einer »durch Frage und Antwort in lebendigem Fluss erhaltene Auseinandersetzung« entwickeln.7

autonomie und Gesamtstaat in Österreich 1848–1918, in: ders., Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010, Wien 2011, S. 37–67. 6 Brockhausen 1911, S. 11. 7 Joseph Redlich, Eröffnungsrede, in: Enquete der Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform, veranstaltet in der Zeit vom 21. Oktober bis 9. November 1912 zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung in Bezug auf die Reform der inneren und Finanzverwaltung, Wien 1912, S. 3f., hier S. 4.

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Der »schwimmende« Beamte Brockhausen stellte sich in allen drei ›Sprechsituationen‹ die keineswegs triviale Frage, wie ein einheitlicher Staatswille entstehen und in zahlreichen Vorgängen auf unterschiedlichen Ebenen der Staatsverwaltung in gleicher Form zum Ausdruck kommen könne. Wie auch andere Staatsrechtler und in die Verwaltungsreform eingebundene Experten dachte Brockhausen, dass die Realisierung dieser Wunschvorstellung davon abhinge, dass die Beamten auf der untersten Verwaltungsebene Kenntnis dieses Staatswillens hatten und sich in ihren Entscheidungen diesem verpflichtet fühlten. Die erste Voraussetzung betraf die Organisation von Kommunikationsprozessen entlang der Behördenhierarchie, um die von den obersten Behörden und dem Verwaltungsgerichtshof autorisierte Interpretation und Anwendung der vielfältigen Gesetze und Verordnungen an die Entscheidungsträger auf unterer Ebene zu vermitteln. Ohne die von ihm dafür konzipierten Normaliensammlungen war von den Beamten der unteren Verwaltungsebenen kein kompetentes, einheitliches Entscheiden zu erwarten: »Geradeso wie daher der Beamte präzise, den Geschäftsbetrieb fördernde Auskünfte an die Parteien lieber vermeidet, so ist er selbst infolge dieser Unordnung in seinem Handwerkzeuge gezwungen zu »schwimmen«, wie der technische Ausdruck lautet, das heißt, sich vorsichtig um unbekannte Hindernisse herumzuwinden; daher sind halbe Entscheidungen, Hinausziehen und bloß formale Erledigungen für ihn weniger gefährlich als abschließendes Handeln [… .]«8

Die zweite Prämisse rührte an das Selbstbild der österreichischen Bürokratie. Loyalität gegenüber dem Staat galt als selbstverständlich und wurde dennoch zunehmend zum Problem, sobald die Verpflichtung gegenüber der eigenen nationalen Gruppe damit in Konkurrenz trat. Brockhausen nahm dazu Stellung im Rahmen seiner Überlegungen zur Protektion. Er unterschied die traditionelle Form der Familienprotektion von der neuen, bedrohlichen Parteienprotektion. In metaphorischer Sprache drückte er in seinem Vortrag die Konkurrenz dieser beiden Formen der Unterstützung als den Kampf der gefährlichen »Wanderratte« gegen die »Hausratte« aus. Bedrohlich erschienen ihm die »Wanderratte« dann, wenn Parteien als Vertreter nationaler Sonderinteressen eine Amtsführung im jeweiligen nationalen Sinne als Gegenleistung für ihre Förderung erwarteten. Aus dem Beamten »wird nur zu leicht der Agent einer Partei [… .] Diese Art der Protektion […] bedeutet […] Zersetzung des Staates durch seine Beamten […].«9 Wie konnte nun angesichts dieser organisatorischen und personalpolitischen 8 Karl Brockhausen, Verwaltungsrechtliche und Verwaltungspolitische Essays, Wien 1908, S. 73. 9 Brockhausen 1911, S. 51f.

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Herausforderungen ein einheitlicher Staatswillen entstehen und Ausdruck finden? Brockhausen forderte zusätzlich zu den beiden oben genannten Voraussetzungen eine durchgängige Differenzierung von Zuständigkeit und Aufgaben entlang der Behördenstufen. Er sah die untersten Behörden zuständig für die »örtliche Detailausführung staatlicher Geschäfte,« während die staatliche Spitze für ihn die »Idee des einheitlichen Staatswillens« verkörperte.10 Mit diesen »theoretisch höchst einfachen, ja selbstverständlichen Forderungen,« sah er eine erste, strukturelle Basis gelegt. Sie musste ergänzt werden um eine »Differenzierung der Aufgaben,« wobei er die unterschiedlichen Ebenen der Behördenhierarchie in »ausübende, kontrollierende und leitende Organe« einteilte. Erst dann konnte die politische Verwaltung aus dem ›judizierenden‹ Modus der Gerichtsbehörden aussteigen.11

Staat als »Dampfmaschine« Das sprachliche Register von Brockhausen wechselte, sobald er sich vom Schreibtisch entfernte. In seinem Vortrag vor der staatswissenschaftlichen Vereinigung beschrieb er das bestehende, unbefriedigende System und nutzte ganz im Sinn der klassischen Bildung, die er mit seinen Zuhörern gemeinsam hatte, eine lateinische Phrase, auch wenn diese erst im 18. Jahrhundert geprägt worden war : »[…] der Instanzenzug bleibt im Prinzipe nirgends stecken: erst wenn die Zentrale gesprochen hat, kann man sagen ,,Roma locuta — res finita est.«12 Diese Tendenz der Verwaltungsakte, alle Instanzen zu durchlaufen, um erst endgültig auf der Ebene des Ministeriums entschieden zu werden, entsprach in keiner Weise den von ihm aufgestellten Forderungen nach Spezialisierung und Differenzierung und führte deshalb zu einem Heißlaufen des Systems. Der gesamte Apparat wurde durch eine rasch zunehmende ›Vielschreiberei‹ belastet, die unteren Stellen konnten keine verbindlichen Aussagen über die Art der zukünftigen Erledigung machen und die oberste Ebene wurde mit der Bearbeitung von Einzelfällen restlos überfordert. Die Reform der Entscheidungsprozesse wurde von allen Beobachtern als Desiderat gefordert und war deshalb auch Gegenstand der Enquete, zu der Brockhausen als Auskunftsperson vor ein erlesenes Fachpublikum geladen war. Bei seiner Stellungnahme musste er auf seine »schriftlichen Operate« verzichten. Das hatte Auswirkungen auf seine Rhetorik. Nach einer längeren, gelehrten Einführung, die von einer Rückfrage des Vorsitzenden Josef Redlich unterbro10 Brockhausen 1908, S. 47. 11 Ebd., S. 48. 12 Brockhausen 1911, S. 14.

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chen wurde, verdeutlichte er die Problemstellung mit einem Sprachbild: »Ich will nur sagen: Mit dem Stoßen des Stöpfels nach unten ist nichts gewonnen, falls er doch wieder hinaufkommt. Man müßte ihn unten anbinden.«13 Mit der Metapher des Stöpfels im Mörser stellte Brockhausen die Herstellung des Staatswillens als Herausforderung dar, die auf rein normativem Weg, durch den Druck der übergeordneten Stellen, nicht bewältigt werden konnte. Nur die Manipulation des Verfahrens selbst konnte Abhilfe schaffen. Erst dann ließ sich der Stöpfel am Ort der ersten Bearbeitung der bürokratischen Substanz fixieren. Mit der Metapher des Stöpfels blieb Brockhausen im Referenzraum des Staatsrechts, wenn auch nicht im sprachlichen Register dieser Disziplin. Die stoßende Bewegung im bürokratischen Prozess, die diesem Sprachbild zugrunde liegt, hatte Brockhausen bereits zuvor, in seinem Vortrag vor den leitenden Beamten, zu einer anderen Metapher angeregt, indem er die Verwaltung mit einer Dampfmaschine verglich: »[…] ihre eigentliche Arbeitsleistung besteht doch nur immer darin, daß sie einen Kolben nach vor- und rückwärts stößt; ihre Vielseitigkeit wird erst durch Transmissionen vermittelt. Mit einer solchen Dampfmaschine möchte ich die ganze bureaucratische Arbeitsleistung vergleichen. Die Anforderungen sind mannigfaltig, aber die Leistungen lassen sich auf einige wenige Grundformen zurückführen.«14

Welche neuen Perspektiven konnte Brockhausen mit seinen Sprachbildern auf die Frage nach der Erzeugung eines einheitlichen Staatswillens entwickeln? Die Betrachtung der bürokratischen Prozesse als Mörser, in dem die grobstofflichen Vorgänge zu gültigen Entscheidungen vermahlt wurden, machte Sinn vor allem in Verbindung mit der zweiten Metapher. Der Stöpfel funktionierte im Sinne der Kolben einer Dampfmaschine, deren Vor- und Rückwärtsbewegung die beiden Grundfunktionen der Verwaltung verkörperte: Wahrnehmen und Entscheiden. Während die Tätigkeit des Wahrnehmens und Berichtens weitgehend auf die Behörden vor Ort beschränkt blieb, ließ sich die Verwertung des dadurch produzierten Stoffes nicht eindeutig auf die höheren hierarchischen Ebenen beschränken. Die Bewegung des Kolbens übermittelte die Wahrnehmungen der unteren Behörden, die bereits eine Beurteilung enthielten, während in der Gegenbewegung Anordnungen und Anleitungen für die weitere Subsumptionsund Entscheidungsarbeit mitgeteilt wurden. In seinem verwaltungswissenschaftlichen Fachbeitrag waren diese Überlegungen nicht nur sprachlich anders ausgedrückt. Brockhausen ging hier gezielt auf die Rolle der vorgesetzten Behörden bei der Erhaltung der »Willenseinheit in der Verwaltung« ein. Er sprach ihnen keinesfalls die Berechtigung ab, sich mit 13 Stellungnahme des Experten Brockhausen, in: Enquete, S. 14. 14 Brockhausen 1911, S. 62.

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den Einzelfällen zu befassen. Der Stöpfel sollte ja nicht gewaltsam unten gehalten werden. Die Frage war nur, welche Fälle die Kolbenbewegung zur Kenntnis der vorgesetzten Behörden bringen sollte. Bisher war die treibende Kraft der Rekurs der Parteien und nicht die Revisions- und Leitungsfunktion der vorgesetzten Behörden. Das musste sich ändern. Für die Neudefinition der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen hierarchischen Ebenen favorisierte Brockhausen einen anderen Mechanismus: »[…] jener Einzelfall ist wertvoll, der einer höheren und höchsten Behörde Anlaß gibt, Gesichtspunkte zu finden, die für künftige ähnliche Fälle maßgebend sind; nur eine solche Erledigung kann den leitenden Beamten eine echte Befriedigung schaffen, die ihnen Gelegenheit gibt, ordnend einzugreifen, Mißstände zu beseitigen mit der Aussicht, daß diese Tätigkeit auch von dauerndem Erfolge sei. Andrerseits soll auf diesem Wege den Unterbehörden das erforderliche Handwerkzeug geboten werden; hier sollen sie die authentische Interpretation der Gesetze, eine Richtschnur ihres Handelns in zweifelhaften Fällen sehen.«15

»Was würden Sie tun?« Je weiter sich Brockhausen von der Sicherheit seiner Arbeitsumgebung entfernte, desto stärkeres Gewicht erhielt eine metaphorische Ausdrucksweise. Das hängt mit dem Objekt seiner wissenschaftlichen und reformerischen Begierde ebenso zusammen wie mit der spezifischen Funktion der Sprachbilder. Der Staat, die Verwaltung, ihre Verfahren und ihre Praxis waren und sind Themen, die eine spezialisierte Begrifflichkeit und einen eingeschränkten Blick verlangen, die beide zum Denkstil der Staatsrechtler gehören. Wer nicht dazu gehörte, konnte kaum kompetent in einer staatsrechtlichen Debatte teilnehmen. Die Sprachbilder von Brockhausen hatten somit eine Kommunikationsfunktion. Sie reduzierten Komplexität und machten die Überlegungen zum Staat und seine Vorschläge zu dessen Reform einem breiteren Publikum zugänglich. Dieser Aspekt ist für seine Vorträge vor den leitenden Verwaltungsbeamten maßgeblich. Diese Adressaten kannten zwar die Verwaltung und ihre Abläufe sehr gut, hatten jedoch keine theoretisch-analytische Distanz zu den Verwaltungsverfahren, die sie selbst praktizierten. Für diese Adressaten ermöglichte die Metapher von der Dampfmaschine einen ersten Blick auf das irritierende Miteinander von Komplexität (Anwendung) und Simplizität (Grundformen der Verwaltung) – eine Wahrnehmung, die den Praktikern in dieser Form kaum zugänglich war, solange sie im Morast der eigenen Verfahrenskomplexität steckten. 15 Brockhausen 1908, S. 72f.

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Reduktion von Komplexität war jedoch nicht die einzige Rolle der Sprachbilder. Sonst wäre deren Nutzung im Gespräch mit dem Vorsitzenden und den Mitgliedern der Enquete unnötig gewesen. In diesem Setting spielten die Metaphern eine wichtige Rolle für Brockhausen selbst, der damit seine Überlegungen besser entfalten konnte. Die Sprachbilder hatten hier eine produktive und nicht nur eine darstellerische Funktion. Das habe ich am Beispiel der Kolbenbewegung in den beiden Metaphern des Stöpfels und der Dampfmaschine gezeigt. Dieses Bild eröffnete den Blick auf neue Steuerungsinstrumente, wie den regelmäßig revidierten Normaliensammlungen, mit denen die Erwartungen der vorgesetzten Behörden den nachgeordneten Dienststellen mitgeteilt werden sollten. Die Metapher der Dampfmaschine nutzte Brockhausen noch zur Entwicklung eines anderen Arguments, das er in seinem Vortrag nur kurz streifte. Es ging dabei um die neuen Herausforderungen, die der »Hilfsstaat« im Gegensatz zum »alten Polizeistaat, der dann in einen Rechtsstaat überging,« an die Verwaltung stellte. Die Kolben der Dampfmaschine trieben vor allem den Polizeistaat an; für den neuen Hilfsstaat waren aus der Sicht von Brockhausen eigene Transmissionsriemen erforderlich. Denn hier stellte sich plötzlich eine andere Frage an den Beamten: Nicht mehr seine Entscheidung, sondern sein Tun standen plötzlich im Mittelpunkt.16 Die für Brockhausen entscheidende Frage an den Beamten des neuen Hilfsstaates habe ich als Überschrift zu diesem Abschnitt gesetzt: »Was würden Sie tun?« Der aktiv gesellschaftliche Entwicklungen fördernde Beamte benötigte ein sicheres Fundament, von dem aus er agieren konnte. Damit kommt die Frage nach dem einheitlichen Staatswillen erneut ins Spiel. Hier setzte Brockhausen auf neue Kommunikationsformen innerhalb des Apparates, mit denen die untergeordneten Stellen über die verbindliche Gesetzesauslegung durch die vorgesetzten Stellen informiert würden. Wie er sich diese neuen Handlungsmöglichkeiten auf den unteren Ebenen der Behördenhierarchie vorstellte, vermittelte er den Mitgliedern der Enquete ebenfalls in metaphorischer Weise, indem er einen Vergleich zur Finanzwirtschaft anstellte: »[…] und nun komme ich mit einer gleichfalls dubiosen Angelegenheit zu dem Vorstande einer Filiale dieser großen Bank und würde ihn fragen: Sie, was soll ich tun? Wenn der mir nun analog wie der Bezirkshauptmann sagen würde, das ist eine heikle Sache, das Geschäft kann ich mit Ihnen selbst nicht machen, ich werde Sie abweisen, Sie werden sich beschweren in Wien und die Generaldirektion macht dann entweder das Geschäft mit Ihnen oder sie macht es nicht, ich gebe Ihnen den Rat, jedenfalls rekurrieren Sie; so würde ich dem jungen Mann jedenfalls sofort antworten: Telephonieren

16 Brockhausen 1911, S. 62–65.

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Sie doch und ein anderes Mal informieren Sie sich besser, wenn ich mit Ihnen Geschäfte machen soll.«17

Der Vergleich ›hinkte‹ zwar, wie Brockhausen selbst zugestand. Er beharrte jedoch auf dem heuristischen Wert eines solchen Gedankenexperiments. Es eröffnete den Blick auf alternative Wirklichkeiten, die keinen utopischen Charakter hatten und die für den Reformprozess von zentraler Bedeutung waren. Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass sich das kreative Potential der Metaphern und Gedankenexperimente bei Brockhausen erst dann entfalten konnte, wenn er unplugged vor den Mitgliedern der Enquete seine Überlegungen präsentierte. Diese Beobachtung ist sicherlich nicht auf Brockhausen und die Staatswissenschaft beschränkt. Im Hörsaal, Seminarraum und im Tagungsraum beginnen die spannendsten Debatten immer dann, wenn die Referentinnen und Referenten plötzlich unplugged agieren. Wer schon einmal die Freude hatte, Mitchell Ash bei solchen Gelegenheiten zu hören, wird diese Aussage ohne Vorbehalt unterschreiben.

17 Stellungnahme des Experten Brockhausen, in: Enquete, S. 15.

Katalin Str#ner

Wessen Wissenschaft und in welcher Sprache? Gesellschaften und Sprachen in den Naturwissenschaften im Budapest der 1860er und 1870er Jahre

Durch die Untersuchung der öffentlichen Vorträge in Budapest in den 1860er und 1870er Jahren diskutiert dieser Essay Zugänge zur Kommunikation der Wissenschaften in einem breiteren urbanen Publikum und die Rolle der Sprache bzw. der Sprachen in diesem Prozess. Through the study of public lectures in Budapest in the 1860s and 1870s, this paper reflects on approaches to communicate science to a wider urban audience and on the role of the language – languages – used in the process.

»Wessen Liebe zu welchem Land?«, fragt der Titel eines 2010 publizierten Bandes mit Diskursen zum Patriotismus im Ostmitteleuropa der Frühen Neuzeit.1 »Wessen Wissenschaft und in welcher Sprache?« könnte der alternative Untertitel des jüngst erschienenen Bandes The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918, herausgeben von Mitchell Ash und Jan Surman,2 lauten. Wenn man diese Frage aber ernst nimmt, umreißt sie in ihrer vollen Breite das Arbeitsfeld von Mitchell Ash, das sich umfassend mit der Wissenschaftsgeschichte als einer Geschichte des Wissens und seiner Transformationen in komplexen politischen, kulturellen und sozialen Kontexten beschäftigt. Dieser Spur folgend, befasst sich dieser kurze Aufsatz mit Aspekten zur Frage »Wessen Wissenschaft und in welcher Sprache?« @ einerseits mit Ausformung und Wandel der akademischen und wissenschaftlichen Gesellschaften und ihrer Institutionen in Ungarn vor und nach dem Ausgleich im Jahr 1867, und andererseits mit der Verwendung und Bedeutung von Sprache(n) sowohl für die Gelehrtengemeinde als auch die breite Öffentlichkeit. Wissenschaftliche Vorträge waren in den 1860er und 1870er Jahren ein be1 Bal#zs Trencs8nyi/M#rton Z#szkaliczky (Hg.), Whose Love of Which Country? Composite States, National Histories and Patriotic Discourses in Early Modern East Central Europe, Leiden 2010. 2 Mitchell Ash/Jan Surman (Hg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918, Basingstoke 2012.

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Katalin Stráner

vorzugtes Mittel der scientific community – im breiten Sinn der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, vor der Ausbildung zunehmend enger definierter Disziplinen –, um die Budapester Öffentlichkeit über aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen zu informieren. Der Inhalt dieser Vorträge fand oft den Weg in die Druckerpresse, von politischen Tageszeitungen bis zu den Reihen der wissenschaftlichen Gesellschaften. In der jüngeren Geschichtsschreibung wird die großstädtische Presse als eine entscheidende Quelle für Prozesse der Wissensvermittlung und -verbreitung angesehen;3 nicht nur waren im 19. Jahrhundert diese Periodika, Magazine und Zeitungen bedeutsam für die öffentliche Rezeption wissenschaftlicher Ideen,4 sondern sie geben auch einen Eindruck von den unterschiedlichen Leserschichten, die auch die Zuhörerschaft von diesen wissenschaftlichen Veranstaltungen in Städten wie Budapest bildeten. In diesem Aufsatz werde ich einige Besonderheiten dieser öffentlichen Veranstaltungen behandeln, vor allem die öffentlichen Vorträge, die in den 1860er und 1870er Jahren in der ungarischen Hauptstadt stattfanden. Damit will ich einige Kanäle zur Wissenschaftsvermittlung an die breitere urbane Öffentlichkeit veranschaulichen und gleichzeitig die Rolle der Sprache – oder der Sprachen – untersuchen, die bei diesen Veranstaltungen gebraucht wurde/n. Denn zu dieser Zeit war die Entwicklung einer modernen ungarischen Wissenschaftssprache eines der Hauptanliegen der Akademie der Wissenschaften sowie der wissenschaftlichen Gemeinschaften. Die an Einwohnerzahl und wirtschaftlich-industriell schnell wachsende Stadt Pest beherbergte eine Anzahl neu gegründeter kultureller und wissenschaftlicher Vereinigungen. Die Vermittlung naturwissenschaftlicher Themen an ein breiteres Publikum nahmen zwei dieser Gesellschaften wahr. Im selben Jahr, in derselben Stadt und durch dieselben beiden Personen gegründet, hatten sie zwar ähnliche Ziele, unterschieden sich aber in Struktur, Organisation, in ihren Zugängen zur Wissenschaftspopularisierung und wie sie ihr Publikum adressierten ebenso wie hinsichtlich der Standorte und ihrer regionalen Ausrichtung. 3 Vgl. dazu u. a. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, München 1998; Bernard Lightman (Hg.), Victorian Popularisers of Science: Designing Nature for New Audiences, Chicago/London 2007; James A. Secord, Victorian Sensation: The Extraordinary Publication, Reception and Secret Authorship of Vestiges of the Natural History of Creation, Chicago/London 2000; ders., Visions of Science: Books and Readers at the Dawn of the Victorian Age, Oxford 2014. 4 Vgl. z. B. Geoffrey Cantor, Sally Shuttleworth (Hg.), Science Serialized: Representation of the Sciences in Nineteenth-Century Periodicals, Cambridge/Mass. 2004; Geoffrey Cantor u. a. Science in the Nineteenth-Century Periodical: Reading the Magazine of Nature. Cambridge 2004; Allen Fyfe/Bernard Lightman (Hg.), Science in the Marketplace: Nineteenth-Century Sites and Experiences, Chicago/London 2007; Peter Fritsche, Reading Berlin 1900, Cambridge/ Mass. 1996.

Gesellschaften und Sprachen in den Naturwissenschaften

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Im Jahr 1841 gründeten Ferenc Bene und P#l Bug#t, motiviert durch das Streben nach nationalem und sozialem Fortschritt, die Königliche Ungarische Naturwissenschaftliche Gesellschaft [Kir#lyi Magyar Term8szettudom#nyi T#rsulat] und noch im selben Jahr die Wanderversammlung Ungarischer Naturforscher und Ärzte [Magyar Orvosok 8s Term8szetvizsg#ljk V#ndorgyu˝l8se]. Der ungarische Name der zweiten Gesellschaft verrät, dass sie sich an die durch Lorenz Oken in den frühen 1820er Jahren gegründeten Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte anlehnte, und so taucht auch der deutsche Name Gesellschaft Ungarischer Naturforscher und Ärzte mitunter in den Gründungsakten auf. Allerdings klingt die Bezeichnung »Gesellschaft« wesentlich nüchterner als die originelle Wortschöpfung »Wanderversammlung«, die auf den Charakter der Gesellschaft hinweist: eine Art von Wanderzirkus der Ärzte und »Erforscher der Natur«.5 Der vorliegende Beitrag konzentriert sich aber auf die Veranstaltungen unter den Auspizien der erstgenannten Vereinigung von Naturwissenschaftlern und interessierten Laien: die »populären naturwissenschaftliche Soireen«, das heißt die öffentlichen Vorträge der Ungarischen Königlichen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft. Diese hatte ihren Sitz in der Hauptstadt und konzentrierte ihr Wirken örtlich auf diese. Ihre Mitglieder stammten aus allen Gesellschaftsbereichen (zu ihnen zählten, wenn auch nicht ausschließlich, Ärzte, Kaufleute, Juristen, Lehrer, Ingenieure und Geistliche), und die Leser ihrer Publikationen setzten sich aus einem noch breiteren Publikum zusammen. Ab den späten 1860er Jahren gab die Gesellschaft eine Monatsschrift heraus; 1872 gründete sie einen eigenen Verlag (der u. a. 1873 die ungarische Übersetzung von Charles Darwins Origin of Species publizierte).6 Sogar eine deutschsprachige Zeitschrift wurde 1883 gegründet, um ausländische Wissenschaftler über die ungarischen Leistungen zu informieren, trotz einiger interner Opposition, die argumentierte, dass »die ungarische Öffentlichkeit die Gesellschaft mit ihren Geldern nicht unterstützt, um die deutschsprachige Literatur, sondern um die Naturwissenschaften in ungarischer Sprache zu fördern und sie verbreiten zu helfen.«7 Ein zentrales Anliegen der 5 Die Geschichte beider Gesellschaften folgte nach ihrer Gründung einem ähnlichen Muster. Beide wurden als Folge der Repressionen nach Revolution und Unabhängigkeitskrieg 1848/49 inaktiv und nahmen Mitte der 1860er Jahre ihre Tätigkeit wieder auf. 6 Katalin Str#ner, Magyar term8szettudom#ny vagy term8szettudom#ny magyarul? Dapsy L#szlj 8s a Magyar Term8szettudom#nyi T#rsulat Könyvkiadj V#llalat#nak megalap&t#sa [Ungarische Naturwissenschaft oder Naturwissenschaft auf Ungarisch? L#szlj Dapsy und die Gründung des Verlages der Ungarischen Gesellschaft für Naturgeschichte], in: Korall 62 (2015), S. 97–115. 7 Zur Geschichte der Gesellschaft vgl. zum Beispiel Endre Gombocz. A Kir#lyi Magyar Term8szettudom#ny T#rsulat tört8nete 1841–1941 [Geschichte der Ungarischen Königlichen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft], Budapest 1941. Vgl. auch Mih#ly Beck, Tudom#nyos

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Gesellschaft bildete die Popularisierung von Wissenschaft. Dazu organisierte sie gut besuchte Veranstaltungen, die auf die breite urbane Öffentlichkeit abzielten. Die Idee für eine Reihe öffentlicher populärer Vorträge wurde schon 1860 erörtert, teils angeregt durch die Öffentlichkeit, die den Wunsch äußerte, während des Winters Vorträge hervorragender ungarischer Wissenschaftler zu hören.8 Diese begannen schließlich im Februar 1866 und wurden als großer Erfolg wahrgenommen. Die Gasgesellschaft stellte gratis Gas und ihre Dienste zur Verfügung, die deutschsprachige Zeitung Pester Lloyd berichtete (gegen eine kleine Gebühr) ebenso wie auch andere Blätter regelmäßig darüber. Als Veranstaltungsort diente das Auditorium des Lutheraner-Gymnasiums, bis K#roly Than, Generalsekretär der Gesellschaft, 1873 die Leitung übernahm und einen modernen Vortragssaal im neuen Gebäude des Instituts für Chemie an der Universität zur Verfügung stellte. Insgesamt sechzig Vorträge (von Ottj Herman, ]nyos Jedlik, Lor#nd Eötvös und anderen anerkannten ungarischen Naturwissenschaftlern) wurden ab 1877 in einer zehnbändigen Serie veröffentlicht.9 Die »populären naturwissenschaftlichen Soireen«, wie die Gesellschaft sie nannte, waren in der Tat so populär, dass sie regelmäßig in der Presse erwähnt wurden, einschließlich einer Anzahl von Parodien, die im satirischen Journal Borsszem Jankj (benannt nach der Märchenfigur des Däumlings) erschienen sind. Das beweist, dass die Vorträge nicht nur gut besucht waren, sondern Bestandteil der urbanen Populärkultur wurden. In einer dieser Satiren erklärt der Physiker Lor#nd Eötvös10 dem gefesselten Publikum: »die Naturwissenschaften, meine geehrten Zuhörer, sind eigentlich Äußerungen des Universums […] umfassen alles […]. Was Sie essen, ist Naturwissenschaft, was Sie trinken, ist Naturwissenschaft; wenn Sie mich jetzt ansehen, ist das Optik, wenn Sie miteinander während meines Vortrags sprechen, ist es Akustik.«11 Dieser Zugang spiegelt das Bemühen der Gesellschaft, die vor allem seit der Neugründung in den 1860er Jahren ihre Bemühungen darauf konzentrierte, »ein Organ der Mathematik und der Naturwissenschaften [zu werden], das deren Ergebnisse in einer populären Form präsentieren, sich ihrer Verbreitung widmen, sie dem

8 9 10 11

mozgalmak: Nyolcvan 8v hazai term8szettudom#nyi mu˝velo˝d8stört8nete [Wissenschaftliche Bewegungen: Achtzig Jahre Kulturgeschichte ungarischer Naturwissenschaften], in: Term8szet Vil#ga 129 (1998) 12, S. 531–534. Vgl. T#rsulati ügyek [Bericht der Gesellschaft], in: Term8szettudom#nyi Közlöny 6 (1874), S. 84, und 9 (1877), S. 82. N8pszeru˝ term8szettudom#nyi elo˝ad#sok gyu˝jtem8nye [Sammlung populärer Vorträge in den Naturwissenschaften], 10 Bände. Kir#lyi Magyar Term8szettudom#nyi T#rsulat, Budapest 1877–1887. Jjzsef Eötvös, der Vater von Lor#nd Eötvös, spielte eine zentrale Rolle in der Wiederbelebung des wissenschaftlichen Vereinslebens in den 1860er Jahren nach der politischen Eiszeit, die auf die Niederlage der Revolution und den Unabhängigkeitskrieg 1848/49 folgte. Vgl. N8pszeru˝ felolvas#sok [Popular lectures], in: Borsszem Jankj, 30. März 1873, S. 4.

Gesellschaften und Sprachen in den Naturwissenschaften

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Leben nahebringen und Sorge tragen sollte, dass sie Anerkennung finden.« 12 Und das wurden sie, sogar in den milden Satiren in Borsszem Jankj, das nicht nur die Scherze über die Vorträge von Wissenschaftlern wie Eötvös veröffentlichte (samt Porträt), sondern auch das Bild einer dreiköpfigen Familie: Mutter, Vater und kleines Mädchen, die das Auditorium Hand in Hand betreten (Abb. 1).

Abb. 1 »Populäre Vorträge« [N8pszeru˝ felolvas#sok], in: Borsszem Jankj, 30. März 1873, S. 5.

Entsprechend der Satzung und dem Publikum der Gesellschaft wurden die Vorträge auf Ungarisch gehalten – obwohl es auch Ausnahmen gab: Die signifikanteste, wenn man Prominenz und öffentliche Aufmerksamkeit berücksichtigt, war der Vortrag des bekannten deutschen Zoologen Carl Vogt im Dezember 1869. Vogt war für einige seiner Ansichten berüchtigt, unter anderem für die »Affentheorie«, die besagte, dass jede menschliche Rasse sich aus unterschiedlichen Affenarten entwickelte habe: die weiße aus den Schimpansen, die schwarze aus den Gorillas und die asiatische aus den Orang-Utans.13 Auf populärwissenschaftlicher Ebene wurde seine »Affentheorie« mit der Evolutionstheorie gleichgesetzt und Vogt als ihr wichtigster Verfechter deshalb mitunter auch als »Affenvogt« bezeichnet.14 Daher war zu erwarteten, dass sein Besuch in der ungarischen Hauptstadt zum Auslöser eines (häufig stark politisierten) Skandals und von Kontroversen würde. Da Flugschriften, Zeitungsberichte, Karikaturen und Anekdoten über seine Auftritte in anderen Städten in der ganzen Monarchie Verbreitung fanden, setzten die Debatten bereits ein, noch lange bevor Vogt selbst in Budapest eintraf. Das Gefühl der Spannung erreichte mit seiner Ankunft den Höhepunkt, die Vortragssäle waren überfüllt, Angehö-

12 Gombocz, S. 103. 13 Janet Browne, Darwin’s Origin of Species, London 2006, S. 128. 14 Dirk Backenköhler, Only ›Dreams from an Afternoon Nap?‹ Darwin’s Theory of Evolution and the Foundation of Biological Anthropology in Germany 1860–75, in: Eve-Marie Engels/ Thomas F. Glick (Hg.), The Reception of Charles Darwin in Europe. Volume 1, London 2008, S. 98–115, S. 99.

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rige der Presse mobilisierten sich für seine Verteidigung oder zum Angriff gegen ihn. Zwischen 1867 und 1870 hielt Vogt in mehr als dreißig Städten des »deutschen Sprachraums«, von Berlin bis Triest, von Neuch.tel bis Breslau, Vorträge zu Vorgeschichte und Abstammung des Menschen.15 Dazu zählte auch die ungarische Hauptstadt, wo er im Dezember 1869 im Lutheraner-Gymnasium sechs Vorträge hielt. Diese fanden nicht nur am selben Ort, sondern auch zeitgleich mit den »populären naturwissenschaftlichen Soireen« der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft statt, die einige der Vorträge in ihrer Zeitschrift Term8szettudom#nyi Közlöny [Naturwissenschaftliche Rundschau] veröffentlichte. Die Zeitschrift Hon [Heimat] lieferte detaillierte Berichte zu Vogts Treffen mit Studenten, seinem Besuch des zoologischen Gartens, seinen Fachkenntnissen in der Fischzucht ebenso wie zu seinen Vorträgen. Der Aufenthalt im Rahmen seiner Vortragstour gipfelte in einer Abschiedssoiree in der Konzerthalle der Pester Redoute, wo einige Trinksprüche in deutscher Sprache ausgebracht wurden. Das ist insofern bemerkenswert, als sonst keine einzige Publikation – die Naturwissenschaftliche Rundschau, eine Sonntagszeitung oder ein politisches Journal – die offensichtliche Tatsache vermerkte, dass Deutsch die Sprache dieser Vorträge und gesellschaftlichen Ereignisse war. Wie Hon weiter berichtet, folgten den Toasts auf Deutsch zwei in ungarischer Sprache – zum Glück, denn sonst »mochte sich der illustre Gast gedacht haben, dass unsere Muttersprache in einer urzeitlichen Höhle steckengeblieben sei. Wir wollten uns über all diese fremdländischen Trinksprüche ärgern, aber wir hatten niemandem, auf den wir böse sein konnten: […] wer nicht in die ungarischen Toasts einstimmte, konnte es sich nur selbst vorwerfen.« Vogt aber schloss damit, dass die Wissenschaft keine Nationalität habe – wir wissen jedoch nicht, was er in diesem Kontext über eine Nationalsprache der Wissenschaften gesagt hätte.16 Die öffentlichen Veranstaltungen, die von den naturwissenschaftlichen Vereinigungen unter der Führung von maßgeblichen Naturwissenschaftlern und Medizinern organisiert wurden, waren darauf angelegt, nicht nur eine Plattform für akademische und fachliche Netzwerke zu bieten, sondern auch zu bilden und eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Das Beispiel von Vogts Vorlesungen zeigt, dass die ungarischen wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereine kein Problem damit hatten, wenn ihre Gäste oder Mitglieder Deutsch sprachen, auch wenn ihr oberstes Ziel darin bestand, die ungarische Wissenschaft (in ungarischer Sprache) zu fördern. Dies umso mehr, als die Zuhörer und die breite 15 Werner Michler, Darwinismus und Literatur: Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich, 1859–1994, Wien 1999, S. 39. 16 N.N., Lakoma Vogt tisztelet8re [Ein Fest zu Ehren Vogt’s], in: Hon, 24. Dezember 1869, Abendausgabe.

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Öffentlichkeit diese Sprache verstehen konnten und diese über weite Strecken des 19. Jahrhunderts einen der Hauptkanäle für die wissenschaftliche Kommunikation der ungarischen Naturwissenschaften nach innen wie nach außen gebildet hatte. Man könnte nun, und sollte vielleicht auch, mit diesem Eindruck einer äußerst toleranten und pluralistischen Situation schließen. Dieser wird durch die Satire in Borsszem Jankj auf einen Vortrag der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft allerdings etwas getrübt (über die Evolution des Erdwurms, siehe Abb. 2). Diese verspottet den Vortrag in einem stark akzentbehafteten und kaum verständlichen Ungarisch, dessen Ton und Witz sich in keine andere Sprache, schon gar nicht ins Deutsche, übertragen lässt. Das scheint zu suggerieren, dass die wissenschaftliche Gesellschaft das mühselige Gefasel in Ungarisch beenden und dem armen Vortragenden erlauben solle, auf Deutsch zu sprechen (oder ihn, wegen mangelnder Originalität des Themas, erst gar nicht zu Wort kommen zu lassen).

Abb. 2 »Naturwissenschaftliche Gesellschaft: Öffentlicher Vortrag über dem Erdwurm.« [Term8szettudom#nyi T#rsulat: — Szabad elo˝ad#s a giliszt#rjl], in: Borsszem Jankj, 20. Juni 1875, S. 4.

Übersetzung aus dem Englischen von Jan Surman, bearbeitet von Josef Schiffer

Birgit Johler

Museale Praktiken in Zeiten politischer Umbrüche. Zum Erwerb der »Mythenbibliothek« nach 1945 durch das Österreichische Museum für Volkskunde

Museale Praktiken im Kontext des historischen Bruchs von 1945 sind bislang noch wenig untersucht worden. Der Beitrag analysiert die Bedingungen und Konstellationen, die zum Erwerb eines Bücherbestandes einer ehemaligen NS-Forschungsstelle durch das Volkskundemuseum in Wien führten und setzt diese Praxis mit der Institution und seinen Akteur/inn/en in Beziehung. The practices of museums in the context of the historic watershed of 1945 have not yet been investigated in detail. The following article analyses the conditions and constellations that led to the acquisition of the book collection of a former NS research site by the Volkskundemuseum Wien (Austrian Museum of Folk Life and Folk Art) and puts this practice in relation to the institution and its actors.

Forschungsfeld Museum Seit den 1980er bzw. 1990er Jahren, im Zuge der sogenannten New Museology, insbesondere aber in den letzten Jahren hat Forschung in und an Museen eine Intensivierung erfahren. Unterschiedliche theoretische und methodische Zugänge nehmen das Museum als eine »mit der Geschichte der europäischen Moderne vielfach verwobene[n] Institution«1, mit seiner vielfältigen Wissensund Wirkungsgeschichte in Raum und Zeit unter die Lupe.2 Eine etablierte Methode, wie Museen in ihrer Gesamtheit als Institution mit ihrer Geschichte, ihren Akteur/inn/en, ihrer musealen und auch wissenschaftlichen Praxis und 1 Bernhard Tschofen, zit. in: Heike Gfrereis/Thomas Thiemeyer/Bernhard Tschofen, Einleitung. Was geschieht im Museum – und wie können wir es beschreiben? Ein Gespräch der Herausgeber anstelle einer Einführung, in: dies. (Hg.), Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis (marbacher schriften 2), Göttingen 2015, S. 7–12, S. 7. 2 Siehe dazu etwa der von Joachim Baur 2010 herausgegebene Sammelband Museumsanalyse. Dieser bündelt erstmals für die deutschsprachige Wissenschaftslandschaft unterschiedliche methodische Zugänge und theoretische Sichtweisen und beschreibt die Museumsanalyse konkret als neues Forschungsfeld. Joachim Baur (Hg.), Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2010.

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ihren vielfältigen Verflechtungen zu analysieren sind, existiert allerdings bislang nicht.3 In meiner Untersuchung zur Geschichte und zur Entwicklung des Österreichischen Museums für Volkskunde (kurz ÖMV bzw. Volkskundemuseum) in Wien von 1930 bis 19454 habe ich dieses Museum als öffentliche Zeige-, Vermittlungs- und Bildungsinstitution sowie als Ort spezifischer Wissensproduktion aus ethnografisch-kulturanalytischer sowie museumswissenschaftlicher Perspektive beforscht. Die Forschungen und wissenschaftlichen Konzepte zu Wissenschaftspolitik und Forschungspraxis von Mitchell Ash waren für diese meine Arbeit wesentlich. Die Frage nach der (wechselhaften) Beziehung von Wissenschaft und Politik und nach Abhängigkeiten, nach den praktischen wie konzeptionellen Ressourcen, nach der Mobilisierung von Ressourcen und nach relevanten Ressourcenensembles5 erwiesen sich als zentral für die Analyse der Entwicklung des Volkskundemuseums in Wien und der Interdependenzen von Museum, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Wie die Forschungen gezeigt haben,6 stellten vor allem die Sammlungen – dazu ist auch die museumseigene Bibliothek zu zählen – und der museale Ort selbst zentrale Ressourcen für das Museum dar. Nicht nur, aber insbesondere im Zuge historischer Regimewechsel setzten die Museumsakteurinnen und -akteure diese gezielt für ihre Interessen bzw. Zwecke ein. Das Haus offerierte geschickt Räumlichkeiten, Netzwerke und die nachgefragten volkskundlichen Objektivationen und dazu jenes Wissen – auch praktisches Wissen –, das im jeweiligen politischen System gewünscht war.7 3 Juliane Tomann, Geschichtskultur im Strukturwandel: Öffentliche Geschichte in Katowice nach 1989 (Europas Osten im 20. Jahrhundert 6), Oldenbourg 2016, S. 105. 4 Birgit Johler, Das Volkskundemuseum in Wien in Zeiten politischer Umbrüche. Zu den Handlungsweisen einer Institution und zur Funktion ihrer Dinge, phil. Diss. Universität Wien 2017. 5 Siehe v. a. Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – Bestandaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51, sowie ders., Reflexionen zum Ressourcenansatz, in: Sören Flachowsky/Rüdiger Hachtmann/Florian Schmaltz (Hg.), Ressourcenmobilisierung. Wissenschaftspolitik und Forschungspraxis im NS-Herrschaftssystem, Göttingen 2017, S. 535–553. 6 Der Dissertation liegt ein FWF-Projekt mit dem Titel Museale Strategien in Zeiten politischer Umbrüche. Das Österreichische Museum für Volkskunde von 1930 bis 1950 (P 21442-G18) zugrunde. Die zentralen Thesen sind veröffentlicht in Birgit Johler, Magdalena Puchberger, Wer nutzt Volkskunde? Perspektiven auf Volkskunde, Museum und Stadt am Beispiel des Österreichischen Museums für Volkskunde, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 70/119 (2016) 3–4, S. 183–219. 7 Das Volkskundemuseum war in der Zwischenkriegszeit und in der Nachkriegszeit Dreh- und Angelpunkt volkskundlicher Wissensproduktion und -vermittlung in Wien und Österreich. Ein eigenes Universitätsinstitut für das Fach Volkskunde existierte in Wien von 1942 bis 1945 (Lehrstuhl für »germanisch-deutsche Volkskunde«) und dann wieder ab 1957, jeweils unter Richard Wolfram (1901–1995).

Museale Praktiken in Zeiten politischer Umbrüche

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Das Volkskundemuseum war so von Beginn an Teil einer die Volkskunde und die »Volkskultur« stützenden und fördernden Kulturpolitik. Im Folgenden möchte ich eine spezifische »Ressourcenkonstellation« im Zuge des historischen Bruchs von 1945 beleuchten, die sich in Österreich so möglicherweise nur in der Bundeshauptstadt Wien zeigen konnte. Exemplarisch soll anhand einer ›Erwerbung‹, nämlich der Einverleibung eines über 1000 Bände umfassenden Bücherbestandes in die Bibliothek des Volkskundemuseums beschrieben werden, welche Determinanten die museale Praxis in der Zeit des historischen Übergangs vom NS-Gewaltregime zur Zweiten Republik beeinflussten.

Museale Praktiken in Zeiten ungeklärter Zuständigkeiten Für den langjährigen Direktor des Volkskundemuseums Arthur Haberlandt8 machte der politische Bruch von 1945 ein strategisches Agieren gleich auf mehreren Ebenen erforderlich: Als vormaliges NSDAP-Mitglied geriet er durch das im Mai 1945 verabschiedete »Verbotsgesetz« in das Visier der neuen Regierung. Geschickt wusste er allerdings die gesetzlichen Ausnahmebestimmungen für sich zu nutzen, die eine Belassung im Dienst vorsahen, wenn eine »notdürftige Weiterführung des Amtes«9 ansonsten nicht gewährleistet wäre. Haberlandt agierte demnach wie selbstverständlich als Leiter der Institution weiter. Rasch reinstallierte er sich mit Hilfe seiner alten Weggefährten als leitender Funktionär des Vereins für Volkskunde, des Trägervereins des Museums, und war dadurch befähigt, mit den Behörden in Kontakt zu treten. Er sorgte für die Rückbergung der (wenigen) kriegsbedingt ausgelagerten Museumsobjekte und wurde gleichzeitig nicht müde, seine Bemühungen um die Sicherheit der Sammlungen vor Ort in den letzten Kriegstagen dem zuständigen Ministerium gegenüber zu betonen. – Bei »rückhaltloser Einstellung zur Republik Öster8 Arthur Haberlandt (1889–1964) hatte in Wien Anthropologie, Ethnologie und Prähistorik studiert. Nach der Promotion im Jahr 1911 habilitierte er sich 1914 und wurde noch im selben Jahr als »Privatdozent für Ethnographie« an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien zugelassen. 1924 übernahm er von seinem Vater die Leitung des damaligen »Museums für Volkskunde«. Zu Arthur Haberlandt s. u. a. Olaf Bockhorn, Von Ritualen, Mythen und Lebenskreisen: Volkskunde im Umfeld der Universität Wien, in: Wolfgang Jacobeit/Hannjost Lixfeld/Olaf Bockhorn (Hg.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994, S. 477–526, S. 507. 9 Österreichisches Museum für Volkskunde (ÖMV), Archiv, Ktn. 32/1945, Mappe Personal. Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten, Enthebung aller ehemaligen Mitglieder (Anwärter) der NSDAP und ihrer Wehrverbände im Dienst, Schreiben an alle Dienststellen, 8. 8. 1945.

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reich«10 konnten schließlich ehemalige NSDAP-Parteimitglieder in ihrer Position belassen werden, wenn sie eine patriotische Haltung schon für die Zeit vor der Befreiung Österreichs nachweisen konnten. So suchte er auch um Umbenennung des bisherigen »Museums für Volkskunde« in »Österreichisches Museum für Volkskunde«11 bei den Behörden an und unterstrich damit wie selbstverständlich sein Bekenntnis und die Zugehörigkeit des Museums zum ›neuen‹ Österreich. Darüber hinaus beantwortete er die Anfragen des Ministeriums hinsichtlich der Parteimitgliedschaften der Angestellten und sorgte zum Teil für deren Dienstenthebung. Als jahrzehntelanger Leiter der Institution wusste Haberlandt um die Wirkkraft symbolischer Setzungen und kooperativer Zusammenarbeit, hatten doch er und auch schon sein Vater Michael Haberlandt seit dem politischen Umsturz von 1918 immer wieder sich selbst, die Museumsinstitution und auch die Volkskunde gekonnt den neuen politischen Systemen und Akteur/inn/en schmackhaft gemacht. Neben diesen organisatorischen Tätigkeiten und strukturerhaltenden Maßnahmen galt Haberlandts Aufmerksamkeit in diesen Wochen auch dem Erwerb eines spezifischen Bücherbestandes. Museales Sammeln in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten mag aufgrund der allgemeinen Notlage und auch der komplizierten beruflichen Situation Haberlandts – immerhin stand er unter politischer Beobachtung – erstaunen, tatsächlich aber muss auch dieser Aspekt mit der spezifischen historischen Situation und den »Handlungsweisen einer Institution« in Beziehung gebracht werden. Für zahlreiche vormalige NS-Institutionen blieb in den Wochen und Monaten nach Kriegsende deren Rechtsnachfolge vorerst ungeklärt. Haberlandt begriff diese unklare Situation als Chance und begann sich intensiv um eine »herrenlose Bibliothek«12 zu bemühen, von der er wusste, dass sie ohne Aufsicht in einem Privathaushalt im 13. Wiener Gemeindebezirk untergebracht war. Dabei handelte es sich um die Bibliothek der ehemaligen NS-Forschungsstelle »Mythenkunde«, die 1942 gegründet worden war und vom jahrelangen Vizepräsidenten des Volkskundevereins und guten Bekannten Haberlandts, dem Volkskundler Karl Spieß13, geleitet wurde.14 Bereits im Mai 1945 hatte Haberlandt einen im 10 Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz), 8. 5. 1945, Art. 6 § 27, online: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1945_13_0/1945_13_0.pdf (abgerufen am 27. 12. 2017). 11 ÖMV, Archiv, Ktn. 32/1945, Mappe Verein. Arthur Haberlandt an Kulturamt der Stadt Wien, 10. 7. 1945. 12 ÖMV, Archiv, Ktn. 32/1945, Mappe Verwaltung. Arthur Haberlandt an die Fahrbereitschaft des 8. Bezirks, 2. 7. 1945. 13 Karl Spieß, geb. 1880 in Wien, gest. 1957 in Innsbruck. Karl Spieß war ein Vertreter der sogenannten Wiener Schule der Germanistik, die schon früh, vor 1938, eine Volkskunde auf »rassischer Grundlage« zu etablieren versuchte. Hermann Hummer/Birgit Johler/Herbert Nikitsch, Die Bibliothek des Österreichischen Museums für Volkskunde. Ein Vorbericht, in:

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13. Bezirk wohnhaften Kollegen gebeten, das »Schicksal dieser Bibliothek zu erkunden und gegebenenfalls für deren Sicherstellung zu sorgen«15. Im Juni erwirkte er vom Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten die Beauftragung, das »wissenschaftliche Material des Institutes für Mythenforschung […] zu sichten und sicherzustellen«16, und Anfang Juli suchte Haberlandt schließlich bei der Fahrbereitschaft des Bundes um die Bereitstellung eines Streifenwagens für »eine mehrmalige Fahrt«17 vom 13. Bezirk in den 8. Bezirk, an die Adresse des Museums, an. Die Sache sei dringend, so schrieb er – womöglich ahnte oder wusste er gar, dass auch andere Interessenten das Bücherlager bald aufsuchen würden. Haberlandts Bemühungen zur Überführung der »Mythenbibliothek« in den Bestand des Museums zeigten allerdings vorerst keinen Erfolg. Zwar argumentierte er, dass durch diesen Bücherbestand »der Museumsbibliothek in materieller Hinsicht wie auch in inhaltlicher Hinsicht ein erwünschter Zuwachs«18 zuteilwerden würde, aufgrund der ungeklärten rechtlichen Situation behielt das Staatsamt die begehrten Bände und Materialien weiterhin zurück bzw. wurden diese nicht zur Abwicklung freigegeben. Mit Haberlandts Dienstenthebung vom 26. Oktober 194519 ist die Erwerbungsgeschichte dieser Bibliothek allerdings nicht zu Ende: Seinem kurzzeitigen Nachfolger Heinrich Jungwirth, einem pensionierten Mittelschuldirektor, der mit dem Volkskundemuseum und dem Verein seit den 1930er Jahren verbunden war,20 gelang es im Juni 1946, die Bücher – er unterschrieb die Übernahme von 1.801 Stück21 – in das Museum zu überführen. Jungwirth wurde allerdings darauf

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Bruno Bauer/Christina Köstner/Markus Stumpf (Hg.), NS-Provenienzforschung an österreichischen Bibliotheken. Anspruch und Wirklichkeit (Schriften der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare 10), Graz u. a. 2011, S. 459–478, S. 462f. Die »Forschungsstelle Mythenkunde« war Teil des NS-Instituts für deutsche Volkskunde, das wiederum zur »Hohen Schule der NSDAP in Vorbereitung« gehörte. Ebd., S. 461ff. ÖMV, Archiv, Ktn. 32/1945, Mappe Verwaltung. Bericht Karl Magnus Klier, 1946. ÖMV, Archiv, Ktn. 32/1945, Mappe Verwaltung. Bestätigung, Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten, 13. 6. 1945. ÖMV, Archiv, Ktn. 32/1945, Mappe Verwaltung. Arthur Haberlandt an die Fahrbereitschaft des 8. Bezirks, 2. 7. 1945. ÖStA/AdR, BMU, 02/5 Hauptreihe 15, Museum für Volkskunde 1940–1965, Kt. 158. Arthur Haberlandt an die »Staatliche Kunstverwaltung im Staatsamt für Unterricht«, z. H. Dr. Berg, 4. 7. 1945. ÖStA/AdR, BMU, 02/5 Hauptreihe 15, Museum für Volkskunde 1940–1965, Kt. 158. Direktion des Museums für Volkskunde an das Bundesministerium für Unterricht, 4. 12. 1946, Zl. 534/46. Heinrich Jungwirth übernahm am 10. 12. 1945 die Leitung des Museums vom provisorischen Museumsleiter Robert Bleichsteiner. ÖMV, Archiv, Ktn. 33/1946, Mappe Finanzen. Schreiben des Bundesministeriums für Unterricht, 12. 1. 1946. Jungwirth behielt diese Position bis 31. 12. 1951 inne. Hummer/Johler/Nikitsch 2011, S. 467.

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Birgit Johler

aufmerksam gemacht, »dass die Bücherei vorläufig Eigentum des Bundes bleibt und dem Museum für Volkskunde nur als Leihgabe bis auf weiteres zur Verfügung gestellt werden kann«.22 Tatsächlich sollte sich die Übertragung des Eigentums an dem Bücherbestand bis auf weiteres hinziehen. Um diesen aus der Sicht des Museums wichtigen rechtlichen Schritt zu beschleunigen, unternahm auch Jungwirth gezielte Maßnahmen: So stellte er in Schreiben an die Behörde Überlegungen zur Einrichtung einer neuen Museumsabteilung für Märchenund Sagenforschung an und veranlasste eigenmächtig eine Katalogisierung und damit die Aufnahme der Bücher in die Bestände der Museumsbibliothek. Dieser Erschließungsvorgang wurde dem zuständigen Ministerium kommuniziert, zeigte man so doch weitere Bemühungen bzw. offerierte inhaltliche Argumente, die die logische Zuständigkeit des Volkskundemuseums für diesen Bestand unterstreichen sollten. Der hier nur rudimentär skizzierte Erwerbungsvorgang eines Bücherbestandes einer ehemaligen NS-Institution23 macht Sammlungspraktiken von Museumsakteur/inn/en im Kontext von 1945 sichtbar. Sammeln im Museum wird üblicherweise als Tätigkeit verstanden, die im Einklang mit wissenschaftlichen Standards und Fragestellungen geschieht. Sammeln beruht aber nicht nur auf wissenschaftlichen Konzepten und/oder persönlichen Interessen, sondern auch bzw. in erster Linie auf dem Wissen um die Existenz von Sammlungen, auf strategischem (Verwaltungs-)Handeln und auch auf der Einschätzung zeitgebundener Möglichkeiten des Objekterwerbs. Im vorliegenden Fall zeigten sich Netzwerke und Kontakte schon im Vorfeld als entscheidend und inhaltliche Argumente gegenüber Behörden als hilfreich, um den Bestand für die Institution zu ›sichern‹. Haberlandt und auch Jungwirth waren mit Karl Spieß bestens bekannt. Beide nutzten ihr Wissen und ihre Kontakte, um die Bibliothek dem Museum zuzuschlagen. Nicht zuletzt machte sich Erfahrungswissen bezahlt: Die Tätigkeiten des Sichtens und des »Sicherstellens« von Beständen und Sammlungen im Auftrag der Politik, das geschickte Argumentieren für den Erwerb einer begehrten Sammlung hatte Haberlandt Jahre zuvor, im Rahmen seiner »Einsätze« im Auftrag der NS-Rauborganisation »Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg«24, aber auch schon als junger Wissen22 ÖMV, Archiv, Ktn. 32/1945, Mappe Verwaltung. Bundesministerium für Unterricht an die Direktion des Museums für Volkskunde, 9. 5. 1946. 23 Zur Geschichte der »Mythenbibliothek« und zu ihrer Erwerbung durch das Volkskundemuseum siehe: Hummer/Johler/Nikitsch 2011. Nach wie vor ist unklar, ob das Eigentum an diesem Bücherbestand von der Republik Österreich an das Volkskundemuseum übertragen wurde. Dies wird aktuell im Rahmen einer Provenienzforschung überprüft. 24 Arthur Haberlandt war von 1942 bis 1944 als Wissenschafter Teil des »Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg« (ERR) und als solcher mehrfach in Ost- und Südosteuropa im »Einsatz«. Neben museumssachverständigen Arbeiten hielt er Vorträge vor Soldaten im Feld und forschte und publizierte im Auftrag des ERR.

Museale Praktiken in Zeiten politischer Umbrüche

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schafter während der sogenannten »Balkanexpedition« im Ersten Weltkrieg praktiziert. Als Angestellter im Staatsdienst seit 1917/18 war er zudem mit den Strukturen und Usancen der Verwaltung bestens vertraut und auch in politischen Umbruchphasen darin versiert, die Ressourcen des Staates für die Institution zu nutzen. Und obwohl Haberlandts Bemühungen um eine Überführung der Bestände während seiner Amtszeit letztlich erfolglos bleiben sollten, hatte er doch durch sein Handeln das Volkskundemuseum bei den Behörden als vermeintlich zuständige Institution zur rechten Zeit in Stellung gebracht.25 Diese kurzen Ausführungen zur »Mythenbibliothek« zeigen schließlich auch den Stellenwert von Objekten im und für ein Museum: Objekte formen museale Praktiken (oder bringen diese erst hervor), sie sind in Beziehung zu setzen mit den musealen Akteur/inn/en und ihren Handlungen und sind ganz allgemein Bestandteil kulturaler Phänomene bzw. Prozesse.

25 Haberlandt wurde übrigens in späteren Schreiben an das zuständige Ministerium als jene Person gewürdigt, die den Bestand vor »Plünderungen« rettete.

Metamorphosen

Tibor Frank

Michael Polanyi: Der Wissenschaftler und seine politisch erzwungenen Wandlungen

Der Beitrag stellt die Doppelmigration von Michael Polanyi nach dem Ersten Weltkrieg aus Ungarn über Deutschland nach England vor. Hier wird auch seine intellektuelle Reise von den Naturwissenschaften zur Philosophie und seine transkulturelle Leistung in drei Sprachen erörtert. Da er in eine jüdisch-ungarischen Familie hineingeboren wurde, erlebte er selbst den Assimilationsprozess in Budapest. The paper presents Michael Polanyi’s double exile after WWI from Hungary via Germany to Britain, his intellectual journey from science to scholarship and his transcultural entanglement in three languages: Hungarian, German, and English. Jewish-Hungarian by background, Michael Polanyi’s family were part of the assimilation process in pre-War Hungary.

Bei diesem Artikel handelt es sich um den Versuch einer Darstellung der vielfachen Wendungen im Leben des Michael Polanyi: sein doppeltes Exil bzw. seine Kettenmigration aus Ungarn über Deutschland nach Großbritannien, die damit einhergehenden Ortsveränderungen, seine intellektuelle Reise von der Wissenschaft zur Wissenschaftsphilosophie und seine transkulturelle Verwicklung in drei Sprachen, nämlich Ungarisch, Deutsch und Englisch. Seines Zeichens das perfekte Beispiel für die Überschreitung territorialer, wissenschaftlicher und kultureller Grenzen, gehörte der bedeutende ungarisch-stämmige Physikochemiker Michael Polanyi [Pol#nyi] (1891–1976), aus dem später ein namhafter Philosoph wurde, zu den vielseitigen Geistesgrößen, die Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg verließen.1 Er ließ sich zunächst in Deutschland nieder und zog 1934 nach Großbritannien, wo er den Rest seines Lebens verbrachte.

1 Tibor Frank, Double Exile: Migrations of Jewish-Hungarian Professionals through Germany to the United States, 1919–1945, Oxford 2009.

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Assimilation und religiöse Konversion Michael Polanyi und seine Familie hatten einen jüdisch-ungarischen Hintergrund und waren den Prozessen der Assimilation und religiösen Bekehrung in Ungarn ausgesetzt.2 Die Veränderungen begannen mit der jüdischen Immigration in die österreichisch-ungarische Monarchie und setzten sich mit der wachsenden Zahl von Assimilierungen in Ungarn fort, wodurch sich neue Gelegenheiten ergaben. In einer ziemlich diversifizierten Gesellschaft war die Madjarisierung ein Kraftakt zur Stärkung der nationalen Identität und zum Aufbau einer ungarischen Nation aus einem Gebilde, das ursprünglich ein Konglomerat aus allen möglichen ethnischen, religiösen und sprachlichen Gruppen war. Assimilation konnte mit einem Sprachwechsel, einer Namensänderung, einer Mischehe und der religiösen Konversion sowie in manchen Fällen mit der Erhebung in den Adelsstand einhergehen. Der Wechsel vom Deutschen oder Jiddischen zum Ungarischen, von der Selbstidentifikation als jüdische zur Selbstidentifikation als ungarische Familie, vom Judaismus zum Katholizismus oder zu verschiedenen Formen des Protestantismus halfen den Juden dabei, sich in die ungarische Gesellschaft zu integrieren. Diese verschiedenen Formen der Assimilation schufen jedoch häufig ein soziales und psychologisches Vakuum, gleichsam eine Aura verlorener Identität oder ein religiöses Niemandsland.3 Das Ausmaß der Assimilation war auch ein Gradmesser für die spirituelle Unsicherheit, das soziale Unbehagen und die innere Unruhe, die Generationen von Juden in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und darüber hinaus empfanden.4 Ironischerweise offenbarte sich diese Unsicherheit der assimilierten Juden in konvertierten Individuen und deren Familien, in dem Aufgeben von Traditionen und der noch nicht erfolgten Annahme eines anderen Wertesystems. Für die religiösen Konvertiten bestand die Belohnung für die transkultu2 Ich beziehe mich hier auf meine früheren Artikel über die Budapester Wurzeln von Michael Polanyis Liberalismus: The Budapest roots of Michael Polanyi’s liberalism, in: Polanyiana 19 (2010) 1–2, S. 5–24; und From scientist to scholar: The turns of Michael Polanyi, in: Euresis Journal 2 (Winter 2012), S. 1–18. 3 Vgl. Sander L. Gilman, Jewish Self-Hatred: Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore/London 1986, S. 22–67, S. 139–308; Viktor Kar#dy, Zsidjs#g Eurjp#ban a modern korban [Das Judentum im Europa der Neuzeit], Budapest 2000, S. 125–284; William O. McCagg, Jr., A History of Habsburg Jews, Bloomington 1989, S. 47–158; ders., Jewish Conversion in Hungary, in: Todd Endelmann (Hg.), Jewish Apostasy in the Modern World, New York 1987, S. 142–164; Raphael Patai, The Jews of Hungary : History, Culture, Psychology, Detroit 1996, S. 230–441; Jacob Katz, From Prejudice to Destruction: Anti-Semitism, 1700–1933, Cambridge, Mass./London 1980, S. 203–209, S. 221–242. 4 Vgl. McCagg, Jr. 1989; vgl. Elzbieta Ettinger, Hannah Arendt/Martin Heidegger, New Haven CT 1995, zit. n. Alan Ryan, Dangerous Liaison, in: The New York Review of Books, 11. 1. 1996, S. 24.

Polanyi: Der Wissenschaftler und seine politisch erzwungenen Wandlungen

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relle Migration und Assimilation in der sozialen Anerkennung und der letztendlichen Beförderung zum Preis des Verlustes der eigenen Wurzeln. In Ungarn schien es häufig ein vernünftiges Tauschgeschäft zu sein, nicht geschätzte Traditionen für die Vorteile einer scheinbar gesicherten Stellung in der nichtjüdischen Gesellschaft aufzugeben. Die Muster der Assimilation innerhalb der Familie Pollacsek-Pol#nyi widerspiegeln diese allgemeinen Trends in der ungarischen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts.5 Aufgrund der Assimilierung in die ungarische Gesellschaft konnte die jüdische Mittelklasse Erfahrungen machen, die ihre Mitglieder auf eine spätere erfolgreiche Immigration in andere Länder und Einbürgerung vorbereitete. Da sie sich bereits mit verschiedenen Wertesystemen, doppelten Identitäten und einem Lebensgefühl, als ob sie zwischen zwei Gesellschaften stünden, auseinandergesetzt hatten, war ihr Erfolg im Ausland dadurch bedingt, dass sie bereits eine vergleichbare Veränderung in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie erfahren hatten. Das Aufgeben der deutschen Sprache zugunsten des Ungarischen erfolgte ziemlich schnell.6 Bis zu einem gewissen Grad gehörten Namensänderungen zum gleichen Trend. Unter Joseph II. (1780–1790) sollten jüdische Familiennamen vom Hebräischen ins Deutsche, im 19. Jahrhundert vom Deutschen ins Ungarische und später unter den Emigranten und den im Exil Lebenden aus dem Ungarischen ins amerikanische Englisch oder in international klingende Namen übertragen werden.7 Die Madjarisierung der Namen wurde in den Jahren von 1880 bis 1890 und in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zu einer echten Bewegung. In dieser Zeit gab es jährlich 2.000 bis 3.000 Namensänderungen. Zwischen 1848 und 1917 nahmen ungefähr 66.000 Menschen jüdischer Abstammung einen neuen ungarischen Namen an.8 Berühmte Wissenschaftler von internationalem Rang und Musiker mit ungarischen Wurzeln wie z. B. Michael Polanyi, Leo Szilard, Theodore von K#rm#n, Sir Georg Solti und Eugene Ormandy trugen alle madjarisierte Familiennamen, die zuvor deutsch-jüdisch gewesen waren. Der Familienname Pollacsek wurde in 1904 zu Pol#nyi madjarisiert. Jedoch folgten zur gleichen Zeit viele Ungarndeutsche ähnlichen Mustern in Bezug auf Namensänderungen und Assimilation. Die Zahl von Mischehen zwischen Juden

5 Vgl. Judith Szapor, The Hungarian Pocahontas: The Life and Times of Laura Polanyi Stricker, 1882–1959, Boulder CO 2005, S. 15. 6 Vgl. McCagg, Jr. 1989, S. 190. 7 Peter Gay, Freud, Jews and Other Germans. Masters and Victims in Modernist Culture, Oxford 1979, 98, n. 12. 8 Vgl. Alajos Kov#cs zit. n. Mikljs Mester, Magyar nevet minden magyarnak! [Einen ungarischen Namen für jeden Ungarn!] Teile I–II. Nemzeti Figyelo˝, 31. 12. 1939, S. 3; 3. 1. 1940, S. 3.

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und Nichtjuden von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg wurde auf 50.000 geschätzt.9 Die religiöse Konversion vom Judaismus zum Christentum war die stärkste Form der Assimilation. Religiöse Konversion war ein Hinweis auf ein mentales Muster, das einige zukünftige intellektuelle Emigranten darauf vorbereitete, sich an die Herausforderung der transkulturellen Veränderungen anzupassen. Das 19. Jahrhundert brachte eine lange Liste bedeutender Individuen hervor, die zum Christentum konvertierten. Unter ihnen waren u. a. der deutsche Poet Heinrich Heine, der britische Staatsmann Benjamin Disraeli, die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt, der deutsch-ungarische Geiger Joseph Joachim, der Vater des politischen Ökonomen Karl Marx sowie der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy.10 Als ein wichtiges gesellschaftliches Phänomen der damaligen Zeit wurde die Konversion von einer Reihe von Romanen, Kurzgeschichten und Dramen aufgegriffen und zur Diskussion gestellt, und zwar sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten. Dazu gehörten z. B. die Werke Die Jüdinnen und Arnold Beer von Max Brod; Isräel, AprHs moi, L’Assaut und Le Secret von Henry Bernstein; Quelques Juifs von Andr8 Spir8; Der Weg ins Freie von Arthur Schnitzler ; Dr Kohn von Max Nordau; Az fflj kereszt8ny [Der neue Christ] und A tffllsj parton [Am anderen Ufer] von P8ter Ujv#ri.11 Die Konversion zum Christentum war eine gängige Form der Assimilation in Deutschland, wo die Juden eine wichtige Rolle in den sogenannten »freien« Berufen spielten. Nichtsdestotrotz war, wie der Historiker Peter Gay vermerkte, »der Exodus nicht massiv.« Die Zahl der Konvertiten im 19. Jahrhundert betrug ungefähr 22.000. Aufgrund des Antisemitismus jedoch gab es wiederholt Wellen der Konversion. Die Hälfte der jüdischen Wissenschaftler und die meisten jüdischen Journalisten und Herausgeber in Deutschland waren tatsächlich Konvertiten. Die religiöse Konversion war, wie Peter Gay betont, »einer der Wege, sich den Aufstieg auf der akademischen Leiter zu erleichtern.«12 Nachdem der jüdische Mittelalterforscher Harry Bresslau sich bei seinem Professor Leopold von Ranke beklagt hatte, dass seine Religion seinen Karrierefortschritt blockiere, erhielt er den Rat, zum Christentum zu konvertieren. Bis 1870 bestand die 9 Kov#cs hielt das für eine ziemlich geringe Zahl. Alles in allem handelte es sich um etwa 0,7 % der jüdischen Bevölkerung auf dem Gebiet des geteilten Ungarn. Vgl. Alajos Kov#cs, Adatok a zsidjk bev#ndorl#s#ra 8s kikeresztelked8s8re vonatkozjlag [Daten über die Einwanderung und religiöse Konversion der Juden] MS, Note für [den Ministerpräsidenten] Graf P#l Teleki, 24. 4. 1939, Központi Statisztikai Hivatal Könyvt#ra [Bibliothek des ungarischen Statistischen Zentralamtes], V B 935. 10 Vgl. R[ezso˝] S[eltmann], Aposzt#zia 8s kit8r8s a zsidjs#gbjl [Apostasie und Austritt aus dem Judentum], in: P8ter Ujv#ri (Hg.), Magyar Zsidj Lexikon [Ungarisches jüdisches Lexikon], Budapest 1929, S. 54–57. 11 Vgl. R[ezso˝] S[eltmann], Asszimil#cij [Assimilation], in: Ujv#ri (Hg.) 1929, S. 63–65. 12 Gay 1979, 116.

Polanyi: Der Wissenschaftler und seine politisch erzwungenen Wandlungen

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im Wesentlichen einzige Möglichkeit, das Judentum hinter sich zu lassen, in der Konversion. Erst nach 1876 wurde es den Juden von der preußischen Gesetzgebung ermöglicht, aus ihrer Glaubensgemeinschaft auszutreten ohne zu einer anderen Religion konvertieren zu müssen. Das war ein Wendepunkt, der eine Flucht vor der jüdischen Identität erleichterte.13 Es reichte jedoch nicht aus, einfach zu konvertieren und die eigenen Kinder taufen zu lassen: »Für gewöhnlich brauchte es mehrere Generationen, mehrere Mischehen und womöglich auch eine Änderung des Namens sowie eine Verlegung des Wohnsitzes, bevor die Vergangenheit des neuen Christen allmählich in Vergessenheit geriet. Juden verachteten im Allgemeinen ihre getauften Brüder und Schwestern als Abtrünnige, während Christen sie wiederum als Opportunisten verachteten. Konvertiten, die sich Vorteile davon erhofften, von einem in das andere Lager zu wechseln, verloren in beiden. […].«14

Allen – Philosemiten wie Antisemiten gleichermaßen – war klar, dass selbst diejenigen der ehemaligen Juden, die den Judaismus abgelehnt hatten, indem sie zum Christentum konvertiert waren oder sich rechtlich von der jüdischen Gemeinde losgelöst hatten, irgendwie nach wie vor Juden waren. Es stand nie im Raum, radikale Denker wie Karl Marx oder konservative Rechtsgelehrte wie Friedrich Julius Stahl als Nichtjuden zu behandeln. In Berlin lebten sehr viele jüdische Agnostiker, jüdische Atheisten, jüdische Katholiken und jüdische Lutheraner. Tatsächlich waren diese nichtjüdischen Juden noch viel eher sichtbar als jene Juden, die, egal wie locker, an ihrer uralten Etikettierung als Juden festhielten, da sie mit dem zusätzlichen Vorwurf der Feigheit, des sozialen Aufstiegs und der geheimen Förderung einer weltweiten Verschwörung, mit einem Wort einer egoistischen Form von Mimikry, zu kämpfen hatten. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese nichtjüdischen Juden unter den prominentesten Vertretern der intellektuellen Szene in Berlin zu finden waren.15 Vor 1910 war die Zahl der Konversionen in Ungarn relativ gering. Es brauchte große politische Umwälzungen wie die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg, um religiöse Konversionen zu einer Massenbewegung werden zu lassen.16 William O. McCagg, Jr. bemerkte, dass es »1919 und 1920 zu einer massiven Welle von Austritten aus dem Judaismus und Konversionen [zum Christentum] unter wohlhabenden Familien kam. Dadurch bedingt waren auch sehr viele Namensänderungen und ein bewusstes Auslöschen der Vergangenheit […]«.17 13 Vgl. ebd., S. 96–98; s. Carl Cohen, The Road to Conversion, in: LBI Year Book VI (1961), S. 259–269. 14 Gay 1979, S. 98. 15 Vgl. Gay 1979, S. 98, S. 174–175. 16 Vgl. P[8ter] U[jv#ri], ]tt8r8s [Konversion], in: Ujv#ri (Hg.) 1929, S. 65. 17 McCagg, Jr. 1989, S. 240.

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Zwischen 1919 und 1924 wurden 11.688 jüdische Personen (6.624 Männer und 5.064 Frauen) getauft. Allein im Jahr 1919 stieg ihre Zahl um 7.146.18 Michael Polanyi wurde am 18. Oktober 1919 im Alter von 28 Jahren getauft und Mitglied der katholischen Kirche. Zu dieser Zeit herrschte in Ungarn bereits voll und ganz der sogenannte Weiße Terror, der auf die kurze Periode der Räterepublik nach sowjetischem Vorbild unter der Führung von B8la Kun folgte. Es ist jedoch unklar, ob es sich dabei um einen Glaubensakt oder einen praktischen Schritt im Interesse einer Anstellung in Karlsruhe in Deutschland handelte, wohin Polanyi bald darauf emigrieren sollte.19 Die Wahl dieses Datums, das in die letzten Monate des Jahres 1919 fiel, ist bemerkenswert und folgt dem von McCagg vorgeschlagenen Muster.

Eine kopernikanische Wende20 Michael Polanyi gehörte einer Generation von Wissenschaftlern an, die angesichts des Missbrauchs der Wissenschaften zu erschreckenden autokratischen Zwecken schockiert waren. Polanyi fielen aber diese Bedrohungen der Freiheit erst in der Sowjetunion auf, die er in den Jahren 1930, 1932 und 1935 mehrmals besuchte. Der Vorstand des Instituts für Physikalische Chemie in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, der zukünftige (1956) Nobelpreisträger Nikolai N. Semjonow (1896–1986), bot Polanyi die Führung einer Abteilung bzw. eines Lehrstuhls an seinem Institut an. Zwar lehnte Polanyi diese Stelle ab, jedoch willigte er ein, in regelmäßigen Abständen nach Leningrad zu Konsultationen zu kommen.21 Ungefähr um das Jahr 1932 herum kam Polanyi, der zuvor einige positive Ansichten über die Sowjetunion gehabt hatte,22 zu der gleichen Auffassung wie sein Bruder, der eine sehr kritische Haltung zu Stalin und seinem System eingenommen hatte. Es war an diesem Scheideweg, dass Polanyi ge18 Vgl. Zs[igmond] T[ieder], »Magyarorsz#gi zsidjs#g statisztik#ja« [Statistiken des ungarischen Judentums], in: Ujv#ri (Hg.) 1929, S. 554; vgl. Alajos Kov#cs, A zsidjs#g t8rfoglal#sa Magyarorsz#gon [Die Einflussnahme der Juden in Ungarn], Budapest 1922. 19 Vgl. [Author Not Indicated] Polanyi Biography, Draft of Chapter One, Summer 1979, MS, George Polya Papers, SC 337, 86–036, Box 1, Folder 1, Department of Special Collections and University Archives, Stanford University Libraries, Stanford, CA. 20 Vgl. Frank 2009, S. 264–269. 21 Vgl. N. Semenoff [Semenow]–M. Polanyi Correspondence, 1930–1932, Michael Polanyi Papers, University of Chicago Library (= MPP), Box 2; vgl. The New Encyclopaedia Britannica. Band 10, Chicago 1990, S. 629; vgl. auch http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/ chemistry/laureates/1956/semenov-bio.html (abgerufen am 2. 9. 2017) 22 Vgl. William Taussig Scott und Martin X. Molesky, S.J., Michael Polanyi: Scientist and Philosopher, Oxford 2005, S. 160–161.

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zwungen war, die Bedrohung der politischen Veränderungen in Deutschland wahrzunehmen. Er glaubte an die Stärke und die Überlebensfähigkeit der Weimarer Republik und hielt eine Machtübernahme durch Rechtsextreme für unmöglich. Für die liberalen, häufig am linken Ende des politischen Spektrums beheimateten emigrierten Intellektuellen und Experten aus dem Ungarn der Nachkriegszeit war es eine schmerzliche und bedrohliche Erfahrung zu erkennen, dass Deutschland, das Land, das während der 1920er Jahre ein verlässlicher Zufluchtsort und sicherer Hafen gewesen war, nicht mehr länger politisches Asyl bot. In Erinnerung an diese Veränderungen dachte Polanyi in einer Rezension von F. A. Hayeks The Road to Serfdom [Der Weg zur Knechtschaft] aus dem Jahr 1944 mit sehnsuchtsvoller Nostalgie an die vergangene Welt des 19. Jahrhunderts zurück. »Weniger als eine Generation später, sagen wir so um 1935 herum, erkennen wir, dass alle Freiheit und Toleranz, die zuvor so zuversichtlich als selbstverständlich hingenommen wurde, über weite Teile Europas hinweg verschwunden ist.«23 Es war die doppelte Erfahrung eines sowjetrussischen und nazideutschen Totalitarismus, ein doppelter Schock für die gesamte Generation Polanyis, der ihn letztendlich dazu zwang, in England Schutz zu suchen. 1934, als er endlich das Wesen der Kräfte erkannte, die seine Freiheit und die Freiheit der Wissenschaft im Allgemeinen bedrohten, vollzog er eine Kopernikanische Wende, und wie schon erwähnt, verlegte er nicht nur seinen Wohnsitz in ein anderes Land, sondern wechselte auch die Sprache und ein wenig später sein Forschungsgebiet. Zunächst ließ er die Medizin hinter sich und widmete sich der Chemie. Dann ließ er Ungarn und die ungarische Sprache zugunsten von Deutschland und der deutschen Sprache hinter sich. Später zog er von Deutschland nach Großbritannien und bewegte sich weg von der Naturwissenschaft in Richtung Philosophie und gab für seine Publikationen der englischen Sprache den Vorzug vor der deutschen Sprache. Wahrscheinlich nur durch diese enormen Veränderungen war es ihm möglich, auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung von Wissen und Wissenschaft hinzuarbeiten. Auf seiner langen Reise vom »Frieden« im Ungarn der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik bis nach England war Polanyi ein Förderer der Demokratie und einer liberalen wissenschaftlichen Atmosphäre, während er seinen eigenen intellektuellen Horizont von jenem einer eng abgesteckten wissenschaftlichen Disziplin zu einer breiter angelegten Philosophie des Wissens erweiterte, die sowohl auf ethische als auch politische Belange Bedacht nehmen sollte. 23 Michael Polanyi, The Socialist Error [The Road to Serfdom. Von F. A. Hayek], in: The Spectator, 31. 3. 1944, S. 13.

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Das Drama der 1930er Jahre Polanyis philosophische Fragestellungen ergaben sich aus seinen wissenschaftlichen Forschungsarbeiten sowie aus der Erfahrung der politischen Dramen, deren Zeuge er in Deutschland und in der Sowjetunion wurde. Michael Polanyi hatte mehrere Möglichkeiten gehabt, Deutschland zu verlassen, bevor die Nazis die Macht ergriffen. Im Frühjahr 1932 trat die Universität Manchester mit einem ausgesprochen verlockenden, ja sogar schmeichelhaften Angebot an Polanyi heran.24 Der große Colloidchemiker und Professor am University College London (UCL) Frederick George Donnan (1870–1956) gehörte zu den Förderern Polanyis in Großbritannien und erklärte, »dass Ihre Anwesenheit in England von enormem Nutzen für die physikochemische Wissenschaft in diesem Land sein würde«.25 Polanyi jedoch lehnte es ab, Deutschland zu verlassen, »wo ein großer Teil meines Wesens verwurzelt ist. Ich möchte nicht eine Gemeinschaft verlassen, die sich derzeit in Schwierigkeiten befindet, nachdem ich mit ihr früher bessere Zeiten erlebt habe.« So lautete seine Antwort an Professor Arthur Lapworth, FRS, in Manchester 1932 noch.26 Nichtsdestotrotz begann er, Erkundigungen über die Situation an der Universität in Manchester einzuziehen und stellte eine Reihe von Vorbedingungen für den Fall, dass er sich dazu entscheiden sollte, das Angebot anzunehmen. Er bat darum, dass ein neues Labor bestehend aus einer Reihe von acht bis zehn Räumen für ihn für die beträchtliche Summe von £20.000–25.000 errichtet und dass dieses Labor mit technischen Einrichtungen im Wert von £10.000 ausgestattet werde. Dazu verlangte er noch acht bis zehn »persönliche Mitarbeiter«, die mit ihm kooperieren sollten.27 Die Universität Manchester wandte sich zwecks finanzieller Unterstützung für den Aufbau des neuen physikochemischen Labors für Polanyi an die Rockefeller Foundation, war aber entschlossen, die Pläne dafür voranzutreiben und zwar noch bevor die Rockefeller-Stiftung überhaupt antwortete. Während des Jahres 1932 fanden intensive Planungsarbeiten zur Vorbereitung dieses Unterfangens statt und Mitte Dezember schickte der Vizerektor Walter H. Moberly Polanyi eine offizielle Einladung zur Übernahme des Lehrstuhls für physikalische Che24 Vgl. A. Lapworth an M. Polanyi, Manchester, 1. 3. 1932, MPP Box 2, Folder 8. 25 F. G. Donnan an M. Polanyi, London, 6. 10. 1932, MPP 2, 9. 26 Michael Polanyi an Arthur Lapworth, Berlin, 15. 3. 1932 (Deutsches Originaldokument), MPP 2, 8. 27 Vgl. A. J. [?] Allmand to Michael Polanyi, West Hampstead, 17. 5. 1932, MPP 2, 8. Polanyi verglich sorgfältig das Prestige einer britischen Universität mit dem Renommee einer größeren deutschen Forschungsinstitution. Seine Forderungen spiegeln auch den exzellenten Ruf wider, den er in Deutschland genoss und den damit einhergehenden Grad an technischer Unterstützung, den er in Berlin erhielt und in Großbritannien wieder erhalten wollte.

Polanyi: Der Wissenschaftler und seine politisch erzwungenen Wandlungen

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mie in Manchester für ein Jahresgehalt von £1.500.28 Bis Weihnachten 1932 war die Universität noch damit beschäftigt, ein neues Gebäude »so schnell wie möglich« zu errichten, um »voll und ganz den Anforderungen von Ihnen und Professor Lapworth zu entsprechen.«29 Mitte Januar 1933 änderte Polanyi plötzlich seine Meinung. Zwei Wochen bevor Hitler als Reichskanzler von Deutschland angelobt wurde, lehnte er schließlich die Einladung nach Manchester ab, wobei er seinen Unwillen, sich dauerhaft in Manchester niederzulassen, sowie die schlechten klimatischen Verhältnisse dieser Gegend als Hauptgründe für seine ablehnende Entscheidung anführte. Binnen Wochen bemerkte er, was für einen gravierenden Fehler er gemacht hatte. Er teilte seinen britischen Freunden mit, dass er es sich wieder anders überlegt habe und nun bereit sei, »den Lehrstuhl in Manchester zu allen Bedingungen zu übernehmen, die von der Universität als fair und vernünftig betrachtet werden, unter Berücksichtigung der Veränderungen, die seit [meiner Ablehnung der Stelle] Januar stattgefunden haben.«30 Es war beinahe zu spät, da in der Zwischenzeit die Universität Manchester einen organischen Chemiker eingeladen hatte, die Stelle zu übernehmen und obwohl Polanyi eine bescheidene Einladung als dritter Professor zugeschickt wurde, »konnte die Universität kein Gehalt von mehr als £1.250 bezahlen und da sie in der Zwischenzeit andere Projekte als das Ausgeben von Geld verfolgte, würde sie zumindest in den nächsten zwei Jahren auch nicht in der Lage sein, mit der Errichtung des neuen vorgeschlagenen Labors zu beginnen.«31 Eine weitere Einladung Anfang Mai 1933, eine Forschungsstelle und Professur in Physikalischer Chemie am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh, Pennsylvania, anzunehmen, kam auch zu spät.32 Am 26. April 1933 berichtete die Zeitung Neues Wiener Abendblatt über den Rücktritt von Professor Polanyi in Berlin; am 14. Juli wurde in der Zeitung The Manchester Guardian verkündet, dass Polanyi an den Lehrstuhl für physikalische Chemie an der Universität Manchester berufen wurde.33

28 Vgl. F. G. Donnan an Michael Polanyi, London, 19. 5. 1932; Arthur Lapworth an Michael Polanyi, Manchester, 3.6. und 27. 11. 1932; Walter H. Moberly an Michael Polanyi, Manchester, 15. 12. 1932; MPP 2, 8 und 10. 29 E. D. Simon an Michael Polanyi, Manchester, 22. 12. 1932, MPP 2, 10. 30 Michael Polanyi an F. G. Donnan, [Berlin, n.d.] draft, MPP 2, 11. 31 F. G. Donnan an Michael Polanyi, London, 7. 4. 1933, MPP 2, 11. 32 Vgl. Thomas S. Baker an Michael Polanyi, 10.5. und 1. 6. 1933, MPP 2, 12; vgl. William Foster, Princeton’s New Chemical Laboratory, in: Journal of Chemical Education, 6 (Dezember 1929) 12, 2094–2095. 33 Vgl. Clippings, MPP 45, 3; 46, 4.

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Ein Vorkämpfer der Freiheit Michael Polanyi, der häufig wegen seiner im Wesentlichen antisowjetischen Haltung von seinem Bruder, dem Ökonomen und Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi gescholten wurde,34 baute seine feindselige Gesinnung gegenüber der Sowjetunion aus. Karls Kritik an einer nicht näher angegebenen Abhandlung Michael Polanyis zeigt deutlich die Differenzen zwischen den Brüdern auf: »Der größte Wermutstropfen ist vielleicht, dass du es nicht geschafft hast, deine Antipathie gegenüber der UdSSR und deine Sympathie für den Kapitalismus loszuwerden. […] Ich habe den Eindruck, dass du den mutmaßlichen Materialismus der Russen wortwörtlich nimmst und den Erfolg ihrer Sache entsprechend bewertest. Das hat jedoch keinerlei Auswirkungen auf die Welt von heute, in der sowohl Sozialisten als auch Faschisten ganz offen antimaterialistische Ziele verfolgen.«35

Während er seine Leser an »die Planung der wissenschaftlichen Arbeit wie das Trofim Denisovich Lysenko tat« (1898–1976) erinnerte, erklärte er auch: »Es liegt an uns, gegen die falsche und unterdrückende Doktrin zu kämpfen, die unseren russischen Kollegen aufoktroyiert wurde und die diese, selbst während sie sehr unter ihr zu leiden haben, verpflichtet sind, in der Öffentlichkeit zu unterstützen.«36 Als sich der Kalte Krieg allmählich zu einer tödlichen Konfrontation entwickelte, wurde Polanyis Einstellung gegenüber der Sowjetunion immer feindseliger und kämpferischer. In einer 1952 erschienenen Rezension von Alex Weissbergs Buch Conspiracy of Silence, das er als die »standard biography of Modern Destructive Man« bezeichnete, nannte er die Sowjetunion ein »unbarmherziges System« und eine »gnadenlose Bewegung«.37 Dieser Liberale der alten Schule, der tief in der Welt des 19. Jahrhunderts verwurzelt war, musste noch jene diktatorischen Maßnahmen erleben, die in einem dritten Land, und zwar diesmal in den Vereinigten Staaten in der McCarthy-Ära, ergriffen wurden. Obwohl Polanyi ein bekennender Antikommunist war, wurde ihm dennoch das Einreisevisum für die Vereinigten Staaten verweigert, als er sich 1951 darum bewarb, um Wissenschaftsphilosophie an der Universität Chicago unterrichten zu können. Von den Vertretern liberaler Strömungen in Amerika, insbesondere am Campus, wurde Polanyi enthusias34 Karl Polanyi (1886–1964) war ein ungarisch-stämmiger Ökonom und Gründer des radikalen Galileo-Kreises in Budapest. 1919 verließ er Ungarn und zog zunächst nach Österreich, später nach Großbritannien und letztendlich nach Kanada. Er ist Autor der Werke The Great Transformation (1944) und Dahomey and the Slave Trade (1966) sowie Herausgeber von Trade and Markets in the Early Empires (1957). Er lehrte an der Columbia University in New York. 35 K. Polanyi an M. Polanyi, London, n. d. (193?), MPP 17, 13. (Ungarisches Originaldokument) 36 Ebd. 37 Michael Polanyi, Communist Revolts, in: The Manchester Guardian, 28. 3. 1952.

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tisch unterstützt. In der Wochenzeitschrift der Harvard University, The Summer Crimson, wurde während des Sommersemesters am 7. August 1952 festgestellt, dass »die Sicherheitsvorkehrungen in falsche Hände« geraten seien und der Fall »eines hervorragenden Mannes und überzeugten Antikommunisten« beklagt. Mit einer Argumentation, die uns seit der Zeit nach dem 11. September vertraut sein dürfte, wurde in der Zeitschrift The Summer Crimson betont, dass [die Sicherheitsfrage] zum liebgewonnenen Kreuzzug der American Legion, der McCarthys und der kleinen lauten Menschen geworden sei, die wissen, was einen guten Kreuzzug ausmacht. Es war zur mysteriösen Losung geworden, wenn jemand irgendwo auf dem Visum-Antragsformular des State Department, d. h. des amerikanischen Außenministeriums, einen Stempel erhielt. Es war nicht das, was es sein sollte; ein vorsichtiger Kompromiss zwischen dem Druck der äußeren Mächte des Totalitarismus und dem starken Bedürfnis, den Totalitarismus zu Hause in Schach zu halten.38 Um diesem Anliegen Nachdruck zu verleihen, wurde in der Zeitschrift The Crimson Polanyis Brief an die Zeitung The Manchester Guardian von Anfang März 1952 zitiert, in welchem er behauptete, dass er »bereits seit 1917 ein beharrlicher Kritiker des sowjetischen Kommunismus« gewesen sei und dass [seine] »diesbezügliche Einstellung niemals klarer und direkter als in der Zeit von 1942–1943« gewesen sei, und das, »obwohl damals die Popularität des sowjetischen Russlands in Großbritannien und Amerika am größten gewesen sei […].«39 Sogar das Life Magazin attackierte das Gesetz zur inneren Sicherheit, den sogenannten Internal Security Act von 1950, der auch besser unter dem Namen McCarran-Gesetz bzw. McCarran Act bekannt ist. Im Leitartikel der Ausgabe vom 10. März 1952 hieß es, dass »der McCarran-Vorhang die USA nicht vor dem Kommunismus, sondern vor einer entsprechenden Kenntnis desselben bewahrte.«40 Polanyi war der Erste aus einer Gruppe berühmter Gelehrter und Wissenschaftler, die im Life Magazin erwähnt wurden und denen die US-Behörden die Einreise in »das Land der Freien und die Heimat der Mutigen«, wie es so schön in der amerikanischen Hymne heißt, verweigerten. »Die Freunde Amerikas«, wie im Leitartikel streng gegen dieses Vorgehen protestiert wurde, »sind angewidert und entmutigt, wenn sie erfahren, dass Menschen mit Namen wie diesen, selbst wenn sie nur als Besucher kommen wollen, ausgesperrt werden: der ungarisch-britische Philosoph Michael Polyani [sic], der italienische Romanschriftsteller Alberto Moravia, der Chemienobelpreisträger Dr. E. B. Chain, der deutsche

38 Vgl. Professor Polanyi’s Case, in: The Summer Crimson, Harvard University, 7. 8. 1952, 2. 39 Letters to the Editor [Leserbriefe]: American Political Tests, Michael Polanyi an The Manchester Guardian, 3. 3. 1952. 40 Life, 10. 3. 1952, 30.

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Antikommunist Gustav Regler, der führende Slawist Dänemarks A. Stender-Petersen sowie viele andere.«41

In der Oktoberausgabe des Magazins Bulletin of the Atomic Scientists [Bulletin der Atomwissenschaftler] aus dem Jahr 1952 wurde ein von Professoren der Universität Chicago verfasster Protestbrief gegen die Ablehnung von Michael Polanyis Visumantrag für die Vereinigten Staaten veröffentlicht. Die berühmten Unterzeichner erklärten, sie seien »sehr über die negativen Auswirkungen [dieses ablehnenden Bescheids] auf das intellektuelle Leben an der Universität besorgt.«42 In der Sonderausgabe dieses Bulletins, die mit dem America’s Paper Curtain [Amerikas Papiervorhang] betitelten Leitartikel eingeleitet wurde, waren zehn Artikel zu den von Senator Patrick McCarran, einem Demokraten aus Nevada, geförderten Visamaßnahmen zu lesen. Dieser Senator war ein vehementer Kritiker der Visaregelungen und Reisepassvorschriften der Regierung der Vereinigten Staaten.43 Nach seinem Eintritt in den Ruhestand wurde Polanyi für diese demütigende Erfahrung während der McCarthy-Zeit entschädigt, indem er wiederholt in die Vereinigten Staaten eingeladen wurde.44

Michael Polanyi in der Rückschau Michael Polanyi ist das perfekte Beispiel des komplexen europäischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der willens und in der Lage war, Grenzen von Ländern, Disziplinen und Sprachen zu überschreiten. Er schien fest auf dem Gebiet der physikalischen Chemie verankert zu sein, während er gleichzeitig ein Universalgelehrter mit einem bewundernswerten Interesse und einer großen Expertise in einer ganzen Reihe von verschiedenen Disziplinen war. Für einen Wissenschaftler des frühen 20. Jahrhunderts verfügte er über ein beträchtliches Maß an Auslandserfahrung. Er reiste aus dem ungarischen Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie über die Weimarer Republik mit gelegentlichen Abstechern in die Sowjetunion und später in die Vereinigten Staaten von Amerika nach Großbritannien. Er gab seine etablierte Position in der Wissenschaft, von der manche dachten, dass sie ihm letztendlich den Nobelpreis einbringen 41 Ebd. 42 The Daily Telegraph, 30. 10. 1952. 43 Vgl. The Globe and Mail, 13. 10. 1952; vgl. Washington Gone Crazy : Senator Pat McCarran and The Great American Communist Hunt, Part II, in: RALPH: The Review of Arts, Literature, Philosophy and the Humanities 137 (Anfang Herbst 2005). 44 Vgl. Obituary [Nachruf]: Professor Michael Polanyi, Eminent scientist and philosopher in: The Times, 23. 2. 1976.

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sollte, auf45 und wurde ein Philosoph des Wissens sowie ein Sozialkritiker und Autor einer Reihe von bedeutenden Büchern, darunter Science, Faith and Society (1946), Logic of Liberty (1951), Personal Knowledge (1958), The Study of Man (1959) und Beyond Nihilism (1960), welche er alle in seiner dritten Sprache, nämlich Englisch, verfasste. Die aus der Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs stammende jüdisch-ungarische Generation, der auch Polanyi angehörte, war hochbegabt und ambitioniert. Sie wurde im politisch liberalen Sinne unter dem Einfluss von bisweilen politisch linken Ansichten erzogen, deren Vertreter wiederum bestrebt waren, die überholte gesellschaftliche und politische Ordnung in ihren Ländern zu reformieren.46 Viele Angehörige dieser Generation erlangten internationale Anerkennung und waren hervorragende Leute. Michael Polanyi ist ein schönes Beispiel für eine Vision des transnationalen Liberalismus zu einer Zeit als diese Art von Liberalismus beinahe völlig verschwunden war.

45 Der Sohn von Michael Polanyi, John C. Polanyi (geb. 1929), teilte sich 1986 sogar den Nobelpreis für Chemie mit Dudley R. Herschbach und Yuan T. Lee. 46 Vgl. John Lukacs, Budapest 1900, New York 1988, S. 140–141.

Andre Gingrich

Karriere um jeden Preis? Der Völkerkundler Walter Hirschberg in Viktor Christians Wiener Einheit des SS-»Ahnenerbe«

Dieses Kapitel diskutiert das Beispiel des Ethnologen Walter Hirschberg während seiner Tätigkeiten für die LFVO, eine in Wien eingerichtete und auf Nahost- und Afrika-Fragen spezialisierte Einheit des »Ahnenerbe« der SS. Nach einer Charakterisierung der Stellung der LFVO im »Ahnenerbe« wird Hirschbergs Assistenten-Tätigkeit in ihr erörtert im Sinn eines Fallbeispiels, das die These von Mitchell Ash über die wechselseitige Instrumentalisierung von Politik und Wissenschaft untermauert. This chapter discusses the example of socio-cultural anthropologist Walter Hirschberg during his activities for the LFVO, a Vienna-based unit of the SS-»Ahnenerbe« specialized in Middle Eastern and African affairs. After outlining the LFVO’s position within the »Ahnenerbe«, Hirschberg’s role as an assistant is scrutinized as a case example supporting Mitchell Ash’s thesis on the mutual instrumentalization between politics and academia.

Der Wiener Semitist, Altorientalist und Ethnograph Viktor Christian leitete zwischen Frühjahr 1939 und März 1945 eine Einheit des »Ahnenerbe« der SS, die »Lehr- und Forschungsstätte Vorderer Orient« (LFVO). Der vorliegende kurze Beitrag fasst einige neuere Forschungsergebnisse1 zur LFVO im Überblick zu1 Diese Ergebnisse wurden im Rahmen eines zehnjährigen Forschungsprojektes (2008–2018) an der Universität Wien erbracht, das 2008–2013 aus Mitteln des FWF (P19839) und seit 2014 aus solchen der Universität Wien gefördert worden ist. Mitchell Ash wirkte während der FWFgeförderten Phase als wissenschaftliches Beiratsmitglied an dieser Unternehmung mit, wofür ihm ausdrücklich gedankt sei. Projektmitarbeiter/innen waren Anita Dick (2011–2014), Julia Gohm-Lezuo (2008–2016), Sarah Kwiatkowski, David Mihola (beide: 2008–2013), Gottfried Schürholz (bis 2011) und Dr. Peter Rohrbacher (2014–2018). Meinen beiden Kolleginnen Verena Loidl-Baldwin und Katja Geisenhainer danke ich für die überaus hilfreiche Kooperation bei den Recherchen zu Hirschberg und Kloiber. Die Untersuchungen zu Viktor Christian lagen dabei im Zuständigkeitsbereich des Verfassers, der zugleich als Projektleiter fungiert(e). Der vorliegende Text fasst – quasi als »Vorschau« – einen Teilaspekt jener Buchpublikation zusammen, die als Endergebnis des genannten Projektes derzeit für den Druck vorbereitet wird (Gingrich, Andre und Peter Rohrbacher (Hg.): »Völkerkunde zur NSZeit aus Wien (1938–1945): Netzwerke, Interessen, Praktiken«. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (in Vorbereitung)). Wo im Folgenden nicht explizit angegeben, wird daher stets auf diese bevorstehende Buchpublikation verwiesen.

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Andre Gingrich

sammen, und zwar anhand der Tätigkeiten von Walter Hirschberg: Dieser war in einer ersten Phase (1939–1941) der zentrale Mitarbeiter in der LFVO, in der zweiten Phase (Mitte 1941 bis Anfang 1945) löste ihn der Sprachwissenschafter Johann Knobloch in dieser Rolle ab. Diese Fokussierung erlaubt nicht nur eine Beachtung der praktischen Umsetzung von Viktor Christians programmatischen Zielsetzungen für die LFVO anhand einer in der Nachkriegszeit recht prominenten Persönlichkeit der deutschsprachigen Völkerkunde: Hirschberg (1904–1996) war seit den 1960er Jahren bis 1975 Professor für Völkerkunde an der Universität Wien, 1964 bis 1984 Präsident der (Wiener) Anthropologischen Gesellschaft und bis zu seinem Tod auch angesehenes Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde. Darüber hinaus gestattet eine solche Fokussierung aber auch, die Gültigkeit des von Mitchell Ash erarbeiteten Ansatzes zum »völlig intendierten Gebrauch« der Wissenschaft durch die Politik und umgekehrt fruchtbar zu machen.2

Die LFVO im »Ahnenerbe« der SS Um die Zeit von Österreichs »Anschluss« an Hitler-Deutschland hatte sich das »Ahnenerbe« als elitäre Forschungs- und Forschungsförderungs-Organisation im »Altreich« bereits relativ stabil etabliert. Die ursprüngliche, namensgebende Zielsetzung war ideologisch ausgerichtet, mit okkult-esoterischen Elementen versetzt und diente der Untersuchung von Ursprung und Werden des germanischen und »arischen Volkstums«. Ab Ende der 1930er Jahre traten schrittweise weitere Zielsetzungen hinzu. Im Zuge der Kriegsvorbereitungen und des Kriegsverlaufs waren dies insbesondere militärisch legitimierte technische und »biologische« Vorhaben, aber auch solche, die auf die Abgrenzung zu »minderwertigen Rassen« abzielten. – Die Forschung geht davon aus, dass das »Ahnenerbe« eine der aktivsten und zielstrebigsten Einrichtungen im Wissenschaftsbetrieb des mörderischen NS-Systems war.3 Im Zuge der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wurden mit Ulrich Brandt (Himmlers zuständigem Mitarbeiter) und Wolfram Sievers (dem »Reichsgeschäftsführer« des »Ahnenerbe«) zwei seiner zentralen Führungskräfte 1948 zum Tod verurteilt und hingerichtet. Grundsätzlich zielte die Rekrutierungs-Politik des »Ahnenerbe« darauf ab, solche Wissenschafter als Leiter seiner Einheiten zu gewinnen, die poli2 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/ Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten, Stuttgart 2002, S. 32–51, S. 32. 3 Michael H. Kater, Das »Ahnenerbe« der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches (Studien zur Zeitgeschichte 6), München 42006; Heather Pringle, The Master Plan: Himmler’s Scholars and the Holocaust, New York 2006.

Karriere um jeden Preis? Der Völkerkundler Walter Hirschberg

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tisch klar SS- und Regime-konform waren und zugleich akademisch über eine einigermaßen respektable Reputation verfügten. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle richteten sich diese Rekrutierungen auf Akademiker, die bereits Professuren innehatten bzw. im Zuge der NS-Personalpolitik beste Aussichten darauf; nur in wenigen Fällen wurden eigene »Ahnenerbe«-Institute außerhalb der Universitäten gegründet. Dem »Ahnenerbe« standen zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung, die durch eine Basisfinanzierung des direkten Vorläufers der heutigen DFG abgesichert waren. Den Organisationsprinzipien der SS gemäß waren auch die ihrer Führung unterstellten Einrichtungen des »Ahnenerbe« nach dem Modell elitärer, paramilitärischer und exklusiv-männlicher Hierarchie aufgebaut. Der weitgehenden Geheimhaltung nach außen (abgesehen von Veröffentlichungen in den offiziellen Organen des »Ahnenerbe«) stand eine intensive kommunikative Vernetzung im Inneren gegenüber, die zusätzlich zu den primär vertikalen auch horizontale Elemente umfasste. Etliche Leiter von »Ahnenerbe«-Einrichtungen waren hochrangige Mitglieder der SS und dabei oft auch Angehörige des »persönlichen Stabs des Reichsführers SS«. Viele Mitarbeiter der »Ahnenerbe«-Einrichtungen zogen aus dieser Affinität zur SS Vorteile, waren auch oft Mitglieder der NSDAP, aber seltener selbst Angehörige der SS. Viktor Christian (1885–1963) wurde im Herbst 1938 nach einem persönlichen Besuch bei ihm zu Hause durch den damaligen Präsidenten des »Ahnenerbe«, den Münchner Indologen und Germanisten Walter Wüst, für den Beitritt zur SS und die Mitwirkung im »Ahnenerbe« angeworben. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Christian aus der Sicht der neuen Machthaber bereits bestens bewährt als von ihnen kommissarisch bestellter neuer Dekan an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, als energisch im Sinn der NS-Prioritäten agierender Präsident der Wiener Anthropologischen Gesellschaft und als neues Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien. Auf Basis der gesicherten ideologischpolitischen Übereinstimmung dürfte vor allem die Aussicht auf zusätzliche Reise- und Forschungsmittel entscheidend für Christians Entschluss gewesen sein. Im Frühjahr 1939 wurde er als tätiges Mitglied des »Ahnenerbe« in den persönlichen Stab Heinrich Himmlers aufgenommen und diesem in Berlin vorgestellt; danach nahm er seine Tätigkeit als Leiter der zugleich damit installierten LFVO auf. Die LFVO wurde so zu einer von insgesamt fünf »Ahnenerbe«-Einrichtungen, die bis 1945 auf dem Gebiet des heutigen Österreich (also ohne Südtirol) tätig waren. Neben der LFVO waren dies das Salzburger »Haus der Natur« unter Eduard Paul Tratz,4 ein Teil der archäologisch-prähistorischen

4 Vgl. Robert Hoffmann, Ein Museum für Himmler. Eduard Paul Tratz und die Integration des Salzburger »Hauses der Natur« in das »Ahnenerbe« der SS, in: Zeitgeschichte 35 (2008) 3, S. 154–175.

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Aktivitäten von Kurt Willvonseder5 sowie die »Lehr- und Forschungsstätte für germanisch-deutsche Volkskunde« unter Richard Wolfram (Salzburg/Wien).6 Ab August 1943 wurde außerdem die insgesamt größte »Ahnenerbe«-Einheit, das Münchner »Sven Hedin-Institut für Innerasien und Expeditionen« unter Leitung von Karl Schäfer, neu auf Schloss Mittersill angesiedelt.7

Hirschberg als Assistent: interne Stellungnahmen, Anbahnungen und geheime Pläne Die programmatische Ausrichtung der LFVO zielte grundsätzlich auf die Erforschung von Kulturen, Völkern und »Rassen« des Orients und Afrikas ab, was Christians eigener Expertise für regionale Sprachwissenschaften und Ethnographie entsprach. Erste Pläne Christians vor September 1939 waren auf die Fortführung seiner eigenen Spekulationen über einen geringeren Anteil semitischer Faktoren an der Geschichte des Vorderen Orients8 hin orientiert, aber auch auf »rassisch«-anthropologische Untersuchungen im Vorderen Orient sowie auf Studien zu möglichen »weißafrikanischen« Elementen in der Geschichte Afrikas. Die »rassenkundliche« Komponente sollte der frisch promovierte physische Anthropologe Aemilian Kloiber betreiben,9 für die »weißafrikanischen« Studien war der eben habilitierte Afrika-Kustos am VölkerkundeMuseum Walter Hirschberg vorgesehen.10 – Bei Kriegsausbruch wurden jedoch die Finanzflüsse im »Ahnenerbe« teils stillgelegt, teils stark reduziert. Davon war auch die LFVO bis Anfang 1941 betroffen. Zwei Hauptphasen in der Geschichte der LFVO lassen sich daraus ableiten. Die erste Phase währte ab der Installierung 5 Vgl. Robert Obermair, Das NS-Engagement Kurt Willvonseders und die schwierige Frage nach der Entnazifizierung der Wissenschaft, in: Archaeologia Austriaca 99 (2015), S. 155–175. 6 Vgl. Olaf Bockhorn, »Die Angelegenheit Dr. Wolfram, Wien« – zur Besetzung der Professur für germanisch-deutsche Volkskunde an der Universität Wien, in: Mitchell G. Ash/Wolfram Nieß/Ramon Pils (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, S. 199–224. 7 Vgl. Peter Meier-Hüsing, Nazis in Tibet. Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer, Darmstadt 2017. 8 Vgl. Ekkehard Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945, Mannheim 22016. 9 Vgl. Mitchell G. Ash, Die Universität Wien in den politischen Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: ders./Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft. 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert. Band 2, Göttingen 2015, S. 29–172, S. 123. 10 Vgl. Verena Loidl, Walter Hirschberg – Textanalyse ethnologischer Publikationen (1927– 1945), phil. Dipl. Universität Wien 2008; siehe auch ihr Beitrag sowie jener von Dick in: Gingrich/Rohrbacher i. V.

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der LFVO bis Anfang 1941 und hatte Walter Hirschberg zum zentralen Mitarbeiter Christians. Fallweise Stellungnahmen, Anbahnungen und Plan-Ausarbeitungen im Auftrag der »Ahnenerbe«-Führung machten den Kern der LFVOAktivitäten in dieser Phase aus, die hauptsächliche Koordinationsbasis lag in den Büros des Dekanats (Hauptgebäude der Universität Wien) und der Anthropologischen Gesellschaft (Museum für Völkerkunde). Die zweite Phase setzte ab Mitte 1941 ein und riss zwangsläufig mit Kriegsende ab. In dieser Phase, in der Christian sich aus der Position des Dekans zurückzog und in jene des Prorektors überwechselte,11 wurde die Koordinationsbasis der LFVO räumlich, aber auch thematisch an das Institut für Orientalistik der Universität Wien (Berggasse) verlagert. Diese zweite Phase war finanziell und personell deutlich intensiver ausgestattet, in ihr standen von Viktor Christian mit-initiierte Erhebungen in diversen NS-Lagern sowie die »Arisierung« wissenschaftlicher Buchbestände im Mittelpunkt.12 Der zentrale Mitarbeiter dieser zweiten Phase war der Slawistikund Linguistik-Dissertant Johann Knobloch.13 Walter Hirschberg hatte bereits 1936 seine Habilitationsschrift über die Südafrika-Materialien im Pöch-Nachlass eingereicht; unter Viktor Christians Präsidentschaft wurde sie auch in den Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft publiziert.14 Verliehen wurde ihm die Venia Legendi allerdings erst kurz nach dem »Anschluss«, wobei Viktor Christian sowohl zuständiger Dekan als auch kommissarischer Leiter jenes Instituts für Völkerkunde war, in dessen Fachgebiet Hirschberg die Habilitation anstrebte. Insofern war Hirschberg, der im Herbst 1938 seinen ersten Dienstposten am Völkerkunde-Museum antreten konnte, ein früher Proteg8 Christians. Die beiden hatten sich bereits im Zuge einer Diskussion der frühen 1930er Jahre über das Verhältnis von Körper und Geist aneinander angenähert. Wie Christian so war auch Hirschberg vor 1933 bereits Mitglied der NSDAP in Österreich. Nach dem »Anschluss« berief sich

11 Vgl. Irene Maria Leitner, »Bis an die Grenzen des Möglichen«. Der Dekan Viktor Christian und seine Handlungsspielräume an der Philosophischen Fakultät 1938–1943, in: Ash/Nieß/ Pils (Hg.), S. 49–77. 12 Vgl. Dirk Rupnow, Brüche und Kontinuitäten – von der NS-Judenforschung zur Nachkriegsjudaistik, in: Ash/Nieß/Pils (Hg.), S. 79–110; Markus Stumpf, Ergebnisse der Provenienzforschung an der Fachbereichsbibliothek Judaistik der Universität Wien, in: Bruno Bauer/Christina Köstner-Pemsel/Markus Stumpf (Hg.), NS-Provenienzforschung an Österreichischen Bibliotheken. Anspruch und Wirklichkeit, Graz-Feldkirch 2011, S. 155–188. 13 Stefan Zimmer, Johann Knobloch (*5. 1. 1919–†25. 7. 2010), in: Kratylos 56 (2011), S. 223–235. 14 Walter Hirschberg, Völkerkundliche Ergebnisse der südafrikanischen Reisen Rudolf Pöch’s in den Jahren 1907 bis 1909, Rudolf Pöchs Nachlass, mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Wien herausgegeben von der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, Serie B: Völkerkunde. I. Band, Wien 1936.

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Hirschberg darauf, als Museums-Volontär auch an der bis zum März 1938 illegalen NSDAP-Zelle am Völkerkunde-Museum mitgewirkt zu haben. Christian setzte unmittelbar nach dem »Anschluss« die Neu-Herausgabe der Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft ebenso wie jene der Publikationen aus dem Pöch-Nachlass beim Stiftungsverlag des »Ahnenerbe« durch; auch Hirschbergs gedruckte Habilitationsschrift wurde in diesen reichsweiten Vertrieb aufgenommen und damit enorm aufgewertet. Als jener habilitierte LFVO-Mitarbeiter (mit Zusatzeinkommen aus dem »Ahnenerbe«), der »weißafrikanische« historische Studien durchführen sollte, war Hirschberg von Anfang an in die Umsetzung der ideologischen LFVO-Programmatik mit eingebunden. Dies knüpfte an einer bereits in seiner Habilitation vorgelegten (und in Pöchs vor 1914 erhobenen Südafrika-Notizen anklingenden) These an: Ihr zufolge seien die frühesten Bewohner Afrikas – als deren Nachfahren man die Khoisan (»Buschmänner und Hottentotten«) der Gegenwart ansah – »rassisch Weiße« gewesen. Die Angehörigen Bantu-sprachiger Völker (»Neger«) würden hingegen eine jüngere und »degenerierte rassische« Entwicklung repräsentieren. – Bei Kriegsausbruch musste sich Christian mit seinem »Ahnenerbe«-Vorgesetzten Wolfram Sievers jedoch darauf verständigen, dass Hirschbergs Projektbudget – angesichts seines ohnedies vorhandenen Dienstpostens am Museum – vorläufig zurückzustellen sei. Während Christian für den jüngeren und noch arbeitslosen Aemilian Kloiber weiter um Beschäftigungsmöglichkeiten antichambrierte und ihn zugleich über Publikationsmöglichkeiten in den nun dem »Ahnenerbe« unterstellten Mitteilungen massiv förderte, nahm Hirschberg ab Herbst 1939 daher die Rolle eines ehrenamtlichen wissenschaftlichen Assistenten des LFVO-Leiters ein. In dieser Funktion war Hirschberg zumindest als Redakteur, BibliotheksAusheber und Botengänger bei der Abfassung einer Anzahl kleinerer und größerer interner Stellungnahmen beteiligt, mit deren Ausarbeitung Wolfram Sievers zwischen Mitte 1939 und Anfang 1941 Viktor Christian immer wieder beauftragte. Da Hirschberg nach 1945 (oder auch schon davor) die Entfernung der meisten ihn betreffenden Akten zum »Ahnenerbe« geradezu akribisch betrieben haben muss, lässt sich sein Anteil an diesen internen Dokumenten nur selten im Detail nachweisen. Am wahrscheinlichsten ist dabei seine aktive Mitwirkung an einer Stellungnahme des »Ahnenerbe« für den Reichsforschungsrat zu Einsatzmöglichkeiten von auf Afrika spezialisierten Wissenschaftern. Dies sollte der Umsetzung von Plänen dienen, welche die (Rück-)Eroberung deutscher Kolonien in Afrika intendierten und bis zum Scheitern von Rommels Afrika-Feldzug eine gewisse Aktualität hatten. Sievers hatte Christian mit der Erarbeitung beauftragt, der sie an die eng mit ihm vernetzten Wiener Professoren Baumann (Völkerkunde Afrikas), Czermak (Afrikanistik und Ägyptologie), Menghin (Urgeschichte) sowie an den physischen Anthropologen und »Rassegutachter«

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Karl Tuppa delegierte. Da Hirschberg zur selben Zeit als Museumsbeamter und im »Reichskolonialbund« geradezu aktivistisch für die Rekolonialisierung Afrikas durch Nazi-Deutschland eintrat,15 ist es extrem unwahrscheinlich, dass Christian auf die Mitwirkung seines Assistenten für Koordination und Redaktion bei genau dieser internen Beauftragung seitens des »Ahnenerbe« verzichtet hätte. Eine weitere Komponente von Hirschbergs Assistenz für Christian in der LFVO waren Anbahnungen von Empfehlungen und Kontaktnahmen, insbesondere für Aemilian Kloiber mit Hirschbergs früherem Lehrer Otto Reche in Leipzig, wo sich dieser mittlerweile zu einem der exponiertesten »Rasse-Gutachter« in NS-Deutschland emporgearbeitet hatte.16 Nachdem Christian im Frühjahr 1941 eine »Ahnenerbe«-Subvention für Kloiber erwirkt hatte, setzte dieser den Auftrag der Wiener LFVO von Leipzig aus um (wo ihm eine Assistenzstelle bei Reche »auf Kriegsdauer« eingeräumt wurde).17 Der neu finanzierte LFVO-Auftrag zielte ab auf »Erhebungen« unter etwa drei Dutzend afrikanischen Kriegsgefangenen der britischen und französischen Armeen, die in einem Lager bei Hoyerswerda kriegsrechtswidrig zu Zwangsarbeit versklavt waren. Noch 1960 führte Kloiber in einem oberösterreichischen Nachschlagwerk – wohlweislich ohne jegliche Nennung des »Ahnenerbe« oder der LFVO – »Anthropologische Untersuchungen an der lebenden Bevölkerung« »1938–1941 Zur Anthropologie des Vorderen Orients« als Teil seines wissenschaftlichen Werdegangs an.18 Zumindest die Planungen für diese »rassischen Erhebungen« unter afrikanischen Zwangsarbeitern waren durch die LFVO von Wien aus gestaltet worden. Hier stellten sie zugleich einen wichtigen Zwischenschritt dar auf dem Weg zur Umsetzung weiterer »Lagerforschungen«, auf welche sich die LFVO insbesondere in ihrer zweiten Phase zunehmend spezialisierte. – Ab Mitte 1940 wurden auf Betreiben von Hans Kummerlöwe, des NS-Beauftragten für die wissenschaftlichen Staatsmuseen in Wien, groß angelegte anthropologische »Erhebungen« des NHM mit Förderung der Akademie der Wissenschaften in Wien unter Kriegsgefangenen im Lager Kaisersteinbruch durchgeführt. Diese Erhebungen unter Leitung des ehemaligen Olympioniken und NHM-Abteilungsleiters für Anthropologie Josef Wastl umfassten bis zu zehn wissenschaftliche Mitarbeiter (darunter auch den abtrünnigen SVD-Missionar und Ethno15 Vgl. Dick in: Gingrich/Rohrbacher i. V. 16 Vgl. Katja Geisenhainer, »Rasse ist Schicksal.« Otto Reche (1879–1966) – ein Leben als Anthropologe und Völkerkundler (Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe A Band 1), Leipzig 2002. 17 Erwin M. Ruprechtsberger, Nachruf Ämilian Kloiber, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereins 134 (1989), S. II–VI. 18 Ämilian Kloiber, in: Martha Khil (Bearbeitung): Biographisches Lexikon von Oberösterreich. Band 5, 8. Lieferung, Linz/Donau 1960.

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graphen Martin Gusinde). Als Akademie-Mitglied und zugleich Präsident der Anthropologischen Gesellschaft war Christian »einvernehmlich« in die Finanzierung dieser Art von Lagerforschung durch die Akademie eingebunden, ohne allerdings in Folge an der Umsetzung beteiligt zu sein.19 Schon seine Förderung des Kloiber’schen Kurses auf Erhebungen in Hoyerswerda ebenso wie Christians späterer Einsatz für Johann Knoblochs berüchtigten Aufenthalt im burgenländischen »Zigeuner«-Zwischenlager Lackenbach20 zeigen anderes an: Christian entschloss sich frühzeitig, die eigene aktive Beteiligung an Großprojekten der von Kummerlöwe initiierten Art zu vermeiden. Stattdessen orientierte er sich in Richtung auf eher kleinere, individuell durchgeführte und auf makabre Weise »ethnographische« Wege bei dieser Art von »Erhebungen« unter den mörderischen Bedingungen von Lagern in der NS-Zeit. Dafür leistete ihm Walter Hirschberg willige Dienste, sooft er dazu in der Lage war.

Für Himmler: Hirschbergs Stellungnahme zu slawischen und afrikanischen »Fettsteißen« Für Kloiber war ab Frühjahr 1941 eine »uk«-Stellung erreicht, Hirschberg wurde hingegen zu Jahresbeginn 1941 in die Deutsche Wehrmacht einberufen. Wie in zahlreichen ähnlichen Beispielen, so vermochte auch in seinem Fall – hier primär durch Befürwortungen von Kummerlöwe, sekundär aber auch durch Christian – der Verweis auf seine politisch-ideologischen Verpflichtungen in der Heimat zu bewirken, dass Hirschberg bis Kriegsende nahezu ausschließlich im Großraum Wien stationiert blieb. Tatsächlich erlaubte ihm dies nach seiner Einberufung weiterhin die fallweise Fortsetzung seiner Aktivitäten auch für die LFVO – mit einer neuerlichen, fragwürdigen Wende in Hirschbergs Werdegang. Heinrich Himmler hatte ein persönlich-politisches Interesse entwickelt an den kleinen, paläolithischen anthropomorphen Figurinen von dicklichen Frauengestalten mit ausladenden Brüsten und Gesäßen vom Typus der 1908 entdeckten »Venus von Willendorf«. Himmler wollte einer bestimmten Aus19 Vgl. Johannes Feichtinger, Wissenschaft »im Dienste des deutschen Volkes«, in: Johannes Feichtinger/Herbert Matis/Stefan Sienell/Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung unter Mitarbeit von Silke Fengler, Wien 2013, S. 127–136; Berner in: Gingrich/Rohrbacher i. V. 20 Vgl. Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich (Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte 2), Wien/Salzburg 1983; dies., Kurzgeschichte des nationalsozialistischen Zigeunerlagers in Lackenbach (1940–1945), Eisenstadt: Amt der Burgenländischen Landesregierung 1984; Gerhard Baumgartner : Der Genozid an den österreichischen Roma und Sinti, in: Romane Thana, Orte der Roma und Sinti. Eine Kooperation von Wien Landesmuseum Burgenland Initiative Minderheiten Romano Centro. Ausstellungskatalog, Wien 2015, S. 86–93.

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richtung in der Diskussion um diese Funde neuen Auftrieb verleihen mittels einer NS-ideologisch geleiteten, rassistischen Erklärung plus möglichst medienwirksamer und propagandatauglicher Komponente: Die Figuren würden demnach frühe Slawinnen darstellen, deren breite Hüften auf rassische Nähe zum sogenannten »Hottentotten-« oder »Bantusteiß« und damit zu afrikanischen »Untermenschen« hinwiesen. So wurde die SS nach Beginn des Wehrmacht-Überfalls auf die Sowjetunion angehalten, aus dortigen Museen Figurinen ähnlicher Art zu plündern. Zugleich wurde der Zugriff des »Ahnenerbe« auf die südmährische Fundstätte von Unter-Wisternitz (Doln& Veˇstonice) intensiviert, wo man 1925 eine vergleichbare Figurine gefunden hatte. »Himmlers Absicht war klar : konnte er den Nachweis bringen dafür, daß in der Steinzeit in ›nordischen‹ Breiten Hottentotten-ähnliche Stämme gehaust hatten, und waren diese tatsächlich durch nachfolgende nordische Völker im ›Kampf ums Dasein‹ […] vertrieben worden, so ließ sich aus zeitgenössischer Sicht die Überlegenheit der nordischen Herrenrasse über die schwarzhäutigen Neger mit Fug und Recht postulieren – ein weiterer Meilenstein am Wege nationalsozialistischer Rassenkunde!«21

Mithilfe berühmter archäologischer Objekte sollten Hitlers Kriegszüge und Vernichtungspolitik in Osteuropa somit als konsequente Fortsetzung eines weltgeschichtlich unvermeidlichen Ringens dargestellt werden, in dem überlegene »nordische Rassen« die unterlegenen, aus Afrika abstammenden »Untermenschen« Osteuropas zu unterwerfen hatten. Der Sachverhalt und die damit zusammenhängende Suche der »Ahnenerbe«Führung nach geeigneter »wissenschaftlicher Expertise« sind seit den 1960er Jahren prinzipiell bekannt. Wenig bekannt war bisher Hirschbergs Rolle dabei. Nachdem sich die Ahnenerbe-Führung bei anderen internen Anfragen um akademische »Expertisen« einige Absagen und nicht zweckdienliche Stellungnahmen eingeholt hatte, erhielt Ende September 1941 auch Viktor Christian eine dieser Anfragen. Er verwies Sievers an Hirschberg.22 Die folgende, direkte schriftliche Anfrage von Sievers an Hirschberg vom 29. Oktober 1941 berief sich auf den Auftrag an das »Ahnenerbe« zur Erforschung der Thematik und ersuchte Hirschberg um seine »Beurteilungen der Fragen 3 und 4« einer Beilage, die auf Himmlers ursprünglichem Text beruhte: Von Hirschberg erbeten waren »Hinweise, daß entweder Völker ähnlich wie die Hottentotten damals in den Fundgegenden lebten oder ist anzunehmen, daß eine gemeinsame Ahnenschicht in den Fundgegenden und in den heutigen Hottentotten-Gegenden lebte […].« Die

21 Kater 42006, S. 207. 22 Vgl. Gerd Simon mit Klaus Bruckinger/Stefanie Grutsch/Ksenia Shturkhetska/Ulrich Schermaul, Chronologie Viktor Christian, Tübingen 2006, https://homepages.uni-tuebin gen.de/gerd.simon/ChrChristian.pdf (abgerufen am 4. Oktober 2017), S. 47.

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Anfrage enthielt also im Voraus bereits eine klare Zielvorstellung darüber, was als Ergebnis des Gutachtens herauskommen möge. Hirschbergs handschriftliches Gutachten (»Beurteilung«) zu dieser Thematik war mit 20. November 1941 datiert.23 Er absolvierte eben in Wien bei der »Brückenwachkompanie Wien 1« einen längeren Teil seines WehrmachtsDienstes. Hirschberg bestätigte in seinem Schreiben Himmler und dem »Ahnenerbe«, dass »die Berichte über die Fettsteissbildung bei den HottentottenFrauen am einwandfreiesten« wären. »Der Fettsteiss stellt eine Art Vorratsspeicher dar. Aehnliches finden wir auch bei den Fettschwanzschafen und Zeburindern. Hottentotten und Buschmänner werden als die bekanntesten Vertreter der sog. ›Khoisaniden Rasse‹ angesehen. Die in der ›KhoisanRasse‹ enthaltenen ›europiden‹ Komponenten […] lassen m. E. ohne Weiteres die Möglichkeit offen, dass der sog. Fettsteiss als Rassenmerkmal einer dieser europiden Rassen eigen war und sich bis heute bei den Hottentotten als Rassemerkmal erhalten hat. Ich bin der Ansicht, dass die Negerrasse erst in einer verhältnismässig jüngeren, und zwar nachpluvialen (nacheiszeitlichen) Periode entstand, wo die Voraussetzungen für die Bildung einer ›Wärmeform‹, wie die Neger sie darstellen, gegeben waren. Das ältere und älteste Afrika wurde jedoch von nichtnegerischen Rassen bewohnt, die einen gewissen Zusammenhang mit europäischen Rassen bekunden.« »Ohne Frage würden Forschungen über die ›europiden‹ Rassen und Völker und ihrer Kulturen von grossem Interesse sein und dies um so mehr, da unser bisheriges Wissen auf diesem Gebiete kaum über den Rahmen einer, allerdings sehr tragfähigen Arbeitshypothese hinausgekommen ist. Heil Hitler! Walter Hirschberg«.24

Diese Stellungnahme eines habilitierten Völkerkundlers für Heinrich Himmler akzeptierte somit, im Unterschied zu anderen von Sievers angeschriebenen NSWissenschaftern, a priori die rassistische Fragestellung einschließlich der vorgezeichneten Wunschergebnisse. Der vorhandene Wissensstand zu dieser »Rassenfrage« reiche wirklich noch nicht aus, weshalb weitere Forschungen dazu »von grossem Interesse« wären. Diensteifriger und willfähriger als andere SS-nahe Wissenschafter bemühte sich Hirschberg hier um eine für die SS-Spitze passende Auftragserfüllung. Dabei bekräftigte Hirschberg seine SS-nahe Haltung durch den Verweis, die »Negerrasse« wäre eine jüngere nacheiszeitliche »Wärmeform«, was eine klare Anspielung auf die von Himmler und im »Ahnenerbe« aufgewertete, okkult-pseudowissenschaftliche »Welteislehre« darstellte und dies mit Hirschbergs Ideen von »weißen« Anfängen (und von späteren »schwarzen« Degenerations-Formen) der Menschheitsentwicklung in Afrika verband. Damit könnten die SS-Erwartungen bestätigt werden: Die vorhande23 Vgl. voller Wortlaut bei Gingrich/Rohrbacher i. V. 24 The National Archives at College Park (NARA II, Maryland, USA): NARA II/T 580/999/ 120-211; Sievers, 29. Oktober 1941, an Hirschberg; Hirschberg, 20. November 1941, an Sievers.

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nen Hinweise ließen »ohne Weiteres« die Möglichkeit offen, dass dieses »Rassemerkmal« auf Bezüge zwischen Afrikanern und (Ost-) Europäern zurückginge. Hirschbergs Gutachten für Heinrich Himmler von Ende 1941 nimmt einen besonders markanten Platz ein im Hinblick auf die Willfährigkeit ebenso wie auf die karrieristische Zielstrebigkeit von Völkerkundlern jener Zeit, wissenschaftliche Prinzipien zugunsten einer mörderischen Politik und Ideologie zu missachten. Hirschbergs Eigeninteresse an der Sache bestand selbstverständlich darin, für die von ihm befürworteten weiteren »Forschungen« zu diesem Thema selbst vom Dienst in der Wehrmacht per uk-Entscheid freigestellt zu werden. Allerdings ging es Himmler überhaupt nicht um »europide Elemente unter afrikanischen Rassen«, sondern umgekehrt um afrikanische Elemente unter osteuropäischen »Rassen«. Daher wurde Hirschbergs Stellungnahme gelobt, aber letztlich als unzureichend verworfen. Die Angelegenheit wurde schließlich dem deutschen Anthropologen und Nebenfach-Ethnographen Bruno Beger in Schäfers Sven Hedin-Institut überantwortet und von ihm zur vollen Zufriedenheit der SS gelöst. Christian war sichtlich enttäuscht, dass Hirschbergs brisante Stellungnahme nicht zu seiner Freistellung von der Wehrmacht führte. Sievers riet ihm dringend, bei seinen Rekrutierungen für die LFVO verstärkt auf Dissertanten zu setzen. Nach einigem Zögern folgte Christian diesem Rat, und zugleich begannen die internen Material-und Finanzströme des »Ahnenerbe« an die LFVO ab 1941 erneut zu fließen. Die erste Hauptphase in der Geschichte der LFVO ging zu Ende.

Schluss Das Beispiel von Walter Hirschbergs Rolle in der LFVO stellt eine facettenreiche Bestätigung für Mitchell Ashs These dar, wonach das Verhältnis von Wissenschaft und Politik nicht einseitig auf »voraus eilenden Gehorsam« und willfährige Bereitschaft zur Instrumentalisierung durch die Politik verkürzt werden kann. Dieses Fallbeispiel aus der NS-Zeit in Wien unterstreicht vielmehr deutlich die Validität und Produktivität des Ansatzes von Ash, wonach unter gegebenen Bedingungen bestimmte wissenschaftliche Akteure alles daran setzten, die militärisch-politischen Verhältnisse zielstrebig so für sich selbst zu nutzen, dass sie nicht bloß überleben würden, sondern in diesen Verhältnissen möglichst ihre Karrieren und Eigeninteressen sicherten und förderten.

Dieter Hoffmann / Hubert Laitko

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Der Beitrag befasst sich mit der Karriere des Physikochemikers Peter Adolf Thiessen (1899–1990), die im Jahrhundert der Extreme eine erstaunliche Kontinuität aufweist, denn sowohl im nationalsozialistischen Deutschland, wie auch in der sozialistischen DDR gehörte dieser zur wissenschaftlichen Führungselite. Der Beitrag versucht dieses bemerkenswerte Phänomen für die Zeit des Dritten Reichs mit Hilfe des Ressourcenmodells von M. Ash zu analysieren. This chapter covers the career of the physico-chemist Peter Adolf Thiessen (1899–1990). It shows a surprising continuity in the age of extremes for Thiessen belonged to the scientific elite in both the Nazi and East German regimes. In the article we analyze this remarkable phenomenon with particular reference to the Third Reich using the model of resources developed by M. Ash.

Als Mitch Ash den wissenschaftlichen Lebensweg des deutschen Psychologen Kurt Gottschaldt (1902–1991) untersuchte, sah er in diesem einen Vertreter eines »bislang kaum systematisch analysierten biographischen Typus«, des »Typus eines deutschen Wissenschaftlers, der vier Karriereetappen unter vier verschiedenen politischen Systemen durchlebte.«1 Diese von großräumigen gesellschaftlichen Veränderungen getaktete biographische Struktur ist typisch für die Kohorte der um 1900 geborenen deutschen Wissenschaftler, und manchmal wurde dieses Faktum auch beschreibend thematisiert, ohne seine Implikationen tiefer auszuloten.2 Auch der Lebensweg des Physikochemikers Peter Adolf Thiessen (1899–1990),3 dem dieser Beitrag gilt und dessen Lebensdaten fast iden1 Mitchell G. Ash, Kurt Gottschaldt (1902–1991) und die psychologische Forschung vom Nationalsozialismus zur DDR – konstruierte Kontinuitäten, in: Dieter Hoffmann/Kristie Macrakis (Hg.), Naturwissenschaft und Technik in der DDR, Berlin 1997, S. 337–360, S. 337. 2 Vgl. Dieter Hoffmann/Horst Kant/Hubert Laitko, Walther Bothe – Wissenschaftler in vier Reichen. FSP Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie der Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben, Berlin 1995. 3 Zu Thiessen liegen zwei größere biographische Untersuchungen vor: Christina Eibl, Der Physikochemiker Peter Adolf Thiessen als Wissenschaftsorganisator (1899–1990). Eine bio-

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tisch mit denen von Gottschaldt sind, durchmaß mehrere politische Systeme. In einem seinen Auszeichnungen gewidmeten Heft der Zeitschrift Militaria wird ihm sogar zugeschrieben, in fünf verschiedenen Gesellschaftsordnungen gelebt zu haben.4 Mit dieser Periodisierung ad hoc kann man sich abfinden, wenn man ›Gesellschaftsordnung‹ als umgangssprachliche Bezeichnung und nicht als definitorisch geschärften Begriff verwendet; jedenfalls unterschied sich in den fünf damit gemeinten biographischen Etappen der gesellschaftliche Kontext deutlich bis gravierend. Es war Ashs Verdienst, die Kontinuität einer derartigen Laufbahn nicht mehr als selbstverständliches Faktum hingenommen, sondern die Frage nach ihrer Möglichkeit aufgeworfen zu haben. Daraus erwuchs sein bekanntes Modell des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik als »Ressourcen für einander«, das mit einem erweiterten Ressourcenbegriff operiert und nicht nur für den Sonderfall von über Systembrüchen verlaufenden Karrieren, sondern für moderne Gesellschaften generell gilt, in denen Wissenschaft und Politik hinreichend gegeneinander ausdifferenzierte und zugleich interagierende Handlungssysteme sind.5 Wenn Ash die äußere Kontinuität der Karriere Gottschaldts über politische Systembrüche hinweg nicht einfach als gegeben hinnehmen wollte, sondern für ein erklärungsbedürftiges Phänomen erachtete, so ist bei der Betrachtung von Thiessens Lebensweg ein solches Vorgehen noch weitaus stärker indiziert. Während sich Gottschaldts Laufbahn weitgehend im Rahmen des für ein Hochschullehrerleben Üblichen hielt – Lehre, Forschung und wissenschaftsorganisatorische Aufgaben, wie Leitung von Projekten, Instituten und Arbeitsstellen – und seine gelegentlichen affirmativen Äußerungen zu den jeweiligen politischen Systemen die Grenzen von Loyalitätsbekundungen kaum überschritten – , bewegte sich Thiessen im Kontinuum zwischen Wissenschaft und graphische Skizze, phil. Diss. Universität Stuttgart 1999; Klaus Beneke, Die Kolloidwissenschaftler. Peter Adolf Thiessen, Gerhart Jander, Robert Havemann, Hans Witzmann und ihre Zeit (Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft 9), Nehmten 2000, S. 24–174; vgl. auch Hubert Laitko, Strategen, Organisatoren, Kritiker, Dissidenten – Verhaltensmuster prominenter Naturwissenschaftler der DDR in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, Berlin 2009, S. 70–79; Dieter Hoffmann, Peter Adolf Thiessen (1899–1990). Vom nationalsozialistischen zum sozialistischen Vorzeigegelehrten und Wissenschaftsmanager. Spektrum der Wissenschaft (in Vorbereitung). 4 Vgl. Klaus H. Feder/Michael Gietzelt, Peter Adolf Thiessen. Ein Wissenschaftler in fünf verschiedenen Gesellschaftsordnungen und seine Auszeichnungen (Militaria 1), Melbeck 2012. 5 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/ Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51; ders., Reflexionen zum Ressourcenansatz, in: Sören Flachowsky/Rüdiger Hachtmann/Florian Schmaltz (Hg.), Ressourcenmobilisierung und Forschungspraxis im NSHerrschaftssystem, Göttingen 2016, S. 535–553.

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Politik sehr viel weiter nach der politischen Seite. Zudem bekannte er sich schon während der Weimarer Republik und erst recht unter der NS-Herrschaft als aktives Mitglied der NSDAP (Parteieintritt 19256) unverhohlen zu dieser politischen Bewegung und ihrer Herrschaft. Auch in der DDR pflegte er den Schulterschluss mit der politischen Macht, wobei allerdings eine Parteimitgliedschaft vermieden wurde. Im Laufe seines Lebens bekleidete Thiessen so eine Reihe von dezidiert wissenschaftspolitischen Ämtern, und in zwei entscheidenden Phasen waren die von ihm ausgeübten Funktionen so exponiert, dass er die Wissenschaftspolitik des jeweiligen Staates maßgeblich mitbestimmen konnte – im Dritten Reich sektoral für das weite Feld der chemischen Wissenschaften als Fachspartenleiter im Reichsforschungsrat (1937–1945) und in der DDR als Vorsitzender ihres Forschungsrates umfassend für den gesamten Bereich der Naturwissenschaften und der Technik (1957–1965). Zudem war Thiessen von 1960 bis 1963 Mitglied des neu gegründeten Staatsrates, des kollektiven Staatsoberhaupts der DDR. Wie konnte ihm der Sprung vom nationalsozialistischen zum sozialistischen Wissenschaftsrepräsentanten und -manager gelingen – über den politischen Abgrund hinweg, der die beiden Systeme trennte? Die von Ash für Gottschaldt aufgeworfene Frage stellt sich so für Thiessen noch wesentlich radikaler und soll im Folgenden für die Zeit bis 1945 analysiert werden. Den Weg zur Chemie beschritt der am 6. April 1899 im schlesischen Schweidnitz (heute S´widnica, Republik Polen) geborene Thiessen im Jahre 1919 mit der Immatrikulation an seiner Heimatuniversität Breslau. Von dort wechselte er nach Freiburg i. Br. und dann weiter nach Greifswald, wo ihn Adolf Sieverts für die physikalische Chemie und hier insbesondere für die Kolloidchemie begeisterte, zu deren vertieftem Studium er ihn 1921 an Richard Zsigmondy nach Göttingen empfahl. Zielstrebig und schnell akkumulierte er sein wissenschaftliches »Startkapital«, von der Immatrikulation bis zur Habilitation brauchte er nur sieben Jahre. In Göttingen gewann Thiessen Anschluss an die Genealogie der chemischen Spitzenforscher in Deutschland; als Student und Doktorand Zsigmondys war er Enkelschüler Justus von Liebigs in der fünften Generation7 und zudem mit der Göttinger Wissenschaftselite verknüpft. In den 1920er Jahren war Göttingen, anknüpfend an eine große Wissenschaftstradition, ein Ort ungewöhnlicher Kreativität, ein Eldorado von Nobelpreisträgern und solchen, die es werden

6 Zur NSDAP-Mitgliedschaft Thiessens findet sich auch das Eintrittsdatum August 1922 (Bundesarchiv Berlin, R 0023); die NSDAP-GauKartei im Bundesarchiv (ehem. BDC) nennt den 9. 3. 1925, mit der Mitgliedsnummer 3096. 7 Vgl. Herbert Teichmann, Chemie in Berlin-Adlershof, in: Mitteilungen der Gesellschaft deutscher Chemiker, Fachgruppe Geschichte der Chemie 16 (2002), S. 151–175, S. 160.

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sollten8 – sein Lehrer Zsigmondy erhielt diesen 1925. Hier war eines der weltweit ausstrahlenden Zentren, in denen der Übergang von der älteren Quantentheorie zur modernen Quantenmechanik vollzogen wurde. Zugleich war es ein Ort, »in dem in dieser Zeit wichtigste Vorstellungen über die chemische Bindung, über die Molekülbildung entstanden, mit dem Ergebnis wichtiger Aufschlüsse und Lösungsansätze über das, was wir heute Festkörperforschung nennen«.9 Die beiden akademischen Lehrer, die Thiessens wissenschaftliches Profil in Göttingen nachhaltig prägten, waren prominente Vertreter dieser Richtung: Zsigmondy, bei dem er 1923 über das kolloide Gold promovierte,10 und Gustav Tammann, der dem Physikalisch-Chemischen Institut der Universität vorstand und in dessen Labor Thiessen metallkundliche Experimentalarbeiten ausführte, auf denen seine Habilitationsschrift aus dem Jahre 1926 über Kristallisationskeime in hoch übersättigten Metalllösungen beruhte. In diesem intellektuellen Milieu bildete Thiessen seinen speziellen Forschungsstil aus, der ihm sein ganzes Leben hindurch erhalten blieb: Aufklärung komplexer Strukturen des Stoffes und ihrer Umwandlungen auf der Grundlage einfacher molekularer Modelle unter Einsatz aller verfügbaren Technik, wobei er auch selbst als Entwickler von Analysegeräten hervortrat. Diese technikgesättigte Arbeitsweise eignete er sich vor allem bei Zsigmondy an, der verschiedene Mikroskope und Filter erfunden hatte oder an deren Erfindung beteiligt war. Wenn möglich, bediente sich Thiessen bei seinen Untersuchungen unterschiedlicher analytischer Verfahren, nicht zuletzt zur Kontrolle und Validierung der Ergebnisse. Ungeachtet des ausgiebigen Einsatzes mathematischer und physikalischer Methoden blieb er jedoch immer ein Chemiker im klassischen Sinn des Wortes, der ein sinnliches Verhältnis zum Stoff nicht missen mochte: »Wir Chemiker einer älteren Schule wollen den Stoff nicht nur erkennen, sondern ihn am Ende unserer Betrachtungen möglichst in den Händen halten«.11 Dieser methodischen Ausstattung entsprachen Thiessens Präferenzen für die Wahl der Untersuchungsobjekte. Die Magistrale seiner Forschungsinteressen bildeten der reale Festkörper und die Vorgänge an Grenzflächen. Thematisch oszillierten seine Arbeiten in weiten Bögen um diese Magistrale, und er war für Anwendungswünsche offen, soweit sich diese nur irgendwie im Rahmen des 8 Vgl. Nicholaas Rupke (Hg.), Göttingen and the Development of the Natural Sciences, Göttingen 2002. 9 Max Steenbeck, Festvortrag, in: Abhandlungen der DAW zu Berlin. Klasse für Chemie, Geologie und Biologie 5 (1966) (Vorträge zum Festkolloquium anläßlich des 65. Geburtstages von Peter Adolf Thiessen), S. 7–13, S. 8. 10 Aus der Dissertation ging die gemeinsam mit seinem Lehrer verfasste Monographie hervor: Richard Zsigmondy/Peter Adolf Thiessen, Das kolloide Gold, Leipzig 1925. 11 Peter Adolf Thiessen, Physikalisch-chemische Grenzflächenmechanik: Mikro- und Submikrovorgänge, in: Abhandlungen der DAW 1966, S. 15–80, S. 15.

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kolloidchemischen Konzepts hielten. Diese Offenheit seines Wissenschaftsideals beförderte im Dritten Reich freilich auch seinen Einstieg in die Militärforschung und in der DDR machte es ihn zum Protagonisten eines anwendungsorientierten Stils akademischer Forschung. In den Göttinger Jahren vervollständigte Thiessen nicht nur sein wissenschaftliches Rüstzeug, sondern positionierte sich auch politisch. In den 1920er Jahren war diese Stadt nicht nur durch ein blühendes wissenschaftliches Leben auf hohem Niveau gekennzeichnet, sondern auch durch einen früh einsetzenden und rasch zunehmenden Einfluss der nationalsozialistischen Bewegung im akademischen Milieu, und es waren keineswegs nur wissenschaftlich Unfähige, die sich ihr anschlossen. Auch Thiessen sympathisierte schon als Student mit der NSDAP, und er scheint als junger Mann vom politischen und ideologischen Angebot der Nazis begeistert gewesen zu sein.12 Spätestens 1925 wurde er Mitglied der NSDAP, wenig später auch der SA, deren erste Verbände er in Northeim und Heiligenstadt organisierte; nach 1933 war er zudem förderndes Mitglied der SS. Allerdings verließ er 1928 die Partei bereits wieder, um seine anstehende universitäre Karriere nicht zu gefährden. Dieser Schritt kann unterschiedlich gedeutet werden. Möglicherweise war es nach der Begeisterung der ganz jungen Jahre ein Ausdruck von Ernüchterung: Ein politisches Bekenntnis wird demonstriert, wenn es den eigenen wissenschaftlichen Zielen nützt oder zumindest nicht schadet, und es wird beiseitegelegt, wenn es sich als hinderlich erweist. Falls das zutrifft, war Thiessen, zumindest in seinen reiferen Jahren, ein rationaler Kalkulator seiner Ressourcen und wohl auch kein fanatischer Nationalsozialist. Mit der wissenschaftlichen Kompetenz, die sich Thiessen bis zu seiner Habilitation aufgebaut hatte, hätte er die von Zsigmondy entwickelte Arbeitsrichtung als wichtigste persönliche Ressource weiterführen können. Zsigmondy, der an einer schweren Erkrankung litt und einen immer größeren Teil seiner Pflichten an Thiessen abgeben musste, hielt große Stücke auf seinen Schüler und hätte ihn gern als seinen Nachfolger gesehen. Seit Zsigmondys Tod 1929 leitete Thiessen praktisch das ganze Institut. 1931 wurde er, nunmehr außerplanmäßiger Professor, auch offiziell mit dessen kommissarischen Leitung betraut und konnte sich begründete Hoffnungen auf eine Berufung machen. Überraschend berief die Fakultät Anfang 1933 jedoch den Physikochemiker Hans von Wartenberg und begrub damit Thiessens an Göttingen geknüpfte Hoffnungen. Die Assistentenstelle, die er bei Victor Goldschmidt am Mineralogisch-Petrographischen Institut zur Überbrückung antrat, war sieben Jahre nach der Habili-

12 Thiessens Begeisterung klingt nach in einem Artikel der Göttinger Lokalpresse nach: Peter Adolf Thiessen, Wißt Ihr noch …!, in: Göttinger Nachrichten, 6. 2. 1937.

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tation keine angemessene Stellung mehr. Thiessens Laufbahn schien in einer Sackgasse zu stecken. Gerade in dieser Zeit übernahm die NSDAP in Deutschland die Macht. Das war für Thiessen die Chance, die Krise seiner Laufbahn zu überwinden. Er trat umgehend wieder in die NSDAP ein, wodurch die Karriereblockade schnell beendet wurde. Das hatte direkt mit den neuen Machtverhältnissen zu tun. Während er in Göttingen seinen wissenschaftlichen Weg bis dahin praktisch ohne politischen Rückenwind gegangen war, änderte sich dies nun grundlegend und schlagartig. Einige persönlich-politische Kontakte, die ihn mit lokalen bzw. regionalen Nazi-Größen verbanden, wurden nun zu entscheidenden Katalysatoren für seine Karriere. Eine Schlüsselrolle spielte dabei – zwar nur kurzzeitig, aber an einem ganz wesentlichen Punkt – der sieben Jahre ältere Chemiker Gerhart Jander, ebenfalls ein Zsigmondy-Schüler, der Thiessen schon bei seinem Übergang von Greifswald nach Göttingen und bei der schnellen Ablegung des ersten und zweiten Chemiker-Verbandsexamens als Voraussetzung für die Promotion im Fach Chemie geholfen hatte. Jander war seit 1922 Abteilungsvorsteher für Anorganische Chemie im Institut für Allgemeine Chemie13 und 1925 wie sein Assistent Rudolf Mentzel sowie auch Thiessen der NSDAP beigetreten. Mentzel war ein politischer Aktivist, dem anders als Thiessen nicht viel an eigener Forschung lag; durch die Kumulation zahlreicher Ämter und Funktionen stieg er im Dritten Reich zu einem der fähigsten und mächtigsten Wissenschaftspolitiker auf.14 Bereits 1930 wurde er Kreisleiter der NSDAP für Göttingen Stadt und Land und unterhielt in dieser Eigenschaft enge, mehr als nur dienstliche Beziehungen zu Bernhard Rust,15 dem Gauleiter der NSDAP für Südhannover-Braunschweig, zu dem auch Göttingen gehörte. Jander (und mit ihm auch Mentzel) war schon früh in das geheime, gegen die Auflagen des Versailler Vertrages verstoßende Aufrüstungsprogramm einbezogen worden, in dessen Rahmen verdeckt und dezentral ausgeführte Militärforschungen gehörten, deren Koordinierung dem Mitte der 1920er Jahre aus der Inspektion für Waffen und Gerät der Reichswehr hervorgegangenen Heereswaffenamt (HWA) oblag.16 Karl Becker,17 der 1926 zum

13 Dieses Institut existierte an der Universität Göttingen eigenständig neben Zsigmondys anorganisch-chemischem Institut. 14 Rudolf Mentzel, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Mentzel (abgerufen am 6. 2. 2018); Anne Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945, Frankfurt a. M. 2012, S. 112ff. 15 Vgl. Ulf Pedersen, Bernhard Rust. Ein nationalsozialistischer Bildungspolitiker vor dem Hintergrund seiner Zeit, Gifhorn 1994; Nagel, A. 2012, S. 40ff. 16 Vgl. Günter Nagel, Wissenschaft für den Krieg. Die geheimen Arbeiten des Heereswaffenamtes, Stuttgart 2012. 17 Vgl. Burghard Ciesla, Ein »Meister deutscher Waffentechnik«. General-Professor Karl Becker

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Leiter der ballistischen und Munitionsabteilung des HWA ernannt wurde, etablierte im selben Jahr innerhalb seines Zuständigkeitsbereiches eine »Zentralstelle für Heeresphysik und Heereschemie«, in die auch der Physiker Erich Schumann18 vom Heereswaffenamt eintrat. Becker und Schumann wiederum gewannen, ebenfalls noch 1926, Jander für die Teilnahme an geheimen Forschungen über chemische Kampfstoffe und den Schutz gegen diese, und er blieb für ihn und Mentzel fortan der wichtigste Mittelsmann zum Militär. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Thiessen schon in seiner Göttinger Zeit in diese Geheimforschungen einbezogen war oder dass er auch nur Kenntnis von ihrer Existenz gehabt hätte. Insofern dürfte das angedeutete Netzwerk aus Partei- und Militärkontakten für ihn damals noch keine karrierefördernde Bedeutung gehabt haben. Im Februar 1933, unmittelbar nach der NS-Machtübernahme, wurde Rust zum kommissarischen preußischen Kultusminister ernannt. Aus seinem bisherigen Gau holte er Personen seines Vertrauens nach Berlin und schuf so ein Sprungbrett für eine Reihe von Karrieren. Seinen Parteigängern übertrug er aussichtsreiche Aufgaben bei der nationalsozialistischen Umgestaltung des deutschen Wissenschaftssystems. Neben den Universitäten stand die KaiserWilhelm-Gesellschaft im Fokus nationalsozialistischer Anfeindungen und Attacken; insbesondere das von Fritz Haber geleitete Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem wurde als »jüdisch versippt« diffamiert. Unter Ausnutzung der vom Regime umgehend geschaffenen neuen Gesetzeslage, insbesondere des infamen Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, war es ohne größere Schwierigkeiten möglich, die jüdischen Mitarbeiter – unter ihnen eine Reihe herausragender Forscher – aus dem Institut zu entlassen und auch Haber selbst aus dem Amt zu drängen, was faktisch die Auflösung des Instituts bedeutete.19 Rust kam dabei das Interesse der Militärs entgegen, das Haber’sche Institut zu einem Zentrum für Kampfstoffforschung umzugestalten und in diesem Zusammenhang Jander ein erheblich größeres Arbeitsfeld als bisher zu geben. Mit Unterstützung des Reichswehrministeriums setzte Rust die am 4. August 1933 erfolgte Ernennung von Jander zum kommissarischen Direktor des KWI durch, obwohl sich der Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), Max Planck, zwischen Militär und Wissenschaft (1918–1940), in: vom Bruch/Kaderas (Hg.) 2002, S. 263–281, S. 265. 18 Vgl. Werner Luck, Erich Schumann und die Studentenkompanie des Heereswaffenamtes – Ein Zeitzeugenbericht, in: Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften 27 (2001), S. 27–42; Nagel 2012, S. 452–504. 19 Vgl. Thomas Steinhauser/Jeremiah James/Dieter Hoffmann/Bretislav Friedrich, Hundert Jahre an der Schnittstelle von Chemie und Physik. Das Fritz-Haber-Institut der Max-PlanckGesellschaft zwischen 1911 und 2011, Berlin/Boston 2011, S. 95–96.

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mit allen ihm verbliebenen Mitteln dagegen wehrte.20 Jander seinerseits holte Mentzel und Thiessen an das Institut und ernannte sie zu Abteilungsvorstehern. Von nun an wurde in Dahlem – wie schon einmal im Ersten Weltkrieg21 – wieder über chemische Kampfstoffe geforscht. Damit gewann das in Göttingen zwischen NSDAP, Militär und Naturwissenschaft locker geknüpfte Netzwerk, in dem Thiessen anfangs eher am Rande gestanden hatte, zentrale Bedeutung für ihn. Diese verstärkte sich noch im folgenden Jahr, als im Rahmen der nationalsozialistischen Bestrebungen, die staatliche Verwaltung zu zentralisieren, Rusts Behörde in das Reichs- und Preußische Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (kurz: Reichserziehungsministerium – REM) umgebildet wurde.22 Dabei wurde aus der bisherigen Hochschulabteilung ein »Amt Wissenschaft« unter Leitung des Mathematikers und »alten Kämpfers« Theodor Vahlen,23 das sich wiederum in zwei Subabteilungen gliederte: das für das Hochschulwesen zuständige Amt Wissenschaft I, dessen Leitung sich Vahlen selbst vorbehielt, und das Amt Wissenschaft II, dessen Verantwortungsbereich sich auf Forschung und Technik erstreckte und an dessen Spitze (formell als Untergebener Vahlens) Erich Schumann trat, der zugleich Leiter der Zentralstelle für Heeresphysik am HWA blieb. Schumanns Ressort war das Bindeglied zwischen dem REM und dem Militär ; zu seinen wichtigsten Aufgaben gehörte es, das Militär regelmäßig über relevante zivile Forschungen zu unterrichten.24 Im Zuge dieses ministeriellen Umbaus wurden Thiessen und Mentzel am 12. Juni 1934 zu nebenamtlichen Referenten im Amt Wissenschaft ernannt. Thiessen wurde als Referent für »die fachwissenschaftliche Beratung auf dem Gebiet des Hochschulwesens« Vahlen direkt zugeordnet, während Mentzel in Schumanns Zuständigkeitsbereich eintrat. Das war für Thiessen ein wesentlicher Karriereschritt, denn erstmalig wurde ihm ein unmittelbar wissenschaftspolitischer Aufgabenkreis übertragen, doch es war für ihn nicht weniger wichtig, dass er Abteilungsvorsteher am KWI blieb, denn in allen noch so hochrangigen Ämtern, die er bekleidete, bezog er Kraft und Selbstbewusstsein daraus, dass er immer in der Forschung verankert blieb und die Verbindung zu ihr nie abreißen ließ. Als Ministeriumsreferent knüpfte 20 Vgl. ebd., S. 105. 21 Vgl. Bretislav Friedrich, Jeremiah James: From Dahlem to the Fronts of World War I: The Role of Fritz Haber and His Kaiser Wilhelm Institute in German Chemical Warfare, in: ders./ Dieter Hoffmann, Jürgen Renn/Florian Schmaltz/Martin Wolf (Hg.), One Hundred Years of Chemical Warfare: Research, Deployment, Consequences, Cham 2017, S. 25–45; Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998. 22 Vgl. Nagel, A. 2012, S. 212. 23 Reinhard Siegmund-Schultze, Theodor Vahlen – zum Schuldanteil eines deutschen Mathematikers am faschistischen Mißbrauch der Wissenschaft, in: NTM 21 (1984) 1, S. 17–32. 24 Vgl. Florian Schmaltz, Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus. Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie, Göttingen 2005, S. 93.

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Thiessen eine Vielzahl von Verbindungen, denn er war mit Personalangelegenheiten aus den unterschiedlichsten Fachgebieten befasst. Zugleich war er mit der Novellierung des Hochschulrechts im nationalsozialistischen Sinn befasst und hat so maßgeblich zur nationalsozialistischen Umgestaltung des deutschen Hochschulwesens beigetragen. So war er federführend an der Ausarbeitung einer neuen Habilitationsordnung (1934) beteiligt, die eine Hochschulkarriere von außerwissenschaftlichen Kriterien abhängig machte. Mit der neuen Habilitationsordnung musste beispielsweise für die Erteilung der Lehrberechtigung der sogenannte Ariernachweis erbracht werden und für den künftigen Hochschullehrer galt auch ein Eheverbot mit einem »Nichtarier«. Weiterhin wurde die Teilnahme an Wehrsportlagern und politischen Schulungen sowie ein rückhaltloses Eintreten für den NS-Staat und seine Weltanschauung verlangt. Weiterhin hatten die Habilitationskommissionen das »Führer-Format« des Kandidaten einzuschätzen und Voten der NS-Dozentenschaft und des Reichserziehungsministeriums zu berücksichtigen. Neben der neuen Habilitationsordnung trägt auch das Gesetz zum »Verbot der Promotion von Nichtariern« die Handschrift von Thiessen, der zudem die »Richtlinien zur Vereinheitlichung der Hochschulverwaltung« mit auf den Weg gebracht hat und nicht zuletzt für die Berufung und Entpflichtung von Hochschullehrern verantwortlich war. Thiessen hat so maßgeblich an der Umsetzung der antisemitischen Diskriminierungsund Verfolgungspolitik der Nazis im Hochschulbereich mitgewirkt und diese legislativ abgesichert. Damit trug er aktiv zur wissenschaftspolitischen Umsetzung nationalsozialistischer Leitsätze bei – vom Führerprinzip bis zur Umsetzung der NS-Rassenpolitik.25 Thiessens Tätigkeit im REM war es wahrscheinlich auch, die ihn in Kontakt mit Erich Schumann brachte – jedenfalls vereinbarte er mit diesem im Laufe des Jahres 1934 zweimal die Übernahme von Forschungsaufgaben auf dem Gasschutzgebiet, die seine physikalisch-chemische und kolloidchemische Abteilung am KWI ausführen sollte, so dass er auch selbst in das System der militärischen Kampfstoff-Forschungen einbezogen wurde.26 Mentzel und Thiessen, die damals wohl befreundet waren und im REM ein Arbeitszimmer teilten, bildeten zusammen mit Schumann eine Art Triumvirat, das gemeinsam in der wissenschaftspolitischen Hierarchie des Dritten Reiches aufstieg. Jeder von ihnen verfügte über eigene Zugänge zu unterschiedlichen Beziehungsnetzen in Wissenschaft, Politik und Militär. Zugleich war das REM für sie über mehrere Jahre hinweg ein Ort, an dem sich Begegnungen zwischen ihnen wie von selbst erga25 Eibl 1999, S. 110ff. 26 Vgl. Schmaltz 2005, S. 94; ders., Peter Adolf Thiessen und Richard Kuhn und die Chemiewaffen-Forschung im NS-Regime, in: Helmut Maier (Hg.), Gemeinschaftsforschung, Bevollmächtigte und der Wissenstransfer. Die Rolle der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im System kriegsrelevanter Forschung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007, S. 305–359, S. 348.

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ben, und der Austausch ihrer Ressourcen vervielfachte ihre Handlungsmacht, wie sich schon bald zeigen sollte. Malte Decker hat jüngst in einer Studienabschlussarbeit vom »Mentzel-Schumann-Thiessen-Netzwerk« gesprochen und den Netzwerkbegriff systematisch in das Zentrum seiner Beziehungsanalyse gestellt.27 Dabei operiert er – ähnlich wie Ash, aber ohne sich explizit auf diesen zu beziehen – mit einem erweiterten Ressourcenkonzept und verwendet als methodologischen Hintergrund die neuere soziologische Netzwerktheorie in der Version von Ronald S. Burt.28 Die Strukturen, in denen individuelle und kollektive bzw. institutionelle Akteure ihre Ressourcen einsetzen und austauschen, sind soziale Netzwerke. Dieser Gedanke tritt auch in den Ausführungen zu Ashs Ressourcenmodell häufig auf, aber eher beiläufig, als etwas, das sich von selbst versteht. Insofern dürfte Deckers Ansatz mit Ashs Konzept kompatibel sein. Die von Decker vorgenommene Analyse ist auf die genannten drei Personen zentriert, aber sie berücksichtigt selbstverständlich auch das weitere Umfeld mit Personen wie Becker, Jander oder Rust. Der Aufstieg des Dreiernetzwerks ging mit einer fortschreitenden Schwächung der Position Janders einher, die allerdings multifaktoriell bedingt und für die weniger die Person Janders verantwortlich war, sondern vor allem mit der 1934 einsetzenden strategischen Umorientierung der Rüstungsforschung zusammenhing. Die Idee, aus Janders KWI das führende Zentrum der chemischen Kampfstoffforschung zu machen, hatte nur eine kurze Laufzeit. Das Militär zielte nun auf eigene, großzügig ausgebaute Forschungszentren, die allein seiner Hoheit unterstanden, wenngleich Rüstungsbeiträge ziviler Forschungseinrichtungen auch weiterhin subsidiär einbezogen werden sollten. Diese Wendung kam auch der KWG gelegen, denn es bot sich nun eine Gelegenheit, sich Janders wieder zu entledigen, dem sie die von einem KWI-Direktor zu erwartende wissenschaftliche Exzellenz nicht einräumten. Im Frühjahr 1935 verzichtete dieser auf sein Direktorat und wurde mit einem Lehrstuhl an der Universität Greifswald abgefunden. Die so entstandene Vakanz nutzte das REM, um Thiessen – zunächst ebenfalls kommissarisch – zum 1. April als Nachfolger Janders einzusetzen; allerdings mit der Maßgabe – wie Mentzel als Vertreter des Ministers der KWG-Spitze unmissverständlich deutlich machte29 – dass es sich dabei nicht wieder um ein »Kommissariat«, sondern um den Kandidaten des Ministeriums für die vakante Direktorenstelle handle. Gemäß dieser Ankündigung wurde Thiessen zum 20. Mai 1935 »gegen das ausdrückliche Votum der KWG, die den Nobelpreis27 Vgl. Malte Decker, Das Mentzel-Schumann-Thiessen-Netzwerk. Über die Bedeutung sozialer Netzwerke im NS-Wissenschaftsbetrieb. Zulassungsarbeit. Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften. LMU München 2016. 28 Vgl. Ronald S. Burt, Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge, MA 1992. 29 Steinhauser u. a. 2011, S. 110.

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träger Hans Fischer aus München vorgeschlagen hat«,30 durch Minister Rust zum Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie ernannt; gleichzeitig erfolgte seine Berufung zum ordentlichen Professor für Physikalische Chemie an der Berliner Universität. Obwohl die Granden der KWG Thiessen, nachdem er ihnen als Institutsdirektor ministeriell oktroyiert worden war, zunächst sehr reserviert begegneten, gelang es ihm, sich innerhalb weniger Jahre in der Gesellschaft und überhaupt im akademischen Milieu durchzusetzen. Dafür stehen drei starke Indizien. In der KWG war es stets eine Auszeichnung, zum Festvortrag auf einer ihrer alljährlich stattfindenden Hauptversammlungen gebeten zu werden; dies geschah 1938, und Thiessen sprach auf der 27. Hauptversammlung im Dahlemer HarnackHaus zum Thema »Wesen und Werkzeug der chemischen Forschung«.31 1939 erhielt er zudem den akademischen Ritterschlag, als er zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften (PAW) gewählt wurde. Die Vorschlagenden, die mit ihren Namen für die wissenschaftliche Dignität des Neugewählten bürgten, waren drei angesehene Chemiker – der Anorganiker Karl Andreas Hofmann, der Physikochemiker Max Bodenstein und schließlich der Radiochemiker Otto Hahn, Direktor des benachbarten KWI für Chemie und im Sommer 1933 auch einige Monate kommissarischer Direktor des KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie.32 Ebenfalls 1939 wurde Thiessen für die Wahlperiode von 1939 bis 1942 zum einflussreichen Vorsitzenden der ChemischPhysikalisch-Technischen Sektion der KWG gewählt33 und 1942 übernahm er weiterhin den Vorsitz der renommierten Bunsen-Gesellschaft.34 Obwohl Thiessen in diesen Funktionen nicht immer der Wunschkandidat war,35 darf man seine Berufungen nicht nur als Folge seiner forschungspolitischen Aktivitäten und der Nähe zur politischen Macht verstehen, sondern nicht zuletzt auch als Anerkennung für seine wissenschaftlichen Leistungen. Es war Thiessen geglückt, das KWI aus einem Anhängsel des Heereswaffenamtes, zu dem das KWI unter Jander zu werden drohte, wieder zu einer klar profilierten, leistungsfähigen Forschungseinrichtung auf KWG-Niveau zu machen. Seine schon in Göttingen ausgeprägte Neigung, relativ einfache Strukturen als Modelle für das Verständnis von Struktur und Eigenschaften einer Vielzahl hochkom30 Eckart Henning/Marion Kazemi, Chronik der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1911–2011. Daten und Quellen, Berlin 2011, S. 191. 31 Ebd., S. 216. 32 Vgl. Conrad Grau/Wolfgang Schlicker/Liane Zeil, Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus III: Die Jahre der faschistischen Diktatur 1933 bis 1945, Berlin 1979, S. 196–197. 33 Vgl. Henning/Kazemi 2011, S. 224. 34 Vgl. Walther Jaenicke, 100 Jahre Bunsen-Gesellschaft 1894–1994, Darmstadt 1994, S. 180. 35 Vgl. Henning/Kazemi 2011, S. 130.

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plexer – anorganischer, organischer und auch biologischer – stofflicher Gebilde und ihrer Wandlungen zu nutzen, wurde in seiner Abteilung praktiziert und strahlte auch auf andere Abteilungen und Gruppen des Instituts aus. Dabei wurde das Institut mit Spezialisten für modernste analytische Verfahren komplettiert und mit hochmoderner Forschungstechnik ausgestattet, wobei auch Thiessen selbst und seine Mitarbeiter Geräte entwickelten. Man kann deshalb von einem dort herrschenden »technisch ausgerichteten Forschungsstil« sprechen und davon, dass das KWI auf dem Gebiet der Röntgenstrukturanalyse wohl das »am besten ausgerüstete Forschungsinstitut Deutschlands gewesen sein« dürfte.36 Die Orientierung auf hochkomplexe Strukturen ging mit einer ausgeprägten Anwendungsnähe und der Ausrichtung auf Fragen chemischer Zweckforschung einher, die den Leitlinien der nationalsozialistischen Forschungspolitik entsprachen und auf die sich nicht zuletzt mannigfache Beziehungen zur Industrie und zum Militär gründeten. Ein Besuch von Max Planck, Präsident der KWG zwischen 1930 und 1937, macht deutlich, wie sich aber der Charakter von Thiessens Institut gegenüber dem des Haber’schen unterschied. So war Planck von den technischen Möglichkeiten des neu ausgerichteten Instituts und besonders von einem gerade in Betrieb genommenen Röntgenbeugungsgerät durchaus beeindruckt, doch merkte er kritisch die nach seinem Wissenschaftsverständnis fehlende Ausrichtung auf die allgemeinen, grundlegenden physikalischen Gesetze an. In diesem Sinne wurde insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Beurteilung der Forschungsleistungen des Thiessen’schen Instituts von einem ›Verfall‹ der wissenschaftlichen Standards gesprochen. Dies trifft im obigen Sinne zu, doch stehen dem Abbruch grundlagenorientierter Forschung respektable Leistungen im Bereich von angewandter und Zweckforschung gegenüber, die nicht nur unter NS-Protagonisten und in der zeitgenössischen Wissenschaft durchaus fachspezifische Beachtung und Anerkennung fanden. Thiessen hat aber nicht nur die Forschungen seines Instituts mustergültig auf die forschungspolitischen und militärischen Bedürfnisse des NS-Regimes ausgerichtet, auch im ideologischen und weltanschaulichen Bereich war man eifrig darum bemüht, den politischen Erwartungen nachzukommen. Eine Fülle von Aktivitäten und Maßnahmen – von der Durchführung von Gefolgschaftsabenden und -ausflügen bis zur sozialen Fürsorge für Institutsmitarbeiter – trugen dazu bei, am Institut eine »Volksgemeinschaft« im Kleinen zu etablieren. Im Jahre 1940 fand dies mit der Auszeichnung als nationalsozialistischer Musterbetrieb seine parteiamtliche Anerkennung, wobei dem Institut die hohe NS-

36 Steinhauser u. a. 2011, S. 117.

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Auszeichnung als erstem und wohl auch einzigem wissenschaftlichen Forschungsinstitut verliehen wurde.37 Auch wenn es sich bei dieser Ehrung ohne Zweifel um eine Propagandaaktion handelte, spiegelt sich darin auch ein relativ hohes Maß an sozialer Integration der Mitarbeiterschaft bzw. der »Betriebsgemeinschaft« oder »Gefolgschaft« wider. Thiessen übte Autorität aus, ohne unbedingt zu administrativem oder ideologischem Druck greifen zu müssen. Von vielen Institutsangehörigen wurde er als anständig und konziliant geschätzt, er hatte sich zudem in Einzelfällen sogar vor Mitarbeiter gestellt, die in Konflikt mit dem System gekommen waren. Diese Fähigkeit, mit leichter Hand und reibungsarm Teams leiten zu können, war eines seiner Erfolgsgeheimnisse und scheint bei ihm habituell gewesen zu sein. Das zeigte sich auch unter ganz anderen historischen Umständen; so betonte Max Steenbeck auf dem Festkolloquium zu Thiessens 65. Geburtstag, auf die gemeinsam in der Sowjetunion verbrachten Nachkriegsjahre zurückblickend, »die menschliche Führungsrolle, die Thiessen dort, wahrscheinlich unbeabsichtigt, gespielt hatte, mit der er stärker auf seine Umgebung wirkte, als es vielleicht ein bewusstes Einflussnehmenwollen getan hätte.«38 Gestützt auf seine 1934/35 geschaffenen Ausgangspositionen, erreichte das Dreiernetzwerk Mentzel-Schumann-Thiessen in den unmittelbaren Vorkriegsjahren das Maximum der von ihm kontrollierten Ressourcen und das Apogäum seiner Wirksamkeit. Den historischen Hintergrund dafür bildete das Megaziel der NSDAP, die Vorbereitung eines Angriffskrieges, das mit dem 1936 verabschiedeten Vierjahresplan eine Bündelung und Zentralisierung aller kriegswichtigen Ressourcen gebot. Das politische System des Nationalsozialismus zeichnete sich dadurch aus, dass diverse Netzwerke mit allen Mitteln um das Privileg konkurrierten, Hauptakteur einer im Idealfall konkurrenzfreien Zentralisierung zu werden. Da aber die konkurrierenden Netzwerke stark waren, gelang es nur selten, eines von ihnen vollständig aus dem Rennen zu werfen, so dass die sich aus der Konkurrenz ergebenden Lösungen meist lückenhaft, mit Kompromissen durchsetzt und bei einer Änderung der Kräfteverhältnisse auch revidierbar waren. Hauptstützpunkt des Trios war dabei das REM, und seine Handlungsmöglichkeiten hingen stark davon ab, dass es Rust gelang, sich als Minister zu behaupten und seinen forschungspolitischen Einfluss zu sichern. Dabei spielte das Dreiernetzwerk und namentlich das Duo Mentzel-Thiessen eine wichtige Rolle. So war es Mentzel, der 1936 durch eine Intrige, die sogenannte Wildhagen-Affäre,39 Johannes Stark aus dem Amt des Präsidenten der 37 Ebd., S. 125ff. 38 Steenbeck 1966, S. 13. 39 Vgl. Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat, Stuttgart 2008, S. 188ff.

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Deutschen Forschungsgemeinschaft drängte und das einflussreiche Amt selbst übernahm. Mit Mentzels Inthronisierung als DFG-Präsident war der Weg frei, um vom REM aus eine zentrale Organisation zur Koordinierung und Lenkung militärtechnisch orientierter Forschungen zu schaffen, die zugleich den Interessen des Dreiernetzwerks entsprach und ihm neue Einflussmöglichkeiten eröffnete. In der zweiten Hälfte des Jahres 1936 veränderten sich dafür die Rahmenbedingungen in einer Richtung, die eine zentralisierte Forschungslenkung noch dringlicher erscheinen ließ. Im Spätsommer verfasste Hitler eine geheime Denkschrift, in der er anwies, binnen vier Jahren das deutsche Militär einsatzfähig und die deutsche Wirtschaft kriegsfähig zu machen – begründet mit der Behauptung, dass ein Krieg mit der Sowjetunion unvermeidlich sei. Dazu sollte Deutschland wirtschaftlich autark werden, also auf strategische Importe verzichten können.40 Aus dieser Forderung ergab sich für die Chemie die anspruchsvolle Aufgabe, für bisher importierte Güter innerhalb kurzer Zeit möglichst gleichwertige Substitute zu schaffen. Im System der wissenschaftlichen Kriegsvorbereitungen und Autarkiebestrebungen erhielten die chemischen Wissenschaften damit einen zentralen Platz und wurden entsprechend stark gefördert. Mit dieser Herausforderung identifizierte sich Thiessen explizit, auch mit Referaten vor verschiedenen Gremien wie dem Vortrag »Wissenschaft und Vierjahresplan« vor dem NS-Dozentenbund in Berlin.41 Im Herbst 1936 übertrug Hitler die Generalvollmacht für den Vierjahresplan an Göring und unter seiner Leitung wurde die sogenannte Vierjahresplanbehörde errichtet. Im Zuge dieser Maßnahmen, aber außerhalb der erwähnten Behörde entwarfen Mentzel und Thiessen das Konzept eines Reichsforschungsrates (RFR) als einer Einrichtung zur reichsweiten Lenkung, Koordinierung und Finanzierung aller auf die Kriegsvorbereitung orientierten naturwissenschaftlichen und technischen Forschungen. In der Literatur war lange umstritten, inwieweit Thiessen an der konzeptionellen Vorbereitung des RFR überhaupt beteiligt war, aber mit Sören Flachowskys Studie zur Vorgeschichte, Gründung, Entwicklung und Arbeitsweise des RFR kann als sicher gelten, dass er zu den Architekten dieser Einrichtung gehörte; auch Thiessen selbst nimmt in seinen autobiographischen Aufzeichnungen einen eigenen Anteil in Anspruch.42 Nachdem der RFR schließlich zustande kam, gehörten so allerdings bei weitem nicht alle relevanten Bereiche der Forschung in die Zuständigkeit des RFR;

40 Vgl. Dieter Petzina, Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968. 41 Peter Adolf Thiessen, Wissenschaft und Vierjahresplan. Vortrag gehalten am 18. 2. 1937 vor dem NSDB. 42 Vgl. Peter Adolf Thiessen, Erinnerungen (unpubliziert und im Besitz der Familie), S. 310f.

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insbesondere das wissenschaftsintensive Gebiet der Luftfahrt blieb von vornherein außerhalb seines Zugriffs und in der direkten Verantwortung Görings.43 Wie auch immer es sich mit Thiessens Anteil am Konzept des RFR verhalten mag – der Sache nach war dieser Rat in der Gestalt, in der er im März 1937 in Anwesenheit Hitlers offiziell ins Leben trat, buchstäblich auf Mentzel und Thiessen zugeschnitten. An der Spitze stand ein Präsident, der im Wesentlichen repräsentative Aufgaben erfüllte, während die eigentlichen Arbeitsorgane des Rates die nach Wissenschaftszweigen gegliederten Fachsparten (anfangs auch: Fachgliederungen) waren. Die Fachspartenleiter konnten im Rahmen der ihnen zugewiesenen Kontingente Forschungsmittel verteilen und Förderanträge genehmigen oder ablehnen, ohne die Meinung unabhängiger Gutachter einholen zu müssen. Sie mussten nicht fürchten, dass der Präsident auch nur versuchen würde, in ihre Machtvollkommenheit einzugreifen. Mit dem weithin angesehenen Karl Becker war ein Mann zum Präsidenten erkoren worden, der mit der Fülle seiner Ämter und Funktionen (1937 war er unter anderem Leiter des Prüfwesens des HWA, General der Artillerie und Dekan der Wehrtechnischen Fakultät der Berliner TH, Senator der KWG sowie Mitglied der PAW44) allen Ansprüchen an Repräsentativität genügte, zugleich aber aus eben diesem Grund für den RFR nicht mehr tun konnte, als ihn zu repräsentieren und mit seinem Profil auf die Nähe zur Rüstung hinzudeuten, selbst wenn er es anders gewollt hätte. Der Verwaltungsapparat des RFR war wesentlich mit dem der DFG identisch, es bestand »weitgehende Personalunion«,45 und der RFR war in den Berliner Räumlichkeiten der DFG untergebracht. Mentzel war als Präsident der DFG zugleich Leiter der Geschäftsführung des Rates, hatte also alle Fäden des operativen Betriebes in der Hand, und das umso wirksamer, als sich parallel dazu auch sein Aufstieg in anderen Sektoren des NS-Machtapparates fortsetzte: Kurz nach Gründung des RFR wurde er zum SS-Obersturmbannführer befördert und direkt dem Persönlichen Stab des Reichsführers SS zugeordnet;46 im REM wurde er 1939 zum – nur noch Rust unterstellten – Leiter des Amtes Wissenschaft.47 Thiessen wurde im RFR die Leitung der Fachsparte Chemie übertragen.48 Entsprechend der Bedeutung, die die Chemie für die deutsche Kriegsvorbereitung hatte, war sie eine der stärksten und bestausgestatteten Fachsparten. Zu43 Vgl. Helmuth Trischler, »Big Science« or »Small Science«? Die Luftfahrtforschung im Nationalsozialismus, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung. Band 1, Göttingen 2000, S. 328–362. 44 Vgl. Decker 2016, S. 36. 45 Ebd., S. 37. 46 Vgl. Schmaltz 2005, S. 125. 47 Vgl. Decker 2016, S. 42. 48 Die Bezeichnung variiert; gemeint ist aber – bis Oktober 1939 – stets der Gesamtbereich der chemischen Forschung, soweit er unter der Kontrolle des Rates stand.

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nächst war Thiessen für die gesamte Chemie zuständig; im Oktober 1939 wurden die organisch-chemischen Projekte in eine besondere Fachsparte unter Leitung von Richard Kuhn ausgelagert, der das KWI für Medizinische Forschung in Heidelberg und dessen Teilinstitut für Chemie leitete.49 Damit teilten sich zwei KWI-Direktoren die Verantwortung für die chemische Forschung im RFR. Thiessen hatte damit ein wirkmächtiges wissenschaftspolitisches Amt, das in vollem Maße seiner fachlichen Kompetenz entsprach. Es war nur folgerichtig, dass er 1937 seine nebenamtliche Referententätigkeit im REM aufgab, zumal diese unterhalb der Entscheidungsebene angesiedelt war und in der neuen Lage für Thiessen nur noch eine nutzlose Verzettelung bedeutet hätte. Der RFR blieb keineswegs unumstritten, denn auch nach seiner Gründung hielt die Konkurrenz starker Interessengruppen im NS-System um Einfluss auf die Wissenschaftspolitik und die dabei zu verteilenden Ressourcen an. Zwei unverhoffte Todesfälle führten im RFR zu einer kritischen Situation. Die durch den Suizid Beckers im September 1940 entstandene Vakanz an der Spitze weckte Begehrlichkeiten. Als Rüstungsminister Fritz Todt im Februar 1942 bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam, trat der Architekt Albert Speer an seine Stelle; dieser wandte seine Aufmerksamkeit dem RFR zu und schätzte ihn als ineffizient und reformbedürftig ein. Der Industrielle Albert Vögler, zu dem er in engen Beziehungen stand und der 1940 als Nachfolger des verstorbenen Carl Bosch Präsident der KWG geworden war, überzeugte Speer davon, dem REM die Leitung des RFR zu entziehen und Göring persönlich anzutragen. Der Erlass vom 9. Juni 1942, der die Reorganisation des RFR dekretierte, setzte Göring als Präsidenten und Speer und Rust als Vizepräsidenten ein, wobei Speer die Verantwortung für die gesamte Rüstungsforschung erhielt, während Rust für jene Vorhaben aus den Natur- und Technikwissenschaften zuständig war, die nicht direkt Rüstungscharakter trugen. Während so das strategische Gewicht des REM gestutzt wurde, blieb sein operatives Gewicht erhalten – die Verwaltungsarbeit für den RFR führte weiterhin die DFG aus, deren Präsident Mentzel blieb, und zugleich wurde er zum Leiter des Geschäftsführenden Beirats als der »eigentlichen Schaltzentrale« des RFR ernannt, so dass man mit Decker folgern kann: »Der Machtverlust für das REM und damit auch für das Mentzel-SchumannThiessen-Netzwerk hielt sich also in Grenzen«.50 Auf der anderen Seite war die Umbildung des RFR ein Indiz dafür, dass der Aufstieg des Dreiernetzwerks an sein Ende gelangt war. Demonstrativ waren gleich drei Reichminister – also Personen aus der ersten Reihe der NS-Machtelite – an die Spitze des RFR getreten. Diese Ebene sollten Mentzel, Schumann und Thiessen niemals erreichen. Allein Thiessen konnte, auf das Gebiet der Chemie 49 Vgl. Schmaltz 2007. 50 Decker 2016, S. 44–45.

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beschränkt, seine wissenschaftspolitische Position noch ein Stück weiter ausbauen. Im Frühjahr 1943 kam es auf seine Initiative zur Bildung des »Chemieblocks«, in dem, über die Zuständigkeitsgrenzen des RFR hinaus, endlich alle Angelegenheiten der Chemie koordiniert werden sollten. Thiessen wurde dabei die Federführung für sämtliche Fragen der Forschung übertragen. Damit erfuhr er einen »erneuten Machtzuwachs«51 – den letzten im Dritten Reich. Alles in allem hat Thiessens starke Rolle im RFR und seine Verankerung im REM nicht unerheblich dazu beigetragen, dass Thiessens KWI stets gut mit Mitteln versehen und modern ausgestattet war. Nach Angaben von Ute Deichmann gingen etwa 30 % der von der Fachsparte Chemie des RFR bewilligten Forschungsmittel an das Dahlemer Institut.52 Man muss allerdings in Betracht ziehen, dass der Löwenanteil des Institutsbudgets keineswegs vom RFR bestritten wurde. Die aus Quellen wie dem HWA, dem Reichswehrministerium, der DFG, dem RFR usw. stammenden Mittel bildeten ein nur Bruchteile der Gesamteinnahmen umfassendes Surplus zur etatmäßigen Grundfinanzierung. Wolfgang Biedermann,53 der die Finanzierung einer Reihe von Kaiser-WilhelmInstituten näher untersucht hat, gibt für das KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie im Zeitraum von 1933 bis 1944 einen Anteil der aus dem Haushalt des Reiches bzw. Preußens stammenden Etatmittel an der Gesamtfinanzierung von 84,5 % an.54 Die Mittel aber, die Thiessens Institut in der genannten Periode in toto erhielt, waren mit etwa 5,5 Mio. RM ungewöhnlich hoch (zum Vergleich: KWI für Chemie 2,6 Mio. RM, KWI für Metallforschung 3,7 Mio. RM).55 Decker nennt deshalb Thiessen den »Krösus aller Chemiker im Dritten Reich«56 und im historischen Rückblick erscheint dieser als einer der einflussreichsten und mächtigsten Wissenschaftler und Wissenschaftsmanager im nationalsozialistischen Deutschland. Im Übrigen scheint Thiessen in seinem Verantwortungsbereich als Fachspartenleiter des RFR und auch als Institutsdirektor bei der Ressourcenakquise nicht nur deutsche Institutionen im Auge gehabt zu haben. So versuchte er vom deutschen Eroberungskrieg zu profitieren und über seinen Beauftragten Erich Pietsch, Direktor des Gmelin-Instituts, die »außerordentlich ausgedehnten Apparatemengen« in den besetzten Ostgebieten, namentlich im ukrainischen Wissenschaftszentrum Charkow, für die deutsche Kriegsforschung zu sichern 51 Schmaltz 2005, S. 127. 52 Vgl. Ute Deichmann, Flüchten, mitmachen, vergessen. Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit. Weinheim 2001, S. 66. 53 Vgl. Wolfgang Biedermann, Struktur der Finanzierung von Instituten der Kaiser-WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (1924–1944), Berlin 2006, S. 65–77. 54 Vgl. ebd., S. 73. 55 Ebd., S. 59, 73, 131. 56 Decker 2016, S. 41.

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und »Apparate und Geräte, sowie insbesondere hinsichtlich des Personenstandes zu überprüfen und zum sachlichen Einsatz in Abstimmung mit den Aufgaben des Reichsforschungsrates zu bringen«57; »auf diese Weise (könnte)«, so Thiessen,58 »unter anderem eine Reserve gewonnen werden für den Ersatz reichsdeutscher Einrichtungen, die gegebenenfalls unter Feindeinwirkungen (z. B. Fliegerschäden) ausfallen.« Als im Herbst 1943 Italien das Bündnis mit Hitler-Deutschland aufkündigte und Italien von deutschen Truppen besetzt wird, versuchten Thiessen und Pietsch zudem Material aus italienischen Forschungsinstituten zu requirieren.59 Darüber hinaus nutzte Thiessen in den letzten Kriegsjahren die wissenschaftlichen Häftlingsgruppen im Konzentrationslager Flossenbürg für Spezialaufträge seines Instituts, namentlich für die geheime Kampfstoffabteilung von August Winkel.60 Allerdings ging sein affirmatives Verhältnis zum NS-Staat nicht so weit, dass er dessen bevorstehende Niederlage nicht bemerkt und sich darauf eingestellt hätte. Spätestens 1944 war die Zeit gekommen, über diesen Staat hinauszudenken und das Ressourcenensemble neu zu ordnen. So gibt es Indizien, dass er gegen Ende des Krieges von der Existenz einer kommunistisch orientierten Widerstandszelle an seinem Institut Kenntnis hatte und sie duldete. Der Pragmatiker Thiessen dürfte auch nüchtern im Voraus erwogen haben, wie er nach der anstehenden Niederlage Hitler-Deutschlands seine wissenschaftliche Arbeit unter angemessenen Bedingungen fortsetzen könnte. In der angelsächsischen Welt mit den vielen dort lebenden deutschen Wissenschaftsemigranten wäre dies wegen seines schlechten Rufs als ›NS-Vorzeige-Wissenschaftler‹, der in seiner Karriere von der Vertreibung der jüdischen Wissenschaftler aus dem früher von Fritz Haber geleiteten KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie immens profitiert hatte, kaum zu realisieren gewesen. Im zerstörten Deutschland selbst waren allein schon die materiellen Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Forschungstätigkeit denkbar ungünstig. Das alles sprach für die Sowjetunion als ultima ratio, und diese Möglichkeit wurde in dem Maße real, wie es mit dem Fortgang des Krieges wahrscheinlich wurde, dass die sowjetischen Truppen vor denen der Westmächte Berlin erreichen würden. Ein technisch gut ausgestattetes Forschungsinstitut musste der in 57 R. Mentzel, 25. 9. 1943. National Archives College Park RG 319, Entry 82a, Box 17, Folder ALSOS RFR 255, zitiert in Schmaltz 2005, S. 178. 58 P. A. Thiessen an R. Mentzel, 15. 7. 1943, National Archives College Park RG 319, Entry 82a, Box 17, Folder ALSOS RFR 255. (Sören Flachowsky machte uns freundlichst diesen Brief zugänglich.) 59 Vgl. Susanne Hein, »Die reine Luft der wissenschaftlichen Forschung«. Zum Selbstverständnis der Wissenschaftler der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (Präsidentenkommission »Geschichte der KWG im Nationalsozialismus«, Ergebnisse 7), Berlin 2002, S. 31. 60 Vgl. Schmaltz 2005, S. 184ff.; Steinhauser u. a. 2011, S. 134ff.

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Trümmern liegenden Sowjetunion hochwillkommen sein, und wenn Thiessen es gleichsam in ihre Hände legen könnte, würden sich auch für ihn selbst und seine Mitarbeiter am ehesten Chancen für einen Neustart ergeben. So etwa mag Thiessen gegen Kriegsende kalkuliert haben. Jedenfalls hat er sein Institut bis zum Kriegsende nicht nur arbeitsfähig gehalten, sondern auch alle Aufforderungen unterlaufen, es – wie die meisten anderen Dahlemer Institute – nach West- oder Süddeutschland zu verlagern. Als Ende April 1945 Dahlem durch die Rote Armee befreit wurde, konnte Thiessen der Besatzungsmacht ein intaktes Institut übergeben. Sowjetische Kommissionen inspizierten umgehend das Institut und stellten es unter den Schutz der Besatzungsmacht, was unkontrollierte Plünderungen, aber auch Übergriffe auf die Institutsmitarbeiter und ihre Familien verhinderte. Da die Rote Armee Dahlem auf Grund alliierter Absprachen Anfang Juli räumen und an die Amerikaner übergeben musste – im Vorfeld der Potsdamer Konferenz wurde Berlin unter den alliierten Siegermächten in vier Sektoren aufgeteilt –, wurde das Institut in den Wochen davor unter Anleitung Thiessens komplett demontiert und das Beutegut in die Sowjetunion verbracht. Thiessen selbst, der den abziehenden sowjetischen Truppen gefolgt und nach Ost-Berlin umgesiedelt war, wurde Wochen später zusammen mit seiner Familie und einigen engen Mitarbeitern nach Moskau ausgeflogen.61 Damit begann für Thiessen ein grundsätzlich neuer Lebensabschnitt, der ihn zusammen mit anderen internierten deutschen Wissenschaftlern als Mitarbeiter des sowjetischen Atombombenprogramms sah.62 Hochdekoriert kehrte er 1955 nach Berlin, in die sozialistische DDR zurück, wo ihm als Vorzeige-Wissenschaftler und in Schlüsselpositionen des DDR-Wissenschaftsmanagements eine letzte bemerkenswerte Karriere gelang. Seine Rolle im Dritten Reich wurde dabei nicht mehr hinterfragt, da – wie eine Mitteilung der Kaderabteilung der Humboldt-Universität feststellt – »aufgrund seiner langjährigen und erfolgreichen Tätigkeit als Wissenschaftler in der Sowjetunion (mehrfache Auszeichnung mit hohen Staatspreisen) […] eine negative Auswirkung seiner während der Nazizeit in Deutschland inne gehabten Stellung und Funktionen hinfällig sein« dürfte.63 Damit hatte es Thiessen sowohl in der stalinistischen Sowjetunion als auch in der sozialistischen und antifaschistisch geprägten DDR virtuos verstanden, die ganze Bandbreite seiner intellektuellen und gesellschaftlichen Ressourcen einzusetzen und den gegebenen Umständen fast chamäleonhaft und höchst effektiv anzupassen. Auf seine letzten drei Lebensjahrzehnte werden wir an anderer Stelle im Detail eingehen. 61 Vgl. Steinhauser u. a. 2011, S. 136f. 62 Vgl. Ulrich Albrecht/Andreas Heinemann-Grüder/Andreas Wellmann, Die Spezialisten. Deutsche Naturwissenschaftler und Techniker in der Sowjetunion nach 1945, Berlin 1992. 63 Bundesarchiv Berlin, ZB II 1994, Akte 12.

Anna Lindemann

Metamorphose. Von Hans Ernst Schneider zu Hans Werner Schwerte

Der in den 1990er Jahren berühmt gewordene Germanist, Kultur- und Wissenschaftspolitiker Hans Werner Schwerte war vor 1945 der germanische Volkstumsforscher und überzeugte Nationalsozialist Hans Ernst Schneider. Aber sind diese beiden Personen tatsächlich identisch? Was lässt sich anhand dieses Fallbeispiels über politische Brüche und wissenschaftliche Wandlungen im 20. Jahrhundert herausfinden? The German philologist, scientific and cultural politician Hans Werner Schwerte, well known since the 1990s, used to be Hans Ernst Schneider, a researcher of German Volkstum and a staunch Nazi before 1945. Are these two people really the same person? What does this case show about ‘political fractures’ and scientific changes in the twentieth century?

Geht man der Frage nach politischen Brüchen, wissenschaftlichen Wandlungen und Kontinuitäten biographisch nach, ist der berühmte Fall Schneider/Schwerte ein interessantes Untersuchungsobjekt, mit dem man sich auf das komplexe Terrain von Zeit-, Geistes-, Kultur- und Wissenschafts- sowie prekärer Maskierungs- und Verwandlungsgeschichte begibt.1 Hans Ernst Schneider alias Hans Werner Schwerte, geboren am 15. Dezember 1909 in Königsberg (Preußen), gestorben am 18. Dezember 1999 in Marquartstein bei Traunstein (Oberbayern), war ein Germanist, Kultur- und Wissenschaftspolitiker. Er ist in den 1990er Jahren dafür bekannt geworden, dass er seine Nazi-Identität vertuscht und unter falschem Namen eine nicht unbeachtliche Karriere in der Bundesrepublik durchlaufen hat. Seine Biographie umfasst also zwei Personen aus zwei verschiedenen Epochen der deutschen Geschichte, über deren Verhältnis seitdem gerätselt wird: den Nationalsozialisten und germanischen Volkstumsforscher Dr. Hans Ernst Schneider und den linksliberalen Germanisten Prof. Hans Werner Schwerte.2 Obgleich dieser Fall seit seiner Enttarnung besonders von 1 Vgl. Karl Müller, Vier Leben in einem – Hans Schneider/Hans Schwerte. Die Literaturwissenschaft als Selbstbekenntnis und Zufluchtsraum, in: Justin Stangl (Hg.), Sozio-kulturelle Metamorphosen, Heidelberg 2007, S. 80–81. 2 Vgl. Ludwig Jäger, Schneider, Hans, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 296–298

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Germanist/inn/en und Historiker/inn/en breit beforscht wird, ist die Frage nach den inhaltlichen Aspekten von Schneiders Metamorphosen bisher nicht oft gestellt worden.3 Im Folgenden soll der Frage nach Schneiders Kontinuitäten und Diskontinuitäten ohne Vollständigkeitsanspruch nachgegangen werden, und zwar in Bezugnahme auf wesentliche historische Bruchstellen des 20. Jahrhunderts (1933 und 1945) und in Bezugnahme auf Thesen von Mitchell Ash über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Die Nazifizierung Schneiders im Sinne einer Entwicklung von rhetorischen, wissenschaftlichen und alltagspraktischen Kollaborationen mit den Nationalsozialisten4 lässt sich schon vor deren Machtergreifung (1933) feststellen. So engagiert sich Schneider Anfang der 1930er Jahre in der »grenzdeutschen Volkstumsarbeit« und setzt sein in Berlin und Königsberg begonnenes Studium der Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft, Philosophie, Volkskunde und Urgeschichte zwei Semester lang in Wien fort.5 Hier hält der »großdeutsch empfindenden völkische Student« Vorträge, um dem Volke zu dienen und seiner Rolle als Teil der Reflexionselite gerecht zu werden.6 1933 absolviert Schneider einen freiwilligen Arbeitsdienst im Memeldelta, wo er bei Schachtungsarbeiten und in der »Volkstumsarbeit der DAF« (Deutsche Arbeitsfront) eingesetzt wird.7 1933 tritt Schneider auch in die SA (Sturmabteilung) ein, in diejenige Kampforganisation, die mittels ihrer Ausübung von Terror gegen politische Gegner eine entscheidende Rolle beim Aufstieg der Nationalsozialisten gespielt hat.8 Man kann hier durchaus von »Selbstmobilisierung«9 sprechen: Schneider erweist sich als eine Person, die sich nicht passiv in Dienst nehmen lässt, sondern im Rahmen der »Um- oder Neugestaltung von Ressourcenkonstellationen« die neu entstehenden »Ermöglichungsverhältnisse« wahr-

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[Onlinefassung], http://www.deutsche-biographie.de/pnd119413574.html (abgerufen am 28. 4. 2017). Vgl. Müller 2007. Vgl. auch: Alaida Assmann, Männer mit zwei Köpfen: Hans Schneider/ Schwerte und Bruno Doessecker/Binjamin Wilkomirski, in: V. Stoichita (Hg.), Das Double (Wolfenbütteler Forschungen, Band 113), Wiesbaden 2006, S. 249–265. Zum Begriff »Nazifizierung« vgl. Mitchell G. Ash, Verordnete Umbrüche – Konstruierte Kontinuitäten: Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995) 10, S. 904. Vgl. Jäger 2007. Bernd-A. Rusinek, Von Schneider zu Schwerte. Anatomie einer Wandlung, in: Wilfried Loth/ Bernd-A. Rusinek (Hg.), Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a. M./New York 1998, S. 164. Joachim Lerchenmueller, Hans Ernst Schneiders/Hans Schwertes Niederlande-Arbeit in den 1930er bis 1950er Jahren, in: Burghard Dietz/Helmut Gabel/Ulrich Tiedau (Hg.), Griff nach dem Westen. Die »Westforschung« der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960). Band 2, München/Berlin 2003, S. 1117. Vgl. Arnulf Scriba, Die Sturmabteilung (SA), 11. 9. 2015, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ ns-regime/ns-organisationen/sa/ (abgerufen am 23. 5. 2017). Vgl. Ash 1995, S. 903.

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nimmt, sie ausnutzt und mitgestaltet.10 Dazu nimmt er räumliche und institutionelle Wechsel (›Brüche‹) in Kauf bzw. führt sie selbst herbei. Eigenen Angaben zufolge promoviert Schneider 1936. Bis 1945 macht er im NS-Regime Karriere und versteht sich stets dorthin zu orientieren, wo für ihn die besten Arbeits- und Lebensbedingungen zu finden sind: 1936–37 ist er Stellvertretender Hauptabteilungsleiter in der Abteilung Volkstum und Heimat in der NS-Kulturgemeinde, 1937 wechselt er von der SA zur SS, 1938 wird er Hauptamtlicher Referent im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, dann Hauptamtlicher Referent der Forschungseinrichtung »Deutsches Ahnenerbe« der SS, 1942 schließlich SSHauptsturmführer, Leiter der Abteilung »Germanischer Wissenschaftseinsatz« des »Ahnenerbes« in Berlin und Schriftleiter der SS-Zeitschrift Die Weltliteratur.11 Das »Ahnenerbe« war eine willkommene Nische für promovierte Geistesund Kulturwissenschaftler, die wie Schneider am liebsten an der Universität geblieben wären. Im Krieg war der »Ahnenerbe«-Schreibtisch dann komfortabler als die Front. Zunächst (1938) wurde Schneider in Österreich eingesetzt bzw. setzte sich dort selber für den Raub der Bibliothek des Katholischen Universitätsvereins zu Salzburg ein. Dann bewarb Schneider sich auf Grundlage früherer Niederlande-Erfahrungen in Den Haag, wo er ab 1940 beim Stab des höheren SSund Polizeiführers Nordwest arbeitete.12 Auch am Kriegsende gehört Schneider zu denjenigen, die die neu entstehenden »Ermöglichungsverhältnisse« rasch wahrnehmen, sie ausnutzen und mitgestalten.13 Im Frühjahr 1945 wechselt Hans Ernst Schneider seine Identität und wird mit Hilfe von falschen Angaben und Papieren zu Hans Werner Schwerte. Nun ist er einer von schätzungsweise 80.000 »Braunschweigern« in Deutschland, wie die Nazis mit gefälschter neuer Identität derzeit im Volksmund genannt werden.14 Als Schreibtischtäter in verantwortlicher Position sind Schneiders Hände nicht sauber geblieben. Am meisten Sorge in Bezug auf seine wissenschaftliche Karriere bereitete ihm sicherlich seine indirekte Beteiligung an den KZ-Humanversuchen der SS-Ärzte Sigmund Rascher und August Hirt, denen er medizinisches Experimentiergerät von der Universität Leiden organisiert hatte.15 Dass es vielen (ehemaligen) Nazis im Laufe der Zeit gelingen würde, auch ohne Tarnung wieder in Lohn und Brot zu kommen, ließ sich damals nicht 10 Vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawliczek (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 19–37, S. 25, S. 36. 11 Vgl. Müller 2007, S. 84. 12 Vgl. Rusinek 1998, S. 145–147. 13 Vgl. Ash 2006, S. 36. 14 Müller 2007, S. 97. 15 Vgl. Jäger 2007.

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sicher vorhersehen. Mit verminderten Karrierechancen für hochrangige SSMitglieder16 und einer Bestrafung für die Beteiligung an der »wehrwissenschaftlichen Zweckforschung« des »Ahnenerbes«, deren verbrecherischer Charakter 1944 vom britischen »Feindsender« angeprangert wurde, war zu rechnen.17 So entschied sich Schneider im Zeichen der Zeit für einen radikalen Bruch und Neuanfang, der ihm Türen öffnete und Einstellungshindernisse an Universitäten aus dem Weg räumte. Die falschen Angaben, die er über sich und seinen Werdegang macht, sind frei von jeglicher Nazi-Kollaboration und weisen ihn soweit als wissenschaftlich qualifiziert aus, wie es der Glaubwürdigkeit keinen Abbruch tut. Wie sein neuer Name hat seine erfundene Biographie durchaus einen Bezug zu seiner Person. Nach zwei Jahren der Arbeitslosigkeit, in denen er an den Universitäten Hamburg und Erlangen-Nürnberg studiert, erhält er 1947 eine Anstellung am Deutschen Seminar der Universität ErlangenNürnberg als Wissenschaftlicher Assistent bei Heinz Otto Burger. Nun steht seiner Karriere in der Germanistik nichts mehr im Weg. Er promoviert 1948, seinen späteren Angaben nach zum zweiten Mal, nun über das zeitgenössische Modethema Rilke.18 1958 erfolgt die Habilitation mit der Arbeit Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Schwerte ist nun Universitätsdozent und Leiter der Theaterwissenschaftlichen Abteilung des Germanistischen Seminars. 1964 wird er erst zum außerordentlichen Professor an der RheinischWestfälischen Technischen Hochschule Aachen berufen, 1965 dann zum Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte. Von 1970 bis 1973 ist Schwerte sogar Rektor der RWTH Aachen. Von 1964 an bis über seine Emeritierung (1978) hinaus ist er Beauftragter des Landes Nordrhein-Westfalen für die Pflege und Förderung der Beziehungen zwischen den Hochschulen Nordrhein-Westfalens, der Niederlande und Belgiens. Sowohl im NS-Regime als auch in der BRD wurde Schneider bzw. Schwerte als außergewöhnlich fähig und verdienstvoll wahrgenommen und geehrt: 1983 erhielt er die Honorarprofessur für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Salzburg und das Bundesverdienstkreuz erster Klasse der BRD. Von den Nazis hatte er 1941 das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse für seine »hervorragende Erfüllung von Sonderaufgaben« für den Reichskommissar erhalten.19 In Bezug auf Schneiders/Schwertes Wissensfelder sowie sein wissenschaftliches Handeln gibt es Brüche und Kontinuitäten: Kontinuität lässt sich z. B. in seiner Rolle als Wissenschafts- und Kulturproduzent sowie -Organisator aus16 Ab November 1944 war Schneider der höchstrangige in Berlin verbliebene erbe-Mitarbeiter und mit der Führung von »Geheimen Reichs- und Kommandosachen« beauftragt (Rusinek 1998, S. 152–153). 17 Vgl. Rusinek 1998, S. 153. 18 Vgl. ebd., S. 156. 19 Vgl. Jäger 2007, S. 85.

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machen, in seiner Tätigkeit schreibend und redend Networking zu betreiben und Denkstile zu verbreiten. Seine Kollaborationen haben in beiden politischen Systemen der eigenen Karriere sowie epistemischen und politischen, quasi nationalpädagogischen Zwecken gedient. Die Art des erzeugten Wissens und seine ideologische Ausrichtung änderten sich jedoch in den Jahrzehnten nach Kriegsende zunehmend. Als »Ahnenerbe«-Mitarbeiter war es Schneiders Aufgabe gewesen, die Nazifizierung voranzutreiben, zu diesem Zwecke Kollaborationen aufzubauen und in koordinierter Infiltrationsarbeit die germanischen Randländer zu einem rassistisch-europäischen Denken im Sinne der SS zu erziehen. Er betrieb und organisierte Propaganda für die Idee eines germanozentrischen Europas.20 In der BRD wird Schwerte zu einem Vertreter und Vorreiter der linksliberalen Professorenschaft, der – wie er selbst sagt – mithelfen wollte, ein anderes Deutschland aufzubauen.21 Er betrieb zunehmend »Entnazifizierung« im Sinne einer rhetorischen und konzeptionellen Entflechtung seiner Wissenschaft aus ihren früheren kollaborativen Zusammenhängen.22 Der Weg dorthin war jedoch steinig und nicht immer gradlinig. Während einer Phase des orientierungslos wirkenden Ressentiments gegen die künstlerische Moderne23 fand Schwerte neuen Halt in seiner Arbeit an Buchprojekten, an denen auch ehemalige SS-Kameraden wie Wilhelm Spengler beteiligt waren. In seinem umfassenden Beitrag für die Literaturgeschichte Annalen der deutschen Literatur (1952) greift Schwerte auf den germanistischen Mainstream der 1920er Jahre zurück und bleibt den Kategorien der völkischen Literaturbetrachtung treu, während die Literatur der Vertriebenen nicht gekannt oder gewürdigt wird. In den Sammelbändern Denker und Deuter im heutigen Europa (1954) und Forscher und Wissenschaftler im heutigen Europa (1955) jedoch zeigt sich ein »Einkapseln oder Überschreiben« von nationalsozialistischen Kernideologemen und damit ein Europa-Ideal neuer Prägung.24 Während Schwertes Texte in Vor- und Rückgriffen auf Gewesenes und Kommendes Teil des jeweils vorherrschenden literaturwissenschaftlichen Diskurses bleiben oder ihn sogar vorwegnehmen, ändern sich Art und Zielrichtung seiner Untersuchungen sukzessive.25 Schwertes eindrücklichster und innovativster wissenschaftlicher Beitrag, der gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der individuellen und kollektiven Vergangenheit darstellt, besteht in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Ideologien. In den 1950er Jahren beginnt er eine Analyse von (u. a. für ihn 20 21 22 23

Vgl. Rusinek 1998, S. 147–149. Vgl. ebd.; Müller 2007, S. 115. Vgl. Ash 1995, S. 904. Vgl. Hans Schwerte, Moderne Kunst – Mut oder Ausflucht?, in: Die Erlanger Universität 6 (1953) 3, o. S. 24 Vgl. Rusinek 1998, S. 171–172; vgl. Müller 2007, S. 102–104. 25 Vgl. Müller 2007, S. 116.

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wesentlichen) Leitbegriffen, Wörtern und Vorstellungsbereichen in ihren unterschiedlichen historischen Verwendungsweisen. Er geht ihren Vereinnahmungen, Umdeutungen, Instrumentalisierungen und Missbräuchen nach und erkundet ihr Potential für ganze Ideologiekomplexe. Später erweitert er seine Untersuchungsobjekte um mythische Gestalten und Bilder.26 Ein Ergebnis dieses neuen Ansatzes ist seine von Zeitgenossen als progressiv wahrgenommene Habilitationsschrift über Faust und das Faustische (1958), die nach Rusinek weder mit Einkapselungs- noch mit Rückgriffshypothesen erklärbar ist.27 Schwertes Wortrecherchen werden zur Grundlage seiner wichtigsten Arbeiten und bekommen zunehmend die Funktion, Ideologietraditionen aufzubrechen. Als Ideologiekritiker und Autor von kritischen Diskursgeschichten ist Schwerte Wegbereiter des sich entwickelnden linksliberalen germanistischen Milieus.28 Schwertes literarische Interessen und Vorlieben, sein Analyseansatz sowie seine Weltanschauung haben sich geändert: Aus einer Person, die sich scheinbar distanzlos in den Dienst von ethnischen »Säuberungen« gestellt hat, die als Teil einer autoritären Bewegung mit strikten Kategorisierungen der Ambiguität des menschlichen Lebens den Garaus zu machen versuchte, ist jemand geworden, der ein besonderes Interesse an dem nun positiv konnotierten Ambivalenten, Zwielichtigen und Zwittrigen entwickelt hat und der – z. B. 1967 in seiner Aachener Antrittsvorlesung – dafür einstand, »das Wagnis der Zweideutigkeit auf sich [zu] nehmen«, denn »verantwortlicher Zeitgenosse ist man nicht im Rückzug auf das Gewohnte und Gewußte«.29 Explizit wird sein nun antifaschistischer und demokratischer pädagogischer Impetus z. B. 1965 bei seiner Teilnahme an den »Nürnberger Gesprächen« Hermann Glasers.30 Hier wendet sich Schwerte gegen eine pathologisierende Deutung der SS-Männer und beharrt auf der fundamental wirkenden kollektiven Kraft des Rassismus, die die Mordaktionen ermöglicht hätte.31 Seinen rassistischen Standpunkt hat er hinter sich gelassen. Hans Schneider und seine Wissenschaft haben eindeutig eine Metamorphose durchgemacht, deren Ausgangspunkt und Rahmenbedingungen durch die großen politischen Umbrüche (besonders 1945) geschaffen wurden. Wie viel (Dis-)Kontinuität lässt sich dabei ausmachen? Handelt es sich um einen tatsächlichen oder um einen rein inszenierten Identitätswechsel vom SS-Intellek26 Vgl. ebd., S. 91, S. 106–107, S. 112. 27 D. h. hier findet sich kein »Einkapseln oder Überschreiben« von nationalsozialistischen Kernideologemen sondern tatsächlich etwas Neues (vgl. Rusinek 1998, S. 171–173). 28 Vgl. Müller 2007, S. 109–111. 29 Ebd. S. 92, S. 112, S. 108. 30 Vgl. Hans Schwerte, Ideologische Stereotype und Leitbildmodelle als Integrationsformen der Gesellschaft, Freiburg 1966. 31 Vgl. Rusinek 1998, S. 157; Müller 2007, S. 86–87.

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tuellen zum linksliberalen Reformprofessor? Oder hatte Schneider als »Mimikry-Künstler«32 nur seinen sozialen Erfolg im Sinn, für den er ohne innere Überzeugungen den jeweils passenden Denkstil produzierte? In Bezug auf die Kategorien Wandlungen, Brüche und Kontinuitäten ist festzustellen, dass eine dualistische Betrachtungsweise zu kurz greift, weil sich in Biographien und in historischen Verläufen immer ein komplexes Geflecht von Kontinuität und Diskontinuität finden lässt, auch bei Schneider/Schwerte. Im Rückblick sprechen alle Indizien dafür, dass Schneiders Selbst-Entnazifizierung erfolgreich war. Seine ›mentale Disposition‹, die ihm jeweils passende Verhaltensweisen und Inszenierungen ermöglicht hat, scheint sich schließlich selbst im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit verändert zu haben. Gerade der historische Ansatz Schwertes war wohl nicht nur ein Instrument zur Wissensproduktion, sondern auch ein therapeutisches Medium der Selbstanalyse. Wie fragwürdig Schneiders Identitätswechsel auch immer sein mag: Er hat mit dieser Methode der Selbstinszenierung den eigenständigsten und produktivsten Weg einer Selbst- und Weltveränderung gefunden. Ob ursprünglich beabsichtigt oder nicht, hat er sich auf diese Weise letztendlich radikaler entnazifiziert als so mancher, der durch Internierungsmaßnahmen bestraft und bekehrt werden sollte. Das Ergebnis – ein erfolgreiches zweites Wissenschaftlerleben im tätigen Bemühen um Frieden und Demokratie – hätte dem Wunsch der Alliierten entsprochen.

32 Vgl. Müller 2007, S. 82.

Visualisierung und Mediatisierung

Margit Berner

Die Kopie als Objekt. Abgüsse in der Anthropologischen Sammlung des Naturhistorischen Museums

Anhand der Bestände der Abguss-Sammlung der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums wird der Frage nach der Bedeutung von Abgüssen in der Anthropologischen Forschung nachgegangen. Zudem werden schlaglichtartig Aspekte des Wandels in der Sammlungs- und Forschungspraxis, aber auch bei der Popularisierung anthropologischer Forschung angesprochen. Based on the cast collection of the anthropological department of the Natural History Museum the question of the role of casts in anthropological research will be examined. In addition, aspects of changes in collection and research practice as well as in the popularization of anthropological research will be addressed.

Einleitung Man würde annehmen, dass die Anthropologische Sammlung ihr Inventar mit einem besonderen Schädel oder Skelettfund beginnt. Insofern verwundert es, wenn die Überschrift der ersten Seite lautet: »Natürliche Menschenschädel und Nachbildungen verschiedener Provenienz, 1877«. Unter den ersten sechs Einträgen finden sich vier Schädelabgüsse, eine Totenmaske und ein originaler Schädel. Die Inventarnummern eins bis vier sind Gipsabgüsse von »Schädeln von Australiern«, ein Geschenk des Gründungsintendanten des Naturhistorischen Museums, Ferdinand von Hochstetter und erster Leiter der Anthropologisch-ethnographischen Abteilung. Auf ihn geht die Schaffung der Anthropologisch-ethnographischen Abteilung zurück. Inventarnummer fünf ist ein ›echter‹ Schädel aus Nordwest-Indien aus der von Ferdinand Stoliczka an das zoologische Hofkabinett gesandten Sammlung. Aufgenommen wurde er von Franz Heger, zunächst wissenschaftlicher Assistent und nach Hochstätter Leiter der Anthropologisch-ethnographischen Abteilung. Die letzte Nummer der ersten Seite verzeichnet eine Totenmaske aus der Sammlung von Baron Anatol von Hügel. Josef Szombathy, erster Kustos der anthropologischen Sammlung, beschriftete die Schädel und Abgüsse mit Tusche, nahm die Inventarbucheinträge

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vor und unterzeichnete die Seite am 16. Dezember 1884, fünf Jahre vor der Eröffnung des Museums an der Ringstraße. Doch was bedeutet das? Besaßen Originale und Kopien damals den selben Stellenwert? Haben Umstände – wie das älteste gesammelte Stück aus den kaiserlichen und staatlichen Sammlungen, die in den Erwerb involvierten Personen, wie der Sammler, der Schenker oder derjenige, der das Objekt inventarisierte, – mehr Bedeutung als die Objekte selbst? Gleichsam spiegelt die erste Seite des Inventarbuchs die Gründungsgeschichte der Anthropologischen Abteilung und Sammlung wider. Doch um welche Objekte handelt es sich hier eigentlich? Es sind Abgüsse von Schädeln von Australiern und ein »natürlicher Schädel« aus Nordwest Indien. Sie stellten für damalige anthropologische Sammlungen außergewöhnliche und seltene Funde dar, Exoten, in gewisser Weise Trophäen, die nicht alltäglich zu erwerben waren. Damit trat die Materialität hinter der geographischen, taxonomischen Bedeutung zurück. Insofern ist es dann doch nicht verwunderlich, dass sich diese sechs Objekte auf der ersten Seite des Inventarbuches finden. Aus dieser Betrachtung heraus wird erkennbar, dass der Wert oder die Wichtigkeit eines Abgusses sich wandelt und nach der wissenschaftlichen Einordnung des Originals, der Art des Erwerbes, dem museologischen Marktwert, der davon abhängt, wie viele Abgüsse im Umlauf und wie leicht diese zu erwerben sind; ferner der Qualität des Abgusses, der Verfügbarkeit des Originals sowie dem zeitlich-historischen Kontext und der in den Erwerb involvierten Personen richtet. Darüber hinaus zeigen die ersten Einträge der Anthropologischen Sammlung, dass die Institution Museum und seine Sammlungen, nach dem Ansatz von Mitchell Ash im Sinne eines vielschichtigen »Ressourcenensembles« und als Spiegel sich ständig verändernder Vernetzungen zwischen Wissenschaft und Politik gesehen und analysiert werden können, und dabei auch wissenschafliche Wandlungen und Brüche sichtbar werden.1

Abformungen von lebenden und toten Menschen Über die Erwerbsumstände, wie die Forscher und Sammler zu den eingangs angeführten Abgüssen kamen, geben das Inventarbuch und die Abteilungskorrespondenz keine Auskunft. Hier bedarf es noch weiterführender Recherchen. Zumeist wurden solche Abgüsse von anatomischen oder historischen und ar1 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/ Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten, Stuttgart 2002, S. 32–51.

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chäologischen Menschenfunden hergestellt und durch Kauf oder Tausch erworben. In der Forschung und im Museum dienten sie als Vergleichsobjekt und wurden beispielsweise als typische Vertreter einer »Rasse« gezeigt. Dies lässt sich für die Ausstellungen im Naturhistorischen Museum für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zu dem umstrittenen Rassensaal belegen. Heute werden diese Abgüsse kaum mehr für physisch-anthropologische Fragestellungen herangezogen. Vielmehr stehen sie für einen Wandel von naturkundlichen Objekten zu einer historischen Quelle und werden zunehmend im Kontext der Institutionen-, Fach- und Wissenschaftsgeschichte erforscht. Abdrücke von Gesichtern von lebenden und toten Menschen haben eine lange Tradition und sind aus verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten bekannt.2 Gesichts- und Totenmasken bedeutender Personen finden sich in vielen Museen, Bibliotheken, Archiven und anderen Orten. In Ausstellungen, die die Biografien bekannter Personen adressieren, werden oftmals Abformungen des Gesichtes (oder bei Musikern der Hände) als besonderes Andenken und Erinnerungsstück an die verstorbene Person gezeigt.3 In der Geschichte der physischen Anthropologie haben Abformungen eine andere Bedeutung. Auch hier reicht die Tradition bis in das 18. Jahrhundert zurück, jedoch wurden solche Abformungen unter medizinischen, ethnographischen und physiognomischen Gesichtspunkten gemacht. Für die Sammlungen der physischen Anthropologen entstanden Abformungen von Menschen oft in Zwangssituationen wie Gefängnissen, Polizeistationen oder militärischen Einrichtungen, die von kolonialen oder nationalsozialistischen Herrschaftsstrukturen und der Definitionsmacht von Wissenschaftlern und Behörden geprägt waren. Dabei wurden oft ethische, persönliche und religiöse Grenzen der Betroffenen überschritten. Indem man mittels der Abformung einer Repräsentation des Körpers habhaft geworden war, konnte man ihn untersuchen und zeigen, ohne mit dem widerständigen Subjekt weiter verhandeln zu müssen.4 Masken und Körperabformungen scheinen zudem eine Art Hybridobjekt zu sein, kein menschlicher Überrest und doch etwas sehr Unmittelbares, da sie ja durch Körperkontakt entstanden sind, und zwar durch den Kontakt mit dem Material sowie dem Körper des Abformenden. Durch die Berührung mit dem Gesicht und Körper des Menschen, von dem sie abgenommen wurden, haben sie auch etwas sehr Intimes. Die in Gips festgehaltenen Gesichter stehen somit nicht nur für die Transformation/Umwandlung von Abbildungen lebender Menschen 2 Jan Gerchow/Hans Belting (Hg.), Ebenbilder, Kopien von Körpern – Modelle des Menschen, Ostfildern-Ruit 2002. 3 Michael Hertl, Totenmasken. Was vom Leben und Sterben bleibt, Stuttgart 2002. 4 Margit Berner/Anette Hoffmann/Britta Lange, Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2011.

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zu Museumsobjekten, sondern jede Gesichtsmaske stellt auch ein Zeugnis des Aufeinandertreffens des Forschers mit dem jeweiligen Erforschten dar. Die Forschungen zu den im Naturhistorischen Museum verwahrten Masken und Beständen »rassenkundlicher« Untersuchungen aus der Zeit des Nationalsozialismus haben nicht nur Kontinuitäten und Brüche in inhaltlicher und personeller Sicht aufgezeigt, sondern darüber hinaus auch die Verflechtungen von Forschung, Sammlung, Ausstellung und Politik sichtbar gemacht. Die Masken und anthropologischen Vermessungen stellen heute nicht nur eine Quelle für die Institutions-, Fach- und Wissenschaftsgeschichte dar, sondern sind auch eine Quelle zur Verfolgungsgeschichte der Juden in Österreich. Die Jahrzehnte lang als »rein biologische Daten« und »Sammlungsteile« aufbewahrten Zeugnisse erwiesen sich für Überlebende und Angehörige als ganz persönliche Erinnerungsstücke, als ein Teil ihrer Familiengeschichten.5

Abgüsse von Hominidenfossilien Abgüsse wurden aber nicht nur von anatomischen, historischen und archäologischen Funden gesammelt, sondern auch von fossilen Skelettresten menschlicher Vorfahren. Neue Erkenntnisse zur Hominidenevolution aber insbesondere neu entdeckte Fossilien sorgten und sorgen für ein Medienecho und erwecken die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen community genauso wie die der Allgemeinheit. Als einzigartige und seltene Funde zählen Hominidenfossilien zu den herausragendsten Objekten einer Museums- oder Universitätssammlung. Früher wurden Fossilien in jene Länder gebracht, denen der Entdecker oder Ausgräber angehörte. Dementsprechend gelangten in der Kolonialzeit einige Fossilien nach Europa.6 Heute zählen viele Fundstellen zum Weltkulturerbe, und Hominidenfossilien werden in jenen Ländern aufbewahrt, wo sie gefunden werden. In der Lehre und Wissenschaft benützen Forscherinnen und Forscher dreidimensionale möglichst originalgetreue Kopien, um Funde direkt miteinander vergleichen zu können. Museen und Ausstellungen vermitteln mittels Abgüssen bedeutende Funde und Erkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit. Anders als bei den früheren Ausstellungen der Anthropologischen Abteilung 5 Claudia Spring, Staatenloses Subjekt, vermessenes Objekt: Anthropologische Untersuchungen an staatenlosen Juden, in: Zeitgeschichte 30 (2003), S. 163–170; Margit Berner, Nazi Anthropology and the Taking of Face Masks. Face and Death Masks in the Anthropological Collection of the Natural History Museum, Vienna, in: Paul Weindling (Hg.), From Clinic to Concentration Camp Reassessing Nazi Medical and Racial Research, 1933–1945, London/New York 2017, S. 121–137. 6 Phillip V. Tobias, The ownership of the Taung skull and of other fossil hominids and the question of repatriation, in: Palaeontologia africana 41 (2005), S. 163–173.

Die Kopie als Objekt

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am Naturhistorischen Museum liegt der Schwerpunkt der 2013 eröffneten Dauerausstellung auf dem Gebiet der Hominidenevolution.7 Dies ist nicht zuletzt auch als eine Reaktion auf Kritiken der früheren Ausstellung insbesondere dem sogenannten Rassensaal zu sehen.8 In der neuen Ausstellung werden aus der Anthropologischen Sammlung fast ausschließlich Abgüsse von Fossilien, ferner Modelle und 3D-Drucke gezeigt. Schon seit der Entdeckung der ersten Hominidenfossilien in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist es üblich, Kopien herzustellen und zu verteilen. Erste Fossilabgüsse gelangten Ende der 1870er Jahre in die Wiener Sammlung, darunter der Abguss der 1857 in der Kleinen Feldhofer Grotte im Neandertal entdeckten Schädeldecke, dem Typusexemplar der fossilen Menschenart Homo neanderthalensis. Im Laufe der Zeit erfolgte die Erweiterung dieses Sammlungsbestandes durch Schenkungen, Tausch und Ankauf. Getauscht wurden sowohl in der Abteilung hergestellte Abgüsse als auch Schädel, die zumeist aus Beinhäusern stammten. Verschiedene Vereine, Museen und Firmen gründeten im 20. Jahrhundert eigene Programme um Abgüsse für Lehr- und Ausstellungszwecke zugänglich zumachen.9 Doch nicht immer ist der Erwerb eines Abgusses eines gewünschten Fossils möglich. Oftmals sind Abgüsse von neuen Funden erst nach dem Erscheinen, einer umfassenden Erstbeschreibung erhältlich. Zudem werden häufig nur herausragende Funde, zumeist Schädel, abgeformt, während postkraniale Elemente oder kleinere unvollständigere Fossilien seltener repliziert und gehandelt werden. Von manchen Funden sind nur nach Fotografien angefertigte Modelle erhältlich.10 Allerdings erlauben neue 3D-Drucktechniken die Anfertigung von Repliken aus 3D-Laserscan- oder Computertomographiedaten ohne Berührung des Fossils oder risikobehafteten Abformprozess. Auch Ergänzungen und das Zusammenfügen der Bruchstücke werden zunehmend virtuell durchgeführt. Hierbei lassen sich leichter mehrere Interpretationen der Zusammenfügung ausprobieren und gegenüberstellen als bei von Hand zusammengefügten Rekonstruktionen.11 Die Zugänglichkeit zu guten Abgüssen und Repliken beeinflusst jedoch sowohl die Forschung, welche Funde zum Vergleich herangezogen werden können, als auch Ausstellungspräsentationen, welche Kopien und 7 Maria Teschler-Nicola/Katarina Matiasek, Mensch(en) werden, Wien 2016. 8 Klaus Taschwer, Anthropologie ins Volk. Zur Ausstellungspolitik einer anwendbaren Wissenschaft bis 1945, in: Herbert Posch/Gottfried Fliedl (Hg.), Politik der Präsentation. Museum und Ausstellung in Österreich 1918–1945, Wien 1996, S. 238–260. 9 Beispielsweise R. F. Damon & Co, Wenner Gren Foundation, France Casting, University of Pennsylvania Museum, Kenya National Museum, University of Witwatersrand u. a. 10 https://boneclones.com/category/fossil-hominids (abgerufen am 20. 1. 2018). 11 Siehe dazu Gen Suwa/Berhane Asfaw/Reiko T. Kono/Daisuke Kubo/C. Owen Lovejoy/Tim D. White, The Ardipithecus ramidus skull and its implications for hominid origins, in: Science 326 (2009), S. 68e1–7.

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Margit Berner

in welcher Qualität eine Institution zeigen kann, bis hin zu unseren kollektiven Vorstellungen und Wissen über die Morphologie und das Aussehen der Fossilfunde.12

Schluss Abformungen von Skelett- und Körperteilen finden sich in vielen anthropologischen Sammlungen. Ihre Anzahl ist jedoch im Verhältnis zu den Sammlungen von Schädeln, Skeletten, Haarproben, Fotografien, Hautleistenabdrücken und Messdaten gering. Als eigenständige Sammlung wurde die Abguss-Sammlung im Naturhistorischen Museum erst 1991 mit der Schaffung einer neuen Museumsstelle etabliert und alle Abgüsse, Repliken und Rekonstruktionen aus den Beständen der Anthropologischen Abteilung dafür zusammengeführt. Die Abguss-Sammlung umfasst über 2000 Inventarnummern und lässt sich inhaltlich in mehrere Bereiche untergliedern. Den größten Teil bilden Abgüsse von Hominidenfossilien und fossilen Primaten. Weitere Bestandsgruppen versammeln Abgüsse von rezenten und (prä-)historischen Schädel- oder Skeletteilen sowie plastische Rekonstruktionen. Einen umfangreichen Bestand bilden Masken und Abformungen von Körperteilen, die zum überwiegenden Teil aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen und im Kontext der damaligen »Rassenkunde« stehen. Obzwar Abgüsse von Fossilien oder Skelettteilen im Vergleich zu unwiederbringlichen Originalen keinen oder nur einen geringen monetären Wert darstellen, sind und waren sie für Museen und Universitäten wichtige Bestände für die Forschung, Lehre und Bildung. Als Vergleichs- und Präsentationsobjekte prägen und prägten sie mit auch unsere Ideen, Vorstellungen und Wissen bezüglich der Hominidenevolution. Masken und Abgüsse von Schädeln und Skeletten wurden als materielle Illustrationen von theoretischen Konzepten von Typologie und »Rasse« gesammelt und der Öffentlichkeit präsentiert. In diesem Zusammenhang trat die Identität der Menschen, von denen die Masken abgenommen wurden, zurück. Darüber hinaus sind die Abgüsse, Rekonstruktionen und Körperabformungen wichtige Quellen für wissenschafts-, museums- und kulturgeschichtliche Studien.

12 Siehe dazu Susan C. Anton; Commentary : A discussion of ethical issues in skeletal biology, in: Trudy R. Turner, Biological Anthropology and Ethics. From Repatriation to Genetic Identity, Albany 2005, S. 133–148.

Birgit Nemec

Visuelle Kulturen der Anatomie in Zeiten politischer Umbrüche

Anatomische Lehratlanten, die Flaggschiffe eines jeden anatomischen Institutes und materieller Ausdruck einer Perspektive in der Anatomie, sind mit dem Aufbau und der Funktion des normalen Körpers befasst. Doch wie verändern sich diese Darstellungen der Norm, diese Medien visueller Kulturen der Wissenschaften, in Zeiten politischer Umbrüche? Mein Beitrag geht dieser Frage anhand ausgewählter Schlüsselquellen nach und zeigt, wie umstritten die Vorstellungen von Norm und Reform in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren. Anatomical teaching atlases, the flagships of every anatomical institute, are materializations of an anatomical perspective and show the structure and function of the normal body. But how do these representations of norm, these media of visual cultures of science, change in times of political change? My contribution follows this question along three key sources and shows how contested assumptions of norm and reform were in the first decades of the twentieth century.

Bei der Beschäftigung mit Anatomie und politischen Umbrüchen im 20. Jahrhundert stellt der anatomische Atlas von Eduard Pernkopf (1888–1955) einen kaum zu umgehenden Fixpunkt dar. In der Forschungsliteratur fand vor allem der Umstand Beachtung, dass der überzeugte Nationalsozialist, Inhaber der Anatomischen Lehrkanzel und Rektor der Universität Wien für sein LehrbuchGroßprojekt Topographische Anatomie des Menschen1 unter der NS-Herrschaft Leichen von Exekutionsopfern an sein Institut anliefern ließ. Ebenso wurde besprochen, dass Hakenkreuze in die Bilder des in der Nachkriegszeit sehr geschätzten Anatomieatlas integriert wurden.2 Wie mit wissenschaftlichen Vi1 Eduard Pernkopf, Topographische Anatomie des Menschen. Lehrbuch und Atlas der regionärstratigraphischen Präparation (4 Bände), Berlin/Wien/u. a. 1937–1960. 2 Vgl. die Arbeiten von Sabine Hildebrandt/Karl Holubar/Peter Malina/Scott Norton/David Querido und vielen mehr, sowie: Akademischer Senat der Universität Wien (Hg.), Senatsbericht der Universität Wien. Untersuchungen zur Anatomischen Wissenschaft in Wien 1938–1945. Senatsprojekt der Universität Wien, unveröffentlichtes Manuskript in der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien, Wien 1998.

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Birgit Nemec

sualisierungen umzugehen ist, die hinsichtlich ihrer Herstellung im Kontext eines faschistischen Unrechtsregimes aus ethischer Sicht kritisch zu bewerten sind, stand bei diesen Analysen im Mittelpunkt. Weniger Beachtung fand hingegen bislang die Fragestellung, wie politische Veränderungen als Teil der Umgebungskultur wissenschaftlichen Handelns direkt oder indirekt die Praxis der anatomischen Darstellung selbst prägten. Um dieser Frage nachzugehen, weitet mein Beitrag den Blick über den besser bekannten Fall des Pernkopf-Atlas auf zwei weitere Quellen aus, die im besonderen Maße durch Phasen politischer Veränderungsprozesse geprägt waren: Toldt-Hochstetters Anatomischer Atlas (1900–04)3 und Tandlers Lehrbuch der systematischen Anatomie (1919–29)4. Ziel ist es, anatomische Visualisierung als kulturelle Praxis in Zeiten wissenschaftlicher Umbrüche genauer zu untersuchen.

1914 – Toldt-Hochstetters Anatomischer Atlas: Vom Fin de Siècle in den Ersten Weltkrieg Im Jahr 1900 erschien ein anatomisches Lehrbuch, das sowohl als Vorgängerprojekt von Pernkopfs anatomischem Atlas bezeichnet werden kann, als auch für den Wiener Kontext, gemessen an den Auflagen, als das erfolgreichste im 20. Jahrhundert: Toldts Anatomischer Atlas, herausgegeben von Carl Toldt (1840–1920) und seinem Nachfolger und Schüler Ferdinand Hochstetter (1861–1954). Für den deutschsprachigen Raum wurde das Buch bis in die 1960er Jahre regelmäßig wiederaufgelegt, in Übersetzungen erschien es bis in die 1980er Jahre; teilweise findet sich der »Toldt« noch in heutigen Handapparaten anatomischer Institute. Im Fin de siHcle, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der folgenden Neuordnung Europas, entwarf der Anatom und Anthropologe Toldt eine für das späte 19. Jahrhundert typische fragmentierende, sammelnde, beobachtende, systematisierende, wissenschaftlich-objektive Anatomie. Darunter verstand man an Toldts II. Anatomischem Lehrstuhl eine naturgetreue, deskriptive Wiedergabe einer Sektionsszene. Der Stil der vier Bände vermittelt Qualität und Tradition: Hochwertige Seiten, bedruckt auf dünnem, aber solidem Qualitätspapier mit dem traditionellen Holzdruckverfahren, zeigen einen einzelnen mit Anmerkungen versehenen Holzschnitt (Abb. 1) und sind gebunden in teure schwarze Hardcover-Ledereinbände mit goldenen Stanzen auf Buchdeckel und -rücken. 3 Carl Toldt (Hg.), Anatomischer Atlas für Studierende und Ärzte. 4 Bände, Berlin/Wien 1900–1904. 4 Julius Tandler, Lehrbuch der systematischen Anatomie. 4 Bände, Leipzig 1919–1929.

Visuelle Kulturen der Anatomie in Zeiten politischer Umbrüche

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Abb. 1: Im Toldt-Hochstetter-Atlas wird der Körper übersichtlich beschrieben. Viele der Darstellungen erinnern an Praktiken des Sammelns und naturgetreuen Archivierens (Toldt 1918, Fig. 81).

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Birgit Nemec

1918, als das Habsburgerreich zerfiel und Wien sich in einem wesentlich kleineren, ethnisch homogeneren Österreich, der Ersten Republik, wiederfand, hatte sich Toldt, der seit den Badeni-Krawallen von 1897 für völkische Studierende eine Leitfunktion übernommen hatte, für eine »große deutsche Kulturgemeinschaft« und die engen Bande mit den »Schwesternanstalten im Reiche« eingesetzt.5 Nach Toldts Tod 1920 übernahm Hochstetter nicht nur die Herausgeberschaft des Atlas, er sah sich auch als Bewahrer von Toldts Anatomie des Fin de SiHcle und Leitfigur jener Gruppe innerhalb der Fakultät und der Studentenschaft, für die Toldt für Sicherheit und Verbundenheit mit den reichsdeutschen Universitäten gestanden hatte und die in Folge an der II. Lehrkanzel über die gesamte Zwischenkriegszeit hinweg tonangebend bleiben sollte. In den schwierigen Nachkriegsjahren – an der Anatomie waren wertvolle Präparate mangels Heizmaterial eingefroren6 – orientierte sich Hochstetter am theoretisch-analytischen Ansatz der deutschsprachigen Forschungsgemeinschaft und suchte nach Wegen, Toldts Ideal der Naturtreue durch den Einsatz von Fotografie zu perfektionieren. In der Phase des politischen Umbruchs stand der ToldtHochstetter Atlas, wie er nunmehr genannt wurde, ein Stück weit für eine Entsolidarisierung mit der Republik, vor allem aber für den Bruch mit Popularisierung, klinischer Anwendung und Utilitarismus der neuen Stadtverwaltung.

1919 – Julius Tandlers Lehrbuch der systematischen Anatomie: Vom Ersten Weltkrieg in die Zeit des Roten Wien Im Jahr 1919 – und bezeichnenderweise nicht bereits 1918 – erschien ein Vorgängerprojekt von Pernkopfs Atlas, das hinsichtlich der Langlebigkeit der Bilder als das erfolgreichste zu werten ist. Also im selben Jahr, in dem Politik und Kultur der Stadt und des Bundes durch den Wahlsieg der Wiener Sozialdemokraten getrennte Wege gingen, erschien der Anatomieatlas des ›roten‹ Stadtrates Julius Tandler (1869–1936) an der ›schwarzen‹ Universität Wien. Das Buch überraschte bewusst mit Neuem: ornamentfreie, neusachliche Ästhetik, Schemata, den Blick leitende Bildlogik, Abstraktion und Didaktik statt Naturalismus; nicht ein deskriptiver Blick auf den Leichnam am Sektionstisch, sondern ein funktioneller Blick auf ein aktives Individuum. Entgegen dem Einsatz der Bilder bis in heutige Lehrbücher sind Ausgaben von Tandlers Atlas heute selten; sie finden sich nur noch in wenigen Bibliotheken und sehen auffallend gebraucht aus, mit zer5 Universität Wien, Bericht über das Studienjahr 1920/21. Durch den Prorektor Alphons Dopsch, Wien 1921, S. 4. 6 Schreiben von Ferdinand Hochstetter und Julius Tandler an Bundesministerium für Unterricht, 24. 11. 1924, Zl. 28081, ÖStA (Österreichisches Staatsarchiv), AVA, UA, Ktn. 846.

Visuelle Kulturen der Anatomie in Zeiten politischer Umbrüche

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Abb. 2: In Tandlers Lehrbuch wird der lebende Mensch vom Kliniker untersucht. Der Maler Karl Hajek schöpfte in seinen neusachlichen, klaren, fotorealistischen Visualisierungen aus Erfahrungen bei seiner Arbeit für das Deutsche Hygienemuseum in Dresden (Tandler 1923, Fig. 92).

schlissenen Einbänden und zahlreichen Anmerkungen ihrer ehemaligen Besitzer/innen. Aus dem Ersten Weltkrieg hatte Tandler, Ordinarius am klinisch und funktional orientierten I. Anatomischen Lehrstuhl, andere Schlüsse gezogen als Toldt und Hochstetter. Wie wir aus Archivquellen und Tandlers emphatischen Reden und Programmschriften erfahren, entwickelte er eine Perspektive – eine Anatomie des ›Neuen Menschen‹ – zwischen Konstitutionsforschungen an der Isonzo-Front des Ersten Weltkriegs und Kontakten zu philosophischen und linken sozialbiologischen Theoretikern.7 Durch den politischen Umbruch wurde Tandler zum leitenden sozialdemokratischen Gesundheitspolitiker, als ›jüdischer‹ Wissenschaftler wahrgenommen und sein Atlas zur Chiffre der offensiven Biopolitik im Roten Wien. Er präsentierte ein neues Verständnis von Anatomie als eine Art alternative Hygienebewegung. Das Anatomielehrbuch war zu einem 7 Nachlass Julius Tandler, Privatarchiv Karl Sablik, Spillern (NÖ).

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Birgit Nemec

Schauplatz der Reform geworden, an dem Auffassungen von Subjektivität, Gesundheit und Gesellschaft zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit neu verhandelt wurden. Mit seinem Atlas bewarb Tandler einen am englischsprachigen Raum orientierten praktisch-utilitaristischen Ansatz, den Wiederaufbau in den Grenzen der ersten österreichischen Republik sowie die Integration von Studierenden aus den ehemaligen Kronländern. Dazu benötigte er kein naturkundliches Archiv, sondern ein Werkzeug: Die Kenntnis von normalem Aufbau und Struktur des menschlichen Körpers sollte nicht wenigen Experten vorbehalten bleiben, sondern möglichst universell verständlich und anwendbar gemacht werden (Abb. 2). Tandler war der Aufstieg aus ärmsten familiären Verhältnissen geglückt; er war zudem als überzeugter Neo-Lamarckist und linker Eugeniker von einer progressiven Verbesserung des Erbguts durch Veränderungen im Milieu überzeugt. Organismus und Umwelt sollten, im Gegensatz zum Toldt-Hochstetter Atlas, bei ihm nicht beobachtet und konserviert, sondern verändert werden.

1933 – Eduard Pernkopfs Topographische Anatomie des Menschen: Vom Bürgerkrieg in die Zeit des austrofaschistischen Ständestaats Als Eduard Pernkopf als frisch berufener Ordinarius 1933 die Arbeit an seinem anatomischen Atlas aufnahm, setzte der Einfluss des klerikal-faschistischen Regimes auf Universitäten und Hochschulen ein. Doch während Tandler nach dem Bürgerkrieg zum politischen Flüchtling und sein Atlas zur Ikone von Verfolgung und Vertreibung wurde,8 profitierte Pernkopf von der politischen Zäsur. Pernkopf war bereits als früher Gegner der Republik und Agitator der antisemitischen und nationalsozialistischen Unterwanderung der Universität – und damit der ideologischen Desintegration beider Lehrstühle bekannt, die eine friedliche Koexistenz zunehmend verunmöglicht hatte.9 Ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Wien zeigt, wie geschickt ihm dennoch die Positionierung als Vertrauensmann der konservativen faschistischen Regierung

8 Michael Bevan, Interview mit Frederick Barber, 1905–1993. Oral History of the General Practice, 5. 2. 1993 und 23. 2. 1993, Tondokument (Kassette), London, British Library. 9 Zu Pernkopf: Ingrid Arias, Entnazifizierung an der Wiener Medizinischen Fakultät. Bruch oder Kontinuität? Das Beispiel des anatomischen Instituts, in: Zeitgeschichte 31 (2004) 6, S. 339–369, S. 349–350. – Zur Desintegration und Radikalisierung der Milieus beider Lehrstühle: Birgit Nemec/Klaus Taschwer, Terror gegen Tandler. Kontext und Chronik der antisemitischen Attacken am I. Anatomischen Institut der Universität Wien, 1910 bis 1933, in: Oliver Rathkolb (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 147–172.

Visuelle Kulturen der Anatomie in Zeiten politischer Umbrüche

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Abb. 3: Im Pernkopf-Atlas finden wir sehr unterschiedliche Abbildungen, die stellenweise an den Tandler-Atlas, stellenweise an den Toldt-Hochstetter erinnern. Neu sind jene Bilder, in denen der Körper fast gewaltsam geöffnet und von Experten topographisch analysiert wird (Pernkopf 1952, Fig. 43)

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Birgit Nemec

gelang.10 Mit seiner Berufung und folgenden Usurpation des durch die politischen Entlassungen und Vertreibungen verwaisten Tandler-Lehrstuhls war der Weg für ein neues Atlas-Großprojekt geöffnet. Pernkopf zeigte sich 1933 von der weitreichenden normativen Bedeutung der Anatomie in Phasen des politischen Umbruchs überzeugt.11 Er unterschrieb einen Vertrag beim renommierten Verleger Urban & Schwarzenberg und engagierte Zeichner, die beim Übertragen seiner Präparationen in akkurate Zeichnungen eine klassische künstlerisch-naturalistische Ästhetik opulenttheatralisch anreicherten. Die aus dem 18. Jahrhundert bekannte schonungslose Darstellung des Horrors des Sektionsraums, Bilder, die ein gewaltsames Öffnen des Körpers durch wissenschaftliche Experten suggerieren – der erbarmungslose, invasive Blick – scheint bewusst einzuschüchtern (Abb. 3). Pernkopfs Perspektive prägte der Toldt-Hochstetter’sche Anspruch auf analytisch-deskriptive Exaktheit durch technische Perfektion, doch verehrte er zugleich die künstlerisch-funktionelle und auf Bewegung fokussierte Anatomie von Hermann Braus. Wie Tandler wollte er über die reine Beschreibung hinausgehen, hatte Anwendungskontexte im Kopf; allerdings hatten Arbeiten im Bereich der deutschen Vererbungslehre, wie Otmar von Verschuers Erbpathologie (1937), ihn zu radikal negativ eugenischen Forderungen angeregt.12 Er widmete seinen Atlas, dessen erster Band bereits 1937 erschien, Ferdinand Hochstetter, nahm visuell zugleich aber klare Anleihen an Tandlers Perspektive. Pernkopfs anatomische Sichtweise, so mein abschließendes Argument, hatte zwar im Rahmen der NS-Diktatur in neuer Radikalität moralische, finanzielle und strukturelle Unterstützung erfahren; sie war aber zu einem Teil ein Produkt der Zwischenkriegszeit und gelangte bereits im Ständestaat in hegemoniale Position. Erst die Betrachtung im Kontext ihrer Vorgängerprojekte zeigt, wie die Verflechtung politischer Haltungen, konfessioneller Herkunft und Forschungstraditionen im Kontext der generellen gesellschaftlichen Radikalisierung in der Zwischenkriegszeit anatomische Visualisierung prägte und wie umstritten die Vorstellungen von Norm und Reform bereits vor dem Umbruch 1938 waren.

10 Vorlesungsverzeichnisse der Universität Wien, 1934–38, Universitätsarchiv Wien. 11 Eduard Pernkopf, Aus der Werkstatt des Anatomen [Antrittsvorlesung, gehalten bei der Übernahme der II. Anatomischen Lehrkanzel in Wien am 4. 5. 1933], in: Wiener Klinische Wochenschrift 21 (1933) 46, S. 641–646. 12 Vgl. auch Ingrid Arias, Entnazifizierung an der Wiener Medizinischen Fakultät von 1945–1955. Provinzialisierung oder Anschluss an die westliche Wissenschaft?, in: Margarete Grandner u. a. (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, Innsbruck u. a. 2005, S. 68–88, S. 354–356.

Visuelle Kulturen der Anatomie in Zeiten politischer Umbrüche

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Schluss Anatomische Bilder zeigen den Aufbau des normalen Menschen, das »Richtmaß«, die »Regel«.13 Anatomische Atlanten weisen als Teil vielfältiger, dynamischer Ausdrucksformen visueller Kulturen aber immer auch Momente des Austauschs, des Transfers und der gegenseitigen Durchdringung mit ihrer Umgebungskultur auf. Die stetige Neukonzeption des Menschen, seine »zwingende und obligatorische Selbstbestimmung«,14 bezeichnete Zygmunt Bauman sehr treffend als ein Kennzeichen der Moderne. Doch erst die Beobachtung Mitchell Ashs einer »Verwissenschaftlichung der Gesellschaft« bzw. »Vergesellschaftung der Wissenschaften«, einer verstärkten Koproduktion von Wissen durch die Felder Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit nach der gescheiterten Revolution von 1848, hilft uns zu verstehen, was dies für die Anatomie als Lehre vom Aufbau der Organismen, und also der Definition von Normen, bedeutete.15 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die in vorliegendem Beitrag betrachtet wurden, im komplexen Gewirr aus sozialistischen, populären, katholischen und faschistischen Positionen, spielte diese Neukonzeption eine wichtige Rolle. Anatomische Lehratlanten, die Flaggschiffe eines jeden anatomischen Institutes, waren in dieser Zeit höchst politische, mächtige Bilder, prägten sie doch die Konfiguration des sicht- und wahrnehmbaren Raumes grundlegend,16 und damit die Vorstellungen von Norm und Reform in den Phasen politischer Umbrüche.

13 Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Berlin 2013 [Orig. 1943 und 1963–66], S. 125. 14 Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003, S. 43. 15 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51. 16 Vgl. Jacques RanciHre, Politik der Bilder, Berlin 2005.

Ulrike Spring

Die Arktis als Wiener Wissensraum. Öffentlichkeit und Wissenschaft im späten 19. Jahrhundert

Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ist häufig von Ungleichzeitigkeiten sowie von unterschiedlichen Autoritätsauffassungen und Kommunikationsstrategien geprägt. Der Beitrag diskutiert verschiedene Formen der Wissenszirkulation anhand der Rückkehr der österreichisch-ungarischen Polarexpedition nach Wien im September 1874. The relations between science and the public are often characterized by asynchronicities as well as conflicting understandings of authority and communication strategies. This contribution discusses various forms of knowledge circulation, using as a case study the return of the Austro-Hungarian polar expedition to Vienna in September 1874.

Als die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition unter Leitung von Carl Weyprecht und Julius Payer nach über zwei Jahren im Eis am 3. September 1874 in Vardø, einer Insel in Nordostnorwegen ankam, war noch nicht absehbar, welch enormes Medieninteresse die Expedition in ganz Europa hervorrufen sollte. Als sie drei Wochen später, am 25. September, zum Höhepunkt einer Reihe von Festlichkeiten in Wien ankam, hatten die europäischen Zeitungen und Zeitschriften bereits hunderte Artikel über den Verlauf der Expedition gedruckt. Wir können von spektakulären Schlittenreisen und amüsanten Anekdoten über die Teilnehmer lesen, wir erfahren über den tragischen Tod des Maschinisten Otto Krisch und die aufreibenden Versuche, über Treibeis zum offenen Meer zu gelangen.1 Über die wissenschaftlichen Ergebnisse finden wir hingegen vergleichsweise wenig, und dies, obwohl die Expedition explizit als wissenschaftliches Unternehmen ausgerichtet und auch finanziert worden war. Für diesen mangelnden Fokus auf den wissenschaftlichen Aspekt der Expedition gibt es mehrere Gründe. Naheliegend ist, dass die spektakuläre Entdeckung einer Insellandschaft, des von den Expeditionsleitern so getauften Franz1 Für die Rezeption der Expedition vgl. Johan Schimanski/Ulrike Spring, Passagiere des Eises. Polarhelden und arktische Diskurse 1874, Köln/Weimar/Wien 2015.

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Josef-Landes, alle anderen Interessen überwog. Ausschlaggebend mag jedoch sein, dass Weyprecht, der für die wissenschaftliche Beobachtung und Dokumentation die Hauptverantwortung hatte – im Gegensatz zu Payer, der die geografische und geologische Erforschung übernahm – nur unwillig über die tentativen Ergebnisse Auskunft gab. Wissenschaftlicher Wissenserwerb steht in einem Verhältnis der Ungleichzeitigkeit zu seiner Veröffentlichung. Wissen, das der Öffentlichkeit vorgestellt wird, ist bereits durch gründliche Forschung und Experimente etc. verifiziert; bereits die im 17. Jahrhundert in der Royal Society vorgeführten Experimente waren im Labor vorgetestet und dadurch mehr oder weniger abgesichert. Was das Publikum also als Live-Vorführung eines Experiments verstand, war tatsächlich das Resultat etlicher Tests. Die Aufgabe der Zuschauer war, diese als Zeugen zu verifizieren und zu bestätigen.2 Dass vorerst keine Ergebnisse der österreichisch-ungarischen Expedition an die Öffentlichkeit gelangten, ist aus der Sicht wissenschaftlicher Verantwortung – Spekulationen, die auf Halbwissen basierten, sollten vermieden und nicht vorzeitig publik gemacht werden –, durchaus nachvollziehbar. Wie das Beispiel aus dem 17. Jahrhundert zeigt, wird Wissenschaft jedoch erst verifiziert, wenn sie einem Publikum vorgeführt wird, ob in Form von Vorträgen, Publikationen oder öffentlich zugänglichen Sammlungen. Das enorme Medieninteresse an der Expedition, das darauf abzielte, jedes Detail möglichst rasch an das Publikum weiterzuvermitteln – so wurden sogar Journalisten aus Wien zum Empfang der Polarfahrer und zu ersten Interviews in die südnorwegische Stadt Kristiansand geschickt3 – wurde so in einem zentralen Punkt, jenem ihres wissenschaftlichen Ertrags, nicht befriedigt. Ein Leerraum entstand, der nun mit Spekulationen gefüllt wurde, also paradoxerweise gerade das, was Weyprecht vermeiden hatte wollen. Konkret entspannte sich ein Streit im September 1874 zwischen der liberalen und antideutschnationalen Zeitung Politik, der Stimme der alttschechischen Partei, auf der einen Seite, und dem Prager Abendblatt und mehreren Wiener Zeitungen auf der anderen. Die Kritik der Politik galt unter anderem der in etlichen Wiener Zeitungen zirkulierten Schlussfolgerung, dass die allgemeine Begeisterung das Interesse der Bevölkerung an Wissenschaft reflektierte. Die Diskussion entzündete sich nicht zuletzt an der Frage, inwieweit Wissenschaft überhaupt für den Laien verständlich sein konnte. Für einen Journalisten der Politik, der unter dem Kürzel –r– publizierte, war das Publikum nur ein wenig gebildeter »Mob«, der kaum etwas von Wissenschaft verstand.4 Außerdem stellte 2 Mitchell G. Ash, Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit – Zur Einführung, in: Mitchell G. Ash/Christian H. Stifter (Hg.), Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, Wien 2002, S. 19–43, S. 22. 3 Vgl. Schimanski/Spring 2015, S. 59–60. 4 –r–, Wiener Briefe, in: Politik, 20. 9. 1874, S. 1–2, S. 1.

Die Arktis als Wiener Wissensraum

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sich die Zeitung skeptisch gegenüber der wissenschaftlichen Ausbeute der Expedition: »Schon jetzt ist klar, daß die Herren mit Ausnahme des Heroismus, der in dem Verlassen des Schiffes besteht, nichts Besonderes geleistet.«5 Die der Politik feindselig gegenüberstehenden Zeitungen fokussierten in ihrer Antwort primär den zweiten Kritikpunkt und interpretierten diesen als ein Resultat des (alt-)tschechischen Neids auf deutsche Errungenschaften, die durch diese Expedition ihrer Meinung nach symbolisiert wurden.6 Wenn wir die politischen Untertöne zur Seite legen, dann lag ein Grund für die kritischen Worte der Politik in der Ungleichzeitigkeit zwischen Wissenserwerb und Wissensvermittlung; in diesem ›Zeitloch‹ öffnete sich ein Raum für die Hinterfragung des wissenschaftlichen Wertes der Expedition. Der Wissenschaftsjournalist Friedrich von Hellwald stellte noch im Oktober fest, dass der wissenschaftliche Wert der Expedition erst nach der Veröffentlichung ihrer Resultate absehbar sein würde.7 In einem Brief an den Geografen August Petermann vom 1. November 1874 beklagte Weyprecht die Vielzahl an Spekulationen in den Medien, die durch sein Schweigen entstanden waren. Für ihn war es jedoch außer Zweifel, dass eine Veröffentlichung der Resultate »erst einer gründlichen Bearbeitung und Sichtung« folgen durfte.8 Doch nicht nur die zeitliche Verschiebung stellte eine Herausforderung dar, auch, wenn wir bei dem Vergleich mit dem Labor und Experiment bleiben wollen, hatte der Aufenthalt im Labor, d. h. der Arktis, bereits öffentlichkeitswirksam stattgefunden und sich durch die mediale Rezeption eigenständiges Wissen entwickelt, das von den Medien und der Öffentlichkeit geprägt und interpretiert wurde und nicht von den wissenschaftlichen Autoritäten, in diesem Fall Weyprecht selbst. Die Arktis war überdies dem Großteil des Publikums unbekannt und fern, wie die vielen Assoziationen des Nordens mit mystischen und mythischen Welten, die wir in den Medien im Jahre 1874 finden können, belegen:9 Das Experiment der Expedition10 war nicht direkt vor den Augen der Publiken durchgeführt worden bzw. konnte nicht aus eigener Erfahrung imaginiert werden. Dies erleichterte, so meine Vermutung, die kritische Hinterfra5 Wien, 21. September, in: Politik, 23. 9. 1874, S. 2. 6 Für eine ausführlichere Untersuchung der Debatte vgl. Schimanski/Spring 2015, S. 292–294. 7 Vgl. Friedrich v. Hellwald, Die Österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition und die Nordpol-Frage. I., in: Wiener Abendpost, 17. 10. 1874, S. 1900–1901. 8 Frank Berger/Bruno P. Besser/Reinhard A. Krause/Petra Kämpf/Enrico Mazzoli (Hg.), Carl Weyprecht (1838–1881). Seeheld, Polarforscher, Geophysiker. Wissenschaftlicher und privater Briefwechsel des österreichischen Marineoffiziers zur Begründung der internationalen Polarforschung, Wien 2008, S. 423. 9 Vgl. dazu Schimanski/Spring 2015, S. 393–396. 10 Vgl. dazu Marianne Klemun/Ulrike Spring, Expeditions as Experiments. An Introduction, in: Marianne Klemun/Ulrike Spring (Hg.), Expeditions as Experiments. Practising Observation and Documentation, London 2016, S. 1–25.

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gung des Wertes der Expedition an sich. Die Tatsache, dass die Expedition gezwungen war, bei ihrem Rückzug manche Aufzeichnungen wissenschaftlicher Studien im Eis zurückzulassen,11 mag ebenfalls dazu geführt haben, dass die Assoziation des magischen (und sich der Wissenschaft verwehrenden?) Ortes Arktis auf Kosten jenes des kontrollierten Labors Arktis überwog. Ein weiteres Beispiel aus der Wiener Rezeption der Expedition mag diese Annahme stärken: Als Payer in einer außerordentlichen Sitzung der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien am 29. September einen Vortrag über die Schlittenbefahrung des Franz-Josef-Landes hielt, soll der mündlichen Überlieferung nach einer oder eine der Anwesenden hörbar diese Angaben angezweifelt haben.12 In der Literatur wird dieses Ereignis, ohne dass es einen Beleg gibt, häufig als Grund für den fast unmittelbar danach stattfindenden Rückzug Payers aus dem Militärdienst angegeben.13 Dass ausgerechnet in dem exklusiven Raum der Geographischen Gesellschaft, der als Garant für seriöses wissenschaftliches Wissen funktionieren sollte, Payers Autorität angezweifelt wurde, mag erneut daraus resultieren, dass die Arktis als verifizierbarer Raum nicht vorstellbar war. Doch mag auch die ambivalente Positionierung von geografischer Entdeckung zwischen naturwissenschaftlichem Wissenserwerb und zunehmender Spektakelkultur im späten 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt haben. In den beiden hier vorgestellten Fällen, in der medialen Öffentlichkeit und der exklusiveren wissenschaftlichen der Geographischen Gesellschaft, wurde folglich die Autorität der Expeditionsleiter hinterfragt. Diese aber ist, um zum Beispiel des öffentlich vorgeführten Experiments zurückzukehren, essenziell; erst sie lässt das Publikum glauben, tatsächlich an einem Experiment wie in einem Labor teilzunehmen,14 und erst damit wird die Wissenschaftlichkeit von Wissen öffentlich anerkannt. Es gibt, soweit mir bekannt, keine Aussagen in den Wiener Medien der damaligen Zeit, die die wissenschaftliche Autorität insbesondere Weyprechts explizit hinterfragen, doch liegt die Vermutung nahe, dass der Zweifel an den wissenschaftlichen Resultaten der Expedition auch durch die mangelnde wissenschaftliche Ausbildung ihrer Teilnehmer gefördert wurde. Während es durchaus Usus war, auf Expeditionen Wissenschaftler mitzunehmen, hatten Payer und Weyprecht sich dagegen entschieden und beschlossen, die Aufgaben als Expeditionsleiter und ihre Offizierstätigkeit mit jener der wissenschaftlichen (Er-)Forschung zu verbinden. In einer Zeit, in der Wissenschaft zunehmend 11 Vgl. Carl Weyprecht, Die Nordlichtbeobachtungen der österreichisch-ungarischen arctischen Expedition 1872–1874, Wien 1878, S. 1. 12 Vgl. Frank Berger, Julius Payer. Die unerforschte Welt der Berge und des Eises, Innsbruck/ Wien 2015, S. 136. 13 Vgl. dazu ebd. S. 136–137. 14 Vgl. Ash 2002, S. 23.

Die Arktis als Wiener Wissensraum

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institutionalisiert wurde und die Liebhaber bzw. Dilettanten des 18. Jahrhunderts in Bezug auf Autorität und Anzahl an Bedeutung verloren, kann dies durchaus eine Rolle bei den genannten kritischen Kommentaren gespielt haben. Weyprecht selbst war sich seiner mangelhaften wissenschaftlichen Ausbildung und der daraus resultierenden potenziell absenten Autorität durchaus bewusst, wie es ein Brief an seine Mutter im Jahr 1876 belegt.15 Letztendlich scheinen sich in den Tagen nach der Rückkehr der Expedition unterschiedliche Leerräume entwickelt zu haben, die dafür ausschlaggebend waren, dass die Aussagen der Expeditionsleiter angezweifelt werden konnten. Diese entstanden zum einen als ein Resultat der Unvereinbarkeit zwischen den Anforderungen der neuen Medienwelt nach raschen und konkret anwendbaren wissenschaftlichen Ergebnissen und der langwierigen Arbeit des Wissenschaftlers. Zum anderen, und wie vor allem Payers Beispiel andeutet, waren diese jedoch auch ein Ergebnis des geringen Wissens über die Arktis und folglich der mangelnden Verifizierung von Aussagen zu dortigen Untersuchungen. Mit anderen Worten: Das Labor und die Variablen der darin vorgenommenen Experimente waren nicht ausreichend bekannt. Diese Unstimmigkeiten kompensierten die Wiener Medien mit einer Rhetorik des Spektakels, nationalen Stolzes und der Heldenverehrung. Schließlich sollte jedoch insbesondere Weyprecht die zunehmende Entfernung zwischen institutionalisierter Wissenschaft und medialer Öffentlichkeit repräsentieren. Weyprecht, der stärker als Payer dem Typus des sich von der Öffentlichkeit abschirmenden Wissenschaftlers entsprach, versuchte zwar über eine leicht lesbare reflektierende Serie zur Expedition16 eine Art Vermittler im Sinne Daums17 darzustellen; viel besser gelang dies jedoch Payer mit seiner mit Metaphern und rhetorischen Spielereien angereicherten und anschaulichen Sprache in Zeitungsessays, Vorträgen und insbesondere seinem immens populären Expeditionsbericht, der in Buchform 1876 erschien.18 Gerade dieses Talent entfernte ihn jedoch vom wissenschaftlichen Diskurs, eine Entwicklung, die durch seine spätere Karriere als erfolgreicher Historienmaler arktischer Sujets bestätigt wurde. 15 Vgl. Berger u. a., S. 476–477. 16 Vgl. Karl Weyprecht, Bilder aus dem hohen Norden, in: Mittheilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie 21–22 (1875–1876). Band 21, S. 346–351, S. 403–409; Band 22, S. 90–93, S. 341–347, S. 404–410. 17 Vgl. Andreas W. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, München 1998. 18 Julius Payer, Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874, nebst einer Skizze der zweiten deutschen Nordpol-Expedition 1869–1870 und der PolarExpedition von 1871, Wien 1876.

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Ulrike Spring

Die hier diskutierten Beispiele zeigen überdies auf, wie Wissen unterschiedlich aufgefasst wird, abhängig von seinem Entstehungs- und Vermittlungsort. Wissen ändert sich, wie Ash feststellt, im Rahmen und als Resultat von Transferprozessen,19 von kontinuierlichen Zirkulationen in verschiedenen Medien und Wissensräumen.

19 Vgl. Mitchell G. Ash, Wissens- und Wissenschaftstransfer – Einführende Bemerkungen, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 29 (2006) S. 181–189, S. 188.

Dynamiken und Revolutionen

Gary B. Cohen

Der Kampf der Konservativen gegen den »Schulballast«. Eine Episode aus der österreichischen Bildungsgeschichte der 1880er Jahre

Während der 1880er Jahre gab es seitens konservativer hoher Beamter und Politiker kritische Stimmen über die rasch wachsende Zahl von Einschreibungen an den allgemein bildenden höheren Schulen sowie den hohen Ausfallsquoten unter den Studierenden. Die Regierung setzte mehrere Maßnahmen, um die schlechter qualifizierten Jugendlichen von den Gymnasien und Realschulen zu den Berufsschulen umzuleiten, doch ist die Anzahl der Einschreibungen an den Gymnasien und Universitäten immer grösser geworden. During the 1880s conservative officials and political leaders in Austria voiced serious concerns about the strong growth of enrollments in academic secondary and higher education and the high attrition rates of students. The government undertook efforts to divert poorly qualified youth from the Gymnasien and Realschulen to vocational schools, but enrollments continued to grow strongly in the Gymnasien and universities.

Spätestens ab den 1880er Jahren erkannten die Konservativen in Österreich in der rasch wachsenden Zahl von Einschreibungen an den allgemein bildenden höheren Schulen, Universitäten und technischen Hochschulen ein ernsthaftes Problem. Die Zahl der Schüler in Gymnasien und Realschulen nahm in Zisleithanien von 25.630 im Jahr 1851 auf 65.935 im Jahr 1880 zu und stieg im folgenden Jahrzehnt weiter an. Die Zahl von an Universitäten immatrikulierten Studierenden vergrößerte sich von 3.709 im Studienjahr 1856/57 auf 8.114 im Studienjahr 1879/80, und an den technischen Hochschulen von 2.235 (1856/57) auf 2.988 (1879/80). Damit wuchs in den drei Jahrzehnten ab 1850 die Zahl von Schülern und Studierenden im sekundären und tertiären Bildungsbereich in schnellerem Tempo als die Gesamtbevölkerung in der österreichischen Reichshälfte.1 Das öffentliche Bildungswesen wurde seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert 1 Vgl. die Tabellen und Bemerkungen in: Gary B. Cohen, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria, 1848–1918, W. Lafayette, IN 1996, S. 55–63, S. 272–73. Die Statistik für 1851 berücksichtigt nicht die Institutionen in den norditalienischen Gebieten, die infolge der italienischen Einigung verlorengingen.

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Gary B. Cohen

von den europäischen Regierungen als ein Politikum behandelt, und im Verlauf des 19. Jahrhunderts rückte die Frage des Zugangs zum sekundären und höheren Bildungssektor in das Zentrum der Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Staat. Die nationalistischen politischen Kräfte forderten Sekundär- und höhere Bildung in ihren jeweiligen Sprachen. Der nationale Konflikt entbrannte etwa am Universitätszugang in Prag, später in Mähren und Tirol, wie auch an den Sekundarschulen in Krain, der Untersteiermark und anderen Kronländern. Jenseits der nationalen Konflikte debattierten Beamte, Politiker und Pädagogen die Frage, wie die sekundäre und höhere Bildung am besten zur ökonomischen Entwicklung und zu sozialem Wohl beitragen könne. Man befürchtete, dass das ungebremste Wachstum der sekundären und höheren Bildungssektoren zu einem Überschuss an Intellektuellen führen würde, mit all seinen negativen sozialen und politischen Auswirkungen. Schon in den 1870er, und zunehmend in den 1880er Jahren warnten daher konservative, aber auch einige liberale österreichische Beamte und Politiker vor der Aufnahme zu vieler junger Menschen, die für eine weiterführende Bildung und für höhere Studien nur unzureichend qualifiziert wären, und kritisierten die Überproduktion an Graduierten. Andere waren besorgt, dass sich Absolventen aus den unteren sozialen Klassen, die nach ihrer Ausbildung in der beruflichen Karriere scheiterten, dem Radikalismus zuwenden würden. In vielerlei Hinsicht bildete die österreichische Diskussion über die Überflutung der Gymnasien und Realschulen mit ungeeigneten Schülern nur ein Echo der Debatte in Preußen und anderen Teilen Deutschlands, wo der Andrang in der Zeit nach 1880 wenig schmeichelhaft als »Schulballast« bezeichnet wurde.2 Bereits Ende der 1860er Jahre, zu Zeiten deutschliberaler politischer Dominanz in Österreich, begann das Ministerium für Kultus und Unterricht mit Versuchen, die Zahl der Zulassungen für die weiterführenden Schulen zu begrenzen. Seit den 1850er Jahren war die Anzahl der Schulen signifikant angewachsen und die Beamten hatten Bedenken, ob diese ihre eigentliche Aufgabe noch erfüllen konnten oder ob nicht immer mehr junge Menschen ohne entsprechende Vorbereitung oder den notwendigen Eifer zum Erwerb höherer Bildung an die Gymnasien strömten.3 Im März 1870 führte das Unterrichtsministerium daher neue mündliche und schriftliche Aufnahmsprüfungen für alle 2 Zu den Debatten in Preußen über dem »Schulballast« von den späten 1870er Jahren bis 1884 vgl. James C. Albisetti, Secondary School Reform in Imperial Germany, Princeton, NJ 1983, S. 87–98; Konrad H. Jarausch, Students, Society, and Politics in Imperial Germany, Princeton, NJ 1982, S. 52–61; and Detlef K. Müller, Sozialstruktur und Schulsystem: Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1977, S. 274–97. 3 Vgl. die Fragen, welche Dr. Adolf Ficker, Direktor für Statistik im Ministerium für Kultus und Unterricht, in seinem Memorandum vom 8. August 1870 anführte, in: Verhandlungen der Gymnasial-EnquÞte-Commission im Herbste 1870, Wien 1871, S. 3–14.

Der Kampf der Konservativen gegen den »Schulballast«

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staatlich anerkannten Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen ein.4 Diese Maßnahme zeigte so wie die Erweiterung der Lehrpläne der Gymnasien jedoch wenig Erfolg in dem Bemühen, die Einschreibungen zu reduzieren. Die konservativen Kräfte, die im Jahr 1879 mit der Regierung des Grafen Eduard Taaffe an die Macht kamen, wollten diese Entwicklung, die sie als Exzess der Bildungspolitik der früheren deutschliberalen Regierungen betrachteten, umkehren. Man war der Auffassung, dass acht Jahre primärer Schulbildung, die mit dem Volksschulgesetz 1869 eingeführt wurde, die Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung mehr als abdeckten und dass der Zugang zu weiterführender Bildung zu weit geöffnet worden wäre, was viele junge Menschen vom landwirtschaftlichen und handwerklichen Sektor wegführte. Die konservativen Pädagogen und Beamten befürchteten daneben auch die verderblichen Effekte überfüllter Gymnasien, Realschulen und Universitäten. In der Zeit nach 1879 versuchte das Unterrichtsministerium daher erneut, die Zahl der Zulassungen zu Gymnasien und Realschulen zu beschränken und die Jugendlichen in die Berufsschulen zu lenken, um Gewerbe und Landwirtschaft zu fördern. Die gegenüber den Deutschliberalen und ihren Interessen feindselig gestimmte Regierung Taaffe zielte in ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik darauf ab, die Schichten der adeligen Landbesitzer, Landwirte, Handwerker und Kaufleute aller Nationalitäten anzusprechen. Im August 1880 befahl der Minister für Kultus und Unterricht, Siegmund Freiherr Conrad von Eybesfeld, allen Direktoren staatlich anerkannter Sekundarschulen, ihm detaillierte jährlichen Berichte über die neuen Einschreibungen zukommen zu lassen.5 Das Unterrichtsministerium verordnete, dass sie allen Bewerbern und deren Eltern den Zweck der Sekundarschulen – Vorbereitung auf Universität und technische Hochschule – verdeutlichen und jene Jungen, die in der Sekundarschule geringe Chancen auf Erfolg hätten, von der Bewerbung abhalten mussten. Die Direktoren sollten sie stattdessen ermutigen, berufsbildende Schulen für Handel, Gewerbe und Landwirtschaft zu besuchen. Das Dekret betonte die Pflicht der Bildungsbehörden, der verbreiteten Tendenz, »ein unfruchtbares und unzufriedenes Proletariat erwerbsloser ›Gebildeter‹« heranzuziehen, entgegenzuwirken.6 Die Antworten der Schuldirektoren auf das Dekret von 1880 führen deutlich vor Augen, wie schwierig es für die zentralen Behörden war, die Erwartungen an das Bildungssystem und die zwischen den Schulen und der Gesellschaft bestehenden Beziehungen zu ändern. Manche Schuldirektoren berichteten kurz an4 Verordnung des Ministers für Cultus und Unterricht vom 14. März 1870, Z. 2370, in: Verordnungsblatt für den Dienstbereich des Ministeriums für Cultus und Unterricht, Jg. 1870, Wien 1870, S. 173, S. 230–31. 5 Ministerium für Kultus und Unterricht [im Folgenden: KUM], Ministerial-Erlass, 20. 8. 1880, Z. 12050; in: Wiener Zeitung, 28. 8. 1880, S. 1–2. 6 Ebd., S. 1.

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Gary B. Cohen

gebunden, dass die neuen Regelungen sie erst erreicht hätten, nachdem sie den Aufnahmsprozess für das kommende Schuljahr schon abgeschlossen hatten. Andere beriefen sich auf den Widerstand der Bewerber und ihrer Eltern gegen Bestrebungen, sie in berufsbildende Schulen zu schicken.7 Ein Schuldirektor aus Kärnten schrieb, dass die Eltern die Wahl der Schule als Familiensache betrachteten und nicht als die eines Beamten.8 Viele der zehnjährigen Jungen waren sich über ihre zukünftige Berufswahl noch unsicher und berufsbildende Schulen lagen zudem oft weit weg von ihrem Zuhause. Viele Eltern nahmen an, dass ihre Söhne während einiger Jahre in einem Gymnasium oder einer Realschule mehr lernen könnten als in der Bürgerschule oder in den letzten beiden Stufen der Volksschule, selbst wenn sie ein Gymnasium oder eine Realschule nicht abschlössen oder nicht zum Studium an Universitäten oder technische Hochschulen gingen. Diese Eltern betrachteten berufsbildende Schulen jedenfalls im Vergleich zu den ersten Klassen eines Gymnasiums oder einer Realschule als die schlechtere Wahl.9 Die Regierung Taaffe gründete ihre Bildungspolitik auf die Prämisse, dass der Hauptzweck von Gymnasien und Realschulen das Hervorbringen von für ein Studium oder eine Beamtenlaufbahn geeigneten Absolventen sei. Sie unterschätzte damit die breiten sozialen und bildnerischen Funktionen der Sekundarschulen, vor allem der unteren Schulklassen, sowie die seit 1850 ständig gewachsene Nachfrage nach dem Zugang dazu. Eine dieser wichtigen Funktionen bestand darin, die Absolventen von Gymnasien und Realschulen sowie jene, die die Unterstufe von Gymnasium oder Realschule abgeschlossen hatten und anschließend die höheren Klassen der Handelsschule, Handelsakademie oder ähnlicher weiterführender berufsbildender Schulen absolvierten, für den Militärdienst als »Einjährig-Freiwillige« zu qualifizieren.10 Das Scheitern ihrer Versuche in den 1880er Jahren, eine größere Anzahl Jugendlicher von den Gymnasien und den Realschulen an berufsbildende Schulen umzudirigieren, beirrte die Regierung nicht in ihrem Vorhaben. In seiner Thronrede bei der Eröffnung des Reichsrats im September 1885 wiederholte der Kaiser den Wunsch, einen Teil der Jungen, die in Sekundarschulen strömten, in 7 ÖStA (Österreichisches Staatsarchiv) Allgemeines Verwaltungsarchiv [im Folgenden: AVA] Wien KUM allgemein; 17460/1880, 17623/1880 und 19575/1880 enthalten umfangreiche Berichte der Landesschulräte und Schuldirektoren in Beantwortung des Ministerial-Erlasses vom August 1880. 8 ÖStA AVAWien KUM in gen., Z. 17460/1880, Direktor des K. K. Staatsgymnasium Villach an den K. K. kärnt. Landesschulrat, 12. 11. 1880. 9 Diese Punkte wurden in dem Bericht der Statthalterei in Triest sowie von Schuldirektoren in Innsbruck, Tirol; Bielitz und Opava, Schlesien; Graz, Steiermark sowie Prag, Böhmen, angeführt, in: ÖStA AVA Wien KUM in gen., Z. 17460/1880, Z. 17623/1880. 10 Vgl. Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Band 4, Wien 1986, S. 206–208.

Der Kampf der Konservativen gegen den »Schulballast«

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berufsbildende Schulen umzuleiten, im Interesse einer »Hebung der Industrie.«11 Im Juni 1887 erteilte das Ministerium für Kultus und Unterricht einen Ministerial-Erlaß, welcher das vollendete 10. Lebensjahr als Voraussetzung für den Eintritt in Gymnasien und Realschulen bestimmte.12 Im Monat darauf verordnete das Ministerium, mit Verweis auf budgetäre Einschränkungen und eine geringe Einschreibungsquote, die Schließung mehrerer Sekundarschulen in Oberösterreich, Tirol, Krain, Dalmatien und der Bukowina. Es verlautbarte auch seine ablehnende Haltung gegenüber der Aufnahme weiterer Sekundarschulen von Stadtgemeinden oder Kronländern in das Staatsbudget und machte die Pläne zum Ausbau einiger bestehender staatlicher Schulen rückgängig.13 Die Schließungen und verringerte Finanzierung schulischer Einrichtungen verursachten in den betroffenen Orten lautstarken Protest, und die Regierung musste einige der geplanten Schließungen zurücknehmen. Dennoch verfolgte man das angestrebte Ziel mit anderen Mitteln weiter. Anfang Mai 1888 erklärte der Minister für Kultus und Unterricht, Paul Freiherr Gautsch von Frankenthurn, dem Abgeordnetenhaus des Reichsrates die Gründe für die fortgesetzten Bemühungen, die Zahl der Einschreibungen einzudämmen.14 Er merkte an, dass sich gegenwärtig mehr Studierende in Sekundarschulen, Universitäten und technische Schulen einschrieben, als je ein Studium abschließen oder in akademische Berufe eintreten würden; weiters erklärte er, dass nur etwa 2 Prozent der männlichen Bevölkerung diese Berufe überhaupt ausübten, obwohl rund 4,1 Prozent der männlichen Kinder im Alter von 11 bis 18 Jahren Gymnasien oder Realschulen besuchten. Der Minister versicherte ebenso, dass die Posten im öffentlichen Dienst ausreichend besetzt seien und auch der Beruf eines Sekundarschullehrers nur schlechte Berufsaussichten biete. Die Zahl der Einschreibungen in technische Hochschulen hatte sich in der vorhergehenden Dekade deutlich verringert, was Gautsch dem Wettbewerb der berufsbildenden Schulen und einem Überangebot an Ingenieuren und anderem technischen Personal zuschrieb. Der Minister bezeichnete das Übermaß an ungeeigneten Schülern in den Sekundarschulen als Wurzel des Problems. Er führte aus, dass weniger als ein Drittel jener Schüler, die in Gymnasien einträten, diese Schule abschließen und die Matura erfolgreich ablegen würde und dass die 11 Thronrede des Kaisers, 26. 9. 1885, Österr. Reichsrat, Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten, X. Session, Erste Beilage, S. 1–2; vgl. Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, Wien/Leipzig 1907, 4. Band, S. 6–7; Karel Kazbunda, Krise cˇesk8 ˇ esky´ cˇasopis historicky´ 40 (1934), politiky a v&denˇsk# jedn#n& o t. zv. punktace roku 1890, in: C S. 88, S. 95. 12 KUM Ministerial-Erlaß, 3. Juni 1887, erläutert in: Anton Malfertheiner, Vergleichende Statistik des Unterrichterfolges der österreichischen Gymnasien, Wien 1897, S. 23. 13 Kazbunda 1934, S. 88–89, S. 94–96. 14 Österr. Reichsrat, Stenogr. Protokolle des Hauses der Abgeordneten, X. Session, 228. Sitzung (8. 5. 1888), S. 8347–8351.

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Gary B. Cohen

medizinischen und juridischen Fakultäten an den Universitäten eine ähnlich hohe Ausfallsquote verzeichneten.15 Die niedrige Schwelle bei der Zulassung von Schülern an den Sekundarschulen und die häufige Befreiung von Schulgeld, argumentierte Gautsch, würden zu den exzessiven Einschreibungen und hohen Ausfallsquoten beitragen. All das rechtfertigte in seinen Augen striktere Beschränkungen bei der Zulassung zu Gymnasien und Realschulen sowie zusätzliche Maßnahmen, um die Jugendlichen in berufsbildende Schulen umzuleiten. Die Regierung anerkenne die Bedürfnisse der Öffentlichkeit nach höherer Bildung, aber es sei notwendig, »daß ein Ausgleich stattfinde einerseits zwischen den Bildungsbedürfnissen der Bevölkerung und den Anforderungen des Staates, anderseits aber zwischen den öffentlichen Bildungsmitteln selbst«.16 Veränderungen bei den Zulassungsverfahren und -voraussetzungen an Universitäten und technischen Hochschulen schlugen allerdings weder Gautsch noch andere hohe Beamten in den 1880er Jahren vor. Es lässt sich nur vermuten, dass sie es nicht wagten, die Rechte jener zu beschränken, welche die Reifeprüfungen in den Gymnasien und Realschulen bestanden hatten. Ein Eingriff in die Berechtigung, nach dem erfolgreichen Bestehen der Matura an Universitäten oder technischen Hochschulen zu studieren, hätte mit Sicherheit einen gesellschaftlichen Aufschrei ausgelöst. Dennoch sah das Ministerium die Wurzel aller Probleme weiterhin in der großen Zahl ungeeigneter Schüler, die für die Sekundarschulen eine Belastung bedeuten und deren Niveau drücken würden. Die Bestrebungen der Regierung, die Einschreibungen in die Sekundarschulen zu begrenzen und die berufsbildenden Schulen zu stärken, hatten überschaubare Effekte. Die Zahl der Einschreibungen in den österreichischen Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen wuchs von 65.935 im Jahr 1879/80 auf 71.295 Schüler 1889/90, stieg damit in Relation zur Gesamtbevölkerung nicht mehr an und nahm sogar als Anteil zur Gesamtzahl der 11- bis 18-Jährigen etwas ab.17 Die Krise in der Landwirtschaft sowie schwaches Wachstum in den Sektoren Handel und Industrie hatten in den 1880er Jahren vermutlich einen größeren Effekt auf die Zahl der Einschreibungen. Der Andrang zu den Realgymnasien und Realschulen nahm im Vergleich zu den Gymnasien ab, an denen die Zahl der Schüler in absoluten Zahlen um 16 Prozent zunahm. Trotz des Interesses der Zentralregierung, die Berufsbildung zu stärken, wuchsen die Schülerzahlen an den Staats-Gewerbeschulen, allgemeinen Handwerkerschulen und Fachschulen in den 1880er Jahren nur bescheiden.18 Nach den 1880er Jahren hatten die österreichischen Ministerialbehörden 15 16 17 18

Ebd., S. 8350. Ebd., S. 8351. Vgl. Cohen 1996, S. 272. Zum österreichischen beruflichen Bildungswesen im späten neunzehnten Jahrhundert vgl. Engelbrecht 1986, S. 193–206, S. 210–214; und Cohen 1996, S. 106–107.

Der Kampf der Konservativen gegen den »Schulballast«

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zunehmend Schwierigkeiten, die Einschreibungen oder überhaupt Organisation und Lehrpläne in den Sekundar- und Hochschulen zu kontrollieren und regulieren. Dem Gesetz nach hatten sie zwar noch weitreichende Autorität, aber die Gesellschaft übte zunehmend Druck aus, das Netz an Schulen auszubauen, den Zugang zu erweitern, überholte Curricula-Anforderungen zu entrümpeln und neue Gegenstände einzuführen. Das dynamische Wachstum der Zivilgesellschaft in allen österreichischen Kronländern nahm verstärkten Einfluss auf die Mechanismen des Staates. Die Regierung hatte lange Zeit Widerstand gegenüber den Forderungen geleistet, jungen Frauen gleichberechtigten Zugang zu sekundärer und höherer Bildung zu gewähren, gab aber schließlich Ende der 1890er Jahre in Bezug auf die medizinischen und philosophischen Fakultäten nach. Nach Jahrzehnten an Debatten über die Lehrpläne der weiterführenden Schulen willigte das Unterrichtsministerium im Jahr 1908 letztlich ein, ein neues Modell für Realgymnasien zu schaffen, das mehr Naturwissenschaft und Mathematik als das klassische Gymnasium sowie eine verpflichtende moderne Fremdsprache an Stelle des Altgriechischen vorsah. Die zunehmende gesellschaftliche Nachfrage nach höherer Bildung in den Zeiten neuerlichen wirtschaftlichen Wachstums ab der Mitte der 1890er Jahre führte zu einem geradezu explosionsartigen Anstieg bei den Einschreibungen in den Sekundar- und Hochschulen.19 Einige Stimmen unter den höheren Beamten und konservativen Politikern mochten sich nach wie vor missbilligend dazu äußern, konnten aber diesen Trend nicht wirklich aufhalten. Übersetzung aus dem Englischen von Jan Surman, bearbeitet von Josef Schiffer

19 Zu den Entwicklungen im österreichischen Bildungssystem nach Mitte der 1890er Jahre vgl. Cohen 1996, S. 108–126.

Paulus Ebner

Mitbestimmung oder Revolution? Die österreichischen Studierenden in den 1960er und 1970er Jahren

Wie ist die Rolle der österreichischen Studierenden in den Jahren um 1968 zu bewerten? Zuordnungen wie »konformistisch« oder »angepasst« sind zumeist erst nachträglich vergeben worden, in erster Linie im Vergleich mit dem revolutionären Aufbegehren in anderen Industrieländern. Der Artikel ist ein Versuch einer Einschätzung der österreichischen Studierendenbewegung in diesen Jahren und einer Benennung möglicher Forschungsfelder. How is the role of Austrian students in around 1968 to be evaluated? Attributions such as »conformist« or »well adapted to the system« were made years later comparing the situation in Austria to the much broader revolutionary uprising in other industrialized countries. This short text tries to find a new interpretation of the Austrian student movement of the 1960s and 1970s and to list some research topics.

»Reform oder Revolution« – so titelte die Bilanz, das offizielle Organ der Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) in der Ausgabe Mai/Juni 1968.1 Adressatin dieser Ansage war niemand anders als die österreichische Bundesregierung. Der Vorsitzende der ÖH Sepp-Gottfried Bieler beantwortete die Frage, was denn bei einer Ablehnung der in inhaltlich und politisch breiter Diskussion erstellten studentischen Vorschläge zur Hochschulreform passieren würde, so: »Ja, dann ist die Frage, ob ein Zentralausschuss-Vorsitzender der Österreichischen Hochschülerschaft, die studentischen Emotionen noch länger in Zaum halten kann oder will.«2 Handelte es sich hier um eine Posse zwischen konservativem ÖH-Vorsitzenden und konservativem Minister zur Beruhigung der Lage an österreichischen Hochschulen durch verbale Kraftmeierei oder war die Situation in Österreich vielleicht doch angespannter, als der (im Übrigen auch von den Studierenden immer wieder angestellte) Vergleich mit der deutschen oder 1 Die Bilanz Jg. 1968, Mai/Juni-Heft, S. 6. 2 Ebd.

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Paulus Ebner

französischen Studierendenbewegung vermuten lässt? Wie äußerte sich Protest im Österreich der Jahre 1967 bis 1975? Die Grundvoraussetzungen waren hierzulande alleine aufgrund der bestehenden Strukturen der Studierendenvertretung jedenfalls völlig andere als in Westeuropa. Durch die Erfahrungen mit der rassistisch organisierten und ab den frühen 1930er Jahren nationalsozialistisch geführten Deutschen Studentenschaft wurde im September 1933 die Vorläuferorganisation der ÖH gegründet, in der nach dem Kammerprinzip alle österreichischen Studierenden ohne Ansehen von Religion, Herkunft, Stand oder Geschlecht vertreten waren, aber keinerlei Rechte hatten, ihre Vertretung zu bestimmen. Nach 1945 wurde diese Konstruktion erneut aufgenommen und im Laufe der Zeit auf demokratische Weise umgestaltet. Als Körperschaft öffentlichen Rechts hatte die ÖH einerseits eine weitaus bessere Ausgangsposition im (hochschul-)politischen Machtgefüge als die Studierendenvertretungen in anderen Ländern, die Einbindung in die universitären Strukturen erschwerte aber andererseits jeden revolutionären Ausbruch. 1950 wurde der Status der ÖH im Hochschülerschaftsgesetz geregelt. Es gab drei Vertretungsebenen: das österreichische Studentenparlament, den Zentralausschuss, an jeder Hochschule einen sogenannten Hauptausschuss sowie Fakultäts- bzw. Fachschaftsvertretungen. Die ÖH war in den 1950er und 1960er Jahren geprägt von einer mehr oder weniger deutlichen Mehrheit der Österreichischen Volkspartei (ÖVP)-nahen Studierenden und einer starken rechten Minderheit, die im Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) versammelt war. Die sozialistischen Studenten (VSStÖ) lagen nur auf dem dritten Platz und erreichten selten die 20 % Marke. Zu dieser statischen politischen Situation trugen die soziale Undurchlässigkeit der Hochschulen und das Fehlen einer politischen Szene in relevanter Größe links der Sozialistischen Partei (SPÖ) bei. Es ist also nicht überraschend, dass die studentischen Protestaktionen der frühen 1960er Jahre in enger Abstimmung mit der universitären Obrigkeit und in großer politischer Einigkeit (unterstützt von allen Parteien, von der Freiheitlichen Partei-FPÖ bis zur Kommunistischen Partei-KPÖ) abgehalten wurden. Das gemeinsame Ankämpfen gegen die Unterdotierung der Universitäten, ja sogar gegen Kürzungen des knapp bemessenen Budgets hatte wenigstens Teilerfolge zu verzeichnen.3 Problematische Allianzen, wie etwa die Wahl von Heinrich Sequenz (NS-Rektor der Technischen Hochschule in Wien von 1942–1945) als Redner bei der Abschlusskundgebung von 1961, wurden nicht als solche erkannt. Mit den ÖH-Wahlen von 1967 kam erstmals eine nicht den vier bzw. drei 3 Paulus Ebner, »Hochschulen – Armenhäuser von heute«. Der Hochschulstreik 1961, in: TU frei.haus (2011) 18, S. 6. Langfassung unter : https://www.tuwien.ac.at/fileadmin/t/univarch/ downloads/studentenstreik1961.pdf (abgerufen am 1. 12. 2017).

Die österreichischen Studierenden in den 1960er und 1970er Jahren

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Parlamentsparteien zuzuordnende Kraft auf den zweiten Platz an der Universität Graz und erreichte sogar eine Vertretung im Zentralausschuss: Die »Aktion« war eine linksliberale Kraft, einige ihrer Gründer wurden später als Journalisten oder als Filmemacher (Gerfried Sperl und Bernhard Frankfurter) bekannt. Sonst blieb auch 1967 alles beim Alten, und zwar bei einer Wahlbeteiligung von konstant ca. 60 %. Die Bedeutung der Österreichischen Hochschülerschaft lag weniger in der Hochschul- als in der Sozialpolitik. Gar nicht überschätzt werden kann ihre Bedeutung für die österreichische Kunst und Kultur in den ersten Jahrzehnten nach 1945. Das reichte von Theatergruppen wie dem »Studio der Hochschulen«, die bereits unmittelbar nach Kriegsende bisher verbotene oder nicht zugängliche Theaterstücke zur Aufführung brachten und für Künstler wie Hilde Sochor, Michael Kehlmann, Kurt Sobotka oder Helmut Qualtinger erste Auftrittsmöglichkeiten boten,4 bis zu Institutionen wie dem inzwischen weltweit geschätzten, 1964/65 gegründeten Österreichische[n] Filmmuseum, das personell und institutionell direkt aus dem Filmreferat der ÖH der Technischen Hochschule in Wien entstanden ist.5 Darüber hinaus gehörte die Organisation von Dichterlesungen, Filmreihen und Diskussionsveranstaltungen lange Zeit zu den zentralen Aufgaben der ÖH. Die Schaffung einer kulturell, politisch und wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit war wenigstens zwei von drei Fraktionen ein wichtiges Anliegen. Warum von dieser Grundkompetenz – im Gegensatz zu anderen Schwerpunkten der ÖH-Arbeit – fast nichts übriggeblieben ist, wäre genauso einer Untersuchung wert wie die kulturpolitische Bedeutung der ÖH bis in die 1970er Jahre. Exemplarisch für die gesellschaftspolitischen und kulturellen studentischen Aktivitäten steht ein kurzer Blick auf mehrtägige Veranstaltungsreihen, die die kleinste der drei Fraktionen, der VSStÖ, im Jahr 1967, am Standort Wien organisiert hat. Im Frühjahr 1967 zeichnete der Wiener VSStÖ für die aus TeachIns, Vorträgen und kulturellen Veranstaltungen bestehende Reihe Vietnam – Analyse eines Exempels verantwortlich. Dieser Titel knüpfte an jene legendäre Veranstaltung in Frankfurt aus dem Mai 1966 an, bei der Herbert Marcuse eine weithin beachtete Rede gehalten hatte.6 Für die Teach-Ins konnten Referenten wie Günther Anders, Ossip K. Flechtheim, Robert Jungk u. v. a. gewonnen 4 Vgl. Andrea Huemer, Gegenentwurf zu Großbühnen, in: Wiener Zeitung – Extra 27./28. 10. 2012. Online: http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/buehne/496818_Gegenent wurf-zu-Grossbuehnen.html (abgerufen am 1. 12. 2017). 5 Vgl. dazu Eszter Kondor, Aufbrechen. Die Gründung des Österreichischen Filmmuseums, Wien 2014. 6 Herbert Marcuse, Vietnam – Analyse eines Exempels. Abgedruckt in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995. Band 2, Hamburg, 1998, S. 205–209.

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Paulus Ebner

werden. Vorträge bei dieser VSStÖ-Tagung hielten unter anderem der österreichische Caritas-Präsident Prälat Leopold Unger und der Protagonist der Bekennenden Kirche und ehemalige KZ-Häftling Pastor Martin Niemöller. Die Veranstaltung dauerte von 25.4. bis 5. 5. 1967.7 Nur ein Monat später organisierte der VSStÖ in Reaktion auf den 6-TageKrieg eine große Solidaritätskundgebung mit Israel, bei der unter anderem Bruno Kreisky und Bruno Pittermann auftraten. Eine weitgehend improvisierte Veranstaltungsreihe, in der unter anderem der Dialog zwischen Juden und Moslems in Österreich forciert werden sollte, setzte dieses Friedensengagement fort. Eine große Tagung im Oktober 1967 zum Thema Sexualität ist nicht pervers. Normierte Sittlichkeit im Österreichischen Strafrecht. Positionen moderner Wissenschaft wurde auch von der sozialistischen Presse intensiv unterstützt. Um nur einige der prominentesten Teilnehmer und Vortragenden zu nennen: Theodor W. Adorno, der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und der Psychologe Hans Strotzka.8 Nicht unerwähnt bleiben kann der Aktivismus der Jahre 1968/69, ein Aktivismus, der – verglichen mit studentischen Protestformen des 21. Jahrhunderts – in den Mainstream-Medien zwar negativ, dafür aber ausführlich Resonanz gefunden hat: So etwa die Störung des Blasmusikkonzerts am Nachmittag des 1. Mai 1968 am Rathausplatz, die Aktion »Kunst und Revolution« im Hörsaal II des Neuen Institutsgebäudes im Juni 1968, an der nur ein aktiver Student9 teilnahm, die Störung der Rektors-Inauguration an der Universität Wien im November 1968 samt Tumulten und schließlich der Sturm auf die Staatsoper im Jänner 1969 anlässlich des Schah-Besuches in Österreich und darauf folgende Straßenschlachten.10 Das alles löste in einer zutiefst aufgescheuchten Öffentlichkeit Angst aus und sorgte vor der Folie der Nachrichten aus Deutschland und ˇ SSR, für größtmögliche mediale Frankreich, aber auch aus den USA und der C Aufmerksamkeit. Weitgehend ohne medialen Widerhall blieben dagegen die zum Teil sehr nachhaltigen Versuche, die Verhältnisse an den Universitäten grundlegend umzugestalten, wie etwa die Abfassung des Obertrumer Konzepts für eine 7 Programm siehe neue generation 17 (1967/68), April 1967. 8 Herbert Leirer, Silvio Lehmann (Hg.), Sexualität ist nicht pervers. Vorträge und Diskussion im Rahmen einer Informationsreihe, veranstaltet vom Verband Sozialistischer Studenten Österreichs in der Zeit vom 16. bis 20. Oktober 1967 an der Universität Wien, Wien 1969. 9 Der aus Oberösterreich stammende Architekturstudent Otmar Bauer wurde wegen dieses Auftritts auf Dauer von der TH in Wien relegiert und musste sein Studium aufgeben. S. Otmar Bauer, 1968, Wien 2004. 10 Vgl. dazu Paulus Ebner/Karl Vocelka, Die zahme Revolution. ’68 und was davon blieb, Wien 1998, S. 185–189.

Die österreichischen Studierenden in den 1960er und 1970er Jahren

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Hochschulreform in Österreich, der Versuch, eine Urwahl an der Universität Linz zur Bestimmung eines neuen Rektors (jede/r Universitätsangehörige – egal welchen Rangs – hatte eine Stimme) im Herbst 1968 durchzuführen, oder das verstärkte Auftreten von Basisgruppen an der Universität Wien, die sich »Institutsvertreterkonferenzen« nannten, in den Jahren 1969 und 1970. Doch weder aktionistische noch reformistische Aktivitäten änderten zunächst etwas an den Wahlergebnissen zum Zentralausschuss und an den Machtkonstellationen in der ÖH. In beiden Großparteien war das Verhältnis zu den eigenen Studentenorganisationen in diesen Jahren sehr angespannt. Die ÖVP-nahen Studenten änderten sogar den Namen, erzielten aber wieder einen Wahlsieg. Anstelle des sehr stark CV-dominierten »Wahlblocks« trat nun die Österreichische Studentenunion (ÖSU), die »dem Zuge der Zeit entsprechend« etwas liberalere, zum Teil linkskatholische Akzente setzte. Gruppen, die links des VSStÖ standen, blieben weiterhin komplett marginalisiert. Doch auf der gesetzlichen Ebene waren die Bemühungen durchaus erfolgreich: Mit dem Hochschülerschaftsgesetz von 1973 wurden einige wesentliche Punkte im Sinne der ÖH geändert: Das schon seit langer Zeit von linken Kräften geforderte aktive Wahlrecht für ausländische Studierende konnte endlich durchgesetzt werden. Bis dahin hatten diese keinerlei Mitbestimmungsmöglichkeit. Mit dem Gremium der Studienrichtungsvertretungen wurde eine vierte Ebene der ÖH eingezogen, in der im Gegensatz zu den drei anderen Ebenen die Wahl von Personen und nicht von Listen erfolgte. Dies bot »lokal« agierenden, meist links orientierten (Instituts-)Basislisten die Chance, ebenfalls innerhalb der ÖH aktiv zu werden. Für die Zukunft wurde damit die Etablierung von Basisoder Fachschaftslisten erleichtert, was Auftreten und Zusammensetzung der ÖH, insbesondere an Technischen Universitäten, nachhaltig verändern sollte. Zusammenfassend lässt sich resümieren, dass es wohl kein Jahrzehnt in der Studierendenpolitik der österreichischen Republik gab, in dem derart gravierende Umwälzungen zu beobachten waren. Hier werden – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – einige davon aufgelistet: 1) Eine der bittersten Veränderungen war der Absturz der Wahlbeteiligung an den ÖH-Wahlen im Untersuchungszeitraum. Dieser war nachhaltig und setzte sich in den folgenden Jahrzehnten immer weiter fort: Gaben bei den ÖH-Wahlen des Jahres 1967 noch 59 % der Studierenden ihre Stimme ab, so sank diese Zahl bis zur Wahl von 1975 auf 33 %. Auch wenn es dafür Erklärungen geben mag, wie etwa die rasante Zunahme von berufstätigen Studierenden, die keine besonders enge Verbindung zur eigenen Hochschule hatten, es bleibt doch ein untersuchenswertes Phänomen: Gerade zu einer Zeit, in der die Politisierung der Hochschulen einen in der Zweiten Republik einmaligen Stand erreichte und in der die Hochschulpolitik, also auch die Studierendenfraktionen, epochale Reformerfolge feiern konnten, fiel das

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Interesse der Studierenden an der eigenen Vertretung auf einen historischen Tiefstand. Damit verbunden war natürlich auch der Verlust von Legitimierung oder wenigstens des politischen Gewichts der ÖH. 2) Ebenfalls unaufhaltsam und nachhaltig verlief der Niedergang des rechten Lagers an den Hochschulen. Im Jahrzehnt von 1965 bis 1975 verlor der RFS zunächst den seit seinem ersten Antreten in den frühen 1950er Jahren gehaltenen zweiten Platz, um in den Jahren nach 1975 endgültig in der hochschulpolitischen Versenkung zu verschwinden. An dieser komplett marginalen Rolle haben auch die Wahlerfolge der FPÖ, der der RFS nicht als Teilorganisation angehört, unter Haider und Strache nichts geändert. 3) Für das linke Spektrum erscheinen die ÖH-Wahlen des Jahres 1974 als Höhepunkt eines sehr langsam auch in Wahlergebnissen umgesetzten Linkstrends. Ca. 20 % der Stimmen gingen an Fraktionen, die sich links vom VSStÖ positioniert hatten und ein wenigstens verbal revolutionäres Politikmodell vertraten. Darunter waren Trotzkisten und KPÖ-treue Studierende, vor allem aber die Liste Kommunistischer Hochschulorganisationen, ein Zusammenschluss von meist orthodoxen maoistischen und stalinistischen Organisationen. Die größte Überraschung war, dass unter Federführung der marxistisch-leninistischen Studenten (MLS) die Erstellung einer gemeinsamen Liste gelang und diese dann sogar mehr als 5 % der Stimmen erzielte. Schon ein Jahr später, bei den Wahlen 1975 zerfiel das Bündnis, und linke Erfolge blieben Ausnahmen. 4) Erstmals wurde auch in großem Stil versucht, aus den Strukturen der ÖH auszubrechen. Die IVK lösten sich zwar 1970 wieder auf, aber die Illusion, dass alles von ganz rechts bis ganz links innerhalb der ÖH Platz habe, war damit erstmals gebrochen. So gesehen sind der große Studierendenprotest des Jahres 1987, der sich explizit sowohl gegen Regierung als auch gegen die eigene gesetzlich vorgeschriebene Vertretung, also die ÖH, richtete, und auch die europaweit wahrgenommene »unibrennt«-Bewegung von 2009/10 Ausläufer dieser erstmals geschlagenen Bresche. Reform oder Revolution? Diese Alternative wurde an den österreichischen Hochschulen der 1960/1970er Jahre eindeutig zugunsten der Reform entschieden. Politischer Aktivismus und auch Aktionismus haben aber sicher entscheidend dazu beigetragen, dass eine derart umfassende und in Teilen revolutionäre Universitätsreform wie das UOG 1975 gelingen konnte. Die dadurch mögliche und notwendige studentische Mitarbeit in den Gremien kanalisierte die studentischen Aktivitäten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass spätere Protestbewegungen zumeist außerhalb oder sogar gegen die Österreichische Hochschülerschaft entstanden sind.

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Haschisch unter den Barrikaden. Ein Nachtrag in Form einer Vorgeschichte

Diese Skizze betrachtet Umbrüche als historische Phänomene im Sinne einer Zeitfaltung, die Wissen-Macht-Konstellationen als Formationen von Kontinuität und Kontingenz auffasst. Am Beispiel der (zeitweiligen) Aktivierung des Haschisch- und des Coca-Rausches in der Zeit der europäischen Revolutionen Mitte des 19. Jahrhunderts wird gezeigt, wie dieser Prozess in widersprüchlicher Weise gewaltvolle koloniale Unternehmungen mit Gesten der Erfahrung des Anderen und der Ent-Unterwerfung zusammenbindet. In this sketchy case study I argue that time-folds can make us understand constellations of knowledge and power as composite forms of continuity and contingency. My example here is the temporary activation of hashish and coca (leaves) in the age of European revolutions around 1850. This case study illustrates the inner contradictions of this process: colonial violence, experiencing the Other, othering and gestures of rebellion were all inscribed into the European hashish and coca inebriation around 1850.

Unter einem Umbruch lässt sich Verschiedenes verstehen. In der Sprache der Drucker ist ein Umbruch die Grenze zwischen einer Seite und der nächsten, eine Stelle, an der im 18. und auch z. T. noch im 19. Jahrhundert das erste Wort der nächsten Seite ganz unten abgerückt vom restlichen Text stand; ein Vorausblick darauf, wie die nächste Seite beginnen würde. Dieser Brauch hatte praktische Gründe: Die wiederholten Wörter erlaubten zu kontrollieren, ob die Druckbögen richtig zusammengesetzt waren. Ein Seitenumbruch – ursprünglich auch verbunden mit dem Falten der bedruckten Bögen, bevor die Broschur erfolgte – kann also stehen für Wiederholung und Markierung, aber auch zugleich für Ende und Neuanfang. Dieses Konzept einer widersprüchlichen Einheit von Kontinuität und Bruch am Übergang von einer Seite zur nächsten lässt sich auch auf historische Vorgänge übertragen. So wie das letzte/erste Wort einen ganz spezifischen Fortgang des Textes verspricht und auch festzuzurren versucht, so prekär ist dieser Übergang: Wer weiß, ob die Leserin am Seitenende noch die Kraft zum Umblättern hat, ob das Papiermesser griffbereit daliegt, wenn die Seiten noch nicht

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aufgeschnitten sind, ob sich das Personal in der Druckerei nicht geirrt oder (auf heutige Verhältnisse übertragen) der automatische Sortiervorgang falsch programmiert ist? Hans Magnus Enzensberger sieht in der zeitlichen Sukzession der (historischen) Ereignisse ein »zentrales Dogma der Moderne«, ein wesentliches Element moderner Geschichtsphilosophie, unter dessen Eindruck weitgehend geleugnet werde, dass im Gegenteil der Anachronismus, (von mir verstanden als die gleichzeitige Aktualität verschiedener und konträrer historischer Konstellationen) »kein vermeidbarer Fehler, sondern eine Grundbedingung der menschlichen Existenz« sei. Er greift zur Erläuterung auf eine Metapher zurück, die zwar nichts mit Buchdruck zu tun hat, aber deren zentrales Bildelement ebenfalls dasjenige der Faltung ist: den Blätterteig. Damit erläutert er die geschichtsphilosophische Denkfigur der Kontingenz.1 So wie dessen Elemente bei jedem Ausrollen und Falten eine neue Position im Raum zugewiesen bekommen sowie neue Beziehungen zu den Elementen der über und unter ihnen liegenden Punkte erwerben, so verändert sich die Bedeutung eines Ereignisses, eines Menschen, eines Objekts in der Abfolge der Faltungen und Schichtungen des Teigs. Mit politischen und wissenschaftlichen Umbrüchen gehen solche »Zeitfaltungen« einher : Die Menschen, Objekte, Symbole verbleiben in einem geschichtlich-geographischen Raum, ändern aber die Richtung und die Konstellation. Die Bedeutung einer Geste, einer Substanz, einer Institution kann sich ändern, ihre Funktion und ihre Zusammensetzung, je nachdem, in welchem zeitlichen und räumlichen Kontext sie sich befindet. Aber es entstehen auch Räume für die Einführung von Neuem: Auf die Bühne treten neue Personen, Artefakte, Gesten und – darauf möchte ich mich hier konzentrieren – Stoffe. Aber auch diese haben Vorgeschichten und Herkunftsorte, an denen wiederum bestimmte Zeit-/Raumkonstellationen festzustellen sind. Mit diesen veränderten Konstellationen ergeben sich verschiedene Ressourcenkonstellationen. Politische Umbrüche sind wesentliche Elemente für das Zutagetreten solch alt/neuer Konstellationen, es entstehen neue Öffnungen (und neue Schließungen), eine unerwartete Konstellation verändert auch die begleitenden Ideologien. Mein historisches Beispiel ist eigentlich ein Nachtrag zu einer Geschichte, die ich bereits einmal erzählt habe, aber statt »Nachtrag« könnte sie ebenso gut »Vorgeschichte« heißen, denn sie betrifft die Konstellationen von Personen und Ressourcen, mit denen Paolo Mantegazza (1831–1910) wieder zusammentraf, als er – eine kleine Familie, ein Päckchen mit Cocablättern und den Plan berühmt zu werden im Gepäck – 1858 von Salta in Argentinien nach Mailand zurückkehrte

1 Hans-Magnus Enzensberger, Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa, Frankfurt a. M. 2002, S. 230f. und S. 231–238.

Haschisch unter den Barrikaden. Ein Nachtrag in Form einer Vorgeschichte

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und in der Folge die wunderbaren Wirkungen des Coca-Kauens in Europa bekanntmachte.2

Haschisch unter den Barrikaden Paolo Mantegazza war gerade 17 Jahre alt, als in seinem Wohnort Mailand Barrikaden standen. Seine Mutter, Laura Solero Mantegazza, unterstützte aktiv die Bewegung des Risorgimento. Neben Initiativen zugunsten der Versorgung und Erziehung bedürftiger Kinder unterstützte sie auch die Soldaten des Risorgimento. 1848 machte sie die persönliche Bekanntschaft Garibaldis und hielt über lange Jahre Kontakt mit ihm.3 Nationale Einigung, Demokratie und Zuwendung zu den sozialen Problemen der italienischen Gesellschaft waren die Themen, die die Bevölkerung, aber auch einen Teil der kulturellen Eliten bewegten. Im selben Viertel trafen sich bereits ein Jahr vor dem Höhepunkt der Kämpfe in Mailand4 einige Wissenschaftler, die ebenfalls dem ›Dunstkreis‹ des Risorgimento angehörten, um die Effekte von Haschisch durch Selbstexperimente zu erproben. Dabei handelte es sich um die Mediziner Andrea Verga (1811–1895) und Giovanni Polli (1812–1880), den Ökonomen und Schriftsteller Francesco Vigank (1807–1891), den Arzt Pietro Morardet sowie noch einige weitere Beteiligte (die an diesem Abend aber kein Haschisch konsumierten), darunter wahrscheinlich der Apotheker Carlo Erba (1811–1888). Sie betraten mit diesen Selbstexperimenten kein absolutes Neuland, sondern griffen vielmehr ein gerade aktuelles Thema auf, das insbesondere nach der Veröffentlichung von Moreau de Tours Studie im Jahr 18455 die Neugier zahlreicher Personen aus der Intelligentsia erregt hatte. Über das langfristige Zusammenwirken zwischen Wissenschaftlern und Literaten ist von beiden Seiten, dem Mediziner Moreau des Tours und den beteiligten Schriftstellern, ausführlich berichtet worden. Der Diskurs 2 Bettina Wahrig, »Fabelhafte Dinge«: Arzneimittelnarrative zu Coca und Cocain im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 32 (2009), S. 345–364; dies., Eigenes und Fremdes: Paolo Mantegazza und die Geburt der europäischen Coca, in: Larissa Polubojarinova, u. a. (Hg.), Phänomenologie, Geschichte und Anthropologie des Reisens, Kiel 2015, S. 208–220. 3 Paolo Colussi, Laura Solero Mantegazza http://www.storiadimilano.it/Personaggi/Ritrat ti%20femminili/mantegazza.htm (abgerufen am 15. 1. 2018). 4 Die »Cinque Giornate di Milano«. Samorini behauptet sogar, der junge Paolo Mantegazza sei selbst auf den Barrikaden dabeigewesen. Giorgio Samorini, L’erba di Carlo Erba. Per una storia della canapa indiana in Italia 1845–1948, Torino 1996, S. 18. Dieses Werk bildet die Grundlage meiner Ausführungen über die Mailander »Haschischinen«. 5 Jacques-Joseph Moreau de Tours, Du hachisch et de l’ali8nation mentale. Ptudes psychologiques, R8impression de l’8dition de Paris, Paris 1845.

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aus dem Rausch heraus und über den Rausch bekam, katalysiert durch die regelmäßigen Treffen des »Club des Hachishins« sowie deren literarische Produktionen, einen Ort in der Öffentlichkeit. Rausch-Diskurse und der Rausch selbst wurden zu einem Topos oder vielleicht besser zu zwei Topoi, zu einem literarisch-wissenschaftlichen und einem wissenschaftlich-literarischen.6 Die halb-öffentliche Kultivierung des Rausches wurde, in Charles Baudelaires Paris wie später in Oscar Wildes London, zu einem Zeichen dafür, dass die westeuropäischen Gesellschaften Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Fermente für subjektive und objektive Veränderungen, für Ent-Unterwerfung, Subversion, gar offene Rebellion, hervorbrachten. Wie Moreau de Tours und seinem Kreis standen den italienischen Forschern neben Informationen aus Ägypten Berichte über die Haschischwirkung aus der Feder eines irischen Arztes in der Calcutta Medical School zur Verfügung, der über eigene Erfahrungen mit indischen Hanfpräparaten zur Behandlung diverser Krankheiten, vor allem Cholera und Tetanus, berichtete.7 Die erwähnte Zusammenkunft im Jahre 1847 wurde dokumentiert in der Gazzetta Medica di Milano in einem »Brief über den Haschisch« an den Herausgeber, verfasst von Andrea Verga, der diese ersten Selbstexperimente der italienischen Revolutionäre beschrieb. Seine Rolle war die eines Beobachters und Protokollanten. Polli, Vigank und Morardet hatten das Haschisch konsumiert. In der Folge sollte Verga auch über seine eigenen Erfahrungen mit der Wunderdroge berichten.8 Die Wissenschaftler hatten sich von einem Händler aus Alexandria Haschisch besorgt. Später etablierte Carlo Erba eine regelmäßige Versorgung mit ägyptischem Haschisch und entwickelte als Pharmazeut auch diverse eigene Zubereitungsformen. Moreau de Tours hatte in seinem Werk besonderen Wert darauf gelegt, dass die Selbstexperimente der Haschischesser zu einem besseren Verständnis der »ali8nation mentale«, d. h. der verschiedenen Formen des Irreseins verhelfen sollten, und er hatte betont, dass die Droge selbst keine unerwünschten Wirkungen habe. Verga meldete Zweifel an: Während Moreau behaupte, der Haschischkonsum sei nicht nur »senza inconvenienti«, sondern transportiere die Konsumenten

6 Katrin Solhdhju, Selbstexperimente: die Suche nach der Innenperspektive und ihre epistemologischen Folgen, München 2011. 7 William Brooke O’Shaughnessy, On the Preparations of the Indian Hemp, or Gunjah, in: Tod H. Mikuriya (Hg.), Marijuana: Medical Papers 1839–1972, Oakland 1973, S. 3–30; zuerst Transactions of the Medical and Physical Society of Bengal, 1838–1840, S. 421–461. Eine genaue Auflistung der italienischen Publikationen zwischen 1840 und 1847 gibt Samorini 1996, S. 15–17. 8 Andrea Verga, Lettera sull’haschisch, in: Gazzetta Medica di Milano 6 (1847), S. 263–264.

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auch »in un mondo di felicit/ ineffabile«,9 hätten die drei Mailänder Versuchspersonen zwar keine wesentlichen Beeinträchtigungen, aber doch am nächsten Tag ein gewisses Gefühl von Schwere im Magen und Kopfschmerzen erlitten. Jedoch ließ sich nicht bezweifeln, dass seine drei Berauschten einen hohen Grad an »Glückseligkeit« erlebt hatten.10 Die euphorisierten Experimentatoren stellten keine Beeinträchtigung des eigenen Bewusstseins fest und konnten ihre durch die Droge verursachten Zustände selbst beobachten. Einer der Begeisterten wähnte, immer das rechte Wort zu finden, aber im richtigen Moment schweigen zu können, was er umgehend durch halbstündige Stille bewies.11 Verga beobachtete bei allen drei Versuchspersonen Redelust, logische Inkohärenzen, gehobene Stimmung, aber keine Symptome des alkoholischen Rausches und auch nicht die für Opium typische Herabstimmung des Sensoriums. Verga bezweifelte auch Moreaus Behauptung, dass der Haschisch-Rausch Einblicke in die Ursachen und die psychischen Prozesse beim Irresein gewähre. Zwar habe er bei seinen Kollegen eine Art Verdoppelung des Ichs festgestellt, sodass sich die Probanden selbst beim Delirieren zuschauen konnten. Aber es waren keine Wahnsymptome oder Halluzinationen zu beobachten. Auch wenn ein ausführlicher Vergleich zwischen den Mailänder und den Pariser Haschisch-Interessierten – der hier aus Platzgründen unterbleiben muss – zahlreiche Unterschiede ergäbe, zählt zu den Gemeinsamkeiten, dass sich gemischte Kreise aus Literaten und Wissenschaftlern zusammenfanden und dass in der literarischen ›Ausbeute‹ der Erfahrungen auf beiden Seiten zahlreiche neue Erzählformen und Narrative entstanden. Dies ist besonders deutlich in der Komposition der Paradis artificiels von Charles Baudelaire, die neben zwei eigenen langen Essays nicht nur Beiträge von Th8ophile Gautier, sondern auch Baudelaires Übersetzung der Confessions of an English Opium Eater enthalten.12 Eine gewisse rebellische Haltung, die Suche nach neuen Substanzen, verbunden mit der Ideologie des Neuen und dem Habitus des unvoreingenommen Forschers, des »Psychonauten«, wie Samorini die italienische Gruppe nennt,13 ist den Intellektuellen gemeinsam. Im Vorwort zu den von ihm herausgegebenen Annali di Chimica applicati alla Medicina sieht Polli sich und seine Mitstreiter – 9 Verga 1847, S. 264. 10 »Tanta era la sua beatitudine che esaltava l’ebbrezza del haschisch sopra quella di tutti gli inebbrianti conosciuti.« Verga 1847, S. 264. 11 »Tanta era la sua beatitudine che esaltava l’ebbrezza dell’haschisch sopra quella di tutti gli inebbrianti conosciuti, perchH egli aveva la parola pronta e sapeva dar ragione di tutto e tacere anche se occorresse, e infatti messo alla prova si tenne in silenzio per quasi una mezz’ora. Percik egli proponeva l’haschisch come un ottimo stimolo per chi si accinga a pubbliche discussion.« Verga 1847, S. 264. 12 Thomas de Qunicey, Confessions of an English Opium Eater, London 1823; Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, pr8c8d8 d’une notice par Th8ophile Gautier, Paris 1868. 13 Samorini 1996, S. 8.

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ganz ähnlich wie im selben Zeitraum gegründete europäische Zeitschriften – als Befürworter eines neues Typus von Wissenschaft: »Während wir einerseits die Fortschritte und Neuigkeiten verfolgen werden, [wollen wir] andererseits an den Grundfesten und der Konstruktion des Gebäudes arbeiten, in dem die zukünftigen Entdeckungen ihr Nische oder ihren Sockel finden werden.«14 Erfahrung und Rationalität drücken ihrer Wissenschaft den Siegel der Neuerung und des Fortschritts auf. Zehn Jahre später war in Mailand ein Sieg der Kräfte des Risorgimento absehbar. In jenem Jahr kam der junge Arzt Paolo Mantegazza, ein Sohn Laura Soleras, aus Südamerika zurück und machte unter Anleitung von Andrea Verga, in dessen Klinik er Anstellung gefunden hatte, seine Selbstversuche mit den Cocablättern, die er von seiner Reise mitgebracht hatte und die seinen Ruhm begründeten. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, wie stark seine Rauscherlebnisse denjenigen aus Moreau de Tours Dokumenten zu den Pariser Selbstexperimenten ähneln.15 Auch einige Gemeinsamkeiten mit dem oben zusammengefassten Haschisch-Protokoll sowie weiteren Berichten der Mailänder Haschischesser lassen sich finden. Wie es die »Psychonauten« vorgemacht hatten, nahm Mantegazza bei seinen Versuchen Coca in steigender Dosis zu sich. Die Beschreibungen bewegen sich demnach vom Gefühl eines »angenehmen Rauschens« im Ohr über ein Gefühl allgemeiner Glückseligkeit hin zu bunten und humorvollen Illusionen wie safranfarbige Tintenfische und grünohrige Kaninchen, von denen die Frage ist, wie sie vom bloßen Coca-Kauen16 zustande gekommen sein konnten.17

Die Stoffe und ihre Herkunft Die plötzliche Prominenz von Haschisch im 19. Jahrhundert war auch zwei kolonialen Unternehmungen geschuldet: der zunehmenden Integration Indiens in das britische Empire und dem Ägyptenfeldzug Napoleons. Napoleon hatte einen großen Tross von Gelehrten auf seinen Feldzug mitgenommen, die nach ihrer Rückkunft zwischen 1809 und 1822 eine mehrbändige Description de 14 »Mentre da una parte terremo dietro ai progressi e alle novit/ continueremo, dall’altra, a lavorare la base e le prime costruzioni dell’edificio, nel quale avver/ che le future scoperte trovino g'/ la loro nicchia o I loro piedestallo.« Polli, Prefazione all Iio Volume, in: Annali di Chimica applicata alla Medicina 2 (1846), S. 317, S. 8. 15 Wahrig 2009, S. 355. 16 Mantegazza hat die Blätter nicht alkalisiert, was vermuten lässt, dass die Wirkstoffkonzentration nicht sehr hoch war. Darüber, wie er dann zu seinen bizarren Visionen kam (s. u.), kann nur spekuliert werden. 17 Weitere siehe Wahrig 2009; Mantegazza: Sulle virtF, S. 494f.

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l’Egypte verfassten. Anne Godlewska hat die Description als Instrument und Ergebnis eines »intellectual conquest« bezeichnet. Eroberung, Beherrschung, systematische Berechnung und Aufzeichnung machten sie zu einem typischen Projekt aufklärerischer Rationalitätsideologie, der die Beherrschung als technisches und verzeichnendes Projekt eingeschrieben war.18 Die Herrschaft der Rationalität aber schlägt nicht nur ideologisch, sondern ganz real in eine Rationalität der Herrschaft um.19 Sich eines Landes zu bemächtigen heißt auch, über seine ›wunderbaren‹ Schätze zu verfügen, sie sich anzueignen. Was die Verfügung über (Wirk)stoffe angeht, so war Ägypten als Ort der Zubereitung, des Handels und Konsums von Haschisch ebenso interessant wie Indien als Ort der Produktion (und auch des Konsums). Schon 1809 konnte das Fachpublikum zwei separate Aufsätze über die ägyptischen Arzneimittel lesen, in denen Haschisch eine prominente Rolle spielte.20 Während Sylvestre de Sacy Marco Polos Legende der Assassinen reaktivierte, die besonders aggressiv gekämpft haben sollten, weil sie Haschisch konsumierten, gab der Pharmazeut Pierre Charles Rouyer eine Übersicht über in Ägypten übliche Arzneimittel. Er stellte die zeitgenössischen Ägypter als so glaubens- und schicksalsergeben dar, dass sie kaum Medikamente konsumierten, aber er beschrieb doch 81 medizinisch verwendete Substanzen. Beide Autoren kannten eine große Zahl von medizinischen Indikationen, in denen verschiedene Zubereitungen der Hanfpflanze21 zum Einsatz kamen. Sie berichteten aber auch über ihren Einsatz als Rauschmittel. Die Biographie William O’Shaughnessys ist Teil einer größeren Geschichte, die anhand der hier angedeuteten Fallstudie zu erzählen wäre.22 Als Mediziner irischer Herkunft – auch er also vom Kolonialismus betroffen – fiel es ihm schwer, sich als akademischer Arzt im Königreich zu etablieren. Obwohl er 18 Anne Godlewska, Map, Text and Image. The Mentality of Enlightened Conquerors: A New Look at the Description de l’Egypte, in: Transactions of the Institute of British Geographers 20 (1995), S. 5–28. 19 Mark Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969/ 1944, bes. S. 20f. 20 Sylvestre de Sacy, Sur la dynastie des Assassins et sur l’origine de leur nom, Paris 1809 http:// reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10249064.html (abgerufen am 19. 1. 2018), vgl. David A. Guba (2016), Antoine Isaac Silvestre de Sacy and the Myth of the Hachichins: Orientalizing hashish in nineteenth-century France, in: Social History of Alcohol and Drugs 30 (2016), S. 5074; Pierre Charles Rouyer, Notice sur les M8dicamens usuels des Pgytiens, in: Bulletin de Pharmacie 2 (1810) 9, S. 385–415. 21 Cannabis sativa L., Allerdings herrschte zu diesem Zeitpunkt Unsicherheit, ob der indische Hanf seine größere Wirksamkeit einzig und allein den besonderen klimatischen Bedingungen verdankte oder ob er eine besondere Art war. 22 Vgl. Sujaan Mukherjee, W. B. O’Shaughnessy and the Introduction of Cannabis to Modern Western Medicine, in: The Public Domain Review 4 (2017) https://publicdomainreview.org/ 2017/04/19/w-b-oshaughnessy-and-the-introduction-of-cannabis-to-modern-western-me dicine (abgerufen am 19. 1. 2018).

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wegweisende Studien zur Behandlung der Cholera vorzuweisen hatte, konnte er sich in London nicht als Wissenschaftler etablieren und ging als Sanitätsoffizier nach Indien, wo er bald eine bedeutende Rolle spielte. Mit der Einführung der Telegraphie in Indien unterstützte er die Armee des Empire maßgeblich. Die Publikation, die hier interessiert, ist sein Haschisch-Aufsatz, der zunächst als Publikation der Medical Society of Bengal erschien23 und weltweit Beachtung fand. O’Shaughnessy arbeitete zu dem Zeitpunkt am Medical College in Calcutta. Er führte verschiedene Tierexperimente durch und unternahm Behandlungsversuche an Patienten24 mit so verschiedenen Erkrankungen wie Cholera, Rheuma, Epilepsie und Tetanus sowie an gesunden Probanden. Obwohl nicht alle Heilversuche O’Shaughnessys zum Erfolg führten, empfahl er die Substanz für ein breites Spektrum von Krankheiten. Eine merkwürdige zeitliche Koinzidenz ist darin zu sehen, dass der Aufsatz gerade zu Beginn des ersten Opiumkrieges herauskam, zu einem Zeitpunkt also, als England die Versuche Chinas, den Opiummissbrauch im Land einzudämmen, mit der gewaltvollen Durchsetzung jener Gesetze beantwortete, die man schon damals »Handelsfreiheit« nannte.

»Und wenn es an Leichen fehlt…« »… so streckt er sich selbst auf der schwarzen Marmorbahre aus und stößt das Skalpell in sein eigenes Herz«: Mit diesen Worten heroisiert Th8ophile Gautier seinen Dichterfreund Baudelaire und stilisiert ihn zum Helden des Experiments.25 Die vorangehenden Überlegungen sollten zeigen, dass der Komplex Rausch, Rauscherleben und Schreiben über den Rausch im Europa des 19. Jahrhunderts eine sehr vielfältige und sozusagen bis auf die Knochen ambivalente Angelegenheit war. Das Motiv des Selbstexperiments wurde zu einem Schlüsselmotiv sowohl für die erfahrungsbasierte Wissenschaft als auch die Literatur. Andererseits stand gerade die Rationalität des bürgerlichen Subjekts auf dem Spiel. In der Gestalt des Boh8mien war es selbst zum »Agenten der geheimen Unzufriedenheit« des Bürgertums mit seiner eigenen Herrschaft26 geworden: Mantegazza hatte unter dem Einfluss von Coca Lust, »jemandem auf den Kopf zu springen«, und ein armer Teufel, den er in seinem anthropologischen Porträts schildert, klagt das universelle Recht der Menschheit auf Rauschmittel ein, indem er mit der For23 O’Shaughnessy 1839/1973. 24 Davor und zeitlich parallel an sich selbst und etlichen Studenten. 25 Im Vorwort zur zweiten Ausgabe der Fleurs du Mal. Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, pr8c8d8 d’une notice par Th8ophile Gautier, Paris 1868, S. 12. 26 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften I, Frankfurt a. M. 1974, S. 1161.

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derung »Tabak oder Tod!« an einen Gefängnisaufstand erinnert.27 Gleichzeitig stehen diese Diskurse im Zusammenhang einer gewaltsamen kolonialen Aneignung von Landschaften, Ressourcen, Inhalten und Stoffen, wobei es nicht nur um wirtschaftliche Vorteile, sondern auch um die Begründung von einheimischem und kolonialem Rassismus ging. Es sind diese Faltungen zeiträumlicher Konstellationen, die sowohl Aufladungen und Verdichtungen von Bedeutungen als auch von Macht-Wissens-Konstellationen bedingen. Wenn man bedenkt, dass die Aktivierung außereuropäischer Rauschmittel in Europa zu einer ganz bestimmten Kultur des Rausches, zu einer schließlichen Reduktion auf zwei (legitimierte) Rauschmittel sowie zur Kriminalisierung bestimmter Räusche und der sie verursachenden Substanzen geführt hat, dann kann man feststellen, dass dieser Prozess der Kolonisierung des Rausches und der Rauschmittel im 21. Jahrhundert vieles, aber keinen Mangel an Leichen hervorgebracht hat.

27 Paolo Mantegazza, Feste ed ebbrezze. Quadri della natura umana. Band 1 (1871), S. 142. Die Parole »Tabak oder Tod!« wird von Michel L8vy, Trait8 d’hygiHne publique et priv8e, Paris 2 1850, S. 166, zitiert.

Praktiken

Carola Sachse

Bullen, Hengste, Wissenschaftler. Diplomatische Tiere im Kalten Krieg

Die Diplomatie im Kalten Krieg nutzte viele Pfade der Kommunikation und Mediation. Nicht nur Wissenschaftler, auch nicht-menschliche Tiere trugen das Ihre dazu bei, den Atomkrieg zu verhindern. Im Sinne einer »animate history« würdigt dieser Essay den Einsatz einiger männlicher Individuen der Gattungen Equus und Bos taurus. During the Cold War, diplomacy made use of many forms of communication and mediation. In addition to scientists, also non-human animals contributed to preventing nuclear war. In the sense of an »animate history«, this essay aims at appreciating the contributions of several male individuals of the Equus and Bos taurus species.

Eine wundersame Freundschaft verband den amerikanischen »old-fashioned tycoon«, Cyrus S. Eaton (1883–1979), der sich im gepflegten Ambiente seiner Landsitze in Ohio und Nova Scotia gern mit Philosophen und Wissenschaftlern umgab, mit dem polternden sowjetischen Staats- und Parteichef, Nikita Chruschtschow (1894–1971), der schon an Stalins Hof seine lebensrettende Rolle als ukrainischer Bauertölpel zu spielen gelernt hatte – eine Rolle, in die er noch als dessen Nachfolger gelegentlich schlüpfte, wenn er sich auf internationalem Parkett Geltung verschaffen wollte.1 Beide Männer hätten in Habitus, politischen Bindungen und weltanschaulichen Vorstellungen kaum unterschiedlicher sein können. Auch ihre beiderseitige Sorge um den Weltfrieden und Furcht vor dem drohenden Atomkrieg hätten im Zeitalter nuklearen Wettrüstens kaum hingereicht, um jenseits des spieltheoretischen Pokers wechselseitiger Abschreckung eine langjährige Freundschaft zu pflegen. Worauf also gründete diese persönliche Beziehung zwischen dem milliardenschweren Kapitalisten und dem »Red Boss« des Weltkommunismus?2 1 George E. Condon, The Man in the Tower, in: ders., Cleveland. The Best Kept Secret, New York 1967, S. 307–315, S. 315; Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, Frankfurt a. M. 2014, S. 503. 2 Zeitungsausschnitt »Khrushchev’s Favorite Capitalist: Cyrus Eaton«, in: Time. Weekly Magazine, 19. 1. 1959, S. 80, Thinkers’ Lodge Papers, Pugwash, Nova Scotia (TLP).

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Beide setzten auf den Nimbus jener sich selbst gern als ›eminent‹ apostrophierenden Wissenschaftler in Ost und West, die die Atombomben entwickelt hatten und die sich deshalb für berufen hielten, die Welt über die nuklearen Risiken aufzuklären und die Politiker auf beiden Seiten vom Einsatz der Kernwaffen abzuhalten. Die blockübergreifenden Pugwash Conferences on Science and World Affairs (PCSWA), die sich im Anschluss an das Russell-EinsteinManifest von 1955 konstituiert hatten, wurden von Eaton und Chruschtschow als ihr gemeinsames Projekt adoptiert – übrigens durchaus zum Verdruss nicht weniger der beteiligten Wissenschaftler.3 Aber bevor sie ihr Vertrauen in die vermeintlich universale Sprache der Wissenschaft setzten, galt es gegenseitiges persönliches Vertrauen zu gewinnen. Und hier verließen sie sich keineswegs auf die wissenschaftliche Kommunikationskompetenz einer bestimmten Gruppe von Menschen, sondern auf die nicht-sprachliche Ausdruckskraft ganz anderer Tiere, die in der Geschichte der Pugwash-Konferenzen bisher zu kurz gekommen sind. Auch ich habe mich, es lässt sich nicht leugnen, dessen schuldig gemacht, was die »animate history« als ontologischen Anthropozentrismus anprangert, nämlich die Tiere als Handlungsträger aus der Pugwash-Geschichte herausgeschrieben, obwohl sie uns in den Quellen prominent entgegentreten.4 Für meine Wiedergutmachung könnte es keinen besseren Publikationsort geben als diesen Mitchell Ash gewidmeten Band, haben wir doch zusammen an der Universität Wien des Öfteren die ebenso vergnügliche wie Perspektiven erweiternde Ringvorlesung »Menschen und andere Tiere. Beziehungsgeschichten von der Prähistorie bis heute« durchgeführt. Ich nutze also die Chance, meine Aufmerksamkeit im Sinne Gesine Krügers symmetrisch auf Menschen und andere Tiere zu verteilen und einige nicht-menschliche Individuen in die Geschichte des Kalten Krieges hineinzuschreiben.5 Im selben Jahr 1955, in dem Bertrand Russell das von ihm verfasste und von elf – fast durchweg Nobelpreis-gekürten – Naturwissenschaftlern unterzeichnete Manifest der Weltöffentlichkeit übergab, reisten ein oder zwei ebenfalls preisgekrönte Zuchtbullen, reinrassige schottische Shorthorns, von Northfield

3 Zur Geschichte der PCSWA vgl. das Themenheft: The Pugwash Conferences and the Global Cold War. Scientists, Transnational Networks, and the Complexity of Nuclear Histories, hg. v. Alison Kraft / Holger Nehring / Carola Sachse, Journal for Cold War Studies, Vol. 20, No. 1, Winter 2018. Zur Rolle Eatons vgl. Carola Sachse, Patronage impossible: Cyrus Eaton and ›his‹ Pugwash Scientists. In: Alison Kraft / Carola Sachse (Hg.), Science Diplomacy. The Pugwash Conferences on Science and World Affairs in the Early Cold War Years, Leiden: Brill (angenommen, erscheint 2019). 4 Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.), Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014. 5 Gesine Krüger, Tiere und Imperium. Animate History Postkolonial: Rinder, Pferde und ein kannibalischer Hund, in: ebd., S. 127–152, S. 136–137.

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(Ohio), wo sie aufgewachsen waren, in die Sowjetunion.6 Sie begleiteten eine Gruppe von sowjetischen Agrarfunktionären auf der Heimfahrt von ihrer Informationsreise durch die USA, die auf Wunsch des State Department auch einen Stopp auf Eatons Acadia Farms inkludiert hatte. Denn unser Tycoon war nicht nur der CEO der Chesapeake and Ohio Railroad Company und zahlreicher anderer miteinander verflochtener Unternehmen, er war auch ein leidenschaftlicher Rinderzüchter, der allmorgendlich zu Pferd seine Farmen inspizierte, bevor er sich in sein Büro im Terminal Tower von Cleveland fahren ließ.7 Wir dürfen annehmen, dass Eaton das Geschenk für seine Staatsgäste persönlich ausgesucht hatte. Leider erfahren wir über die Russland-reisenden Bullen sehr viel weniger als über ihren jüngeren Halbbruder, der am 6. September 1955 als vielversprechendes Kalb – kurzbeinig, kompakt und schlachtgerecht geformt – geboren wurde. Er hörte auf den klingenden Namen PS Troubadour und wurde im folgenden Jahr in Chicago zum International Grand Champion Steer über alle Züchtungen gekürt. Eine reich bebilderte Broschüre rekonstruierte seine Genealogie bis hinunter zu Acadias dienstältestem Zuchtbullen, Calrossie Sportsman, und seiner Großmutter, Queen of Beauty 111th, die ebenfalls »years of American breeding« hinter sich hatte. Dokumentiert wurden die Preise seiner Vorfahren, aber auch seine Kindheit, die er unter wissenschaftlicher Aufsicht an der Pennsylvania State University verbrachte – daher der Namenspräfix PS. Unglücklicherweise fing sich das junge Bullenkalb eine Bindehautentzündung ein, die es zwar nur wenige Wochen plagte, aber dennoch sein Schicksal bestimmte. Statt zum Zuchtbullen, so der Beschluss, wurde Troubadour zum Mastochsen herangezogen. Man kastrierte ihn und sorgte sich umso aufwendiger um seine genau berechnete tägliche Diät, seine Körperpflege sowie sein exquisites tägliches Fitnessprogramm, das unter Anleitung eines persönlichen Trainers schon vor dem Frühstück begann. Die Mühe wurde belohnt und PS Troubadour als ein »extremly thick, meaty, well balanced individual« ausgezeichnet, das den Standards der amerikanischen Fleischindustrie ebenso wie den Wünschen der »pretty American housewives« vollends entsprach. Er brachte sensationelle 995 Pfund auf die Waage, die bei der anschließenden Auktion den Rekordpreis von 20,50 $ pro Pfund erzielten. Ersteigert wurde PS Troubadour vom Greenbrier Hotel in West Virginia, womit sich sein Lebenszyklus schloss. 6 Die zeitgenössische Presse sprach nur von einem Bullen, eine agrarwissenschaftliche Auswertung der russischen Fachliteratur hingegen von »zwei Fleischshorthornbullen aus der Zucht von Syrus (sic!) Eaton«, vgl. Philipp Kellner, Die Rinderzucht in der Sowjetunion. Probleme der Organisation des Züchtungswesens und der Kreuzungszucht bei ihrer Entwicklung und Leistungssteigerung, Wiesbaden 1968, S. 243. 7 Condon 1967; Connecticut Walker, Cyrus Eaton: The Communists’ Best Capitalist Friend, in: Parade, Oakland Tribune, 5. 12. 1971, TLP.

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Denn das Luxusresort gehörte Eatons Chesapeake and Ohio Railroad Company, richtete internationale Staatskonferenzen aus und beherbergte Stammgäste wie die Kennedys und Präsident Eisenhower. PS Troubadour indessen endete nach seiner triumphalen Grand Tour durch Nordamerika und einem BlockbusterDebut vor 30 Millionen TV-Zuschauern – zerlegt in zarteste Steaks – in den »capable hands« des ebenfalls mit internationalen Preisen überhäuften Schweizer Greenbrier Chefs Hermann Rusch.8 Das Leben seiner Halbbrüder in der Sowjetunion verlief trotz ähnlicher Genealogie vermutlich weniger glamourös; russische Quellen berichten von erheblichen Anpassungsproblemen.9 Aber sie lebten länger. Das sowjetische Agrarministerium führte sie unverzüglich ihrer Bestimmung zu, nämlich Rote Steppenkühe zu besamen. Drei Jahre später wusste Time zu berichten, dass die Shorthornbullen »had nobly performed to improve the quality of Russia’s herds«.10 Dies war pure Schönfärberei, denn die sowjetischen Züchter waren alles andere als zufrieden: Der Nachwuchs konnte sich ebenso wenig akklimatisieren wie ihre beiden Väter, litt unter der Sommerhitze, mochte das dürre Steppengras nicht und blieb folglich magerer als »seine reinrassigen Steppenrotvieh-Altersgefährten«.11 Anlass für die euphemistische US-Pressemeldung war Eatons erste Reise in die Sowjetunion im Spätsommer 1958. Gleich zu Beginn zeichnete Agrarminister Matskewitsch den amerikanischen Züchter wohl mehr für seine Sorge denn seine Verdienste um die sowjetische Rinderzucht aus. Später empfing ihn Chruschtschow zu einem 90-minütigen Gespräch. Außer der Rinderzucht galt es vor allem die Erfahrungen mit den ersten beiden PugwashKonferenzen und die Erwartungen an die dritte Konferenz zu besprechen, zu der Eaton gleich anschließend nach Wien weiterreiste. Noch in Moskau verfasste Eaton einen langen Artikel für die Titelseite der Prawda, in dem er dem amerikanischen Präsidenten einen »three-day visit of friendship and good will« nahelegte und ihm empfahl, im Gegenzug Chruschtschow in die USA einzuladen.12 Eisenhower folgte zumindest der zweiten Empfehlung und lud Chruschtschow 1959 nicht nur zum Staatsbesuch nach Washington und Camp David, sondern auch zu einem intimeren Treffen auf seine Gettysburg Farm, wo er ihm seine eigene Black Angus-Rinderzucht vorführte und auf deren hohen Fleisch8 Alle vorstehenden Zitate sind der Broschüre entnommen: »PS Troubadour. 1956 International Grand Champion Steer«, International Livestock Exposition, Chicago 1956-11-23 to 1956-12-1, TLP. 9 Kellner 1968, S. 243. 10 Zeitungsausschnitt Time – The Weekly Newsmagazine, LXXII/11 (1958-9-15), Cambridge Archive Center, Cambridge UK (CAC), Rotblat Papers (RTBT) 5/4/7/1. 11 Kellner 1968, S. 243. 12 Übersetzung des Eaton Artikels in der Prawda vom 7. 9. 1958, CAC, RTBT 5/4/7/1.

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ertrag von 60 bis 65 Prozent hinwies. Der sowjetische Kollege war beeindruckt, rechnete aber nach, dass seine heimischen Schweine mit 70 Prozent Fleischertrag immer noch höher lagen. Ikes Gastgeschenk, eine Black Angus-Färse, akzeptierte Nikita dennoch wohlwollend und kündigte im Gegenzug die Übersendung von ausgewählten Birkenschösslingen samt Forstexperten für die Pflanzungen an – Eisenhower hatte ihm gegenüber von Birkenwäldern geschwärmt.13 Anders als die beiden Shorthorn Bullen konnten weder die junge Black Angus-Kuh noch die Birken eine lebenslange Freundschaft zwischen Schenker und Beschenktem begründen. Spätestens nach dem Abschuss des amerikanischen U2-Spionageflugzeugs über Swerdlowsk und dem geplatzten Pariser Gipfeltreffen im Mai 1960 war es mit Ikes und Nikitas Freundschaft aus. Dagegen sollte die andere Freundschaft mit der Verleihung des Lenin-Friedenspreis an Cyrus Eaton wenige Wochen später erst noch gekrönt werden. Sie stand inzwischen auf breiterer Basis; der Bullenmigration von 1955 war der Wissenschaftleraustausch gefolgt: Schon 1956 durfte der Metallurge Alexander Samarin von der sowjetischen Akademie der Wissenschaften die Thinkers’ Lodge in Pugwash (Nova Scotia) besuchen, wohin Eaton seit 1955 Wissenschaftler und Intellektuelle aus aller Welt zu sommerlichen Retreats lud und wo 1957 die erste Pugwash-Konferenz stattfinden sollte. Linus Pauling, Dmitri Skobeltsyn, Leo Szilard und Alexander Topchiev, allesamt Teilnehmer der ersten Pugwash-Konferenzen, erweiterten die Zweierfreundschaft zu einer, wie Eaton es nannte, »community of friendship«, die es global auszuweiten galt.14 Alle Seiten waren auf die transkulturellen Regeln der Reziprozität bedacht. Chruschtschow nahm sich Zeit, seine Gegengeschenke sorgsam vorzubereiten. Im Januar 1959, vier Monate nach Eatons Moskaureise, traf eine ›Troika‹ auf den Acadia Farms ein: Drei prächtige Schimmelhengste tänzelten, vor eine elegante, schwarzlackierte, offene Kutsche gespannt, im Schnee von Ohio: der fünfjährige Natourschik (Naturbursche) in zentraler Führungsposition, links und rechts unterstützt von dem ebenfalls fünfjährigen Otklik (Antwort) und dem zehnjährigen Conus (Kegel), die eine halbe Schrittlänge kürzer eingespannt ihre Köpfe im Gespann stets leicht nach außen neigen mussten – als perfekt eingespieltes Team waren sie aus sowjetischen Allunionswettbewerben als Champions hervorgegangen. Begleitet wurden sie von ihrem langjährigen Trainer und ihrem Veterinär, die sie während der langen Land- und Seereise betreut hatten und jetzt das Pflegepersonal auf Acadia Farms einschulen sollten.15 Eaton ließ wiederum eine reich bebilderte Broschüre anfertigen und bei 13 Sergei Khrushchev (Hg.), Memoirs of Nikita Khrushchev. Band 3: Statesman (1953–1964), University Park PA 2007, S. 168. 14 Zitiert nach Marcus Gleisser, The World of Cyrus Eaton, Kent (Ohio) 2005, S. 272. 15 Hierzu und zum Folgenden: Broschüre »Troika. Exhibited by Cyrus Eaton, Acadia Farms, Northfield, Ohio« 1959, TLP.

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Landwirtschaftsmessen, Rodeos und anderen Anlässen verteilen, bei denen Natourschik, Otklik und Conus sich als Troika in Cleveland und Umgebung präsentieren durften. Darin wurden die drei Hengste als würdige Sprosse einer traditionsreichen Rasse präsentiert, einer Kreuzung aus Araberhengsten und dänischen Kutschenmähren. Diese Orloff-Rissaky-Zucht ließ sich bis an den Zarenhof Katharinas der Großen zurückverfolgen und blieb eng mit der russischen Geschichte verbunden. Troikas als Einheit von Gefährt und Spannpferden waren die Postkutschen des Zarenreichs. Aber sie waren auch das Statussymbol der Adeligen und Patrizier, die sich, nachdem sie zunehmend motorisiert reisten, bei sportlich-exklusiven Troika-Rennen vergnügten. Heroischer war der Einsatz von Troikas im Zweiten Weltkrieg: Statt mit Kutschen mit speziellen Schlitten für Schlamm und Schnee verspannt, versorgten sie das belagerte Stalingrad. Ansonsten hatte Stalin wenig Verwendung für sie. Erst nach seinem Tod wurde das elitäre Vergnügen der Zarenzeit popularisiert: Seit 1954 gehörten Troika-Wettbewerbe und Rennen samt Wettbüros zum Begleitprogramm von Landwirtschaftsmessen; allein 15 staatliche Zuchtfarmen sorgten für konkurrenzfähigen Nachwuchs. Glaubt man Eatons Broschüre, so strömten auch im kapitalistischen Westen 15.000 Menschen auf einer Rennbahn bei Cleveland zusammen, um die weißen Hengste bei ihrer ersten Ausfahrt zu bewundern. Aber auf Acadia Farms schienen sie nicht heimisch zu werden. Wie Eatons Biograph berichtete, fanden die »mächtigen reinweißen fremden Riesen« keinen Anschluss an ihre Stallgenossen und zogen sich »hochmütig« in die entlegenste Ecke zurück.16 Was immer dieser häufige Besucher auch beobachtet haben mochte, er gab dem mit jeder Troika-Präsentation steigenden Missmut vieler Bürger und Bürgerinnen von Ohio und ihrer Regionalpolitiker Ausdruck. Sie sahen in diesem Staatsgeschenk eher ein trojanisches Pferd denn die weisen menschenverstehenden Tiere, deren menschengleiche Freundschaftsgefühle der sowjetische Vizepremier Anastas Mikoyan bei der Übergabe beschworen hatte.17 Tatsächlich haben gerade Pferde und Rinder als »umgekehrte Herrschergeschenke«, also als Geschenke der Eroberer für die fremden Fürsten neuentdeckter Reiche, einen festen Platz in der Kolonialgeschichte.18 Unser Fall fügt sich freilich nicht bruchlos in das koloniale Schema des hierarchischen Tauschs von imperialen Zuchttieren gegen exotische Wildtiere, aber dennoch blieb es ein ungleicher Tausch. Was genau verkörperten die hier getauschten Individuen gleichermaßen hochgezüchteter imperialer Rassen? Mikoyan mochte die weißen russischen Riesenhengste noch so sehr als Friedensboten anpreisen, sie wurden – zumal im Gespann mit Kutsche – als 16 Gleisser 2005, S. 239–240. 17 Ebda. und Broschüre »Troika« 1959, S. 3. 18 Krüger 2014, S. 145–147.

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Machtdemonstration verstanden; nicht so sehr von Cyrus Eaton, den keine Macht der Erde einschüchterte, wohl aber von den Menschen in Ohio, die diesem eigentümlichen Tier-Maschine-Hybrid immer weniger zujubeln mochten. Ein ornamentales Machtsymbol war die agrarwirtschaftlich und verkehrstechnisch inzwischen völlig funktionslose sowjetische Troika auf amerikanischen Festen und Landwirtschaftsmessen allemal – und zwar ein doppeltes: Sie symbolisierte nicht nur den Glanz und die Macht des alten Zarenreichs, sondern in der populären Appropriation auch den unverminderten Machtanspruch der sowjetischen Herrscher. Die Sieger über die expropriierten Expropriateure würden, wenn die Gespräche mit dem Westen über Frieden, Abrüstung und Atomteststopps endlich begännen, diese nur auf Augenhöhe führen. So ähnlich hatten indigene Fürsten, die freilich nicht über äquivalente Waffen verfügten, auch gedacht, wenn sie den Neuankömmlingen, die schon bald ihre Kolonialherren werden sollten, ihre Löwen und Tiger darboten, die sich im Überlebensfall – ähnlich wie Natourschik, Otklik und Conus in Ohio – in europäischen Tierschauen bestaunen lassen mussten. Eatons Bullen waren von anderem Kaliber, aber nicht minder bedeutungsgeladen. Als Zuchtbullen waren sie weniger ornamental als vielmehr funktional, auch wenn sich ihr praktischer Nutzen in der Fremde erst noch erweisen musste – oder eben nicht. Als reinrassige Shorthorns waren sie zu Tieren hochgezüchtet worden, die ausschließlich ihr Fleisch zu Markte tragen sollten. Differenzierung und Spezialisierung war gewissermaßen das ›Eatonian Gospel‹ rationalisierter Rinderzucht.19 Er und viele andere amerikanische Rinderzüchter sortierten Rinderrassen, je nachdem wofür sie die geeigneteren genetischen Voraussetzungen mitbrachten, in »beef« oder »dairy cattle«, um dann die bereits vorhandene erwünschte Eigenschaft in einer Rasse züchterisch weiter zu perfektionieren.20 Von diesem Ansatz effizienter Rinderzucht wollte Eaton die Sowjets überzeugen, was ihm bei Towarischtsch Chruschtschow auch gelang. Dessen Reformprogramm vom »Einholen und Überholen« des Kapitalismus sah durchaus eine Steigerung der Rindfleischproduktion vor, aber seine Agrarwissenschaftler setzten nach wie vor auf die »sowjetische Methode« der Rassenkreuzung.21 Zwar mussten sie ihre Züchtungsmethoden immer noch in theore19 Vgl. Mark B. Adams (Hg.), The Wellborn Science. Eugenics in Germany, France, Brazil, and Russia, New York und Oxford 1990, S. 5, der vom »Galtonian gospel« in der internationalen Eugenikbewegung sprach. 20 Ausführlich über die strengen Selektionskritierien, mit denen – im Stil klassischer Rationalisierung – Tiere herausgezüchtet wurden, die höhere Erträge bei geringerem Mitteleinsatz brachten, berichtete die Vizepräsidentin der Acadia Farms, Betty Royon, in der Broschüre »PS Troubadour« 1956. 21 N. F. Rostowzew, Die Rassenkreuzung. Eine sowjetische Methode zur Steigerung der Produktion in der Rinderzucht, Berlin 1952.

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tischen Purzelbäumen mit den Mitschurinschen Dogmen zusammenzwingen. Aber sie hielten daran fest, rassenspezifisch unterschiedlich ausgeprägte, wirtschaftlich günstige Eigenschaften durch Kreuzung von Rassen zu kombinieren, die zudem mit Klima, Vegetation und extensiver Viehhaltung in den schattenarmen russischen Steppen zurande kamen. Die reinrassigen Shorthorns, die schon in den 1920er und 1930er Jahren in die Regionen von Voronez oder Rostov am Don importiert worden waren, hatten sich nämlich – Lyssenko zum Trotz – an diese Umweltbedingungen nicht gewöhnen können. Deshalb hatte man sie leidlich erfolgreich mit heimischen Rassen gekreuzt. Vermutlich aufgrund dieser Erfahrungen wurde Eatons Bullensperma nicht zur Rückzucht der vorhandenen Shorthornherden genutzt, sondern in – allerdings misslingenden – Kreuzungsversuchen mit Rotem Steppenvieh verbraucht.22 Eatons Gospel gegen die Zweinutzungszüchtung und für den ›American way of breeding‹ verlor sich vorerst in den Weiten der klimatisch herausfordernden russischen Landschaften. Die interimperiale Sprache der Bullen- und Hengstdiplomatie war offensichtlich riskant und ähnlich vieldeutig wie die Sprache der Wissenschaft, deren viel beschworene Objektivität mitnichten alle kommunikativen Missverständnisse zwischen den Machtblöcken im Kalten Krieg ausräumen und schon gar nicht die widerstreitenden Herrschaftsinteressen über den gemeinsamen Planeten und den ihn umgebenden Weltraum ausgleichen konnte. Hat sich der hohe individuelle Einsatz unserer nicht-menschlichen Diplomaten in den späten 1950er Jahren also gar nicht gelohnt? Die Berlinkrise setzt sich fort, die Kubakrise stand noch bevor, der Atomteststopp sollte sich schon bald als Aufrüstungsbeschleuniger erweisen. Aber immerhin der globale Atomkrieg blieb aus, es wurde weiter geredet, in verschiedenen Sprachen mit vielen menschlichen und einigen nicht-menschlichen Kommunikatoren. Chruschtschows Versuche, mit dem Westen – und sei es vermittelt über einen veritablen Kapitalisten, zwei kräftige Bullen, drei starke Hengste und einige eminente Atomwissenschaftler, allesamt preisgekrönte männliche Exemplare ihrer Art – ins Gespräch zu kommen, wurden weder in Washington noch Moskau gewürdigt. Eatons Philosophie hingegen erwies sich mittelfristig als erfolgreich. Er komprimierte sie in einem Satz: »It’s better to trade bulls than bullets«,23 übertrug seine Freundschaft nach 1964 auf Chruschtschows Nachfolger, und verkaufte ihnen 1971 350 Shorthorn Bullen. Er hoffte auf einen baldigen Handelsabschluss über einige Hunderttausend Rinder, denn endlich seien die Russen bereit, ihre Rinderhaltung umzustellen auf »specialized breeds of fast-gaining beef cattle and high yielding dairy 22 Kellner 1968, S. 27, S. 166–168. 23 Artikel »Cyrus S. Eaton – Industrialist with Vision«, in: The American Review of East-West Trade, II (1969) 3, TLP, S. 14–26, S. 18–19.

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cattle which we raise in this country«.24 Zumindest dem Ost-West-Handel, der in den 1970er Jahren aufblühen sollte, hatte die Bullen- und Hengstdiplomatie den Weg geöffnet. Eaton ging als »father of East-West trade« in die amerikanische Wirtschaftsgeschichte ein und Alexei Kosygin schickte ihm 1969 in Anerkennung seiner Verdienste eine zweite Troika.25 Vielleicht freuten sich Natourschik, Otklik und Conus über die neuen Exilgenossen. Ebenso wie Troubadours Halbbrüder aber wären sie, so lassen die traurigen Nachrichten über ihr Migrantenschicksal vermuten, wohl lieber erst gar nicht gereist.

24 Zitiert nach Walker 1971, Cyrus Eaton, S. 9. 25 Artikel »Cyrus S. Eaton« 1969, S. 16 und S. 23.

Verena Halsmayer

Planungswissen als ›applied economics‹. Effekte makroökonomischer Interventionsinstrumente Macroeconomic planning is concerned with the development in the short and the long run of the entire economy of a country.1

Anhand einer Norwegischen Fallstudie beschäftigt sich der Beitrag mit der Etablierung von Planungsmodellen und ihrer Wirkung auf die Objekte und Abläufe nationalökonomischen Managements. Wie lassen sich bestehende Chronologien in der Geschichte ökonomischer Steuerung hinterfragen, wenn der Blick von wirtschaftswissenschaftlichen Ideen und ihren Anwendungen auf die Praktiken und Artefakte von Regulierung gelenkt wird? Through investigating a Norwegian case study the essay reflects on the effects of planning models on the objects and procedures of economic governance. If we focus on the artifacts and practices of policy-making instead of economic ideas and their application – how does such an inquiry question existing narratives in the history of regulation?

Ist von Verwissenschaftlichung, Ordnung und Organisation ›des Sozialen‹ die Rede, so steht die zunehmende Bedeutung von humanwissenschaftlicher Expertise für Regierungspraktiken im späten 19. und im 20. Jahrhundert im Fokus.2 Während etwa empirische Sozialforschung, Psychotherapie und Unternehmensberatung in dieser Geschichte ihren Platz erhalten haben, scheint ökonomisches Wissen auf eine Außenseiterposition verwiesen worden zu sein.3 1 Leif Johansen, Lectures on Economic Planning 1. General Aspects, Amsterdam 1977, S. 3. 2 Vgl. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193 und die neueren Beiträge in Christiane Reinecke/Thomas Mergel (Hg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2012; Kerstin Brückweh/Dirk Schumann/Richard F. Wetzell/ Benjamin Ziemann (Hg.), Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980, Basingstoke 2012. 3 Darauf macht etwa David Kuchenbuch aufmerksam: Verwissenschaftlichung, Ordnung und ›Engineering‹ des Sozialen, in: H-Soz-Kult, 5. 3. 2013, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ rezensionen/2013-1-140 (abgerufen am 24. 8. 2017). Auch Lutz Raphael weist darauf hin, dass die Wirtschaftswissenschaften »somewhat at the margins« verbleiben würden (Embedding the Human and Social Sciences in Western Societies, 1880–1980. Reflections on Trends and Methods of Current Research, in: Kerstin Brückweh u. a. (Hg.) 2012, S. 41–56, S. 43).

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Ökonomisches Expertentum wird in einer separaten Literatur behandelt, die, abgesehen von ideenhistorischen Zugängen und der Untersuchung institutioneller Machtpositionen, Augenmerk auf das Schaffen neuer Wissensobjekte wie ›Wirtschaft‹ oder ›Wachstum‹ und die Funktionen und Wirkweisen politischer Steuerungsinstrumente legt.4 Anhand eines Beispiels werde ich im vorliegenden Beitrag an diese Literatur anschließen, um die Wechselwirkungen von sich verändernden Forschungspraktiken, staatlichen Steuerungsinteressen, lokalen institutionellen Ausgestaltungen und Wahrnehmungsweisen des Ökonomischen untersuchen.5 Der Essay handelt von einem norwegischen »system of models«, das im Laufe der 1960er Jahre als ›wissenschaftlich-rationale‹ Grundlage für makroökonomische Planung implementiert wurde.6 Anfang der 70er Jahre war dieses System bereits zu einem Modell für andere europäische Staaten geworden und galt als Markenzeichen des skandinavischen Wohlfahrtsstaats. Im Folgenden sollen nicht ökonomische Denkfiguren und diskursive Formationen im Zentrum stehen, sondern ein Blick auf die Artefakte, Inskriptionen und Praktiken makroökonomischer Planung geworfen werden.

Gleichgewichtswissen Im eingangs angeführten Zitat formulierte der norwegische Ökonom Leif Johansen das Ziel makroökonomischer Planung im Rückgriff auf die vorherrschenden epistemischen Konzepte der Wirtschaftswissenschaften: Die Entwicklung »der Wirtschaft« solle in der »langen und kurzen Frist« befördert werden. Damit war auch das Objekt makroökonomischer Planung bestimmt – eine quantitative Entität, deren Veränderungen über die Zeit beobachtet, prognostiziert und gesteuert werden konnten. Die Rede von dieser Wirtschaft als 4 Siehe etwa Timothy Mitchell, Economentality. How the Future entered Government, in: Critical Inquiry 40 (2014), S. 479–507; Monika Dommann/Daniel Speich Chass8/Mischa Suter (Hg.), Wissensgeschichte ökonomischer Praktiken, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37 (2014) 2, S. 107–111. 5 Die Untersuchung der Historizität und Materialität von ökonomischen Steuerungsinstrumenten kann als eine Variante der von Mitchell G. Ash erforschten Verwicklungen zwischen Staat und Wissenschaft betrachtet werden, in denen sie sowohl als Produkte als auch als Ermöglichungsbedingungen zu Tage treten: Wissenschaftswandel in Zeiten politischer Umwälzungen. Entwicklungen, Verwicklungen, Abwicklungen, in: NTM. Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 3 (1995) 1, S. 1–21. 6 Der Beitrag basiert auf der ausführlicheren Studie Verena Halsmayer, A model to »make decisions and take actions«. Leif Johansen’s multi-sector growth model, computerized macroeconomic planning, and resilient infrastructures for policy-making, in: History of Political Economy 49 (2017), S. 158–186.

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Ganzem beruhte auf einem Ensemble statistischer und mathematischer Modelle, buchhalterischen und Messinstrumenten, die dieses Objekt und ihr Wachstum überhaupt erst hervorbrachten. Diese neuen Formen der Sichtbarmachung präsentierten Systeme von Komponenten, die sich in der einen oder anderen Weise ausglichen. Die Fiktion des effizienten Marktes verband sich hier mit der Pragmatik steuerungspolitischer Instrumente, wie sie seit den 1930er Jahren entwickelt wurden. Schon die Messung von Nationalprodukten im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung oder die Messung von sogenannten Produktionsströmen zwischen verschiedenen Sektoren im Rahmen der InputOutput-Analyse machten die Annahme notwendig, dass Preisunterschiede relative Werte messen. Und darin steckte bereits die Annahme effizienter Märkte, die durch das Preissystem den Ausgleich von Angebot und Nachfrage herbeiführen. Makroökonometrische Planungsmodelle kombinierten das Zahlenwerk von volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung und Input-Output-Analyse in einem mathematischen System, das nicht nur ein statisches makroökonomisches Gleichgewicht erstellte, sondern mithilfe eines ›gleichgewichtigen Wachstumspfades‹ aus der neoklassischen Theorie Prognosen über mehrere Jahrzehnte erstellte. Dieses Gleichgewicht sollte die epistemische Basis für Interventionen zur Verfügung stellen, die gerade dieses Gleichgewicht erreichen und beibehalten wollten. Diese Form der sogenannten ›technischen Ökonomik‹ begriff ökonomische Planung als apolitische, organisatorische Notwendigkeit, die auf der ›Anwendung ökonomischer Theorie‹ beruhte. Johansen betonte in seinen weit rezipierten Lectures on Economic Planning, dass die von ihm präsentierten Techniken ökonomischen Planens sowohl in »highly centralized socialist economies« wie auch als »planning in the ›softer‹ form often referred to as indicative planning« in den USA, Westeuropa und der ›3. Welt‹ wesentlich waren. Johansens Überlegungen zur Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Modelle auf politische Entscheidungsprozesse sollte als Hoffnungsäußerung einer ökonomischen Profession gelesen werden, die seit dem Zweiten Weltkrieg vermehrtes Prestige genoss und als technokratisch inspirierte Expertenpersonae zentral für gesellschaftliche Neuordnung und sozialen Wohlstand gesehen wurde. Johansen selbst war Professor am von Ragnar Frisch in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegründeten und von der Rockefeller Foundation finanzierten Økonomisk institutt der Universität Oslo, das exemplarisch für jene Wirtschaftsinstitute ist, die zum Ziel hatten, den jeweiligen Staat mit ökonomischer Expertise zu versorgen. So wie die systematische Erhebung von volkswirtschaftlichem Datenmaterial von staatlicher Seite finanziert wurde, so sehr war die Konstruktion makroökonomischer Planungs- und Vorhersagemodelle von institutioneller Ausstattung und politischer Unterstützung abhängig. Umgekehrt förderte und stützte ökonomisches Wissen in seinen verschiedenen mathematischen und

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Verena Halsmayer

statistischen Formatierungen spezifische Steuerungspraktiken, indem es eine Infrastruktur für staatliche Wahrnehmung und politische Entscheidungsfindung bot.

Entscheidungsmaschinen Ende der 60er Jahre wurde im norwegischen Finanzministerium ein computerisiertes System von Planungsmodellen implementiert, deren Zahlenformate, Annahmen und Kategorien aneinander angepasst und standardisiert worden waren.7 Auch wenn die Akteure und Akteurinnen durchwegs von Werkzeugen und Instrumenten sprachen, so waren ökonometrische Modelle weit mehr als passive Hilfsmittel. In der Literatur zur Performativität ökonomischen Wissens wird von materiellen und diskursiven Assemblagen gesprochen, die Wissen, Menschen und Artefakte zusammenbringen.8 Im gegenseitigen Formen von lokalen Bedingungen, Rechentechniken, bestehendem Zahlenmaterial, mathematischen Formalismen und Steuerungsvisionen nahmen nicht nur konkrete Modelle Form an, sondern es veränderten sich auch jene Bereiche, die üblicherweise als ihre ›Umwelten‹ verstanden werden. Die Etablierung und Harmonisierung des norwegischen Modellsystems beinhaltete etwa einen Wandel der institutionellen Strukturen, brachte eine physische Umgestaltung von Büroraum mit sich und bezog neue Personengruppen in Planungsprozesse ein. Um die Verknüpfung von ökonomischen Modellen und volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung zu ermöglichen, wurden die entsprechenden Büros in dieselbe Abteilung des Statistisk sentralbyr, (Zentrales Statistikbüro) verlegt. Die neuen Kolleg/inn/en arbeiteten sogar im selben Stockwerk. In Akteurssprache hieß es, die Reorganisation erleichtere die jährlichen »updates« der Modelle, bedeute »feedback effects« für die Datenarbeit und bringe einen schnelleren und besseren Datenzugang für den »planner and model user« mit sich.9 Die Rede von Updates, Feedbackschleifen und Benutzer verweist auf die enge Verbindung großmaßstäblicher Modellierungsprojekte mit der Entwicklung von 7 Johansen 1977, S. 214. 8 Fabian Muniesa/Yuval Millo/Michel Callon, An Introduction to Market Devices, in: Sociological Review 55 (2007) (Special Issue 2), S. 1–12; Daniel Hirschman/Elizabeth Popp Berman, Do Economists Make Policies? On the Political Effects of Economics, in: Socio-Economic Review 12 (2014) 4, S. 779–811 sprechen im Anschluss an diese Literatur zu »market devices« von »policy devices«. Ob diese Unterscheidung sinnvoll ist, ist fraglich, da sich market devices in Konstruktion und Funktion kaum von policy devices unterscheiden und wohl auch ähnliche Assemblagen ausbilden. 9 Odd Aukrust, Econometric Methods in Short-Term Planning: the Norwegian Lesson, in: Richard Stone/William Peterson (Hg.), Econometric Contributions to Public Policy, London 1978, S. 64–80, S. 76–77.

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Programmierungstechniken und Rechenmaschinen, die wesentlich die Arbeitspraktiken und personelle Zusammensetzung in Planungsbüros veränderte. Um 1970 wurden Mainframes vor allem von staatlichen Institutionen betrieben und benötigten eigene Räumlichkeiten. Zusätzlich zur Papierarbeit am Schreibtisch, bereiteten Wirtschaftsforscher/innen Lochkarten mit Kartenlocher und Taschenrechner vor, bedienten die Mainframes und warteten auf die Ergebnisse. Der Computer prägte also nicht nur die Form des Modells (indem er die Linearisierung und Reduktion der Gleichungen erforderte) und das Sprechen der Akteure und Akteurinnen über ihre Tätigkeit. Im Vergleich zu früheren Zeiten, als das einzige Planungsinstrument das Staatsbudget gewesen war, involvierte er neue Expertisen in das makroökonomische Planungsunternehmen und machte Umschulungen für bestehendes Personal erforderlich.10 Ökonom/ inn/en hatten dabei einen speziellen Status und waren in allen Tätigkeitsfeldern vertreten. Bei der Konstruktion des Modellsystems übersetzten sie die Anforderungen und Anfragen ihrer Kolleg/inn/en aus den Ministerien und den produzierenden Sektoren, um etwa Parameter zu spezifizieren. Nicht zuletzt vermittelten sie zwischen Modell und Entscheidungsträger/inne/n, machten verständlich, was im Modell passierte, und nutzten einfache Visualisierungen, um Geschehnisse in der Modellwelt möglichst »user-friendly« zu präsentieren.11 Die Inskriptionen, die aus den Modellen hervorgingen (etwa Input-Output Tabellen) können mit Bruno Latour als in Rechnungs- und Verwaltungszentren verrichtete ›paperwork‹ gefasst werden, die in Büros, auf Schreibtischen neue Phänomene schafft.12 Ökonometrische Planungsmodelle werden hier zu den Instrumentarien, die die Bestandteile der ›Nationalökonomie‹ – etwa die Produktion einzelner Sektoren, die Gesamtnachfrage, staatliche Investitionen, etc. – in eine neue berechen- und handhabbare Form brachten und konkrete Zugriffsmöglichkeiten vorschlugen. Gleichsam entwarfen sie eine perfekt funktionierende, gleichgewichtige Welt der Zukunft, die erreicht werden konnte, wenn nur die richtigen planerischen Schritte gesetzt wurden. Diese neue Sichtbarmachung bestimmte die Ziele und Werte makroökonomischer Planung: Die Annahmen, die tief in der Modellstruktur eingelagert waren, programmierten die Resultate ökonomischer ›Was-wäre-wenn‹-Vorschläge. Basierend auf der Annahme der effizienten Nutzung von Ressourcen und Konsumentensouveränität priorisierte ein solches Modellsystem beispielsweise Handlungsstrategien, die gesamtwirtschaftliche Effizienz und Konsumsteigerung förderten gegenüber solchen, die Änderungen der Einkommensverteilung nach sich zogen. 10 Ebd., S. 75. 11 Ebd., S. 72–73. 12 Siehe etwa Bruno Latour, Die Logistik der immutable mobiles, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld 2009, S. 111–144.

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Mit der Etablierung des norwegischen Modellsystems wurde der gesamte Bereich ökonomischer Planung als ›angewandte Wirtschaftswissenschaft‹ definiert. Zeitgenössische Stimmen feierten seine Einführung, da es politischen Entscheidungsprozessen einen »clearer program character« geben würde.13 Als organisatorisch-administrative Aufgabe beinhaltete Planung explizit nicht das Durchdenken und Beratschlagen von Absichten und Zielen, sondern fokussierte auf spezifische Methoden und Techniken, die Voraussicht auf Konsequenzen politischer Entscheidungen ermöglichen sollten. Diese Sichtweise betraf auch die Ebene des Entscheidungsprozesses selbst: Auf möglichst ›rationale‹ Art und Weise sollte ein Ausgleich zwischen unterschiedlichen Expert/inn/en und Entscheidungsträger/inne/n erreicht werden. In den vorhin erwähnten Lectures verwendete Johansen dafür eine Reihe von kybernetisch anmutenden Flussdiagrammen und Schaltplänen, die die Interaktion zwischen makroökonomischen Vierjahresplänen, den Staatsbudgets und verschiedenen Prognosen und Plänen für die einzelnen Sektoren visualisierten. Die Erzählungen, die mit solchen Diagrammen einhergingen, ähnelten den Narrativen, die ökonomische Gleichgewichtsmodelle begleiteten: Nachdem der politische Entscheidungsprozess kaum als rational oder autonom betrachtet werden könne (ähnlich wie die ungeplante nationale Wirtschaft kein effizienter Markt sei), präsentierten Planungsschemata (parallel zu Modellen der gesamten Wirtschaft) Entwürfe dieser Prozesse, nachdem sie durch rationale Organisation verbessert worden waren.

Brüchige Infrastrukturen? Ideenhistorische Ansätze verorten im Laufe der 70er Jahre einen Bruch, in dem der Glaube an keynesianische Intervention und Steuerbarkeit kapitalistischer Systeme von Monetarismus, Neuer Klassischer Makroökonomik und neoliberalen Politiken abgelöst wurde. Verfolgen wir die Wandlungen des norwegischen Modellsystems über die Jahrzehnte, wird es schwierig, von einem solchen Bruch zu sprechen. Stattdessen integrierte das System die Kritik in der Form kleinteiliger Mikrosimulationsmodelle, die Verhaltensgleichungen einzelner Individuen beinhalteten und auch intertemporale Effekte über Erwartungen und Unsicherheiten simulierten. Zudem zirkulierten Modelle wie die norwegischen unter dem Label »computable general equilibrium models« ab den 70er Jahren nicht nur im Rahmen nationalstaatlicher Planung, sondern wurden zunehmend von Unternehmen, Zentralbanken und internationalen Organisationen ver13 Petter Bjerve, Trends in Quantitative Economic Planning in Norway, in: Leif Johansen/Harald Hallar,ker (Hg.), Economic Planning in Norway, Oslo/Bergen/Tromsö 1970, S. 22.

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wendet. Auch wenn sie komplexer und größer wurden, blieben die grundlegenden Modellarchitekturen stabil: die Wirtschaft als Simultansystem der Verbindungen zwischen Sektoren, Firmen, Institutionen, Haushalten oder Individuen, das auf Veränderungen ›von außen‹ reagiert. So bereiteten diese Modelle die Grundlage für eine ganze Reihe von politischen Entscheidungen, die durchaus unterschiedlichen ideologischen Rahmen angehörten, von nationalen, regionalen und sektoralen Fragen zu Geld- und steuerpolitischen Entscheidungen, der Verminderung von Treibhausgasemissionen sowie der Deregulierungspolitik des Washington Consensus. Hier könnte sich eine Geschichte auftun, die einerseits die Offenheit von Modellierung ernst nimmt – ein Modellieren, das nie aufhört; sich an unterschiedliche Umgebungen anpasst, immer weitere Assemblagen fördert – und andererseits die Robustheit von Modellen untersucht, also die Beschränkung auf Probleme, die sich innerhalb von Modellwelten aufwerfen, und der Ausschluss von Fragen, die sich nicht ins Modellformat bringen lassen. Eine solche Untersuchung müsste selbstverständlich weiter ausholen, als es auf diesen Seiten möglich war. Als Infrastrukturen von Regierungstechniken sind Modelle kaum sichtbar. Die Visualisierungen, die sie hervorbringen, müssten in ihrer Ästhetik und Symbolik genauso untersucht werden, wie in ihren Interaktionen mit anderen »little tools«, die Entscheidungsprozesse und bürokratische Verfahren grundieren.14 Eine solche Geschichte wäre weder die Geschichte eines steuerungstechnischen Ideals und dessen Scheiterns noch die Geschichte von planerischen Zukunftsvisionen und ihrer zeitgenössischen Kritik.15 Vielmehr würde sie praktische Tätigkeiten und verwaltungstechnischen Routinen genauso untersuchen wie diskurshistorische Aspekte und fragen, wie modellhafte Logiken und Denkfiguren in der Praxis unterlaufen werden.

14 Vgl. Peter Becker/William Clark (Hg.), Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices, Ann Arbor 2001; Annelise Riles (Hg.), Documents. Artefacts of Modern Knowledge, Michigan 2006. 15 Vgl. Rüdiger Graf/Benjamin Herzog, Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung. Probleme und Herausforderungen des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016) 3, S. 497–515, S. 499.

Dirk Rupnow

Ausländerforschung. Frühe Studien zu den »Gastarbeitern« in den 1970er Jahren

Die 1970er Jahre sind mittlerweile als eine Dekade tiefgreifender Umbrüche identifiziert worden – »nach dem Boom«. Dies gilt nicht zuletzt auch für Migration und Diversität in den westeuropäischen Gesellschaften. Die »Entdeckung der Einwanderung« spiegelt sich dabei auch in Österreich im Aufkommen sozialwissenschaftlicher Studien über die so genannten »Gastarbeiter«. The 1970s have been identified as a decade of profound changes – »after the boom«. This is not least true for migration and diversity in Western European societies. Also in Austria the »discovery of immigration« is reflected in the emergence of socio-scientific research on the so-called »guest workers«.

Die frühen 1970er Jahre sind eine Phase entscheidender Umbrüche, in vielen gesellschaftlichen Bereichen – auch für das Gastarbeiterregime und damit für Migration und Diversität in Österreich. Nach dem Abschluss der Anwerbeabkommen mit der Türkei (1964) und Jugoslawien (1966) zogen zunächst jährlich zwischen 10.000 und 20.000 Personen nach Österreich, Anfang der 1970er Jahre waren es sogar jährlich 25.000 bis 40.000. Auf dem Höhepunkt arbeiteten 1973 über eine Viertelmillion ausländische Arbeitskräfte im Land, die 10 % der Beschäftigten ausmachten. Etwa 80 % von ihnen stammten aus Jugoslawien, etwa 12 % aus der Türkei. Den Bedarf hatte eine rasant wachsende Wirtschaft erzeugt, die im Inland nicht mehr ausreichend Arbeitskräfte finden konnte. Die Gewerkschaften, die der Öffnung des österreichischen Arbeitsmarkts ablehnend gegenüberstanden, sich aber den Forderungen der Wirtschaft nicht ganz entziehen konnten, sorgten dafür, dass durch die Zulassung von Kontingenten für ausländische Arbeitnehmer ein in Teilen zwar liberalisiertes, insgesamt aber mit Inländerprimat und Rotationsprinzip ein für die betroffenen ausländischen Arbeitnehmer äußerst restriktives Regime für »Gastarbeit« installiert wurde.1 1 Vgl. Helga Matuschek, Ausländerpolitik in Österreich 1962–1985. Der Kampf um und gegen die ausländische Arbeitskraft, in: Journal für Sozialforschung 25 (1985) 2, S. 159–198; Eveline

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Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre verstärkten sich die Debatten über die Beschäftigung von Ausländern und deren gesellschaftlichen Folgen. Die Ölkrise und das verlangsamte Wirtschaftswachstum wurden im März 1974 genutzt für eine Einschränkung der Touristenbeschäftigung und ein Einfrieren der Gastarbeiterbeschäftigung auf dem Stand von Oktober 1973, parallel zum Anwerbestopp in der Bundesrepublik Deutschland, der bereits im November 1973 verfügt worden war. Während in Österreich einem Viertel der ausländischen Arbeitskräfte die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen entzogen wurde, kam es jedoch gleichzeitig – als unbeabsichtigte Nebeneffekte – vielfach zur Verstetigung des Aufenthalts und zu verstärktem Familiennachzug. In diese Zeit ihres Höchststandes und ihrer Drosselung fällt auch das Aufkommen einer intensiven sozialwissenschaftlichen Forschungstätigkeit zu den gesellschaftlichen Folgen der Ausländerbeschäftigung. Czarina Wilpert bezeichnete (am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland) schon früh die zweite Hälfte der 1970er Jahre – nach einer ersten Phase der Anwerbung bis 1973 – als Phase der Infrastrukturdebatten und der auf soziale Probleme orientierten Forschung.2 Sie kann auch als »Entdeckung der Einwanderung« verstanden werden.3 Die Sozialpartner als die maßgeblichen Akteure auf dem Feld der Ausländerbeschäftigung in Österreich (Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer, Industriellenvereinigung, Gewerkschaftsbund) gründeten 1971 einen »Arbeitskreis für ökonomische und soziologische Studien«, um »rechtzeitig fundiertes Wissen über die auftauchenden wesentlichen Schwierigkeiten bei der Ausländer-Beschäftigung zu gewinnen und entsprechende Maßnahmen vorzuschlagen.«4 Durchgeführt wurden zunächst vier Studien: über die Einstellung der österreichischen Bevölkerung zu den Gastarbeitern, über Erfahrungen und Meinungen der Österreicher in Wohngebieten mit hohem Gastarbeiteranteil, über Probleme und Erfahrungen von österreichischen Industriebetrieben mit Gastarbeiterbeschäftigung und über den Prozess der Eingliederung von Gastarbeitern in Österreich. Die wesentlichen Ergebnisse daraus wurden 1973 zusammenfassend publiziert. Erstaunlich ist, dass dabei gleich einleitend konstatiert wird, dass kurz- und langfristige Ziele der Anwerbeländer wie der ausländischen Arbeitskräfte selbst Wollner, Die Reform der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte Anfang der 1960er Jahre in Österreich, in: Zeitgeschichte 34 (2007) 4, S. 213–225. 2 Vgl. Czarina Wilpert, International Migration and Ethnic Minorities. New Fields for Post-War Sociology in the Federal Republic of Germany, in: Current Sociology 32 (1984) 3, S. 305–352, S. 306. 3 Marcel Berlinghoff, Das Ende der »Gastarbeit«. Europäische Anwerbestopps 1970–1974 (Studien zur Historischen Migrationsforschung 27), Paderborn/München/Wien/Zürich 2013. 4 Arbeitskreis für ökonomische und soziologische Studien Wien (Hg.), Gastarbeiter. Wirtschaftliche und soziale Herausforderung, Wien 1973, S. 8.

Frühe Studien zu den »Gastarbeitern« in den 1970er Jahren

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und der Entsendeländer zu berücksichtigen seien. Auch auf die grundlegende Bedeutung der Menschenrechte wird in diesem Zusammenhang mehrmals verwiesen. Als Zielkomplexe werden neben ökonomischen Fragen (»Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt«, »Erhöhung der betriebswirtschaftlichen Effizienz«) denn auch nicht nur die sozialen Interessen der österreichischen Bevölkerung (»Gewinnung von Vorteilen für die Österreicher, etwa durch relativen sozialen Aufstieg, durch neuen Betreuungsrollen, aber auch die Vermeidung von Nachteilen, etwa durch Konkurrenzierung«) und die »Vermeidung sozialer Spannungen als eine der größten Gefahren und als ein potentieller Kostenpunkt des Gastarbeiter-Einsatz[es]«, sondern darüber hinaus die »Integration von Gastarbeitern in die österreichische Bevölkerung« sowie letztlich die »Besserstellung der Gastarbeiter als unmittelbar humanitäres Ziel« (neben ihrer ökonomischen Integration als Konsumenten und der Verbesserung der internationalen Beziehungen zu den Herkunftsländern) benannt.5 Integration wird dabei als »Folge eines langdauernden Anpassungsprozesses« gesehen, der »sehr verschiedene Intensitäten erreichen« könne: »Der höchste Grad der Integration ist das völlige Aufgehen in der Nationalität des Gastlandes«.6 Auch hier wird aber bereits festgehalten, dass Integration keinesfalls nur in eine Richtung erfolgt: »Auch die Bewohner des Gastlandes erfahren durch den Kontakt mit den Gastarbeitern, zu einem allerdings geringeren Grad, eine Anpassung an die Ankömmlinge.« Vollständige Integration gilt aber auch nur für einen sehr kleinen Teil der »Gastarbeiter« als wünschenswert. Die Erhebung des Arbeitskreises hatte gezeigt, dass lediglich 5 % der Österreicher für eine »dauernde Eingliederung von Gastarbeitern in die heimische Bevölkerung« eintreten, 90 % dies aber entschieden ablehnten. Auch in Wien wurde nur 10 % Zustimmung beobachtet, obwohl dort »schließlich ein historischer Integrationsprozeß größten Ausmaßes durchaus noch in der Erinnerung lebt«.7 Angespielt wird damit wohl – allerdings sehr unklar und verdeckt – auf die großen Wanderungsbewegungen innerhalb der Habsburgermonarchie in deren Spätphase: Hunderttausende von Menschen aus den böhmischen Ländern, der ungarischen Reichshälfte, den österreichischen Erbländern, Galizien, der Bukowina und Dalmatien kamen damals vor allem in die Haupt- und Residenzstadt Wien. Tatsächlich wurde dies zum zentralen historischen Bezugspunkt für die Arbeitsmigration in der Zweiten Republik, bis hin zum geradezu sprichwörtlichen Verweis auf die slawischen Namen im Wiener Telefonbuch – auch für eine erfolgreiche Integration und Normalisierung nach wenigen Ge-

5 Ebd., S. 8–9. 6 Ebd., S. 93. 7 Ebd.

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nerationen.8 Ikonisch steht dafür die Kolaric-Plakatkampagne (»I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric, warum sogns’ zu dir Tschusch?«), die im Jahr 1973 von der Agentur Lintas im Auftrag der Aktion Mitmensch der österreichischen Werbewirtschaft entworfen wurde.9 Mit einer aus heutiger Sicht durchaus problematischen Bildsprache kann sie auf dem Höhepunkt der »Gastarbeiter«-Beschäftigung und angesichts des immer stärker werdenden Problemdiskurses als ein Plädoyer für Menschlichkeit und Gleichberechtigung gelesen werden. Hervorgegangen ist sie allerdings ganz banal aus dem Wunsch, für ein besseres Image der Werbung zu sorgen – der Inhalt war also auswechselbar, wenn seine Wahl auch äußerst signifikant ist. In Deutschland dominierten gleichzeitig Bezüge zur Geschichte von Kolonialismus und Sklaverei – teilweise unter Umgehung, teilweise unter explizitem Einschluss der näherliegenden NS-Vergangenheit.10 Die Vorurteile über ausländische Arbeitnehmer aus der Türkei und Jugoslawien werden in der Studie des Arbeitskreises noch als harmlos bewertet. Deutlich ist aber, dass sie für »primitiv, schmutzig, unbeholfen und nicht als zu zuverlässig« sowie generell kulturell fremd gehalten werden.11 Es wird allerdings bereits die Gefahr gesehen, dass mit zunehmender Integration von »Gastarbeitern« und vor allem ihrem sozialen Aufstieg die Vorurteile zunehmen werden. Darum wird ein »allgemeines Klima der Toleranz, der Humanität und eine stete Betonung der Vorteile des Gastarbeitereinsatzes« gefordert, um eine Eskalation der sozialen Spannungen zu verhindern. Vor allem den Massenmedien, dem Kulturbetrieb, den Schulen und »den großen Organisationen« wird eine entscheidende Rolle dabei zugewiesen. Die erste rechtspopulistische »Schwarzenbach-Initiative« gegen »Überfremdung« in der Schweiz (1970) vor Augen, wird eine »systematische Fremdenhetze« in Österreich (noch) als eher unwahrscheinlich eingeschätzt.12 Gleichzeitig geht die Studie aber auch davon aus, dass es eine »Überfremdungsgrenze« gebe, die in Kleinstädten bei 20 %, in Groß-

8 Vgl. etwa Erich Hofstetter, Ausländische Arbeitskräfte: Ist die Grenze erreicht?, in: Arbeit & Wirtschaft 11 (1973), S. 53–59, S. 59. 9 Vgl. Ursula Hemetek (Hg.), Am Anfang war der Kolaric. Plakate gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Wien 2000; Wladimir Fischer, ›I haaß Vocelka – du haaßt Vocelka‹. Der Diskurs über die ›Gastarbeiter‹ in den 1960er bis 1980er Jahren und der unhistorische Vergleich mit der Wiener Arbeitsmigration um 1900, in: Martin Scheutz/Vlasta Vales (Hg.), Wien und seine WienerInnen. Ein historischer Streifzug durch Wien über die Jahrhunderte, Wien/Köln/Weimar 2008, S. 327–353. 10 Vgl. etwa Ulrike Marie Meinhof, Kuli oder Kollege. Gastarbeiter in Deutschland (1966), in: Dies., Deutschland, Deutschland unter anderem. Aufsätze und Polemiken, Berlin 1995, S. 97–107; Siegmar Geiselberg (hg. im Auftrag des Bundesvorstandes der Jungsozialisten), Schwarzbuch: Ausländische Arbeiter, Frankfurt a. M. 1972, vor allem S. 9–13; Ernst Klee, Die Nigger Europas. Zur Lage der Gastarbeiter, Düsseldorf 1971. 11 Arbeitskreis 1973, S. 81. 12 Ebd., S. 88.

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städten bei etwa 30 % liege.13 Allerdings wird festgehalten, dass keine »absolute kritische Grenze« anzunehmen sei: »Spannungen ergeben sich nicht einfach aus der Existenz der Gastarbeiter, sie müssen Ursachen haben – entweder reale Interessenskonflikte oder hochgespielte Vorurteile. Solche Ursachen können durchaus schon ab einer relativ bescheidenen Dichte, vermutlich bei einem Gastarbeiteranteil von etwa 10 % in einem überschaubaren Wohngebiet, wirksam werden.«14

Ein Anteil von 10 % ausländischer Beschäftigter galt insgesamt als ein entscheidender Schwellenwert, »bei dem offenbar soziale Probleme entstehen« (»Überschreiten einer sozialkritischen Schwelle der Ausländerbeschäftigung«): »Zweifellos nehmen jedoch die ökonomischen Vorteile der Ausländerbeschäftigung vom Standpunkt des Gastlandes auf längere Sicht ab, während gleichzeitig staatspolitische und soziale Überlegungen an Gewicht gewinnen.«15 (Auch die »Schwarzenbach-Initiative« in der Schweiz zielte auf eine Begrenzung des Ausländeranteils auf 10 % ab.) Grundsätzlich wurden allerdings Notwendigkeit und Nutzen der Beschäftigung von Ausländern nicht in Frage gestellt.16 Kosten und Nutzen wurden aber nun immer wieder gegeneinander abgewogen, die ausländischen Arbeitskräfte von einem Thema der Wirtschaft zu einem der Innen- und Sozialpolitik. In diesem Zusammenhang wurde sogar die Frage gestellt, ob es noch sinnvoll sei, Betriebe im Inland aufrechtzuerhalten, in denen schon mehr als 80 % der Arbeitnehmer Ausländer sind: »Wäre es nicht sinnvoller, solche Betriebe ins Ausland zu verlagern?«17 – angesichts der tatsächlichen Verlagerung von Produktion in Schwellenländer unter neoliberalen Vorzeichen während der letzten Jahrzehnte ein bemerkenswerter Vorschlag eines Gewerkschaftsfunktionärs. In diese Zeit fällt letztlich auch das Aufkommen der Forderung nach »Integration vor Neuzuzug«, die über die 1990er Jahre bis heute fortgeschrieben wird: »Dennoch kann und darf die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte nicht ins unermeßliche weiterwachsen. Offensichtlich hat der Ausbau unserer Infrastruktur mit der Ausweitung der Bevölkerung durch die Ausländer nicht Schritt gehalten. Unser nächstes Ziel muss daher sein, für jene Zahl von Ausländern, die wir jetzt schon beschäftigen, die entsprechenden Bedingungen zu schaffen.«18

13 Ebd., S. 89–92. 14 Ebd., S. 92. 15 Felix Butschek/Ewald Walterskirchen, Aspekte der Ausländerbeschäftigung, in: WIFO-Monatsberichte 4 (1974), S. 214–224, S. 214, S. 224. 16 Vgl. etwa aus gewerkschaftlicher Sicht Hofstetter, Ausländische Arbeitskräfte, 1973. 17 Hofstetter 1973, S. 59. 18 Ebd.

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Für die Zukunft werden vor allem drei Problemszenarien entworfen, die es zu verhindern gelte: das »Gettoproblem« (Bildung einer segregierten Untergruppe), das »Pogromproblem« (Entwicklung von Aggressionstendenzen gegen Ausländer und Radikalisierung der Mehrheitsbevölkerung) und das »Verproletarisierungsproblem« (Veränderung von Kultur und Gesellschaft auf Grund von erfolgreicher Assimilation, aber auch »Unterschichtung«).19 Diese werden auch in der Studie »Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes ausländischer Arbeitskräfte« des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen, einer Art frühen Thinktanks der österreichischen Sozialpartner, aufgegriffen und formuliert.20 Als Vermeidungsstrategien für die krisenhaften Szenarien werden Integration und Rotation einander gegenübergestellt: Abbau von Spannungen durch Eingliederung der ausländischen Arbeitskräfte auf verschiedenen sozialen Ebenen bzw. Regulieren und Abbrechen von Spannungen durch flexible Steuerung. Die Sozialwissenschaften sind Anfang der 1970er Jahre zentral an der Entstehung des Problemdiskurses über Ausländer beteiligt, sie schaffen und bestätigen Wahrnehmungsmuster, stellen Zusammenhänge her und versuchen, Lösungsstrategien anzubieten.21 Interessanterweise sind die zahlreichen österreichischen Studien aus dieser Zeit bisher kaum beachtet und untersucht worden, weder als Quellen für eine Wissenschafts- bzw. Wissensgeschichte der Migration im engeren Sinne noch als wichtige Zeugnisse der Entwicklung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit Migration sowie Migrantinnen und Migranten.22 Auch in einem neueren Sammelband, der eben den Zusammenhang von Wissenschaft/Forschung und Politik im Bereich Migration, Asyl, Integration zu fokussieren versucht, kommen sie erstaunlicherweise nicht vor.23 Eine Zeitgeschichte, die sich als Problemgeschichte der Gegenwart versteht 19 Ernst Gehmacher, Die soziale Problematik der Gastarbeiter, in: Österreichisches Komitee für Sozialarbeit, Gastarbeiter in Österreich. 3. Österreichische Konferenz für Sozialarbeit (16. bis 18. November 1971, Wien), Wien/München 1972, S. 14–20, S. 14. 20 Vgl. Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes ausländischer Arbeitskräfte, Wien 1976, S. 38. 21 Vgl. für Deutschland die frühe Studie von Annette Treibel, Engagement und Distanzierung in der westdeutschen Ausländerforschung. Eine Untersuchung ihrer soziologischen Beiträge, Stuttgart 1988, sowie die spätere Beschreibung und Kritik einer »Ausländerforschung« von Stephan Lanz, Berlin aufgemischt: Abendländisch – multikulturell – kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt, Bielefeld 2007, S. 86–96. 22 Berücksichtigt werden sie allerdings bei Matuschek, Ausländerpolitik, S. 182–184; Stefanie Mayer, Rotation, Integration, and Social Exclusion. Discourse and Change in/of Migration Policies in Austria, in: Ethnologia Balkanica 13 (2009), S. 129–146, S. 136–138; Christof Bergkirchner, Zur Genese des Ausländerbeschäftigungsgesetzes 1975, phil. Dipl. Universität Wien 2013, S. 93–102; August Gächter, 50 Jahre jugoslawische Gastarbeit in Österreich, in: Ali Özbas¸/Joachim Heinzl/Handan Özbas¸ (Hg.), 50 Jahre jugoslawische Gastarbeit in Österreich, Graz 2016, S. 40–55, S. 50–54. 23 Lena Karasz (Hg.), Migration und die Macht der Forschung. Kritische Wissenschaft in der Migrationsgesellschaft, Wien 2017.

Frühe Studien zu den »Gastarbeitern« in den 1970er Jahren

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und von den Herausforderungen der Gegenwart aus erschließt, kann auf eine Historisierung der frühen Forschungen zur so genannten »Gastarbeitermigration« und ihren ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen nicht verzichten.24 Damit werden nicht nur eher wissenschaftsinterne Fragen aufgeworfen wie die nach Traditionen und Vorbildern, Methoden und Theorien, Transfer von Begriffen und Konzepten, sondern vor allem auch wissenschaftsexterne nach den komplexen Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, nach den Akteuren und Institutionen, europäischen und internationalen Netzwerken sowie der Rolle von Expertenwissen für die politische Entscheidungsfindung und die Öffentlichkeit.25 Nicht zuletzt eröffnen die Studien der frühen 1970er Jahre auch einen Blick auf eine vergangene Zukunft: die damals angenommene Zukunft der Migrationsgesellschaft, noch bevor es überhaupt diesen Begriff gab, in dem Moment, in dem ein Verständnis vom Wandel der Gesellschaft durch Migration erst langsam zu entstehen begann. Auch damit wird noch einmal der »Epochenbruch« der 1970er Jahre deutlich, können – in Anlehnung an das Programm von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael – Querverbindungen und Wechselwirkungen zwischen Politik, Ökonomie, Bildung, Wissenschaft und Religion in den Blick genommen und kann eine transnationale (übrigens nicht nur westeuropäische) Geschichte erzählt werden. Auch hier trifft zu, dass zahlreiche Phänomene bereits in der Zeit sozialwissenschaftlich dokumentiert und interpretiert worden sind und sich somit die spezifische methodische Herausforderung ergibt, wie diese »Sozialdaten« sowie die seinerzeitigen Theorien und Erklärungsmodelle historisch befragt und eingeordnet werden können.26 Im Rückblick der 1980er Jahre konnte festgestellt werden: »Kein anderes Land in Europa ist in den Jahren seit 1973, dem Höhepunkt der Ausländerbeschäftigung und dem Beginn von Wirtschafts- und Beschäftigungskrise, so radikal beim Abbau von Gastarbeitern vorgegangen wie Österreich.«27 Vor allem Arbeitnehmer aus Jugoslawien hatten darunter zu leiden, ihre Zahl wurde halbiert. 24 Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 98–127. 25 Vgl. Christina Boswell, The Political Uses of Expert Knowledge. Immigration Policy and Social Research, Cambridge 2011. 26 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 32012, vor allem S. 30–31, S. 115ff. 27 Irmgard Bayer, Österreich: Ungeliebte Gäste. Die soziale Lage der ausländischen Arbeitnehmer ist katastrophal, in: Die Zeit 12 (1985), 15. 3. 1985. Vgl. dazu Hannes Wimmer (Hg.), Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, Frankfurt a. M./New York 1986, S. 4. Die Publikation geht zurück auf ein Forschungsprojekt des Instituts für Höhere Studien IHS und des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung WIFO, beide in Wien, im Auftrag der Bundesministerien für Soziale Verwaltung und für Wissenschaft und Forschung (1982– 1984).

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Die Rechtslage war ideal dafür. In der Dekade ab Mitte der 1970er Jahre hat Österreich den Anteil ausländischer Arbeitskräfte im Land um fast 36 % gesenkt, Deutschland um 34 %, die Schweiz nur um 15 %. Die Herausforderung, sich mit den Folgen der Ausländerbeschäftigung zu befassen, blieb dennoch.

Politische Kulturen

Tatjana Buklijas

(Dis)-Kontinuitäten von Vererbung und Entwicklung im Wien des frühen 20. Jahrhunderts*

Dieser Essay führt zwei meiner Forschungsschwerpunkte zusammen: die Geschichte der Wissenschaften in Wien und die sich verändernden Auffassungen zu Vererbung und Entwicklung in der Biologie ebenso wie in der Geschichtsschreibung, um Methoden zur Erforschung der spezifischen Wissenschaftskultur von Vererbung und Entwicklung im Wien des frühen 20. Jahrhunderts vorzuschlagen. This essay brings together two of my main research interests: history of science in Vienna and changing approaches to heredity and development in modern science and historiography to suggest a research approach to the idiosyncratic culture of heredity and development in early twentieth-century Vienna.

Die Arbeit der Historiker/innen kann grob in zwei Aufgaben eingeteilt werden: Zum einen beobachten sie neu auftretende Entwicklungen und erforschen die Vergangenheit, um Erklärungen für deren Auftreten zu finden, und zum anderen nutzen sie neue Zugänge zu bereits bekannten Ideen und Phänomenen. Meine Laufbahn als Historikerin begann mit Forschungen zur Medizingeschichte der Stadt Wien, wie sich die rasch verändernde Umgebung einer wachsenden Großstadt auf das Fach der Anatomie auswirkte, während der Staat rundherum schrumpfte. Meine Übersiedlung nach Neuseeland hatte auch einen intellektuellen Wandel zur Folge. Angeregt durch meine Arbeit an einem Institut, das sich der Rolle von Einflüssen und Erfahrungen in frühen Lebensstadien auf den späteren Gesundheitszustand ebenso wie jenen von Nachkommen widmet, begann ich die historische Entwicklung und die begrifflichen Grundlagen der * Dieser Essay basiert auf der 2. Max Neuburger Lecture, die ich am 26. Mai 2016 am Josephinum (Sammlungen der Medizinischen Universität Wien) gehalten habe, mit dem Titel Anatomical traditions, concepts of heredity and urban reform in the early 20th century Vienna. Die Diskussion wurde beim Abendessen im nahen Restaurant Flein fortgesetzt, wo Professor Ash, entspannt und aufgeräumt angesichts seiner bevorstehenden Emeritierung, einer Tischrunde mit Historikern, Kunstwissenschaftlern und Journalisten vorsaß. Die Erinnerung an diesen Abend, der für mich alle wundervollen Eigenheiten des historischen und gegenwärtigen Wiens einfängt, hat diesen Artikel inspiriert.

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Tatjana Buklijas

Wissenschaften von der menschlichen Entwicklung und Vererbung zu erforschen. Ich war nicht länger der Geschichte Wiens verhaftet, kehrte aber im Zuge eines Forschungsstipendiums an der Central European University in Budapest mit neuen Fragen zu meinen früheren Themen zurück. Wie sollte man den seltsamen Gegensatz zwischen der Modernität Wiens zu Anfang des 20. Jahrhunderts und dem sensationellen Aufstieg – dem ein ebenso schneller Fall folgte – des ganz offensichtlich vorgestrigen Lamarckismus eines Paul Kammerer erklären? Wie lässt sich der soziale Fortschrittsgedanke der sozialdemokratischen Stadtregierung Wiens in den 1920er Jahren mit deren eugenischen Vorstellungen vereinbaren? Gab es so etwas wie eine eigene Wiener Kultur der Vererbung, die durch Politik und Geographie der Stadt geprägt war? Kann man es überhaupt eine ›Kultur der Vererbung‹ nennen, angesichts dessen, dass zeitgenössische Biologen und Politiker zögerten, vererbbare Eigenschaften getrennt von jenen zu sehen, die durch Einfluss von Entwicklung und Umwelt entstanden waren? Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts marschierte die Geschichtsschreibung im zeitlichen Gleichschritt mit den herrschenden Auffassungen zu Vererbung und Entwicklung. Sie klärte fachliche Wertigkeiten zur Neuentdeckung Gregor Mendels – und auch warum Mendel überhaupt neu entdeckt werden musste.1 Sie verfolgte die Geschichte der Genetik und ihr Verhältnis zur Evolutionsbiologie: warum diese in der Zeit nach 1900 getrennt waren, und warum bzw. wie sie drei Jahrzehnte später wieder zusammenfanden. Sie erklärte den Aufstieg des Gens zur kulturellen Ikone. Im Großen und Ganzen übernahmen die Historiker die Urteile der zeitgenössischen Wissenschaftler zur Arbeit von deren Vorgängern, auch wenn sie diese als unorthodox, überholt oder sogar betrügerisch abstempelten.2 Mit dem Wandel der modernen Welt an der Schwelle zum 21. Jahrhundert und danach veränderten sich die Ansichten sowohl zur Geschichte wie auch zum gegenwärtigen Stand der Wissenschaft von der Vererbung. Die »Vererbung« – als materielle Einheit, die über Generationen hinweg ohne Veränderungen weitergegeben werden kann – wurde nun selbst als ein historisches Phänomen verstanden; und wenn dieses einen Anfang hatte, konnte es nicht auch ein Ende

1 Beispiele für Forschungsarbeit, wie sie in diesem Abschnitt skizziert wird, umfassen: Robert Olby, The Origins of Mendelism, London 1966; Ernst Mayr/William B. Provine (Hg.), The Evolutionary Synthesis: Perspectives on the Unification of Biology, Cambridge/Mass. 1980; Peter Bowler, The Eclipse of Darwinism: Anti-Darwinian Evolution Theories in the Decades around 1900, Baltimore 1992; Vassiliki Betty Smocovitis, Unifying Biology : The Evolutionary Synthesis and Evolutionary Biology, Princeton 1996; aber auch Kulturgeschichten wie jene von Dorothy Nelkin/Susan M. Lindee, The DNA Mystique: The Gene as a Cultural Icon, New York 1995. 2 Vgl. dagegen Jan Sapp, Beyond the Gene: Cytoplasmic Inheritance and the Struggle for Authority in Genetics, New York 1987.

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haben?3 Mit dem Abschluss des Human Genome Projects wurde das Gen nicht länger als der Schlüssel zum Geheimnis von Gesundheit und Krankheit, zu biologischer Variation und Beständigkeit angesehen; vielmehr sollte man noch tiefer in die komplexen Interaktionen innerhalb des Genoms vordringen, angetrieben durch zunehmend widrige Lebensumstände. Wie diese tiefgreifenden konzeptuellen Veränderungen der Wissenschaft mit den breiteren politischen und sozialen Bewegungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts korrespondieren, ist eine Frage, die es noch zu beantworten gilt. Auf der Hand liegt allerdings, dass sie Historiker/innen, Philosophen/innen und Sozialwissenschaftler/innen angeregt haben, die Geschichte unter anderen Blickwinkeln zu betrachten und neue Fragen zu stellen. Das Wien des Fin de SiHcle wurde schon in der Vergangenheit als Paradigma herangezogen, um über Probleme zu reflektieren, die das ausgehende 20. Jahrhundert beschäftigten, und auch in der hier besprochenen Thematik erweist es sich als fruchtbar. Viele Wien-Historiker/innen haben sich der Debatte mit innovativen und produktiven Beiträgen zu den Beziehungen von Biologie, Politik und Stadt angeschlossen, zur Geschichte der sozialistischen Eugenik oder zum Verhältnis von Soziologie und Eugenik.4 Dieser kurze Essay baut auf diesen Arbeiten auf. Er verweist auf die Diversität der geschichtswissenschaftlichen Zugänge zu Vererbung und Entwicklung im Europa der Gegenwart und bringt Vorschläge dazu, wie man den Wiener Ansatz untersuchen und verstehen kann.

3 Vgl. z. B. Barbara Fox-Keller, The Century of the Gene, Cambridge/Mass. 2000; Staffan MüllerWille/Hans-Jörg Rheinberger (Hg.), Heredity Produced: At the Crossroads of Biology, Politics and Culture, 1500–1870, Cambridge/Mass. 2007; Maurizio Meloni, Political Biology : Science and Social Values in Human Heredity from Eugenics to Epigenetics, Basingstoke 2016; Erik Peterson, The Life Organic: The Theoretical Biology and the Roots of Epigenetics, Pittsburgh 2016. 4 Vgl. z. B. Veronika Hofer, Rudolf Goldscheid, Paul Kammerer und die Biologen des PraterVivariums in der liberalen Volksbildung der Wiener Moderne, in: Mitchell G. Ash/Christian H. Stifter (Hg.), Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, Wien 2002; Cheryl A. Logan, Hormones, Heredity and Race: Spectacular Failure in Interwar Vienna, New Brunswick 2013; Klaus Taschwer, Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit, München 2016; Gudrun Exner, Die Soziologische Gesellschaft in Wien (1907–1934) und die Bedeutung Rudolf Goldscheids für ihre Vereinstätigkeit, Wien 2013; Paul Weindling, A City Regenerated. Race and Welfare in Interwar Vienna, in: Deborah Holmes/Lisa Silverman (Hg.), Interwar Vienna. Culture between Tradition and Modernity. Rochester NY 2009.

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Geschichten und Kulturen der Vererbung Die gängige Erzählung lautet, dass das Modell der Vererbung, das Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt und in den Jahren nach 1900 auch experimentell bewiesen wurde, sich in den 1920er Jahren allgemeiner Akzeptanz erfreute. Nach der Verschmelzung mit der Evolutionstheorie Darwins wurde es zur Grundlage der wissenschaftlichen Biologie. Die Bausteine dieser Wissenschaft waren die Anerkennung der Vererbung als stabile materielle Basis beobachtbarer (phänotypischer) Eigenschaften; die Zelle als Grundelement des Organismus; Geschlechtszellen (Keimzellen) als Träger des Erbmaterials, die es von einer Generation zur nächsten weitergeben; die von August Weismann postulierte Barriere zwischen Keimbahn und somatischer Zelle, die die Stabilität von Vererbung sichert; die Lokalisierung des Erbgutes im Zellkern; und die Gültigkeit der Mendelschen Regeln, die die Weitergabe und Verteilung vererbbarer Merkmale über die Generationen beschreiben. Damit wurden die beiden Faktoren Entwicklung und Umwelt für Jahrzehnte aus der neuen Wissenschaft ausgeschlossen. Diese gängige Version gilt aber nur für bestimmte Räume, allen voran die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Während die Geschichten von Konzepten der Vererbung und Entwicklung außerhalb Nordamerikas, Europas und der britischen Kronkolonien noch darauf warten, geschrieben zu werden, verliefen die Entwicklungslinien selbst in Kontinentaleuropa und Russland höchst unterschiedlich. In Frankreich war der Mendelismus seit seinen Anfängen bekannt, genoss bis in die 1930er Jahre aber nur wenig Unterstützung; zur Gründung der ersten Lehrstühle für Genetik kam es erst nach dem Zweiten Weltkrieg.5 In der Sowjetunion dominierte anfangs die Mendelsche Anschauung, daneben hielten sich jedoch auch andere Theorien.6 Die bekannteste davon war der eigenwillige Zugang zum Neolamarckismus, Michurinism genannt und später berühmt geworden als Lyssenkoismus nach seinem Proponenten Trofim Lyssenko. Dessen biologische Theorie und Praxis wurden seit den 1930er Jahren vom sowjetischen Staat indirekt unterstützt – und ab 1948 bis circa 1965 auch explizit, obwohl die zeitlichen Grenzen unscharf sind. In Deutschland war die Wissenschaft zumindest bis 1930 gespalten, in jene, die die Transmissionsgenetik von Anfang an unterstützten, z. B. Erwin Baur, der einen der weltweit ersten Lehrstühle für Genetik innehatte, und andere, die den Fokus auf den Nukleus und die Transmissionsgenetik als zu eng ansahen und die Träger von

5 Vgl. Richard M. Burian/Jean Gayon/Doris Zallen, The Singular Fate of Genetics in the History of French Biology, 1900–1940, in: Journal of the History of Biology 21 (1988) 3, S. 357–402. 6 Vgl. Loren Graham, Lysenko’s Ghost: Epigenetics and Russia, Cambridge/Mass. 2016.

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Erbgut außerhalb des Zellkernes suchten bzw. neben den Genen auch die Faktoren von Entwicklung und Umwelteinflüssen untersuchten.7 Wie verlief die Entwicklung in Österreich-Ungarn? Bislang wurde nur wenig dazu geforscht, um der besonderen ›Kultur der Vererbung‹ in der Habsburgermonarchie auf den Grund zu gehen. Der vorliegende Beitrag bietet dazu einige vorläufige Ergebnisse und Gedanken an. Einer der drei ›Wiederentdecker‹ des Mendelismus um 1900 war Erwin von Tschermak, Professor an der Hochschule für Bodenkultur in Wien. Zur selben Zeit gehaltene öffentliche Vorträge von Richard von Wettstein, dem anerkannten Professor für Botanik und späteren Rektor der Universität Wien, und dem Kinderheilkundler Max Kassowitz belegen, dass die Idee, dass die Vererbungsgrundlage durch unmittelbare Umweltveränderungen beeinflusst werden könne, ein wesentlicher Bestandteil des wissenschaftlichen Diskurses war.8 Selbst bei Sigmund Freud und Vertretern der jüngeren Gelehrtengeneration wie Karl Popper und Arthur Koestler scheint die Auseinandersetzung mit dem Lamarckismus während ihrer Studienzeit in Wien langfristig Spuren hinterlassen zu haben.9 Diese lokale Wissenschaftskultur erklärt auch die Ausrichtung des 1902 mit privaten Mitteln gegründeten und üppig ausgestatteten Instituts für Experimentalbiologie, volkstümlich auch als »Vivarium« bekannt.10 Das Institut war ein Hort experimenteller Forschung, als der komparative Zugang die Universitätslehre dominierte und andere private und öffentliche Institutionen wenig geneigt waren, die Faktoren Vererbung, Umwelt und Entwicklung getrennt voneinander zu betrachten. Zoologen wie Paul Kammerer veränderten die Umweltbedingungen (Temperatur, Luftfeuchtigkeit) im Labor, um an den Versuchstieren neue Merkmale hervorzurufen. Es schien, dass diese Eigenschaften auch Bestand hatten, als die ursprünglichen Bedingungen wiederhergestellt wurden. Physiologen beschäftigten sich mit dem Transfer externer Einflüsse, etwa in Form von Hormonen, auf die Keimzellen. Zu einer Zeit, als sich die Vererbungslehre den isolierten Eigenschaften und deren Übertragung über 7 Vgl. Jonathan Harwood, Styles of Scientific Thought: The German Genetics Community, 1900@1933, Chicago 1993. 8 Taschwer 2016, S. 70. 9 Elena Aronova, Karl Popper and Lamarckism, in: Biological Theory 2 (2007) 1, S. 37–51; Eliza Slavet, Freud’s Lamarckism and the Politics of Racial Science, in: Journal of the History of Biology 41 (2008) 1, S. 37–80; James F. Stark, Anti-Reductionism at the Confluence of Philosophy and Science: Arthur Koestler and the Biological Periphery, in: Notes and Records 70 (2016) 3, S. 269–286. 10 Vgl. Gerd B. Müller (Hg.), Vivarium. Experimental, Quantitative, and Theoretical Biology at Vienna’s Biologische Versuchsanstalt (MIT Press Vienna Series in Theoretical Biology), Cambridge MA 2017; Klaus Taschwer/Johannes Feichtinger/Stefan Sienell/Heidemarie Uhl (Hg.), Experimental Biology in the Vienna Prater. On the History of the Institute for Experimental Biology 1902 to 1945. With a Preface by Anton Zeilinger, Vienna 2016.

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Generationen hinweg widmete, setzte das Vivarium in Wien auf einen ganzheitlichen Zugang und untersuchte, wie neue Eigenschaften geschaffen werden können, indem die Reproduktion (als sich anpassendes Merkmal) auf veränderte äußere Bedingungen reagiert. Historiker haben die Unterschiede zwischen den russischen, französischen und deutschen ›Kulturen der Vererbung‹ durch die Analyse spezifischer Bildungstraditionen, politischer Konstellationen und fachlicher Organisation erklärt. Wie Jonathan Harwood für Deutschland zeigte, griffen die praxisorientierten technischen und landwirtschaftlichen Hochschulen die neue Wissenschaft von der Vererbung auf, während an den Universitäten die älteren Disziplinen, die sich dem Studium des Organismus gewidmet hatten, dem empfundenen Reduktionismus widerstanden. Noch in den späten 1920er Jahren verschrieben sich erfolgreiche junge Anatomen wie Hermann Stieve gewissen Spielarten des Neolamarckismus. Der Mangel an finanzieller und/oder fachlicher Unterstützung zur Schaffung unabhängiger Universitätslehrstühle für Genetik spielte dabei eine wichtige Rolle. Als an der Universität Wien ein neuer Lehrstuhl für dieses Gebiet erwogen wurde, schien die Verbindung von Vererbung mit dem Entwicklungsgedanken unvermeidlich. 1912 gab es einen letztlich gescheiterten Versuch, die vakante Lehrkanzel für Embryologie an der Medizinischen Fakultät in eine neue Professur umzuwandeln, die Fragen der allgemeinen Embryologie mit jenen der allgemeinen Biologie verknüpfen würde, um nicht nur die Befruchtung bzw. die Entwicklung von Embryos in den frühen Stadien zu untersuchen, sondern auch experimentelle Embryologie (wie sie im Vivarium praktiziert wurde) und Vererbungslehre zu betreiben.11

Vererbung, Entwicklung und akademische Traditionen in Wien Unter den Unterstützern des neuen Lehrstuhls war der Wiener Anatom Julius Tandler, der sich wenige Jahre später auch in der Kommunalpolitik und in internationalen Gesundheitsfragen engagierte. Seine zentrale Rolle für die frühe Eugenik und seine Tätigkeit im öffentlichen Gesundheits- und Sozialwesen als Stadtrat der sozialdemokratischen Regierung des Roten Wien nach 1919 sind weitgehend erforscht. Die prominente Rolle der Sektion für Sozialbiologie und Eugenik, die 1913 in Rudolf Goldscheids Wiener Soziologischer Gesellschaft 11 »Da wird man unter allgemeiner Entwicklungsgeschichte nicht nur die Wissenschaft von den fundamentalen Vorgängen der Entwicklung, also die Lehre von der Befruchtung und Furchung, der Keimblattbildung, sondern auch die Lehre von der Entwicklungsmechanik, die Vererbungslehre etc verstehen.« Eine ähnliche Sichtweise herrschte offensichtlich in Krakau, wo Emil Godlewski der Lehrstuhlinhaber war. Vgl. Archiv der Universität Wien. Embryologische Lehrkanzel. Z. 184.

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gegründet wurde, mit Paul Kammerer als Sekretär und Julius Tandler als Präsidenten, wurde jedoch erst vor kurzem gewürdigt.12 Dieser spezielle Zugang zur Eugenik knüpfte an Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Selektion an, widersprach aber der Malthusianischen Theorie, wonach alle Arten zu Vermehrung neigen, bis sie die Grenzen der verfügbaren Ressourcen erreicht haben. Vielmehr schwankt die Geburtenrate als Reaktion auf die Umwelt; eine gut angepasste Art braucht demnach keinen zahlreichen Nachwuchs erzeugen, sondern bringt angesichts guter Entwicklungsmöglichkeiten nur wenige, aber hochwertige Nachkommen hervor. Diese »produktive« oder »regenerative« Eugenik13 bildete die Grundlage der sozialen Wohlfahrt, des öffentlichen Gesundheitswesens und der Stadtplanung im Roten Wien bis etwa 1930. Die Arbeit Tandlers bietet einen guten Einstieg für Fragen, wie lokale intellektuelle und akademische Traditionen die ›Kultur der Vererbung und Entwicklung‹ im Wien des frühen 20. Jahrhundert beeinflussen konnten. Schon früh in seiner Karriere hatte sich Tandler von herkömmlichen anatomischen Forschungsobjekten, menschlichen Leichen und künstlichen Modellen, dem lebendigen Körper zugewandt. Gemeinsam mit dem Gynäkologen Josef Halban begann er den Einfluss der (erst kürzlich entdeckten) Sexualhormone auf die Form und Funktionen des Körpers zu erforschen. Im Jahr 1907 unternahm er eines seiner bemerkenswertesten Projekte: eine Feldstudie an Mitgliedern der heterodoxen russischen Sekte der Skopzen, die sich wegen der Verfolgung durch die russischen Behörden in Rumänien angesiedelt hatten. Die Anhänger dieser Sekte verschrieben sich der Keuschheit, verstanden darunter aber Kastrierung und mitunter auch die Verstümmelung der Genitalien. Tandlers anthropologische Studie legte dar, dass die Abwesenheit von Sexualhormonen einen tiefgreifenden Effekt auf Gestalt und Körperfunktionen hat und dass eine Kastrierung in frühen Jahren in Ausmaß und Intensität völlig andere Auswirkungen zeigt als im Erwachsenenalter.14 Die theoretische Basis zu Tandlers Arbeit bildete die Konstitutionslehre.15 Diese in Europa vom Fin de SiHcle bis in die 1930er Jahre überaus populäre Anschauung bildete eine holistisch motivierte Reaktion auf die reduktionistischen Ansätze in den modernen Wissenschaften. Sie leitete die Neigung zu Krankheiten (oder das Temperament) einer Person aus der Betrachtung ihrer 12 Vgl. Exner 2013, S. 52–56; Reinhard Müller, Geschichte der Soziologischen Gesellschaft in Wien, in: Stephan Moebius/Andrea Ploder (Hg.), Geschichte der deutschsprachigen Soziologie. Band 1, Wiesbaden 2018, S. 763–778, besonders S. 768. 13 Paul Kammerer, The Inheritance of Acquired Characteristics, New York 1924; vgl. Logan, Hormones, Heredity, and Race, S. 95–99. 14 Julius Tandler/Siegfried Grosz, Untersuchungen an Skopzen, in: Wiener Klinische Wochenschrift 21 (1908), S. 277–282. 15 Vgl. Logan 2013.

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äußeren Form ab. Für Tandler belegte seine Forschung zu den Skopzen, dass in den Sexualdrüsen eine mögliche Erklärung für die von der frühen Entwicklung an beobachtete Verbindung zwischen Vorgängen im Organismus und äußerer Form liegt. Er unterschied zwischen vererbbarer, stabiler Konstitution und Kondition als eine vorübergehende Reaktion auf die Umwelt. Letztere konnte jedoch die Konstitution eines Lebewesens beeinflussen, ebenso wie die seines Nachwuchses. Der Schluss lag nahe, dass durch einen Wechsel in der Lebensumwelt auch Gesundheit und Erbanlagen von Menschen dauerhaft geändert würden. Die Arbeiten Tandlers scheinen auf den ersten Blick von der klassischen Anatomie abzuweichen. In einem früheren Aufsatz habe ich argumentiert, wie die unterschiedlichen Ansätze, die an den beiden anatomischen Lehrstühlen der Wiener Universität gepflegt wurden, durch eine gesellschaftliche Kluft entstanden. Diese äußerte sich in gegensätzlichen Ideologien innerhalb des Bürgertums zur politischen und kulturellen Verfassung des Staates ebenso wie zu den wissenschaftlichen Grundlagen dafür.16 In den 1880er und 1890er Jahren bestimmte Tandlers Vorgänger, Emil Zuckerkandl, die klinische und öffentliche Orientierung des ersten Lehrstuhls durch die Förderung der topographischen/chirurgischen Anatomie, die Unterstützung der Bildung von Frauen und Arbeitern und die Einbeziehung von Künstlern. Nach 1900 und in den 1910er Jahren beherrschten dagegen die Konstitutionslehre, Eugenik und öffentliches Gesundheitswesen das Feld. Der Forschungsrahmen, den ich für die Anatomie aufgezeigt habe – durch die minutiöse Untersuchung der Forschungsfelder in Verbindung zu den beruflichen Netzwerken, der politischen Zugehörigkeit und den Laienzirkeln, in denen sich die Wissenschaftler bewegten – könnte sich als fruchtbringender Weg erweisen, die Untersuchung der verschiedenen Auffassungen zu Vererbung und Entwicklung im Wien des frühen 20. Jahrhunderts voranzutreiben.

Resümee Die Umbrüche in der modernen Biologie haben das Gen entthront und eine Sicht auf den Organismus gefördert, der mit seiner Umgebung vernetzt lebt und auf Umwelteinflüsse reagiert. Auch die Historiker haben auf diesen Bruch mit einer Neubetrachtung der Geschichte von Vererbung und Entwicklung reagiert. Mit einem frischen Blick auf die Vergangenheit und durch den Vergleich der Aus16 Tatjana Buklijas, The Politics of Fin-de-siHcle Anatomy, in: Mitchell G. Ash/Jan Surman (Hg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918, Basingstoke 2012, S. 209–244.

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prägungen an verschiedenen Orten entsteht heute eine viel differenziertere Sicht, als zu vermuten war, auf eine Geschichte, die durch lokale Traditionen und Einflüsse grundlegend mitgeformt wurde. Aus diesem Blickwinkel können die Forschungen, die am Vivarium durchgeführt wurden, die Eugenik des sozialdemokratischen Stadtrats Julius Tandler oder die Kombinationen von Lamarckscher Vererbung mit Darwins Evolutionstheorie, die in öffentlichen Vorträgen von Wiener Professoren zu Anfang des 20. Jahrhunderts popularisiert wurden, als Ausdruck eines lokalen Verständnisses von Vererbung und Entwicklung betrachtet werden. Ich habe die rezente Forschung herangezogen, vor allem zum Vivarium und zur Rolle der Eugenik in Wien, die Karriere von Julius Tandler sowie meine früheren Arbeiten zu disziplinären Orientierungen in der Anatomie, um vorzuschlagen, auf welchen Wegen wir ein gründlicheres Verständnis zur Geschichte von Vererbung und Entwicklung in Wien, mit allen ihren Traditionen und Bruchlinien, entwickeln können. Übersetzung aus dem Englischen von Jan Surman, bearbeitet von Josef Schiffer

Thomas König

Heinrich Drimmel und die österreichische Hochschulpolitik in der Nachkriegszeit

Dieser Beitrag beleuchtet die Rolle des langjährigen österreichischen Unterrichtsministers Heinrich Drimmel in der Gestaltung der Hochschulen in den »langen 50er Jahren«. Argumentiert wird, dass Hochschulpolitik immer zentral für Drimmels politisches Selbstverständnis war, und dass sein widersprüchliches Agieren nur zu verstehen ist, wenn man den Einfluss des politischen Katholizismus auf seine Weltsicht miteinbezieht. The chapter investigates Heinrich Drimmel’s role in Higher Education policy during the »long 1950s« in Austria. It argues that Drimmel, then long-standing minister of education, had always had a particularly close relationship to the Higher Education sector. It becomes obvious that Drimmel’s actions have to be seen in the light of his personal convictions shaped by political Catholicism.

Die Geschichte der österreichischen Hochschul- und Wissenschaftspolitik ist für die Phase der »langen 50er Jahre« noch in einigen Teilen ein Desiderat. Konkret geht es um die Periode zwischen 1949 und 1965, also nach dem Ende der Entnazifizierung und vor dem Beginn einer öffentlichen Debatte über die Rolle der Hochschulen in der Zweiten Republik. Was für diese Zeitspanne insbesondere fehlt, ist eine kritische Analyse der zentralen Akteure in jener Zeit. In diesem Beitrag möchte ich mich mit Heinrich Drimmel beschäftigen, der ab 1952 Sektionschef für Hochschulen im Unterrichtsministerium war und ab Ende 1954 bis 1964, also für beinahe zehn Jahre, als Unterrichtsminister dem Ressort vorstand. Drimmels Aktivitäten im Bereich der Hochschul- und Wissenschaftspolitik ist anhand mehrerer spezifischer Studien und Miszellen schlaglichtartig beleuchtet worden.1 Allerdings wird dort das spezifische Set an ideologischen und 1 Dazu zählen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Christian Fleck, Wie Neues nicht entstanden ist. Die Gründung des Instituts Für Höhere Studien in Wien durch Ex-Österreicher und die Ford Foundation, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (2000) 1, S. 129–78; Dirk Raith, Wien darf nicht Chicago werden. Ein amerikanischer Soziologe über Österreich, die Nazis und das IHS, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 26 (2001) 3, S. 46–65; Thomas König, Die Frühgeschichte des Fulbright Program in Österreich. Transatlantische »Fühlungnahme auf dem Gebiet der Erziehung« (transatlantica 6), Innsbruck 2012;

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politischen Motiven, die Drimmel angetrieben haben dürften, nur indirekt thematisiert bzw. schon vorausgesetzt: Die Hinweise deuten darauf hin, dass Drimmels Handlungen stark von seiner katholisch-konservativ gefärbten »Weltanschauung« geprägt waren. Eine umfassende Analyse von Drimmels Hochschul- und Wissenschaftspolitik während seiner Amtszeit als Minister hat hier keinen Platz.2 Nun gibt es zwar eine Reihe von biographischen Studien zu Drimmel; dabei ist allerdings seine Rolle in Bezug auf Hochschulen und Wissenschaft auffällig unterbelichtet geblieben.3 Das mag auch damit zusammenhängen, dass selbst die Biographen, die Drimmels Wirken insgesamt recht positiv hervorheben, gerade in Bezug auf seine Hochschulpolitik wenig Hervorstechendes finden; und das deckt sich immerhin mit jenen, die sich eingehender mit dem Feld generell beschäftigt haben: Unter Letzteren ist Drimmels Ansehen jedenfalls nicht sehr hoch, und seine Haltung in Bezug auf Wissenschaft und Hochschulen wird gern mit der Phrase »negatives Wohlwollen« zusammengefasst.4 Demgegenüber möchte ich im Folgenden zunächst einmal belegen, dass die Hochschul- und Wissenschaftspolitik für Heinrich Drimmel zeit seines politisch aktiven Lebens eine besonders wichtige, ja zentrale Bedeutung hatte. Und weiter möchte ich argumentieren, dass Drimmel auch während seiner Zeit als Minister selbst aktiv gestalterisch zu wirken versucht hat, auch wenn dieses Gestalten die Form des Verhinderns und Eindämmens einnahm.

Thomas König, Die Entstehung eines Gesetzes: Österreichische Hochschulpolitik in den 1950er Jahren, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 23 (2012) 2, S. 57–91. 2 Eine umfassende Analyse ist in Ausarbeitung und wird als Artikel unter dem Titel A strategy of containment: Heinrich Drimmel’s political activism in the realm of higher education policy in the early Second Republic in der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ÖZG) erscheinen. 3 Anton Staudinger, Heinrich Drimmel, in: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Politiker : Karrieren und Wirken bedeutender Repräsentanten der Zweiten Republik, Wien 1995, S. 118–24; Robert Rill, Vom Heimwehrmann zum Polyhistor. Heinrich Drimmel – Sein Wirken und sein Werk, in: Ulrich E. Zellenberg (Hg.), Konservative Profile: Ideen & Praxis in der Politik zwischen Feldmarschall Radetzky, Karl Kraus und Alois Mock, Graz 2003, S. 395–422; Christian Mertens, Wider den herrschenden Zeitgeist, in: Günther Burkert-Dottolo/Christian Sebastian Moser (Hg.), Stichwortgeber für die Politik. Band 1, Wien 2006, S. 123–133; Reinhold Knoll, Zur politischen Philosophie eines Politikers – Gedanken über Heinrich Drimmel, in: Michael Benedikt et al. (Hg.), Auf der Suche nach authentischem Philosophieren: Philosophie in Österreich 1951–2000 (Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung 6) Wien 2010, S. 871–877. Auch in der Ausgabe der Zeitschrift Demokratie und Geschichte, die Drimmel gewidmet ist [9–10 (2007)], wird die Hochschulund Wissenschaftspolitik Drimmels nicht näher beleuchtet. 4 Das Zitat entstammt angeblich von Drimmel selbst, der es im Zuge der Diskussionen eines durch die amerikanische Ford-Foundation finanzierten sozialwissenschaftlichen Lehr- und Forschungszentrums gesagt haben soll; cf. Raith, Wien, S. 54.

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Drimmel und die Hochschulen Als Unterrichtsminister war Drimmel für eine ganze Reihe von Politikfeldern zuständig: zwischen Bildung und Schulen über Kunst und Kultur und Sport bis hin zur staatlichen Beziehung zu Kirchen und Religionen waren Hochschulen und Wissenschaft nur ein verhältnismäßig kleiner Bereich. Dennoch gibt es gute Gründe anzunehmen, dass letzterer dem Minister ein besonderes Anliegen blieb. Die oben konstatierte Lücke in der doch nicht unbeträchtlichen Zahl an Werken, die mittlerweile dem Politiker Drimmel gewidmet sind, ist auch deshalb bemerkenswert, als ein kurzer Blick auf Werdegang und Wirken Drimmels deutlich macht, wie wichtig ihm zeit seines politischen Lebens der Themenbereich Hochschule blieb. Geboren am 16. Jänner 1912 in Wien, hatte Drimmel an der dortigen Universität Rechtswissenschaften studiert, war der Heimwehr beigetreten und hatte in der Studentenpolitik Fuß gefasst. Wenige Tage, nachdem er als Milizionär am Bürgerkrieg teilgenommen hatte, wurde Drimmel zum Sachwalter der Hochschülerschaft an der Uni Wien sowie (ab 1935) für ganz Österreich bestellt, um den regelmäßig in gewaltsamen Auseinandersetzungen gipfelnden Konflikt zwischen katholischen und national(sozialistisch)-orientierten Studierendengruppen zu kalmieren.5 Quasi parallel dazu übernahm er über seinen Verband Nordgau hochrangige Funktionen zunächst im Wiener und dann im Österreichischen Cartellverband.6 1937 landete Drimmel dann direkt im Unterrichtsministerium. Hier war er unter Otto Skrbensky im so genannten Kultusamt tätig, und zwar genauer für die Beziehungen zur katholischen Kirche.7 Drimmel wurde im Zweiten Weltkrieg eingezogen und kam 1944 in Italien in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Betrachtet man Drimmels Karriere nach 1945, so findet man deutliche Hinweise darauf, wie stark seine Erfahrungen im »schwarzen Wien«8 vor 1938 nachwirkten. Kaum zufällig blieb daher die Hochschulpolitik im Mittelpunkt seiner (zweiten) Karriere als Bürokrat, die er in atemberaubenden Tempo voll5 Drimmels Rolle in der Hochschulpolitik der frühen 1930er Jahre wird explizit beleuchtet in Gerhard Wagner, Von der Hochschülerschaft Österreichs zur Österreichischen Hochschülerschaft, phil. Dipl. Universität Wien 2010, insbes. S. 119–130; und, weitaus knapper, Andrea Griesebner, Politisches Feld Universität: Versuch einer Annäherung anhand der Mitbestimmungsmöglichkeiten der Studierenden zwischen 1918 und 1990, phil. Dipl. Universität Wien 1990, S. 44–48. 6 Gerhard Hartmann, Der gar nicht unpolitische Heinrich Drimmel, bevor er Politiker wurde, in: Demokratie und Geschichte 9–10 (2007) 1, S. 81–83. 7 Zu diesem einflussreichen Bürokraten siehe inzwischen Margarete Grandner, Otto Skrbensky, in: Lucile Dreidemy et al. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Wien 2015, S. 519–32. 8 Janek Wassermann, Black Vienna: The radical right in the red city, 1918–1938, Ithaka 2014.

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zog. Zurück im Unterrichtsministerium, war er neuerlich Skrbensky zugeordnet, der inzwischen zum Sektionschef der Hochschulsektion avanciert war. 1948 wechselte Drimmel in die Funktion des persönlichen Referenten des Ministers (zunächst Felix Hurdes, dann Ernst Kolb), 1952 wurde er (zunächst interimistisch) als Nachfolger des plötzlich verstorbenen Skrbensky eingesetzt.9 Drimmel dürfte schon länger als Nachwuchshoffnung der Konservativen aufgebaut worden sein. Allerdings hatte er keine Hausmacht in einer der ÖVPVorfeldorganisationen vorzuweisen (und blieb formal bis 1955 parteilos). Der Fokus seiner politischen Aktivitäten blieb der CV. Naturgemäß waren die Hochschulen von besonderer Bedeutung für einen Verband, der sich in den ersten Dezennien der Zweiten Republik zur Elitenorganisation der Konservativen entwickelte und tief in die staatliche Bürokratie hinein zu reichen begann; Drimmel saß hier an einer besonders wichtigen Schnittstelle. Anlässlich seiner Ernennung zum Minister wurde Drimmel in der Verbandszeitschrift des CV bejubelt »als Kämpfer für unseren Glauben, unsere Weltanschauung und unseren Cartellverband«.10 Als Drimmel von Bundeskanzler Julius Raab im November 1954 in die Regierung geholt wurde, begann seine dritte Karriere, nämlich die als Sach- und Parteipolitiker. Raab dürfte in Drimmel einen idealen Kandidaten gesehen haben, um das Ressort firm unter konservativer Schirmherrschaft zu behalten: Drimmel war vom Fach; bestens in der bürokratischen Elite und in den Hochschulen vernetzt;11 konziliant im Umgang mit dem politischen Gegner, aber dennoch ideologisch gefestigt. Die Witzelei Raabs, der ihn wenige Monate danach als »alten Faschisten und jungen Minister« tituliert haben soll, ist zwar bloß von Drimmel selbst überliefert;12 sie unterstreicht aber jedenfalls, dass Drimmel selbst kein Problem hatte, an seine politischen Tätigkeiten der 1930er Jahre anzuschließen. Warum auch? Alle jene Qualitäten, die Raab an ihm schätzte, hatte er sich damals angeeignet.

9 Drimmels Personalakt zeigt die »Meldung zum Dienstantritt« mit 2. Oktober 1946 an (Archiv der Republik, Personalakt Heinrich Drimmel, GZ 5722-Pr. I/46). In dem Akt ist auch sein rascher Aufstieg durch die Ränge dokumentiert: eine deutlich höhere Gehaltseinstufung 1950, die Ernennung zum Sektionsrat 1951, und zum Ministerialrat 1953, mithin dem zweithöchsten Beamtenrang in Österreich. 10 Ablösung am Minoritenplatz, in: Österreichische Academia 7 (1955–56) 1, S. 3. 11 Vor allen anderen ist hier Richard Meister zu nennen, der mit zahllosen Stellungnahmen auch bildungs- und schulpolitisch auf Drimmel einwirkte. Andere »Peers« an Hochschulkanzeln mit gutem Draht zu Drimmel waren etwa Ludwig Adamovich sen. (der allerdings 1955 schon verstarb), oder der Philosophieprofessor Leo Gabriel. Zur Beziehung Drimmels mit Letzterem siehe auch Renate Lotz-Rimbach, Zur Biographie Leo Gabriels. Revision und Ergänzung der Selbstdarstellung, in: Zeitgeschichte 31 (2004) 6, S. 376. 12 Heinrich Drimmel, Die Häuser meines Lebens. Erinnerungen eines Engagierten, Wien 1975, S. 334.

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Drimmels Hochschulpolitik Drimmel legte denn auch gleich zu Beginn seiner Amtszeit eine Gesetzesinitiative vor, die sich aus seinen Vorarbeiten als Sektionschef ergab: Die Kodifizierung der Hochschulen im Hochschul-Organisationsgesetz wurde im Juni 1955 im Nationalrat beschlossen13 und war ein voller Erfolg für Drimmel, der als Sachpolitiker um den Nachweis konstruktiver Aktivitäten bemüht war. Auch in den folgenden Jahren bewies er seine Hinwendung zu den Hochschulen; etwa dadurch, dass er im Rahmen eines stagnierenden Budgets für sein Ressort die Ausgaben für den Hochschulbereich zu steigern vermochte. Im Weiteren aber blieb Drimmel immer weiter hinter seinen eigenen, ehrgeizigen Plänen zur weiteren Konsolidierung des Hochschulwesens zurück. Die komplementär zum Organisationsgesetz angelegten beiden Initiativen – die Dienstrechtsnovelle der Hochschulangestellten und vor allem die schon medial angekündigte Neugestaltung der Hochschulstudien – konnten unter Drimmel nicht fertiggestellt werden. Ebenso schaffte er es nicht, die staatliche Forschungsförderung zu etablieren. Die Stagnation war teilweise den politischen Rahmenbedingungen geschuldet: Die aus dem gegenseitigen Misstrauen erwachsende Praxis der Junktimierung machte Verhandlungen zwischen den beiden Koalitionsparteien in der Regierung immer komplexer und erschwerte erfolgreiche Abschlüsse. Doch das allein reicht nicht als Begründung: Drimmel schaffte es nämlich in späteren Jahren durchaus noch, legislative Erfolge einzufahren, etwa mit dem Schulgesetz von 1962 und dem Konkordat zur Regelung von schulbezogenen Fragen. Auch war es nicht so, dass Drimmel die Hochschulen zu vernachlässigen begann; ironischerweise ist gerade der Umstand, dass wenig weiterging, ein Indiz für die fortgesetzte Relevanz, die er den Hochschulen zuerkannte. Allerdings war Drimmel – anders als viele seiner Zeitgenossen – nicht bereit, seine Weltanschauung an das anzupassen, was er gelegentlich als »Zeitgeist« bezeichnete. Das wird vor allem in seinen programmatischen Reden aus der späteren Phase seiner Amtszeit deutlich, in der er auch öffentlich stärker als programmatisch konservativer Parteipolitiker hervortrat.14 13 König, Die Entstehung eines Gesetzes; sowie, aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, Walter Brunner und Helmut Wohnout, Hochschulrecht, in: Herbert Schambeck (Hg.), Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich: Entwicklung und Gegenwartsprobleme. Band 2, Berlin 1993, S. 1105–48; Sascha Ferz, Ewige Universitätsreform: das Organisationsrecht der österreichischen Universitäten von den theresianischen Reformen bis zum UOG 1993, Frankfurt a. M. 2000, S. 335–73. 14 Drimmels Rolle in der Regierung und innerhalb der ÖVP änderte sich 1961 insofern stark, als sein politischer Ziehvater Raab zurücktrat und Drimmel im neu gebildeten Kabinett Alfons Gorbachs plötzlich der dienstälteste Minister auf Seiten der Konservativen war.

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Drimmels Positionen äußerten sich in der Kritik an allen Formen der Moderne und des gesellschaftlichen Fortschritts, wie es dem Konservatismus des Kalten Krieges eigen war.15 Schlecht waren Wohlfahrtsstaat, Technokratie, auch die repräsentative Demokratie; besonders problematisch aber war für Drimmel, dass die Wissenschaft, deren Pflege ihm an sich »als eine der schönsten Aufgaben der Staatskunst« galt,16 den Hang dazu hatte, jene gesellschaftlichen Grundpositionen in Frage zu stellen, die ihm als fundamental galten. »Drei Grundübel unserer Zeit«, die es zu überwinden gelte, machte Drimmel bei einer Gelegenheit aus: neben der »Auflösung der Familie« nämlich auch »die reine Wissensschule«, mithin den wissenschaftlichen Positivismus, und »die Ideallosigkeit«, die sich wohl unmittelbar daraus ergab.17

Zusammenfassung In der vorsichtig austarierten Lagerdemokratie der frühen Zweiten Republik fiel das Unterrichtsministerium der konservativen Volkspartei ÖVP zu; als Minister sah es Drimmel als seine Aufgabe an, die kulturelle Hegemonie des Landes konservativ zu besetzen. An den Hochschulen wurden die politischen Eliten des Landes ausgebildet und auch weltanschaulich geprägt, sie waren demnach immer noch – und mehr denn je – langfristig von wesentlicher Bedeutung. Niemandem war das deutlicher bewusst als Drimmel, der selbst einen Gutteil seines Erwachsenenlebens vor Antritt des Ministeramts mit Hochschulpolitik zugebracht hatte. Es mutet ironisch an, dass Drimmel ausgerechnet in Bezug auf die Hochschulpolitik eine denkbar schlechte Nachrede haben sollte. Ausschlaggebend dafür war, dass sich Drimmel augenscheinlich nie vom Konzept des politischen Katholizismus trennte – ganz egal, wie flexibel er sich sonst in seinen verschiedenen beruflichen Inkarnationen erwiesen hatte. Für seine Amtszeit als Minister hatte das zwei Konsequenzen: Erstens agierte er selbst in Fachfragen, bei denen eine objektive Herangehensweise angemessen gewesen wäre, immer politisch. Bei der Besetzung von Lehrkanzeln etwa ließ er sich weniger von beruflichen und wissenschaftlichen Qualifikationen leiten 15 No[l O’Sullivan, Conservatism, in: Terence Ball/Richard Bellamy (Hg.), The Cambridge History of Twentieth-Century Political Thought, Cambridge 2003, S. 151–64; Jan-Werner Müller, Fear and Freedom. On ›Cold War Liberalism‹, in: European Journal of Political Theory 7 (2008) 1, S. 45–64, 16 So Drimmel in dem Redemanuskript »Zur Eröffnung des 3. Symposiums über Organisation und Administration der angewandten Forschung in Wien am 8. Oktober 1956«, in: Archiv des Karl von Vogelsang Instituts, Schachtel 1303/2, S. 5. 17 Heinrich Drimmel, Politik und Schule, in: Wissenschaft und Weltbild 14 (1961) 4, S. 241–246, S. 245.

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denn von Aspekten wie der Zugehörigkeit zum CV, der weltanschaulichen Überzeugung, etc. Bei der Verhandlung zum Hochschulstudiengesetz konnte Drimmel keineswegs zulassen, dass etwa Studienpläne im Parlament beschlossen werden sollten, und verschleppte die Initiative lieber. Zweitens: Das buchstäbliche Fundament seines Denkens blieb die katholische Theologie und die damals so beliebte Naturrechtslehre. Das erklärte sein vehementes Auftreten gegen den wissenschaftlichen Positivismus, aber auch sein Verschleppen von weiteren Strukturreformen. Mit zunehmend offensiven Reden gegen Positivismus und Liberalismus, die er beide in unmittelbarer Verwandtschaft mit dem Bolschewismus wähnte, markierte Drimmel ein Verständnis von Wissenschaft, das zunehmend in Misskredit kam.18 So kam es letztlich, dass Drimmel, der als respektierter Fachminister angetreten war, gerade die Hochschulen in einem Zustand hinterließ, der es allseits angeraten erscheinen ließ, diese grundlegend zu reformieren. Nur wäre es dabei falsch, Drimmels hochschulpolitisches Agieren lediglich als Prokrastinieren oder Ignorieren der Hochschulen zugunsten anderer Themenfelder zu verstehen.

18 Am deutlichsten wird das in der programmatischen Rede, die Drimmel in Alpbach 1961 gehalten hat: Heinrich Drimmel, »Niemand lebt vom Brot allein…«, in: Österreichische Academia 11–12 (1960–61), S. 6–8. Die Rede wurde auch weit rezipiert, vgl. Gerhard Schwarz, Alpbach 1961, in: Wissenschaft und Weltbild 14 (1961) 3, S. 229–231; B8la Juhos, Grundlagenforschung – pro und contra!, in: Österreichische Hochschulzeitung 14 (1962) 1, S. 4; Norbert Leser, Begegnung und Auftrag: Beiträge zur Orientierung im zeitgenössischen Sozialismus, Wien 1963, S. 230–231.

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Über die Rolle von bedeutender Intelligenz, hingebendem Fleiß und liebenswürdigen charakterlichen Anlagen als Qualifikationen für wissenschaftliche Karrieren in Österreichs Zweiter Republik*

Über das Verhältnis von »Wissenschaft« und »Politik« kann man auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau forschen und argumentieren. Am Beispiel der Berufung eines Berufspolitikers zum ordentlichen Professor für öffentliches Recht soll darauf hingewiesen werden, dass die saubere Trennung der beiden Felder/Subsysteme/Sphären in der Theorie wahr sein mag, aber für die Praxis nicht (immer) taugt. We can research and discuss the relationship between »science« and »politics« at different levels of abstraction. The case of a professional politician appointed as professor of public law illustrates that a clear separation between the two subsystems/fields/spheres may be right in theory, but does not (always) work in practice.

Am 15. Mai 1957 stellen Nationalratsabgeordnete der Sozialistischen Partei Österreichs an den seit November 1954 amtierenden Bundesminister für Unterricht Dr. Heinrich Drimmel eine parlamentarische Anfrage »betreffend Bestellung von Universitätsprofessoren«.1 Die vier Erstunterzeichner sind langjährige Abgeordnete, von Beruf sind sie Lokomotivführer, Kraftfahrer, Elektriker, und der einzige Akademiker ist Direktor einer Hauptschule. Zwei Mandatare kommen aus Tirol und je einer aus Vorarlberg und Niederösterreich.2 In der Anfrage beziehen sich die Fragesteller auf einen am Tag davor in der Wiener Tageszeitung Neuer Kurier erschienenen Artikel über die Ernennung einer * Christian Day8, Matthias Duller, Marianne Egger de Campo, Thomas König, Andreas Kranebitter, Albert Müller, Andrea Ploder, Wolfgang L. Reiter lasen eine frühere Version dieses Textes und ihre Hinweise bewahrten mich vor der Verbreitung falscher Fakten und sprachlicher Vagheiten. Selbstverständlich trägt niemand der Genannten Verantwortung für verbliebene Fehler, sie verbleibt beim Verfasser. 1 Stenographische Protokolle des Österreichischen Nationalrates (STPROT) 113/J, VIII. GP, 15. Mai 1957. 2 Rupert Zechtl, geb. 1915, Lokomotivführer, NR Tirol 1945–60. Franz Katzengruber, geb. 1901, Kraftfahrer, NR Vorarlberg 1953–66. Johann Astl, geb. 1891, Elektriker, NR Tirol 1945–59. Dr. Max Neugebauer, geb. 1900, HS-Direktor, NR Niederösterreich 1945–66, https://www.parla ment.gv.at (abgerufen am 15. 1. 2018).

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Person des öffentlichen Lebens zum Professor an der Universität Innsbruck: »Die Öffentlichkeit erwartet mit vollem Recht Aufklärung von zuständiger Seite, ob diese Meldung zutreffend ist. Denn der ehemalige Bundesminister für Unterricht und aktive Politiker, Landesstatthalter, Bundesrat Dr. Ernst Kolb hat bisher keinen akademischen Lehrberuf ausgeübt.« Kolb genieße »allgemeines Ansehen wegen seiner sachlichen Kenntnisse«, doch sei »bisher auch in eingeweihten Kreisen von einer intensiven wissenschaftlichen Tätigkeit […], die allein die Voraussetzung für die Betrauung mit dem akademischen Lehramt bieten kann«, nichts bekannt. Der Minister möge bekanntgeben, ob er »tatsächlich am 14. Mai d.J.« in der Ministerratssitzung die Ernennung Kolbs vorgeschlagen habe. Die Fragesteller weisen noch darauf hin, dass »der plötzliche Entschluss, diese Ernennung in einem Ministerrat« auf die Tagesordnung zu setzen, »in Hochschulkreisen größtes Befremden hervorgerufen« habe, da, weil der neu gewählte Bundespräsident noch nicht angelobt sei, der ihn vertretende Bundeskanzler und Parteifreund Kolbs das Ernennungsdekret unterfertigen könne. Unterrichtsminister Drimmel beantwortet die Anfrage bereits am 23. Mai und teilt mit, dass er den »Antrag auf Ernennung Dr. Kolbs zum Universitätsprofessor aufrecht« erhalte.3 Gestützt auf den in den »autonomen Wirkungsbereich« der Universitäten fallenden Besetzungsvorschlag der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck habe Drimmel »tatsächlich in der am 14. Mai d.J. stattgefundenen Ministerratssitzung die Ernennung des Dr. jur. Ernst Kolb […] beantragt«. Unter den insgesamt sechs nominierten Kandidaten sei Kolb nach den Absagen zweier vor ihm gereihter Kandidaten, der nunmehr »am besten gereihte«. »Diese Reihung sowie die von der Fakultät ausführlich begründete fachliche Eignung sind für meine Antragstellung entscheidend.« Drimmel, Kolbs unmittelbarer Nachfolger im Amt des Unterrichtsministers, musste wenige Wochen später eine weitere parlamentarische Anfrage sozialistischer Abgeordneter beantworten, die darauf bestanden, die Namen der anderen Kandidaten und die Begründung des Professorenkollegiums zu erfahren.4 Daraufhin zitiert Drimmel ausführlich aus der Begründung des Innsbrucker Prodekans, der dem Ministerium schon im Juni 1956 den Besetzungsvorschlag übermittelt hatte.5 Demnach wurden an erster Stelle ex aequo Erwin Melichar und Erich Vögelin gereiht, an zweiter Stelle Kolb und an dritter ex aequo Oswald Gschliesser, Gustav Kafka und Werner Thieme. Melichar und Voegelin hätten

3 STPROT 98/A.B. zu 113/J, VIII. GP, 23. Mai 1957. 4 STPROT 138/J, VIII. GP, 18. Juni 1957. 5 STPROT 117/A.B. zu 113/J, VIII: GP, 27. Juni 1957.

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Rufe nach Graz bzw. München angenommen,6 weshalb Kolb zum Zuge kam, über dessen Qualifikation sich die Innsbrucker Juristen folgendermaßen äußerten: »Die Reden Dr. Kolbs als Unterrichtsminister und die sonstigen Begegnungen bei seinem Auftreten auf der Hochschule« hätten den Eindruck hinterlassen, dass er über »besondere pädagogische Fähigkeiten« verfüge, die »der Heranbildung eines gut geschulten Juristennachwuchses wesentliche Dienste leisten« werde. Hinsichtlich Kolbs »Wissenschaftlichkeit haben die älteren Mitglieder des Kollegiums, deren Schüler Dr. Kolb seinerseits war, auf seine vorbildliche durch bedeutende Intelligenz und hingebenden Fleiß erzielten Studienerfolge hingewiesen.« Zwar sei sich das Kollegium bewusst, dass »die Publikationen Dr. Kolbs erst im Anlaufen« seien, »doch bestehe kein Zweifel, dass ihm seine ungewöhnlich reife Erfahrung in der Praxis des öffentlichen Rechts […] Kenntnisse des Wesens und der Gestalten der staatlichen Funktionen vermittelt hat, wodurch er vor allen anderen Kandidaten einen Vorsprung besitzt.« Von Kolb seien »mit Sicherheit die schönsten Früchte publizistischer Arbeit« zu erwarten und es bedürfe »keiner ausführlichen Darstellung«, dass »das Kollegium Dr. Ernst Kolb auch wegen seiner liebenswürdigen charakterlichen Anlagen in seinem Kreise willkommen heißen würde.«7 Das Ernennungsdekret wurde erst fast zwei Jahre später ausgefertigt, aber am 31. Juli 1959 wurde Ernst Kolb im Alter von 47 Jahren ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Innsbruck.8 23 Jahre davor hatte er dort sein Studium der Rechte abgeschlossen und bis zu seinem Tod im Jahr 1978 blieben ihm 19 Jahre Zeit, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Drei Facetten des eben Geschilderten machen den Einzelfall für die österreichische Wissenschaftsgeschichte interessant. Erstens wirft der Vorgang ein Licht auf die Mikropolitik der Zweiten Republik, zweitens erhellt er die Kooptationspraktiken der Professorenschaft der 1950er Jahre und drittens erlaubt 6 Melichar war ab 1953 ao. Professor an der Universität Graz und wurde 1956 zum o. Professor befördert. Voegelin übernahm 1958 eine Professur an der Universität München. Die drei hinter Kolb Gereihten wiesen zumindest mehr Veröffentlichungen als Kolb auf: Gschliesser war in Innsbruck auch schon für andere Professuren genannt worden, kam aber Zeit seines Lebens nicht zum Zug. Gustav Eduard Kafka wurde 1955 in Graz habilitiert und erst 1961 ao. Professor an der Hochschule für Welthandel in Wien. Der jüngste Kandidat war der Deutsche Thieme; habilitiert 1955, lehrte er ab 1956/57 in Saarbrücken. 7 Das Schreiben ist vollständig abgedruckt in Susanne Lichtmanegger, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Innsbruck 1945–1955. Zur Geschichte der Rechtswissenschaft in Österreich im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999, S. 223f. Zu den Lehrern Kolbs zählten Reut-Nicolussi und Gschnitzer. 8 Peter Goller, »Für die Lehrkanzel des öffentlichen Rechts werden … einstimmig vorgeschlagen 1o loco … Dr. Georg Jellinek …« Zur Lehre des öffentlichen Rechts an der Universität Innsbruck (1792–1965), in: Franz Matscher/Peter Pernthaler/ Andreas Raffeiner (Hg.), Ein Leben für Recht und Gerechtigkeit. Festschrift für Hans R. Klecatsky zum 90. Geburtstag, Wien 2010, S. 247–274.

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dieser Fall Schlussfolgerungen über die Verflechtung von Wissenschaft und Politik. 1. Die parlamentarische Anfrage war offenkundig nicht der Initiative der fragestellenden Abgeordneten geschuldet, sondern dürfte im Umfeld des sozialistischen Vizekanzlers Bruno Pittermann ihren Ausgang genommen haben. Nach dem Sieg bei der Bundespräsidentenwahl war Adolf Schärf Anfang Mai 1957 als Vizekanzler zurückgetreten und Pittermann in dieses Amt aufgerückt. Als neuer Chef der kleineren Partei der Koalitionsregierung signalisierte Pittermann mit dieser Aktion seinem Regierungspartner, dass er ihm Ungemach bereiten könne. Mit ziemlicher Sicherheit waren die westösterreichischen Abgeordneten nur ausführende Organe des neuen Parteiobmanns und Vizekanzlers.9 Die Gleichzeitigkeit des Lancierens eines Zeitungsberichts, notabene in einem Blatt, das der eigenen Partei nicht nahestand,10 und einer parlamentarischen Anfrage deutet darauf hin, dass das dafür nötige Wissen aus dem eine Ministerratssitzung vorbereitenden Schriftwechsel stammte. Es sollte nicht der letzte Fall bleiben, in dem sich Pittermann in der Regierung gegen die Zustimmung zu einer Personalie wehrte und diese Gegenwehr publizistisch begleitete. Ebenfalls am 15. Juni 1957 erschien auf der Titelseite der Österreichischen Hochschulzeitung ein Kommentar ihres Herausgebers, der wortreich an die »Selbstverständlichkeit« erinnerte, dass »Sachkenntnis und pädagogisches Talent allein nicht genug« seien, um Professor werden zu können. Ergänzend weist dort »Die Redaktion« darauf hin, dass ein »Ernennungsantrag dem Ministerrat vorgelegt werden (muss), der jedoch den vorliegenden Antrag nicht genehmigt hat.«11 Die Hochschulzeitung wurde selten für Intrigen rund um Ernennungen genutzt, weshalb man annehmen darf, dass neben den Regierungsparteien auch noch andere Interessenten versuchten, Stimmung zu machen. Es spricht alles dafür, dass ein Wiener Professor hier einem ehemaligen Professorenkollegen zur Hilfe kommen wollte oder von Letzterem erfolgreich unter Druck gesetzt werden konnte. Da dem Unterrichtsministerium der Wunsch der Innsbrucker Universität 9 Allerdings zeichnete zumindest einer der Abgeordneten auch noch eine andere Anfrage, die eine mühsame Habilitation an der Universität Innsbruck zum Inhalt hatte. 10 In der Arbeiter Zeitung wurde am 5. Juni 1957 auf Seite 2 über die beabsichtigte Ernennung Kolbs kurz berichtet. 11 d. [Duda, Herbert W.], Forscher und Professor. Die Sache Dr. Ernst Kolb, in: Österreichische Hochschulzeitung 9 (15. Juni 1957) 12, S. 1. Der langjährige Herausgeber der ÖHZ, der Turkologe Herbert W. Duda, wurde 1943 an die Universität Wien berufen, übernahm dort 1945 die Leitung des Orientalischen Instituts von dem stärker exponierten Vorgänger, der als Prorektor und SS-Führer entlassen wurde. Duda behielt seine Professur bis zu seiner Emeritierung 1970, und man geht wohl nicht fehl mit der These, dass Duda dem national(sozialistisch)en »Lager« der österreichischen Akademiker zuzurechnen ist, was seinem Protest gegen Kolb auch einen anti-katholischen Beigeschmack gab.

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schon seit einem Jahr bekannt war, ist es mehr als eine Vermutung anzunehmen, dass Drimmel hoffte, in dem staatsrechtlichen Interregnum eines noch nicht im Amt befindlichen Staatsoberhaupts (Schärfs Vorgänger verstarb im Amt Anfang 1957, bei der Wahl im Mai 1957 setzte sich Schärf gegen den von Volkspartei ÖVP und Freiheitlicher Partei FPÖ gemeinsam aufgestellten Medizinprofessor Wolfgang Denk durch) eine problematische Personalie durchzumogeln. Durchforstet man das Archiv der parlamentarischen Anfragen, stößt man nur sehr gelegentlich auf Anfragen, die sich mit Wissenschaft beschäftigen; in den allermeisten der insgesamt wenigen Fälle geht es um Personalfragen, insbesondere um Berufungen von Professoren. Die Fragen stellenden Abgeordneten scheinen dabei fast immer über Insiderwissen zu verfügen. Solche Personalia sind nahezu die einzige Form, in der Fragen der Universität und der Wissenschaften im Allgemeinen im Nationalrat und der politischen Öffentlichkeit thematisiert wurden. Die Geheimnistuerei rund um die universitäre Personalauswahl ist eine der wenigen Konstanten in der österreichischen Öffentlichkeit; ganz im Gegensatz zur Ernennung von Theaterdirektoren und Trainern der Nationalmannschaften unterbinden die Universitäten erfolgreich den Blick auf Kandidatenlisten. Wenn dennoch einmal eine universitäre Personalie in der Öffentlichkeit behandelt wird, darf man getrost annehmen, dass eine der rivalisierenden Interessengruppen meint, durch das Hochziehen des Vorhangs ihrer Sache zu dienen. Auf überregionaler Ebene ist die wichtigste Interessengruppe, die in Personalfragen der Universitäten involviert war, im politischen Katholizismus beheimatet. In den zwei Jahrzehnten Großer Koalition 1945 bis 1966 war das Unterrichtsministerium stets in den Händen der ÖVP: Felix Hurdes (1945–52), Ernst Kolb (1952–54), Heinrich Drimmel (1954–64), Theodor Piffl-Percˇevic´ (1964–69) und Alois Mock (1969–70). Fünf der sechs Minister gehörten einer Cartellverbandsverbindung an: Hurdes Mittelschüler-Kartellverband, Kolb Austria Innsbruck, Drimmel Nordgau Wien, Mock Norica Wien. Wenig überraschend, spielten auch im vorliegenden Fall CV-Mitglieder eine Rolle: neben Kolb sein späterer Universitätskollege und vormaliger akademischer Lehrer, der um 13 Jahre ältere Franz Gschnitzer, der wie Kolb ab 1945 Abgeordneter des Nationalrats war, und andere.12 Es wäre allerdings irreführend anzunehmen, dass die Gruppe der Katholisch-Konservativen immer geeint agierte. Auf Seiten der Sozialistischen Partei SPÖ und der beiden Oppositionsparteien 12 Im Biographischen Lexikon des Österreichischen Cartellverbandes, https://www.oecv.at/ Biolex, findet man die Namen der folgenden mit der Berufung Kolbs befassten Innsbrucker Professoren: Walter Antoniolli, Godehard Ebers, Nikolaus Grass, Arnold Herdlitczka, Eduard Reut-Nicolussi. Erwähnenswert ist, dass sich nicht alle Bundesbrüder für ihn einsetzten, Herdlitczka unterstützte Pfeifer mittels eines votum separatum, das weil es zu spät eingereicht wurde, vom Prodekan zurückgewiesen wurde.

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FPÖ (ab 1949) und KPÖ (bis 1959) finden wir nur wenige, die sich für Universitäten und Wissenschaften interessierten oder damit vertraut waren. Unter den Sozialisten war es vor allem der Studienabbrecher Karl Mark, während die Doktoren unter den ›roten‹ Abgeordneten sich für andere Sparten der Politik mehr interessierten. In der KPÖ war es Ernst Fischer, – auch er jemand, der ein Universitätsstudium zugunsten der Politik aufgegeben hatte. Die FPÖ zeichnete sich dadurch aus, dass in ihr Akademiker stark überrepräsentiert waren und mit Helfried Pfeifer jemand zehn Jahre im Parlament saß, dem nach 1945 seine Wiener Professur für Staats- und Verwaltungsrecht aberkannt worden war und der sich mehrfach um eine Professur in Innsbruck bemühte und dabei immer knapp scheiterte.13 In den Universitäten tummelten sich deutlich mehr ehemalige Anhänger der NSDAP und Mitglieder von Gesinnungsgemeinschaften des Typus deutschnationale Burschenschaften als Sozialisten oder Kommunisten. Gemäß der postnazistischen politischen Logik der Aufteilung des Staates und der österreichischen Gesellschaft in ›Reichshälften‹ fiel die Universität in die ›schwarze‹ Hälfte. Ihre Verwalter mussten gelegentlich Nadelstiche der anderen Regierungspartei oder von Oppositionsabgeordneten erdulden, aber im Großen und Ganzen konnten sie in den Universitäten tun und lassen, was sie wollten. Die Öffentlichkeit interessierte sich nicht dafür und die Bewohner des Elfenbeinturms verhinderten das Lüften des Schleiers des Nichtwissens. In Erinnerung zu rufen ist, dass die geschilderte Episode noch in die Zeit vor dem Auftreten der These vom engen Zusammenhang von Bildung-(sinvestionen) und Wirtschaftswachstum fällt. 2. Daher müssen wir im nächsten Schritt versuchen, einen Blick in die Universität zu werfen, um herauszufinden, wie man denn in Österreich in den 1950er Jahren Professor wurde und wie die »katholische Restauration«14 zustande kam. Für Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts ist es wohl einigermaßen befremdlich zu hören, dass bis 1975 die öffentliche Ausschreibung von zu besetzenden Stellen unbekannt war.15 Die Wiederbesetzung einer Professorenstelle musste beim Ministerium beantragt werden; erfolgte die Freigabe der Stelle, war die Fakultät aufgefordert, dem Ministerium einen Dreiervorschlag zu unterbreiten, aus dem dieses dann frei war, jemanden den Ruf zu erteilen, die Liste 13 Als die Ernennung Kolbs diskutiert wurde, saßen Pfeifer und Gschnitzer im Nationalrat, Drimmel auf der Regierungsbank und Kolb im Bundesrat, https://www.parlament.gv.at (abgerufen am 15. 1. 2018). 14 Ernst Topitsch, Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts, in Aufklärung und Kritik 1 (1994) 1, S. 1–13, http://www.gkpn.de/auk1_94.pdf (abgerufen am 15. 1. 2018). 15 Nicht nur in Österreich, aber hier auch noch garniert mit einer Ministerbegründung, die kabarettreif war, vgl. Thomas König, Die Entstehung eines Gesetzes. Österreichische Hochschulpolitik in den 1950er-Jahren, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23 (2012) 2, S. 57–81, S. 65.

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zurückzuweisen oder liegen zu lassen, also mit keinem Listenplatzierten Verhandlungen aufzunehmen. Der Dreiervorschlag kam auf drei verschiedenen Zwei-Schritt-Wegen zustande. Lebte der Vorgänger (insbesondere z. B. als Emeritus) und genoss er ausreichende Akzeptanz innerhalb der Fakultät, konnte es vorkommen, dass er als alleiniger »Berichterstatter« einen Vorschlag unterbreiten konnte. Im Regelfall und bei größeren Fakultäten wurden meist zwei, drei Referenten, also eine Mini-Kommission, beauftragt, den Vorschlag auszuarbeiten, und seltener offerierte das Ministerium einer Universität jemanden als künftigen Professor. Bei den beiden erstgenannten Varianten wurde der Vorschlag im Fakultätskollegium behandelt und abgestimmt, dem damals immer alle Ordinarien, aber nur so viele der Extraordinarien angehörten, dass Erstere nicht überstimmt werden konnten; ergänzt wurde das Kollegium durch einen Vertreter der Privatdozenten. Was sich beim Studium der Akten üblicherweise nicht feststellen lässt, ist das Ausmaß, in welchem dieses schlanke Verfahren informell unterlaufen wurde oder zu einer bloßen Travestie verkam. Zwischen den drei Ebenen Referent(en) – Fakultät – Ministerium bzw. intermediären Instanzen wie Rektorat und Ministerialbeamte gab es immer Gespräche, und natürlich darf der Einfluss von extrafunktionalen Akteuren nicht unterschätzt werden, die man im Neusprech akademische Stakeholder nennen kann. Die engen Bande zwischen den Bundesbrüdern des Cartellverbandes, aber auch Wünsche von Kommunal- und Regionalpolitikern und von professoralen Besitzern eines Parteibuchs mobilisierte Funktionäre führten zu dem, was im österreichischen Deutsch Intervention genannt wird. Man kann also getrost davon ausgehen, dass ein Dreiervorschlag niemals unbegleitet an die nächsthöhere Stelle reiste. Neben den von außen Einfluss ausübenden Stakeholdern spielt die Virtuosität jener eine Rolle, die mit der Erstellung der Liste unmittelbar befasst waren. Auf die Liste kam jemand, weil er den Referenten als möglicher Kandidat bekannt war ; bis zu welchem Grade die Referenten sich bei den potentiell Gelisteten über deren Bereitschaft kundig machten, einem allfälligen Ruf auch Folge zu leisten, bleibt im Nebel des Unprotokollierten. Mit ziemlicher Sicherheit kam es immer wieder dazu, dass Scheinkandidaten dem wirklich Gewünschten vorgesetzt wurden, um diesen umso effektiver dann als Kollegen begrüßen zu können, wobei nicht auszuschließen ist, dass die selektive Kundgabe der Zweit- oder gar Drittrangigkeit allfällig überschießende Ruhmsucht auf Seiten des Neuen abschwächen sollte. Im vorliegenden Fall der Berufung eines Berufspolitikers zum Professor für öffentliches Recht scheint es aber zu diesem Ergebnis gekommen zu sein, weil ein Konkurrent blockiert werden sollte. Der schon genannte Helfried Pfeifer bemühte sich energisch und persönlich darum, die Innsbrucker Fakultät dazu zu bringen, ihn auf eine Liste zu setzen. Minister Drimmel bat den Nationalrat

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Gschnitzer, seinen Einfluss geltend zu machen, um Pfeifer auf eine Liste zu bekommen, und die Kommission reihte ihn dann an erste Stelle.16 Das Fakultätskollegium votierte allerdings mit klarer Mehrheit gegen Pfeifer. Angesichts des Fehlens von Kandidaten, die einen Ruf nach Innsbruck annehmen würden, scheint die Mehrheit der Professoren eine kurze Erregung über eine fachlich problematische Wahl der langfristigen Vakanz (oder gar der Wiederkehr des Kandidaten Pfeifer) vorgezogen zu haben. Jedenfalls dürfte die Initiative zur Platzierung eines Berufspolitikers auf dem Dreiervorschlag von der Fakultät ausgegangen sein: »Während Professor Pfeifer die Lehrkanzel in Innsbruck angestrebt und gegen alles Herkommen sich sogar in Innsbruck selber als Bewerber vorgestellt hat, ist zu mir der Dekan der Fakultät eigens nach Vorarlberg herausgekommen, um meine Zustimmung einzuholen, dass auch mein Name im Vorschlag genannt werde.«17 Das gewollt intransparente Verfahren der Personalauswahl erlaubte es jahrzehntelang denen, die an Österreichs Universitäten Macht besaßen, ihre Proteg8s zu Professoren zu machen. Die hochgradige politische und mentale Homophilie18 der wenige Individuen umfassenden Population österreichischer Ordinarien (328 im Jahr 1958) verstärkte die Ähnlichkeit der Populationsmitglieder in einem Maße, das man bei anderen Populationen als Inzucht bezeichnen würde (1958 gab es erst eine Ordinaria). 3. Schließlich führt uns die Betrachtung des Falles Dr. Kolb, der ausnahmsweise Ende der 1950er Jahre auch außerhalb der engen Mauern der alpenländischen akademischen Welt ein wenig Beachtung fand, dazu, ein paar allgemeine Folgerungen für wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftssoziologische Forschung zu formulieren. Die pauschale Rede von Wissenschaft und Politik als (Sub-)Systeme oder als Felder, oder wie immer die Wortwahl ausfallen mag, führt in die Irre, weil sie die Spezifik des Ineinandergreifens von politischen und wissenschaftlichen Interessen, Zielen und Praktiken nicht zu erfassen vermag. Eine verdinglichende Rede / la »Wissenschaft und Politik« vernebelt den Umstand, dass eine nominalistische Trennung von zusammengehörenden Handlungfacetten in die Irre führen muss, da beispielsweise Universitätsprofessoren meist auch politische Agenden verfolgen und seien es nur solche der Stammesoder Standespolitik. Zweitens kann man sagen, dass der universitären Perso16 Susanne Lichtmannegger, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Innsbruck 1945–1955. Zur Geschichte der Rechtswissenschaft in Österreich im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999, S. 106f. 17 So laut Lichtmannegger, S. 108. Kolb im Entwurf eines mit 23. 5. 1957 datierten Briefes an die Arbeiter Zeitung. 18 Vgl. Paul F. Lazarsfeld/Robert K. Merton, Friendship as social process: A substantive and methodological analysis (1954), in: Patricia L. Kendall (Hg.), The Varied Sociology of Paul F. Lazarsfeld, New York 1982, S. 298–348.

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nalauswahl regelmäßig zu wenig Beachtung geschenkt wird, obwohl man mit gutem Grund annehmen kann, dass dort die Weichen gestellt werden – für das, was danach an Wissenschaft inhaltlich produziert wird, und für das, was an Wissenschaft gelehrt bzw. in der Öffentlichkeit verbreitet wird. Nehmen wir nochmals den Fall Dr. Kolb. Dieser Mann fungierte 1961/62 als Dekan der Juridischen Fakultät und im Studienjahr 1967/68 als Rektor seiner Universität. Seine Antrittsvorlesung widmete er dem Thema »Die Bundesgebäudeverwaltung«, anlässlich seines 60. Geburtstags erschien eine Festschrift, und erst nach seinem Tod gaben Bundesbrüder einen Band mit seinem schriftlichen Oeuvre mit dem passenden Titel Glaube, Wissenschaft, Politik als Aufgabe und Verpflichtung heraus.19 In den 19 Jahren als Professor fiel Kolb literarisch nicht weiter auf. Es scheint, dass er der Wissenschaft weder genutzt noch geschadet hat, was angesichts der zahllosen Schädigungen der Gestalt und des Ansehens der »Wissenschaft« durch allzu sehr politisierende Bewohner ja fast schon wie eine positive Leistungsbilanz klingt. Fälle wie der hier geschilderte legen jedenfalls nahe anzunehmen, dass die leicht über die Lippen kommende Rede von der Wissenschaft und der Politik eher in die Irre denn zur Aufklärung führen, weil beispielsweise das Personal des wissenschaftlichen Subsystems oder Feldes seine Interessen hinter behüschenden Phrase der »desinterestedness«, Einsamkeit und Freiheit und dergleichen mehr umso erfolgreicher durchzusetzen vermag.

19 Vgl. Ernst Kolb, Die Bundesgebäudeverwaltung. Antrittsrede gehalten anläßlich der Inauguration als Rector Magnificus des Studienjahres 1967/68 im Kaiser-Leopold-Saal der Alten Universität zu Innsbruck am 18. November 1967; ders./Herma von Bonin (Hg.), Festschrift für Ernst Kolb zum Sechzigsten Geburtstag, Innsbruck 1971; ders./Herbert Schambeck (Hg.), Glaube, Wissenschaft, Politik als Aufgabe und Verpflichtung. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Bregenz 1980.

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Gerhard Baader war bis 1993 Professor am Institut für Geschichte der Medizin der Freien Universität Berlin. Heute ist er Gastwissenschaftler am Institut. Peter Becker ist Professor für österreichische Geschichte an der Universität Wien, forscht zu Staat und Verwaltung der Habsburgermonarchie und ihrer Nachfolgestaaten. Margit Berner, Dr.in, ist Leiterin der Abguss-Sammlung, Anthropologische Abteilung, Naturhistorisches Museum Wien. Cornelius Borck ist Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und Naturwissenschaften, Universität zu Lübeck. Tatjana Buklijas ist Senior Research Fellow am Liggins Institute der University of Auckland in Neuseeland. Gary B. Cohen ist em. Professor für Neuere Geschichte Mitteleuropas an der Universität von Minnesota, Twin Cities. Lorraine Daston ist Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Paulus Ebner, Dr. phil., ist Leiter des Archivs der Technischen Universität Wien. Johannes Feichtinger, Mag. Dr. phil., PD, ist Senior Research Associate an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Christian Fleck lehrt Soziologie an der Universität Graz und ist Chief Research Fellow am Poletayev Institute for Theoretical and Historical Studies der Higher School of Economics, in Moskau.

402

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Tibor Frank ist o. Univ.-Prof. für neuere Geschichte, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Leiter des PhD-Programms für Amerikanistik, Eötvös-Lor#ndUniversität, Budapest, Ungarn. Robert Frühstückl, BA MA, ist Fellow am DK The Sciences in Historical, Philosophical and Cultural Contexts. Andre Gingrich ist Direktor des Instituts für Sozialanthropologie (ISA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Mitglied der ÖAW und der Kgl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Verena Halsmayer, Dr.in phil., ist Oberassistentin für Wissenschaftsforschung an der Universität Luzern. Oliver Hochadel, Dr., ist Cient&fico t&tular, Institucij Mil/ i Fontanals, CSIC, Barcelona. Dieter Hoffmann ist seit 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-PlanckInstituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, seit 2014 im Ruhestand. Birgit Johler, Dr.in phil., ist seit 2017 Kuratorin im Haus der Geschichte Österreich. Marianne Klemun ist außerordentliche Professorin am Institut für Geschichte an der Universität Wien. Thomas König, Mag. Dr. phil., arbeitet am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien zur Soziologie von Innovation und Forschung. Hubert Laitko, Prof. Dr. sc. phil., ist an der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, Kommission für Akademie- und Wissenschaftsgeschichte, tätig. Anna Lindemann, Dr.in phil., ist Lehrbeauftragte der Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Monika Löscher, Mag. Dr.in phil., ist Provenienzforscherin im Kunsthistorischen Museum Wien. Herbert Matis ist em. Prof. an der Wirtschaftsuniversität Wien.

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Johannes Mattes, Mag. Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Lektor am Institut für Geschichte der Universität Wien. Renate Mayntz, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., ist em. Gründungsdirektorin des MaxPlanck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln. Juliane Mikoletzky, Mag. Dr. phil., ist am Universitätsarchiv der TU Wien tätig. Annette Mülberger ist Professorin für Geschichte der Psychologie an der Universitat Autknoma de Barcelona (CEHIC) und Direktorin des Forschungszentrums für Wissenschaftsgeschichte. Birgit Nemec, Dr.in phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg. Meta Niederkorn-Bruck ist außerordentliche Professorin am Institut für Geschichte an der Universität Wien. Christine Ottner, Mag.rer.nat. Dr.phil., MAS, ist Hochschullehrende an der Pädagogischen Hochschule Wien und Lektorin an der Universität Wien. Brooke Penaloza Patzak ist ÖAW-DOC Stipendiatin an der Universität Wien, Institut für Geschichte. Hans-Jörg Rheinberger, Direktor emeritus, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. Annelore Rieke-Müller, Dr. rer.nat. phil.habil. ist Historikerin, Oldenburg/ Oldbg. Dirk Rupnow ist Univ.-Prof. für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck. Von 2010 bis 2018 leitete er das Institut für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck, seit 2018 ist er Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät. Carola Sachse ist Univ.-Prof. (i.R.) für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Friedrich Stadler war bis 2016 Univ.-Prof. für History and Philosophy of Science. Vorstand des Instituts Wiener Kreis an der Universität Wien, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft. Präsident der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft.

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Ulrike Spring ist Associate Professor für Neuere Europäische Geschichte am Department of Archaeology, Conservation and History an der Universität Oslo. Thomas Stockinger, Dr. phil., ist Universitätsassistent am Institut für Österreichische Geschichtsforschung der Universität Wien. Katalin Str#ner, PhD, ist Junior Professorin (Lecturer) für Neuere Europäische Geschichte an der University of Southampton. Sonˇa Sˇtrb#nˇov#, PhD, ist Associate Professor at the Centre for the History of Science, Institute for Contemporary History, Czech Academy of Sciences. Jan Surman, Mag. Dr. phil., ist Research Fellow am Poletayev Institute for Theoretical and Historical Studies der Higher School of Economics, in Moskau. Petra Svatek, Mag. Dr. phil., ist Wissenschaftshistorikerin mit Schwerpunkt Geschichte der Geographie und Kartographie im 19. und 20. Jahrhundert, Lektorin an der Universität Wien und Projektleiterin beim Zukunftsfonds der Republik Österreich. Klaus Taschwer, Dr. phil., ist Wissenschaftsjournalist bei der Zeitung Der Standard. Bettina Wahrig ist Professorin für Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte an der Technischen Universität Braunschweig. Thomas Wallnig, Mag. Dr. phil., MAS, PD, ist Projektleiter und Lektor an der Universität Wien.

Personenregister

Abbott, Andrew 30 Abel, Othenio 122f. Adamovich sen., Ludwig 386 Adler, Friedrich 49 Adler, Max 89 Adler, Viktor 85, 89, 91, 93 Adorno, Theodor W. 330, 339 Aggsbach, Vinzenz von 175 Althoff, Friedrich 160, 192 Anders, Günther 329 Antoniolli, Walter 395 Ash, Mitchell G. 13–15, 19f., 23, 25, 68f., 73, 75, 108, 120, 127, 184, 189, 191, 213, 219, 221, 230, 253f., 263, 265–267, 274, 286, 296, 309, 316, 346 Aufhauser, Johann 187 Auwers, Arthur von 157 Bacon, Francis 25, 27 Banks, Joseph 147 B#r#ny, Robert 48 Barbado, Manual 75f. Barn8s, Domingo 74 Bartolo von Sassoferrato 192 Basilius Magnus 175 Baudelaire, Charles 336f., 340 Bauer, Fritz 330 Bauer, Otto 89 Baumann, Hermann 258 Baumgartner, Andreas von 149, 152 Bayer, Josef 140f. Becker, Karl 270f., 274, 279f. Beger, Bruno 263 Bene, Ferenc 223

Bercka, Amplonius Ratinck von 175 Bergson, Henri 131 Berkeley, George 26, 51 Bernatzik, Edmund 212 Bernhardt, Sarah 242 Bernstein, Henry 242 Bessel, Gottfried 197 Bethge, Heinz 168 Beveridge, William 58 Biedermann, Wolfgang 281 Bieler, Sepp-Gottfried 327 Boas, Franz 127, 129–132, 134 Bodenstein, Max 275 Boltzmann, Ludwig 45 Bonhoeffer, Karl Friedrich 81 Bonitz, Hermann 47 Bosch, Carl 280 Bothe, Walther 265 Boyle, Robert 26 Braccolini, Poggio 173 Brandt, Ulrich 254 Braunschweig-Lüneburg, Amalie Wilhelmine von (Kaiserin) 194 Brentano, Franz 44 Bresch, Carsten 81f. Bresslau, Harry 242 Breuer, Josef 48 Brockhausen, Karl 16, 211–219 Brod, Max 242 Bruck, Karl von 149f. Brücke, Ernst 48 Bug#t, P#l 223 Bühler, Karl 41 Burger, Heinz Otto 288

406

Personenregister

Burt, Ronald S. 274 Butenandt, Adolf 78f. Carbonell, Eudald 31f., 34 Cartmill, Matt 34 Chain, Ernst Boris 59, 249 Chamberlain, Jack G. 34 Chelidonius, Benedictus 175 Christian, Viktor 253–261, 263 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 345f., 348f., 351f. Chrysopolitanus, Zacharias 185 Clark, Geoffrey 34f. Colbert, Jean-Baptiste 192 Coleridge, Samuel Taylor 25f. Collins, Randall 136f. Collins, Wilkie 27 Conrad von Eybesfeld, Siegmund Freiherr 321 Cook, James 147 Cramer, Friedrich 79f. Crick, Francis 79f. Czermak, Wilhelm 258 Damiani, Petrus 185, 187 Dart, Raymond 33 Darwin, Charles Robert 18, 147, 223, 376, 379, 381 Darwin, Erasmus 147 De Quincey, Thomas 25f. de Sacy, Sylvestre 339 Decker, Malte 274, 280f. Deichmann, Ute 281 Delbrück, Max 78, 81f. Denk, Wolfgang 395 Dewey, John 50 Diener, Karl 139 Disraeli, Benjamin 242 Doering-Manteuffel, Anselm 369 Donnan, Frederick George 246 Drimmel, Heinrich 18, 383–389, 391f., 395, 397 Duda, Herbert W. 394 Duhem, Pierre 44 Eastlake, Charles

26

Eaton, Cyrus S. 345–353 Ebers, Godehard 395 Eccles, John C. 14, 37, 39–42 Einstein, Albert 48, 53, 346 Eisenhower, Dwight D. 348f. Elisabeth Christine von BraunschweigWolfenbüttel (Kaiserin) 194 Enzensberger, Hans Magnus 334 Eötvös, Lor#nd 224f. Ettingshausen, Andreas 47, 149 Exner, Franz Serafin 47 Fabricius, Johann Albert 186 Fahnestock, Jeanne 33 Fechner, Gustav Theodor 48, 51 Fenzl, Eduard 150 Ferdinand Maximilian, Erzherzog 148f. Feyerabend, Paul 44 Fillenz, Marianne 14, 41f. Fischer, Ernst 396 Fischer, Hans 275 Fisette, Denis 137f. Fitzinger, Leopold 150 Fitzroy, Robert 147 Flechtheim, Ossip K. 329 Fleck, Ludwik 135–137 Forster, Johann Georg Adam 147 Forster, Johann Reinhold 147 Fraenkel-Conrat, Heinz 81 Frankfurter, Bernhard 329 Franz Joseph, Kaiser 152 Frauenfeld, Georg 150, 152 Freckmann, Anja 176 Freising, Otto von 192 Friedrich, Caspar David 199–207 Friedrich-Freksa, Hans 79f. Frisch, Ragnar 357 Furtwängler, Philipp 106 Gabriel, Leo 386 Galton, Francis 96 Gambke, Gotthard 81 Garma, ]ngel 74 Gautier, Th8ophile 337, 340 Gautsch von Frankenthurn, Paul Freiherr 323

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Personenregister

Gay, Peter 242 Germain, Jos8 74, 76 Giannone, Pietro 196 Gibert, Josep 32–34 Gierer, Alfred 79, 81 Gierl, Martin 162, 182 Giner de los R&os, Francisco 74 Gmunden, Johannes von 179 Godlewska, Anne 339 Goethe, Johann Wolfgang von 26f., 202f. Goldscheid, Rudolf 139–141, 378 Goldschmidt, Victor 269 Gomperz, Heinrich 44, 50f. Gomperz, Theodor 44, 51 Gorbach, Alfons 387 Göring, Hermann 278–280 Gottschaldt, Kurt 265–267 Gottsched, Johann Christoph 197 Götzl, Alfred 92 Grafton, Anthony 183 Grailich, Wilhelm Josef 47 Grass, Nikolaus 395 Greenblatt, Stephen 173 Grünberg, Carl 89 Gschliesser, Oswald 392 Gschnitzer, Franz 395, 398 Gurlit, Adolf 150 Gusinde, Martin 260 Haber, Fritz 271, 276, 282 Haberlandt, Arthur 231–235 Haberlandt, Michael 232 Hagen, Johannes 180f. Hahn, Hans 140 Hahn, Otto 275 Haldane, John Burdon Sanderson 61 Hamburger, Victor 78 Hansch, Gottlieb Michael 197 Harper, Robert Almer 131 Harris, Leslie Julius 60, 62 Hartel, Wilhelm von 157, 160 Hartmann, Ferdinand 201, 205 Hartmann, Ludo Moritz 140f. Hartwig, Walter C. 34 Haubrichs, Wolfgang 187 Hawking, Stephen 30

Hayek, Friedrich August von 41, 245 Heger, Franz 295 Heine, Heinrich 242 Helmholtz, Hermann 48f. Herdlitczka, Arnold 395 Herman, Ottj 224 Herz, Max 88 Herzog, Reginald Oliver 78 Heuser, Frederick 134 Heyrovsky´, Jaroslav 61f. Hilferding, Rudolf 89 Hill, Archibald Vivian 37–40, 42 Himmler, Heinrich 254f., 260–263 Hinderbach, Johannes 175 Hirschberg, Walter 17, 253f., 256–263 Hirt, August 287 Hitler, Adolf 38, 42, 58, 247, 254, 261, 278f., 282 Hochstetter, Ferdinand von 150, 152, 154, 295, 302–308 Höfler, Alois 138 Hofmann, Karl Andreas 275 Hopkins, Frederick Gowland 59, 62 Horovitz, Karl 140 Huber, Anton 105–108 Hügel, Baron Anatol von 295 Hume, David 51, 53 Hurdes, Felix 386, 395 Hyrtl, Josef 150 Inama-Sternegg, Karl Theodor von Innitzer, Kardinal Theodor 99 Jacquin, Nikolaus Joseph von 148 James, William 44, 50 Jander, Gerhart 270–272, 274f. Jedlik, ]nyos 224 Jellinek, Anton Franz 150 Jerusalem, Wilhelm 44 Joachim, Joseph 242 Johansen, Leif 356f. Jungk, Robert 329 Jungwirth, Heinrich 233f. Juraschek, Franz 90f. Kafka, Gustav

392

90f.

408 Kammerer, Paul 139, 374, 377, 379 Kant, Immanuel 24–27, 44, 46f., 50, 138 Karl VI. (Kaiser) 191, 193–197 K#rm#n, Theodore von 241 Katharina II., Zarin 350 Katz, Bernhard 40, 42 Kaunitz-Rietberg, Johann Wenzel Graf von 198 Kaup, Ignaz 92 Keck, Johannes 175, 179 Kehlmann, Michael 329 Kirchhoff, Gustav R. 49 Kleinzeller, Arnosˇt 60f., 63–65, 67, 69f. Klencke, Charlotte Elisabeth von 194 Kloiber, Aemilian 256, 258–260 Knight, Art 82 Knobloch, Johann 254, 257, 260 Knoop, Franz 38 Koch, Robert 87f. Kod&cˇek, Egon Hynek 60–70 Kod&cˇkov# (Hradeck#), Jindrˇisˇka 61 Kolb, Ernst 18, 386, 392–396, 398f. Kolfschoten, Thijs van 31f. Koll#r, Vincenz 150 Kosygin, Alexei Nikolajewitsch 353 Kraus, Karl 212 Krebs, Hans Adolf 59–61, 63, 67 Kreisky, Bruno 330 Krüger, Gesine 346 Kues (Cusaner), Nikolaus von 175 Kuffler, Stephen 40 Kühn, Alfred 78 Kuhn, Richard 280 Kuhn, Thomas S. 29–35, 136 Kummerlöwe, Hans 259f. Kun, B8la 244 Kyrle, Georg 122–125 Lakatos, Imre 32 Lambeck, Peter 194 Lambertz, Maximilian 140 Lapworth, Arthur 246f. Latour, Bruno 359 Lehmann, Paul 174 Lehmann, Wenzel 150 Leibniz, Gottfried Wilhelm 191, 194f.

Personenregister

Lenin, Wladimir Iljitsch 45, 50 L8vy-Bruhl, Lucien 46 Lewin, Kurt 23–25, 27 Liebig, Justus von 267 Lipmann, Fritz 78 Littrow, Karl 150 Locke, John 26f. Loew, Anton 88 Luckert, Hans-Joachim 103–105, 108 Ludwig, Carl 48 Lynen, Feodor 80 Lyssenko, Trofim Denissowitsch 352, 376 Mabillon, Jean 180f. Mach, Ernst 14, 43–53, 137f. Mach, Ludwig 50, 52 Machiavelli, Niccolk 192 Madeyski von Poraj, Stanislaus 51 Mang, Herbert 146 Mantegazza, Paolo 334f., 338, 340f. Marc Aurel 192 Marcuse, Herbert 329 Maria Leopoldine von Österreich, Erzherzogin 148 Mark, Hermann Franz 78 Mark, Karl 396 Marx, Heinrich 242 Marx, Karl 90, 242f. Matskewitsch, Wladimir 348 Mayrhofer, Karl 106 McCagg, William O., Jr. 243f. McCarran, Patrick 249f. McCarthy, Joseph Raymond 249f. Melchers, Georg 79, 82 Melichar, Erwin 392f. Mendelssohn Bartholdy, Felix 242 Menghin, Oswald 258 Mentzel, Rudolf 270–274, 277–280 Metastasio, Pietro 197 Metternich, Klemens Wenzel Lothar 148 Migne, Jacques-Paul 186–189 Miklosich, Franz 150 Mikoyan, Anastas Iwanowitsch 350 Mira y Ljpez, Emilio 74 Mitschurin, Iwan Wladimirowitsch 352 Moberly, Walter H. 246f.

409

Personenregister

Mock, Alois 395 Mommsen, Theodor 156f., 160 Montfaucon, Dom Bernard de 181 Morardet, Pietro 335f. Mor#vek, Vladim&r 61 Moravia, Alberto 249 Müller, Adam (von) 204–206 Mundry, Karl-Wolfgang 81 Nachtsheim, Hans 82 Napoleon 201f., 338 Natterer, Johann 148 Needham, Dorothy 61 Needham, John 61 Neurath, Otto 139 Newen von Newenstein, Johann Karl 197 Niccol&, Niccolk 173 Niemöller, Martin 330 Nierhaus, Knut 83 Noorden, Carl von 92 Nordau, Max 242 Nothnagel, Hermann 89 Ockham, Wilhelm von 27 Oken, Lorenz 223 Olby, Robert 78 Ormandy, Eugene 241 Osˇancov# (Sgalitzerov#), Katerˇina (Katja, K#tˇa) 60f., 63–67, 69f. O’Shaughnessy, William 339f. Owen, Robert C. 33f. Pauling, Linus 349 Paullini, Christian Franz 194 Payer, Julius 153, 311f., 314f. Peirce, Charles Sanders 50 Peller, Sigismund 89, 92, 140 Peln#rˇ, Josef 62 Pernerstorfer, Engelbert 89 Pernkopf, Eduard 301f., 304, 306–308 Petzval, Joseph Maximilian 47 Peuerbach, Georg 179f. Pez, Bernhard 184–188 Pfeifer, Helfried 395–398 Pfizmaier, August 150 Philippovich, Eugen 90

Piaget, Jean 46 Piffl-Percˇevic´, Theodor 395 Pittermann, Bruno 330, 394 Pius XI. 97 Planck, Max 45, 50, 271f., 276 Polanyi, Karl 248 Polanyi, Michael 17, 78, 239–251 Polli, Giovanni 335–338 Polo, Marco 339 Popper, Karl 14, 37, 39–42, 44, 50, 377 Popper-Lynkeus, Josef 48 Potthast, August 186–188 Preuss, Hugo 211 Qualtinger, Helmut 329 Raab, Julius 386 Radon, Johann 106 Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von 199f., 203f., 206 Ramon y Cajal, Santiago 71 Ranke, Leopold von 242 Raphael, Lutz 369 Rascher, Sigmund 287 Reche, Otto 259 Redlich, Joseph 212f., 215f. Regiomontanus, Johannes 179 Regler, Gustav 250 Reichel, Hans 92 Reininger, Robert 138f. Renner, Karl 89 Resch, Joseph 186 Roberts, Mark 31 Rodrigo, Mercedes 74 Roebroeks, Wil 31f. Rouyer, Pierre Charles 339 Rühle von Lilienstern, Otto August 200f., 203, 206 Ruinart, Dom Thierry 181 Rusch, Hermann 348 Ruskin, John 26 Russell, Bertrand 41 Rust, Bernhard 270–272, 274f., 277, 279f. Samarin, Alexander Wladimirowitsch 349

410 Samorini, Giorgio 337 Sandner, Günther 137 Savoyen-Carignan, Eugen von 196f. Schäfer, Karl 256, 263 Schärf, Adolf 394f. Schattenfroh, Arthur 92 Schaub, Franz 149 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 27, 203 Scherzer, Karl 150, 152 Scheyb, Franz Christoph (von) 197 Schlesinger, Hermann 88 Schlick, Moritz 44, 135f., 139f. Schlitpacher, Johannes 175, 179 Schmidt-Ott, Friedrich 130, 134 Schneider, Hans Ernst/Hans Werner Schwerte 17, 285–291 Schnitzler, Arthur 242 Schönborn, Friderich Karl Graf 196 Schramm, Gerhard 78, 81f. Schreibers, Karl Franz Anton von 148 Schrötter von Kristelli, Anton 150 Schubert, Gotthilf Heinrich (von) 203, 205f. Schumann, Erich 271–274, 277, 280 Schuster, Heinz 82 Schwarz, Eduard 150 Schwerte, Hans Werner/Hans Ernst Schneider 17, 285–291 Sell8ny, Josef 150 Semjonow, Nikolai N. 244 Sequenz, Heinrich 115, 328 Serow, Wladimir 153 Sesser, Julius 89 Sherrington, Charles S. 40 Sievers, Wolfram 254, 258, 261–263 Sieverts, Adolf 267 Simarro, Luis 73, 75f. Simpson, Esther 64 Sinsheimer, Robert 82 Sinzendorff, Philipp Ludwig Graf 195, 197 Skobeltsyn, Dmitri Wladimirowitsch 349 Skrbensky, Otto 385f. Smith, Adam 90 Sobotka, Kurt 329

Personenregister

Sochor, Hilde 329 Solero Mantegazza, Laura 335 Solti, Sir Georg 241 Sonnenfels, Joseph von 192 Spann, Othmar 139 Spengler, Wilhelm 289 Sperl, Gerfried 329 Speyer, James 129, 134 Spieß, Karl 232, 234 Spir8, Andr8 242 Spitzer, Leo 139 Stahl, Friedrich Julius 243 Stalin, Josef Wassarionowitsch 244, 345, 350 Stanley, Wendell 79 Stark, Johannes 38, 277f. Steenbeck, Max 268, 277 Stender-Petersen, Adolf 250 Stent, Gunther 82 Stephenson, Marjory 59f., 62f., 67 Stern, Curt 78 Sternberg, Maximilian 87f. Stieve, Hermann 378 Stoliczka, Ferdinand 295 Straub, Joseph 80–82 Strotzka, Hans 330 Suess, Eduard 160–162 Surman, Jan 221 Susskind, Leonard 30 Szilard, Leo 241, 349 Szombathy, Josef 295 Taaffe, Eduard Graf 321f. Tammann, Gustav 268 Tandler, Julius 93, 302, 304–308, 378–381 Teleky, Hermann 88f. Teleky, Ludwig 85–93 Tezner, Friedrich 212 Than, K#roly 224 Thieme, Werner 392f. Todt, Fritz 280 Toldt, Carl 302–308 Topchiev, Alexander Wassiljewitsch 349 Tratz, Eduard Paul 255 Trautner, Thomas 79, 82f. Tuppa, Karl 259

411

Personenregister

Twardowski, Fritz von

38

Ujv#ri, P8ter 242 Unger, Franz 150 Unger, Leopold 330 Vahlen, Theodor 272 Van Swieten, Gerard 148 Verga, Andrea 335–338 Vigank, Francesco 335f. Vingron, Martin 77 Vögelin/Voegelin, Erich 392f. Vögler, Albert 280 Vogt, Karl 225f. Waelsch, Emil 62 Waelsch, Jan Herbert 60, 62–64 Wartenberg, Hans von 269 Wastl, Josef 259 Watson, James 79 Weaver, Warren 77 Weidel, Wolfhard 79 Weismann, August 376 Weissberg, Alex 248 Wenckebach, Karel Frederik 92

Wettstein, Fritz von 78 Wettstein, Richard 130, 133f., 377 Weyprecht, Carl 153, 311–315 Wilczek, Hans 153 Wildhagen, Eduard 277 Willvonseder, Kurt 256 Wilpert, Czarina 364 Winton, Nicholas 61 Wittgenstein, Ludwig 44 Wittmann, Heinz Günter 82f. Wohlgemuth, Emil von 153 Wolfram, Richard 256 Wulf, Andreas 93 Wüllerstorf-Urbair, Bernhard von 148, 153 Wurmbrand-Stuppach, Johann Wilhelm Graf 197 Wüst, Walter 255 Zacharias von Säben 185f. Zelebor, Johann 150 Zeno, Apostolo 197 Zillig, Wolfram 82 Zilsel, Edgar 140 Zsigmondy, Richard 267–270

Sachregister

Abgüsse 295–300 Agrarwissenschaften 166, 351 Akademie der Wissenschaften, Österreichische/Kaiserliche 48, 130, 145–164, 255, 257, 259f. – Pläne für 194–196 Akademie der Wissenschaften, Preußische 156f., 161–163 Akademie der Wissenschaften, Tschechoslowakische 67 Akademie der Wissenschaften, der UDSSR 349 Akademie der Wissenschaften, der DDR 165–170 Akademie der Wissenschaften, Ungarische 222 Akademiekartell 16, 157f., 160–163 Anatomie, Visuelle 17, 301–308, 378–381 Angewandte Forschung 116, 165–170, 276 (siehe auch Mathematik, Angewandte) »Anschluss« 40, 105–106, 115, 254, 257f. Anthropologie 52, 107, 128f., 147, 150, 256–259, 295–300, 379 Anthropologische Gesellschaft in Wien 128, 254f., 257f., 260 Antisemitismus 20, 58, 67, 92, 123, 135, 139f., 242–244, 273, 298, 306 Arbeiterbewegung, österreichische 47f., 87f., 90 Archäologie 29–35, 261 Arktis 311–316 Assimilation 23f., 239–242, 368 Atapuerca, Ausgrabungen 31f.

Atombombenprogramm, sowjetisches 283 Atomwissenschaften 250, 252 Autonomie, der Universitäten 72, 116, 140 Bevölkerungspolitik 107 Bildungspolitik 321f. Biochemie 57–70, 78–81 Biologie 18, 51, 77–82, 107, 201, 268, 373, 375f., 378, 380 Biologische Versuchsanstalt in Wien 133, 163f., 377f., 381 Bundesministerium für Unterricht (Österreich) 106f., 116f., 125, 140, 232–234, 383–389, 392–399 Bürgerkrieg, Spanischer 15, 71–76 Bürgerkrieg, österreichische 306, 385 Cartellverband 18, 385f., 395, 397 Clovis 33 Coca 152, 333–335, 338, 340 Darwinismus 18, 376, 379, 381 Dawes-Plan 132 Denkkollektiv 135–137 Denkstil 13, 76, 135f., 213, 217, 289, 291 Deutschland 15–17, 23, 37–39, 78–83, 85, 87, 92, 123, 128–132, 163, 167, 170, 193, 206, 239, 242, 244–247, 267, 304, 320, 330, 366, 370, 376, 378 – Bundesrepublik (BRD) 166, 285, 289f., 364

414 NS-Deutschland 39, 42, 57f., 231, 245f., 254f., 257, 259f., 263, 267, 270–283, 287–289, 301, 308 Drittes Reich 17, 103–108, 166, 267, 269f., 273, 281, 283 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 17, 165–167, 267, 269, 283, 288 Deutsche Physik 38 Diplomatie 18, 38, 345–353 Diplomatik 183–189 Disziplinenbildung 119–125 Drittmittel 169 dual use research 16, 145–154 Einjährig-Freiwilligen-Recht 322 Emergency Society for German and Austrian Science and Art (ESGASA) 15, 127–134 Emigration 14, 129, 244f. – und Wissenschaftsphilosophie 37–42 – und Biochemie, tschechoslowakische 57–70 Entnazifizierung 289, 291, 384 Entwicklung – bei Ernst Mach 45–52 – menschliche 272–281 Epistemologie – historische 43f. – politische 135–141 Erbfolgekriege 193, 198 Ernährungswissenschaft 63–68 Erster Weltkrieg 52, 93, 114f., 121, 128, 130f., 139, 163, 212, 235, 239, 241, 243, 245, 251, 272, 304f. Ethnographie 140, 152f., 230, 253, 256, 263, 295f. Eugenik 15, 18, 71, 92, 306, 374f., 378–381 – katholische 95–101 Exil 23, 57–70, 72, 240f. Expertenwissen 369 Fachschulen 112, 324 Forschungskooperation, militärischzivile 145–154

Sachregister

Forschungsorganisation 15, 155–164, 166f. Forschungsrat der DDR 267, 278–281 Forschungsinstitut 67, 82, 276f., 282f. Forschungspolitik 275–277 Forschungsuniversität 116f. Franco-Diktatur 72–76 Franz-Josef-Land 312, 314 Freiheitliche Partei, Österreichs 328, 332, 395f. Gastarbeiter 363–370 Geisteswissenschaften 131, 138f., 141 Geowissenschaften 160, 162 Gesellschaften, wissenschaftliche 67, 78, 88–93, 123, 128–133, 137–139, 150, 161, 165–168, 221–228, 254–260, 271, 275, 314, 378 German-American School Association 132 Germanistic Society of America 129, 134 Germanistik 285–291 Gewerbehygiene 85–93 Grenzgebiete, wissenschaftliche 87, 104, 108 Grenzüberschreitungen 43–53 Großbetrieb 156f. Grundlagenforschung 80, 116, 146, 165–170, 276 – Eugenik als 97, 99f. Gymnasien 319–325 Habsburgermonarchie 18, 145, 162, 194f., 211f., 304, 319f., 365, 377 (siehe auch Österreich-Ungarn, Monarchia Austriaca) Handelsschulen, Handelsakademien 322 Haschisch 18, 333, 335–340 Hilfsorganisationen 58–59 (siehe auch Emergency Society for German and Austrian Science and Art) Hochschulorganisationsgesetz (HOG) 116, 387 Hochschulpolitik 113, 331f., 383–389 Höhlenkunde 15, 119–125 Höhlenunterrichtspolitik 121

Sachregister

Identitätswechsel 17, 285–291 Industriemathematik 104f. Institut für Experimentalbiologie (siehe auch Biologische Versuchsanstalt) Institutionalisierung 76, 119, 121, 157f., 314f. Integration 14, 51, 161, 255, 277, 306, 338, 365–368 International Research Council (IRC) 131f. Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie 78f. – für Biologie 78f. – für Chemie 78, 281 – für Faserstoffchemie, für Biologie, für Biochemie 78 – für Medizinische Forschung 280 – für Metallforschung 281 – für Physikalische Chemie und Elektrochemie 271–276, 281f. Kalter Krieg 18, 165, 248, 345–353, 388 Katholizismus 18, 17, 98, 188f., 193, 309 – in Spanien 72, 74f. – in Österreich 95–101, 331, 383–389, 395f. Knox-Porter-Resolution 131 Kommunismus 14f., 66–70, 249, 282, 345 Konservatismus 18, 140f., 306f., 319–325, 383–389, 395 Körperabformungen 297–300 Kreative Missverständnisse 14, 23–27 Kultur der Vererbung und Entwicklung 18, 373–381 Lamarckismus 47, 306, 374, 376–378, 381 League of Nations International Committee on Intellectual Cooperation (ICIC) 131 Lehrkanzel 15, 87, 92, 113, 119–125, 302, 304, 378, 398 Lehr- und Forschungsstätte Vorderer Orient (LFVO) 253–263 Literargeschichte 183–189 Literaturgeschichte 288–291

415 Makroökonomie 355–361 Macht-Wissen-Konstellationen 334–341 Mathematik 41, 46–48, 224, 325 – angewandte 15, 103–108 Mathematisches Seminar, Universität Wien 106 Matura (Reifeprüfung, Abitur) 41, 47, 323f. Max-Planck-Gesellschaft 81f., 165–170 Max-Planck-Institut für Biochemie 79, 81 – für Biologie 79, 81f. – für Experimentelle Medizin 79 – für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie 82 – für Molekulare Genetik 77, 79, 82 – für Physikalische Chemie 79, 81f. – für Virusforschung 79, 81f. – für Züchtungsforschung 81 Metamorphose 17, 285–291 Metapher 16, 183, 216–219, 315, 334 Migration 37, 39, 58, 68f., 127, 239, 241, 363f., 368f. Ministerium für Cultus und Unterricht (Habsburgermonarchie) 159, 195, 319–325 Modelle – Planungs- 355–361 – anatomische 379 – anthropologische 299 – chemische 275f. – molekulare 268 Molekularbiologie 15, 77–83 Monarchia Austriaca 16, 191–198 Museum 17, 129, 152, 329 Museum, Naturhistorisches in Wien 17, 140, 148, 150, 151–153, 295–300 Museum für Völkerkunde, Berlin 128, 256–259 Museum für Volkskunde, Österreichisches 229–235 Nachkriegszeit 66–68, 72, 129, 232, 245, 254, 277, 301, 304, 357, 383–389 Nationalismus 49, 89, 121, 189, 320

416 Nationalsozialismus 14f., 16–17, 37f., 57–59, 62, 104, 107, 140, 193, 253–263, 265–283, 285–289, 297f., 301, 306, 328 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei 16, 106, 231f., 255, 257f., 267, 269f., 272, 277, 396 Naturgeschichte 47 Naturwissenschaften 16, 30, 42, 44f., 47, 52, 61f., 77, 80, 87, 101, 138, 141, 160, 163, 176, 192, 203, 222–224, 226f., 245, 267, 272, 314, 325 Nepotismus 391–399 Neutraler Monismus 48–51 Nichtwissen 119, 396 Normaliensammlung 214, 218 Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (NGDW) 130f. Notgemeinschaft der deutsch-österreichischen Wissenschaft (NDÖW) 130 Nordpolexpedition 17, 153, 311–316 Novara-Expedition 16, 145–154 Objektiv 14, 23–27, 302, 336, 388 Objektivität 23–27, 192f., 352 Öffentlichkeit 90, 95f., 99, 121, 123, 141, 152, 170, 199, 221–224, 226f., 248, 298, 300, 306, 309, 311–315, 320, 324, 329f., 336, 346, 369, 375, 392, 395f., 399 (siehe auch Politik und Öffentlichkeit) ökonomische Steuerung 355–361 Organisation 58, 75, 87f., 91, 128, 157, 159f., 162, 170, 214, 222, 254, 278, 325, 329, 332, 347, 355, 360, 366, 378, 388 Österreich 15f., 18, 40f., 85f., 88, 90, 92f., 95–101, 106, 116, 125, 128–131, 133, 153f., 185, 193, 195, 201, 206, 211, 231–232, 254f., 257, 287, 298, 304, 306, 319f., 327f., 330f., 363–370, 377, 383–387, 391–399 – Ungarn 161f., 240f., 377 – Ausländer 18, 363–370 Österreichisch-deutsche Arbeitsgemeinschaft 130 Österreichische Hochschülerschaft 327–332, 385

Sachregister

Österreichische Ostindische Kompanie 154 Paläoanthropologie 14, 29–35 Paradigma 14, 18, 29–35, 35, 156, 192f., 375 Pferdezucht 346–352 Planung 18, 115, 149–151, 167, 246. 248, 259 Planungswissen 355–361 Polarexpedition, österreichisch-ungarische 311–316 Politik des Logischen Empirismus 137 – und Öffentlichkeit 96, 121 (siehe auch Öffentlichkeit) – und Wissen 192 – und Wissenschaft 13f., 73, 91, 120, 121f., 127, 155, 192, 194, 263, 286, 296, 394, 398 (siehe auch Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander) Politikgeschichte 192f. Politikwissenschaft 30 Politische Brüche 13f., 20, 128, 231, 245 Positivismus 44–45 – wissenschaftlicher 41, 43–45, 388f. – logischer 41 (siehe auch Wiener Kreis) Praxis, museale 229–235 Praxisrelevanz 168–170 Presse 101, 132, 222–226, 330, 347f. Protestantismus 41, 193, 197, 240 psychoaktive Substanzen 18, 333–341 Psychologie 15, 23–27, 45, 52, 71–76, 265 Psychotechnik 74 Pugwash 345f., 348f. Qualifikation 91, 140, 288, 320, 388f., 391–399 Quellensammlungen 184–186 Realgymnasien 321, 324f. Realschulen 319–324 Reichserziehungsministerium (REM) 105, 272–274, 277–281 Reichsforschungsrat 258, 267, 277f., 282

Sachregister

Religiöse Konversion 40f., 194, 240–243 Res publica litteraria / Gelehrtenrepublik 16, 187, 191–198 Ressource, rhetorische 30, 35, 101, 107f. – politische 39, 106f. Ressourcenensemble 17, 19f., 120–122, 230, 282, 296 Ressourcenmodell 274 Ressourcenkonstellationen 20, 75, 111, 119f., 286, 334 Rezeption 14, 24f., 27, 29, 31, 34f., 44, 173, 177, 222, 311, 313f. Rinderzucht 345–353 Rockefeller Foundation 61, 77, 132, 246, 357 Romantische Naturphilosophie 25, 201 Rudolf-Virchow-Stiftung 128 Sammlungen 151–153, 188, 195, 197, 230–235 (siehe auch Quellensammlungen) – anthropologische 295–300 – ethnographische 140, 153, 295 Schulballast 319f. Selbstverständnis 78, 111, 166, 282 – disziplinäres 105f. – der Hochschulen 113, 115f. – der Akademie der Wissenschaften in Wien 155–157, 162 Shorthorns 346–348, 351f. Sozialdemokratie in Österreich 51, 85–93, 140, 304f., 374, 378, 381 Soziale Medizin 86f., 89, 91–93 Sozialpolitik 23, 87, 96, 107, 329, 367 Sozialwissenschaften 18, 30, 53, 89, 107, 364, 368f., 375 Spanien 15, 31, 71–76 SS-»Ahnenerbe« 17, 125, 253–263, 287–289 Standespolitik 19, 398 Staat 16, 19, 121–124, 149, 151, 156, 160–163, 166–169, 191–193, 195, 205f., 211–219, 320–325, 350, 356–360, 367–373, 385–388, 393–395 Staatswissen 192, 195

417 Staatswissenschaft 159, 206, 21–215, 219, 392 Statistik 90f., 356–358 Statistik, Mathematische 105–107 Staatsrecht 211–219 Studien, anthropologische 52, 256, 258 – zu Gastarbeiter 363–370 – historisch-kritische 49 – Natur- 200, 202 – zu Vitaminen 62–64 Studenten, marxistisch-leninistische 332 – sozialistische 89, 328 Studentenschaft, Deutsche 139, 328 Studentenproteste (siehe auch Proteste, studentische) Subjektiv 14, 23–27 Technik 46, 114, 124, 169, 267f., 272, 276, 280 Techniken 78, 184, 192, 357–361 Technische Hochschulen, Frequenz der Studenten 112, 319, 322–325 Technische Hochschule/Technische Universität Wien 15, 62, 111–117, 328–329 Tetschener Altar 16, 199–207 Totalitarismus 245, 249 Transkulturelle Verwicklungen 239–251 Umbrüche, wissenschaftliche 18, 42, 302, 333f., 380 Umbrüche, politische 15, 18f., 42, 78, 120, 195, 229–235, 290, 299–304, 333f., 363 Ungarn 17, 123, 161f., 221, 239–245, 248, 377, 402 Universitäten 18, 38, 58, 59, 72, 75f., 79f., 81, 100, 104f., 111–113, 116, 151, 156, 163, 191, 255, 271, 287f., 300, 304, 306, 319–325, 300, 378, 392, 395–398 Universität Brünn 61 – Breslau 267 – Budapest 224 – Erfurt 175 – Erlangen-Nürnberg 288 – Friedrich-Wilhelm in Berlin 23, 275

418 – – – – – – – – – – – – – – – –

Hamburg 288 Humboldt in Berlin 283 Innsbruck 19, 392f., 394f., 399 Leiden 287 Madrid 73 Göttingen 206, 268f. Graz 48, 329 Greifswald 274 Köln 81, 175 Linz 331 Oslo 357 Prager 49, 61, 62, 67, 175 Rovira i Virgili in Tarragona 31 Salzburg, Katholische 287f. Tübingen 79f. Wien 15, 20, 43f., 47, 51, 105f., 119–125, 135–141, 148, 175–181, 197, 212, 254f., 257, 301, 304, 306, 330f., 346, 377f., 380, 385 Universitäten, Frequenz der Studenten 322–325 Universitätsorganisationsgesetz (UOG) 116f. Universitätsprofessoren 391f., 398 Universitätsreform 112, 332, 387 University of Canterbury 41 – Chicago 248, 250 – Manchester 246f. – Pennsylvania 67 – Sheffield 60f. Unwissenschaft 47 Verbundforschung 169 Vereinigung, freie Wiener Staatswissenschaftliche 213, 215 Verwaltung 16f., 191–195, 232–235, 272f., 279f., 304, 359, 361, 369 – swissen 16, 191f. – srecht 393, 396 – sreform 211–219 Verwissenschaftlichung 101, 141, 309, 355 Visualisierungen, wissenschaftliche 17, 203–205, 302–309, 359, 361 Vivarium (siehe auch Biologische Versuchsanstalt)

Sachregister

Völkerbund 131f. Volkspartei, Österreichische 328, 331, 386, 388, 395 Vorträge, öffentliche 99, 123, 221–227, 329f. Wiener Kreis 14f., 41, 44f., 52, 135–141 Weltauffassung, wissenschaftliche 136, 138, 139, 141 Weltöffentlichkeit 346 Wirtschaftskrise 115, 369 Wirtschaftsgeschichte 248, 353 Wirtschaftspolitik 321 Wirtschaftswissenschaften 356f., 359f. Wirtschaftswachstum 170, 364, 396 Wissen 52, 68, 78, 87, 95–97, 119, 160, 165, 176, 181, 189, 192, 196–198, 234, 245, 251, 289, 300, 309, 312–314, 316, 364, 394 (siehe auch Expertenwissen, Macht-Wissen-Konstellationen, Nichtwissen, Planungswissen) – erkenntnisorientiertes vs. nützliches 16, 165 – mathematisches 103–108 – ökonomisches 355–361 – praktisches 230 – praxisrelevantes 169f. – religiöses 16, 192 Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander (für einander) 14, 19, 39, 120, 191f., 197, 213, 266, 296, 306 – und Ideologie 141 – und Militär 16, 145–154, 271–283 – »reine« 131 Wissenschaften, technische 113f. Wissenschaftliches Weltbild 51 Wissenschaftsdisziplinen 96, 123, 156, 168 Wissenschaftskulturen 13, 377 Wissenschaftspolitik 17, 39, 119–125, 230, 267, 270, 272f., 280f., 285, 383f. Wissenschaftspopularisierung 47, 50, 99f., 222–227, 312–316 Wissenschaftswandlungen 13, 15, 20, 42, 120, 285, 296 Wissenschaftlichkeit 91, 314, 393

419

Sachregister

Wissenschaftsakademien 132, 155–157, 160–162 Wissenschaftspopularisierung 99f., 222, 315 Wissenschaftssprache 222 Wissenschaftstheorie 136 Wissensgeschichte 368 Wissensobjekte 356 Wissensordnung 16, 120 Wissensorganisation 195, 197 Wissensraum 16, 119, 174, 213, 311–316 Wissenstransfer 99, 173, 273

Wissensvermittlung 18, 95–97, 99f. Wissenszirkulation 128, 311–316 Wohlfahrtsstaat 18, 356, 388 Zeitfaltungen 18, 334 Zoologisch-Botanische Gesellschaft in Wien 133, 150 Zweiter Weltkrieg 40, 60f., 66, 72, 79f., 115f., 231, 254, 256–261, 276–283, 287, 350, 385 Zwischenkriegszeit 95–101, 127–134, 163, 301–309