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German Pages 451 [452] Year 2001
Etzemüller
•
Sozialgeschichte als politische Geschichte
Ordnungssysteme Studien zur
Ideengeschichte der Neuzeit
Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doe h ng-M ante uffel und Lutz Raphael Band 9
R. Oldenbourg Verlag München 2001
Thomas Etzemüller
Sozialgeschichte als politische Geschichte
Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
R. Oldenbourg Verlag München 2001
Gedruckt mit Unterstützung des der VG WORT
Die Deutsche Bibliothek
Förderungs-
und Beihilfefonds Wissenschaft
CIP-Einheitsaufnahme -
Etzemüller, Thomas: Sozialgeschichte als politische Geschichte : Werner Conce und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 / Thomas Etzemüller. München : Oldenbourg, 2001 (Ordnungssysteme ; Bd. 9) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-486-56581-8 -
© 2001 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-56581-8
Inhalt Einleitung I II III IV V VI
Die 1.
„
.
Theoretischer Rahmen.
Begriff „Wahrheit". Durchführung und Aufbau der Arbeit. Der
Literatur.
Quellen. Der
Begriff „Sozialgeschichte".
Vorgeschichte
"
Königsberg Göttingen Königsberg als Ausgangspunkt. Die deutsche Ostforschung. Göttingen als Brücke. Die „Rothfels-Gruppe". .
I II III IV
1 2 8 11 14 17 19
-
21 22 35 40 44
Werner Conze 2. Ansatz und intellektuelle Prägungen I Conzes Ansatz. Die Annales. II III Hans Freyer. IV Günther Ipsen. V Otto Brunner.
49 50 54 60 66 70
3. Die Strategie. I Der langsame Aufstieg in der Historikerzunft. II Rezensionen. III Empirische Arbeiten. IV Die Bedeutung von Reputation.
90 90 105 114 124
4. Die „Position des Sprechers" I Der lange Weg zum Ordinariat. II Heidelberg. III Der „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte". IV Was ist Sozialgeschichte?. V Die „Geschichtlichen Grundbegriffe".
128 129
.
.
145 157 160 171
VI
Inhalt
Umfeld und Denkstil 5. Der Resonanzboden I Gesellschaft. II Politikwissenschaft. III Soziologie. IV Schluß.
177 177 190 196 210
6. Die Zunft. I Die „Zäsur" von 1945 und die „Auseinandersetzung" um die
212
Sozialgeschichte. Die „Rothfels-Gruppe". Die Historikertage 1958-1967. Sozialgeschichte als Erfolgsgeschichte?.
213 236 250 262
7. Der Denkstil I Der Denkstil. II Historiker als Ritter ihrer Nation: Die Politisierung von
268 271
.
II III IV
.
Wissenschaft.
296
Die Nachwirkungen
8. Der Untergang im Sieg. I Brüche. II Neue Rahmenbedingungen für die Geschichtsschreibung. III Die „Sozialgeschichte in der Erweiterung" und der Untergang im Sieg. IV Sozialgeschichte, Historische Sozialwissenschaft, Alltagsgeschichte und Kulturgeschichte.
310 311 325
Dank Abstract.
355 357 360
.
Abkürzungen. Quellen- und Literaturverzeichnis. 1. Quellen. a. Ungedruckte Quellen. b.
Gespräche und schriftliche Mitteilungen.
c.
Gedruckte Quellen. Literatur.
2.
Register.
335 344
363 363 363 366 367 411
436
Ohne schriftliche Aufzeichnungen gleicht sehr bald der Ruhm eines toten Kaisers
dem eines
toten Esels: Beide sind vergessen. (Johannes von Salisbury, 12. Jh.)
Wenn wir einen Menschen schildern und wir denken wir schildern ihn so wie er ist so haben wir ihn ganz falsch geschildert er ist nicht so wie wir ihn schildern Wir erzählen eine Geschichte und es ist eine ganz andere Geschichte
(Thomas Bernhard, 1981) Denn erstens,
was
im Menschen denkt, das ist gar nicht er,
sondern seine soziale
Gemeinschaft. (Ludwig Gumplowicz, 1905)
In Wahrheit halluzinieren wir ununterbrochen.
(Vilayanur Ramachandran, 2001)
Einleitung Unter den Historikern gibt es die Schmetterlinge und die Maulwürfe. Die Maulwürfe wühlen sich durch das Erdreich der Archive, die Schmetterlinge flauem über die Landschaft hinweg und betrachten sie von oben. (Hans-Christoph Rublack, 1989)
„Ich [...] entwickelte für mich [...] die Sicht einer sozial-, daneben auch
ver-
fassungs- und wirtschaftsgeschichtlichen Durchdringung der nach meiner damaligen Auffassung bezüglich der Frage geschichtlicher Konditionierungen unzulänglichen deutschen Historie. Schon vor dem Kriege durch Hans Rothfels und Günther Ipsen (Leipziger Soziologie), nunmehr durch Otto Brunner und Fernand Braudel angeregt, nahm ich eine Frontstellung freilich weit weniger heftig als Braudel gegen die traditionelle' histoire historisante ein und suchte einen Weg, auf dem die überkommene Hermeneutik mit analytischen Methoden verbunden werden sollte."1) Dieser Versuch der Durchdringung, die Werner Conze zu seinem Projekt erklärt hatte, war erfolgreich. Sozialge-
-
schichte, die bis dahin in Deutschland gegen die verstehende, auf Individuen, Ideen, die Politik und den Staat orientierte Historiographie einen schweren Stand gehabt hatte, gewann seit den 1960er Jahren immer mehr an Boden bis es heute selbstverständlich ist, von Sozialgeschichte zu sprechen und sie dabei -
nicht auf die Sektorwissenschaft „Wirtschafts- und Sozialgeschichte" zu reduzieren. Wie kam es dazu? Wie sah der Durchdringungsprozeß aus? Die Nennung der Namen von Hans Rothfels, Günther Ipsen und Otto Brunner verweist freilich noch auf etwas anderes, nämlich auf die besondere politische Rolle, die sich mit der Etablierung der Sozialgeschichte in der Geschichtswissenschaft der jungen Bundesrepublik verband. Die frühe Sozialgeschichte, wie ich sie nennen werde, war stets politische Geschichte. Die Begriffe „Politikgeschichte" und „politische Geschichte" sind streng zu trennen. Die Politikgeschichte beschäftigt sich mit politischen Handlungen, die politische Geschichte übernimmt eine politische Aufgabe für die Gesellschaft. Jede Geschichtsschreibung kann politische Geschichte sein, die Politikgeschichte wie die Sozialgeschichte. Was zeichnet die Sozialgeschichte in diesem Sinne aus? Wie verbinden sich Wissenschaft und Politik, wie Gesellschaft und die Rolle des Historikers in dieser Gesellschaft? Warum bemühte sich Werner Conze überhaupt, die (west)deutsche Historiographie auf Sozialgeschichte umzustellen?
') Conze, Der Weg zur Sozialgeschichte nach 1945, S. 73 f.
2
Einleitung I Theoretischer Rahmen
Wenn man diese Fragen beantworten will, so sollte man nicht davon ausgehen, daß sich neue Sichtweisen auf die Vergangenheit von selbst durchsetzen, einfach weil eine Zeit einer neuen Sicht auf die Vergangenheit bedarf, oder aber, weil einer neuen Sicht eine Qualität innewohnt, die sie nicht mehr ignorierbar macht, oder aber, weil sich Historiker nach einer rationalen Prüfung darauf verständigen, daß eine neue Sicht angemessen sei. Die erste Vorstellung übertreibt den Einfluß der Gesellschaft, die zweite stützt den Mythos von der reinen Idee, die dritte den des rationalen Diskurses. Ich werde anders vorgehen und zwei Richtungen der Analyse verfolgen. Zum einen werde ich Handlungen untersuchen: „Will man eine Wissenschaft verstehen, so sollte man nicht in erster Linie ihre Theorien oder Entdekkungen ansehen und keinesfalls das, was ihre Apologeten über sie zu sagen haben, sondern das, was ihre Praktiker tun."2) Ohne Handlungen werden neue Sichtweisen auf die Vergangenheit wie die Sozialgeschichte kaum in die Öffentlichkeit treten. Sie werden nicht per se wahrgenommen, sondern Wahrnehmung muß zuerst initiiert werden. Dabei sollte man analytisch trennen zwischen strategischem Handeln und habituellem Handeln, obwohl beides in der Praxis aufs engste verwoben ist. Strategisch: Das sind alle Maßnahmen, die ergriffen werden, um einer Idee, einer Interpretation oder einem neuen methodischen Ansatz in der Wissenschaft Gehör und Geltung zu verschaffen. Es reicht nicht, zu forschen oder methodologische Überlegungen anzustellen. Wenn Ergebnisse zu sehr von dem abweichen, was die „normale Wissenschaft" gewohnt ist, müssen sie eine hohe Hürde überwinden, um Eingang in den Wissenskanon zu finden. Solche Ergebnisse benötigen stützende Strategien, weil sie den eingespielten und deshalb effektiven Lauf normaler Wissenschaft erst einmal aufhalten, da erprobte Denkmuster überprüft werden müssen. Das kostet Wissenschaftler Ressourcen und viel von ihrer knappen Zeit, und solange -
-
2) Geertz, Dichte Beschreibung, S. 9f. Die folgenden Abschitte bauen stark auf Bourdieu, Homo academicus; Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache; Knorr-Cetina, Das naturwissenschaftliche Labor als Ort der „Verdichtung" von Gesell-
schaft; Dies., Die Fabrikation von Erkenntnis; Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft; Ders., Selbststeuerung der Wissenschaft; Ders., Vertrauen; Weber, Priester der Klio, S. 13-36; außerdem auf Krohn/Küppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft; auf einigen Texten von Ethnologen, die ihre Rolle in der Gesellschaft und die Bedingungen der Wissensproduktion ausgeleuchtet haben (etwa Clifford/Marcus, Writing Culture; Fuchs/Berg, Phänomenologie der Differenz; Hanson, The Making of the Maori); auf Assmann. Das kulturelle Gedächtnis; Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, sowie den Arbeiten jener Frühneuzeithistoriker, die zeigen, daß geistige Prozesse nicht nur auf der
Systemebene stattfinden, sondern immer auch vor Ort gemacht, d. h. durch Praxis vollzogen werden müssen, um real werden zu können (exemplarisch: Rublack, .hat die Nonne den Pfarrer geküßt; Weber. Bemerkungen zu Luthers praktischem Beitrag bei der Ausbreitung und Durchsetzung seiner Lehre). ..
I Theoretischer Rahmen
3
ihre Disziplin oder ihr Ansatz sich nicht in der Krise befinden, sehen sie keinen Anlaß, das Risiko des Zeitverlustes einzugehen.3) Relevanz muß inszeniert werden.4) Neue Ideen müssen gegen eine gewisse Beharrungskraft in der Wissenschaft durchgesetzt werden, da eine erprobte Sichtweise nicht gerne zugunsten einer neuen,
unerprobten aufgegeben wird, Verständnisschwierigkeiten
zwischen den „Alten" und den „Jungen" ebenso eine Rolle spielen wie drohender Prestigeverlust oder die Überzeugung, daß die bewährte Sicht auch unter gewandelten Bedingungen überlegen sei. Vor solchen Blockadereflexen sind Wissenschaftler, die ihrem Selbstverständnis nach zur unvoreingenommenen Prüfung von Wissen verpflichtet sind, nicht gefeit, etwa wenn wissenschaftliche Neuigkeiten mit dem Abblockbegriff „Mode" aufgehalten werden sollen. Überzeugen beruht deshalb zu einem guten Teil auf Techniken der Inszenierung, nicht auf Diskussion von Erkenntnissen. Den Kollegen muß klar gemacht werden, weshalb es sich lohnen könnte, daß sie einer neuen Idee ihr Ohr leihen und sich dann mit ihr auseinandersetzen; man muß ihnen Unbekanntes vertraut machen oder zumindest vertraut erscheinen lassen. Solche Strategien bestehen darin, einen Gedanken oder Ansatz unermüdlich in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorzutragen, ihn aktiv zu propagieren. Man weist auf die Schwächen älterer Konzepte hin und auf die Vorteile des Neuen (die durchaus in einem Prestigezuwachs liegen können). Man sucht Verbündete zu gewinnen, sozialisiert wissenschaftlichen Nachwuchs und versucht, die Kommunikation in der Wissenschaft zu steuern. Man publiziert empirische Arbeiten, die den eigenen Ansatz durchexerzieren (oder regt sie zumindest an). Vor allem aber muß man institutionelle Positionen besetzen. Nichts wird als „wahr" akzeptiert, wenn es nicht von der richtigen Position her geäußert wird, denn bei der Produktionsflut der Wissenschaft müssen Kriterien greifen, die Wissen vorab als relevant oder verwerfbar selektieren. Eines dieser Kriterien ist die „Position des Sprechers"5) im Gefüge der Wissenschaft. Sie ist in ein Netz eingefügt, das zum einen formal hierarchisiert ist (vom Ordinarius zum Studierenden), zum anderen informell (Reputation des Wissenschaftlers, seiner Universität, seiner Gruppe, seines Institutes usw.). Beide Hierarchisierungsprinzipien überschneiden sich jedoch und bestimmen die Bedeutung der Position, die ein Wissenschaftler innehat. Anhand ihrer erlaubt sich ein Leser erste Urteile über die Relevanz einer Aussage. Andere Kriterien sind der Ort, an dem Aussagen getätigt werden, die Häufigkeit, mit der eine Aussage zitiert wird (hier sind zugleich Zitationsort und Positionen der Zitierenden von Bedeutung) oder die Einschätzung des (literarischen) Stils, in dem eine Darstellung präsentiert wird.6)
3) 4) 5) 6)
Vgl. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.
Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, S. 207-209. Foucault, Archäologie des Wissens, S. 75-82. Geertz, Die künstlichen Wilden, S. 23 f. Dasselbe abstrakt-allgemein: Bourdieu, Homo academicus, S. 70-74; vgl. auch Galtung, Struktur, Kultur und intellektueller Stil, S. 329f., 337.
4
Einleitung
In der Wissenschaft existiert ein Gestrüpp verschiedener Kriterien, mit deAussagen bewertet werden. Die Kriterien haben keine absolute Geltung. Wie eine Aussage tatsächlich bewertet wird, hängt davon ab, mit welchen Kriterien sie in Verbindung gebracht wird, wie die Konstellation der Kriterien aussieht, die an einer Aussage haften. Deshalb ist strategisches Handeln nötig, das ein Kriteriennetz so formieren soll, daß Aussagen Gehör und Gewicht bekommen.7) Das Problem ist freilich, daß man die Rezipienten und deren Gewichtung der Kriterien nie sicher im Griff hat. Im Leser nämlich verknüpfen sich die Kriterien zu einem anderen Netz, das ihn den Wert einer Aussage oft nicht so einschätzen läßt, wie ein Autor sich das erhofft hat. Da sind die Persönlichkeit des Rezipienten, sein Alter oder die erreichte Karrierestufe zu nennen. Konfession, Generationszusammenhang, soziale Herkunft und sozialer Status spielen eine Rolle, ebenso seine Aufgabe und Stellung im Wissenschaftsbetrieb, Loyalitätsverhältnisse sowie Schul- oder Institutszusammenhänge, in denen er steht. Diese Konfiguration des Rezipienten zu erkennen, ist trotzdem kein unmögliches Unterfangen, weil auch die komplexeste Historikerpersönlichkeit stärker, als sie sich das oft eingestehen will, den anderen ähnelt. Die Kriterien bilden Muster, es lassen sich erwartbare Verhaltensweisen erkennen, die die Individuen zu Gruppenmitgliedern verschmelzen, und zwar Autoren wie Rezipienten. Ohnehin ist diese Trennung willkürlich, der Rezipient ist stets auch Autor, der (eigenen) Aussagen Gehör verschaffen will. Wie die Reaktion von Rezipienten tendenziell prognostizierbaren Bahnen folgt, so geschieht auch strategisches Handeln zu einem guten Teil „automatisiert", habitualisiert.8) Um bei der aktiven Seite zu bleiben: Das feine Gespür, das man benötigt, um die richtigen Entscheidungen zu treffen, die das Kriteriennetz erfolgreich beeinflussen sollen, wird einem in der wissenschaftlichen Ausbildung mit oder ohne ausdrückliche Worte anerzogen, d. h. vorgelebt wer es nicht „lernt", wer es nicht mitlebt, scheidet aus. Man „weiß" unbewußt, was richtig, falsch oder opportun ist. Man eignet sich einen Stil an, den eine akademische Gemeinde zu lesen wünscht: „Gute, stilvolle Arbeiten erwecken sofort solidarische Stimmung beim Leser, und sie ist es, die nach einigen Sätzen das Buch zu schätzen zwingt und wirkungsvoll macht. Nachher erst überprüft man die Einzelheiten: [...] insbesondere auch, ob traditionsgemäß [...] vorgegangen worden ist. Diese Feststellungen legitimieren die Arbeit zum Wissenschaftsbestand und machen das Dargestellte zur wissenschaftlichen Tatsache."9) Man verwendet die Reiznen
-
7)
Zwei Beispiele für solches Handeln: Leopold von Ranke (vgl. Weber, Priester der Klio, S. 210-222) und Paul F. Lazarsfeld (vgl. Pollak, Paul F. Lazarsfeld Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns). 8) Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 277-399. 9) Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 189 f. Stilvoll meint: Im Stil, den eine Gruppe gutheißt, geschrieben. Johan Galtung, Struktur, Kultur und intellektueller Stil, hat vier globale Wissenschaftsstile ausgemacht, die nicht nur den literari-
I Theoretischer Rahmen
5
und Schlüsselwörter, mit denen man sich bestimmten Lagern zuordnet und von anderen demonstrativ absetzt. Man sucht ohne Mühe die richtigen Publikationsorte und Tagungen auf, „weiß" exakt, mit wem es sich zu sprechen lohnt, wer in der Hierarchie wo steht und wie und wie lange man sich mit einem Assistenten oder aber mit einem Ordinarius unterhält. Man kleidet und bewegt sich entsprechend seiner wissenschaftlichen Umgebung,10) man lernt die Dinge zu sehen und zu beurteilen, wie die anderen sie sehen und beurteilen. So gewinnt man gegenseitig die Herzen, wird „Seinesgleichen" und erweckt, durch vertrautes Verhalten, Vertrauen in die eigene wissenschaftliche Tätigkeit. Man gibt die Gewähr, daß das Risiko einer Prüfung lohnt, und erwirbt, wenn die Kollegen nach der Prüfung das Vertrauen gerechtfertigt sehen, Reputation, die man investiert, um der weiteren Arbeit Gewicht zu verschaffen. Selbst Aussagen und Ideen, die von ihrer Struktur her vollkommen in den Rahmen normaler Wissenschaft passen, benötigen Symbole, die ihren Nutzen indizieren und Geltung für sie beanspruchen, da sie sonst, wie mit einem Tarnkäppchen überzogen, weniger gut oder gar nicht wahrgenommen werden. Deshalb muß man zugleich in drei Richtungen handeln: Vertrauen erwecken, Positionen besetzen und Überzeugungen formieren, um seine Sichtweisen durchsetzen zu können. Konformität, wissenschaftliche Qualität, stützende Strategien und Reputation gehen Hand in Hand bei der Etablierung von Wissen. Dieses System ist grundsätzlich notwendig, damit Wissenschaft funktionieren kann. Der Betrieb der Wissensproduktion muß organisiert werden, um durch geregelte Ausschlüsse irrelevanter Informationen Zeit für die Produktion von Wissen freihalten zu können. Das ruft allerdings ein Paradox auf den Plan. Dem Ethos der Wissenschaft zufolge darf eine Aussage nicht vom Geschick des Sprechers, vom Kalkül abhängen, faktisch jedoch gleicht eine Aussage ohne forcierendes Kalkül einer nichtgesprochenen Aussage. Das Paradox wird dadurch gelöst, daß wissenschaftliches Handeln zu einem guten Teil habitualisiert ist und deshalb „natürlich", nicht-kalkuliert erscheint. Das verbirgt, daß habitualisiertes Handeln Kalkül ermöglicht. Man macht sich über die Regeln wenig Gedanken wiewohl man sie ahnt -, man trägt sie in sich und handelt um so zielsicherer. Daß man über die Regeln kaum reflektiert, ermöglicht es -
sehen Stil, sondern auch die Diskussions- und Denkweisen prägen: den teutonischen, den angelsächsischen, den französischen und den nipponischen Stil. Interessant in diesem Zusammenhang auch Lepenies, Der Wissenschaftler als Autor. 10) Es ist äußerst interessant, über Jahre hinweg an einer Universität den Werdegang eines Geschichtsstudenten zum Dozenten zu beobachten: Die Kleidung wird vornehmer und derjenigen der Professoren immer ähnlicher, die Bewegungen werden gemessen und kalkuliert, die Sprache wird professioneller, zunehmend strahlt alles Seriosität aus. Alles zeigt: Man hat seine Jugend abgelegt, man hat die Grenze vom Studenten zum Lehrenden überschritten, man schert nicht aus, man verdient es, ernstgenommen zu werden.
6
Einleitung
allen, besten Gewissens den Schein
zu
wahren, daß in
erster Linie
die Sache
zählt.11) Ludwik Fleck hat drei entscheidende Punkte für die Analyse der Wissensproduktion in den Naturwissenschaften hervorgehoben und in einen theoreti-
schen Zusammenhang gebracht: Erstens, Tatsachen werden nicht vorgefunden, sie werden konstruiert. Zweitens, die Konstruktion ist keine rein intellektuelle Leistung, sondern in hohem Maße durch soziale Tätigkeiten bestimmt. Drittens ist sie nicht beliebig, sie wird durch die „psychologische Stimmung" einer Zeit wie durch den „Denkstil" eines „Denkkollektivs" gesteuert.12) Das führt uns zur zweiten Analyseebene, zum Denkstil. Das Denkkollektiv ist eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die in gedanklicher und sozialer Wechselwirkung stehen und die Träger eines spezifischen Denkstiles sind. Der Denkstil ist eine gedankliche Verarbeitung der Welt, die an einem Denkkollektiv hängt und seine Mitglieder zwingt, die Welt auf eine bestimmte Art zu sehen. Er eint das Kollektiv, das Kollektiv sozialisiert seine Mitglieder in diesem Denkstil und tradiert ihn auf diese Weise. Er ist gerichtetes Gestaltsehen, d. h. man strukturiert den Wust der Daten nicht, weil die Realität eine Struktur aufscheinen läßt, sondern weil man in einem langen Sozialisationsprozeß gelernt hat, ein bestimmtes Bild wahrzunehmen oder gerade nicht: „Ein Beispiel aus dem Alltagsleben: Zur Zeit als die Sexualität gleichbedeutend war der Unreinheit, und Naivität der Reinheit, galten die naiven Kinder für asexuell. Man konnte ihre Sexualität nicht sehen."13) Ein Denkstil unterscheidet sich von Diskursen. Diskurse sind Ansammlungen ganz heterogener Aussagen, die in ganz verschiedenen Formen von Dokumenten und im Rahmen ganz unterschiedlicher Kontexte entstehen. Die Aussagen haben oberflächlich betrachtet nichts miteinander zu tun, aber ungeachtet -
1 ') Diese Denkfigur stammt von Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Dysfunktional wird das System freilich, wenn die Symbole, die regelkonforme und relevante Wissensproduktion indizieren sollen, für die Sache selbst genommen werden: lange Publikationslisten, umfangreiche Literaturverzeichnisse und verächtlich belächelt, aber eben doch zu oft geglaubt das namedropping all der Autoren, die man oft nicht gelesen hat. Gerade das kann noch dysfunktionaler -
-
verheerend auf die zitierten Autoren zurückschlagen, wenn nämlich die Leser sie, weil zu oft zitiert gesehen, mit dem Etikett „modisch" belegen und abhaken, oft ohne sie je gelesen zu haben. 12) Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Im Vergleich zu Thomas S. Kuhns Paradigmenmodell (vgl. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen; Ders., Die Entstehung des Neuen), das zu erheblichen Teilen auf Flecks Studie aufbaut, läßt sich Flecks Ansatz wesentlich besser auf die Geisteswissenschaften übertragen, da mit dem Begriff „Denkstil" eine flexiblere Vorstellung als mit dem des Paradigmas verbunden ist, und weil mit dem Begriff „Denkkollektiv" und der Metapher der „psychologischen Stimmung" die Verbindung zwischen Wissensproduktion und sozialer Interaktion enger ausfallt als bei Kuhn. 13) Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, bes. S. 40-70 (Zitat S. 43). -
-
I Theoretischer Rahmen
7
der Sache, die sie bezeichnen, und ihrer Intentionen, faßt ein Diskurs Aussagen zusammen und gibt ihnen eine Form. Im selben Moment ist diese Formgebung eine Praxis, denn die durch den Diskurs gestiftete neue Ordnung von Aussagen erzeugt Effekte in der Gesellschaft, die jenseits der ursprünglichen Intentionen und Entstehungszusammenhänge der einzelnen Aussagen liegen. Ein Diskurs richtet die Welt zu. Michel Foucault hat den Gefängnis-Diskurs geschildert und gezeigt, welche Auswirkungen er auf die Gesellschaft hatte: Er war Teil einer großen Disziplinierungsentwicklung, die niemand geplant, die niemand im Griff hatte, die niemand steuerte und die trotzdem entstand. Diskurse lassen sich nicht auf Denkkollektive oder gar einzelne Denker reduzieren, sie übergreifen Denkkollektive, eine Gesellschaft, ein, zwei Jahrhunderte, und sie formieren deren Entwicklung damit aber auch indirekt wieder die Historiographie, die Historiker im „Auftrag" der Gesellschaft und als ihr Teil schreiben.14) Das jedoch ist das Gemeinsame zwischen Denkstilen und Diskursen: Sie sind verborgene Formatierungsprinzipien, die das Bild, das ein Historiker von der Vergangenheit sieht und niederschreibt, prägen; diese Formatierungsprinzipien entdeckt man in der Narratio seiner Geschichte. Die Erzählung über die Vergangenheit ist immer das Ergebnis von spezifischen Denkstilen, gesellschaftlichen Tabus, herrschenden Werten und von Diskursen. Zusammen funktioniert all das gleich einem Filter, der, ohne ausdrückliche Regeln, ohne ausdrückliche Verbotssysteme, den Historikern nahelegt oder vorgibt, was sie zu sehen, zu denken oder zu fragen und zu beschreiben in der Lage sind oder gar nicht erkennen können. Die Bedeutung von wissenschaftsstrategischem Handeln und von Denkstilen für die Genese geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis wird im Vordergrund meiner Untersuchung stehen. Doch weil Handlungen wie Denkstile im gesellschaftlichen Umfeld verwurzelt sind, werde ich v.a. die Entwicklung des Bildungswesens und des Wissenschaftssystems berücksichtigen, denn diese eröffnen Möglichkeitsräume für Aussagen, weisen Positionen des Sprechers zu und formieren das Klima der Rezeption. -
Die Welt der Ideen, der soziale Raum und das Handeln von Menschen hängen unlösbar und ineinander verklammert zusammen. Weder eine klassische Ideengeschichte noch eine Wissenschaftsgeschichte, bei der die Wissensproduktion allein auf gesellschaftliche Strukturen oder Institutionen bezogen wird, genügen. Der Wissenschaft „Äußeres" und der Wissenschaft „Inneres" sind verflochten, intellektuelle Arbeit und Taktik ebenso, auch strategisches und habituelles Handeln. Dies zu trennen, ist analytisch sinnvoll, aber in keinem der Teile finden wir eine ausreichende Antwort dafür, was Wissenschaft ausmacht. Gesellschaft, Geschichtswissenschaft und Historiker; Disposition, Biographie
,4) Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge; Ders., Archäologie des Wissens; Ders., Die Ordnung des Diskurses; Ders., Überwachen und Strafen; Ders., Der Wille zum Wissen.
8
Einleitung
und Handeln verschränken sich zu einer Einheit, in der und durch die eine „Wahrheit" in der Geschichtswissenschaft etabliert werden kann, in unserem Falle die Sozialgeschichte.
II Der Begriff „Wahrheit" Damit sind wir bei einem Begriff angelangt, der erläuterungsbedürftig ist: Wahrheit. Wahr ist, was wirklich war eine Aussage stimmt mit dem überein, was sie beschreibt oder bezeichnet. Diese Korrespondenztheorie von Wahrheit entspricht dem Alltagsgebrauch des Begriffes, mit dem viele Historiker operieren. Daneben unterscheidet die Philosophie im wesentlichen als drei weitere Theorien die Kohärenztheorie (wahr ist eine Aussage, die kohärent in ein System anderer Aussagen sich einfügt), die Konsenstheorie (wahr ist, worin man übereinstimmt) und die performance theory of truth (eine Aussage als wahr zu bezeichnen ist keine Aussage über die Qualität der Aussage, sondern eine Handlung, ein Akt der Zustimmung zu einer Aussage).15) Gerade die letzte Theorie liegt im Bereich derjenigen Wahrheitskonzeptionen, auf die ich mich im folgenden stützen werde. Sie sei in wenigen Worten angedeutet. Für Michel Foucault ist „Wahrheit nicht ,das Ensemble der wahren Dinge, die zu entdekken oder zu akzeptieren sind', [...] sondern ,das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird'". Aussagen, die als wahr gelten, sind unlösbar mit Macht verbunden, weil sie eingesetzt werden, um in die Gesellschaft Machtbeziehungen einzufügen16) etwa die Wahrheit, daß Frauen „von Natur -
-
15)
Siehe z.B. The Encyclopedia of Philosophy (New York/London 1967), die EnzyklopäPhilosophie und Wissenschaftstheorie (Stuttgart/Weimar 1996) oder Künne, Wahrheit. Das populäre dtv-Brockhaus-Lexikon in 20 Bänden (Mannheim/München 1988) verzeichnet nur die Korrespondenztheorie, die so als die Wahrheitstheorie erscheint. 16) Vgl. Foucault, Dispositive der Macht, S. 21-54 (Zitat S. 53); Ders., Die Ordnung des Diskurses, S. 22-25. Deshalb sollte man auch den Wissenschaftsbetrieb einer Analyse der
die
Machtbeziehungen unterwerfen. Hilfreich dafür sind: Foucault, Der Wille zum Wissen; Ders., Dispositive der Macht, S. 55-95,104-117; Bourdieu, Homo academicus; Luhmann, Macht. Man müßte jedoch, wenn man Luhmann folgte und Foucault in diesem Punkt verwürfe, trennen zwischen Macht im Sinne von Herrschaftsausübung und Macht, die unabdingbares Medium ist, um Hierarchisierungen und Differenzierungen, die ein System braucht, zu etablieren. Die „Macht" des Ordinarius in diesem Sinne ist eine Systemfunktion. Da er in der Wissenschaft eine herausgehobene Position besitzt, strukturiert und selektiert er
automatisch Kommunikation und macht sie so handhabbar. In der Praxis laufen beide Machtbegriffe, der komplexitätsreduzierende und der repressive, ineinander, denn natürlich nutzen Ordinarien ihre persönliche Macht, um die Kommunikation in ihrem Sinne zu selektieren und zu steuern meist aus der aufklärerischen Überzeugung heraus, daß ihr Kommunikationspfad dem Wohle der Gesellschaft diene und der bekämpfte ihm schade. Von daher gehen auch Intention, Habitus und Systemfunktion ineinander über. Der Ordinarius erfüllt auf seiner Position eine Systemfunktion, er ist habitusgesteuert, doch kann er seine Position -
9
II Der Begriff „Wahrheit"
aus" nicht für das Studium geeignet seien. Für Niklas Luhmann dagegen ist Wahrheit ein label, das erfolgreiche Kommunikation signalisiert. Ist Kommunikation erfolgreich, d. h. kann Kommunikation an andere Kommunikation anschließen, wird sie als wahr bezeichnet und auf dieser Selektionsschiene fortgeführt. Es ist dabei nicht zu überprüfen, ob Aussagen über die Realität wirklich die Realität treffen ob das Zeichen mit dem Bezeichneten wirklich übereinstimmt -, das ist auch unnötig, solange sich Kommunikation bewährt, d. h. fortgesetzt werden kann.17) Allerdings hat das Etikett „wahr" immer nur in bestimmten sozialen Räumen Gültigkeit, nur in einem bestimmten Raum hat Kommunikation Erfolg Frauen wollten schon früher nicht das erwähnte Diktum wahr heißen (aber sie hatten nicht die Macht, es umzuetikettieren). Für Ludwik Fleck schließlich ist Wahrheit das, was in einem (naturwissenschaftlichen) Denkkollektiv für alle Mitglieder verbindlich gilt. Wahrheit ist nicht subjektiv oder relativ, sondern sie „ist immer oder fast immer, innerhalb eines Denkstils, vollständig determiniert. Man kann nie sagen, derselbe Gedanke sei für A wahr und für B falsch. Gehören A und B demselben Denkkollektive an, dann ist der Gedanke für beide entweder wahr oder falsch. Gehören sie aber verschiedenen Denkkollektiven an, so ist es eben nicht derselbe Gedanke, da er für einen von ihnen unklar sein muß oder von ihm anders verstanden wird. Auch ist Wahrheit nicht Konvention, sondern im historischen Längsschnitt: -
-
denkgeschichtliches Ereignis,
in momentanem
Denkzwang."^)
Zusammenhange: stilgemäßer
Für Foucault, Luhmann und Fleck ist trotz aller Differenzen Wahrheit ein Produkt sozialer Beziehungen und ein Mittel, innerhalb dieser Beziehungen zu handeln. Ich schließe mit meinem Wahrheitsbegriff an sie an und folge Wolfgang Webers „Arbeitshypothese [...], daß wissenschaftliche Arbeit noch weniger als bisher als ,objektive' Wahrheit denn als soziale Wahrheit angesehen werden muß, daß es mithin weniger darauf ankommt, ob eine Theorie unter den gegebenen Maßstäben als objektiv richtig erscheint als darauf, ob sie von der Gemeinschaft der Fachwissenschaftler anerkannt wird, aus welchen Grün-
nutzen,
um
seine Intentionen durchzusetzen
zu
-
versuchen. Da der Habitus freilich verhält-
nismäßig konstant bleibt, die Systemumgebung sich jedoch verhältnismäßig rasch wandelt, wird die Macht des Ordinarius irgendwann kontraproduktiv, nämlich dann, wenn er seiner ansozialisierten Haltung zur Welt, die er für die einzig angemessene Haltung hält, qua Systemposition auch dann noch Aufmerksamkeit verschaffen kann, wenn das den Lauf der Welt schon lange stört. Nicht unberücksichtigt sollte bei einer solchen Analyse die Frage bleiben, inwieweit der Habitus den Ordinarien Herrschaftsausübung als Selbstverständlichkeit erscheinen läßt und sie gegen persönliche wie wissenschaftliche Kritik immunisiert. 17) Vgl. Luhmann, die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 167-189; Ders., Selbststeuerung der Wissenschaft, S. 233f. Der Begriff „Bewährung" soll aus dem Dilemma führen, daß man keine „wahre" Aussage über „Wahrheit" machen kann. 18) Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 131 (Hervorhebung von Fleck).
10
Einleitung
den auch immer."19) Ich möchte allerdings aus Gründen der Klarheit mehrere miteinander verbundene Ebenen unterscheiden: 1. den Produktionsrahmen (Gesellschaft, Gruppen und Institutionen schaffen einen Rahmen, der wahre von unwahren Aussagen trennt), 2. die Produktionskriterien (etwa fachliche Standards und Methoden, die Erkenntnisse selektieren, Inhalte definieren und Aussagen formatieren; sie sind ein Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen, mit denen sie sich in „langer Dauer" wandeln, und hängen eng an Weltbildern20)), 3. die Geltungsräume (diejenigen Segmente einer Gesellschaft, in denen eine Aussage prinzipiell die Chance hat, für wahr genommen zu werden) und 4. die Geltungssituationen (entweder ein Zeitraum auf der chronologischen Achse, in dem eine Aussage faktisch wahr war, oder eine Situation, in der eine Aussage von einer Gruppe faktisch für wahr genommen wird). Es ist durchaus möglich, Aussagen zu produzieren, die sich nicht „im Wahren" befinden, weil sie außerhalb eines Geltungsraumes stehen. Daß nichts in der Welt sei, was nicht in den Akten stehe, war lange Zeit für Politikhistoriker ein methodisches Dogma. Abweichende Aussagen galten insoweit als unwahr, als ihnen keine Relevanz für Erkenntnisse über die Realität zugeschrieben wurde. Und für die traditionelle Geistesgeschichte konnte es bis vor kurzem einfach nicht wahr sein, daß zwielichtige Pamphletschreiber, „Literaten im Untergrund", von Bedeutung für den großartigen Prozeß der Aufklärung hätten sein können, deshalb konnten allenfalls Außenseiter darüber sprechen. Sie mußten die Produktionskriterien ändern, der Produktionsrahmen änderte sich, dadurch wurden diesen Aussagen Geltungsräume eröffnet, sie rückten ins Wahre die Außenseiter wurden zu Wahr-Sagern.21)
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Durch diese Andeutungen sollte sichtbar geworden sein, daß man Wahrheit als Produkt eines auf mehreren Ebenen angelegten Ineinandergreifens sozialer und geistiger Dispositionen, von Situationen und Handlungen verstehen sollte, durch das Denken, Handlungen und Äußerungen einerseits geprägt und gesteuert sind, und daß andererseits diese Vbrprägungen auf eine epochen-, zeit-, gesellschafts-, system-, fach-, Institutionen- und gruppenspezifische sowie individuelle Weise jeweils konkretisiert werden. Man sagt zwar etwas vage, jede Generation müsse die Geschichte neu schreiben, weil sie anders sehe doch man sollte viel deutlicher sagen, daß unsere Wahrheit von der Vergangenheit das Produkt dessen ist, was wir sehen wollen und dürfen, was uns Methoden und geistige Dispositionen zu sehen erlauben und was schließlich die Historiker aus all dem machen und als zeigbar zulassen. Und wenn man von diesem End-
19) Weber, Priester der Klio, S. 19. 20) Vgl. auch ebd., S. 17 f. 21) Die Denkfigur des Im-Wahren-sein
bei Foucault, Die
Ordnung
des
Diskurses, S. 24.
Robert Darnton ist der wohl bekannteste Ins-Wahre-Rücker der vorrevolutionären französischen Untergrundpresse, vgl. nur Darnton, Literaten im Untergrund.
Ill
Durchführung und Aufbau der Arbeit
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ergebnis, dem fertigen Text, jener Einheit,
die die klassische Ideengeschichte absolut gesetzt hat, zurückblickt auf das weite Feld, auf dem die Umstände liegen, die das Ergebnis möglich gemacht haben, so wird man vollständiger die Frage beantworten können, wie historisches Wissen zustande kommt und wodurch es formiert ist, als wenn man Werke als fertige Einheiten behandelt und bloß mit ihresgleichem, dem jeweiligen Zeitgeist oder anderen Autoren in Beziehung setzt. Die Lebenswelt prägt den Erkenntnisprozeß, die Haltung zur Welt die Sicht auf die Welt. Erkennen ist sozial bedingt, die Durchsetzung von Erkenntnis ist eine soziale Handlung. „Intellektuelles Feld" und „soziales Feld" sind nicht zu trennen, „Lebensstil" und „Denkstil" aufeinander bezogen. so
III
Durchführung und Aufbau der Arbeit
Die theoretischen Bemerkungen der letzten beiden Abschnitte bieten die Folie, die Leitschnur, um im folgenden die Sozialgeschichte in der frühen Bundesrepublik zu untersuchen. Das Schwergewicht wird auf Werner Conze liegen, denn er war derjenige, der die sozialgeschichtliche Durchdringung der gesamten Geschichtswissenschaft mit dem meisten Nachdruck verfolgt hat. Er erarbeitete sich in der Historikerzunft allmählich eine jener raren Positionen, die seiner Stimme eine Kraft verlieh, welche seine Aussagen unüberhörbar machte. Im Netzwerk der Historiker gelangte er an einen derjenigen Punkte, von denen aus die Gestalt des Netzes, die Figuration von Positionen und wissenschaftlichen Aussagen, also die Richtung der Forschung, beeinflußt werden konnte, und er nutzte die Möglichkeiten, die Sozialgeschichte „ins Wahre" zu setzen.
Nun stehen Historiker nicht allein. Werner Conze wuchs wissenschaftlich in einem bestimmten Kontext auf, in Königsberg. Hier wurde er ausgebildet, Königsberg prägte seinen Ansatz und die Art, wie er Gegenwart und Vergangenheit betrachtete, in Königsberg schloß er sich einem Personenkreis an, der seinen Denkstil verfestigte und ihm institutionellen Rückhalt bot. Mit den Königsbergern wanderte er nach Kriegsende in den Westen, mit ihnen gelang es ihm, nachdem der Krieg seine Karriere zunächst abgebrochen hatte, sich erneut in der Wissenschaft zu etablieren. Sie gaben ihm in der Zunft den Rückhalt, der nötig war, um seine Ideen zu propagieren. Die Königsberger bildeten keine „Schule" im strengen und eine „Gruppe" nur in einem eingeschränkten Sinne. Auch der Begriff „Hausmacht" trifft nicht ganz, denn er erinnert zu sehr an die Politik und würde eine Führungsrolle Conzes implizieren. Doch ganz falsch sind diese Begriffe nicht. Die Königsberger bildeten eine Schule, insofern sie die Welt und die Vergangenheit auf eine ganz spezifische Weise ähnlich sahen weil sie alle ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Sie waren eine Gruppe, insofern sie, geschart um die Vaterfigur Hans Rothfels, eine Gemeinschaft bil-
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Einleitung
deten, deren Mitglieder zusammenhielten weil sie ein Lebensgefühl teilten. Und sie waren Conzes Hausmacht, insofern sie wichtige und allmählich die -
Positionen in der Zunft besetzten und damit den Resonanzboden seinen Ansatz für vergrößerten weil dieser Ansatz ihrer Weltsicht nicht fremd
wichtigsten
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war.
Eine neue Wahrheit benötigt ein Umfeld. In ganz Deutschland gab es eine Reihe von Historikern, denen an einer Stärkung der Sozialgeschichte gelegen war. Sie folgten nicht alle ein und derselben Idee, was unter Sozialgeschichte zu verstehen sei und wie stark die Geschichtswissenschaft tatsächlich sozialhistorisch angereichert werden sollte. Das hing auch von den Zielen ab, die sie (implizit) mit der Sozialgeschichte verbanden. Differenzen zwischen Sozialhistorikern bestanden vor 1945 und darüber hinaus fort. Die immer unscharfe Idee „Sozialgeschichte" einte sie, ohne die Unterschiede auszulöschen. Sie befanden sich gegenüber den traditionellen Politikhistorikern in der Minderheit, doch weil sie sich nicht als Bilderstürmer gebärdeten, die die Zunft herausfordern wollten, wurden keine Gräben aufgerissen. Bestimmte zentrale Werte und Denkfiguren wurden bis Mitte der sechziger Jahre von fast allen Historikern geteilt, das einte die Zunft. Es gab keine Kontroverse über den Nutzen und die exakte Definition von Sozialgeschichte. Ihre Notwendigkeit wurde von vielen Historikern verbal anerkannt, sie stieß also auf ihr freundliches Desinteresse. Bevor sie sich die Mühe machten, Sozialgeschichte ernsthaft zu beachten, mußte diese der Zunft geduldig und unermüdlich injiziert werden. Die Widerstände waren eher passiver Art, die Überzeugungsarbeit mühsame Kärrnerar-
beit.22)
Das geschah nicht allein im Zusammenspiel von Sozialhistorikern und zurückhaltenden Kollegen. Die geistige Struktur der Zeit änderte sich, der „Zeitgeist", sowohl in der Gesellschaft als auch bei Historikern. Nachbarfächer wie Soziologie und Politikwissenschaften setzten sich endgültig im akademischen Feld fest und trugen dazu bei, die Sicht auf die Gesellschaft (und damit indirekt: auf die Vergangenheit) umzuformen, sie beschleunigten die Annäherung der Geschichtswissenschaft an die Soziologie. Der Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte selbst, von den Historikern erfahren, veränderte ihren Blick auf die (Vbr-)Geschichte. Das Bildungswesen expandierte, „explo-
22)
Anders Chun, Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit, der bei seiner Darstellung der Auseinandersetzung westdeutscher Neuzeithistoriker mit der Moderne vom Ideal einer rationalen Diskussion ausgeht: Die Krise der Geschichtswissenschaft nach 1945 habe bei den Historikern (die er als Einheit behandelt) die geordnete Suche nach einer neuen Methodologie ausgelöst. Weil er rhetorische Zugeständnisse (etwa an die Sozialgeschichte) für ernsthafte theoretische Reflexionen der Historiker nimmt, kann Chun die Auseinandersetzung mit der Moderne oder um Vor- und Nachteile der „Kulturgeschichte" als nüchternes, reflektiertes Nachdenken der Zunft darstellen. Dadurch übersieht er, wie ungeordnet, wie doppelbödig, wie wenig bewußt die Anpassung der Historiographie an die Moderne und an neue Ansätze der Geschichtsschreibung erfolgte (vgl. dagegen unten, Kap. 6/1).
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Durchführung und Aufbau der Arbeit
dierte", schuf neue Positionen, wertete die alten um und bot auf diese Weise seit den späten sechziger Jahren immer mehr (jungen) Historikern mit anderen Erfahrungen, anderen Werten und anderen Zielen die Möglichkeit, ihre (sozial-
geschichtliche) Wahrheit zu lehren. Sie führten die Umgestaltung der Zunft fort und trugen zur Durchsetzung von Sozialgeschichte bei nur nicht unbedingt im Sinne Werner Conzes. -
Die Geschichte der Sozialgeschichte in der Bundesrepublik ist also nicht als die Geschichte eines Helden, nicht als die Geschichte einer rebellischen Gruppe und nicht als die Geschichte eines unaufhaltsamen Fortschrittes zu schreiben. Denn die Geschichte der Sozialgeschichte lief nicht etwa nach einer Erfolgsgeschichte Conzes auf den nächsten Höhepunkt, eine Erfolgsgeschichte der „Historischen Sozialwissenschaft", und heute vielleicht auf einen dritten, die „Kulturgeschichte", zu. Die Geschichte der Sozialgeschichte ist keine Geschichte sozialgeschichtlicher Schulen, die sich in chronologischer Abfolge überboten. Sie ist die Geschichte paralleler Entwicklungen, mehrerer Brüche und Kontinuitäten, einer komplexen Genese, in der verschiedene Stränge sich überlagerten, beeinflußten und mehrere Verschiebungen in der Art, Geschichte zu schreiben, verursachten, ohne daß die einzelnen Stränge je gänzlich von solchen Verschiebungen eliminiert wurden. Ich werde zunächst die Grundlagen skizzieren, von denen Conzes Projekt einer Sozialgeschichte in der Nachkriegszeit auszugehen hatte: Charakteristika des Königsberger Milieus und der deutschen Ostforschung. Sie präformierten die Sozialgeschichte (Kapitel 1). Die folgenden drei Kapitel sind Werner Conze gewidmet: Zuerst ein ideengeschichtliches Kapitel, das von seinem theoretischen Ansatz und geistigen Einflüssen auf ihn handelt (Kapitel 2), dann eines, in welchem ich seine strategischen Maßnahmen zur Durchsetzung der Sozialgeschichte herausarbeite (Kapitel 3), schließlich eines, das seinen institutionellen Aufstieg auf eine einflußreiche Position des Sprechers zum Inhalt hat (Kapitel 4). In Kapitel 5 beleuchte ich das wissenschaftliche und gesellschaftliche Umfeld, das eine neue Sicht auf die Vergangenheit provozierte, forderte und förderte, in Kapitel 6 die Bedeutung der Gruppe, der Königsberger, sowie die Bedeutung des „Faches", der Geschichtswissenschaft, für die Durchsetzung der Sozialgeschichte. Anstöße aus dem gesellschaftlichen Umfeld reichen nicht aus, um einen neuen Blick durchzusetzen, die Haltung des Faches ist eine entscheidende Bedingung für die Umorientierung der Geschichtsschreibung. Es folgt eine tour deforce durch den Denkstil der frühen Sozialhistoriker, die das Eigentümliche ihrer Weltsicht und damit das spezifisch Politische der frühen Sozialgeschichte herausarbeitet (Kapitel 7). Abschließend der „Untergang im Sieg", der Erfolg, der letztlich so anders ausfiel als erwartet (Kapitel 8). Behandeln die Kapitel 2 bis 6 den zentralen Zeitraum von etwa 1945 bis 1965, so skizziere ich im letzten Kapitel die Entwicklung bis in die neunziger Jahre und stelle die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen. Am
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Einleitung
Ende soll deutlich geworden sein, wie und wieso Sozialgeschichte (im Plural ihrer heterogenen Einheit) in der frühen Bundesrepublik ihren Aufschwung nahm, welches eine Zeitlang ihre eigentümliche Prägung und Aufgabe als politische Geschichte war und wie und wieso sie mit ihrem Erfolg „unterging", d. h. in neuen Weisen, die Vergangenheit zu sehen, aufgehoben wurde.23)
IV Literatur Zunehmend dürfen sich historische Studien kritisch auch mit der Geschichte des eigenen Faches auseinandersetzen. Die ersten Arbeiten in dieser Richtung waren zumeist in der „Sozialgeschichte der Ideen" angesiedelt. Das ist ein Genre, welches sich von der klassischen Ideengeschichte dadurch unterscheidet, daß nicht nur die „Großen Gedanken" bedeutender Denker dargeboten werden, sondern auch die politischen Äußerungen von Gelehrten, und zwar tendenziell die aller Intellektueller. Es unterscheidet sich auch dadurch, daß die Äußerungen in ihrer Widersprüchlichkeit akzeptiert und beschrieben, sowie dadurch, daß die Wechselwirkungen zwischen dem politischen Leben einer Gesellschaft und den Wissenschaftlern dargestellt werden. Man macht nicht mehr ehrfürchtig mit großen Traditionen bekannt, sondern analysiert das Denken der Vorväter kritisch. Hin und wieder scheinen solche Bücher geschrieben von mittelalterlichen Kompilatoren, die zusammengetragen haben, wer je was wann gegen wen geschrieben hat, in welcher politischen Situation und wie er sie bewertete. (Oder es sind manchmal doch nur „stimmungsvolle Bilder" aus Gelehrtenfamilien.) Aber die Sozialgeschichte der Ideen hat deutlich gemacht, wie sehr die intellektuelle Arbeit von Historikern mit dem geistigen Klima der Gesellschaft verbunden ist. Jüngere Untersuchungen dagegen fragen nach Klassenlagen und Herkunftsmilieus von Historikern, nach dem sozialen Profil der Historikerschaft, sie rekonstruieren (lokale) Gelehrtenrepubliken, fassen Institutionen als Forschung formierende Instanzen ins Auge und ziehen internationale Vergleiche einzelner Aspekte der Geschichtswissenschaft. All das beleuchtet die soziale Dimension der Historiographie, die ebenfalls nunmehr als relevant für die Analyse der Wissenschaft erkannt wird.24)
23)
Ich werde mich auf die Neuere Geschichte bewar ein Projekt der Neuzeithistoriker. Die anderen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft haben eigene Entwicklungen durchgemacht und sind wie wir gerade auch an der Person Otto Brunners sehen werden ohne größere Berührung zueinander geblieben. Außerdem werde ich in der Regel protestantische Neuzeithistoriker meinen, wenn ich von Historikern spreche, weil katholische Historiker in diesem Prozeß kaum eine Rolle gespielt haben. 24) Vgl. beispielsweise Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert; Blanke, Historiographiegeschichte als Historik; Chickering, Karl Lamprecht; Christ, Neue Profile der Alten Geschichte; Ders., Geschichte und Existenz; Chun, Das Bild der Zwei
Einschränkungen
seien
angefügt:
schränken, denn die Sozialgeschichte, die ich untersuche,
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IV Literatur
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Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit dem Verhältnis der Historiker zum Nationalsozialismus. Waren sie wirklich so unbelastet, wie sie, die Fachleute für die Vergangenheit, es hinterher sich und ihrem Publikum erzählten? Wie sahen die institutionellen und personalen Netzwerke der Ostforschung aus, jenes
informellen, aber gut organisierten Zusammenschlusses von Historikern, die in die nationalsozialistische Vertreibungs- und Vernichtungspolitik involviert waren? Und wie verliefen Traditionsstränge von der Historiographie des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der des „Dritten Reiches" hin zur „Modernen Sozialgeschichte"? Wie sieht der Zusammenhang von Vemichtungspolitik und Geschichtswissenschaft, zwischen Dienst im totalitären Staat und wissenschaftlicher Modernisierung aus? Gerade dieser Fragenkomplex hat unlängst einen heftigen Streit entfacht.25) In all diesen Arbeiten erfahrt man viel über die Beziehung von politischen Wertungen und wissenschaftlichen Standpunkten, von zeitprägenden Ideen und Geschichtsschreibung, von institutionellen Entwicklungen und Wandlungen im Ideenhaushalt der Historiker, von Struktur der Gesellschaft und Struktur der Geschichtsschreibung. Ihr Manko ist jedoch, daß sie zwar als „extern" behandelte gesellschaftliche Einflüsse auf die Wissenschaft oder Wissenschaftler analysieren, nicht aber, wie deren wissenschaftliches, politisches sowie wissenschaftspolitisches Handeln ineinander verflochten war, wie also die StelModerne in der Nachkriegszeit; Fink, Marc Bloch; Hertfelder, Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft; Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft; Ders., Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert; Ders., Neue Geschichtswissenschaft; Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland; Jansen, Professoren und Politik; die Beiträge in Küttler/Rüsen/Schulin, Geschichtsdiskurs; Niebuhr, Zur Sozialgeschichte Marburger Professoren 1653-1806; Novick, That Noble Dream; Ringer, Die Gelehrten; Ders., The Fields of Knowledge; Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945; Simon, Staat und Geschichtswissenschaft in Deutschland und Frankreich 1871-1914. Einen Literaturüberblick bietet Cornelissen, Geschichtswissenschaft und Politik im Gleichschritt? 25) Vgl. nur Schulze/Oexle, Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Die wichtigsten Arbeiten zu diesem Thema: Aly, „Daß uns Blut zu Gold werde"; Ders., Macht, Geist, Wahn; Beer, Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa; Ders., Die Landesstelle Schlesien für Nachkriegsgeschichte 1934 bis 1945; Ders., Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte; Behringer, Bauern-Franz und Rassen-Günther; Ders., Von Krieg zu Krieg; Biskup, Erich Maschke; Burleigh, Germany Turns Eastwards; Camphausen, Die Reichsuniversität Posen 1941-1945; Dies., Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich 1933-1945; Ebbinghaus/Roth, Vorläufer des „Generalplans Ost"; Eckel, Ansätze zu einer intellektuellen Biographie von Hans Rothfels; Fahlbusch, Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik?; Ders., „Wo der deutsche ist, ist Deutschland!"; Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus; Haar, Historiker im Nationalsozialismus; die Beiträge in Lehmann/Melton, Paths of Continuity; Nickel, Der Historiker Erich Maschke; Oberkrome, Reformansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit; Ders., Volksgeschichte; Petters, Hans Rothfels; Schönwälder, Historiker und Politik; die Beiträge in Schöttler, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft; Wolf, Litteris et Patriae. ...
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Einleitung
der Wissenschaftler in der Gesellschaft die Produktion von Wissen formiert von Wissen, das auch heute noch als „objektiv", als politisch nicht kontaminiert gilt. Nur Lutz Raphael ist mit seiner anregenden Annales-Studie diesem Zusammenhang auf der kollektiven und strukturellen Ebene nachgegangen.26) Im Gegensatz zu ihm geht es mir jedoch darum, am Beispiel einer wesentlich kleineren Gruppe als den Annales die konkrete, alltägliche, handwerkliche wissenschaftliche Praxis von Historikern darzustellen, ihre Bedeutung für die Wissensproduktion und ihre Einbettung in das Umfeld: in die Zunft, die Wissenschaft und die Gesellschaft. Neben Ludwik Flecks Buch sind zwei weitere Arbeiten ausdrücklich zu nennen, die meinen Text besonders geprägt haben. Da ist zum einen Wolfgang Webers „Priester der Klio", das eine wichtige Anregung gab, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Er ist, soweit ich sehe, in Deutschland der erste Historiker, der ernsthaft und systematisch die Verbindung von sozialen Faktoren und wissenschaftlicher Arbeit thematisiert hat: Wissenschaftliche Überzeugungskraft und Durchsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse sind nicht denkbar ohne die Besetzung von Machtpositionen, die Selektion und Sozialisation von Nachwuchs und Mitstreitern, die Versuche, Kommunikation zu monopolisieren, und ähnliche Strategien der Stützung. Das ist in höchst kondensierter Form die Essenz seines Buches. Bestimmte Schwächen ändern nichts an seiner Bedeutung.27) Rolf Wiggershaus zum andern hat die Verbindung von geistiger Arbeit und sozialer Praxis am Beispiel der „Frankfurter Schule" dargestellt.28) Er hat nicht nur, wie Martin Jay,29) systematisch-ausführlich referiert, was die „Frankfurter" geschrieben haben, dies in das geistige Umfeld eingeordnet und damit ihre Ideengeschichte entworfen. Er hat zusätzlich was für Historiker eine Selbstverständlichkeit darstellt breit aus den Archivalien geschildert, was die Frankfurter Soziologen getan haben. Das hat ihm prompt den Vorwurf der Klatschgeschichtsschreibung eingetragen.30) Doch während Jay bloß referierend die Entwicklung oder Stagnation der Frankfurter Theorie konstatieren kann, liest man in Wiggershaus' Buch, warum sich etwas geändert hat und wie das versteckte Uhrwerk der Theorieproduktion aussah. Die ausführliche Beschreibung des Arbeitsprozesses als „Herrschaftszusammenhang einer Gruppe kreativer Denker, deren theoretische Ideale von einer Neuordnung der bürgerlichen Gesellschaft fundamental mit ihrem Arbeitsalltag kontrastierten",31) läßt
lung
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26) Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre. 27) Mit der Kritik setzt sich Weber, Priester der Klio, im Vorwort zur 2. Auflage auseinander. Am Beispiel Luthers hat er seinen Ansatz zusammenfassend sehr schön durchexerziert: Weber, Bemerkungen zu Luthers praktischem Beitrag bei der Ausbreitung und Durchsetzung seiner Lehre.
28) 29) 30) 31)
Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Jay, Dialektische Phantasie. Claussen, Geschichte der Frankfurter Schule. Erd, Die Entmystifizierung einer Institution, S. 455. Erd hatte nach Erscheinen des Bu-
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Quellen
einen die Kluft, die sich zwischen dem hohen Anspruch der frühen theoretischen Entwürfe und dem eher deprimierenden Ergebnis in den sechziger Jahren auftat, nicht nur sehen, sondern auch begreifen. Das Programm scheiterte, folgt man Wiggershaus, zum guten Teil an den Beteiligten und ihrem Verhältnis zur wissenschaftlichen Arbeit, zur Gesellschaft, zueinander und an den Intrigen, Ängsten und Eifersüchteleien von Horkheimer und Adorno. Die Kritische Theorie und das Scheitern ihrer ursprünglichen Ansprüche waren demzufolge „Resultat eines komplexen Arbeitsprozesses",32) Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen und der Beziehungen zwischen Personen und nicht allein Ergebnis theorie-immanenter Gründe, intellektueller Auseinandersetzungen oder denkerischer Schwächen. Es liegt daher eine gewisse Ironie in der Tatsache, daß man in der Ideengeschichte gerade mit den viel gescholtenen Ansätzen der Biographie und der Beschreibung von Handlungen einen großen Sprung tun kann hin zu einer besseren Erklärung, warum etwas geworden ist, wie es geworden ist. Eine Rezension von Jays Studie über die Frankfurter Schule zeigt, wie wenig eine ideengeschichtlich orientierte Wissenschaftsgeschichte in dieser Beziehung mitteilen kann und wie wenig sie dies stört. Das Projekt der Kritischen Theorie war wohl zu ehrgeizig, um realisiert zu werden, heißt es, von Hinweisen ist die Rede und von unbegreiflich. Mehr ist nicht zu vermelden. Mehr ist sogar unerwünscht. Stattdessen fordert der Rezensent in guter Tradition mehr „kapitelförmige Würdigung" der Theorie, denn das „bloße Abschildern der Sukzession historischer Einzeltatsachen", so erinnert er an ein Prinzip dialektischer Geschichtsschreibung, mache schließlich „noch nicht die Logik der Geschichte" aus. Zuviel „Historismus und Biographismus", ein zu „stark biographisierende[r] Duktus", daher rühre die Kurzatmigkeit von Jays Erklärungen für die Entwicklung der Theorie.33) Es ist gerade umgekehrt: zuwenig „Biographismus" ist seine Schwäche! -
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V
Quellen
Publikationen und Tagungsprotokolle bilden die mit kunstvollen Intarsien geschmückte Wand, mit der sich die Geschichtswissenschaft nach außen präsentiert, die aber kaum ihren Zustand dokumentiert. Von dem geschäftigen Trei-
ben, der Interessenpolitik, den Richtungsdiskussionen, den Animositäten, den ches als einziger Wiggershaus' „Arbeitssoziologie wissenschaftlicher Tätigkeit" (ebd., S. 456) zu würdigen verstanden. 32) Ebd., S. 456. 33) Dubiel, Rez. Jay, Dialektische Fantasie (Zitate S. 370. 373). Dabei beschränkt Jay seine Historiographie auf ein knappes Einleitungskapitel und dann auf wenige verstreute Sätze. Zur Bedeutung von Wissenschaftlerbiographien: Kohli, „Von uns selber schweigen wir".
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Einleitung
Versuchen, Unstimmigkeiten geschmeidig und stille zu beseitigen, dringt kaum etwas durch die Ritzen der Wand, und wenn, dann schlägt es sich in kryptischen Bemerkungen, unerklärlichen Fußnoten oder wenig verständlichen Randnotizen nieder. Es genügt, sich die gedruckten Protokolle der Historikertage anzuschauen, um zu sehen, wie Emotionen und persönliche Zusammenstöße in ein unpersönliches Referat in indirekter Rede übertragen und vollständig eliminiert werden.34) Deshalb muß man bestimmte Aktenkonvolute aufschlagen, um hinter die Wand lugen zu können: Nachlässe, Berufungsakten, Personalakten, Fakultätsakten, Institutsakten, die Akten des Historikerverbandes, des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte und die der Sozialforschungsstelle in Dortmund. Dort erkennt man in Briefen, Gutachten, Anträgen und handschriftlichen Notizen Zusammenhänge und Konfliktlinien, man erfährt, wie Handlungsmuster und Netzwerke aussahen, und kann versteckte Hinweise auf Lebensstil und Mentalität bergen.35) Aber zu vielem schweigen die Quellen selbst zwischen den Zeilen. Historiker haben wenig Zeit und schreiben nur das Nötigste, das Telefon schob sich in den fünfziger Jahren zwischen uns und unsere historischen Subjekte, auch Reisen wurden immer einfacher. Man besprach mündlich, Quellen enthalten oft nur noch den wenig erbaulichen Hinweis, daß etwas besprochen sei. Auch über die Persönlichkeiten der Wissenschaftler, ihre Arbeitsweise und darüber, wie sie ihre Gegenwart wahrnahmen, was sie über ganz alltägliche gesellschaftliche Ereignisse dachten, erfährt man wenig. Mit Interviews dachte ich diese Lücken füllen zu können, tatsächlich aber sind Historiker selten bereit, das Schweigen schriftlicher Quellen im Nachhinein mündlich zu brechen. So geht es einem wie Ion Tichy in Stanislav Lems „Futorologischem Kongreß". Mit jedem Schluck aus dem Fläschchen mit der Wahrheitsdroge sah er ein anderes Bild seiner Umgebung, jedes schien das endgültige, wahre Bild zu sein und erwies sich doch nur als ein weiteres Trugbild. Tichy war zu Beginn des Buches halluziniert worden und weiß daher nie, wann er nun wirklich die
34) Meisterhaft die Bearbeitung des mißlungenen Vortrages von Kurt von Raumer auf dem Historikertag in Ulm (1956): Gerhard Ritters Wut auf den Redner wurde durch die Protokollanten zu einem rein wissenschaftlichen Hinweis, der von Raumers Ausführungen ergänzte, stilisiert. Vgl. den Bericht über die 23. Versammlung deutscher Historiker, S. 40-45, mit Theodor Schieders Brief an Herbert Grundmann vom 17.9. 1956. Außerdem: von Raumer an Grundmann vom 17. 9. 1956 (AVHD). 35) Nachlässe von Werner Conze, Otto Brunner, Günther Ipsen, Hans Freyer, Carl Jantke und G.W.F. Hallgarten existieren entweder (teilweise) nicht mehr oder sind (teilweise) nicht zugänglich; die Nachlässe von Paul Egon Hübinger und Walter Hubatsch (beide im Universitätsarchiv Bonn) erwiesen sich leider als unergiebig. Parallelüberlieferungen füllen diese Lücken aber hervorragend. Die über 30 Jahre alten Berufungsunterlagen für Werner Conze im Universitätsarchiv München und die Akten des Göttinger Arbeitskreises durfte ich nicht einsehen. Ansonsten ließen mich erfreulicherweise alle Nachlaßverwalter oder Archive das gewünschte Material so gut wie uneingeschränkt benutzen bzw. kürzten unkompliziert
Sperrfristen.
VI Der Begriff „Sozialgeschichte"
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Wahrheit sieht. Kann er den Grund überhaupt erreichen? Ist die Eingangsgeschichte der Halluzinierung vielleicht Teil einer viel umfassenderen Halluzination, von der selbst das Buch nur ein Teil ist? Ist vielleicht gar der Leser Teil des Halluzinationsgeschehens?36) Historiker sind Pragmatiker und bemerken in solchen Fällen lapidar, daß ihr Bild natürlich anders aussähe, wenn sie denn nur noch mehr wüßten. Ich werde also nicht mit Thomas Bernhard sagen können: „Das ist die Wahrheit". Aber ich beanspruche für meine Darstellung Plausibilität und Nachvollziehbarkeit, d.h. die Fähigkeit, sinnvolle Kommunikation in Gang zu setzen, d.h.: „Wahrheit".
VI Der Begriff „Sozialgeschichte" Abschließend eine Bemerkung zum Begriff „Sozialgeschichte". Auf ihn bin ich aus guten Gründen bislang nicht näher eingegangen, denn es gibt bis heute keine endgültige Definition. Nur über eine Grunddifferenz scheint man sich einig zu sein, über die, daß es Sozialgeschichte in einer engen und einer weiten Fassung gibt. In der engen ist sie Teil des Faches Wirtschafts- und Sozialgeschichte, also ein Teil in einem Teilfach neben anderen Teilfächern wie der Technik- oder Religionsgeschichte. In der weiten auf sie zielte Werner Conze ab ist sie eine Perspektive, die gesamte Geschichte zu sehen, nicht Aspekt, sondern Organisationsprinzip, das alle Teilfächer durchdringt. Gerade der ungeklärte Status ist für die Genese der Sozialgeschichte ein wichtiges Moment, und die Ausfüllung des Begriffs läßt sich nur durch die Darstellung dieser Genese leisten. Der Komplexität dieser Genese entspricht der Aufbau meiner Arbeit, in der ich die Geschichte der Sozialgeschichte weniger linear erzähle denn als Verschachtelung verschiedener ineinandergreifender Komponenten darstelle. So wird deutlich werden, daß Bezeichnendes und Bezeichnetes nicht einfach eine Entwicklung hin zu einer endgültigen Definition des Begriffs und einer Vervollkommnung des Konzeptes durchgemacht haben, sondern, sich -
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36) Lem, Der Futorologische Kongreß. Lem, Eden, beleuchtet nicht nur das Problem, sich aufgrund unzureichender Daten ein Bild seiner Umgebung konstruieren zu müssen, das sinnvolle Handlungen erlaubt vielmehr wirft er die Frage auf, was überhaupt als Datum
aufzufassen ist. In dieser Frage treffen sich Stanislav Lem und Ludwik Fleck, beide Mediziner, beide aus Lwow. An dieser Stelle sollte ich gestehen, daß ich, wie das jeder Historiker aus pragmatischen Gründen tun muß, viele Aussagen in den Quellen als wahre Aussagen im Sinne der Korrespondenztheorie benutzt habe. Natürlich kann ein Satz wie „das haben wir am 3.3. besprochen" unwahr sein oder einen Schreibfehler enthalten, und was heißt im strengen Sinne „besprochen"? Wurde ausführlich diskutiert, gab es Meinungsverschiedenheiten oder wurden zwei Stichworte ausgetauscht, die beiden Gesprächspartnern ausreichten, weil sie sofort verstanden, was gemeint war und wie weiter zu verfahren sei? Es bleibt letztlich dem Gespür eines Historikers überlassen, wann er einen doppelten Boden in einer Aussage vermutet und auslotet. -
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Einleitung
wechselseitig beeinflussend, als vielschichtiges Gebilde, eine Reise durch die Zeit unternahmen, ohne endgültig an ein Ziel zu gelangen, ohne zur Deckung zu kommen, ohne Klarheit im Sinne einer scharfen Definition ihrer Beziehung zu erlangen und doch machte dieser Prozeß dieses Verhältnis zu etwas, das sinnvolle Kommunikation unter Historikern ermöglichte. -
1.
Königsberg Göttingen -
Wir hatten einen Profl.j Plessner aus Marburg hier. Er redete im Goethehaus (war an der New School) ueber die Grundlagen des Nazistaates. Die Rede war sehr nett und bildend, hatte aber nichts mit dem Thema zu tun, da er die Ursache in der Tatsache der spaeten Volkswerdung, der mangelnden Zentralisierung in einer Hauptstadt suchte, [Sjie kennen ja die hobbies der deutschen Historiker. Es fehlte nur noch die Sucht der HohenstauffenlJ nach Italien zu gehen. Ich sagte schliesslich zu Staudinger und Seeger, es habe mich ¡[njteressiert zu hoeren, dass sie verpruegelt wurden, weil Leibniz und Lessing nicht die richtige Zuhoererschaft hatten.
(Hedwig Wachenheim, 1963)
Wer nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch den Westen des besetzten und zerstörten Deutschen Reiches reiste, der stieß in verschiedenen Dörfern und Städtchen auf Königsberger Wissenschaftler, die, dem Kriege entkommen oder im letzten Moment aus dem Osten geflohen, dort gestrandet waren. Es waren rettende Orte, weil sie im Westen lagen, dem Zugriff des kommunistischen Feindes entzogen, doch waren sie zugleich fern der Universitäten, die stets den Fluchtpunkt der Lebensplanung deutscher Wissenschaftler gebildet hatten und auch 1945 noch bildeten. Von den Königsbergern hatten es selbst die jüngeren vor Kriegsende beinahe oder gerade schon geschafft, in den Besitz eines Ordinariates und damit zu materieller Sicherheit und standesgemäßer Position zu kommen. Doch das Kriegsende hatte alles zerschlagen, das für selbstverständlich gehaltene und zum Greifen nahe Lebensziel schien nun ferner denn je. So bemühte sich Theodor Schieder seit 1944 im bayerischen Dietmannsried um seine rasche Wiederverwendung, „sobald etwas klarer zu sehen" sei, und bat den Kurator der Königsberger Universität um Entscheidung, „ob ich hier gewissermassen als Dekan der Philosophischen Fakultät in exilio fungieren kann".1) Carl Jantke, Soziologe, hatte am 23. Januar 1945 Königsberg auftragsgemäß mit kriegswichtigen Unterlagen verlassen, konnte aber nicht mehr ins Reichserziehungsministerium gelangen. Auf langer Fahrt verlor er seine gesamte Habe und kam schließlich samt Familie nach Bayern, von wo aus er „um Zuweisung an nahegelegene Universität eventuell Innsbruck zu beliebiger Verwendung" ersuchte.2) Erich Maschke wurde 1945 von den Russen ver-
') Schieder an das Reichserziehungsministerium
Wi, Schieder, Theodor, 11.4.08).
2)
vom
9. 3. 1945
(BA REM [ehem. BDC],
Jantke an den Reichserziehungsminister, Telegramm vom 14. 2. 1945 (BA REM [ehem. BDC], W48/b, Jantke, Carl, 21.9.09). Jantke war erst zu einem seiner Schüler nach Vorarlberg gezogen (wo Schieder mit ihm Kontakt aufgenommen hatte) und wurde Ende 1945
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1.
Königsberg Göttingen -
haftet und in die Kriegsgefangenschaft deportiert, Günther Ipsen betrieb in Innsbruck die Rückgewinnung der verlorenen Ostgebiete, bis er ausgewiesen wurde. Werner Conze lag im Lazarett in Bad Warmbrunn (Niederschlesien), freute sich aber um die Jahreswende 1944/45 zuversichtlich auf die „hoffentlich nicht zu fernliegende fruchtbare Posener Zusammenarbeit" mit Reinhard Wittram, seinem Kollegen an der Reichsuniversität Posen, den es mittlerweile nach Göttingen verschlagen hatte. Conzes Rückweg endete nach kurzer russischer Kriegsgefangenschaft in Bad Essen bei Osnabrück.3) Herbert Grundmann zog sich beim Kampf um Königsberg eine Verwundung zu, die es ihm ermöglichte, die untergehende Stadt mit Münster zu vertauschen, wohin er kurz zuvor berufen worden war.4) Dort lehrte seit 1942 sein ehemaliger Königsberger Kollege Kurt von Raumer, Schieders Habilitationsvater. Werner Markert weilte in Leipzig, doch die „meisten anderen Königsberger Kollegen sind in Holstein, und niemand weiß recht, wie ihnen zu helfen ist."5) Sie unterrichteten sich über ihre eigenen Schicksale und die der Kollegen, und sie sandten Briefe mit der Bitte um Lehraufträge und Professuren an die westdeutschen Universitäten, um die vorgezeichnete, doch so brüsk unterbrochene Lebensbahn wieder beschreiten zu können. Die Kollegen, die noch ihre Lehrstühle innehatten, halfen, soweit sie es vermochten.6)
I Die
Königsberg als Ausgangspunkt
1945 mehr gewesen als eine übliche verschiedenen Teilen des Reiches zusammenführte. Königsberg und Ostpreußen nahmen viele der dorthin berufenen Wissenschaftler auf eine ganz eigene Art ein. Die Landschaft fesselte sie ebenso wie die besondere politische Atmosphäre, die in dieser abgeschnittenen Provinz herrschte: Ostpreußen verstand sich als „Vorposten" des Reiches und des Abendlandes gegen den Osten. Hier, wo deutsche und andere Nationalitäten gemischt lebten, hatte die juristische Kategorie der „Staatsgrenze" sichtbar ihre Verbindlichkeit verloren. Mit Hilfe des Prinzips des „Selbstbestimmungsrechts der Völker" stellte Polen nach dem Ersten Weltkrieg Forderungen auf ostpreu-
Königsberger
Universität
Hochschule, die Kollegen
war vor
aus
nach Bayern ausgewiesen: Lebensläufe vom 10. 6. 1949, S. 4 (SFSt. PA Jantke), vom 4. 11. 54, S. 2, und vom 30. 11. 1956, S. 2 (beide StAH Nr. 2230). 3) Conze an Wittram vom 13. 11. 1944, 11. 1. 1945 (BAK N 1226/3, Zitat auf der zweiten Karte) und vom 1. 11. 45 (BAK N 1226/43). Vgl. auch Conzes Lebenslauf vom 10. 2. 1952 (UAMs Neue Univ. [Pressestelle] Pers.-Akt. Nr. 605). 4) Herbert Grundmann vom 1. 2. 1947 (UAL Nl Grundmann 100/3). 5) Grundmann an Peter Rassow vom 1.11. 1946 (UAL Nl Grundmann 100/10). 6) Darüber berichtet zusammenfassend Hermann Aubin in einem Brief an Siegfried A. Kaehler vom 10. 2. 1946 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,6b).
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Königsberg als Ausgangspunkt
ßisches Territorium an das Reich. Diese Ansprüche versuchten Königsberger Geisteswissenschaftler durch ihre Arbeit abzuwehren. Die Problematik der „östlichen Völkermischzone"7) wirkte aber auch attraktiv auf Teile des wissenschaftlichen Nachwuchses. Erich Maschke, Werner Markert, Theodor Schieder, Carl Jantke, Theodor Oberländer, Werner Conze (und andere, die uns hier weniger interessieren) gehörten der Jugendbewegung an und in Königsberg zum Teil der „Skuld", einer jener akademischen Gilden, die „eng mit dem völkisch-radikalen Spektrum der militanten Republikgegner verzahnt" waren.8) Die Genannten waren zwischen 1900 und 1910 geboren worden und rebellierten nach dem verlorenen Weltkrieg, in den Jahren der instabilen Weimarer Republik, in der Jugendbewegung gegen die ihrer Meinung nach alte, verkrustete Gesellschaft. Die Suche nach einer neuen Gemeinschaft trieb sie wie viele Angehörige der Jugendbewegung in den Osten, wo sie hofften, mit der Ordnung des „kolonialen Raum[es]"9) eine neue, stabile Gesellschaftsordnung entwerfen zu können. So fand sich in Königsberg ein Kreis zusammen, der nach dem Kriege auf denselben Erfahrungsschatz verweisen konnte, auf die Teilnahme an politischen Aktionen für die „deutsche Sache" und auf das überwältigende Erlebnis der ostpreußischen Landschaft, durch deren weite, einsame Wälder sie in Vollmondnächten geritten waren, was ihre Gefühle noch in der Bundesrepublik bestimmte.10) Maschke, Markert, Conze, Jantke, Schieder, Helmut Schelsky 1939 in Königsberg habilitiert und mit Jantke, seinem Studien- und Kriegskameraden Conze sowie dem Wiener Otto Brunner eng befreundet1 ') und die Älteren: Günther Ipsen, Herbert Grundmann, Hans Rothfels und Kurt von Raumer, die den jüngeren Kreisen nicht angehörten, sich ihnen aber verbunden fühlten und sie nach dem Kriege nicht vergaßen: Sie weilten nicht alle zur sel-
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7) Rothfels, Königsberg, S. 99. 8) Haar, „Revisionistische" Historiker und Jugendbewegung, S. 56 (Zitat ebd.); Ders., Historiker im Nationalsozialismus, S. 70-86; Gespräch mit Theodor Oberländer am 4. 8. 1997. Zu Oberländer siehe auch Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung, S. 92-96. Ausführlicher und differenzierter: Wachs, Der Fall Theodor Oberländer. 9) Rothfels, Königsberg, S. 98. 10) Gespräch mit Albrecht Conze am 4. 11. 1998. Carl Jantkes Hamburger Haus soll noch 1999 eine einzige Reminiszenz an Königsberg dargestellt haben (Gespräch mit Heilwig Gudehus am 30. 9. 1999). Und 1971 hieß es im „Schwäbischen Tagblatt" anläßlich einer Tagung: „In einem bestimmten Raum der Rothfelsschen Historik gab es jedenfalls so etwas wie ein Solidaritäts-Kartell wissenschaftlicher Landsmannschaftlichkeit [...]. Da war etwas von der Atmosphäre Rigaer Kloster-Gotik, wie sie Wittram später beschwor." (Schwäbisches Tagblatt vom 15. 4. 1971). u) Schelsky, Soziologie wie ich sie verstand und verstehe, S. 97f„ 107, Anm. 22. Schelsky soll sich Theodor Litt zufolge in Königsberg ausdrücklich zur Rassentheorie bekannt und an gewaltsamen Aktionen der Nationalsozialisten beteiligt haben: Schäfer, Wider die Inszenierung des Vergessens, S. 165, Anm. 44. -
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1.
Königsberg Göttingen -
ben Zeit in Königsberg, sie waren teilweise nur entfernt miteinander bekannt, doch nach dem Kriege gab der Bezugspunkt Königsberg ihrem Leben und ihrer Weltsicht eine bestimmte Richtung und einte sie nach 1945 locker und doch auf hinreichend stabile Art, um sie als weiteren Kreis zusammenfassend „Königsberger Gruppe" oder als engeren Kreis „Rothfels-Gruppe" nennen zu können jenes Netzwerk, das sich nach dem Kriege für die Durchsetzung der Sozialgeschichte als wichtig erweisen sollte. -
Das
Gruppe war Hans Rothfels.12) Rothfels, 1891 geboren, bildungsbürgerlichen Verhältnissen. 1914 meldete er sich voll nationaler Überzeugung als Kriegsfreiwilliger und verlor schon im ersten KriegsHaupt
dieser
stammte aus
november nach einem schweren Reitunfall ein Bein. Hermann Oncken promovierte ihn 1918, von 1920 bis 1926 gehörte er nach eigener Aussage zum engeren Kreis um Otto Hintze,13) 1924 habilitierte er sich bei Friedrich Meinecke, 1926 wurde er nach Königsberg berufen. Rothfels war stets ein politischer Historiker. Für ihn standen die Universitäten in einer symbiotischen Beziehung zum Staat, sie empfingen von ihm Impulse und gaben zurück. Die nationalpädagogische Ausrichtung der Wissenschaft, ihre Pflicht, zum Wohle der Nation beizutragen, betrachtete Rothfels geradezu als ihre Existenzberechtigung; nationales Denken und wissenschaftliche Erkenntnis konvergierten für ihn auf natürliche Weise im selben Punkt in der „Wahrheit". Deshalb empfand er seine wissenschaftliche Arbeit, die dem politischen Kampf gegen „Versailles" und gegen die Republik diente, in keiner Weise als tendenziös. Auch das wissenschaftliche Gebot strikter Quellentreue und sorgfältiger Faktenermittlung mußte er nicht so genau nehmen, weil ein Historiker seinem Verständnis nach die Nation nicht mit Sinn belieferte, indem er die Vergangenheit objektiv aus den Quellen darzustellen versuchte, sondern indem er die Quellen intellektuell bewältigte und in einer künstlerisch-literarischen Bearbeitung so formte, „daß die profane Materie im Scheine großartiger Interpretationen gleichsam zu fun-
l2)
Zu Rothfels: Eckel, Ansätze zu einer intellektuellen Biographie von Hans Rothfels 1919-1976 (Eckel arbeitet hervorragend heraus, wie Rothfels sein Geschichtsbild zirkulär aufbaute und zusätzlich durch einen parallelisierenden Rückgriff auf die fernere Vergangenheit absicherte); Petters, Hans Rothfels; Machtan, Hans Rothfels und die Anfänge der hi-
Sozialpolitikforschung in Deutschland, bes. S. 164-175, 184-186, 190-193; Neugebauer, Hans Rothfels (1891-1976) in seiner Zeit; Ders., Hans Rothfels Weg zur verstorischen
gleichenden
Geschichte
Ostmitteleuropas,
besonders im
Übergang von früher Neuzeit zur
Moderne; W.J. Mommsen, German Historiography during the Weimar Republic and the Emigre Historians, S. 48-52; Klemperer, Hans Rothfels; Unfug, Comment (er korrigiert die zu positive Sicht Klemperers); Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 86-105; Conze, Hans Rothfels, bes. S. 311-340; o.T [Gedenkrede auf Hans Rothfels] (UAT 131/472). >3) Hans Rothfels, Erinnerungen an Otto Hintze, Juli 1965 (BAK N 1213/36).
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kein begann."14) Es war die Haltung, die zählte, durch sie wurde die innere Wahrheit der Geschichte sichtbar. In Königsberg erkannte Rothfels rasch den Reiz der Stadt: die politische Herausforderung dieses „Vorpostens des Reiches" sowie das anregende Denken universitärer Kreise und der „Jungpreußischen Bewegung". Das empfand er als besonders fruchtbar, und er wandte sich verstärkt dem dringlich erscheinenden Raumordnungsproblem im Osten und der Abwehr von Polens territorialen Ansprüchen an Deutschland zu. Sein Lösungsansatz sah eine multi-ethnische Mitteleuropa-Konzeption vor, die sich am Habsburger-Reich und mehr noch an Bismarcks Ostpolitik orientierte, welche eine Föderation von Germasamt innen und Slawen mit liberaler Minderheitenpolitik angestrebt hatte nenpolitischer Befriedung durch eine solide Sozialpolitik. Allerdings dachte Rothfels sich diesen Staat als antiwestlich orientiert, als antibolschewistisches Bollwerk und wie eine patriarchalische Gutsherrschaft organisiert, in der die nicht-deutschstämmigen Ethnien den Deutschen untergeordnet waren. Den Machtantritt der Nationalsozialisten begrüßte er, weil er meinte, er ziele in dieselbe Richtung wie sie.15) Auch Rothfels ging wie so viele seiner Kollegen davon aus, daß das „neue Deutschland" das „Abendland" gegen „Asien", dieses „bedrohende Rätsel des Ostens",16) verteidigen werde.17) Rothfels stieg in Königsberg zu einem Idol der heranwachsenden jungkonservativen Historikergeneration auf. Er beteiligte sich an rechtsgerichteten studentischen Demonstrationen, was für einen Professor in der Weimarer Republik eine recht ungewöhnliche Form der Meinungsbekundung war und seinen Respekt bei den Studenten erhöhte. 1932 fand der 18. Historikertag in Göttingen statt. Rothfels trat, körperlich von seinem Einsatz für die Nation gezeichnet, ans Pult, die Kollegen, das Publikum, träumten noch von der Wiederherstellung Großdeutschlands unter Einschluß Österreichs und Rothfels entwarf ihnen seinen grandiosen Plan der multinationalen, föderativen Neuordnung von nicht weniger als ganz Mitteleuropa. Die Zuhörer waren überwältigt und -
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14) Machtan, Hans Rothfels und die Anfange der historischen Sozialpolitikforschung in Deutschland, S. 171. Diese Art national-pädagogischen Wissenschaftsverständnisses war allerdings nicht nur Rothfels eigen. 15) Ganz anders sieht das W.J. Mommsen, German Historiography during the Weimar Republic and the Emigré Historians, S. 52: „Rothfels was a strong opponent of National Socia-
lism from the start." 16) Zitiert nach Petters, Hans Rothfels, S. 57. 17) Übrigens war Rothfels in erster Linie immer Diplomatie- und Politikhistoriker; soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Fragen tauchen bei ihm nicht auf (Petters, Hans Rothfels, S. 27). Auch den .jüngsten Traditionen bzw. Erfordernissen deutscher Geschichtsbetrachtung, wie sie einem hier oben so dringend nahetreten", wandte er sich erst mit Beginn der dreißiger Jahre zu. Er versuchte, Volksgeschichte mit Politikgeschichte zu verbinden, doch vorrangig blieb ihm der Staat als ordnende und gestaltende Kraft (Machtan, Hans Rothfels und die Anfange der historischen Sozialpolitikforschung in Deutschland, S. 175,
185, 191).
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1.
Königsberg Göttingen -
verzichteten auf eine
endgültig
zur
Aussprache; für viele junge Historiker wurde Rothfels großen Hoffnung. Seine Wirkung auf den Nachwuchs war im-
Theodor Schieder stand im Bann seiner Persönlichkeit, Werner Conze und Erich Maschke waren seine Schüler, für sie war er ein Vorbild und wie sich besonders nach dem Kriege zeigen sollte geradezu eine Vaterfigur. Dennoch wurde er 1934, dekorierter Weltkriegsteilnehmer und längst getauft, als „Jude" von seinem Lehrstuhl vertrieben. Bis 1939 wurde er von Albrecht Brackmann gedeckt und im Preußischen Staatsarchiv beschäftigt, dann mußte er in letzter Minute, kurz vor Kriegsausbruch, wider Willen emigrieren. Seine Schüler hingegen blieben in Königsberg. Ihr akademischer Werdegang erfuhr keine Störung, weil sie politisch schon vor 1933 im rechten Lager standen und dann den Anschluß an den Nationalsozialismus reibungslos vollzogen.18) Im „Dritten Reich" begannen sie ohne Ausnahme erfolgreich ihre Karriere. Werner Conze etwa kam 1910 als Kind einer gemäßigt nationalliberalen Bürgerfamilie zur Welt und „kannte trotz Krieg und Inflation noch jenes Minimum an geistiger und ökonomischer Sekurität, in dem allein Bildung und Bürgerlichkeit gedeihen konnten."19) Er war überzeugter lutherischer Protestant und gehörte, wie Theodor Schieder, den er 1929 dort kennengelernt hatte,20) zur „Bündischen Jugend". Doch weder die Kunstgeschichte, mit der er sein Studium begann, noch die herkömmliche Politikgeschichte, zu der er nach kurzer Zeit wechselte, boten die Möglichkeit, Wissenschaft und Tat zu verbinden, d. h. wissenschaftlich ganz konkret zur Herstellung einer harmonischen, stabilen Gesellschaftsordnung beitragen zu können. Wie aber waren „.Einsamkeit und Freiheit' des Studierens und damit der Verzicht auf,Aktion' inmitten einer ,Entscheidungssituation'"21) zu verantworten? Fast hätte er auch sein Geschichtsstudium aufgegeben, da fand er 1931 auf der Suche nach einem anregenden Lehrer Hans Rothfels in Königsberg. Der überzeugte ihn „durch die Kraft seiner Persönlichkeit und das Ethos seiner wissenschaftlichen Verantwortung in der Spannung zwischen politischem Sich-Stellen und historischkritischer Unbedingtheit vom Wert und von den großen Möglichkeiten seines Faches."22) Rothfels wurde bestimmend für Conze. Er wies ihm die Richtung, unter seinem Einfluß begann er Slawistik zu studieren und sich mit osteuropäischer Geschichte zu befassen. Sein Lehrer habe ihn, so Conze, das Studium der Geschichte eigentlich erst beginnen lassen.23) 1934 schrieb er als letzter Doktorand von Rothfels seine Dissertation über mens.
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18) Haar, „Revisionistische" Historiker und Jugendbewegung, S. 53. 19) Koselleck, Werner Conze, S. 532. 20) Conze, Die Königsberger Jahre, S. 25. 21) Conze, Akademische Antrittsrede, S. 55 22) Ebd. (in der schönen Formulierung über Rothfels ist dessen Selbstverständnis und Praxis als politischer Historiker feinsinnig bezeichnet und gleichzeitig deutlich sichtbar verschleiert).
23) Vgl. ebd.; Conze an Rothfels vom 5. 4.
1951 (BAK N 1213/158).
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die Sprachinsel Hirschenhof das Reichserziehungsministerium führte ihn unter der Rubrik „Vblksgeschichte und Neuere Geschichte" -, dann folgte er Günther Ipsen als Assistent nach Wien. Er hatte Ipsen während seiner Promotion kennengelernt, an ihm interessierten ihn dessen „stets historisch gerichteten Bevölkerungs- und agrarsoziologischen Studien"24) sowie die Möglichkeit, im anregenden Grenzgebiet zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft lernen zu können. Er beabsichtigte freilich, Historiker zu bleiben. In Wien verlieh ihm am 14. 12. 1940 die Philosophische Fakultät für seine Arbeit über „Agrarverfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrußland" den Titel des „Dr. phil. habil.", ohne daß es Schwierigkeiten gegeben hätte. Dann aber überraschte er am Habilitationstag die Fakultät mit seinem Wunsch, die Lehrbefugnis für „Geschichte, insbesondere osteuropäische Geschichte" zu erhalten, was im Februar einstimmig abgelehnt wurde. Vielleicht fürchtete der Ordinarius für Osteuropäische Geschichte, Hans Koch, Konkurrenz, vielleicht hatte man wirklich nicht damit gerechnet, daß Ipsens Habilitand Historiker werden wollte. Jedenfalls befand man ihn wegen seiner soziologischen Habilitationsschrift für ungeeignet, das Fach Geschichte zu lehren. Kollege Ipsen habe Conze auf dieses Nebengleis geschoben, meinte Otto Brunner. Für „Volkslehre" hätte Wien ihn jederzeit genommen, aber Conze orientierte sich lieber nach dem deutschen Osten, nach Posen, wohin er 1944 auf Betreiben Reinhard Wittrams, den er während seiner Recherchen für die Hirschenhof-Arbeit in Riga kennengelernt hatte,25) auf ein Extraordinariat berufen wurde.26) Conze gehörte zu denjenigen Nachwuchshistorikern, die aufgrund ihrer politischen Interessen nach Ostpreußen gekommen waren und von den Karrieremöglichkeiten in der Ostforschung profitierten. Er war an den völkischen Raumordnungsplänen des Nationalsozialismus insoweit beteiligt, als er mit seiner Dissertation, seiner Habilitation und Berichten zur Lage in den Ostgebieten zur empirischen Fundierung dieser Pläne beitrug. In seinem Beitrag für den nicht zustande gekommenen Bukarester Soziologenkongreß von 1939 etwa beschäftigte er sich mit der polnischen Übervölkerung und empfahl en passant: „Parzellierung, Separation, Intensivierung der Wirtschaft, Industrialisierung, Entjudung der Städte und Marktflecken zur Aufnahme bäuerlichen Nachwuchses in Handel und Handwerk sind im einzelnen u.U. äusserst wirk-
24) Conze, Akademische Antrittsrede, S. 56. 25) Gespräch mit Gisela Conze am 21. 10. 2000. 26) Vgl. Ipsens Habil.-Gutachten vom 10. 10. 1940;
das Radiogramm Hans Kochs an die Phil. Fak. der Univ. Wien vom 26. 10. 1940; das Habilitationsdiplom vom 14. 12. 1940 (UAW Phil. DZ 1234-1938/39); Conze an die Phil. Fak. vom 14. 12. 1940; Phil. Fak. an Conze vom 24. 1. 1941; Protokoll der Phil. Fak., betr. Lehrbefugnis Conzes vom 13. 2. 1941 ; Phil. Fak. der Univ. Wien an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. Posen, Reinhard Wittram, vom 6. 1. 1942 (UAW Phil. DZ 1944-1939/40). Zu Ipsen, Conze und Arnold Gehlen in Wien vgl. Korotin, „Nach verschiedenen Zwischenfällen ist die Arbeit schließlich bei mir gelandet", bes. S. 262-276.
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sam und lindernd".27) Der Begriff „Entjudung" ist in seinen übrigen zugänglichen Schriften selten zu finden, war dies also das berühmte „sprachliche Zugeständnis" an die Zeit? Oder aber bestätigt die nüchterne Einordnung der „Entjudung" in eine Reihe weiterer Maßnahmen die These, daß Experten, die Juden eher indifferent gegenüberstanden, „Entjudung" als eine ganz normale technokratische Strategie neben anderen verstanden?28) Als Conze seine Professur an der Reichsuniversität Posen bekommen sollte, liefen im Hauptamt Wissenschaft kurze Gutachten und Briefe dazu ein. Er wurde als zuverlässiger Parteigenosse bezeichnet, der der SA seit dem 10. 3. 1933 und der Partei seit dem 1. 5. 1937 angehörte und gegen dessen Haltung keinerlei Einwände zu erheben seien. Man kannte ihn als Wissenschaftler, der nationalsozialistisch eingestellt und frontbewährt sei. Persönlich und charakterlich sei nur Gutes bekannt geworden (er sei fest, umgänglich und wissenschaftlich regsam).29) Er war Mitglied der „Deutschen Akademie" in der Abteilung „Deutsche Ost-Beziehungen", wurde hin und wieder für seine Arbeit finanziell gefördert, und der Ruf nach Posen spricht ebenfalls dafür, daß Conze dem Regime kaum negativ aufgefallen sein konnte. Die Reichsuniversitäten waren als zukünftige Eliteuniversitäten gedacht, die die Wissenschaft eindeutig in den Dienst des nationalsozialistischen Staates stellen sollten. Nur absolut zuverlässige Leute sollten berufen werden.30) Andererseits bestand Wittram nach dem Kriege darauf, daß sämtliche Berufungen, die er angeregt habe, ausdrücklich auch diejenige Conzes, „frei von partei-ideologischen Gesichtspunkten" bzw. sogar gegen solche gerichtet gewesen seien.31) Außerdem finden sich weder in den erwähnten Gutachten noch in den neuesten Untersuchungen über die Ostforschung Hinweise auf eine unmittelbare Beteiligung Conzes an den Umsiedlungsplanungen anders als etwa für Theodor Schieder. Eine Rezension über eine eindeutig rassepolitische Studie hat Conze 1940 in einem von Wertungen peinlichst freigehaltenen, referierenden Ton verfaßt.32) Hatte Theodor Oberländer also recht, als er meinte, Conze habe bloß seine Ruhe gesucht und forschen wollen?33) Al-
27) Conze, Die ländliche Übervölkerung in Polen, S. 48. 28) Vgl. Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, S. 102, 277-290; Aly/heim, Vordenker der Vernichtung, S. 14-16, 287-290, 485^t88, 491 f. 29) Vgl. den Briefwechsel mit dem Hauptamt Wissenschaft von Ende 1943 bis Februar 1944 (HZ MA 116/4). Der Einfluß des Hauptamtes Wissenschaft, auch Amt Rosenberg genannt, auf die akademische Wissenschaft, auch die Sozialwissenschaft, blieb minimal entgegen seinem Anspruch, die Wissenschaft nationalsozialistisch umzubauen. Für die Karrieren einzelner Wissenschaftler spielte es mit seinen Gutachten zur politisch-weltanschaulichen Zuverlässigkeit allerdings zuweilen eine wichtige Rolle; vgl. Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, S. 232-276. 30) Zur Reichsuniversität Posen: Camphausen, Die Reichsuniversität Posen 1941-1945. 31) Reinhard Wittram, Mein politischer Werdegang (datiert 21.4. 1946), S. 4 (UAG Rek. PA Wittram). 32) Conze, Rez. Zoch, Neuordnung im Osten. 33) Gespräch mit Theodor Oberländer am 4. 8. 1997. Für die Nachkriegszeit bestätigt Con-
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les in allem läßt dasjenige, was sich derzeit über ihn findet, nur das Bild eines Mitläufers erkennen, der zwar immer eine Rolle in der völkischen Wissenschaft gespielt hat, den aber Götz Aly und andere in ihren Fahndungsberichten nie wirklich als Haupttäter benennen können.34) Conze scheint sich entweder nie zu sehr für den Nationalsozialismus engagiert zu haben oder nur durch seinen Kriegsdienst und seine Verwundung an der Ostfront davor bewahrt worden sieht man davon ab, daß er, wie zu sein, sich zu stark engagieren zu können sein Lehrer Günther Ipsen, als überzeugter Soldat das „Dritte Reich" an vorderster Front verteidigte. Trotzdem konnte er sich wissenschaftlich schon so weit etablieren, daß ein Neuanfang nach dem Kriege nicht unmöglich war. Bei seinen Königsberger Kollegen ist das Verhältnis zum Nationalsozialismus dagegen eindeutig zu bestimmen. Über Erich Maschke hieß es 1942: „Besonders hervorzuheben ist hier sein Bemühen, in Anwendung unserer heutigen Gesichtspunkte an die mittelalterliche Geschichte heranzugehen. Er hat u.a. vor kurzem einen Vortrag über das ,Erbbild der Staufer' gehalten, in dem er versucht, erbbiologische Erkenntnisse für die Erforschung der Geschichte anzuwenden. [...] Politisch ist er einwandfrei. Er ist 1933 in die SA eingetreten und hält dort die Sturmschulung ab. Vom Amt Rosenberg wurde er öfter zur Mitarbeit herangezogen. Im Hauptschulungsamt hält er Vorträge über Ostsiedlung, deutscher Orden usw. Jetzt arbeitet er an dem Schulungsplan der Ordensburgen mit. Ihm ist seine wissenschaftliche Arbeit zugleich politischer Einsatz."35) Maschke wurde 1901 geboren, erlebte das letzte Jahr des Ersten Weltkrieges als Soldat und studierte nach einem Medizinstudium Geschichte, Geographie und Germanistik in Berlin und Königsberg. Auch er war in der Jugendbewegung, als Motiv nannte er die soziale Krise der Gesellschaft und die damals nicht unübliche Abscheu vor der Großstadt, in seinem Falle Berlin. -
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Sohn diese
Haltung als Charakterzug Conzes (Gespräch mit Albrecht Conze am 4.
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1998). Gisela Conze (Gespräch am 21. 10. 2000) berichtet, daß ihr Mann im Zuge eines kol-
lektiven Beitritts der Königsberger Wissenschaftler in die SA wie die NSDAP eingetreten war, sich aber seines Parteidienstes durch Cellospielen auf den Parteiveranstaltungen entledigt hatte. 34) Dieser Befund ergibt sich, wenn man die immer zahlreicheren Studien zur Vergangenheit der frühen Sozialhistoriker liest (vgl. vor allem Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung; Aly, Macht, Geist, Wahn; Ders., „Daß uns Blut zu Gold werde"; Haar, Historiker im Nationalsozialismus; Fahlbusch, Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik?; ist, ist Deutschland!"). Außerdem hat mir Mathias Beer mitDers., „Wo der Deutsche geteilt, daß Conze in den Akten zur Zentralstelle für Nachkriegsgeschichte, dessen Königsberger Abteilung sein Freund Schieder leitete, nicht auftaucht (abgesehen von der Planung einer Geschichte Masowiens). 1934 fand ein Treffen der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft statt, an dem neben Aubin, Schieder, Maschke und Oberländer auch der noch junge Conze teilnahm. Es ist kein Wortbeitrag von ihm protokolliert. Er ist nicht aufgefallen, nach dem Kriege erinnerte sich z. B. Aubin nicht an ihn. 35) Gutachten des NS-Dozentenbundes vom 28. 2. 1942 (IfZ MA 116/10). Es gab auch negative Gutachten über Maschke, vor denen allerdings selbst treue Nationalsozialisten nicht verschont blieben. ...
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Auch für ihn war Hans Rothfels ein Vorbild und Königsberg, wo er 1927 promoviert wurde, ein anregender Ort. 1929 habilitierte er sich für Mittlere und Neuere Geschichte, 1934 bekam er den Professorentitel, 1935/37 und 1942 folgten Rufe auf Ordinariate an die „als Hort der NS-Studentenbewegung bekannte Universität"36) Jena Siegfried A. Kaehler bescheinigte ihm dort, er sei „wissenschaftlich und sonst wohl ein recht ernst zu nehmender Mann von jugendlichem Tatendrang (35 Lenze)"37) und an die Universität Leipzig, wo er als NS-Dozentenführer fungierte.38) In Leipzig wurde er dann 1945 von den Russen verhaftet und saß bis 1953 in Gefangenschaft. Seine Kollegen hatten sich zwar um seine Freilassung bemüht, und die Zunft sie sei keine Gewerkschaft, aber sie kümmere sich um ihre Mitglieder, schrieb ihm Hermann Aubin begrüßte seine Rückkehr und bot ihre Hilfe an.39) Doch eine Mittelalter-Professur wollte man ihm wegen seiner politischen Belastungen nicht mehr ge-
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ben.40)
Carl Jantke „wurde am 21. September 1909 als Sohn des Direktors der Schichtbauwerke Max Jantke in Elbing/Westpr. geboren."41) Er studierte bei Hans Freyer, Günther Ipsen, Alfred Weber, Carl Brinkmann und Arnold Bergstraesser Sozialwissenschaften und Nationalökonomie; Freyer machte ihn mit der „Deutschen Soziologie" näher bekannt, Otto Hintzes Werk verdankte er den „Blick auf die methodischen Probleme der neueren Sozialgeschichte".42) Bis Bergstraesser in die Emigration getrieben wurde, war Jantke dessen Assistent in Heidelberg, und er sah sich, ,,[o]bwohl Parteimitglied",43) als Opfer des „Falles Bergstraesser".44) Der Heidelberger Studentenführer Gustav Adolf
36) Volkmann, Von Johannes Haller zu Reinhard Wittram, S. 45. 37) Kaehler an Hermann Aubin vom 23. 12. 1935 (in: Kaehler, Briefe 1900-1963, S. 258). 38) Anschriftenliste Nr. 1 d. NSD.-Dozentenbundes. Stand 25. 10. 1944, S. 9 (BA Research
[ehem. BDC], O 847). Zum Lebenslauf: Maschke, Curriculum vitae, 18. XI. 1961; resp. ders., Lebenslauf (HStAS J 40/10 Nr. 19 resp. 98); Ders., Begegnungen mit der Geschichte (der Volksbegriff, der in Königsberg benutzt wurde, soll laut Maschke ein rein menschlicher gewesen sein, ohne jeden politischen Inhalt; ebd., S. X). 39) Das tat seiner Seele wohl; vgl. Ritter an Maschke vom 6.10.und 22. 10. 1953; Maschke an Ritter vom 17.10. und 26. 11. 1953 (BAK N 1166/341); Aubin an Maschke vom 4. 11. 1953; Maschke an Aubin vom 26. 11. 1953 (AVHD). Percy Ernst Schramm hatte in einem
Rundschreiben an die Historischen Seminare und Archive vom 26. 10. 1953 dazu aufgefordert, Maschke „Sonderdrucke unserer seit 1945 erschienenen Arbeiten zu senden, mit denen er bald wieder den Anschluß an den Stand der Forschung gewinnt" (BAK N 1188/88). 40) Gespräch mit Heinz Gollwitzer am 2. 12. 1997. Eine einschlägige Arbeitsprobe Maschkes aus der Zeit vor 1945: Maschke, Das mittelalterliche Deutschtum in Polen. Zu Maschke siehe Biskup, Erich Maschke; Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 55-59, 136f., 199f. und nunmehr Nickel, Der Historiker Erich Maschke. 41) Jantke, Lebenslauf vom 4. 11. 1954, S. 1 (StAH Nr. 2230). 42) Ebd. 43) Jantke, Lebenslauf vom 10. 6. 1949, S. 2 (SFSt. PA Jantke). Von der Parteimitgliedschaft ist in den Lebensläufen von 1954 und 1956 (StAH Nr. 2230) nicht mehr die Rede.
**) Zu Bergstraesser, der nicht gerne aus dem nationalsozialistischen Deutschland emigrierte: Klingemann, Das „Institut für Sozial- und Staatswissenschaften" an der Universität
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Scheel erklärte ihn für politisch unzuverlässig, Jantke „emigrierte" nach Königsberg, wo er Oberassistent im Staatswissenschaftlichen Institut wurde.45) Eine solche „Unzuverlässigkeit" bedeutet allerdings wenig. Jantke war nur sieben Monate nach seiner Volljährigkeit in die NSDAP eingetreten (zum 1. 4. 1931), er hatte politische Tätigkeiten in der HJ, dem NS-Studentenbund und in der SA aufzuweisen, außerdem wurde er in Königsberg Dozentenführer (und Scheel als Reichsdozentenführer sein Vorgesetzter in diesem Amte).46) Der „Fall Bergstraesser" dürfte nicht so entlastend für Jantke zu werten sein, wie er später zu suggerieren versuchte, denn in die Schußlinie von Konkurrenten, die mit Hilfe des Regimes Rechnungen zu begleichen versuchten, geriet man leicht. Theodor Oberländer, Max Hildebert Boehm und Günther Ipsen sind nur drei prominente Namen, denen andere „Unzuverlässigkeit" anzuhängen versuchten, obwohl sie gewiß nicht als Gegner des Nationalsozialismus angesehen werden können.47) 1939 wurde Jantke denn auch mit einer Arbeit über die Geschichte des neueren Staatsgedankens habilitiert, wobei die „in den grundsätzlichen Teilen der Arbeit enthaltenen Elemente politischer Zeitkritik [...] aus naheliegenden Gründen bei der Veröffentlichung der Arbeit fortgelassen worden" sind.48) Das Originalmanuskript ist verloren, die angeblichen kritischen Elemente verhinderten nicht, daß er 1940 zum Dozenten ernannt wurde. Er bekam nicht viel Zeit zu lehren u. a. bot er eine Vorlesung zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte an -, weil er seine Einberufung an die Ostfront erhielt. Anschließend folgten, wie erwähnt, die Reise nach Vorarlberg, wo er im April 1945 beim Vblkssturm diente, dann die Ausweisung nach Bayern. Seit 1946 lebte er in Frankfurt am Main, wo auch er sich an ersten Maßnahmen zur geistigen Bewahrung Ostpreußens beteiligte (er sammelte im Auftrage eines ehemaligen Königsberger Verlages Landschafts- und Städtebeschreibungen Ost-
zum Ende der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus, bes. S. 87-91; Rupp/Noetzel, Macht, Freiheit, Demokratie, S. 121-136; Blomert, Intellektuelle im Aufbruch, S. 301-328 (Blomert interpretiert den Fall Bergstraessers weniger eindeutig als Klingemann). «) Jantke, Lebenslauf vom 4. 11. 1954, S. 1; ders., Lebenslauf vom 30. 11. 1956 (StAH Nr. 2230); ders., Lebenslauf vom 10. 6. 1949 (SFSt. PA Jantke). 4f>) BA NSDAP-Mitgliederkartei (ehem. BDC), Jantke, Carl, 21.9.09; Meldebogen der Reichsdozentenführung/NSD-Dozentenbund vom 1. 10. 1938 (BA REM [ehem. BDC], PK, Jantke, Carl, 21.9.09); Anschriftenliste Nr. 1 d. NSD.-Dozentenbundes. Stand 25. 10. 1944, S. 9 (BA Research [ehem. BDC], O 847). Scheel war in Hitlers Testament als Reichskulturminister vorgesehen, im Januar 1953 gehörte er zu den im Zuge der Naumann-Affäre Verhafteten (Frei, Vergangenheitspolitik, S. 361). 47) Vgl. Die Dienststelle des Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafters des Deutschen Reiches, ihre Mitarbeiter und politischen Auswirkungen, S. 10, 24, 29f. (BA Research [ehem. BDC], SL 10); Amt Wehrmachtsschulung an Hauptamt Wissenschaft vom 25. 2. 1944 und Antwort vom 2. 3. 1944 (IfZ MA 116/6). Die Vorwürfe lauteten auf mit der Parteilinie nicht (ganz) konforme Weltanschauung (bei Ipsen sogar auf .Judenfreundlichkeit"), außerdem erschien die Zugehörigkeit zum Kreise Hans Freyers bedenklich. 48) Jantke, Lebenslauf vom 10. 6. 1949, S. 2f. (SFSt. PA Jantke).
Heidelberg
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1.
Königsberg Göttingen -
preußens) und am Soziographischen Institut arbeitete.
1948 amnestierte ihn der
öffentliche Kläger.49) Theodor Schieders Nähe zum Nationalsozialismus und seine Beteiligung an der nationalsozialistischen Ostpolitik wird seit einiger Zeit genauer untersucht, besonders seine Mitarbeit am „Generalplan Ost". Deshalb erwähne ich nur kurz, daß er einer derjenigen Historiker war, die eine radikale Volkstumspolitik unterstützten. Diese Historiker hatten die Tradition der durchaus ambivalenten preußischen Polenpolitik zugunsten einer großangelegten Enteignungs- und Vertreibungspolitik, wie sie von SS und Reichssicherheitshauptamt verfolgt wurde, aufgegeben, und sie versuchten, die Blaupause für diese Politik zu liefern. Schieder, der als Leiter der „Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte" in das Netzwerk der Ostforschung eingebunden war, wurde herangezogen, um den Entwurf zum Generalplan zu verfassen.50) Er war Jahrgang 1908, stammte aus einer bedeutenden protestantischen bildungsbürgerlichen Familie in Augsburg, studierte in München und Berlin und wurde 1933 von Karl Alexander von Müller promoviert. Von Müller war einer der linientreuen Nationalsozialisten unter den Historikern und förderte Schieders Werdegang aus dem Hintergrund.51) Schieder war mit Werner Conze eng befreundet, und er zeigte sich, als er nach Königsberg kam, tief beeindruckt von Hans Rothfels, der auch für ihn zu einer Art Vaterfigur wurde.52) Von Rothfels wollte Schieder sich habilitieren lassen, doch nach dessen Vertreibung legte er seine Arbeit Kurt von Raumer vor, ebenfalls ein Schüler von Müllers und Nationalsozialist. Von Raumer war 1939 auf Rothfels' früheren Lehrstuhl berufen worden; als er 1942 nach Münster ging, folgte ihm Theodor Schieder, der zwischendurch Kleo Pleyers Professur in Innsbruck vertreten hatte, auf entschiedenes Betreiben Herbert Grundmanns als Nachfolger.53) Schieder zählte „zu den positivsten Kräften unter dem jungen Nachwuchs"54) und hatte „Dank
49) Vgl.
die drei Lebensläufe (wie Anm. 45) und den Amnestieschein (SFSt. PA Jantke). Die Amnestie erwähnte er in seinen Lebensläufen übrigens nicht, nur in einem Brief vom 26. 4. 1949 an Otto Neuloh, den Chef der Sozialforschungsstelle Dortmund, in dem er sich „politisch" als Mitläufer, außerdem amnestiert, bezeichnete (SFSt. PA Jantke; die Anführungszeichen hat Jantke verwendet). 50) Zum „Generalplan Ost" und Schieders NS-Engagement Ebbinghaus/Roth, Vorläufer des „Generalplans Ost"; Aly, Macht, Geist, Wahn, S. 172-182; Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 55, 165, 176. Zu Schieders Weltsicht und methodischem Ansatz in den dreißiger Jahren Rüsen, Continuity, Innovation, and Self-Reflection in Late Historicism, S. 362-369. 51) Freundlicher Hinweis von Wolfgang Weber, Augsburg. 52) Das geht aus verschiedenen Texten und Briefen der Nachkriegszeit hervor: z.B. Schieder, Hans Rothfels zum 70. Geburtstag am 12. April 1961; Schieder an Rothfels vom 3. 1. 1954, 10. 4. 1966 und vom April 1973 (BAK N 1213/1, 169, 172). 53) Grundmann an Hans Schaefer vom 11.5. 1948, S. 3 (UAL Nl Grundmann 100/11). 54) Hauptamt Wissenschaft an die Parteikanzlei vom 3. 12. 1942, betreffend Schieders Ernennung zum Ordinarius in Königsberg (IfZ MA 116/14).
I
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Königsberg als Ausgangspunkt
der erfreulichen Breite seiner sozial- und geistesgeschichtlichen Basis [...] ein methodisch sicheres und politisch klares Verständnis für die Vielfalt der Wurzeln der Reichsrealität und der politischen Gegenwartsbeziehungen gewonnen".55) Grundmann, der sich bestens mit ihm verstand, fand ihn „tatkräftig, politisch entschieden, aber nicht übertrieben".56) 1943 wurde Schieder zum Dekan der Philosophischen Fakultät ernannt, gegen Ende des Krieges floh er, wie vermerkt, nach Dietmannsried. Noch im März 1945 kreisten seine Gedanken um den geliebten Osten,57) doch im Mai mußte er einsehen, daß auf Rückkehr keine Hoffnung mehr bestand. Mit Hilfe des Königsberger Kurators Friedrich Hoffmann setzte er die Befreiung von Teilen seiner Vergangenheit in
Gang.58)
Werner Markert wurde 1905 in Leipzig geboren, auch seine Eltern, eine Juristenfamilie, gehörten dem gehobenen Bürgertum an, auch er kam über die Jugendbewegung in den Osten. Er studierte Slawistik, Soziologie und Geschichte in Leipzig, Heidelberg und Hamburg, u.a. bei Hans Frey er, Arnold Bergstraesser und Alfred Weber. Die Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus prägte seine Arbeit, 1931 wurde er mit einer „politischen Soziologie von Rußland" promoviert. Wenn man der mustergültigen Hagiographie Gotthold Rhodes folgt,59) dann hat es sich Markert im „Dritten Reich" nicht dadurch leicht gemacht, daß er wie andere Kollegen in die innere oder äußere Emigration abtauchte, sondern er nahm die Prüfungen und Entsagungen auf sich, welche die politische Entwicklung allen auferlegte, die für amtliche Tätigkeiten in Frage kamen. Otto Hoetzsch holte Markert 1934 als Generalsekretär in die „Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas" nach Berlin, Markert sollte sich dort nebenbei habilitieren. 1935 jedoch wurde Hoetzsch amtsenthoben, man warf ihm vor, der Sowjetunion zu versöhnlich gegenüberzustehen.60) Statt nun von Hoetzsch abzurücken, um die eigene Karriere zu retten, so Rhode, hielt Markert diesem die Treue. Eine neue, große Aufgabe wuchs ihm durch
55) Nachgereichtes Gutachten des Hauptamtes Wissenschaft vom 23. 1. 1943 (IfZ MA 116/14). Als einziges Manko machte der Gutachter „eine gewisse romantische Vorliebe für Ordnungen als solche und gelegentlich eine Überschätzung von Dekreten und Institutionen" aus, „die sein [Schieders] Verständnis für Macht, Tat und Wagnis einzuengen" drohten (S. 2).
56)
Grundmann
an
Peter Rassow
vom
10. 7. 1944
(UAL
Nl Grundmann
[Bf. Königsberg]
99). 57) Er
machte sich Gedanken um seine Mitarbeit an einer Untersuchung über die „Führungsauslese in der deutschen Geschichte", zu der Wittram ihn vor Abbruch der Verbindung nach Posen um Mitarbeit gebeten hatte: „Oder stehen Sie in einem dringenderen Forschungseinsatz für den Osten, um den doch alle unsere Gedanken kreisen?" (Schieder an
Wittram
vom
9. 3. 1945 [BAK N 1226/3]).
58) Vgl. Aly, Macht, Geist, Wahn, S. 156 f. 59) Vgl. den Nekrolog Rhodes: Gedenkrede 3. 12. 1965 (UAT 131/343). 60) Zu Hoetzsch: Burleigh,
für Werner Markert
am
Germany Turns Eastwards, S. 13-39, bes.
60.
Geburtstag,
S. 33.
dem
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1.
Königsberg Göttingen -
Hoetzsch' Abgang zu, nämlich die Abfassung eines monatlichen Berichtes über alle Länder Osteuropas, 250 bis 300 Druckseiten, mit denen er, ,,[f]rei von Vorurteilen und allen Schlagworten der Zeit [...,] ein Musterbeispiel sauberer Zeitchronik und sachlicher Analyse"61) geboten haben soll. Für die Habilitation blieb keine Zeit, im Krieg war er Soldat und im Sommer 1945 fand auch er sich in der Provinz wieder, in Stolzenau an der Weser. Markert war ein entschiedener Nationalsozialist. Von Vorurteilslosigkeit findet sich keine Spur. Er war NSDAP-Mitglied, seit dem Sommer 1933 in der SA, politischer Ausbilder für den Sturmbann HIV 106 und als Offizier der SS für die Plünderung osteuropäischer Bibliotheken verantwortlich. Außer von Reinhard Wittram sollen von keinem anderen Osteuropahistoriker derart weitgehende Einlassungen zugunsten des Regimes überliefert sein.62) Aber selbst Markert wurde 1945 nicht zur Rechenschaft gezogen. Eine ganze Reihe weiterer Königsberger Akteure haben mit unserem Thema weniger zu tun, so etwa Hans Linde, Rudolph Craemer, der mit Conze und Schieder eng befreundet und Schüler Rothfels' war, oder Helmut Haufe. Sie alle waren, wie die schon vorher Genannten, Experten, die in der Ostforschung ihren Beruf gefunden hatten, und sie standen dem Nationalsozialismus mehr als nur nahe. Sie alle waren in die komplexen Netzwerke der Ostforschung bzw. der Volksgeschichte63) verflochten und an der rassischen Raumordnungspolitik des Nationalsozialismus beteiligt dazu kamen die Nicht-Königsberger Reinhard Wittram, Otto Brunner, Hermann Aubin und andere, auf die ich fallweise zu sprechen kommen werde. Alle standen in enger Verbindung miteinander, so gut wie alle kamen nach 1945 mehr oder weniger problemlos erneut in der Wissenschaft unter, und zwar mit Hilfe der effektiven personellen Netzwerke, die ursprünglich für die Belange der Ostforschung aufgebaut worden -
61
) Gotthold Rhode, Gedenkrede für Werner Markert am 60. Geburtstag, dem 3. 12. 1965, S. 6 (UAT 131/343). 62) Oberländer, Historische Osteuropaforschung im Dritten Reich, S. 21. Zu Markert im „Dritten Reich" vgl. ebd., S. 20f., 23; Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 36f.; Camphausen, Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich 1933-1945, S. 166-172. 63) Die frühe Sozialgeschichte wurzelte personell und methodisch in der „Volksgeschichte", jenem ambitionierten Projekt der Zwischenkriegs- und Kriegszeit, das Historiker, Raumfor-
scher, Soziologen, Archäologen, Geographen, Wirtschaftswissenschaftler, Linguisten und Volkskundler in dem Bemühen zusammenführte, das Territorium und die Gesellschaft der
deutschen Nation mit Hilfe moderner historisch-soziologischer Untersuchungen zu stabilisieren, gegen territoriale Ansprüche der Nachbarn zu verteidigen und schließlich bis weit in den Osten auszudehnen. Die Volkshistoriker richteten ihren Blick vom Staat, den Eliten und der Politik auf sämtliche Kulturproduktionen des „Volkes" und die Wechselwirkung mit dem von ihm geprägten Kulturraum. Sie begannen, ihre empirische Arbeit mit Hilfe von Theorien zu leiten, und verbanden besonders die Historiographie mit der Soziologie in erstaunlichem Ausmaß. Ausführlich dazu: Oberkrome, Volksgeschichte.
II Die deutsche
Unvorhergesehen erwiesen sich diese nun Reetablierung ihrer Mitglieder im Westen. waren.
II Die deutsche
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Ostforschung
als höchst nützlich für eine
Ostforschung
Die Netzwerke der Ostforschung64) sind für die Zeit vor Kriegsende bis in ihre kleinsten Verästelungen schwer zu überblicken. Sie bestanden aus verschiedenen Instituten, Arbeitskreisen, Wissenschaftlergruppen oder halbamtlichen Dienststellen, teilweise an Universitäten angebunden, teilweise staatlich gefördert, teilweise im Archivwesen situiert, zum guten Teil mit der lokalen Volkstumspolitik liiert, die oft ein Scharnier zwischen Politik und Wissenschaft darstellte. Die einzelnen Gruppen konkurrierten zwar miteinander um Einfluß auf die Politik, um Forschungsmittel und um Reputation, und sie hatten ihr Forschungsgebiet, den Osten, in claims aufgeteilt, die sie eifersüchtig gegen die Nachbarn zu behaupten suchten. Doch daß man sich in Fraktionen zerspaltete (die man in anderer Form erneut in der Bundesrepublik ausmachen kann), hieß nicht, daß man sich nicht eines übergeordneten Zusammenhanges bewußt gewenn auch nach 1945 wesen wäre, und der war ein doppelter: einmal die nicht ganz problemlose Zugehörigkeit zur scientific community der Historiker insgesamt, zum andern die Zugehörigkeit zur scientific community der Ostforscher. Diese Zugehörigkeiten schufen Verbindungen über Konkurrenzverhältnisse hinweg, und in dieses Geflecht waren die Königsberger zu ihrem Vorteil eingebunden. Die Angehörigen der Ostforschung arbeiteten an derselben Sache, im selben Bewußtsein, das man in besonderer Reinheit in den Arbeiten von Hermann Au-
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M) Vgl. Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung; Aly, Erwiderung auf Dan Diner; Beer, Die Landesstelle Schlesien für Nachkriegsgeschichte 1934 bis 1945; Burleigh, Germany Turns Eastwards; Ebbinghaus/Roth, Vorläufer des „Generalplans Ost"; Fahlbusch, Wissenschaft
im Dienste der nationalsozialistischen Politik?; Ders., „Wo der deutsche ist, ist Deutschland!"; Haar, Historiker im Nationalsozialismus; Hackmann, Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht, S. 169-210, 242-256; Jacobeit u.a., Völkische Wissenschaft; Melton, From Folk History to Structural History, S. 280-286; Oberkrome, Volksgeschichte; Ders., Reformansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit; Ders., Geschichte, Volk und Theorie; Ders., Historiker im „Dritten Reich"; Oberländer, Historische Osteuropaforschung im Dritten Reich; Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum"; Volkmann, Von Johannes Haller zu Reinhard Wittram. Eine frühe und sehr deutlich kritische Bestandsaufnahme der Ostforschung lieferte 1966 ohne Resonanz zu erfahren Philipp, Nationalsozialismus und Ostwissenschaften (Werner Philipp war vor 1941 selbst kurze Zeit Dozent in Königsberg; vgl. Oberländer, Historische Osteuropaforschung im Dritten Reich, S. 13f.). Vgl. auch Camphausen, Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich 1933-1945 (die historische /?«/?/an¿forschung konnte laut Camphausen ihre Integrität deshalb halbwegs wahren, weil sich die Nationalsozialisten wenig für sie interessierten; vgl. S. 397-399); Voigt, Rußland in der deutschen Geschichtsschreibung 1843-1945, S.234-315. ...
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Königsberg Göttingen -
bin65)
ablesen kann. 1885 geboren, widmete er sich in Bonn der rheinischen Landeskunde, der „Westforschung".66) Seit 1929 Ordinarius in Breslau, einer weiteren „Frontuniversität", übertrug er die am Rheinland entwickelten Methoden auf den Osten um die „ethnischen Probleme" dort zu lösen, wie er 1930 schrieb.67) Vor 1945 sah seine Problemsicht dabei wie folgt aus: Seit dem Mittelalter stand „Asien" gegen das „Abendland"; die deutsche Ostgrenze, eine im Vorrücken erstarrte Front, markierte zugleich die Ostgrenze des Abendlandes. Ihr Ausbau war über Jahrhunderte hinweg universal-okzidentale Angelegenheit. Für Aubin hatten Staats- und Volksgebiet übereinzustimmen, für die Reichsgrenze verlangte er moderne staatsrechtliche Qualitäten: „Das Lehnswesen" versucht, „den eindeutigen Charakter der Reichsgrenze zu erweichen und zu durchbrechen", die „einst einheitliche und klare Westgrenze ist völlig zersetzt, zerfetzt und aufgelöst." Nirgends ist „die Gleichung des Staats- und Volksgebietes so unvollkommen wie an unserer Ostfront".68) Deutsches Reich, das Abendland oder Frankreich beschrieb Aubin jeweils als klare Einheiten mit einheitlichem machtstaatlichen und kulturellen Willen und entsprechend zentralisierten politischen Handlungen. Kulturen läßt er vor unseren Augen als handelnde Personen auftreten, sie stehen sich gegenüber und versuchen sich zu beeinflussen, oder sie stehen als Erben bereit, um einer siechen Kultur frisches Blut zu injizieren. Eine Kultur kann Verantwortung für die Welt tragen und ihr gerecht werden, sich ihr entziehen oder versagen, und die dauerhafte Leistung der germanischen Kultur sei es gewesen, die Antike wiederbelebt und seine Nachbarvölker in Ost und West kulturell gehoben zu haben. Die Essenz dieses Denkens und dieses Mittelalterbildes ist mit den Begriffen Sittenreinheit, Ordnung, Perfektion und Eindeutigkeit genau charakterisiert.69) -
65) Apologetisch zu Aubin: Grundmann, Hermann Aubin; Rhode/kuhn, Hermann Aubin und die Geschichte des deutschen und europäischen Ostens. Dagegen kritisch: Burleigh, Germany turns Eastwards, S. 302-307, 314f.; Raeff, Some Observations on the Work of
Hermann Aubin; E. Melton, Comment (Melton hebt besonders auf die steril-eindimensionale Denkweise Aubins ab, von der man im Gegensatz zu Brunners Arbeiten nichts lernen könne. Seine Nachfolger hätten sich kaum noch mit ihm auseinandergesetzt). 66) Vgl. Dietz, Die interdisziplinäre „Westforschung" der Weimarer Republik und NS-Zeit als Gegenstand der Wissenschafts- und Zeitgeschichte; Schüttler, Die historische „Westforschung" zwischen „Abwehrkampf' und territorialer Offensive. 67) Aubin, Wege kulturgeschichtlicher Erforschung des deutschen Ostens, S. 49. 68) Aubin, die Ostgrenze des alten Deutschen Reiches, S. 68-70. 69) Vgl. Aubin, Der Anteil der Germanen am Wiederaufbau des Abendlandes nach der Völkerwanderung; Ders., Die Ostgrenze des alten Deutschen Reiches; Ders., Zur Frage der historischen Kontinuität im Allgemeinen; Ders., Aufgaben und Wege der geschichtlichen Landeskunde; Ders., Das erste Deutsche Reich als Versuch einer europäischen Staatsgestaltung; Ders., Die geschichtliche Stellung der ostdeutschen Wirtschaft; Ders., Staat und Nation an der deutschen Westgrenze; Ders., Wege kulturgeschichtlicher Erforschung des deutschen Ostens; Ders., Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung. Seine Gedanken finden sich ebenso ungeschminkt in seinem Eröffnungsreferat zur 8. Mitgliederversammlung des -
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II Die deutsche
Ostforschung
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In der Bundesrepublik ließ Aubin seine zwischen 1925 und 1944 entstandeTexte erneut drucken. Er bereinigte sie um die direkt nationalsozialistischen Bezüge,70) zeigte im ganzen aber der Öffentlichkeit ungerührt, daß er nach 1945 genauso dachte wie vorher. Seine Geschichte blieb einfach: Asien steht gegen das Abendland, dazwischen liegt Ostmitteleuropa, „Zwischeneuropa", ohne eigene Geschichte, als „Sonderraum", bloß Zone der Überschneidung „zwischen der abendländischen Welt und dem ihr im tiefsten Grunde wesensfremden Osten".71) Kulturell ist „Zwischeneuropa" seit dem Mittelalter durch Deutschland aufgebaut worden, aber seine Entwicklung war „nicht über das Maß von Großstämmen hinausgediehen".72) Die „undeutschen Nachbarn", die „Eingeborenen",73) lehnten sich „gegen die geschichtlich erwachsene Stellung des Deutschtums"74) auf, und der Raum fiel der „Balkanisierung" anheim. Schließlich ruinierte Hitler in seiner Maßlosigkeit das große Werk, „diesen Grenzwall des Abendlandes gegen das bolschewistische Rußland fest zu machen", Rußland „brach tief in den deutschen Kern Mitteleuropas ein."75) Eine derartige Kontinuität der Weltsicht zeichnete die gesamte Ostforschung aus.76) Seit der Zwischenkriegszeit diente sie dazu, politische Ordnungskonzepte wissenschaftlich zu untermauern. Ihre Mitglieder waren in die rassistinen
Herder-Forschungsrates: Niederschrift der 8. Mitgliederversammlung des Herder-Forschungsrates am 1. 5. 1953, S. 2-5 (BAK N 1188/264). 70) Vgl. den Briefwechsel mit Franz Petri (1965) zur Herausgabe der Aufsatzsammlung „Grundlagen und Perspektiven geschichtlicher Kulturraumforschung und Kulturmorphologie" (BAK N 1179/17). Aubin verwendete nicht die damals übliche Formel, daß die Arbeiten „neuen Erkenntnissen der Forschung" angepaßt worden seien. Möglicherweise reklamierte auch er für sich die in weiten Bevölkerungskreisen erprobte Denkfigur, daß der „Zeitgeist" eben Anpassungen erzwinge, gegen die man sich nicht wehren könne: „Wir haben dann vor der Neuveröffentlichung einzelne Stellen den heutigen Verhältnissen entsprechend geändert." (Ingeborg von Klocke [über einschlägige Texte ihres Mannes] an Aubin vom 17.3. 1966 [BAK N 1179/12]). Aubin, An einem neuen Anfang der Ostforschung, S. 7. Ebd., S. 6. Aubin, Die Deutschen in der Geschichte des Ostens, S. 793, 776. Aubin, An einem neuen Anfang der Ostforschung, S. 8. Ebd., S. 11. Vgl. z.B. Helbig, Deutsche Siedlungsforschung; Ders., Deutsche Siedlungsforschung, 2. Bericht; Ders., Deutsche Siedlungsforschung, 3. Bericht; Schlenger, Forschungsprobleme der modernen Siedlungsgeschichte, S. 42f.; Ders., Rez. Der deutsche Osten und das
71) 72) 73) 74) 75) 76)
Abendland. Helbig setzte seinen Literaturbericht zur Siedlungsforschung, dessen ersten Teil er 1944 abgeliefert hatte, 1951 völlig nüchtern fort und stellte Arbeiten aus der Zeit von vor 1945 vor, im selben Ton wie 1944. Er sprach vom ,,germanische[n] Charakter des rheinischen Frühmittelalters" (Helbig, Deutsche Siedlungsforschung, 2. Bericht, S. 116), davon, daß Nordfrankreich und Wallonien bis an Seine und Loire germanisch geprägt seien, daß romanische Namen die germanische Kultur bloß überlagert hätten und dergleichen mehr. Schlenger wollte im selben Jahr die Siedlungsforscher wieder in die Nachbarländer schikken, damit die Aufdeckung germanischen Kulturbodens nicht spekulativ, sondern durch Feld- und Archivarbeit gesichert werde.
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sehe Großraumpolitik des „Dritten Reiches" involviert, doch nach 1945 fühlten sie sich in der ,,grosse[n] ruhige[n] Sicherheit des guten Gewissens" geborgen, weil ihre Wissenschaft ohne wirkliche Verbindung zum Faschismus geblieben sei. Der habe im Gegenteil „in die Maske des Nationalen gekleidet" ihre wertvolle Arbeit auf das Äußerste gefährdet.77) Dementsprechend erklärte Aubin zum „neuen Sinne"78) der Ostforschung nicht eine Distanzierung von den alten Arbeiten, Fragen und Konzepten, sondern ihre Intensivierung und räumliche Entgrenzung. Nicht wegen alter weltanschaulicher Irrtümer, sondern wegen einer neuen politischen Lage hatten er und seine Kollegen umzudenken und die Ostforschung noch tiefer als bisher nach Rußland hinein auszudehnen, um der großen Aufgabe gerecht zu werden, „das Wesen der großen Erscheinung des Bolschewismus in seiner Herkunft und den Bedingungen seiner Entstehung auf dem Boden Rußlands [...] zu erkennen."79) Ungebrochen wandten sich die Ostforscher nach dem Kriege mit Gutachten und Memoranden, die auf über den Krieg gerettetem Material basierten, an die Alliierten, um ihnen die Bedeutung des deutschen Ostens für den gesamten Westen klar zu machen. Zwar befand man sich nun in der Defensive und hatte zuerst für die geistige Befestigung der neuen Grenze zu sorgen,80) doch nichts hatte den Glauben zerstören können, daß nur Deutschland in der Lage sei, Ostmitteleuropa dauerhaft zu ordnen. Ohne zu zögern, belebte man die Zielsetzungen von 1918 wieder: „Die Lage von 1918 hat sich 1945 in einem nach allen Richtungen gesteigerten Masse wiederholt."81) Niemand focht diese Parallelsetzung an, und nicht lange darauf durfte die Ostforschung feststellen, daß auch die neue westdeutsche Regierung eine antikommunistische Ostpolitik betrieb und sich der Ostforschung bediente. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges konnten große Teile der Ostforschung sich dann auf Jahrzehnte hinter der Illusion eines zeitlosen, unwandelbaren Verhältnisses zum Osten verschanzen und einer Revision ihrer Weltsicht entgehen.82) -
-
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77)
Beide Zitate in der Niederschrift der 8. Mitgliederversammlung des Herder-Forschungs1953, S. 3 (BAKN 1188/264). 78) Aubin, An einem neuen Anfang der Ostforschung, S. 15. 79) Ebd., S. 4. 80) Vgl. Herder-Institut an die Universität Tübingen vom 25. 2. 1953, S. 2 (UAT 131/153); Denkschrift über die Bildung eines „Arbeitskreises Ost" an der Universität Hamburg, 1954, S. 1 (SFSt. S/3). 81) Herder-Institut an die Universität Tübingen vom 25. 2. 1953, S. 1 (UAT 131/153). 82) Zur Ostforschung nach 1945 und den Nachkriegskarrieren der Ostforscher besonders Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 246-249, 300-321; Hackmann, „An einem neuen Anfang der Ostforschung"; Ders., Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht, S. 320-357; Mühle, „Ostforschung", bes. S. 338-349; Oberländer, Das Studium der Geschichte Osteuropas seit 1945. Oberländer, Historische Osteuropaforschung im Dritten Reich, S. 28 f., bringt ein Beispiel, wie selbstverständlich auch 1963 noch die Manipulation wissenschaftlicher Ergebnisse zugunsten politischer Rücksichtnahmen hingenommen wurde. Zwei Beispiele von vielen für den sofort nach 1945 offensiv und an allen rates am 1. 5.
II Die deutsche
Ostforschung
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Der Gleichschritt mit der Politik und die effektive Netzwerkarbeit ermöglichten es der Ostforschung, sich nach dem Kriege im Westen zu reetablieren. In Marburg wurde 1950 das „Johann Gottfried Herder-Institut" gegründet, in Göttingen konstituierte sich ab 1946 die „Arbeitsgemeinschaft für Osteuropa-
forschung" („Göttinger Arbeitskreis"), in Stuttgart entstand 1948 die „Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde" (DGO), in München nahmen sich seit 1952 Institute des Ostens und Südosteuropas und in Lüneburg seit 1951 des Nordostens an. Die „Arbeitsgemeinschaft der Ost-Institute", am Herder-Institut situiert, bildete eine Dachorganisation. Diese Institute, an denen viele der
nicht entnazifizierbaren Ostforscher ein Unterkommen fanden, bündelten die Ressourcen und übernahmen die Lobbyarbeit für die „neue" Ostforschung. Sie beschworen die Notlage des Faches und forderten die Universitäten auf, es zu integrieren und Lehrstühle zu schaffen. Sie suchten Nachwuchs zu rekrutieren, indem sie Studierende für die Ostforschung zu interessieren und Projekte von Nachwuchswissenschaftlern zu fördern versuchten, und sie entwarfen Aktionspläne zum Ausbau ihrer Disziplin. Sie bekamen Unterstützung. Historikerverband, Rektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz zeigten sich der Ostforschung wohlgesonnen, die DFG erkannte die Osteuropäische Geschichte 1956 als Sonderfach an. Trotz gebrochener Karrieren zahlreicher Ostforscher und gewisser Schwierigkeiten Nachwuchsmangel oder bloß verbale Unterstützung durch die Geschichtswissenschaft und gar die Mitglieder des HerderInstitutes gelang das Überleben dieser hochpolitischen und politisch schwer belasteten Wissenschaft vergleichsweise reibungslos.83) -
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geistigen und publizistischen Fronten wiederaufgenommenen Kampf um den Osten: Braun, Fünf Jahre Arbeit für den deutschen Osten; Schieder, Die großen Momente der ostpreußischen Geschichte. Ohne Probleme knüpfte nicht nur Schieder an die eigenen Arbeiten aus der Kriegszeit an. 83) Zu dieser erfolgreichen Lobbyarbeit und den angedeuteten Problemen vgl. die Niederschrift über die Zusammenkunft der Arbeitsgemeinschaft der Historischen Kommissionen und landesgeschichtlichen Institute während der Versammlung deutscher Historiker in München, am 15. Sept. 1949, S. 1 (Anlage III zum Protokoll über die Sitzungen der 20. Versammlung deutscher Historiker [12.-14. Sept. 1949] [...] zu München [AVHD]); Protokoll der Mitgliederversammlung des VHD am 15.9. 1951, S. 11 (BAK N 1179/51); Rundschreiben der Deutschen Gesellschaft für Ostforschung vom 1. 12. 1952 (UAT 131/343); Protokoll der 11. Mitgliederversammlung des Herder-Forschungsrates am 29.4. 1955, S. 4-7
an Maschke vom 25. 3. 1957, S. 3 (BAK N 1179/32); Wittram Conze vom 8. 1. 1958 (BAK N 1226/28); Rundschreiben des Herder-Institutes vom 15. 12. 1959 (UAT 131/166, Nr. 90); Mende/Hoffmann/Koch, Beiträge zur Ostforschung; sowie die Briefwechsel, Rundschreiben, Protokolle und Gutachten in der Sozialforschungsstelle (SFSt. I 13, 16, 33) und dem Nachlaß Aubins (BAK N 1179/43-50). Gerhard Ritter gestand auf dem Historikertag 1949 ein, daß im „Gesamtbetrieb der deutschen Wissenschaft" entschieden zu wenig für den Osten geschehen sei: Protokoll über die Sitzungen der 20. Versammlung deutscher Historiker (12.-14. Sept. 1949) [...] zu München, S. 7 (AVHD). Zum Herder-Institut: Weczerka, Johann Gottfried Herder-Forschungsrat und Johann Gottfried Herder-Institut.
(BAK N 1213/24); Aubin u.a. an
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Die Ostforschung in der Bundesrepublik ist aus drei Gründen wichtig für unThema. Zunächst blieb der Osten für die ehemals Königsberger Wissenschaftler wie für die übrigen Ostforscher weiterhin eine der großen existentiellen Aufgaben ihres Lebens, an der sie ihre wissenschaftliche Arbeit ausrichteten darauf gehe ich vor allem im siebten Kapitel ein. Sodann läßt sich an der Einstellung der Königsberger zur bundesdeutschen Ostforschung erkennen, inwieweit ihr Denken nicht statisch war wie das zahlreicher anderer Ostforscher, sondern sich mit der Geschichte der Bundesrepublik und im Laufe der eigenen Forschungen änderte worauf ich im achten Kapitel zurückkommen werde. Und schließlich wanderte das Netzwerk der Ostforschung bei Kriegsende entlang schon lange bestehender Beziehungslinien in den Westen Deutschlands, mit ihnen zogen die Königsberger davon handelt der nächste Abschnitt. ser
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III
Göttingen als Brücke
Die erste Anlaufstelle im Westen hieß Göttingen, dessen Universität die Patenschaft für die Königsberger Universität übernommen hatte. Göttingen eröffnete als erste deutsche Universität im September 1945 wieder ihren Betrieb.84) Einige Professoren, wie Karl Brandi, setzten ihre Veranstaltungen fort, als sei nichts geschehen, andere, wie Percy Ernst Schramm und Walter Hubatsch, betonten, an ihren politischen Auffassungen sei nichts zu revidieren, Siegfried A. Kaehler hielt eine Vorlesung, in der er sich eher moralisierend-schicksalhadernd mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen versuchte.85) Reinhard Wittram und Hermann Heimpel bezeugten öffentlich ihre Reue, wobei es „Hinweise [gibt], daß in dieser Hinsicht, zumindest aus der Sicht Heimpels, eine Art von Konkurrenzverhältnis bestand."86) Annelise Thimme schreibt in ihren Erinnerungen, daß das Wintersemester 1945 für die Studierenden zweifellos eines der schönsten gewesen sei, man habe sich den Professoren näher gefühlt „als in irgendeinem anderen Semester. Es herrschte eine geistige und moralische Euphorie, wie man sie nur ganz selten erlebt[,] und auch mein Lehrer Kaehler war auffällig leutselig und gastfreundlich in jener Zeit. Damals dachte ich oft: Es hat viel für sich, wenn alles kaputtgeht und damit auch die Konventionen und Umgangsformen lockerer und unwichtiger werden".87) Das währte
84)
Zur Situation der Universitäten und den Lebensbedingungen der akademischen Gemeinvgl. Krönig/Müller: Nachkriegssemester. 85) Kaehler, Vom dunklen Rätsel deutscher Geschichte (das seit dem 1. 9. 1939 [!] mit den Deutschen durch sechs lange Jahre gegangen sei), gedruckt 1945 in der Zeitschrift „Die Sammlung". Zu dieser Vorlesung vgl. Thimme, Geprägt von der Geschichte, S. 188 f.; Bussmann, Siegfried A. Kaehler, S. 87f. 86) Obenaus, Geschichtsstudium und Universität nach der Katastrophe von 1945, S. 316. Vgl. auch ebd., S. 321 f. 87) Thimme, Geprägt von der Geschichte, S. 188-190.
schaft
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nicht lange. Die Universität trat den Studierenden rasch wieder mit feierlich inszenierter Autorität entgegen und knüpfte an die alten Strukturen an.88) Es änderte sich auf die Dauer wenig, aber das betont Herbert Obenaus das Herauskehren von Autorität und Ordnung war zum Teil eine Fassade. Die akademische Welt wurde instinktiv inszeniert, um dahinter die Realität dieser Welt wieder aufbauen zu können, doch nicht nur als Zufluchtsort, den die Fassade vor der Vergangenheit abschirmte, sondern auch als Ort, an dem, durch die Fassade gedeckt, „ein Prozeß der moralisch-sittlichen Reflexion über die Zeit des Nationalsozialismus stattfand], Schuld und Verstrickung wurden offengelegt, Gewissensqualen bezeugt."89) Das Verhältnis von Neubeginn und Kontinuität war komplex, und die Königsberger profitierten davon wie die übrigen Ostforscher. Sie konnten hinter diese Fassade schlüpfen, wo sie wie ihre Kollegen schonend ihrer Vergangenheit absagten. Sie stiegen erneut auf das Karussell des akademischen Berufungsmarktes auf, sie hatten Nutzen davon, daß tatsächlich Entlassungen vorgenommen wurden, denn das eröffnete einige Stellen auf dem geschrumpften Markt akademischer Positionen (der außerdem durch die sogenannten k.w.-Professuren etwas erweitert wurde90)). Auch die Lehre war durch die ungewöhnlich zahlreichen Dozenten und deren Konkurrenz recht vielseitig. Als Hauptanliegen wandte man sich den „brennenden Problemen" der neuesten Geschichte zu, und Werner Conze setzte in diesem Klima gezielt und erfolgreich auf „eine Intensivierung der schon früher aufgenomme-
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nen
sozialgeschichtlichen Forschungen".91)
Einer der führenden Ordinarien in Göttingen zu jener Zeit war Siegfried A. Kaehler.92) Jahrgang 1885, war er Zeit seines Lebens kränklich und hatte am Ersten Weltkrieg nicht teilnehmen können. Trotzdem betrachtete er sich fortan betont als Angehörigen der Kriegsgeneration, als „Schützengrabenmenschen".93) Diese „Erfahrung" verwandte er als Waffe der Kritik gegen die
88)
Diese selbstverständliche Kontinuität wird in einem Text der unmittelbaren Nachkriegszeit anschaulich: Conze, Die Georg-August-Universität in Göttingen in den Nachkriegsjahren. Vgl. auch Obenaus, Geschichtsstudium und Universität nach der Katastrophe von 1945, bes. S. 308f., 312. Ein anderes Beispiel: Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, S. 373-436. 89) Obenaus, Geschichtsstudium und Universität nach der Katastrophe von 1945, S. 322; s.a. S. 331-336. 90) Auf diesen zusätzlichen Professuren, meist vom Bund finanziert, sollten Hochschullehrer, die 1945 ihre Stelle verloren hatten, untergebracht werden. Eigentlich sollten die Professuren mit Abgang ihres Inhabers wegfallen („künftig wegfallend"), meist versuchten die Fakultäten jedoch, sie in Dauerstellen umzuwandeln. 91) Sojedenfalls Conze, Die Georg-August-Universität in Göttingen in den Nachkriegsjahren, S. 8. Vgl. auch Kaehler an Rothfels vom April 1948 (?) (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler
1,144c).
92)
Zum folgenden vor allem: Bussmann, 1900-1963. 93) Johann Wilhelm Mannhardt an Kaehler 1900-1963, S. 193, Anm. 3).
Siegfried vom
A. Kaehler; Kaehler, Briefe
10.9. 1928 (in: Kaehler, Briefe
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„idealistische Welt" des „Individualismus", für die ihm Wilhelm von Humboldt als Prototyp und die Weimarer Republik als Erbin standen. So erschien 1927 das umstrittene Humboldt-Buch,94) das seinen alten Lehrer Friedrich Meinecke vor den Kopf stieß: „Aber sie handeln wie jemand, der[,] unzufrieden mit dem magischen Oberlicht, das ihn bisher beleuchtete, die Lampe nicht etwa auf den Tisch, wo man Ober- und Unterkörper gleichmäßig übersehen kann -[,] sondern gleich auf den Fußboden setzt und von da aus denn auch die Unterhose Humboldts entdeckt. Oder ein anderes Bild." Kaehler habe sicherlich die Kruste der Konvention, die auf Humboldt gelegen habe, zerstört aber Humboldt gleich dazu.95) Kaehler hatte über 1500 Briefe Humboldts als Quelle herangezogen (das mußte er im Nachwort ausdrücklich rechtfertigen), und der Skandal war, daß er Humboldts Ideenwelt in seinem erotischen Erleben verwurzelte. Den Geist auf die Sexualität zu beziehen, war ein Sakrileg. Das Ziel Kaehlers war freilich nicht dieser Tabubruch gewesen, sondern mittels des gescheiterten Individualisten Humboldt, der „den harten Tatsachen der politischen Wirklichkeit"96) nicht gewachsen gewesen sei ein Angriff auf die Legitimität der Republik.97) Doch wie so viele Feinde dieses Staates und Sympathisanten des Nationalsozialismus bekannte auch Kaehler sich schließlich zur republikanischen Staatsform, und seine Stunde als einer der geistigen Wegweiser der Zunft hätte nach 1945 schlagen können. Geachtet war er, und man hörte auf ihn. Aber er war oft und des längeren krank, unentschieden, wenig produktiv, das lähmte ihn bis zu seinem Tode 1963. Kaehler war seit Jahrzehnten mit Hans Rothfels und Hermann Aubin befreundet, zu Reinhard Wittram pflegte er freundschaftliche Beziehungen. Theodor Schieder wie Werner Conze half er bei ihrer Re-Installierung, Aubin hatten die Kollegen unter seiner Leitung bereits 1946 auf einen Hamburger Lehrstuhl geschleust. Doch während diesem sein neuer Posten wie Hohn erschien, wie eine reine Flüchtlingsstelle, wo er jeder menschlichen und beruflichen Beziehung beraubt sei,98) so hatten die Königsberger Historiker große Mühen, ihr Schicksal zu verbessern. Professoren aus dem Osten standen bei den westdeutschen Kollegen in wenig gutem Ansehen; zudem waren die wichtigen Neuzeitprofessuren in Norddeutschland ohnehin besetzt, so daß Kaehler selbst Gerhard Ritter, der in Freiburg einen schweren Stand hatte, kein Unterkommen bieten konnte.99) Es galt also, Lehraufträge zu ergattern, neue Stellen zu schaffen, die wegen der Entlassung Belasteter freiwerdenden Stellen zu erobern oder zumindest Emeritierungen oder Posten im öffentlichen Dienst, den Archiven usw. herauszuschlagen. Kaehler war ein wichtiger Ansprechpartner -
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94) Kaehler, Wilhelm v. Humboldt und der Staat. «) Meinecke an Kaehler vom 11. 12. 1927 (BAK N 1213/155). 96) Kaehler, Wilhelm v. Humboldt und der Staat, S. 15. 97) Vgl. Bussmann, Siegfried A. Kaehler, S. 62. 98) Aubin an Kaehler vom 16. 1. 1949 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,6b). 99) Kaehler an Rothfels vom 29. 7. 1946, S. 5 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,144c).
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Göttingen, der Kurator der Universität Königsberg, Friedrich Hoffmann, strengte sich für seine Kollegen an, und die Mitglieder der alten „Königsberger Gilde", der „Skuld", halfen sich gegenseitig, so gut es ging.100) Sie trafen sich einzeln, in Gruppen oder auf Tagungen, sie hielten schriftlich Kontakt, tauschin
Arbeitsmöglichkeiten aus und waren nach wie vor in der Ostforschung engagiert, aus drei Gründen: Erstens aus Überzeugung, weil ihnen der Osten in langen Jahren wissenschaftlicher Sozialisation zur Heimat geworden war, der besonders Schieder nachtrauerte, und weil sie nach wie vor vom alten politischen Auftrag der Ostforschung überzeugt waren. Zweitens bot ihnen die Gemeinschaft der Ostforscher nach 1945 einen geistigen Halt in einer Historikerzunft, die die Kollegen aus dem Osten zwar im großen und ganzen als ihre Mitglieder anerkannte, aber als solche, die sich politisch allzu offensichtlich hatten verleiten lassen, gescheitert waren und sich deshalb erst wieder zu bewähren hatten. Auf den Tagungen der Ostforschung dagegen konnten sie sich im Kreise der Gleichgesinnten und Gleichbetroffenen gegenseitig bestärken (für alle war es wichtig, um Kollegen zu wissen, die noch etwas von ihnen erwarteten und sie nicht abgeschrieben hatten), mit der gebotenen Diskretion aussprechen und den alteingesessenen Kollegen ihre wissenschaftliche Qualität (und politische Unentbehrlichkeit) demonstrieren. Der erfolgreiche Versuch, die Ostforschung ohne größeren Bruch fortzusetzen, dürfte der ,,zusammengeschmolzene[n] Schar der Ungebrochenen"101) zudem Signal gewesen sein, daß ihre Vergangenheit doch nicht verworfen werden mußte. Das bot den Verunsicherten zunächst einmal sichere Geleise, bevor dann, ab Mitte der fünfziger Jahre, einige von ihnen das Gleis wechselten und überkommene Interpretationsmuster zu überdenken begannen. Auf diese Art verhinderte die „Ostforschung an einem neuen Anfang",102) daß die Angeschlagenen wirklich zu Gebrochenen wurden. Drittens bot die Ostforschung einen Wartesaal, der einen warmhielt, bevor man wieder ins universitäre Geschäft bzw. auf nichtuniversitäre Stellen gelangte. Immerhin mußten diejenigen, die auf Lehrstühle zurückkehren wollten, sich auf einem mittlerweile recht eng gewordenen Markt bewerben. Die Seilschaften der Ostforscher, die ihre Kollegen nicht vergaßen, mit kleinen Aufträgen versorgten, auf dem Berufungsmarkt anpriesen und, wenn möglich, im Schlepp auf die Lehrstühle nachzogen, spielten auch in dieser Beziehung für die noch Stellenlosen eine wichtige Rolle.103) Deshalb hielt etwa Theodor Schieder dem „Göttinger Arbeits-
ten sich über Schicksale und
100) Vgl.
Grundmann an Bruno Schumacher vom 17. 11. 1946 (UAL Nl Grundmann 100/11); Oberländers Karten und Briefe an Theodor Schieder von 1946 und 1947 (BAK N 1188/71 ) und mein Gespräch mit Theodor Oberländer am 4. 8. 1997. 101) Zum Geleit (des ersten Heftes der von Hermann Aubin herausgegebenen „Zeitschrift für Ostforschung"). 102) So betitelte Hermann Aubin den ersten Aufsatz der neuen ZfO. 103) Hermann Aubin etwa übersandte dem Kultusministerium Schleswig-Holsteins am 6. 3. 1954 eine Liste derjenigen Kollegen, die nach „Überzeugung unseres Kreises" für eine k.w.-
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1.
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kreis" auch in einer Zeit, in der er sich schon stark von ihm distanzierte hatte, wenigstens pro forma die Stange, denn der Arbeitskreis hatte ihm in schweren Zeiten geholfen.104)
IV Die
„Rothfels-Gruppe"
Wir werden im vierten und sechsten Kapitel detaillierter sehen, wie sich die Königsberger in enger Zusammenarbeit halfen. In diesem Abschnitt möchte ich zunächst genauer bestimmen, was ich bislang mit dem Begriff „RothfelsGruppe" gemeint habe und im folgenden meinen werde. Ich möchte für die Königsberger nicht den Begriff „Schule" verwenden, denn dieser läßt einen zu leicht an die Homogenität jener Gruppe von Naturwissenschaftlern denken, die gemeinsame Ausflüge in die Wüste machten, um dort zu campen und im gemeinschaftlichen Freischaufeln des Wagens die Zusammengehörigkeit zu stärken.105) Die Königsberger schwammen nicht ausschließlich und gemeinsam hinter einem „Leitfisch" her,106) und sowohl für die hartnäckig so bezeichnete „Frankfurter Schule" Horkheimer/Adornos wie für die „Marburger Schule" Abendroths wurde gezeigt, daß ein strenger Schul-Begriff die Sache, die er bezeichnet, nicht trifft.107) Die Rothfels-Gruppe z.B. hatte zwar eine besonders charismatische, aber nicht nur eine charismatische Persönlichkeit zu bieten. Sie Professur für Ostforschung in Frage kämen. An erster Stelle nannte er Werner Conze (BAK N 1179/49). i«4) Vgl. Schieder an Rothfels vom 9. 12. 1960 (BAK N 1213/3). Während Schieder 1948 darauf wartete, daß er nach Köln berufen werde, hielt ihn der Göttinger Arbeitskreis mit einem Auftrag über Wasser: Er schrieb die historischen Abschnitte der ostpolitischen Broschüre „Ostpreußen" (bereits 1946 hatte er aus seiner reichen persönlichen OstforschungsErfahrung geschöpft und in ähnlicher Zielrichtung für den Bad Nenndorfer Arbeitskreis ein Gutachten verfaßt); vgl. Göttinger Arbeitskreis, Ostpreußen, S. 39^8. Die Autoren der Broschüre sind zwar damals zu ihrer eigenen Sicherheit nicht namentlich genannt worden, doch aus einer Stilanalyse ergibt sich Schieders Urheberschaft dieses Abschnitts (freundlicher Hinweis von Mathias Beer, Tübingen). Überdeutlich sind die Parallelen zwischen diesem Abschnitt und Schieders Artikel „Zum 20. Jahrestag der Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen" (1940) und die zeitgeschuldeten 180°-Wendungen. Zur Ostpolitik der Ostforschungs-Arbeitskreise unmittelbar nach dem Kriege: Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte, S. 353-364 (zu Schieders Rolle S. 354 f.). 105) Dieses Beispiel bei Weingart, Wissenschaftssoziologie, Bd. 2, S. 207-209, 215. 106) Das ist Clifford Geertz' anschauliche Metapher für eine „Schule": Geertz, Der Anthropologe als Schriftsteller, S. 27. 107) Vgl. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 9-12; Hüttig/Raphael, Der „Partisanprofessor" und sein Erbe, bes. S. 25ff. Dort und bei Becher, Academic Tribes and Territories, S. 24-27, weitere Definitionen für eine Schule. Der Begriff des „intellektuellen Lagers" (Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik, S. 187f.) trifft ebenfalls nur unvollständig, da sich die Königsberger zwar durch einen moralisch-politischen Anspruch auszeichneten und diesen auch öffentlich verfochten aber nur bedingt missionarisch und polarisierend. -
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IV Die
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„Rothfels-Gruppe'
nicht an einem geographischen Ort konzentriert, hatte keine Zeitschrift, kein Manifest, kein ausgearbeitetes und definiertes Paradigma. Der Kanon der Themen weitete sich aus, die institutionellen Arbeitszusammenhänge waren eher locker, die Mitglieder in verschiedene andere Zirkel eingebunden und gleichzeitig individuelle Einzelgänger. Schon die Schüler der ersten Generation ließen Richtungswechsel erkennen. Die Definition als Schule ist oft eine Zuschreibung von außen, sei es zur Selbstvergewisserung externer Anhänger der Schule, sei es zur Feindmarkierung. Tatsächlich begegnete mir auch der Begriff „Rothfels-Gruppe" als eine solche, nämlich bei Gerhard Ritter, der 1962 auf dem Historikertag in Duisburg erbittert die Cliquenbildung seiner Kollegen, besonders die der „Rothfelsianer", notierte (er durfte nicht mehr an ihren Tischen sitzen).108) Allerdings gibt es tatsächlich Gründe, warum man die „Rothfelsianer" als Gruppe identifizieren konnte. Selbst als Werner Conze, Theodor Schieder und Reinhard Wittram für ihre Schüler selbst „Leitfische" geworden waren, blieb Hans Rothfels ihr Patriarch. Die Königsberger hielten auch in der Bundesrepublik Kontakt, obwohl sie nie alle zur selben Zeit in Ostpreußen gewesen sind. Und obwohl es vor 1945 viele Beziehungen der Königsberger etwa zu den Breslauern gegeben hatte, lassen sich die damals abgesteckten claims auch noch in der Bundesrepublik erahnen und sei es in Form einer Arbeitsteilung bei der Hilfe für Kollegen.109) Eine ganze Reihe der Königsberger hatte mit dieser Sozialgeschichte nicht viel zu tun, dennoch standen sie ihr durch ihre wissenschaftliche Sozialisation nahe und stützten sie. Als Ordinarien agierten die Königsberger in verschiedenen Arenen, sie gehörten verschiedenen wissenschaftlichen Diskussions- und Denkgruppierungen an Historikerfraktionen -, doch im Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte versammelten sich (zumindest zu Beginn) mehrheitlich Mitglieder aus dem Königsberg-Rothfels-Umkreis. Wenn man eine Gruppe bestimmen will, so reicht es nicht, die berüchtigten Lobe- und Zitationskartelle zu rekonstruieren, wer zu wessen Festschriften beitrug, wer wen zitierte,110) rezensierte oder zur Lektüre in den eigenen Seminaschon bei einer oberflächlichen Durchsicht merkt man, daß ren verwendete man sich bei der „Rothfels-Gruppe" im Zirkel immer derselben Namen bewegt.111) Man muß vielmehr feststellen, wer auf welchen Tagungen mit wem war
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i°8) 109)
Ritter an Karl Dietrich Erdmann vom 25. 7. 1964 (BAK N 1166/270). Schieder an Aubin vom 17. 8. 1948 (BAK N 1179/19): Es sei besser, wenn Aubin Ernst Birke helfe, das Urteil der Entnazifizierungs-Kommission auf Stufe IV zu heben, da Schieder die Breslauer Verhältnisse nicht so gut kenne. n°) Zu den Einsichten, die man in der unermeßlichen Welt der Fußnoten finden kann, noch immer unübertroffen: Riess, Vorstudien zu einer Theorie der Fußnote. Außerdem Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, S. 23, 29f., 33-35, 82, 203. 11') Freilich war das kein hermetisch geschlossener Zirkel, z.B. wurde Gerhard Ritter von den „Rothfelsianern" nicht immer geschnitten (wohl aber Wolfgang Abendroth, die Berliner
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als Gruppe auftrat, wer in welchen Akademien mit wem gemeinsam saß oder Fraktionen bildete;112) man muß auf den Ton der Briefe achten, wie herzlich er war, und darauf, wer mit wem musizierte,113) welche Literatur man las und in welchen Worten man sich darüber austauschte,114) mit welchen Worten man die Welt und seine Mitmenschen beschrieb und welchen Effekt die mit den Worten verbundenen Wertungen hatten,115) wie der Diskussionsstil aussah,116) wer sich bei wem aussprach oder wer wem in Briefen vertrauliche Dinge mitteilte und wem nicht. Man muß den Austauschverkehr der Sonderdrucke dokumentieren, wer sie sofort, erst spät, nur auf Anfrage oder gar nicht bekam, man muß die Anfragen und Empfehlungen bei Berufungen rekonstruieren, nicht nur, wer wen empfahl, sondern auch, wer überhaupt gefragt wurde. Über die Haltung ihrer Mitglieder zur Welt, über ihren Habitus, über die „Musizierkartelle", wenn man so will, kann man die Außengrenzen und sich überkreu-
Politologen oder die Frankfurter Soziologen). Einige willkürlich herausgegriffene Beispiele für diesen Zirkel: Conzes Mitarbeiter und Schüler Horst Stuke und Wolfgang Köllmann besprachen die von Conze herausgegebene „Soziologie des Parteiwesens" von Robert Michels und erklärten, Conze habe mit seinem Nachwort richtungsweisend für die Parteisoziologie gewirkt (Köllmann, Rez. Michels, Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie; Stuke, Rez. Michels, Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie). Conze
lobte Schieders Aufsätze und seinen theoretischen Ansatz (Conze, Rez. Schieder, Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit). Conze und Schieder waren entschlossen, einem Buch Kurt von Raumers positive Resonanz zu verschaffen (Schieder an von Raumer vom 3. 1. 1954 [ULBMs Nl von Raumer B 207]). Ein Buch Wittrams wurde zur Rezension zuerst an Gotthold Rhode, dann an Conze und Schieder weitergegeben (Günther Franz an Wittram vom 17. 12. 1954 [BAK N 1226/50]). Conze und Wittram wollten Selbstanzeigen seien mißlich Aufsätze des jeweils andern in der HZ annotieren (Conze an Wittram vom 19. 12. 1954 [BAK N 1226/54]). Wolfgang Köllmann bemühte sich, versteckt erschienene Beiträge Günther Ipsens bekannt zu machen, und fand es als Mitarbeiter zwar unpassend, das „Mehrsprachige Demographische Wörterbuch" zu rezensieren, nicht aber, einen Schüler Ipsens so zu instruieren, daß dessen Besprechung recht ausfiele (Köllmann an Ipsen vom 9. 7. 1960 -
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[SFSt. I 23]). U2) Alle „Rothfelsianer" im engeren Sinne saßen z.B. in der Historischen Kommission bei
der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 113) So musizierte z. B. Schieder mit „K.A. v. Müllers Ziehsohn [Heinz] Gollwitzer": Schieder an von Raumer vom 10. 10. 1952 (ULBMs Nl von Raumer B 200). Musizieren gehörte zur Ausstattung des Bildungsbürgers, es bildete eine Grundlage für Gemeinsamkeit und Abgrenzung. Allein die Handlung des Musizierens war eine Art Kommunikation. 114) So waren sowohl Wittram wie Schieder von Karl Alexander von Müllers Erinnerungen so berührt, daß sie sie abends im Familienkreise vorlasen: Wittram an von Raumer vom 23. 3. 1952 (ULBMs Nl von Raumer B 261); Schieder an von Raumer vom 8. 11. 1951
(ULBMs Nl von Raumer B 196).
115) Etwa die Macht des für persönliche Charakterisierungen häufig verwendeten Adjektivs „feinsinnig", das die feinsinnigen Menschen ein-, und folglich, ohne daß es ausgesprochen werden mußte, die nichtfeinsinnigen Menschen ausschloß. 116) So hieß es über Heinz Gollwitzer: „Negative Seiten werden oft nur angedeutet, damit der Kenner merkt, daß sie nicht vergessen sind. Historisches Verständnis, nicht Kritik bestimmt den Grundton des Buches. Darin ist es ein echtes Kind des Historismus." (Fischer, Rez. Gollwitzer, Die Standesherren, S. 286).
IV Die
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zenden Loyalitäten einer Gruppe wesentlich genauer bestimmen als über die üblichen Zitationskartelle. Nur so erfaßt man die vielfachen Markierungen, die die Königsberger ein- und abgrenzten und die Rothfelsianer als Gruppe verdichteten ohne daß sich diese Markierungsbündel zu wirklichen Grenzen ver-
festigten.
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Umreißt man die „Rothfels-Gruppe" mit den konkreten Namen, die im Laufe dieser Studie immer wieder auftauchen werden, so machen Theodor Schieder, Werner Conze und Hans Rothfels ihren Kern aus, Otto Brunner, Carl Jantke, Reinhard Wittram, Siegfried A. Kaehler, Werner Markert, Erich Maschke und später Waldemar Besson gehören zum engeren, während Günther Ipsen, Hans Freyer, Herbert Grundmann, Hermann Aubin, Helmut Schelsky, Arnold Gehlen und Karl Dietrich Erdmann mit einiger Vorsicht zum weiteren Umfeld zu zählen sind. Als Königsberger Gruppe würde man dieselben Namen allerdings anders gruppieren: Rothfels, Schieder, Maschke, Markert, Ipsen, Conze, Hans Linde, Kurt von Raumer, Schelsky, Gehlen und Grundmann machen die Gruppe aus, der Rest gehört nicht dazu. Und die ConzeGruppe würde Conze, Maschke, Jantke und Brunner als Zentrum umfassen, Freyer und Ipsen als theoretische Bezugspunkte, Rothfels und Ipsen als Autoritäten, Schieder, von Raumer, Paul Egon Hübinger und vielleicht Grundmann im engeren Umfeld, Friedrich Lütge, Wilhelm und Wolfgang Treue sowie Ludwig Beutin als an Sozialgeschichte interessierte Kollegen, Wolfgang Köllmann, Horst Stuke, Dieter Groh und Reinhart Koselleck als wichtigste frühe Schüler bzw. Mitarbeiter Conzes und Wolfram Fischer, Heinz Gollwitzer und Karl Erich Born als jüngere Sozialhistoriker, die mit der Conze-Gruppe in Berührung gekommen sind. Man sieht, wie heikel derartige Abgrenzungen sind. Es gab keine eindeutigen Abhängigkeiten, jeder war durch mehrere Einflüsse geprägt, war mehreren Loyalitätsbeziehungen verpflichtet, in mehreren Netzwerken verankert. „Frontwechsel" fanden statt, und man hegte nicht nur Sympathien füreinander. Doch zumindest die Königsberger einte eine ähnliche Sicht auf die Welt (Denkstil) eine bestimmte Haltung zur Welt (Habitus) und eine bestimmte Erfahrung in der Welt (Geschichte), was die prekäre Stabilität der „Rothfels-Gruppe" ausmachte und gleichzeitig die die Gruppe immer durchziehenden Scheide- und Konfliktlinien eine Spur schwächer ausfallen ließ als die Linien, die die Außengrenzen markierten. Eine wissenschaftliche Gruppe ist ein bemerkenswertes Phänomen. Sie ist eine Anhäufung zumeist von Männern, die sich als Individualisten begreifen, bewußte Gruppenbildung ablehnen und in den Hymnen der Nachrufe und Ehrungen gegenseitig ihre Individualität preisen und dabei doch zu einer Art verdeckter Vereinsmeierei tendieren. Sie geben sich keine Satzung, kein Statut, aber die Vorstellung, unter ihresgleichen zu sein, unter denen, die die Welt ähnlich sehen und sich ähnlich zu ihr verhalten, erlaubt es ihnen, sich zu einer Gruppe zusammenzuschließen, als Gruppe abzugrenzen, sich Regeln zu unter-
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werfen und Konformität von den Mitgliedern zu fordern. Doch man unterwirft sich nicht Parteizwängen oder handelt aus automatisierten Gewohnheiten, sondern man hat denselben Stil. Man gehorcht nicht, sondern ist der Überzeugung, daß ein bestimmtes Verhalten angemessen sei. Das Mitglied paßt sich an und wird angepaßt, die Anpassung wird täglich erneut vollzogen, in kleinen Gesten und im peinlich genau geprüften richtigen Benehmen. Die Anpassung ist rigide, doch sie erscheint als Weihe, sie wird mit Anerkennung belohnt, so daß sich jeder einzelne trotz seiner Individualität einfügen kann. Er muß sich einfügen, um nicht ausgegrenzt zu werden, und er sollte sich einfügen, um Vertrauen einzuflößen und damit Rezeption anzukurbeln. Genau deshalb scheint mir der Kampfbegriff des „Kartells", der vornehmlich die gegnerische Blockbildung als Machterhalt anprangert, zu kurz zu greifen. Lobe- und Zitierzirkel sind nicht nur ein bewußt eingesetztes wissenschaftspolitisches Mittel, mit dem Ziel, Gegner zu unterdrücken oder ein Meinungsmonopol aufzubauen und zu immunisieren.! 17) Zitiert und geehrt werden vielmehr diejenigen, die genauso denken und sprechen; es geht darum, mit den Gewürdigten und Zitierten zugleich die Denkrichtung und Begriffe einer Gruppe als richtig zu sanktionieren, es geht also um Identität und Selbstbestätigung einer Gruppe und ihrer Mitglieder (und natürlich darum, die Klientelverhältnisse in der Gruppe zu sichern). Erst mit dieser Sicherheit: daß den Begriffen, dem Denken, der Haltung zur Welt und den Erfahrungen von Gleichgesinnten Legitimität und Sinn zugesprochen wird, kann ein einzelner Begriffe, Denkbilder, Haltung und Erfahrung sinnvoll in Historiographie verschmelzen, nach außen mit Überzeugung (eventuell machtpolitisch) vertreten und gegen konkurrierende Ansätze verteidigen oder durchsetzen. Diese entscheidende Funktion erfüllte die Rothfels-Gruppe für Werner Conze und die Sozial-
geschichte.118)
n7)
Fritz Redlich an Gerhard Masur vom 8. 6. 1963 (HZ ED 216/62): „Ich weiss, dass ich unbequemer reviewer bin, denn ich bin erbost, einmal wegen der Flut von Mittelmäßigkeit, die sich über uns ergießt und es unmöglich macht, von wirklich Wichtigem Kenntnis zu nehmen, dann[,] weil das ganze Geschäft von einem Verein auf gegenseitige Hochachtung monopolisiert ist. Dieser Verein verdankt seinen Ursprung jener herrschenden Mittelmäßigkeit: I scratch your back and you scratch mine[,] oder negativ auf Deutsch: Haust Du meinen Juden, hau ich Deinen Juden. An irgendeiner Stelle muss man da hineinbrechen, und rebus sic stantibus können das nur alte Leute, die eine gewisse Reputation haben und nichts zu be-
ein
fürchtenf,] aber auch nichts zu wünschen."
118) Aber wie der Einzelne nicht ohne das Kartell seiner Gruppe existieren kann, so benötigt eine Gruppe ihre scientific community, gegen die sie das Individuum stärkt, um der Umwelt ohne Selbstzweifel trotzen zu können.
2. Ansatz und intellektuelle Prägungen Ein Professor soll durch seine Schriften wirken, die für sich selbst sprechen müssen, nicht aber sich selbst gewissermaßen auf die Bühne stellen und vor unbekannten und unsichtbaren Betrachtern produzieren. Das Persönliche ist unwichtig, das wissenschaftliche Werk allein wichtig.
(Gerhard Ritter, 1967)
Ich hatte in der Einleitung angedeutet, daß neue Themen und vor allem fundamentale neue Herangehensweisen an die Geschichtsschreibung sich nicht von selbst durchsetzen, sondern daß je nach Situation und revolutionärem Status des neuen Wissens mehr oder weniger ausgeprägtes strategisches Handeln notwendig ist, um sie in der Wissenschaft zu verankern.1) Einem Irrtum darf man freilich nicht verfallen: .„Strategien' meint hier [...] nicht opportunistische, bewußt kalkulierte Karriereplanungen, sondern habituell vorgeprägte, durch lange, fachinteme Prägungen, informelle Beziehungsmuster und persönliche Überzeugung sich quasi aufzwingende Entscheidungssequenzen, die einer deutlichen Grundtendenz folgen."2) Genau das läßt sich bei Werner Conze erkennen. Er formulierte eine Idee, die uns in einem Brief an die Universität Göttingen zum ersten Mal begegnet, und er verfolgte ihre Verwirklichung über die Jahre hinweg, ohne aber einen Plan zu ihrer Durchsetzung entworfen zu haben. Er hatte ein Ziel und unternahm zahllose kleine taktische Maßnahmen zu dessen Verwirklichung, da, wo sich eine Gelegenheit bot, jeweils der Situation angepaßt, ohne daß seine Handlungen notwendig nur auf das eine Ziel ausgerichtet waren um einen Lehrstuhl etwa bemühte er sich ganz unabhängig von seinen sozialhistorischen Plänen. Conze „wußte", es war ihm anerzogen worden, wie man vorzugehen hatte, um seine Pläne zu verwirklichen; seine Handlungen bilden ein Muster, aber sie folgen keinem Plan höchstens einem Verhalten. Deshalb sollte man sich auch beim Begriff der Strategie das Bild der Verdichtung vorstellen: Die Handlungen Conzes, verschiedene Ereignisse, die Unterstützung durch seine Gruppe, das Gespräch über Sozialgeschichte unter Historikern und anderes mehr verdichteten langsam, durch Conzes allmählich erfolgreiche Bemühungen beeinflußt, in der Geschichtswissenschaft diejenigen Konstellationen, die die Bemühungen um die Durchsetzung der Sozialge-
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') Das kann man mit Hilfe der Wissenschaftsgeschichte mittlerweile mühelos illustrieren, vgl. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre; Besnard, The Sociological Domain; Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Außerdem sind zahllose Hinweise in Briefen und Akten zu finden, aus denen hervorgeht, wie ein Wissenschaftler, der gehört werden will, sich zu verhalten hat. 2) Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 293 f.
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2. Ansatz und intellektuelle
Prägungen
schichte zum Selbstläufer werden ließen und das Feld des Denkens neu codierten.
historiographisehen
I Conzes Ansatz
Beginnen wir die Analyse dieses Geflechts mit Werner Conzes grundlegenden Ideen zur Sozialgeschichte. Er entwarf kein Manifest, doch schrieb er in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre zwei programmatische Aufsätze, in denen er seine Ziele und Forderungen der Öffentlichkeit vorlegte: der engeren seiner Fachkollegen und einer weiteren, die durch die Geschichtslehrer Deutschlands vertreten wurde. In diesen beiden Aufsätzen finden wir keine Definition des Begriffs Sozialgeschichte eine Definition im strengen Sinne des Wortes finden wir nirgendwo -, und wir finden kein ausgearbeitetes Programm, wie die neue Sozialgeschichte in der Geschichtswissenschaft zu installieren sei. Aber weil in diesen Texten die grundlegenden Vorstellungen Conzes und einige entscheidende Denkmuster abzulesen sind, sollte man die Darstellung mit diesen Arbeitstexten, die im Rückblick einem Manifest immerhin ähneln, beginnen. -
1952 erschien der erste der beiden Aufsätze in der Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht" (GWU),3) er geht auf einen Vortrag vor westfälischen Geschichtslehrern zurück. Conze begann damit, die Methode, die er im folgenden vorzustellen gedachte, auf die Geschichte dieser Methode selbst anzuwenden, um ihre Genese und Lage zu erklären: Das Dilemma, in welchem sich die Sozialgeschichte seit dem 19. Jahrhundert befand, liege in der Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Mit dem Begriff „Gesellschaft" habe das liberale Bürgertum im letzten Jahrhundert zunehmend eine betonte Frontstellung gegen den Staat bezogen, was die Soziologie als Wissenschaft der Gesellschaft zu einer Oppositionswissenschaft werden ließ und die daraus hervorgegangene Sozialgeschichte verdächtig machte, unvereinbar mit der Politikgeschichte, der „eigentlichen Geschichte", zu sein. Die selbstbewußten Politikhistoriker nahmen die Sozialgeschichte nicht ernst, woraus wiederum Überreaktionen von Sozialhistorikern erwuchsen, die nun die Politikgeschichte pauschal ablehnten oder sich ihr aus Bequemlichkeit entzogen, um nicht die -
3) Conze, Die Stellung der Sozialgeschichte in Forschung und Unterricht. Den Vortrag hielt als Eröffnungsvortrag einer „Arbeitswoche für Geschichtslehrer an höheren Schulen über Sozialgeschichte" (28.4.-2.5.1952), die der nordrhein-westfälische Geschichtslehrerver-
er
band und das MUnsteraner Historische Seminar veranstalteten. Herbert Grundmann, Kurt von Raumer (die beide wenig an Sozialgeschichte interessiert waren), Wilhelm Brepohl und Carl Jantke hielten weitere Vorträge; vgl. Phil. Fak. der Univ. Münster an den Kultusminister von Nordrhein-Westfalen vom 27. 8. 1951 (UAMs Phil. Fak., Pers.-Akt. Nr. 15); das Programm der Arbeitswoche (UAMs Phil. Fak., Dienst-Akt. Nr. 110). Vgl. auch Conze an Wittram vom 23. 6. 1952: Hätte er Zeit, würde er aus dem Vortrag gerne einen Aufsatz machen (BAK N 1226/50).
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I Conzes Ansatz
„unangenehmen ,heißen Eisen'" anfassen zu müssen, mit der es die Politikgeschichte oft zu tun hatte.4) Das machte die Ausgrenzung der Sozialgeschichte durch die traditionellen Historiker nur leichter; allein in der Verengung als Wirtschafts- und Sozialgeschichte wurde sie akzeptiert (und ignoriert). Wegen dieser tief verwurzelten Diskriminierung war der „Ruf nach der Sozialgeschichte" 1952 schon Jahrzehnte alt „und erscheint heute gleichwohl immer noch
und fordernd im Hinblick auf eine Revision unserer GeschichtsforSo klang die Fanfare zu Beginn des Textes. Conze erschien dieser Zustand unsinnig. Weder durfte die Politikgeschichte die Sozialgeschichte in eine Nische abdrängen, noch durfte sich die Sozialgeschichte dem Politischen entziehen. „Eine derart vom Politischen abstrahierte Sozialgeschichte muß als Sonderdisziplin zur Gefahr werden, weil in ihr die Wirklichkeit nicht minder vergewaltigt wird als bei einer politischen Historie ohne sozialen Hintergrund." Das sollte überdacht und eine Revision der neueren Geschichtsforschung eingeleitet werden: „Es geht heute darum, die Sozialgeschichte zur politischen Geschichte zu erheben und sie aus ihrer Isolierung herauszuführen. Sie ist nicht weniger politisch als die Geschichte der Ereignisse im staatlichen Bereich es von jeher gewesen ist." „Stets ist die Geschichte politisch [...]. Politisch ist die Geschichte bei der Betrachtung der sozialen Erscheinungen ebenso wie bei der Untersuchung der staatlichen Verfassung oder des Verlaufs der Entscheidungen und Ereignisse."6) Das sind die Kemsätze des Aufsatzes, Conze begründet sie: Eine Gesellschaft sei immer in Verfassung zu beobachten, sie sei immer in einer konkreten sozialen wie einer staatlichen Verfassung organisiert. Alle Spannungen und Krisen, die durch Reform oder Revolution zum Wandel oder Umsturz dieser doppelten Verfassung führten, indizierten daher keine Spannungen zwischen Staat und Gesellschaft was stets behauptet werde -, sie konnten das gar nicht indizieren, denn der Doppelbegriff „Verfassung" machte für Conze klar, daß der Staat (das Politische) und die Gesellschaft (das Soziale) zwei Seiten desselben waren, der Gesellschaft in eineu
schung und unseres Geschichtsunterrichts".5)
-
ner
Verfassung.
Die herkömmliche Bedeutung der Begriffe „Gesellschaft" (das soziale Leben in einem Staat) und „Verfassung" (die politisch-rechtliche Kodifikation eines Staatswesens) hob Conze also in einer Verallgemeinerung dieser Begriffe auf. „Gesellschaft" war jeder organisierte Zusammenschluß von Menschen, und diese Organisation war eine Verfassung: eine soziale (unkodifizierte), und sie bedurfte einer rechtsstaatlich-politischen (kodifizierten). Von diesem Beobachtungspunkt aus fiel es Conze dann leicht zu erkennen, daß es „stets einen großen Wirkungszusammenhang zwischen den bewegenden sozialen Tenden-
4) Conze, Die Stellung der Sozialgeschichte in Forschung und Unterricht, S. 653. 5) Ebd., S. 648. 6) Ebd., S. 652 f.
52
2. Ansatz und intellektuelle Prägungen
[der sozialen Verfassung einer Gesellschaft] und den gestaltenden Kräften [dem Handeln von Menschen] einer wie auch immer gesetzten Herrschaft
zen
durch die jeweilige Verfassung" gibt. Politik ist nicht mehr in Opposition zur Gesellschaft zu bringen, denn es „gibt nur konkrete Gesellschaft hie et nunc, unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen, und diese Gesellschaft ist immer eine .strukturierte Herrschaftsordnung' (Freyer)".7) So sind nun aber auch Politik- und Sozialgeschichte miteinander verkettet, da es sich um „zwei verschiedene Blickrichtungen" auf dasselbe handelt, „die jede eine andere Seite desselben Objekts in den Vordergrund treten lassen."8) Beide Seiten technisch in einer Darstellung zu vereinen Otto Brunner hielt das kaum für möglich -, bedurfte freilich eines Meisters. Und den ließ Conze gegen Ende seines Textes mit Fernand Braudel auftreten. Braudel lieferte die zunächst glückliche Wendung „,Geschichte der Strukturen'", die Conze als „die Erweiterung und die schärfere Präzisierung zugleich für die durch allzu enge Abgrenzung stets gefährdete Sozialgeschichte" präsentierte.9) So wie der Begriff der Verfassung die Gesellschaft mit dem Staat verschnürte und den Gegensatz aufhob, so leistete der Strukturbegriff dasselbe für die Wissenschaft. Der Strukturhistoriker beobachtet das Verhältnis von Sozialgeschichte und Politikgeschichte gewissermaßen von oben und strebt danach, durch ihre Synthese die Geschichte der Politik und die Geschichte der Gesellschaft als Einheit zu schreiben. Damit wäre durch die Auslöschung eines wissenschaftlichen Anachronismus postum auch der zugrundeliegende gesellschaftliche Anachronismus bewältigt, zumindest die Unsinnigkeit der Trennungen gezeigt. Nach einer kurzen Klärung des Verhältnisses von Sozialgeschichte und Soziologie beide arbeiteten fruchtbar zusammen, wenn sich die Geschichtswissenschaft soziologischer Begriffe bediene und die Soziologie ihre Kategorien „ohne voreilige hypothetische Konstruktionen"10) konkret aus dem historischen Material entwickele und nicht vermeintlich allgemeingültige Gesetze aufstelle schloß Conze seinen Aufsatz mit einem komprimierten Kampfruf, einer zweiten Fanfare: „Die hier angedeuteten Grenzprobleme von Geschichtswissenschaft und Soziologie in der Sozial- oder Strukturgeschichte sind es wert, im einzelnen geklärt und erprobt zu werden. Das sollte nicht allein in der wissenschaftlichen Diskussion und Forschung, sondern in besonderem Maße im Unterricht der Universität und der Schulen erfolgen, auf daß dort mit den -
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-
7)
Die vorhergehenden Zitate ebd., S. 654 f. Otto Brunner bestätigte ihm das 1959: Das Ringen der Menschen um ihre Existenz sei politisches Handeln, das sich immer in vorgegebenen Ordnungsgefügen abspiele, z. B. in einer Polis. Als Bezeichnung für diese Betrachtungsweise scheine Conzes Strukturbegriff „am zweckmäßigsten und am wenigsten mit irreführenden Vorstellungen belastet": Brunner, Das Fach „Geschichte" und die historischen Wissenschaften, bes. S. 23 f. (Zitat S. 24). 8) Conze, Die Stellung der Sozialgeschichte in Forschung und Unterricht, S. 655. 9) Ebd., S. 656. 10) Ebd., S. 651.
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I Conzes Ansatz
noch sehr erheblichen Resten einer längst hinter uns situation aufgeräumt werden könnte."11)
liegenden Wissenschafts-
1956 trug Conze seine Ansichten in einem Vortrag vor der „Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen" (AGF) erneut vor, 1957 wurden sie gedruckt.12) Was hatte Conze vier Jahre nach dem ersten Aufsatz zu sagen? Die Vorstellung einer großen, fundamentalen kulturgeschichtlichen „Schwelle" (Hans Freyer) um 1800 wurde eingeführt. Eine ungeheure Transformation, eine „Wandlung zu neuer Form",13) die zu dieser Zeit „die gesamte Daseinsweise zunächst der west- und mitteleuropäischen, dann potentiell aller Menschen der Erde radikal verändert[e]", ergriff die abendländische Welt, die industrielle Gesellschaft entstand.14) Vergleichbares habe die Menschheit zuletzt vor 6000 Jahren erlebt, als eine erste Globalrevolution allen Lebens eingesetzt und die Zeit der Hochkulturen begonnen hatte. Jetzt, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, tauchte man in „die primäre Epoche der modernen Revolution"15) ein. Das traditionale Gesellschafts- und Staatensystem löste sich auf, die vorher recht unabhängig voneinander existierenden Kulturen und politischen Systeme verschmolzen zu einer europäischen Zivilisation, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts über die ganze Welt ausbreitete. Letztlich wurden alle Gesellschaftsordnungen der Welt durch die von Europa ausgehende technische, soziale und politische Revolution umgewandelt. Im industriellen Massenzeitalter schob sich die Macht unüberschaubarer Strukturen in den Vordergrund, gleichzeitig erklärte die bürgerliche Gesellschaft ihre Trennung vom Staat gefolgt von der erwähnten Zerteilung der Geschichtsschreibung in die Politik- und die zunehmend diskriminierte Sozial- oder Gesellschaftsgeschichte. Conze zog die Konsequenzen aus dieser Beschreibung, forderte erneut eine Revision des Geschichtsbildes, die Berücksichtigung der außereuropäischen Geschichte, die Darstellung der Geschichte Europas vom Frankenreich bis zur Revolutionsepoche als eines Strukturzusammenhanges ohne die fragwürdige Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit sowie die Vereinigung von Politik-, Begriffs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, von verstehenden, individualisierenden und typisierenden Methoden. „Damit ist ganz bewußt im Einklang mit Alfred Webers Heidelberger Schule eine Grenzverwischung zwischen Geschichtsschreibung und Soziologie zugegeben, sofern diese Soziologie sich wirklich historisch versteht". Natürlich dürfe man sich „nicht von der soge-
-
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H) Ebd., S. 657. 12) Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht. 13) Ebd., S. 7. Ob das als Verfall oder Wandlung zu deuten sei, diese Frage ließ Conze offen (mit deutlicher Tendenz, in diesem Prozeß eine Wandlung zu sehen). 14) Ebd., S. 12. 15) Ebd.
54
2. Ansatz und intellektuelle
Prägungen
politischen Geschichte entfernen", denn „zwingende Strukturen legen den Menschen nicht nur fest, sondern fordern den sie verändernden und gestaltenden Menschen heraus",16) aber der Politikgeschichte alleine gab er keine Chance, die Komplexität, das Ineinander von Strukturen und Freiräumen und die Unüberschaubarkeit der modernen Zeit angemessen erfassen zu können. Soweit Conzes Grundgedanken, die, wie er zunftmäßig korrekt formulierte, ein „kleiner Anstoß zu praktischen Folgerungen für unsere Forschung und Lehre"17) sein sollten. nannten
II Die Annales Welche intellektuellen Einflüsse hatten nun für Conze eine Rolle gespielt? Lange Zeit ist man davon ausgegangen, daß die französische Schule der „Annales" als vielleicht wichtigstes Vorbild für die frühe Sozialgeschichte fungiert hat.18) Diese Zuschreibung geht auf Werner Conze zurück, der Fernand Braudels Méditerranée-Buch 1951 begeistert für die HZ rezensiert hatte.19) Das Buch half ihm damals aus einer Verlegenheit, denn Conze hatte ein Begriffsproblem. Wie sollte er seinen umfassenden Ansatz benennen? Benennen mußte er ihn, um ihn erfolgreich vermarkten zu können. „Verfassungsgeschichte" war besetzt, „Vblksgeschichte" verbot sich von selbst, Otto Brunners „Inneres Gefüge" hätte die Sache genau getroffen, war aber nicht mehr zeitgemäß, und „Sozialgeschichte" erinnerte zu sehr an „Wirtschafts- und Sozialgeschichte", also an das Nischen- und Appendixdasein, das die Sozialgeschichte nach Conzes Willen ja gerade nicht mehr führen sollte. Braudels „Strukturgeschichte" schien dagegen eine passable Lösung, denn der Begriff war in Deutschland noch nicht besetzt, er stammte aus einer unverdächtigen Forschungstradition und er schien das zu bezeichnen, worum es Conze ging: die Analyse sozialer, politischer und ökonomischer Strukturen in ihrem Zusammenhang. Braudel hatte in seinem Mittelmeer-Buch drei Ebenen unterschieden, nämlich die „permanences" (die sich kaum verändernde Geographie) als erste, grundlegende Ebene; die berühmten „forces de la longue durée" bzw. die „structures" (die zäh sich wandelnden Strukturen der Kultur, der Mentalitäten usw.) als mittlere Ebene mit ihnen verbunden die „conjunctures", die relativ schneller schwankende Kurve der Preise, Löhne, der Démographie usw. -; und -
16) Die vorhergehenden Zitate ebd., S. 17f. 17) Ebd., S. 27. 18) Zu den Annales vgl. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre; Raulff, Ein Historiker
Burke, The French Historical Revolution; Fink, Marc Bloch; HonegEntstehen; Deutsch, La nouvelle Histoire; Schöttler, Lucie Varga; Ders., Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West). 19) Conze, Rez. Braudel, La Méditerranée et le Monde méditerranéen à l'époque de Philim 20. Jahrhundert; ger, Geschichte im
ippe II.
II Die Annales
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als oberste Ebene die „événements", die Ereignisse und Taten.20) Es gab freilich zwei entscheidende Schwierigkeiten. Die erste war der Anspruch Braudels, daß er die wechselseitigen Beziehungen der drei Ebenen nicht nur behauptet habe, sondern sie in seiner Darstellung tatsächlich miteinander habe verweben können. Conze übernahm diese Sicht, denn das war ein wichtiger Punkt für ihn. Ihm ging es ja darum, Handlungen und Strukturen in ihrer Verflechtung und gegenseitigen Bedingtheit darzustellen; ein Strukturbegriff, der das nicht in den Griff bekommen hätte, wäre für ihn überflüssig gewesen. Tatsächlich aber standen die drei Teile des Mittelmeer-Buches, die die drei Ebenen abhandelten, relativ unverbunden nebeneinander, Braudel hatte die Umsetzung seines Konzeptes in der Darstellung gerade nicht meistern können.21) Die zweite Schwierigkeit entstand dadurch, daß Conze Braudels Bewertung der „événements" falsch eingeschätzt hatte. Diese oberste Ebene stand in der Hierarchie der Ebenen für Braudel nämlich ganz unten, die Ereignisse waren ihm bloß ein Reflex auf der Oberfläche, Schaum, der von den Gezeiten der Geschichte davongetragen werde. Die „wahre Geschichte" wurde für ihn durch die langsam dahinfließende „longue durée" geschrieben, nicht durch die flüchtige, wankelmütige Ereignisgeschichte.22) Außerdem sah Braudel, anders als Lucien Febvre,23) die Strukturen eher als Zwingeisen denn als Möglichkeitsraum für menschliche Handlungen an. Braudels Wutschrei „Nieder mit den Ereignissen",24) den er in der Kriegsgefangenschaft ausgestoßen haben soll, hat Conze nicht vernommen, aber er hätte eigentlich merken müssen, daß Braudel die Notwendigkeiten vor den Freiheiten betonte, ontologisierte Strukturen den historischen Akteuren überordnete und die Ereignisse höchstens als Spiegel der Strukturen wertete. Diese Sicht entstammt den Erfahrungen Braudels im Kriege und in der deutschen Gefangenschaft. Aus französischer Sicht mußten die Ereignisse zurückgewiesen werden, um der Geschichte noch Sinn zu verleihen zu können: „Ich mußte daran glauben, daß das Schicksal, daß die Geschichte sich auf einer viel tieferen Ebene schriebe. Eine Langzeit-Skala der Beobachtung zu wählen hieß, die Position Gottvaters selbst als Zufluchtstätte zu wählen. Fern von uns und unserem täglichen Elend wird die Geschichte gemacht, eine Geschichte, die sich nur langsam vorwärtsbewegt, so langsam wie das uralte Leben des Mittelmeers, dessen Dauerhaftigkeit und majestätische
20) 21)
Nach Born, Neue Wege in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 302. Das haben Kommentatoren seit den fünfziger Jahren bemerkt: Ritter, Leistungen, Probleme und Aufgaben der internationalen Geschichtsschreibung zur neueren Geschichte, S. 310, Anm. 1; Parker, Braudels „Mediterranean", S. 240f.; Groh, Strukturgeschichte als „totale" Geschichte, S. 316f.; Honegger, Geschichte im Entstehen, S. 22; Reinhard, Ein sozioökonomischer Schöngeist, S. 237. 22) Daß Braudel die Legitimität und Bedeutung dieser Dimension nicht angezweifelt habe, vermerkt allerdings Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 127, Anm. 46. 23) Vgl. Burke, The French Historical Revolution, S. 14f. 24) Zitiert nach Honegger, Geschichte im Entstehen, S. 24.
56
2. Ansatz und intellektuelle
Prägungen
Unbeweglichkeit mich so oft ergriffen hatten."25) Conze sah das naturgemäß ganz anders. Vor dem Krieg, in seiner Ausbildungszeit, wurden Strukturen erforscht (der „germanische Kulturboden"), um darauf aufbauende politische Handlungen zu legitimieren. Außerdem waren es aus deutscher Sicht während der Kriegszeit ja gerade die Ereignisse, die der Geschichte ihren Sinn verliehen. Nach dem Krieg dagegen rückte ein Strukturbegriff in den Vordergrund, der vor 1945 ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt hatte und der auf die „so-
ziale Verfassung" einer Gemeinschaft bezogen war: In Verfassung befand sich ein soziales Gebilde, das als strukturiert angesehen werden konnte; strukturiert war es, wenn sämtliche Kräfte so ausbalanciert waren, daß das Ganze eine integrierte Gemeinschaft bildete. Der Gegenbegriff zu „Struktur" war „Auflösung", denn ständig bedrohten „zerstörerische Kräfte" die Balance. „Struktur" war nicht statisch, sondern mußte durch immer neue Anstrengungen, durch politisches Handeln, erhalten werden, bezeichnete also einen höchst dynamischen Prozeß.26) Gleichzeitig allerdings richtete sich in Deutschland das Augenmerk auf eine Strukturvorstellung, die dem menschlichen Handeln weniger Bedeutung zumaß, nämlich auf die durch die Industrialisierung entstandenen und durch Menschen nicht mehr vollständig beherrschbaren „sekundären Systeme", die Hans Freyer analysierte. Der Begriff schillert deshalb nicht nur, kompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, daß diese Vorstellungen selten explizit mit dem Begriff „Struktur" belegt wurden. Man brachte jede dieser Facetten eher unbewußt mit dem zunehmend populär werdenden Begriff „Struktur" in Verbindung, ohne zu sehen, daß man umgekehrt mit einem einzigen Begriff divergierende Bereiche zu bezeichnen versuchte und mit der Übernahme des französischen Strukturbegriffes eine weitere Variante ins Spiel brachte. Ein anderer Grund für die entstehende begriffliche Verwirrung mag gewesen sein, daß einige Historiker nach 1945 instinktiv erkannt hatten, daß sich Strukturen für bestimmte Zwecke der Sinnfüllung besser anboten als Handlungen, indem sie nämlich den Nationalsozialismus strukturhistorisch an die technische, soziale und politische Gesamtrevolution der europäischen Geschichte anzuheften vermochten und ihn so aus der Kontinuität der deutschen Geschichte herauslösen konnten. War es die verschieden motivierte (unbewußte) Übereinstimmung in der Sache, die Conze, der doch immer die Möglichkeit der Freiheit menschlicher Handlungen betonte, die Differenzen zu Braudels Ansatz übersehen ließ? Spielte es eine Rolle, daß Braudel, wie früher die Ostforscher, einen geographisch-kulturellen „Lebensraum" untersuchte? Begegnete Conze das Denken seiner eigenen Ausbilder in Braudels Text wieder, der tatsächlich durch die deutsche Geographie, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie beeinflußt
25)
Zitiert nach ebd. Die Episode mag stilisiert sein, aber sie zeigt, wo man ansetzen die die Geschichtsschreibung formierenden Faktoren finden will. Artikel „Agrarverfassung", S. 106. Conze, Vgl.
wenn man
26)
muß,
57
II Die Annales
worden war? Tarnte Braudels Rhetorik, mit der er Kollektivgebilde individualisierte, die fundamentalen Unterschiede?27) Las Conze das Mittelmeer-Buch also wie eine Königsberger Arbeit so wie Braudel die deutschen Arbeiten als französische gelesen hatte („Wie immer lesen Sie sich selbst beim Lesen seines Textes"28))? Das wäre ein interessanter Kreislauf des creative misreading. Oder hatte Conze zu der Zeit eine nebulöse Vorstellung von einigen älteren Arbeiten Marc Blochs und Lucien Febvres, die den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Historiographie stellten, und übertrug das unzulässigerweise auf Braudel? Waren es die persönliche Bekanntschaft mit Braudel und seine Sympathie für ihn, die Conzes kritisches Lesevermögen zu Wunschvorstellungen kanalisierten? All das und zusätzlich erhebliche Unklarheiten in Braudels Begrifflichkeit mögen zur ungenauen Rezeption durch Conze beigetragen haben, und es dauerte nicht lange, bis die ersten Probleme mit dem Strukturbegriff auftauchten.29) Gerade für deutsche Ohren klang rasch viel zu stark der Begriff Strukturdeterminismus mit und erinnerte an den in den fünfziger Jahren aufkommenden französischen Strukturalismus.30) Außerdem konnte man in Deutschland wohl den Begriff „Strukturwandel" denken, nicht aber als kontinuierliche Entwicklung, sondern nur als Stufenfolge in sich geschlossener Strukturquerschnitte, deren Abfolge man mit historiographischen Methoden nicht zu erklären vermochte. Auch Conze erkannte allmählich, daß Braudels „Histoire des structures" nicht dasselbe darstellte wie die von ihm oder Otto Brunner vertretene Sozialgeschichte. Die Annales bildeten keineswegs einen von zwei gleichberechtigten Traditionssträngen für die frühe deutsche Sozialgeschichte, wie Werner Conze es noch 1979 nahelegte,31) sie blieben eher ein Schild, hinter dem sich in der Vergangenheit belastete, aber ansonsten „sehr selbständige Ansätze"32) verbergen konnten. Zwar wurden in Conzes Heidelberger Oberseminar stets Texte der französischen Kollegen oder etwa Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer" diskutiert, doch hat das genausowenig wie die Kontakte zu britischen und amerikanischen Historikern die frühe Sozialgeschichte kon-
27)
Zu den drei
letztgenannten möglichen
Parallelen: Raphael, Die Erben
von
Bloch und
Febvre, S. 113-122.
28)
Febvre
an
Braudel
vom
23. 6. 1944, zit. nach Raphael, Die Erben
von
Bloch und
Febvre, S. 113, Anm. 17.
29)
Zu Braudel und seinem Mittelmeerbuch vgl. auch Lutz, Braudels La Méditerranée; Schmidt, Der historiographische Ansatz Fernand Braudels und die gegenwärtige Krise der
Geschichtswissenschaft. 30) Lepenies, Der französische Strukturalismus Methode und Ideologie, führte 1968 in seinem Übersichtsartikel die gängigen deutschen Vorbehalte gegen den Strukturalismus vor. 31) Vgl. Conze, Gedenkrede für Horst Stuke, S. 11; Ders., Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, S. 17. Mit dem zweiten Traditionsstrang war die Königsberger Linie gemeint. 32) Schmidt, Der historiographische Ansatz Fernand Braudels und die gegenwärtige Krise der Geschichtswissenschaft, S. 38. -
58
2. Ansatz und intellektuelle
Prägungen
zeptionell beeinflußt.33) Anfang 1971 ließ Conze den Schild „Strukturgeschichte" fallen und gestand, „Histoire des structures" unglücklich übersetzt zu haben. Er hat den Begriff nicht endgültig klären können.34) Und was sagte der große Franzose auf die Frage, was denn „Struktur" nun meine? „C'est à vous.
Les Allemands sont les philosophes."35) Nachgelassen haben Conzes Sympathien für seine französischen Kollegen insgesamt nicht, trotz gewisser Reserven.36) Er und sein späterer Heidelberger Kollege Erich Maschke hielten engen Kontakt zu Braudel, und Maschke hatte schon früh die Kapazitäten des jungen, noch unbekannten Jacques LeGoff erkannt und die Verbindung zu ihm hergestellt.37) Alles in allem wurden die Annales in Deutschland bis in die sechziger Jahre allerdings kaum rezipiert. Karl Ferdinand Werner, Fritz Wagner sehr kritisch -, Karl Erich Born und Manfred Wüstemeyer waren neben Conze und Maschke so ziemlich die einzigen, die über sie publizierten; in der HZ und den VSWG bildeten die Rezensionen über die französische Fachliteratur nur ein schmales Rinnsal, in dem die ganz wenigen besprochenen Annales-Arbeiten kaum auffielen. Erst 1974 erschien in der HZ ein Aufsatz zu den Annales, nicht von einem westdeutschen -
33) 34)
Das bestätigte Heilwig Gudehus in einem Gespräch am 1. 10. 1999. Zur Kritik am Strukturbegriff bzw. einer Definition der Sozialgeschichte als Strukturgeschichte: Groh, Strukturgeschichte als „totale" Geschichte, S. 301 f., Anm. 44; Ders., Kritische Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht, S. 81-91; Köllmann, Zur Situation des Faches Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Deutschland, S. 143-145. Köllmann sah durch die Strukturgeschichte die Individuen ausgeblendet, Groh (Kritische Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht, S. 82) sah „Ansätze zu einer kritischemanzipativen Geschichte unmöglich" gemacht. Vgl. auch Beutin, Rez. Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, S. 276f.; Conze, Einführung, S. 13; Ders., Der Weg zur Sozialgeschichte nach 1945, S. 74: Er sei sich der Implikationen des damals noch nicht sichtbaren „Strukturalismus" nicht bewußt gewesen. Der Strukturbegriff erfreute sich trotzdem in den Texten diverser Autoren einer gewissen Beliebtheit. Am überzeugtesten von ihm waren vermutlich Haller/ Schurig/Wolf, Arbeitsschwerpunkt Geschichte, S. 618, die ihn als Methode verstanden, die die Vergleichbarkeit verschiedenartiger Dinge unter einem gemeinsamen Bezugsrahmen
gleichsam garantiere. 35) An diese Worte Braudels erinnert sich Dieter Groh (Gespräch am 29. 10. 1997). 36) Vgl. Conze an Hermann Aubin vom 23. 5. 1958 (AVHD). 37) Zu den Kontakten zu Braudel: Conze an Theodor Schieder vom 7. 4. 1955, 24. 3.
1957
(BAK N 1188/4); Conze an Kurt v. Raumer vom 14. 6. 1959 (ULBMs Nl von Raumer B 346); Conze an Günther Ipsen vom 14.10. 1958 (SFSt. 17); Conze an Helmut Schelsky vom 25. 5. 1955 (SFSt. S/5); Maschke an Ritter vom 13. 7. 1965; Ritter an Maschke vom 27. 7. 1965 (HStAS J 40/10, Nr. 34); die Akte „Gastprofessur in Paris April bis Mai 1963" (HStAS J 40/10, Nr. 19); Gespräch mit Dieter Groh am 29. 10. 1997; Maschke, Begegnungen mit
der Geschichte, S. XVII. Außerdem Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 490. Am 3. 7. 1965 beantragten Maschke und Conze die Aufnahme Braudels in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Im Antrag teilte Maschke ausdrücklich mit, daß Braudel die Ereignisgeschichte als irrelevant betrachte. Das mache aber nichts, denn durch diese Einseitigkeit würden umgekehrt weite Bereiche des geschichtlichen Lebens zum ersten Male erfaßt (HStAS J 40/10, Nr. 34).
II Die Annales
59
von Georg G. Iggers; einige wenige Male durften sich die Franzosen in deutschen Zeitschriften selbst vorstellen. Diese Nichtrezeption dürfte zwei Gründe gehabt haben. Traditionelle Historiker wie Gerhard Ritter standen in harter Opposition zur sogenannten französischen „Kulturgeschichte", wie wir sehen werden. Die jüngeren Sozialhistoriker, die Schüler Conzes, Schieders usw., dagegen nahmen fast ausschließlich amerikanische Einflüsse auf.38) Und die älteren Sozialhistoriker wiederum besaßen erprobte deutsche historiographische Traditionen, auf die sie rekurrieren konnten, deshalb wird man nicht argumentieren können, daß ein besserer Informationsfluß über die französischen Ansätze die Rezeption ihrer Ansätze verbessert hätte.39) Im Gegenteil, der dünne Informationsfluß rührt daher, daß kein Informationsbedarf bestand. Die meisten deutschen Historiker gaben sich der französischen Geschichtswissenschaft gegenüber bis zur Taktlosigkeit indifferent, wie eine Episode um einen Nachruf auf Marc Bloch, der 1944 von der Gestapo ermordet worden war, zeigt. Robert Fawtier mußte deutlich tadeln, daß die deutschen Historiker die Erschießung Blochs einfach ignoriert hätten, bevor Gerhard Ritter 1950 einen Nachruf in der HZ arrangierte. Von der symbolischen Bedeutung Blochs für die französischen Historiker hatte Ritter nichts begriffen, und auf dem Historikertag in München gedachte die Gemeinschaft ihrer umgekommenen deutschen, nicht aber des französischen Kollegen, den immerhin deutsche Behörden auf dem Gewissen hatten.40) Noch Jahre später war man vom Tode Blochs peinlich berührt. Erich Maschke schrieb 1965 einen Beitrag für die Erich-Preiser-Festschrift und hielt es für „in jedem Falle wichtig, in Deutschland noch einmal auf die Bedeutung von Bloch aufmerksam zu machen."41) Dabei wollte er auch die Art, wie Bloch zu Tode gekommen war, nicht verschweigen. Friedrich Lütge, der Herausgeber, antwortete: „Aber ich habe dann noch eine Frage, die ich in gewohnter Offenheit vorbringe: Sie haben zwei mal, und zwar auf Blatt 1 und auf Blatt 2, seine Erschiessung durch die Gestapo er-
Historiker, sondern
38)
Zur deutschen Rezeption der Annales: Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 485^197; Kaelble, Sozialgeschichte in Frankreich und der Bundesrepublik, bes. 77-83; Erbe, Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung, S. 1-25. Vgl. auch Schule, Die Tendenzen der neueren französischen Historiographie und ihre Bewertung, der 1968 eine genaue Rezeption der Annales verlangte, um endlich einmal nicht nur die berechtigten Einwände, sondern auch die vorbildhaften Leitungen wahrnehmen zu können. Vgl. auch Werner, Hauptströmungen der neueren französischen Mittelalterforschung; Ders., Rez. Georges Duby, La société aux 11e et 12e siècle dans la région mâconnaise; Ders., Die Geschichtswissenschaft und ihre Methoden; Wagner, Moderne Geschichtsschreibung, Kap. 5; Born, Neue Wege in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Wüstemeyer, Die „Annales"; Leuilliot, Moderne Richtungen in der Behandlung der neueren Geschichte in Frankreich; Mandrou, Probleme und Methoden der heutigen französischen Geschichtsforschung. 39) Diese Sicht legt Chun, Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit, S. 149, nahe. 40) Vgl. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 170f. 41) Maschke an Friedrich Lütge vom 15. 1. 1965 (HStAS J 40/10, Nr. 68).
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2. Ansatz und intellektuelle Prägungen
wähnt. Grässlich, an das denken zu müssen. Aber meine Frage geht nun dahin, ob es nicht genügt, wenn das einmal gesagt wird. Und da scheint mir Blatt 3 der rechte Ort zu sein."42) -
III Hans
Freyer
Ein anderer Einfluß ist in Conzes Programm dagegen deutlich spürbar, derjenige Hans Freyers, und das war kein Mißverständnis und auch kein bloßes Aushängeschild. Freyer (1887-1969) ging in die deutsche Soziologiegeschichte ein als einer der wichtigen Anreger und zugleich umstrittenen Gelehrten. Man verortet ihn im Lager jener radikalen Intellektuellen der zwanziger und dreißiger Jahre, die mit dem Begriff „Konservative Revolution" zusammengeklammert wurden und die Stefan Breuer, der diese Klammerung als nachträgliche Konstruktion betrachtet, lieber „neue Nationalisten" nennen möchte.43) „Neu" wie „Revolution" kennzeichnen eine Gemeinsamkeit: Diese Konservativen versuchten nicht, in eine vermeintlich goldene Vergangenheit zurückzukehren, sondern sie setzten sich mit der Moderne auseinander. Sie lehnten sie nicht ab, sie resignierten nicht, sie glorifizierten sie nicht, sondern sie versuchten eine nüchterne Diagnose, um „Kultur" und (konservative) Werte innerhalb der unwiderruflich technisierten und industrialisierten Welt mit ihren fundamentalen gesellschaftlichen Umwälzungen im Gefolge zu behaupten. In dieser Welt suchten sie eine Gesellschaftsordnung zu stabilisieren, die zerstörerischen „individualistischen" Tendenzen, kapitalistischem Profitdenken und sozialistischen Revolutionsdrohungen standhalten konnte. Die Machtergreifung feierten sie noch, auch wenn sie die „nationalsozialistische Revolution" zunächst nur als eine der Optionen ansahen, die Gegenwart sinnvoll zu bewältigen und die Dynamik der Moderne in einer Volksgemeinschaft in Schach zu halten. Schon Ende 1936 jedoch erkannten sie, daß das „Dritte Reich" nicht der Vollstrecker ihrer Revolution war. Wie viele andere zog sich auch Hans Freyer in eine Art „innere Emigration" zurück, materiell gesichert auf dem Posten des Präsidenten des „Deutschen Wissenschaftlichen Instituts" in Budapest, wo er diverse Arbeiten für seinen Arbeitgeber, das Reich, ausführte und bis 1944 überwinterte. Freyer ging auf Distanz und gleichzeitig nie wirklich in Opposition zur Diktatur.44) 13. 6. 1965 (Hervorhebung von Lütge). Maschke war mit Brief 15. 6. einverstanden. Sein Text sei noch nicht ganz durchgearbeitet gewesen, deshalb die doppelte Erwähnung (HStAS J 40/10, Nr. 68). 43) Vgl. Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, S. 180-201. ^) Zur „Konservativen Revolution" sowie Hans Freyers Person und Werk: Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution; Muller, The Other God That Failed; Ders., „Historical Social Science" and Political Myth; Sieferle, Die konservative Revolution, S. 19f., 23^13, 164-197; Bernsdorf/Knospe, Internationales Soziologenlexikon (2. Aufl.), Bd. 1,
42) Lütge an Maschke vom vom
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1925 nahm Freyer einen Ruf an die Universität Leipzig an, und in den folgenden Jahren wurde sein Name weithin bekannt als der eines führenden Vertreters der „(Weimarer) historischen Soziologie", in deren Umkreis sich in Leipzig auch Günther Ipsen, Werner Markert, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky und Hans Linde bewegten.45) Die Vertreter der „historischen Soziologie" bildeten gewissermaßen den soziologischen Zweig der „Konservativen Revolution". Sie machten die „Krise der Gegenwart" zum Ausgangspunkt ihrer diagnostischen, empirisch fundierten Arbeit (die Bezeichnung „Realsoziologie" sollte diesen Anspruch unterstreichen). Soziologische Theorien und systematische Begriffe lehnten sie nicht ab (wohl aber entschieden antimarxistisch die Auffassung, daß Geschichtsprozesse gesetzmäßig verlaufen), doch sie beanspruchten, sie ausschließlich als Instrument zu benutzen, mit dem sie die eigentliche Basis der soziologischen Arbeit, das reichhaltige historische Datenmaterial, aufschlüsselten. Dazu kamen eine (universal)geschichtliche Orientierung, eine interdisziplinäre Ausrichtung, ein ausdrückliches Bekenntnis zu gesellschaftspolitischem Engagement und zwei Hauptfragen, die die Soziologen dieser Richtung antrieben: „(a) wohin treibt der Kapitalismus? (b) Wie ist es unter den neuen Lebensformen, welche die industriekapitalistische Entwicklung hervorbringt, um den Freiraum und Sozialcharakter des modernen Menschen bestellt?"46) In dieser Tradition propagierte Hans Freyer die „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft", wie sein berühmter Terminus lautete. Die Soziologie sei zwar eine systematische Wissenschaft, die nicht auf die Beschreibung und sondern individueller Phänomene Deutung ziele, allgemeine Aussagen über die Gesellschaft suche. Aber nicht Modelle, die der Wirklichkeit aufgepreßt würden, nicht Gesetze, die angeblich den Lauf der Welt bestimmten, erst recht nicht eine marxistische Teleologie. Zuerst kommt für den Realsoziologen die empirische (historische) Arbeit mit Hilfe systematischer Begriffe. Dann destilliert er aus dem Material konkrete soziologische Begriffe heraus, die eine Analyse der Gesellschaft ermöglichen. Die Begriffe entspringen immer der Wirklichkeit, sie sind durch den Gang der Geschichte formiert, sie tragen in -
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S. 131-133; Schäfer, Wider die Inszenierung des Vergessens; Üner, Nachwort (sehr apoZur Kontinuität dieser konservativen Auseinandersetzung mit der Moderne bis in die frühe Bundesrepublik: Chun, Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit, S. 23-118. 45) In Leipzig studierte auch Werner Conze bei Freyer und lernte ihn schätzen (Gespräch mit Gisela Conze am 21. 10. 2000). 46) Kruse, Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945, S. 22. Zur Soziologie in Leipzig, zur Soziologie in der Weimarer Republik und zur „historischen Soziologie": Linde, Soziologie in Leipzig 1925-1945 (aus der Sicht eines Betroffenen); Käsler, Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungsmilieus; Stölting, Akademische Soziologie in der Weimarer Republik; Kruse (wie oben), S. 9^t9; Schäfer, Wider die Inszenierung des Vergessens; Gutberger, Volk, Raum und Sozialstruktur, S. 89-125.
logetisch).
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2. Ansatz und intellektuelle
Prägungen
sich „den im Sinne der Zeit gerichteten Pfeil",47) wie Freyer formulierte. Sie werden nicht im freien intellektuellen Spiel der Soziologen konstruiert, sondern der Wirklichkeit abgelauscht.48) Die Soziologie ist keine Logos-, sondern eine Ethos-Wissenschaft, weil sie sich auf die existentielle Situation des Menschen in seiner Gegenwart bezieht, der nicht frei von einer Situation, sondern nur frei in und zu ihr ist, der frei ist zu entscheiden und dauernd gezwungen ist zu entscheiden. Soziologische Begriffe müssen maximal historisch gesättigt, aber gerade noch verallgemeinerungsfähig sein, sie müssen ein konkretes geschichtliches Phänomen auf seinen wesentlichen Sinn zusammenziehen, um in der existentiellen Situation die Tat vorbereiten zu helfen. Deshalb besteht auch eine innige Verbindung zwischen historischem und soziologischem Denken (als Gewährsmann dient Karl Lamprecht), Geschichtsschreibung und Soziologie sind höchstens durch die Nuance einer Perspektivverschiebung voneinander getrennt. „Eine Entgegensetzung von geschichtlichem und soziologischem Denken nach dem logischen Schema von Allgemeinem und Besonderem verkennt prinzipiell, wie in der geistigen Welt Gesetz und Individualität, Allgemeingültigkeit und konkrete Einmaligkeit verknüpft sind."49) Ein richtiger Historiker ist immer auch Soziologe.50) Freyers Ansatz, historisches, philosophisches und soziologisches Denken „zu einer nur selten anzutreffenden Synthese"51) zu verflechten, verkündete Werner Conze nach 1945 als methodisches Credo für die neue Sozialgeschichte. Freyers späte Gesellschaftstheorie lieferte den plot. Nachdem nämlich 1945 der radikale Versuch endgültig gescheitert war, das „Volk" als Widerstandsfaktor gegen die unaufhaltsame Technisierung der Welt zu aktivieren, fand sich Freyer melancholisch mit der Industriegesellschaft ab, ohne von dem Unternehmen zu lassen, den Bedeutungsverlust von Werten und der „Kultur" aufzuhalten. Das Thema Industriegesellschaft präsentierte Hans Freyer seinen Lesern schon in den dreißiger Jahren,52) 1948 erschien dann die „Weltgeschichte Europas", noch in Budapest geschrieben, als Geschichte einer doppelten Bewegung: der des allmählichen Werdens Europas und seiner Abschottung gegen „Asien" in knapp 2000 Jahren und der des Überquellens der europäischen Zivilisation über ihre Grenzen hinweg auf die Welt seit dem Ende des -
47) Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 199. 48) Was die Richtung des Pfeils im Sinne der Zeit nach 1933 bedeutete, führte Hans Freyer 1935 in seinem Aufsatz über die „Gegenwartsaufgaben der deutschen Soziologie" aus. Interessant ist übrigens, daß das Postulat des unbedingten Gegenwartsbezuges seinerseits rein formal blieb, denn die Praxis, Kategorien „im Sinne der Zeit" zu bilden, wurde nach 1945 fortgesetzt, ohne über eine eventuelle Zeitbezogenheit der Vorschrift zu diskutieren. 49) Freyer, Geschichte und Soziologie, S. 210 f. 50) Vgl. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft; Ders., Gesellschaft und Geschichte; Ders., Geschichte und Soziologie; Ders., Gegenwartsaufgaben der deutschen So-
ziologie. 51) Bernsdorf/Knospe, Internationales Soziologenlexikon (2. Aufl.), Bd. 1, S. 52) Vgl. Freyer, Revolution von Rechts.
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18. Jahrhunderts. Ein revolutionärer Prozeß, welcher der Welt zunächst die industrielle Revolution, dann auch die politischen und sozialen Revolutionen brachte und die alten Gesellschaftsordnungen beseitigte auf dem Kontinent die „alteuropäische", wie Otto Brunner sie nannte. Die drei Revolutionsbewegungen hingen zusammen und bildeten eine nie gekannte Totalität, die die gesamte Welt unter ein neues „Lebensgesetz" stellte; ihr waren Industriegesellschaft wie Arbeiterbewegung, Nationalstaat wie bürgerliche Gesellschaft, Nationalsozialismus wie Kommunismus entsprungen. Freyer war von seiner Diagnose nicht erfreut, er verdammte die Zustände jedoch nicht. Einhalt ist nicht möglich, doch wie kann man das gute Erbe wirksam erhalten?53) Freyers Probleme blieben nach dem Kriege die alten, die Problemlösungen begegnen dem Leser modifiziert und entradikalisiert. Zuerst kommt die Diagnose, um die Frage nach der Befindlichkeit der Menschen in diesem Lebenssystem richtig stellen zu können, die Diagnose ist dann Teil der weder vollends pessimistischen noch halbwegs optimistischen Antwort. Freyer machte in seiner „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" (1955) die Leser auf die zunehmende Autonomie technischer und sozialer Prozesse aufmerksam, die immer stärker in das Leben der Menschen eingriffen und immer weniger kontrollierbar würden. „Sekundäre Systeme" nannte er sie, weil sie keine gewachsene organische Ordnung seien, sie entbehrten des Lebens. Ausführlich beschrieb er die Gefahren, die der Freiheit des Einzelnen drohten: die Verstrickung in unüberschaubare Mechanismen; die zunehmende Abhängigkeit von einem allmächtigen Sozialstaat; den Verlust von Verantwortung und Pflichten, die nötig sind, um Freiheit überhaupt bestimmen zu können; die Beliebigkeit, alles per Katalog wählen zu können; Gleichheitsforderungen, die jede Individualität nivellieren; die Unmöglichkeit, im Informationszeitalter noch eigene Erfahrungen machen zu können. Die „sekundären Systeme" zerteilen das Leben des Menschen in Funktionsaspekte und machen ihn zu einem verwaltbaren Fall, zum Teil einer breiigen, jedoch hochdifferenzierten Masse, je nach der Funktion, die er erfüllen soll, abrufbar. Sie entpersönlichen „nicht durch Befehl, sondern durch Bereitstellen",54) sie „entfremden", wie Freyer in Anlehnung an Marx formulierte, von der ursprünglichen, gewachsenen Ordnung, in der der Mensch noch als Einheit leben durfte. Seine Pointe war jedoch, daß dieser Prozeß zwar unumkehrbar, aber nicht völlig hoffnungslos verlaufen sei.55) Man könne und müsse die „haltenden Mächte" pflegen, jene Partikel aus Tradition und Kultur, die Widerstandsnester gegen die immer übermächtiger werdenden „sekundären Systeme" bilden könnten, d. h. Geschichte, Familie, Nachbarschaft, Lehrer-Schüler-Verhältnisse -
53) Vgl. Freyer, Weltgeschichte Europas. 54) Ebd.,S. 111. 55) Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters, S. 110.
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2. Ansatz und intellektuelle
Prägungen
und dergleichen mehr. „Ihre Aufgabe ist es nicht, den weiterstrebenden Prozeß abzubremsen [- „was nur beharrt und sich der Veränderung nur widersetzt, spielt in der Geschichte nicht lange mit; Bremsen schleifen sich ab, dann läuft der Wagen erst recht davon" -], sondern sich ihm einzuschmelzen und ihm das osmotisch mitzuteilen, was in sekundären Sachsystemen nie wachsen kann: Lebendigkeit, menschlicher Sinn, menschliche Fülle und Fruchtbarkeit."56) Freyer gestand dem beschriebenen System zu, daß es im eigenen Interesse Freiheit voraussetze und Widerstand gegen sich selbst ermögliche, da es sonst als totalitär verworfen werde. Sogar aussteigen könne man aus dem Versorgungs- und Konsumstaat in gewissen Maßen. „Das setzt unter Umständen ein wenig Courage voraus, und insofern wäre dann zu sagen: wer nicht frei ist, ist selbst daran schuld."57) Das band Freyer an die neue Republik. Sie bildete die Verfassungsform eines sekundären Systems, der westdeutschen Industriegesellschaft, doch sie versprach, durch den festgeschriebenen Pluralismus der Interessengruppen, nie soviel Macht für den Staat akkumulieren zu können wie ein sozialistischer Staat. Während der tendenziell gesellschaftliche Totalitarismus eines sekundären Systems Freiraum für die Individuen ließ, verhinderte die Bundesrepublik einen politischen Totalitarismus. Deshalb bildete sie die einzige Alternative zum sozialistischen Modell, die ein deutscher bildungsbürgerlicher Konservativer, der realistisch dachte, zu der Zeit noch befürworten konnte. Freyer diagnostizierte den Totalitarismus im Dienste des Antitotalitarismus. Von der Bewältigung der Industriegesellschaft qua Integration aller in die „Volksgemeinschaft" hatte er das Problem auf die Erhaltung der individuellen Autonomie der Einzelnen in der Industriegesellschaft verschoben, von „Volk" und Nation hatte er umgestellt auf übernationale, extrem langfristige kulturelle Kontinuitäten und deshalb auf „Europa". Der bürgerliche Liberalismus mußte nicht mehr überwunden werden, um die Zeit zu heilen, er war zu einer ihrer „haltenden Mächte" mutiert.58) Mit dieser skeptischen Zustimmung hatte Freyer den Nerv vieler konservativer Intellektueller getroffen,59) hatte doch eine ganze Reihe von ihnen eine
56)
Beide Zitate: Freyer, Der Fortschritt und die haltenden Mächte, S. 128. 1960 war sogar „Industriekultur" die Rede: Freyer, Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft. 57) Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters, S. 114. 58) Zu dieser Umstellung Freyers vgl. Muller, The Other God That Failed, S. 314, 317, 331-340; zur Wandlung der „neuen Nationalisten" allgemein: Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, S. 166-179. 59) Sein Vortrag auf dem Ulmer Historikertag von 1956 (Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters) wurde gleich dreimal gedruckt: am 3. 10. 1956 gekürzt in der FAZ (S. 6), 1957 in der HZ sowie als eigenständige Schrift (Göttingen 1957). An der Sozialforschungsstelle in Dortmund hielten die wissenschaftlichen Mitarbeiter ein Kolloquium mit Freyer ab, Teilnehmer waren u. a. Günther Ipsen und Wilhelm Brepohl (Rundschreiben an die wissenschaftlichen Mitarbeiter vom von
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ähnliche Entwicklung durchgemacht. Sie akzeptierten die gesellschaftlichen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg einigermaßen, weil sie einsahen, daß sie sich mit ihnen auseinandersetzen mußten, um von der alten Welt zu retten, was zu retten war. Viele hatten sich ebenfalls ernüchtert oder wenigstens äußerlich von ihren völkischen Träumen abgewandt, sie hatten ebenfalls von der Nation auf Europa und das Abendland umgestellt, und sie anerkannten Freyers Analysen als Mittel für ihre bewahrende Arbeit.60) Seine „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" (1955) entwickelte sich zum durchschlagenden Erfolg. Sie schrieb die resignierte Aussöhnung konservativer Intellektueller mit dem pluralistischen Zeitalter fest, und Begriffe wie „sekundäre Systeme" oder „haltende Mächte" gingen in den intellektuellen Diskurs ein.61) Freyer hat nie wieder als Ordinarius wirken können. Nach Budapest und einem kurzen Aufenthalt in Leipzig mußte er sich beim Brockhaus-Verlag in Wiesbaden durchschlagen, seit 1953 nahm er als Emeritus Gastprofessuren in Münster und Ankara wahr. Aber er war als grand old man in den Geisteswissenschaften präsent und ein respektabler Schild für Werner Conzes Bestrebungen.62)
17. 7. 1956 [SFSt., allg. Korrespondenz 1955-1959]). Vgl. außerdem die zustimmenden bis lobenden Rezensionen zu Freyers Arbeiten, etwa: Köhler, Rez. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters; Lipp, Rez. Freyer, Schwelle der Zeiten; Steinen, Rez. Freyer, Weltgeschichte Europas; Balla, Rez. Freyer/Papalekas/Weippert, Technik im technischen Zeitalter; Conze, Rez. Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters; Ders., Rez. Freyer, Weltgeschichte Europas; Freund, Zur Theorie der Freiheit, Sp. 159-162. Man müßte genauer untersuchen, wie Gedankengänge Freyers (und ähnlich denkender Kollegen) in die Arbeiten von Historikern eingegangen sind. Ein Beispiel ist der „Bericht des Abteilungsleiters für neuere Geschichte" für die erste Sitzung des wissenschaftlichen Beirates des MPI für Geschichte am 18. 12. 1956, S. 14 (BAK N 1213/25), in dem deutlich Freyers Denkfiguren zum Ausdruck kommen. 60) Einige Autoren waren sogar im Begriff, den Eurozentrismus zu überwinden: Vgl. z.B. Locher, Die Überwindung des europäozentrisehen Weltbildes; Raupach, Rez. Brinkmann, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 268. 61) Vgl. Freyer, Weltgeschichte Europas; Ders., Theorie des gegenwärtigen Zeitalters; Ders., Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters; Ders., Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft; Ders., Der Fortschritt und die haltenden Mächte; Ders., Die weltgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts. Zu Freyers Diagnose der Nachkriegsgesellschaft: Kruse, Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945, S. 141-186. 62) Zur Bedeutung Freyers für die Sozialgeschichte: Muller, „Historical Social Science" and Political Myth, bes. S. 227-229.
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2. Ansatz und intellektuelle Prägungen
IV Günther Ipsen Günther Ipsen war neben Hans Rothfels der zweite geistige Ziehvater Conzes. Inhaltlich ist seine Arbeit nicht ganz so direkt greifbar in Conzes sozialhistorischer Konzeption, er hat ihn eher methodisch geschult und der Soziologie nahegebracht. Außerdem soll er einen starken persönlichen Einfluß auf seinen Schüler gehabt haben, doch der verbirgt sich leider hinter dem Fehlen der Nachlässe Conzes wie Ipsens. Ipsen, 1899 in Innsbruck geboren, wurde 1922 in Leipzig promoviert, 1925 habilitiert und bekleidete von 1926 bis 1933 ebendort eine Professur. Dann wechselte er nach Königsberg, wo Conze ihn kennenlernte. 1939 ging er nach Wien, wo er Conzes Habilitation betreute. In Wien plante er, zusammen mit Arnold Gehlen ein Institut zu eröffnen, an dem beide eine „Philosophische Anthropologie" im Sinne Gehlens betreiben wollten, als moderne empirische Sozialwissenschaft zur Analyse der Gesellschaft, freilich eindeutig mit dem Ziel, „das für eine Sicherung der deutschen Vormachtstellung in Südosteuropa benötigte Expertenwissen bereitstellen zu können".63) Conze hätte ebenfalls zu diesem Projekt stoßen sollen, vermutlich kamen ihm die erwähnten Wiener Querelen dazwischen. 1945 wurde Ipsen entlassen und aus Österreich ausgewiesen. Aber auch ihn brachten die Königsberger Seilschaften 1951 wieder auf eine Stelle, er wurde Abteilungsleiter an der Sozialforschungsstelle in Dortmund. 1961 mußte er gehen, denn er hatte es sich offenbar nicht nur mit den Mitarbeitern der Sozialforschungsstelle gründlich verscherzt, sondern beide Kandidaten für die Nachfolge der Leitung der Forschungsstelle, Richard Berendt und Helmut Schelsky, hatten Ipsens Abgang jeweils zur Bedingung für ihre mögliche Berufung gemacht. Berendt aus politischen Gründen, Schelsky, der schon zu Königsberger Zeiten mit Ipsen aneinandergeraten war und im Krieg unter ihm als Leutnant gedient hatte,64) aus Gründen des Arbeitsklimas. Der ehemalige Major Ipsen hätte es ohnehin nicht verwinden können, nunmehr seinem ehemaligen Leutnant zu unterstehen. Als Persönlichkeit muß Ipsen extrem gewesen sein: autoritär, reaktionär, ein brillanter Denker (als Sprachwissenschaftler geschult), aber zu befangen, um vor Publikum ungehemmt Vorlesungen halten zu können, ein fanatischer Rechner, der unablässig aus immensen Datenmassen Muster und Proportionen herausrechnete. Er hatte den Anspruch, aus den Statistiken die konkrete Wirklichkeit zurückzuerrechnen, seine Schüler nannten das „Entzifferung". Die Niederschrift der Ergebnisse war ihm eine Qual. Conze stand immer im Banne Ipsens, methodisch wie persönlich, und er lobte in den Briefen an seinen Lehrer dessen Arbeiten überschwenglich. Ipsens Demographie-Aufsatz war ihm eine Bibel, noch 1975 pries er ihn als unverzichtbar. Ipsen wurde selbstverständlich Mit-
63) Vgl. Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, S. 230 f. (Zitat S. 231). 64) Vgl. Schelsky, Zur Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie,
S. 25-28.
IV Günther
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Ipsen
glied in Conzes „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte". 1959 erlangte er in gewisser Weise seinen Professorenstatus wieder, in Form seiner Emeritierung als „Professor zur Wiederverwendung" in Münster. Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät hatte ihn wie Freyer auf Initiative Andreas
Predöhls wieder durch die Tore der Universität hereingeholt, um beide als Emeriti „ad majorem gloriam der Fakultät wirken" zu lassen.65) Aber noch 1960 hielt man „politische Entgleisungen", eine „politisch gefälschte Bevölkerungslehre", eine „antisemitische Haltung" oder „Rückfälle" bei ihm für möglich. Es spricht einiges dafür, daß Ipsen bis zu seinem Lebensende politisch weit rechts außen stand.66) Er starb 1984.67) Was hatte Ipsen Conze also methodisch zu bieten? Ipsen verband wie Freyer soziologische mit historischen Fragestellungen, er war wie Freyer ein „Realsoziologe". Die „Einsicht in die dialektischen Spannungen sozialer Ordnung und historischer Prozesse"68) versuchte er aus empirischem Material zu ziehen und
65)
Predöhl (ebenfalls ein Königsberger) an die SFSt. vom 30. 8. 1960 (SFSt. PA Ipsen); Muller, The Other God That Failed, S. 359. 66) Zum „Fall Ipsen" vgl. Walther G. Hoffmann an Berendt vom 27. 7. 1959 (SFSt. Handakte Präsident); Aktenvermerk vom 17. 5. 1960; Aktenvermerk vom 19. 5. 1960; Ipsen an den Präsidenten der SFSt., August Flesch, vom 12. 8. 1960; Aktenvermerk vom 14. 8. 1960; Hoffmann an Flesch vom 29. 8. 1960; Predöhl an Flesch vom 30. 8. 1960; Ipsen an Hoffmann vom 3. 9. 1960; Flesch an Ipsen vom 3. 9. 1960 (SFSt. PA Ipsen). An diesen Stellen finden sich auch die Bemerkungen über das, was man Ipsen zutraute wenn auch meist in-
formuliert: Man ging davon aus, daß man nun davor sicher sein konnte. Vgl. auch ConBemerkung an Rothfels vom 30. 1. 1955, daß bei Dietrich von Oppen politische Entgleisungen nicht vorkommen könnten. Es ging um eine Rede vor dem Infanterie-Regiment 1, vor von Oppen hatte von Ipsen gesprochen, so daß ich die Bemerkung als indirekt auf Ipsen gemünzt ansehe (BAK N 1213/1). Von Ipsen selbst findet sich in den wenigen erhaltenen Briefen verständlicherweise nichts, was die Ungebrochenheit seines Denkens dokumentieren könnte, außer vielleicht die folgende Bemerkung an Walther Hubatsch vom 1. 2. 1950: „Sie sind und bleiben mein Mann nämlich, um es kurz zu sagen, ein preussischer Grenadier im Geiste. Und damit (aber das ist nur für Ihre Ohren) der Deutsche von morgen." (SFSt. I 37). Bezeichnend sind auch seine Überlegungen für die Auswahl von Offizieren für „die neue Wehrmacht": Den Vorschlägen ehemaliger Wehrmachtsoffiziere etwa solle entscheidender Wert beigemessen werden, besonders wenn sie alte Kameraden vorschlügen. Die Bejahung der demokratischen Staatsordnung dagegen stand bei seinen Auswahlkriterien erst an fünfter Stelle. Davor rangierten Bewährung an der Front und in der Führung und das Verhalten in der Kriegsgefangenschaft (SFSt. I 15). Wolfram Fischer bestätigte im Gespräch am 29. 9. 1997 den Eindruck, daß Ipsens politische Einstellung ungebrochen geblieben sei. 67) Zum Vorhergehenden vgl. Linde, Soziologe in Leipzig 1925-1945; Mackensen, Günther Ipsens Bevölkerungslehre (bes. S. 43^4-7); Ders., Vorwort; Ders., Nichts als Soziologie aber welche?, S. 173-175, 180f.; von Oppen an Ipsen vom 20. 9. 1959; Köllmann an Ipsen vom 9. 7. 1960 (SFSt. 123); Conze an Ipsen vom 21. 10. 1956 (SFSt. 17); Gespräch mit Wolfram Fischer am 29. 9. 1997. Conzes Wertschätzung für Ipsens Arbeiten findet sich in ihrem Briefwechsel zum Emser Kreis (SFSt. I 7); und in Conze, Einleitung (in: Sozialgeschichte der Familie), S. 10. Sie wurde mir außerdem von Hans Medick in einem Gespräch am 30. 9. 1997 bestätigt. Der erwähnte Démographie-Aufsatz: Ipsen, Bevölkerung. -
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68) Bernsdorf/Knospe, Internationales Soziologenlexikon (2. Aufl.), Bd. 2, S. 385.
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2. Ansatz und intellektuelle
Prägungen
nicht aus ungeprüften Vorurteilen, Meinungen, Ideologien oder abstrakten Theorien. Er „zielte als Soziologe und Demograph auf die konkreten Lebenseinheiten, aus denen sich ein Volk zusammensetzt, besonders auf die bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten, deren generatives Verhalten nicht nur durch Sitte und Gesetz reguliert oder durch herrschaftliches Recht gesteuert wurde, sondern ebenso abhängig war von dem Nahrungsspielraum, der einer jeweils verschieden situierten Familie zur Verfügung stand. Geburten- und Sterbeziffern, statistisch aufbereitet, korreliert mit Besitz, Erbrecht und Familiengröße, auch mit Lohn und Preisreihen, erlaubten es dann, langfristige Bevölkerungsbewegungen und Verhaltenswandel zu erklären, ohne darüber die Anschauung vom arbeitsreichen Leben auf dem Hof und dem Feld zu verlieren. In einem Satz, eine Nation, wie immer sie sich politisch konstituiert, ist zunächst einmal eine Geschichte gesellschaftlicher Schichten."69) Mit seiner Bevölkerungslehre von 1933 erweiterte Ipsen die Analyse der Bevölkerungsentwicklung über biologisch determinierte Sichtweisen hinaus und „legte den Grund zu einer historisch-soziologischen Theorie des Bevölkerungsprozesses." So gab er auch der Soziologie entscheidende „Impulse und Programme der realsoziologischen Forschung".70) Er rechnete nicht nur und ließ rechnen, sondern schulte seine Studierenden auch in der Erhebung der zu verrechnenden Daten etwa während der sogenannten Dorfwochen, wochenlangen teilnehmenden Beobachtungen in deutschsprachigen Siedlungen in Ungarn und Rumänien, wo sie sich unter seiner Anleitung in den Gegenstand ihrer späteren soziologischen und statistischen Arbeit einlebten, bevor sie ihn in ein spezifisches Weltbild transformierten. Denn natürlich rechnete Ipsen seine Muster nicht wertfrei aus den Zahlen heraus. Er „entzifferte" nicht die Realität, sondern entwarf ein ganz bestimmtes Bild von den gesellschaftlichen Zuständen, und er verfolgte ganz bestimmte politische Ziele. Ipsen gehörte, wenn man so will, der „Blut-und-Boden-Fraktion" in der Völksgeschichte an, entsprechend anstrengend ist es, seine Texte zu lesen. Wir müssen schwülstige Passagen ertragen, die das Bauerntum des Ostens als Widerstandsblock gegen die moderne Industriegesellschaft beschwören, an der „der Anspruch der industriellen Gesellschaft, das Ganze zu sein und den sozialen Prozeß zu bestimmen"71) immer wieder zerbreche. Die Zukunftsfrage war: Wird die industrielle Gesellschaft mitsamt der dauernd drohenden, desintegrierenden sozialen Revolution „die geschichtliche Bewegung des Umbruchs bestimmen, überwältigen oder gestalten [...], in den wir eingetreten sind", oder wird „die daher dauernd bedrohte überdauernde Macht unseres gesellschaftli-
69) Koselleck, Werner Conze, S. 534 f. 70) Beide Zitate: Bernsdorf/Knospe, Internationales Soziologenlexikon (2. Aufl.),
Bd. 2,
S. 385.
71) Ipsen, zitiert nach Dipper, Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie, S. 85.
IV Günther Ipsen
69
chen Daseins: Volkheit", doch gewinnen?72) Die künftige Volksordnung werde im deutschen Osten entschieden, der zwischen der westlichen Industriegesellschaft und der slawischen Bauerngesellschaft zerrieben zu werden drohte. Deshalb lief Ipsens soziologische Arbeit mit der nationalsozialistischen Ostpolitik, dem nationalsozialistischen Vblksgemeinschaftsprojekt und den Bestrebungen der Vblksgeschichte, zumindest den „Vblksboden" wieder in das Reich zu integrieren, mühelos konform. Gleichzeitig aber lehnte er die industrielle Gesellschaft nicht einfach ab. Sie war, so Ipsen, in ihrer Entstehung dem germanischen Europa und seinen Kräften verhaftet. Allein die gesellschaftliche Verfassung sei unhaltbar, weil sie das Volk zerstöre und das „Eindringen" des „Judentums" in den „Volkskörper" tarne. Ipsens empirische Arbeit und seine Analysen der industriellen Gesellschaft erscheinen in ihrer Durchführung weniger irrational, als es sein literarischer Stil vermuten läßt, höchst fatal waren freilich die geistigen Grundlagen und die Konsequenzen seiner Studien, von denen er sich auch nach 1945 nicht distanzierte. Ipsen setzte seine bevölkerungssoziologische Arbeit im Gewände einer Sozialprognostik der Bevölkerungsentwicklung Westdeutschlands fort, im Auftrag der Regierung.73) Kann man da wirklich die Methode von ihren Bezügen zum Nationalsozialismus lösen, wie Rainer Mackensen das bewußt getan hat?74) Hat Conze wirklich nur die „wissenschaftliche Kernsubstanz der Ipsenschen Soziologie" übernommen und sich „von dessen [Ipsens] ideologischer Bedenklichkeit" freigehalten?75) Diese Fragen zielen auf das Verhältnis von Methode und Ideologie, dem ich im siebten Kapitel nachgehen werde. Tatsache ist, daß Ipsen Conze das Handwerk lehrte und daß dessen methodischer Blick durch den problematischen Lehrer stark erweitert wurde.76)
72) Ipsen, Programm einer Soziologie des deutschen Volkstums, S. 24. 73) Zum vorhergehenden vgl. Ipsen, Agrarische Bevölkerung, Ders., Bevölkerung; Ders., Das Landvolk; Ders., Industriesystem; Ders., Programm einer Soziologie des deutschen Volkstums; Ipsen an Erik Boettcher vom 15.6. 1955 (SFSt. I 21); Oberkrome, Volksgeschichte, S. 116-122; Muller, The Other God That Failed, S. 144-149; Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, S. 290-293; Sozialforschungsstelle, Berichte 1/1961, Heft 1,
S. 17. Eine sehr gute Zusammenfassung von Ipsens Bevölkerungstheorie samt ihrer nicht ablösbaren ideologischen Implikationen bietet Ehmer, Eine „deutsche" Bevölkerungsgeschichte? 74) Vgl. Mackensen, Günther Ipsens Bevölkerungslehre, S. 47 ff., 69 (aus Ipsens ,,labile[m] Spannungszustand" zwischen der Zahl der Menschen und dem „Lebensraum" etwa macht Mackensen in seinem Referat von Ipsens Theorie den neutraleren Begriff der „Existenzbe-
dingungen"!) 75) Das hat W. Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte, S. 253, behauptet. 76) So hat das Conze selbst gesehen: Conze, Agrarverfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrußland, S. 4. Erik Boettcher nannte 1955 übrigens die Schüler Ipsens und Conzes in einem Atemzug als diejenigen, die Ipsens bevölkerungssoziologische Bemühungen fortsetzten: Entwurf einer Fußnote Boettchers zur postumen Herausgabe eines Aufsatzes Gerhard Mackenroths, Durchschlag am 5. 7. 1955 an Ipsen (SFSt. I 21).
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2. Ansatz und intellektuelle
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V Otto Brunner Otto Brunner ist eine der interessantesten Persönlichkeiten der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung. Seine Rolle war so bedeutsam, daß er zu den wenigen dieser Zunft gehört, die von den Kollegen schon vor über zehn Jahren zum Gegenstand wissenschaftlicher Sekundärliteratur gemacht worden sind.77) Er wurde 1898 bei Wien geboren, überlebte den Weltkrieg als Leutnant der Reserve und begann ab 1918 Geschichte, Geographie, Philosophie und Jura zu studieren. 1922 wurde er in Wien promoviert, 1929 dort habilitiert und nach einer Zeit als Archivar am Haus-, Hof- und Staatsarchiv 1931 außerordentlicher Professor an der Wiener Universität. 1939 veröffentlichte er seine zweite von insgesamt drei Monographien, „Land und Herrschaft", die seine erste wissenschaftliche Karriere begründete. 1941 bekam er den Lehrstuhl für Verfassungs-, Wirtschafts- und österreichische Geschichte zugesprochen, zugleich die Leitung des renommierten Instituts für österreichische Geschichtsfor-
schung. Brunner mag kein fanatischer Nationalsozialist gewesen sein, aber jenseits eines bloßen Opportunismus bewies er seine politische Zuverlässigkeit durch zahlreiche Formulierungen, die ihn kaum als einfachen Mitläufer oder gar (verkappten) Oppositionellen ausweisen. Er diente bei der Luftwaffe, für die er zu Schulungszwecken ein einschlägiges (und verschollenes) Manuskript mit dem Titel „Der Schicksalsweg des deutschen Volkes" verfaßte,78) das ihm, zusammen mit zahlreichen anderen Spuren seiner erheblichen Nähe zum „Dritten
77) Vgl. Blänkner,
Von der „Staatsbildung" zur „Volkwerdung"; Boldt, Otto Brunner; Dipper, Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie; Groebner, Außer Haus; Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus; Kaminski/Melton, Translators' Introduction; Kroeschell, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht; Ders., Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters; Ders., Germanisches Recht als Forschungsproblem; Melton, From Folk History to Structural History; Nicholas, New Paths of Social History and the Old Paths of Historical Romanticism; Oexle, Sozialgeschichte
Begriffsgeschichte Wissenschaftsgeschichte; Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte?; XIII/1987 sowie die (Diskussions-)Beiträge auf der Otto-Brunner-Tagung, in: Annali (siehe zu der Tagung auch Blänkner, Spät-Alteuropa oder Früh-Neuzeit?). Vgl. außerdem die eingehende Kritik von Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittel-
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alter; Ders., Otto Brunner. Zu seinem Leben vgl. vor allem Zum Gedenken an Otto Brunner; Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus, S. 240-248, sowie die Nachrufe von Wandruszka, Conze und Blickle. 78) Brunn 1944. „Einziges Umbruchexemplar, nicht in Buchform erschienen", lautet der Eintrag in Brunners Kartei seines Buchbestandes (StAH 622-2, Nr. 55, Kasten 1). Das Ma-
nuskript ist im Staatsarchiv Hamburg nicht vorhanden. Rudolf M. Bohrer teilte Brunner am 28. 1. 1946 mit, daß weder vom Verbleib der bereits gedruckten, aber noch nicht gebundenen Auflage noch von einer Vernichtung etwas bekannt sei (UAW Phil. DZ 1100-1945/46). Brunner war übrigens in der Lage und offenbar auch willens -, den Entnazifizierungsbehörden das Manuskript vorzulegen. -
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eintrugen.79) Die folgende Zeit betrieb er intensive Quellenstudien, aus denen 1949 die Arbeit „Adeliges Landleben und europäischer Geist" hervorging, sie begründete seine zweite wissenschaftliche Karriere. Nach einem von Theodor Schieder vermittelten Zwischenspiel als Gastprofessor in Köln (1952) wurde Brunner 1953 erneut mit einem Ordinariat beehrt, dem für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Hamburg, als Nachfolger Hermann Aubins. Hier entfaltete er in den folgenden Jahren noch einmal mit großer Wirkung seine wissenschaftliche Arbeit, ohne daß er jedoch noch eine fundamentale Monographie schrieb. Sein Ansehen „as one of the foremost pioneers and practitioners of social history"80) und als methodisch anregender Historiker wurde durch weitere Auflagen von „Land und Herrschaft" und die beiden Auflagen seiner Aufsatzsammlung „Neue Wege der (Verfassungs- und) Sozialgeschichte" fundiert. Im Wintersemester 1970/71 zog sich Brunner endgültig aus der Lehre zurück, da in der Morgenröte der heraufziehenden 68er-Bewegung die Zahl seiner Seminarteilnehmer beständig zurückgegangen war. Schon 1968 war er emeritiert worden, von diesem Jahr an bis 1979 wirkte er als Mitherausgeber der „Vierteljahrschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte" (VSWG). Er starb 1982 in Reich", 1945 Entlassung und Pensionierung
Hamburg.
Vor 1945 bildete ein erbitterter Blick zurück das Movens für Brunners gesamte theoretische und empirische Arbeit: Das liberale 19. Jahrhundert war ihm kurz und schlicht ein „Skandalon",81) ein Stachel, den er mit seinem historiographischen Werk zu eliminieren helfen wollte. Dazu entwickelte er einen methodische Ansatz, der auch heute noch als tragfähig akzeptiert werden kann.82) Mit Nachdruck führte Brunner das Problem der Begriffsgeschichte ein,83) denn er
79) Zur geringen Distanz zum Nationalsozialismus, aber auch den Grenzen seiner Verstrikkung siehe Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus, S. 245 f.; Melton, From Folk History to Structural History, S. 266-271; Kaminski/Melton, Translators' Introduction, S. XVf. (mit Anm. 7 und 12), XX, XLII, XLVIIf. Die Gauleitung Wien bescheinigte ihm 1943, daß er sich schon in der „Systemzeit" aktiv für die NSDAP engagiert und immer eine einwandfreie nationalsozialistische Haltung bekundet habe. Zu Brunners Parteimitgliedschaft vgl. Kaminski/Melton, Translators' Introduction, S. XIV, und die Korrespondenz im ehemaligen Berlin Document Center (BA REM [ehem. BDC], PK, R2Pers, Brunner,
Otto, 21.4.98).
80) Melton, From Folk History to Structural History, S. 272. 81) Hartwig Brandt, zit. nach Blänkner, Spät-Alteuropa oder Früh-Neuzeit?, S. 562. Vgl. auch Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, S. 528. 82) Umfassend hat Brunner seinen Ansatz in Brunner,
Sozialgeschichtliche Forschungsaufgaben, erörtert am Beispiel Niederösterreichs, dargelegt, einzelne Elemente oder Ergänzungen seines Ansatzes finden sich in ähnlichen Formulierungen in allen seinen Arbeiten. 83) Vgl. Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), bes. S. 143-157; Ders., Adeliges Landleben und europäischer Geist; vgl. auch Ders., Zum Begriff des Bürgertums, S. 17-19; Ders., Neue Wege (beide Auflagen); Ders., Zum Problem der Sozial- und Wirtschaftsge-
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kritisierte, daß die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts die Begriffe, mit denen sie ihre besondere historische Situation zu beschreiben versuchten, verabsolutiert und auf vergangene Zeiten übertragen hätten, etwa den Begriff „Gesell-
schaft". Das lehnte Brunner ab. Die Vergangenheit dürfe mit modernen Begriffen erst dann angegangen werden, wenn diese historisiert und derart relativiert worden seien, daß man sie sinnvoll für andere Zeiten anwenden könne.84) Brunners theoretisches Denken bewegte sich in eigentümlichen Kreisen. Daß Begriffe allein aus den Quellen zu gewinnen seien, glaubte er nicht. Man benötigt systematische Begriffe und Kategorien der Gegenwart, um in den Akten überhaupt erst zu finden, was man sucht. Theoretisch geklärte und ausgefeilte Begriffe geben uns einen Leitfaden, das Quellenmaterial aufzuarbeiten, um in einem ersten Schritt unsere Ordnung und unseren Sinn an Material heranzutragen, das uns sonst unverständlich bliebe. Die modernen Begriffe sind aber nur die Grundlage, freilich die unerläßliche Grundlage, auf der der Historiker dann historische Individual- und Typenbegriffe formen soll, die dem betreffenden historischen Objekt angemessen sind.85) Anders gesagt: Weil die schichte, S. 675, 679-685; Ders., Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, bes. S. 514-516, 528. 84) Vgl. Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 11, Anm. 4, 12; Ders., Sozialgeschichtliche Forschungsaufgaben, erörtert am Beispiel Niederösterreichs, S. 337-355, 361; Ders., Das Fach „Geschichte" und die historischen Wissenschaften, S. 23-25, 28-31; Ders., Bemerkungen zu den Begriffen „Herrschaft" und „Legitimität", S. 64f.; Ders., Das
Problem einer europäischen Sozialgeschichte, S. 11 (S. 13-15 zur zeitlich und räumlich differenzierten Vielschichtigkeit systematischer Begriffe); Ders., Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte, S. 7; Ders., Abendländisches Geschichtsdenken, S. 29; Ders., Zum Problem der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 677. 85) Brunner warnte übrigens immer wieder vor der inhärenten Gefahr des (Max Weberschen) Typenbegriffs, der entweder rasch inhaltsleer werde oder eine einmalige historische Situation verallgemeinere. Er verlangte ganze Schichten engerer und weiterer Typenbegriffe, denn leicht greife man, nachdem man am Quellenmaterial einen (angemessenen) Typenbegriff herausgearbeitet habe, von diesem engeren auf einen weiteren Bereich aus und gerate dabei in Gefahr, die vom eigenen Typenbegriff abweichenden Erscheinungen bloß als Sonderfalle zu betrachten. Kein allgemeiner Typenbegriff sei gefragt, sondern man sollte sich über die Herkunft der voneinander abweichenden Typenbegriffe klar zu werden versuchen. Die Typenbegriffe bestimmten die Auffassung von der Geschichte mit. Allgemeine Typenbegriffe verwischten leicht interne Differenzierungen der Objekte. Vgl. Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 138, 510, Anm. 9; Ders., Humanismus und Renaissance, S. 557-559; Ders., Zum Begriff des Bürgertums, S. 13, 17-19, 23 f.; Ders., Sozialgeschichtliche Forschungsaufgaben, erörtert am Beispiel Niederösterreichs, S. 354-357; Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 125f., 224, 239, 299f.; und vor allem sein Aufsatz: Bemerkungen zu den Begriffen „Herrschaft" und ,J^egitimität", bes. S. 74 f., 78. Brunner arbeitete freilich selbst mit undifferenzierten Strukturtypen: Alteuropa, moderne Welt, russische, europäische und orientalische Stadt (dazu bes. Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 239; vgl. auch Ders., Hamburg und Wien, S. 479) usw., waren die Begriffe, mit denen innere Differenzierungen zwecks Vergleichsmöglichkeit eingeebnet wurden und eingeebnet werden mußten. Fernand Braudel über Brunners manipulative Technik: Das Abendland wird als wohldurchdachte Erkenntnis präsentiert Max -
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den gegenwärtigen systematischen Wissenschaften geprägten Begriffe selbst historischen Situationen entsprungen sind, verbietet sich die Verwendung dieser Begriffe in anderen historischen Zusammenhängen. Und doch muß man sie verwenden, um das historische Material zu ordnen und zu durchdringen, so daß man aus diesem Material die Begriffe neu, aber diesmal historisch konkret, bilden kann. So wird dieser Kreislauf Vergangenheit (historische Herkunft heutiger Begriffe) Gegenwart (diese Begriffe enthistorisiert, als verallgemeinerte Typen, die der Geschichtsschreibung nur noch zur allgemeinen Orientierung dienen können86)) Vergangenheit (Bildung historisch konkreter von
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Begriffe aus den Quellen heraus, mit Hilfe systematischer Begriffe) erst zum begriffstheoretischen Problem und alsdann parallel, aber unlösbar damit verflochten, auch zu einem wissenschaftshistorischen. Quellenaufarbeitung, Forschung und Darstellung der Geschichte hängen nämlich ebenfalls zusammen, indem die Darstellung aus dem Forschungsprozeß resultiert, dieser aber auf aufgearbeiteten Quellen ruht. Quellen jedoch angemessen zu edieren oder überhaupt zu verstehen, ist allein möglich mit dem Blick aufs Ganze verfüg-
bar nur in den historischen Darstellungen.87) Man muß also nicht nur die heutigen Begriffe skeptisch abklopfen und historisch konkretisieren, sondern notwendig auch Wissenschaftsgeschichte betreiben. Auch die Wissenschaft und ihre Ansätze, mit deren Hilfe man eine Quelle ediert oder versteht, entstammen bestimmten historischen Situationen, die daher freigelegt und selbst wieder historisierend überwunden werden müssen, um einen weiteren blinden Fleck im Auge des Beobachters zu beseitigen.88) Das ist ein ständiger doppelter Durchlauf zweier unlösbar aneinanderhaftender Kreise, dem Brunner noch einen dritten anklammerte, einen auf der sprachlichen Ebene. Die wissenschaftliche Sprache, erklärte er seinen Lesern, muß sich immer der „gebildeten Umgangssprache" bedienen, denn die Geisteswissenschaften verfügen über keine von ihrem sozialen Umfeld autonome Sprache. Begriffe sind stets mit alltagssprachlicher Bedeutung aufgeladen, die Wissenschaft aber versucht, die ihren zu reinigen, indem sie deren quellengemäße Bedeutung herausarbeitet. Doch während die wissenschaftlichen Begriffe „Verwissenschaftlichung des Daseins"! in die Alltagssprache absinken, vergröbert, abgeschliffen und verformt werden, dem Alltag und dem nicht gerade streng wissenschaftlichen Bild, das die gebildeten Laien von der Vergangenheit haben, angepaßt werden, -
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Webers „gewaltige Abstraktion" der „orientalischen Stadt" für bare Münze genommen und die Differenz zu Europa konstruiert, indem mit der Kategorie „orientalische Stadt" der Osten als auf ewig wesensfremd vom Abendland dargestellt wird (vgl. Braudel, Zum Begriff der Sozialgeschichte, S. 175 f.). 86) Vgl. Brunner, Zum Problem der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 679. 87) Vgl. Brunner, Sozialgeschichtliche Forschungsaufgaben, erörtert am Beispiel Niederösterreichs, S. 347, 361. 88) Vgl. Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken, S. 43; Ders., Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 62. -
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läuft der Gelehrte leicht Gefahr Bedürfnis nach Verständlichkeit! -, diese mit dem Schmutz des Alltagslebens kontaminierten ,,scheinwissenschaftliche[n] Begriffe" zurück in die Wissenschaft zu verschleppen und auf die Quellensprache zu übertragen. Schließlich besteht die grundsätzliche Schwierigkeit, die an den Quellen gebildeten historischen, uns fremden Kategorien in heutigen Begriffen verständlich und trotzdem sachgemäß darzustellen. Das führt eine Rückübersetzung in die Umgangssprache mit sich, wenn auch die gebildete, die die Begrifflichkeit ein weiteres Mal verzerrt.89) Überall droht also die Abweichung vom richtigen Sinn, die erkannt und ausgeglichen werden muß, und dauernd muß diese Arbeit wiederholt werden, so mahnte Brunner, denn ständig brechen im Verlauf der Zeit unter dem harmlosen Mäntelchen der Identität der Wörter die Unterschiede in den Bedeutungsgehalten der Begriffe auf. Ständig ändern sich die wissenschaftlichen Sichtweisen auf die Vergangenheit, die uns als Ausgangsbasis für die Rekonstruktion der Vergangenheit dienen.90) „Historische Erkenntnis befindet sich also in einem ständigen Schwebezustand. Es gibt keinen sicheren Ausgangspunkt. Vielmehr muß der Historiker [...] ,stets irgendwo in der Mitte anfangen', über die Wirklichkeit zu sprechen, ,mit Begriffen, die erst durch ihre Anwendung allmählich einen schärferen Sinn erhalten'. Denn auch die ,schärfsten' Begriffssysteme sind nichts als ,tastende Versuche [...], uns in begrenzten Bereichen der Wirklichkeit zurechtzufinden'"91) ohne doch je den wirklich adäquaten Sinn einholen zu können, sollte man als Konsequenz dieses Denkens ergänzen. Nun hat Otto Gerhard Oexle mit dieser Passage auf Otto Brunner gezielt, aber Werner Heisenberg zitiert. Brunner selbst hat letztlich doch nicht ganz so radikal gedacht, denn vor dem Kriegsende, als er seine Theorie zu entwerfen begann, hatte er keine Zweifel, die historisch richtigen Begriffe gefunden zu haben. Doch auch nach dem Kriege warnte er stets nur vor den zahlreichen Untiefen, an denen man auf der Suche nach den Begriffen scheitern könne, ohne je einen völligen Begriffsrelativismus, wie ihn Heisenberg nahelegt, erkennen zu lassen. -
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Geschichte und Gegenwart hängen unlösbar zusammen und beeinflussen sich gegenseitig, diese Erkenntnis teilte Brunner mit Carl Schmitt, Ernst Rudolf
89) Vgl. Brunner,
Zum Begriff des Bürgertums, S. 14; Ders., Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 143; Ders., Bermerkungen zu den Begriffen „Herrschaft" und „Legitimität", S. 64f.; Ders., Das Fach „Geschichte" und die historischen Wissenschaften, S. 30-32. Übrigens gilt dieser Kreislauf auch für die Beziehung zwischen Lehre und Forschung: ebd., S. 8f. Soziologie und Politikwissenschaften versuchten, dieser Situation durch die Ausbildung eines esoterischen Fachjargons auszuweichen. Davon hielt Otto Brunner nicht viel,
denn der Jargon verdecke oft mehr die Realität als daß er erkläre. Man müsse sich mit der grundsätzlichen Verkettung abfinden und dauernd begriffshistorische Analyse betreiben; vgl. Brunner, Landesgeschichte und moderne Sozialgeschichte, S. 335 f. 90) Vgl. Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 8. 91) Oexle, Sozialgeschichte Begriffsgeschichte Wissenschaftsgeschichte, S. 309. -
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Huber und Hans Freyer. Doch war er einer der ganz wenigen Historiker, die diese Kritik mit ihren methodischen Folgerungen konsequent auf die Mittelaltergeschichtsschreibung anwandten und deutlich auf die Spannung zwischen Sachgeschichte und ihrer sprachlichen Verarbeitung, auf das unvermeidlicherweise schwierige Verhältnis von Real- und Begriffsgeschichte zueinander aufmerksam machten.92) Zusammen mit einer Gruppe junger Mediävisten Theodor Mayer und Walter Schlesinger sind neben anderen zu nennen führte er seit dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts einen provozierenden Verfassungsbegriff für die Geschichte des Mittelalters ein. Nicht mehr allein Konstitution und Staatsrecht seien Verfassung zu nennen, sondern die Gesamtheit der wirtschaftlichen, rechtlichen, sozialen und politischen Verhältnisse in ihrer Verflechtung. Die Jungen waren wie so oft gegen die Alten angetreten, gegen die traditionellen Verfassungshistoriker, die die Verfassungsgeschichte als „Juristenlehre" betrieben. „Land und Herrschaft" verhalf den Jungen nach 1939 zum Durchbruch. Gegen die „Dogmen einer positivistischen Jurisprudenz, die Verfassung gleichsetzt den Rechten des absoluten Fürsten und seiner liberalen Einschränkung' durch das Volk, die gar nicht das Volk im politischen Sinn sah, sondern eine Untertanenbevölkerung und privilegierte Stände'", hatte Brunner schon auf dem Erfurter Historikertag zwei Jahre zuvor gewettert.93) (Freilich verstand Brunner selbst unter dem „Landvolk" nur die schmale Schicht der adeligen Grundbesitzer. Die Bauern oder unterbäuerlichen Schichten spielten in seinem Historienstück sowohl vor als nach dem Kriege bloß die Rolle der Schutzbedürftigen, der nie konkretisierten Grundlage der abendländischen bäuerlich-adeligen Sozialstruktur, der Gefahr für das adelige Ethos, der Pathologen oder Vaganten, welche der „Vernichtung" anheimfielen wenn sie in seinen Texten nicht ohnehin zuerst durch ihre Abwesenheit auf-
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fallen.94))
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92) Vgl. Melton, From Folk History to Structural History, S. 273f.; Dipper, Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie, S. 75f.; Boldt, Otto Brunner, S. 43 f. 93) Brunner, Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters, S. 406. Dieser Vortrag für den Erfurter Historikertag von 1937 stellt eine Kurzfassung seines Klassikers „Land und Herrschaft" dar, in dem er seine zentralen Begriffe und Zusammenhänge auf über 500 Seiten ausgebreitet hat. Vgl. auch Kroeschell, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, S. 347-359, sowie die Debatte über das Verhältnis von traditionalen und neuen Rechts- und Verfassungshistorikern noch auf dem Historikertag 1967, abgedruckt in der HZ 209/1969: Brunner, Der Historiker und die Geschichte von Verfassung und Recht; Krause, Der Historiker und sein Verhältnis zur Geschichte von Verfassung und Recht; Thieme, Der Historiker und die Geschichte von Verfassung und Recht. Nach dem Kriege setzten die jungen Historiker ihre Arbeit im „Konstanzer Arbeitskreis" Theodor Mayers fort. 94) Vgl. Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 438 (dort das Zitat); Ders., Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 45, 92, 286-288; Ders., Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte, S. 264 f. (volkstümliche Unterströmungen brechen immer wieder durch die als Norm wirkende Bildungswelt durch). Explizit: BRUNNER, Politik und Wirt-
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das „innere Gefüge", das Brunner mit dieser neuen Art Verfassungsgeschichte, der „allgemeinen Geschichte", zu erschließen suchte, den „inneren Bau" der menschlichen Verbände und ihr politisches Handeln, das er nicht im engeren, neuzeitlichen Sinn als Politik der Souveräne verstand, sondern in einem weiteren Sinne als das politische Handeln des „Landvolks", das die Existenz seines sozialen Verbandes nach außen zu wahren und in seiner inneren Ordnung zu stabilisieren suchte. Politisches Handeln und die „innere Struktur historischer Gebilde"95) voneinander isoliert zu betrachten, ist sinnlos. Das „Ganze der jeweils behandelten Gebilde" muß betrachtet werden, um es verstehen zu können. Selbstbehauptung und innere Ordnung sind aufeinander bezogen durch die Grenze, die zugleich nach außen abgrenzt und nach innen zusammenhält, doch zählte für Brunner der innere Zusammenhalt mehr als die äußere Abgrenzung. Nicht, wie Carl Schmitt, im Feindverhältnis sah er das wesentliche Prinzip, sondern er verlangte für das Funktionieren des Politischen als allgemeinen Ordnungsprinzips einen positiven Gehalt, das Freundverhältnis.96) Brunner betrachtete Friedensverbände. Über den Menschen schwebte das göttliche Recht, überpersonal und von niemandem je zu beherrschen, und es war als „glühendes Rechtsempfinden"97) so stark im sittlichen Leben der Menschen verwurzelt, daß sie fast bedingungslos seinen Bahnen folgten. Der Primat dieses Rechts hieß, den Frieden zu wahren und das Zusammenleben der Menschen zu regeln. Rechtsordnung und Rechtsempfinden waren eins. Unrecht zog Unfriede nach sich die Recht empfindenden Menschen setzten alles daran, die Wunde zu heilen. Das „Verfechten eines puren Machtstandpunktes" wurde durch das Korrektiv des Rechtsempfindens grundsätzlich verhindert.98) Alles politische Handeln, alle Machtpolitik im Mittelalter deutete Brunner auf diese Weise als einen Kampf um das Recht, der nichts als ein Kampf um Schutz war: zur Sicherung jener Innen-Außen-Grenze, die der gesellschaftlichen Ordnung ihr Gerüst verlieh.99) In der späteren Neuzeit zerbrach die Einheit von Recht und Rechtmäßigkeit, das positivistische Recht sprach nur noch Recht, es hatte nichts mehr mit dem zu tun, was recht und gerecht sei. Es war abstrakt, gesetzt und der sittliche Bezug zu den Rechtssubjekten beliebig. Es ordnete nicht das Zusammenleben der Menschen, es diente allein dem InteresEs
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schaft in den deutschen Territorien des Mittelalters, S. 405: .freilich, das Landvolk ist nur eine schmale Adelsschicht." 95) Brunner, Sozialgeschichtliche Forschungsaufgaben, erörtert am Beispiel Niederösterreichs, S. 335. Vgl. auch Ders., Das Fach „Geschichte" und die historischen Wissenschaften, S. 23-25. 96) Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 11, Anm. 4. Vgl. allerdings, was Brunner 1937 sagte (Brunner, Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters, S. 407): „Ich gehe von der Tatsache der Gewalt zwischen den Gliedern des Landvolkes aus." 97) Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 89. 98) Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 24. 99) Vgl. Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 507f.
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senkampf. ren.100)
Es hatte, das merkt
man
Brunners Texten an, seine Seele verlo-
Man ahnt bereits, daß Brunners Sicht auf die mittelalterliche Gesellschaft sehr harmonisierend ausgefallen ist, und je mehr man von ihm liest, desto deutlicher wird dieser Eindruck. Das „Land" etwa, eines der Hauptmotive in Brunners Historiengemälde, war kein Territorialstaat, es war auch nicht zu vergleichen mit dem modernen Anstaltsstaat. Das Land bekam seine reale geschichtliche Existenz und Einheit erst dadurch, daß die Angehörigen der Landgemeinde, die Grundherren, das sogenannte Landrecht, die konkrete Verfassung und sittliche Ordnung des Landes, täglich aufs neue vollzogen und lebten. „Land" war ein Vollzugs- oder Prozeßbegriff, ein Prinzip, das nie abstrakt kodifiziert werden konnte.101) „Herrschaft" wiederum verstand Brunner als eine Art Vertrag, der Herrn und Holde aneinanderband. Er hatte die Gebotsgewalt und die Schutzpflicht, sie hatten Gehorsams- und Treuepflicht. Dieser Vertrag war Teil der göttlichen Rechtsordnung, innerhalb dieses Rahmens bewegten sich Herren und Holde und handelten ihr Verhältnis aus. Es wurde aber immer nur über die Rechtmäßigkeit verhandelt, nicht über Gerechtigkeit oder Zweckmäßigkeit. Eine Forderung des Herrn, die dem Recht entsprach, war zugleich eine gerechte Forderung die Herrschaftsverfassung, die Brunner den Quellen entnahm, fiel also sehr asymmetrisch aus. Eindeutig hatten die Herren das größere Gewicht in diesem „Vertrags"verhältnis.102) Auch Landvolk und Landesherrschaft waren wenn offenbar auch eingeschränkter103) durch das Schutz-Treue-Verhältnis aneinandergebunden, und dieses komplementär-dualistische Herrschaftsmodell, es galt ähnlich für die Städte,104) erkannte Otto Brunner als das eigentliche Charakteristikum der alteuropäischen Verfassungsund Sozialordnung. Sein Bild ist raffiniert. Es zeigt uns, verführerisch überzeu-
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10°) Zum vorhergehenden Abschnitt vor allem Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 28-172. 101) Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 195-276, 390f. 102) Vgl. sehr deutlich: Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 45. Daß man das Bild auch anders entwerfen konnte, zeigt Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, S. 322. Zur Distanz Brunners den Annales gegenüber: Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 490. Braudel soll von Brunners Arbeiten beeindruckt gewesen sein und verwandte und weiterführende Linien gesehen haben (Conze an Schieder vom 7. 4. 1955 [BAK N 1188/4]; Conze an Schelsky vom 25. 5. 1955 [SFSt. S/5]). Braudel selbst äußerte 1959 massive Vorbehalte. Er verstand zwar die wesentlichen Punkte von Brunners historiographischem Ansatz nicht (besonders gründlich irrte er sich bei Brunners Begriff des Politischen), ahnte aber dessen ideologische Hintergründe, kritisierte die Statik des Alteuropa-Modells und entschleierte Brunners Argumentationstechniken, mit denen dieser sich die Geschichte zurechtbog: Braudel, Zum Begriff der Sozialgeschichte. 103) Vgl. Brunner, Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters, S. 410f. 104) Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 402^107, 433 f.; Ders., Inneres Gefüge des Abendlandes, S. 332; Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 240f., 302-320.
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auf Quellen gestützt, die alteuropäische Gesellschaft als ein in hohem Maße integriertes Ganzes, als ein geschlossenes System, für das es kein Außen gab (außen gab es nur Feinde), auf das man sich hätte berufen können, um innerhalb des Verbandes seine Position zu ändern. Es gab keine überparteiischen Schiedsrichter. Das göttliche Recht wies jedem seine Position zu und erlaubte nur, eine Verletzung der Ordnung zu ahnden. Dem Herrn etwa konnte das Gehorsamsrecht aufgekündigt werden, wenn er seine Pflichten vernachlässigte, ein Konflikt begann. Doch der wurde von allen Beteiligten innerhalb der Ordnung ausgetragen und drehte sich ausschließlich um die Heilung der Ordnung. Das Ergebnis war immer: die Wiederherstellung der Hierarchien. „Herrschaftliches" und „genossenschaftliches" Prinzip standen sich nicht als zwei feindliche Mächte gegenüber, Hausherr und Familie, Herren und Holde, Landesherren und Landleute lebten miteinander in einem „ganzen Haus" ein weiterer zentraler und berühmter Begriff Brunners, den er zwar in der Nachkriegszeit auf das ebenfalls geschlossene System des Bauernhofs gemünzt hat,105) der sich aber als Prinzip aufsteigend im gesamten Verfassungsmodell Brunners schon vor dem Kriege auffinden läßt. Derart integrativ dachte sich Brunner seine mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft, daß er keine zwei Seiten der „Tatsache der Bauernkriege" widmen mußte. Die war, kurz und knapp gesagt, kein Einwand gegen seine Darstellung, da die Bauern unruhig geworden seien einzig wegen des allmählich zusammenbrechenden Schutz-und-Schirm-Systems. Das „generelle Urteil", die konstant sich verschlechternde wirtschaftliche und rechtliche Lage sei Ursache für die Aufstände gewesen, habe die „außerordentlich eingehende Forschung" als „völlig unberechtigt" erwiesen. Mit „einem künstlich herauspräparierten wirtschaftlichen Gesichtspunkt" komme man „überhaupt nicht vorwärts".106) Gesellschaftliche Prozesse als (moralischen) Anlaß für Gesellschaftskonflikte zu sehen, kam für Brunner nicht in Frage. Solche Prozesse
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105) Zum „ganzen Haus" auf dieser untersten Ebene vgl. Brunner, Johann Joachim Bechers Entwurf einer „Oeconomia ruralis et domestica"; Ders., Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik". Am „ganzen Haus" scheiden sich die Geister der heutigen Forschung: Die einen halten den Begriff weiterhin für brauchbar, nicht ohne kritische Anmerkungen freilich und nicht ohne die Betonung der Konfliktträchtigkeit innerhalb der ganzen Häuser (etwa Münch, Lebensformen in der frühen Neuzeit, S. 191-232; Rosenbaum, Formen der Familie, S. 85, 116f., 176, 215; Dies., Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur, S. 20-27, 39-44); andere würden dieses Konzept am liebsten ein für allemal verabschieden (z.B. Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte?, S. 97f.) oder können angesichts von dessen Beharrungskraft nur eine hilflose Polemik veröffentlichen (Derks, Über die Faszination des „Ganzen Hauses"). Zum „ganzen Haus" siehe auch Groebner, Außer Haus, der für die Entstehung des „ganzen Hauses" verlockende Hinweise auf Brunners Psyche gibt, ohne sie genauer auszuführen. Brunner selbst hat Hans Medick einmal anvertraut, daß das „ganze Haus" kein theoretisches Konstrukt sei, sondern seiner Kindheitserfahrung als Sohn eines Weinbauern entstamme (das teilte mir Medick am 30. 9. 1997 mit). 10«) Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 400f. -
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konnte er nur als negative Kraft werten, die die ausbalancierte Ordnung auflösten und deshalb für Unruhen sorgten. Allein Gott selbst mußte bei all diesem göttlichen Recht durch eine merkwürdig anmutende, vollkommene Abwesenheit glänzen. Gott hätte für Otto Brunner ein erhebliches Problem bedeutet, denn, wie Hermann Krause anmerkte: „Die Fragen von Verfahren und Instanz waren Gott anheimgegeben." Und: „Gott ist nicht zu systematisieren." Krause wollte damit zwar auf die Offenheit des alten Rechtsdenkens hinweisen, das, lückenhaft und widersprüchlich, zu guten Teilen darauf baute, daß Gott es im Fall der Fälle schon richten werde weshalb ein geschlossenes Rechtssystem in unserem Sinne zu suchen vergebliche Liebesmüh' sei.107) Aber Krause traf (bewußt?) einen schwachen Punkt von Brunners Verfassungsgeschichte, die ja nicht das kodifizierte, sondern das tagtäglich wirklich ausgeübte Recht darzustellen vorgab. In Wahrheit nämlich schuf selbst Brunner nichts anderes als die Konstruktion eines geschlossenen Rechtssystems, aus den Handlungen destilliert, nicht aus Kodifikationen, doch auch das war nur ein normatives Modell, mit dem er das Normund Ordnungsdenken seiner Zeit in die Vergangenheit übertrug, statt wirklich die tägliche Praxis der Rechtshandlungen zu beschreiben, in der unter Anrufung Gottes die Norm gebogen werden konnte oder überhaupt erst vervollständigt werden mußte, die also viel weniger System war, als Brunner es sah. Gott als übergeordnete Vernunft hätte Brunners Verfassungsvorstellung nur gestört. Restlos göttlich durfte für ihn die göttliche Ordnung nicht werden, weil das den Selbstbehauptungskampf von Landvolk und Führer einer unkalkulierbaren Instanz ausgeliefert hätte, an die man vor Kriegsende ungern dachte. Über dem Land und seinem Herrn durfte es keine autonome Instanz geben, weil es sonst auch über dem Reich und seinem Führer eine solche hätte geben können. So sieht das System aus, das Brunner in Land und Herrschaft entworfen hat. Es ist wie eine Bank gesichert, an dem dreifach gepanzerten Tor aus Rechtsempfinden, Land und „ganzem Haus" mußte jeder soziale Konflikt abprallen. Die gesamte Konstruktion diente dazu, Konflikte aus der Geschichte zu eliminieren, es setzte das Ideal von Integration gegen die vermeintliche Intrigenwelt der absolutistischen und bürgerlichen Zeit. Deswegen scheint das System von höchster Statik zu sein, in der Tat erweist es sich jedoch gleichzeitig als hochflexibel. Statisch ist die Vorstellung einer gesellschaftlichen Verfassungsordnung, die seit germanischen Zeiten bestand und erst mit dem Durchbruch der modernen Welt um 1800 abgelöst wurde. Das „germanische Wesen" dieser Ordnung sicherte ihre Dauer und gab der Epoche „Alteuropas"108) ihre zeitli-
107) Krause, Der Historiker und sein Verhältnis zur Geschichte von Verfassung und Recht, S. 20. Krause äußerte sich auf dem Historikertag in Freiburg, 1967, als er, Brunner und Hans Thieme in einer Sektion über Rechts- und Verfassungsgeschichte referierten. 108) Den Zeit, Raum und Sozialverfassung zusammenfassenden Begriff „Alteuropa" benutzte Brunner erst seit 1950: Sprandel, Rez. Alteuropa und die moderne Gesellschaft, S. 120.
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Prägungen
chen Grenzen und ihr Gesicht. Hochflexibel dagegen war die konkrete historische Ausgestaltung dieses Modells. Eine Herrschaft war nicht ein für allemal arrondiert, und Herrschaft war dem Herrn nicht als ein klar umrissener Komplex von Rechten und Pflichten delegiert. Er „besaß" sie nicht, sie war nicht souverän gesetzt, sondern sie wurde immer nur in der Beziehung zwischen Beherrschten und Herren konkret. Herrschaft an sich existierte nicht, sie existierte nur als aktives Verhältnis von Leistung und Gegenleistung. Sie war nicht kodifiziert, sondern in ihrer jeweils vielgeschichteten konkreten Ausgestaltung nur beschreibbar.109) Das ist das Element der Freiheit in Brunners Modell, das ist, was es nichtstrukturalistisch im Sinne des französischen Nachkriegsstrukturalismus macht. Das Ende dieser Welt ist schnell erzählt. Der moderne Staat des 17. und 18. Jahrhunderts schaufelte ihr das Grab, der Durchbruch der modernen Welt seit 1800 besorgte die Beerdigung. Zuerst verwandelte sich im 15. Jahrhundert das komplementäre Herrschaftsverhältnis in ein gegenpoliges Verhältnis zweier Verhandlungspartner, zu einem dualistischen Miteinander.110) Dann tra-
m) Vgl. Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 390f„ 414-417, 439-443 (der Bereich Haus und Herrschaft wird auf den S. 277-502 abgehandelt); (3. Aufl.), S. 504-506. u0) Erst seit diesem Zeitpunkt läßt Brunner politisches Handeln als strukturverändernd gelten, statt als bloß Strukturvorgaben ausgestaltend. Vgl. die Debatte über Statik und Wandel in Brunners Denken: Blänkner, Von der „Staatsbildung" zur „Volkwerdung", S. 131 f.; Dipper, Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie, S. 83; den Diskussionsbeitrag Fritz Fellners (in: Annali XIII/1987, S. 66) und bes. Boldt, Otto Brunner, S. 57-61. Brunner selbst hat den Vorrang der Strukturstatik eingeräumt (Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 7), aber auch von einem ständigen Prozeß des Wandels gesprochen (und sei es der des dauernden sozialen Aufstiegs in die Oberschichten in einer überwiegend statischen Gesellschaftsverfassung: Brunner, Rez. Wurm, Die Jörger von Tollet). In der Tat schlich sich in seine Nachkriegstexte immer wieder eine heimliche Entwicklungsrhetorik ein, die einer Neubewertung des 19. Jahrhunderts und einer stärkeren Annäherung an Max Webers Untersuchungen über das Werden der modernen, rationalen Welt geschuldet zu sein scheinen (freilich hielt er sie nicht konsequent durch): Vgl. Brunner, Land und Herrschaft (3. Aufl.), S. 504-506; Ders., Zum Begriff des Bürgertums, S. 13 f.; Ders., Johann Joachim Bechers Entwurf einer „Oeconomia ruralis et domestica", S. 87-89; Ders., Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 89, 137 f., 234, 304, 312-314, 337-339; Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 212; Ders., Inneres Gefüge des Abendlandes, S. 339 („erste Etappe zum modernen Staat"), 340, oder die Kapitelüberschriften in Ders., Humanismus und Renaissance, die eine klassische Entwicklungsgeschichte vom Schlage einer Familiensaga andeuten: Grundlage (die Großeltern) Durchbruch (sozialer Aufstieg der Familie) Höhepunkt (die Eltern) Übernahme der Führung von den Eltern (die nächste Generation) Spätzeit („Herbst" der Familie). Vgl. auch Ders., Die „Welt" und „Europa", S. 17. Besonders Brunner, Inneres Gefüge des Abendlandes, ist ein Text, der die Geschichte Alteuropas im Hinblick auf die Ausbildung der modernen Nation resp. des modernen Verwaltungsstaates schreibt: Wieweit waren beide schon im 10. Jahrhundert angelegt? Außerdem schlichen sich in seine Texte Formulierungen ein, die auf ein Ursprungsdenken schließen lassen: Brunner, Johann Joachim Bechers Entwurf einer „Oeconomia ruralis et domestica" S. 87-89; Ders., Hamburg und Wien, S. 479; ...
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die absolutistischen Herrscher auf, und das „Land" mußte sich zu einer Gegeninstitution zum Landesherrn entwickeln, zu einer ständischen Korporation, um im Kampf um die Souveränität bestehen zu können. Es war „in den Radikalismus der kalvinischen Widerstandslehre gedrängt" worden111), das Verhältnis Landesherr-Untertanen in einem Antagonismus zweier Gegner zerbrochen. Die „liberale Revolution" gab Alteuropa den Rest. Bis dahin hatten sich trotz des Sieges des Absolutismus „- wenn auch erstarrt und innerlich ausgehöhlt doch die Grundlagen des ,guten alten Rechts und Herkommens' [gehalten]. Die liberale Revolution hat dieses Fundament zerstört, erwies sich aber außerstande, selbst eine neue, sichere Grundlage dauernder Ordnung zu schaffen."112) Das 19. Jahrhundert war da und wurde der Bezugspunkt, von dem aus Brunner die Geschichte der Vergangenheit schrieb. Aber er schrieb sie nicht als Vorgeschichte des 19. Jahrhunderts, denn eine germanische Geschichte, die im 19. Jahrhundert mündete, hätte er vor 1945 nur als Verfallsgeschichte deuten können. Es durfte nicht Teil der „germanischen Kontinuität" sein, denn in welcher Tradition stünde dann das „Dritte Reich"? Ganz Historist, beharrte Brunner mit Vehemenz darauf, das 19. Jahrhundert als eigenständige, singuläre Situation zu sehen. So konnte es als bloße Durchgangsphase aus der Geschichte herausgestoßen werden, die 1933 überwunden worden war. Deshalb formulierte er die martialische, aber heute noch methodisch korrekte Forderung, die Terminologie des 19. Jahrhunderts zu „zerstören"113) und durch eine quellennahe Sprache zu ersetzen, die der Vergangenheit adäquat sei.114) Das Verabscheute wurde ihm zum methodischen Stimulus, Alteuropa zum Ahnen des Nationalsozialismus. Das „Dritte Reich" war zwar nicht der teleologische Endpunkt der Geschichte, noch weniger die langersehnte Rückkehr in die „gute alte Zeit", es stand jedoch in einer kraftvollen und positiven Tradition germanischen Wesens, welches es unter industriegesellschaftlichen Vorzeichen ten
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Ders., Die „Welt" und „Europa", S. 17, und auch Ders., Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 484. Dagegen aber die Warnungen vor dieser Art des Denkens: Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken, S. 42f.; Ders., Inneres Gefüge des Abendlandes, S. 326f.; Ders., Der Historiker und die Geschichte von Verfassung und Recht, S. 12. Vgl. auch den Bericht von Armin Wolf (in: Annali XIII/1987, S. 124): Der Entwicklungsbegriff war in Brunners Hamburger Seminaren geradezu tabu, da er ihm zu biologisch erschien: Brunner „habe ...
Zweifel [gehabt], ob denn der historische Zustand B wirklich schon in dem Zustand A die Blüte in der Knospe daringesteckt habe". U1) Brunner, Land und Herrschaft ( 1. Aufl.), S. 504.
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"2) Ebd., S. 504f. 113) Ebd., S. 506; vgl. Ders., Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittel-
alters, S. 421 f.
114) Immer wieder kehrte Brunner zur Terminologie des 19. Jahrhunderts zurück, um sich betont von ihr abzusetzen. Noch nach dem Kriege entwarf er so etwas wie ein Gegenmodell zu Max Webers (durch das 19. Jahrhundert geprägten) Legitimitätsvorstellungen: Brunner, Anmerkungen zu den Begriffen „Herrschaft" und „Legitimität", bes. S. 71-78. Das ist nach Kaminski/Melton, Translators' Introduction, S. XX, Anm. 25, eine großartige Relativierung von Webers Konzept der Legitimität.
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wiederbelebte.115) Die Ordnung des liberalen Staates war geschichtlich relativ,
der NS-Staat wurzelte historisch tief. So blendete theoretisches Denken einen Teil der Geschichte aus und verdunkelte die Politisierung des eigenen Ge-
schichtsbildes.116)
In Wahrheit allerdings operierte auch Brunner ungeniert mit Begriffen und Bildern seiner eigenen Gegenwart,117) die er zwar nicht in die Vergangenheit übertrug, die er jedoch als „Sache", ohne diese Operation zu bemerken, in der Vergangenheit „wiederfand" und für die historischen Wurzeln der späteren Begriffe nahm.118) Auf diese Art spiegelten sich bei ihm Gegenwart und Vergangenheit über das 19. Jahrhundert hinweg gegenseitig wider, und der NS-Staat wurde zum Pendant der mittelalterlichen societas civilis.119) Brillant führte er diese Art gegenwartsgenährter Geschichtsschreibung in einem Vortrag über Otto den Großen vor: Otto stand im Abwehrkampf gegen Feinde an allen Grenzen, die verheerend gegen das Reich andrängten; das Reich war Mittelpunkt und Führungskraft des frühen Europas germanisch-romanischer Völker, der fest gefügte Kern, von dem aus das Gefüge von Herrschaft, Oberhoheit und Abhängigkeit über ganz Europa errichtet wurde. Unter Ottos Führung wurde das mittelalterliche Abendland vollendet, der Kaiser war Schirmherr der Chri-
115) Brunner, Land und Herrschaft (1. Aufl.), S. 398, 511 f. 116) Zum vorhergehenden vgl. ebd., S.284f„ 475-485, 488-505, 509-512; (2. Aufl.),
S. Kaminski/Melton, Translators' Introduction, S. XXX. Reinhard Blänkner meinte in einem Diskussionsbeitrag (in: Annali XIII/1987, S. 70f.), daß Brunner selbst immer einer Aporte des Rechtspositivismus verhaftet geblieben sei. Auch sein Staatsbegriff sei zu sehr ein zeitlos allgemeiner Staatsbegriff geblieben und nicht ein begriffshistorisch differenzierter. "7) Siehe Kroeschell, Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht, S. 184, 187, 201-205 (S. 157-181 zur „überhitzen Lehre von der germanischen Treue"); Krause, Der Historiker und sein Verhältnis zur Geschichte von Verfassung und Recht, S. 18. Diese Spiegelung haben Herbert Hassinger und Hans Rosenberg, die Brunner aufs Vorwort glaubten, in ihren Rezensionen glatt übersehen: Hassinger, Rez. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 282f.; Rosenberg, Rez. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Rosenbergs Haltung zu Brunner war zwiespältig: Einerseits hielt er ihn für den „allerbedeutendsten Historiker unseres Jahrhunderts" (Rosenberg an Dietrich Gerhard v. 11.7. 1972 [BAK N 1376/46) und versuchte, ihn in den USA bekannt zu machen. Andererseits bedauerte er dessen Einfluß auf Werner Conze den er für gut hielt, aber nicht kennenlernen wollte, weil sie zu verschieden seien, während Conze zum 80. Geburtstag Rosenbergs gewisse Gemeinsamkeiten akzentuierte (vgl. Rosenberg an Peter N. Steams vom 5. 1. 1969 und die Briefwechsel mit David Nicholas und Dietrich Gerhard 1969 und 1972; Rosenberg an Oscar Handlin vom 8.7. 1966; Rosenberg vom 1. 1. 1968; Conze an Rosenberg vom 25. 2. 1984 [BAK N 1376/46, 47, 38, 52]). "8) Das fällt besonders in Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, S. 517 (vgl. auch S. 528), auf. Vgl. auch Boldt, Otto Brunner, S. 50f. (mit Anm. 26): Es werde ein Entwicklungszusammenhang deutlich, aber kein evolutionistischer. 119) So auch Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter, S. 107; Boldt, Otto Brunner, S. 48 f.
XL; Ders., Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters, S. 422; ...
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stenheit. Ohne Macht des Reiches kein Friede in Europa, ein machtloses Reich stürzt sich und Europa ins Chaos. Allein große Führergestalten können dieses Werk vollbringen und durch die Kraft der Waffen die Ordnung des Friedens und des Rechtes schaffen. Das ist die dauernde Aufgabe Deutschlands, die
Aufgabe, die jeder Generation und jeder führenden Gestalt neu gestellt ist.120) Solch ein Gegenwartsbezug war für Brunner wissenschaftlich redlich, weil er ihn historiographisch aus der Vergangenheit her gewonnen zu haben vermeinte. Schelte dagegen bekam, wer das 19. Jahrhundert in die Vergangenheit
projizierte.121)
Nach dem Kriege sah einiges anders aus. 1948, 1954 und schließlich 1959 ließ vier Aufsätze drucken, in denen er die oben skizzierte begriffsgeschichtliche Theorie ausführlicher der Öffentlichkeit zugänglich machte.122) Vor 1945 hatte er diese Theorie genutzt, um seine weltanschauliche Ausgangsbasis in empirische Forschung zu transformieren, die die Weltanschauung abstützen sollte. Nach 1945 half die Theorie ihm, so meine These, seinen bisherigen empirischen Arbeiten den Bestand zu sichern und seine Wissenschaftlerbiographie zu rechtfertigen. Beide Aufgaben erledigte die Theorie mit Bravour, wie wir nach einem kurzen Umweg über die inhaltliche Seite seiner empirischen Nachkriegsarbeiten sehen werden. Im Grunde hat Brunner seine Sicht in den wesentlichen Punkten nicht revidiert. Die zentralen Kategorien blieben die alten, die Begriffe und Modelle des er
12°) Niemanden werden Ort und Datum dieses wissenschaftlichen Vortrages aus der Reihe „Weltgeschichtliche Bewährungsstunden" überraschen: Berlin, am 21. 1. 1945 (StAH
622-2, Nr. 8).
12') Etwa Ernst K. Winter in Brunner, Zum Problem der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 680-685. Das Urteil, ob der Gegenwartsbezug einer historischen Arbeit adäquat angelegt sei, so Brunner, hänge sehr von der Bewertung der politischen Ideen, die der Ver-
fasser vertrete, ab. Diese wie üblich einsichtsvolle Erkenntnis wollte er dann aber nicht weiter diskutieren. Siehe auch Ders., Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, S. 528, und die markigen Worte in: Ders., Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters, S. 421 f. Nach dem Kriege warnte er klug vor der Übersteigerung historischer Kontinuitäten, forderte die dauernde Selbstkritik und rief zu Toleranz gegenüber der Vielzahl möglicher Vergangenheitsdeutungen auf (z.B. Brunner, Inneres Gefüge des Abendlandes, S. 327; Ders., Abendländisches Geschichtsdenken, S. 42-44; Ders., Bemerkungen zu den Begriffen „Herrschaft" und „Legitimität", S. 64f.; Ders., Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, S. 13-15; Ders., Die „Welt" und „Europa", S. 9f.; Ders., Das Fach „Geschichte" und die historischen Wissenschaften, S. 32f.), auch wenn er selbst vor absonderlichen Anwandlungen nicht gefeit war (z.B. in Brunner, Inneres Gefüge des Abendlandes, S. 374-378). 122) Brunner, Sozialgeschichtliche Forschungsaufgaben, erörtert am Beispiel Niederösterreichs; Ders., Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte; Ders., Abendländisches Geschichtsdenken; Ders., Das Fach „Geschichte" und die historischen Wissenschaften. Seine Theorie war schon vor 1945 angelegt: Brunner, Land und Herrschaft; Ders., Zum Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Ders., Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte. -
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19. Jahrhunderts für Analysen der davor liegenden Zeit lehnte er nach wie vor ab.123) Geändert hatte sich freilich leicht der Bezugsrahmen seiner Arbeit, nämlich die Einschätzung der „modernen Welt". Plötzlich war sie nicht mehr unlösbar mit dem Sündenfall des 19. Jahrhunderts verknüpft, obwohl aus den Texten deutlich wird, daß sich Brunner mit der liberalen Epoche noch immer nicht angefreundet hatte. Freilich war nun ein anderer Zeitabschnitt auszublenden und eine neue Kontinuitätslinie zu ziehen. 1949 beschrieb er das 19. Jahrhundert zwar noch als Ursache einer tiefen geistigen Krise seiner Gegenwart, weil es bisher nicht gelungen sei, „dauernde Formen des menschlichen Zusammenlebens und ein ihr gemäßes Geistesleben zu gestalten."124) Diese Niedergeschlagenheit legte sich jedoch in den folgenden Texten allmählich, und die moderne, liberale, egalitäre Staatsbürgergesellschaft wuchs von Text zu Text mehr und mehr in ihr Amt als adäquate Nachfolgerin der zerstörten Strukturen hinein, bis zum Schluß die Männer von 1848 „um eine Repräsentativverfassung im modernen Sinne bemüht waren und damit den ersten Schritt zur endgültigen Überwindung der alten Formen taten".125) Die Einheit Alteuropas betonte er seit 1949 ebenfalls mit einer anderen Nuance. Am Beispiel seines Helden, Wolf Helmhard von Hohberg, eines durchschnittlichen Vertreters seines Standes, führte Brunner im „adeligen Landleben" seinen Lesern eine Gesellschaft vor Augen, die durch die Kontinuität eines adelig-bäuerlichen Ethos und Wirtschaftsprinzips charakterisiert war, dessen Wurzeln nicht flacher als in der griechischen Antike gründeten. Er durchforschte die Bibliotheksverzeichnisse des österreichischen Landadels und stellte erneut die Einheit einer Sozialschicht, ihrer Bildungswelt und ihr unverändertes Fortbestehen über die Zeit hinweg fest126) bis ins 18. Jahrhundert, bis auch in diesem Buch die moderne Gesellschaft die Welt eroberte. Der Adel „verfiel" zwar nicht, doch es wurde deutlich, wie begrenzt die Kraft seines Ethos war. Die neue Zeit begann die ehemals ungeschiedene Welt aufzuspalten in „Gesellschaft" und „Politik", der Adel sank herab von einem Stand der Grundbesitzer zur sozialen Schicht der Aristokratie, von einer Herrenschicht -
123) Vgl. vor allem Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist (zum ganzen Haus bes. S. 247, 260-262, zum Rechtsbewußtsein S. 24, 78); Ders., Johann Joachim Bechers Entwurf einer „Oeconomia ruralis et domestica"; Ders., Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik"; Ders., Inneres Gefüge des Abendlandes; Ders., Humanismus und Renaissance; das Vorwort und weitere Aufsätze in: Ders., Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte. 124) Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 339. 125) Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 109 f., 188, 280, 320 f. (dort das Zitat). Die neue politische Kontinuität war allerdings mit der Möglichkeit „totalitärer Entartung" geschlagen: Brunner, Die „Welt" und „Europa", S. 19. Vgl. auch Ders., Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 327. 126) Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, bes. S. 59, 78-80, 166, 303-305.
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„leisure class", er wurde zu einem Teil der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.127) Statt der Germanen die Antike, statt der Betonung von Herrschaftsprinzipien die Darstellung eines Ethos, statt des Landes eine Geisteswelt, statt des politischen Kampfes die Betonung der Ökonomie und statt des „ganzen Hauses" als Modell für die Grund- und Landesherrschaft das „ganze Haus" als Bauernhaus;128) statt des „Reiches" eher „Europa", statt Schmitt und Huber stärker Hintze und Weber und begrifflich die berühmte und gern zitierte Verwandlung der „Verfassungsgeschichte als Vblksgeschichte" (die er in der zweiten Auflage zur „politischen Vblksgeschichte" verschärfte) zur „Strukturgeschichte" à la Conze:129) Das war die Kur, die Otto Brunner aufgrund der Zäsur seinem Werk verpaßte. Sie sollte seine Arbeit nicht nur aus dem Zwielicht der eigenen Vergangenheit herausführen, sondern hing auch mit der allgemeinen Rückbesinnung auf die Werte des Humanismus und einer Skepsis gegenüber der Politik zusammen. Ist es Zufall, daß Brunner nunmehr statt der Darstellung der inneren Ordnung von Verbänden das Leben eines Individuums inszenierte? Und daß er den Stadtbürgern erheblich größere Aufmerksamkeit widmete?130) Und daß er die tiefverwurzelte, selbständige Eigenart der österreichischen Länder betonte?131) Wohlgemerkt, Brunner vollzog keine radikale Wendung. „Land und Herrschaft" blieb, wie es war, von der Kosmetik abgesehen. Das Gesellschaftsbild blieb, wie es war. Immer noch umfaßte seine Sicht auf alle sozialen Schichten ausschließlich die Grundbesitzer. Und Hohberg diente über lange Strecken des Buches nur als Aufhänger, um erneut wehmütig das alte Thema zur
127) Ebd., S. 89, 234, 312-314, 329f., 337-339. 128) Das war also eine Beschränkung auf die wirtschaftliche und soziale Komponente seines Konzeptes; vgl. bes. Brunner, Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik", aber auch Ders., Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 247, 260-262. 129) Vgl. Brunner, Land und Herrschaft, (1. Aufl.) S. 194, 506; (2. Aufl.) S. 185; (4. und folgende Auflagen) S. 164. 1978 machte Brunner allerdings nur im Titel aus dem „Inneren Gefüge" die „Sozialgeschichte Europas im Mittelalter" (unveränderter ND von Inneres Gefüge des Abendlandes, Göttingen 1978). 13°) Z.B. Brunner, Neue Wege der Sozialgeschichte, Kap. IV-VI; Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Kap. XI-XIII, XVI, XVII. I31) Statt ihrer dialektischen Verbundenheit mit dem Deutschen Reich, vgl. Brunner, Landesgeschichte und moderne Sozialgeschichte, S. 339. Zur Bedeutung von Brunners Geschichtsschreibung für die Identität Österreichs vgl. Brunner, Land und Herrschaft -
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(1. Aufl.), S. 194, 508f.; (3. Aufl.) S. 508-523; (ab der 4. Aufl.) S. VIII, 441-463; die Vorlesung „Der Aufbau der österreichischen Großmacht am Beginn des 19. Jahrhunderts" (StAH 622-2, Nr. 36) und den Vortrag „Das österreichische Gesamtstaatsproblem" (StAH 622-2, Nr. 38). Zur österreichischen Volksgeschichte, die gleichzeitig dem österreichisch-deutschen Abwehrkampf gegen die „slawische Gefahr" diente, und zu den Versuchen, Österreichs Stellung zum Reich historiographisch zu bestimmen: Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus, S. 249-251; Oberkrome, Volksgeschichte, S. 73-80, 146-151, 200-203; Ehmer/Müller, Sozialgeschichte in Österreich, S. 114; Suppanz, Österreichische -
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aufzubereiten, den Untergang der alteuropäischen Welt, der fortwährend nicht einfach als Übergang in die moderne Gesellschaft erscheint, sondern weiterhin
als ein Verlust.132) Brunners Interesse an Europa, Ethos und Humanismus erstaunt wenig, beides folgte einer Wendung, die sehr viele andere Historiker nach dem Kriege vollzogen haben. Verwunderlich könnte dagegen erscheinen, daß er an seinem Modell der Gesellschaftsordnung festhielt, gleichzeitig mit einer im Grunde fundamentalen Neubewertung des 19. Jahrhunderts! Doch war dieser Wechsel, diese Abkoppelung seiner früheren Arbeiten von ihrem weltanschaulichen Nährboden, gedeckt durch dieselbe Theorie, die einstmals die Weltanschauung durch wissenschaftliche Arbeit geadelt hatte. Rückten deshalb seine theoretischen Überlegungen nach dem Kriege so auffällig in den Vordergrund, weil sie der unausgesprochene (unbewußte) Kommentar zu seinem Wandel in der Kontinuität waren? Die These ist gewagt, für sie spricht, daß seine Theorie der Historisierung nicht nur dem 19. Jahrhundert, sondern auch, wie oben skizziert, der Wissenschaftsgeschichte selbst galt diesen Aspekt betonte er jetzt. Damit historisierte er seine eigenen Arbeiten. Wo sie „falsche" Affinitäten erkennen ließen, waren sie einfach einer bestimmten historischen Situation verhaftet gewesen, die Eliminierung einer nunmehr abstrusen „germanischen Kontinuität" oder die Neubewertung der liberalen Gesellschaft waren daher Erkenntnis ist immer im Wandel begriffen! vollauf gerechtfertigt. Im selben Moment gab die Theorie seine Arbeit der Vergänglichkeit nicht preis, denn wenn Brunner unermüdlich betont hatte, daß das 19. Jahrhundert eine historisch einmalige Situation gewesen sei, dann galt das natürlich für das Mittelalter und die frühe Neuzeit ebenso. Hatte Brunner nicht immer die Eigenständigkeit der frühen Neuzeit beachtet? Deren Gesellschaftsordnung meinte er, geleitet durch seine Theorie, adäquat dargestellt zu haben, die zeitgeistverschuldeten Kontinuitätslinien waren nur Beiwerk gewesen und wurden nun mit Hilfe dieser Theorie gekappt bzw. umgelenkt. Nicht nur Herrschaft setzte sich aus mehreren Schichten zusammen, sondern auch Brunners Historismus. Die eine Schicht eliminierte ideologische Kontinuitäten qua Historisierung, die andere stiftete qua Historisierung die Kontinuität der Inhalte. Brunner hatte „die österreichische Vergangenheit unter dem Gesichtspunkt der politischen Gegenwart"133) betrachtet, was durchaus korrekt war (denn als Prinzip motiviert das bis heute noch jede Geschichtsschreibung). Nicht korrekt war, anschließend zu -
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glauben, daß nur die Darstellung der Kontinuitätslinien einer durch die Zeit bedingten Verzerrung unterlegen waren, und nicht gleich die ganze Sicht auf Vergangenheit, von der aus er mal die eine, mal die andere Linie zog. Das anzusprechen ersparte ihm sein selektierender, doppelschichtiger Historismus
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132) Z.B. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 9,89. Vgl. auch Rowan, Comment, S. 296. 133) Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus, S. 252.
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wieder sehen wir die Verknüpfung theoretisch heute noch gültiger Aussagen mit zeitverhafteten Intentionen. Fügen wir eine kleine Anekdote an, die Karl Kroeschell berichtete: „Die Verfassungshistoriker freilich mochten nicht anerkennen, daß dieser Befund auch für sie gelten müsse, und wiesen die Frage nach der Zeitgebundenheit ihrer eigenen Vorstellungen entschieden ab. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Walter Schlesinger und Karl Bosl auf der Reichenau 1961 und 1962. Meine Frage, ob nicht auch in die Vorstellung von der .herrschaftlichen Freiheit' etwas vom Zeitgeist eingegangen sei, wurde mit Entrüstung zurückgewiesen. So, wie man das Mittelalter jetzt sehe, sei es wirklich gewesen!"134) Als wie fragwürdig und apologetisch man Brunners Arbeit auch beurteilen mag, in der Historikerzunft nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte er erneut großen Einfluß. Spannend muß gewirkt haben, daß er nicht einfach Lokalhistorie schrieb und dazu von einem bestimmten Weltbild ausging, sondern daß er dieses Weltbild theoretisch untermauerte und seine Geschichtsschreibung theoretisch begründete.135) „Land und Herrschaft" war ein außerordentliches Buch und fundierte seine Stellung. Brunners Kategorien waren für viele Historiker fruchtbar,136) er half mit, die Verfassungsgeschichte auf einen anderen Boden zu stellen sogar als einen fernen Vorläufer der historischen Anthropologie hat man ihn inzwischen ausgemacht, nicht völlig unberechtigt.137) Er war ein „starker Mann" auf dem Gebiete der Sozialgeschichte, wie Hermann Aubin meinte.138) Doch nachdem sein Ruf erst einmal etabliert gewesen ist, so scheint es, wurden seine Arbeiten als die Werke eines Meisters behandelt, die -
134) Das erlebte Kroeschell auf einer Tagung des Konstanzer Arbeitskreises, dem Brunner und andere, ehedem junge und kritische Verfassungshistoriker angehörten: Kroeschell, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, S. 356. 135) Vgl. die Diskussionsbeiträge von Gerhard Dilcher und Alfred Haverkamp (in: Annali ...XIII/1987, S. 181 f., 119). 136) So für Othmar Hageneder (Diskussionsbeitrag in ebd., S. 166, 177); vgl. auch die fortlaufende Debatte um das „ganze Haus", das man eben doch noch nicht ad acta gelegt hat. Reinhard Elze bestreitet freilich in einem Diskussionsbeitrag (ebd., S. 152), daß „Land und Herrschaft" für die Analyse anderer Landschaften als der südostdeutschen helfe. 137) Vgl. Melton, From Folk History to Structural History, S. 274-277. So hat Brunner z.B. versucht, den geistigen Horizont einer Zeit aus dem „Bücherbesitz bestimmter Menschen, Geschlechter, Schichten", aus dem „allgemein Verbreitetefn], immer Wiederkehrende[n], [den] zahlreichen kleinen Bücherbestände[n], aus denen wir entnehmen können, was als überall vorhandenes und selbstverständlich vorauszusetzendes Geistesgut anzusehen ist", in Verbindung mit einer Untersuchung der Sozialstruktur zu rekonstruieren: Vgl. Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 262, 281-293 (die Zitate auf S. 282); Ders., Adeliges Landleben und europäischer Geist; Ders., Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, S. 9f. Dieses Bemühen wurde von Kollegen, die geistige und religiöse Dinge von ihren sozialen Voraussetzungen rein zu halten trachteten, nicht gerne gesehen: Schreiner, Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters nach 1945, S. 84. 13») Aubin an Wolfgang Zorn vom 11. § [sie]. 1968 (BAK N 1179/42).
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2. Ansatz und intellektuelle Prägungen
aber auf eine merkwürdig verengte Weise rezipiert wurden. Bei Werner Conze findet sich nichts von Brunners komplexem und radikalem Denken. Lediglich das Bild des beneidenswert in sich ruhenden „Alteuropas" als Epoche vermeintlicher gesellschaftlicher Stabilität ist geblieben, das in Conzes Sozialgeschichte die wichtige Aufgabe einer Folie übernahm, vor der die neuartige, permanente Dynamik der späten Neuzeit deutlich ausgeleuchtet werden konnte. Die Mittelalterhistoriker dagegen nahmen „zur Kenntnis, daß dieser große und bedeutende Kollege in Hamburg saß, aber man wußte, daß das Mittelalter ihn nicht mehr interessierte, oder jedenfalls schien es so. Was er über das Mittelalter noch schrieb, war so generell, daß die Mediävisten es nicht lasen. Man las dann Neue Wege zur [sie] Sozialgeschichte, auch Adeliges Landleben, und fand, daß das hochinteressant war. Schade nur, daß man selbst mit dem Mittelalter aufhören mußte und nicht auch wie Brunner in die frühe Neuzeit gehen konnte. Das wäre meine Bemerkung als Mittelalterhistoriker: Brunners großes Verdienst erstmals 1939, zwei weitere Auflagen bis 1943, müde und erfolglose Abwehr von Seiten der Fachkollegen und danach allgemeine Anerkennung."139) Wie kam es, daß die Mediävisten ihrem berühmten Kollegen bedauerlicherweise nicht in die Frühneuzeit folgen konnten? Gerade das hätte ja nicht die Wirkung des Alteuropa-Modells sein dürfen! Und über 50 Dissertationen bzw. ungefähr so viele Staatsexamensarbeiten hat Otto Brunner in seiner Hamburger Zeit angeregt, doch die Mehrzahl seiner Schüler wurde Gymnasiallehrer, eine kleine Zahl schlug die Archivlaufbahn ein, nur einige wenige sind in der Wissenschaft geblieben.140) Seine institutionelle Position
139) Diskussionsbeitrag Reinhard Elzes (in: Annali XIII/1987, S. 151). I4°) Zum Gedenken an Otto Brunner, S. 39; Verzeichnis von bei Otto Brunner verfaßten ...
Staatsexamensarbeiten, 1956-1966 (StAH 622-2, Nr. 52). Zur Rezeption nach 1945, u.a. durch Jürgen Habermas, David W. Sabean und Eric J. Midelfort: Kaminski/Melton, Translators' Introduction, S. XVIII, Anm. 19, XXXIII-XXXIX (mit Anm. 97), XLIIIf. Den Klassikerstatus bestätigen Blickle, Otto Brunner, S. 779, Anton Schindling (Gespräch am 14. 5. 1997), Friedrich Fürstenberg (Gespräch am 5. 11. 1998) und Wilfried Hartmann (Gespräch am 13. 5. 1997). Blickle und Schindling betonen, daß Brunners Arbeiten sowohl mehrere Studentengenerationen der Nachkriegszeit wie die Forschung beeinflußt haben (zumindest die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche), Hartmann dagegen meint, daß Brunner viel gelesen, aber nicht wirklich rezipiert worden sei. Fürstenberg hat ihn in den fünfziger Jahren als „Denkmal", das keine prägende Wirkung mehr hatte, erlebt. Brunners Bedeutung erwähnt auch Obenaus, Geschichtsstudium und Universität nach der Katastrophe von 1945, S. 313, er sagt aber nichts über die Wirkung. Vgl. auch Sprandel, Rez. Alteuropa und die moderne Gesellschaft, der auf gewisse Rezeptionsdefizite aufmerksam macht (und gleichzeitig eine zu kritiklose Rezeption bemerkt). Dagegen wiederum die Glückwunschschreiben zu Brunners 70. Geburtstag, in denen ihm mehrere Schüler versichern, wie sehr er sie geprägt habe (StAH 622-2, Nr. 54). Werner Conze soll in einer Vorlesung einmal „Land und Herrschaft" hochgehalten und gesagt haben: ,„Das müssen alle gelesen haben, sonst werden sie nicht promoviert'" (Diskussionsbeitrag Reinhard Elzes, in: Annali XIII/1987, S. 149). Bei Conzes Heidelberger Assistenten waren Bmnners theoretische Texte „Dauerbrenner" (Gespräch mit Dieter Groh am 29. 10. 1997). Interessanterweise hatten selbst die Zeitgenossen, die von Brunner beeindruckt waren, nur höchst verwaschene Bilder von sei-
...
V Otto Brunner
89
unzweifelhaft bedeutend. Er war von 1953 bis 1982 ein führendes der Mitglied Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und dort mit Werner Conze und Reinhart Koselleck Träger der sozialgeschichtlichen Forschungen; er war Fachgutachter der DFG und dergleichen mehr. In der Forschungspolitik hatte Brunners Name Gewicht, eine entscheidende Voraussetzung, um eine neue sozialhistorische Geschichtsschreibung durchzusetzen. Mit Werner Conzes und Hans Freyers Sicht stimmte Brunner überein. Auch er hatte Hans Freyer gelesen und dessen Grundthese von der „Weltgeschichte Europas" geteilt.141) Die komplexe wissenschaftstheoretische Position hat Conze von Brunner nicht übernommen, doch seine Sicht auf die Geschichte und seine Forschungskonzeptionen fand er in Brunners Veröffentlichungen bestens bestätigt. Vor allem konnte der berühmte Hamburger Kollege zu einer Zeit, da Conze noch nicht viel Gehör fand, einer neuen Sozialgeschichte vor der Historikeröffentlichkeit die Lanze brechen, z.B. auf dem Historikertag in Bremen (1953), wo er in seinem Vortrag über „Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte" die Annäherung an die Soziologie so weit trieb, daß es ihm „denn auch kaum mehr möglich [schien], einen Unterschied zwischen historischer Soziologie und Sozialgeschichte zu machen."142) freilich
war
Person im Gedächtnis, als ich sie um ihre persönlichen Eindrücke befragt habe. Von Brunner selbst habe ich überall nur äußerst knapp gehaltene Briefe gefunden, er ist als Person kaum greifbar. 141) Bes. Brunner, Die „Welt" und „Europa", wo er übrigens davor warnt, die Welteroberung durch Europa als naturgegebene Überlegenheit anzusehen, und wo er die bisherigen „Weltgeschichten" als unreflektiert europazentriert kritisiert. Vgl. im übrigen auch Vorwort zu Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 7; Ders., Humanismus und Renaissance, S. 557-559; Ders., Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 339; Ders., Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, S. 20-31. Wenn man Freyer, Gegenwartsaufgaben der deutschen Soziologie, bzw. Ders., Revolution von Rechts, liest, dann erkennt man starke Parallelitäten zu Brunner auch für die Zeit vor dem Weltkrieg. 142) Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, S. 32. ner
3. Die
Strategie History books need to be „marketed" if they are to be really influential. (Geoffrey Parker, 1974)
1952 hatte Werner Conze geschrieben, daß der Ruf nach Sozialgeschichte so alt sei wie gleichzeitig neu, und so die paradoxe Situation getroffen: Die wenigen Sozialhistoriker, die es gab, wurden von Politikhistorikern als Kollegen geachtet, doch die jahrzehntealten und immer neuen Versuche von Sozialhistorikern, der Sozialgeschichte mehr Geltung zu verschaffen, hatte die Politikgeschichte abgewehrt. Werner Conzes Bemühungen um die Sozialgeschichte waren also nicht neu, gänzlich ungewohnt jedoch war die Konzeption, die er entwarf. Sozialgeschichte als Integrationswissenschaft zu verstehen, hatte in der Geschichtswissenschaft seit Karl Lamprecht niemand mehr gefordert, und Lamprecht war vergessen. Kaum jemand, außer sicherlich Otto Brunner, konnte sich zu Beginn der fünfziger Jahre wirklich vorstellen, was Conze unter einer Durchdringung der allgemeinen Geschichte mit Sozialgeschichte verstand, also mußte er seine Vorstellungen durch ständige Wiederholungen in den Vorstellungsschatz seiner Kollegen, in das Archiv der sinnvollen Aussagen, einspeisen. Das, was ihm klar erschien, mußte er seiner Fremdheit für westdeutsche Historiker entkleiden, ohne daß ihm zu Beginn dieser Kärrnerarbeit ein eingängiges, Vertrautheit schaffendes, die Bemühungen bündelndes Etikett zur Verfügung gestanden hätte. Der Begriff „Sozialgeschichte" war nämlich eine Verlegenheitslösung aus späterer Zeit. Conze fing langsam an. Er durfte sich mit der Zeit immer öfter auf Historikertagen zu Wort melden, er ließ seine Vorstellungen in Rezensionen einfließen und er publizierte Aufsätze, in denen er verschiedene Facetten seines Ansatzes erprobte. Diese Technik der Wiederholung nenne ich „Strategie", denn sämtliche Beiträge Conzes lassen erkennen, wie gezielt er die Orte, die sich ihm boten, nutzte, um Sozialgeschichte zu propagieren. Daß diese Strategie nicht mit „Intention" gleichzusetzen ist, habe ich in der Einleitung skizziert; daß einer Aussage Gehör verschafft zu haben nicht bedeutet, ihr auch Geltung verschafft zu haben, werde ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels ausführen. Vorher werden wir den mühsamen ersten Jahren seiner strategischen Arbeit folgen.
I Der langsame
Aufstieg in der Historikerzunft
Auf den Historikertagen begann Werner Conzes Arbeit unauffällig. Das Protokoll der ersten deutschen Nachkriegstagung, 1949 in München, verzeichnet ihn
91
I Der langsame Aufstieg in der Historikerzunft
als Teilnehmer und vermeldet nichts darüber, ob er in Diskussionsbeiträgen seinen Standpunkt vertreten hat.1) Er kritisierte die Tagung im nachhinein, in einem Brief an Hermann Aubin: Die Abfolge von Einzelvorträgen, die unzureichende Diskussion und der Mangel an Sozialgeschichte störten ihn; er forderte, daß Sozialgeschichte „weit stärker als bisher das Ganze durchdringen" müsse.2) Immerhin waren auf der Tagung in den Titeln zweier Vorträge Themen angeklungen, die später für die Sozialgeschichte eine Rolle spielen sollten „Der Einzelne und die Gemeinschaft" sowie „Das Jahr 1848 und die Arbeiterbewegung" -, und immerhin hatte Gerhard Ritter im selben Vortrag, in dem er seinen Kollegen ein gutes Gewissen wegen ihrer Haltung im „Dritten Reich" zusprach, gemahnt, die „überlieferte Scheu vor generalisierender Geschichtsbetrachtung, d.h. vor der Bildung historischer Allgemeinbegriffe, vor einer ,Typenlehre' also, nicht soweit [zu] treiben, daß sie zur Gedankenlosigkeit wird." Das Einmalige sehe nur, wer das Typische zu formulieren in der Lage sei. „Historie der neuesten Zeit ohne Beherrschung der ökonomischen Grundbegriffe, besonders der Währungsprobleme und der Finanzwissenschaft, aber auch der soziologischen Methoden, führt zu bloßer Rhetorik ohne tieferen Erkenntniswert."3) Und im Schlußwort zur Diskussion seines Vortrages meinte er ebenso deutlich: ,,[A]uch er [fordere] eine universalere Geschichtsauffassung, als sie Ranke betrieben habe [...]. Eine einfache Fortsetzung von dessen großen Mächten' in die Gegenwart hinein [...] sei unmöglich. Die wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge seien selbstverständlich in allen Genur
-
schichtsepochen zu berücksichtigen."4) Ein knappes Jahr darauf, in Paris, klang er zwar anders, doch zumindest verbal hatte der Vorsitzende des Historikerverbandes der Sozialgeschichte eine kleine Tür geöffnet. Conze
war vom
Verband weder für den ersten bundesdeutschen Historiker-
tag noch für den ersten Auslandszug deutscher Historiker nach dem Kriege, für den Historikertag in Paris von 1950, als Referent vorgesehen worden, obwohl die Franzosen das Aufgebot sehr vielfältiger Kräfte erwartet hatten. 1949 trug er mit seiner Unterschrift vor dem Amtsgericht Göttingen dazu bei, den wie-
derbegründeten Historikerverband ins Vereinsregister aufzunehmen,5) dann nahte 1951 der Marburger Historikertag. Im Gegensatz zum Münchener Treffen sollten den Teilnehmern hier die Begriffe „Sozialgeschichte" und „Soziolo-
') Protokoll über die Sitzungen der 20. Versammlung deutscher Historiker (12.-14. Sept. 1949) [...] zu München (AVHD). 2) Zitiert nach Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 282. 3) Vgl. Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft, S. 7-9, 21 f. (Zitate S. 9, 21 f.). 4) Protokoll über die Sitzungen der 20. Versammlung deutscher Historiker (12.-14. Sept. 1949) [...] zu München, S. 7 (AVHD). 5) Vgl. das Protokoll über die Sitzung des vorläufigen Ausschusses des Verbandes der Historiker Deutschlands in Frankfurt a.M.
(AVHD).
am
5./6. 2. 1949; Schreiben Ritters
vom
2. 6. 1949
92
3. Die
Strategie
schon sehr viel häufiger begegnen. Es gab die Sektionen „Sozialgeschichte von Hellas und Rom", „Wirtschafts- und Sozialgeschichte" und „Soziologie und Historie", denn Ritter, dem einflußreichen Vorsitzenden, hatte vorgeschwebt, einen Überblick über die Rolle der Soziologie für die Geschichtswissenschaft zu geben. „Ich fände es sehr begrüßenswert, wenn die Historiker und Soziologen in dieser Sektion einmal in engere Fühlung kämen und die Diskussion recht vielseitig gestaltet würde. Andererseits würde ich größten Wert darauf legen, daß sie nicht bloß von Soziologen geführt wird, sondern daß Sie [Theodor Schieder] als Fachhistoriker dabei mitwirken und auf alle Fälle die Diskussion mitbestimmen helfen" damit in der heiklen Frage des Verhältnisses von Soziologie und Geschichtswissenschaft das Anliegen der Historiker nicht zu kurz käme.6) Mit jenen Sektionen wurde zwar Conzes Anliegen, Sozialgeschichte solle nicht in Abteilungen isoliert werden, unterlaufen, doch ohne die bedrückenden Erfahrungen, die „das Hauptcorpus [...] der eigentlichen Historiker"7) auf dem Pariser Historikertag hatte machen müssen, wären sie vermutlich nicht in das Programm aufgenommen worden. Schon auf den Internationalen Historikertagen in Oslo (1928) und Zürich (1938) war die Politikgeschichte schwächer vertreten gewesen als die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in Paris hatten die Annales-Historiker dieses Verhältnis zementiert. Sie feierten einen Sieg:8) Die meisten Sektionen beschäftigten sich mit der Anthropologie, der Démographie, der Mentalitäten-, Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Institutionengeschichte; eine Sektion für die „Geschichte der politischen Tatsachen" fand erst sehr spät einen Platz im Programm.9) Die „Nouvelle histoire" war rauhe See für das mit traditionellen Historikern bemannte deutsche Schiff, doch dessen Kapitän trotzte dem Sturm, indem er fast aus dem Stegreif einen (zu) langen Vortrag hielt, mit dem er dem Unwetter einer „Kulturgeschichte" im Sinne einer „Histoire totale de la société" die Stirne
gie"
-
bot.10) Als Brise erreichte der Sturm noch Marburg. Hermann Heimpel, der die Entwicklungen etwas gelassener als sein Verbandschef sah, verwahrte sich gegen Vorwürfe einer angeblichen Rückständigkeit der deutschen Historiographie,11) und der Historikerverband stellte in Marburg etwa für die Alte Geschichte befriedigt fest, daß die „Methode dieser strengen Disziplinen noch oder wieder
6) Ritter an Schieder vom 22. 3. und vom 18. 5. 1951 (AVHD). 7) Schreiben Ritters vom 2. 6. 1949 (AVHD). 8) Fink, Marc Bloch, S. 327. 9) Zum Pariser Historikertag: Erdmann, Die Ökumene der Historiker, S. 265-298. 10) Der Einwurf ist überarbeitet abgedruckt als Ritter, Zum Begriff der „Kulturgeschichte". Vgl. auch Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 287f. Eine ähnliche Polemik gegen die „Kulturgeschichte", wie man sie den Annales zuschrieb, kam 1956 von Hermann Heimpel: Heimpel, Geschichte und Geschichtswissenschaft, S. 4. H) Vgl. Heimpel, Bericht über die Pariser Tagung.
I Der langsame
Aufstieg in der Historikerzunft
93
geht".12) Man geißelte sich nicht. Trotzdem ließ man sich Paris inspirieren, indem man dazu überging, die Nachmitorganisatorisch in Sektionen einzuteilen (statt den ganzen Tag Vorträge zu halten), um tage besser diskutieren zu können. Und diese Sektionen waren eben, aufgrund inund ausländischer Forderungen,13) auf Sozial-, Zeit- und Universalgeschichte ausgerichtet auch wenn die Verbindung von Geschichte und Soziologie nur Programm geblieben sei, wie Conze Jahrzehnte später schrieb.14) Er als ein vergleichsweise Radikaler konnte kaum zufrieden sein, doch die klassischen Diplomatie- und Politikhistoriker traten für dieses Jahr höflich einen Schritt zurück zugunsten der Sozialgeschichte, aber auch, um die Geschichtsschreibung aus „nationaler und europäischer Enge, soweit sie darin befangen war, in die zeitgemäße Weite der Welt"15) streben zu lassen, etwa in die osteuropäische Geschichte, die sich Terrain in der westdeutschen Geschichtswissenschaft sichern wollte. Die Gesellschaft als Untersuchungsgegenstand der Geschichtsschreibung zu berücksichtigen, bereitete den Historikern 1951 verbal keine Schwierigkeiten. Ursprünglich war sogar an eine Sektion „Geschichte und Gesellschaftswissenschaft" gedacht worden (weiterhin die Trennung durch das „und" herausstreichend), Hans Freyer sollte referieren, während Conze im Verbandsvorstand als Ersatzreferent für den Neuzeit-Vortrag und als Vortragender für die Sektion „Wirtschafts- und Sozialgeschichte" im Gespräch gewesen war.16) Aus all dem wurde nichts, nur Hermann Bengtson, Friedrich Vittinghoff und Friedrich Lütge lieferten Beiträge, in denen sie den Strukturwandel antiker Gesellschaften, die Bedeutung von Bevölkerungsgruppen bzw. einzelner gesellschaftlicher Schichten für das Staatswesen und Besonderheiten der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung während des Spätmittelalters darstellten. Lütge war der Meinung, daß „die bisher zu beobachtende einseitig wirtschaftliche Betrachtung durch eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Entwicklungslinien" ergänzt werden sollte.17) Außerdem gab es die Soziologie-Sektion. Gerhard Ritter leitete sie und hatte in Siegfried Landshut mit einiger Mühe einen westdeutschen Marxismus-Kenner aufgetrieben, der gleichwohl nicht im Verdacht stand, Marxist zu sein.18) Landshut erläuterte der Zunft den integralen Zusammenhang von Geschichte, auf feste[m] Boden aus
-
l2) Bericht über die 21. Versammlung deutscher Historiker, S. 6. Vgl. auch Heimpel, Der Marburger Historikertag. ,3) Bericht über die 21. Versammlung deutscher Historiker, S. 5. 14) Conze, Die Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, S. 23. 15) Bericht über die 21. Versammlung deutscher Historiker, S. 5. 16) Rundschreiben des Historikerverbandes vom Januar 1950; Protokoll über die Sitzung des Ausschusses des Verbandes der Historiker Deutschlands am 23724. 9. 1950 (AVHD). n) Vgl. den Bericht über die 21. Versammlung deutscher Historiker, S. 22-25, 37-39 (Zitat S. 37). I8) Zu Landshut: Nicolaysen, Siegfried Landshut, bes. S. 335-426.
94
3. Die
Strategie
Gesellschaft und Ökonomie in der marxistischen Lehre19) Hans Freyer hatte zuvor über die Begegnung von Soziologie und Geschichtswissenschaft in der Analyse des industriellen Zeitalters gesprochen, eines Gegenstandes, dem sich auch die Historiographie nicht entziehen dürfe. Ohne Sättigung durch die systematisch verfahrende Soziologie könnten Neuzeithistoriker kaum noch zu voll befriedigenden Resultaten gelangen. Natürlich würden ein abstrakter „Soziologismus" und die ungerechtfertigte Übertragung gegenwärtiger Begriffe auf die Vergangenheit immer Gefahren für das historische Denken darstellen, doch nur Gefahren, keine absoluten Barrieren gegen die Soziologie, nicht notwendig einen Angriff auf die Glaubenssätze des historistischen Denkens.20) Theodor Schieder, der Korreferent zu beiden Vorträgen, begrüßte denn auch den Brückenschlag von der Soziologie her zur Geschichte, ihm selbst auf Grund seiner Vergangenheit nicht fremd, und riß seinerseits das Problem des Individuellen, „das eigentliche Problem im Verhältnis von Soziologie und Geschichte", an. Die letzte Individualität des Menschlichen gab Schieder nicht auf, denn gerade „das naive Zutrauen des 18. Jahrhunderts in die zeitlose Gleichartigkeit alles Menschlichen ohne historische Vertiefung ist uns für immer abhanden gekommen." Vorsicht also sei bei der „Ermittlung typischer Züge im weltgeschichtlichen Ablauf geboten ohne die man freilich nicht -
auskomme, weil
die eigene, fragwürdig gewordene geschichtliche Lage nur noch im Vergleich mit anderen Kulturen bestimmen könne.21) Möglicherweise wurde bei den anwesenden Professoren durch Landshuts Vortrag das stets präsente Mißtrauen genährt, daß die Annäherung der Geschichtswissenschaft an die Soziologie in Wahrheit eine verkappte Auslieferung der Historie an den Sozialismus sei, allein weil diese Annäherung im marxistischen Denken stattgefunden hatte. Die Referate und Biographien Freyers und Schieders würden solche Bedenken wirkungsvoll eingerahmt haben. Freyer wie Schieder beäugten skeptisch die abstrakte (westliche) Soziologie, waren Gegner der sozialistischen (östlichen) Geschichtsteleologie und standen der eigenen historiographischen Tradition mit vorsichtiger Distanz gegenüber. Deren Grenzen hatten sie schon lange wahrgenommen, und doch versuchten sie, sich mit ihrer Hilfe im veränderten Terrain der Gegenwart zurechtzufinden. Die erprobten Orientierungsmittel mußten allerdings modifiziert werden, um den Weg zu vertrauten Orten zu finden; modifiziert wurden sie durch Einflüsse von außen, methodische wie weltgeschichtliche. Zwischen diesen Einflüssen, zwischen Soziologie und dem Westen und Historischem Materialismus und dem Osten, versuchten sie hindurchzusteuern, wohl wissend, daß sie ihnen nicht entkommen konnten. Wollten sie die alten Orte erreichen, die sich durch -
man
19) Vgl. Landshut, Die soziologische Geschichtsauffassung des Marxismus. 20) Vgl. Freyer, Soziologie und Geschichtswissenschaft. 21) Vgl. Schieder, Zum gegenwärtigen Verhältnis von Geschichte und Soziologie (Zitate S. 28f.).
95
I Der langsame Aufstieg in der Historikerzunft
das von links und rechts eingreifende Neue verändert hatten, so mußten sie sich diese Einflüsse aneignen. Waren das nicht tastende Versuche, den berühmten dritten Weg (oder einen neuen Sonderweg) zu finden? Jedenfalls und das war Historikern bewußt standen beide für die Tradition ein, und Werner Conze ging mit seinen Bemühungen um Sozialgeschichte denselben Weg wie sie. Obwohl in den Akten dieses Historikertages kein Wort von ihm überliefert ist, kein Referat, kein Diskussionsbeitrag, keine Intervention zugunsten seiner Konzeption von Sozialgeschichte, obwohl die Mehrzahl der Historiker und der Themen der Tradition verpflichtet blieben, wurde seinen Plänen der Boden bereitet, denn die Diskussion um Geschichte und Soziologie war auf Verbandsebene in Gang gekommen, also „offiziell" geworden.22) Korrekturen an der herkömmlichen Historiographie wurden angedeutet, das riß in der Folgezeit nicht mehr ab. Conze für seinen Teil setzte die Marburger Diskussion im erwähnten Aufsatz „Die Stellung der Sozialgeschichte in Forschung und Unterricht" fort.23) Außerdem darf man vermuten, daß er hinter den Kulissen, die eine lückenhafte Überlieferung vor unseren Blicken errichtet, eifrig tätig gewesen ist.24) Denn schon im Herbst des folgenden Jahres plante der Verband das nächste Historikertreffen, 1953 in Bremen, auf dem Sozialgeschichte in einer eigenen Sektion unter dem Vorsitz Conzes vertreten sein sollte (mit Franz Steinbach als Referenten). Es kam jedoch anders. Otto Brunner war gebeten worden, einen Vortrag zu halten, er sagte im November zu, schlug als Thema „Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte" vor und als Diskussionsteilnehmer u. a. Hans Freyer. Mit ihm hatte er kurz zuvor einen Kurs bei den internationalen Hochschulwochen in Alpbach gehalten. Ursprünglich war Brunner für den Mittelalter- Vbrmittagsvortrag vorgesehen gewesen, dann verlegte man ihn in die sozialgeschichtliche Sektion, vielleicht wegen des Themas. Zwei Wochen darauf kamen dem Vorsitzenden Ritter neue Ideen. Er wollte nun Brunners Vortrag aus der Sektion herausnehmen und als öffentlichen Vörmittagsvortrag gehalten sehen, als Diskussionsteilnehmer schlug er u.a. Conze, Steinbach und Erich Keyser vor, nicht aber Freyer. Steinbach bat er, der Zunft auf dem Historikertag „als einer unserer bedeutendsten Kenner sozialgeschichtlicher Probleme [...] zu Hilfe zu kommen";25) im Rundschreiben vom 20. November an seine Vbrstandskollegen schlug er vor, die Sektion für Sozialgeschichte zu streichen, um a) eine Sektion für byzantinische Geschichte ein-
-
22)
Etwas skeptischer beurteilt Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 282-287, den Marburger Historikertag. 23) Gerade an die Geschichtslehrer ein klärendes Wort zu richten, hatte er für nötig gehalten: Conze an Ritter vom 2. 12. 1952 (AVHD). 24) Hinweise, daß Conze bei allen sich bietenden Gelegenheiten in Sachen Sozialgeschichte intervenierte, geben die Briefe an Hermann Aubin vom 2. 1. 1953 (BAK N 1179/27), an Hans Rothfels vom 6. 3. 1952 (BAK N 1213/46) und eine Postkarte an Helmut Schelsky vom 28. 11. 1954 (SFSt. S/3). 25 ) Ritter an Steinbach vom 20. 11. 1952 (AVHD).
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3. Die
Strategie
richten zu können, und weil b) Brunner zu bedeutend sei, um seinen Vortrag „im Rahmen einer bloßen Sektion" untergehen zu lassen.26) Hermann Aubin antwortete: „Der Ausfall der Sektion für Sozialgeschichte tut mir leid. Die Sozialgeschichte hat in Deutschland bisher nie einen Boden gehabt und eine solche Kundgebung, wie sie die Bildung einer eigenen Sektion ist, schien mir äußerst erwünscht. Mit Conze und Steinbach sind auch Forscher genannt, die auf diesem Gebiet etwas Eigenes zu sagen haben." Die Byzanz-Sektion als Grund lehnte er ab, dagegen leuchtete ihm das Argument von der Bedeutung Brunners ein. Deshalb konnte er sich „den Brunner'schen Vortrag für dieses Jahr als genügende Heraushebung der Sozialgeschichte vorstellen", und gerade die Aufwertung des Vortrages lasse darauf schließen, „daß die Sektion für dieses Fach notwendig ist" weshalb man doch in einer besonderen Sektion Sozialgeschichte über Brunners wichtigen Vortrag diskutieren sollte, da erfahrungsgemäß „nur in kleinem Kreise echte Diskussionen zu erreichen sind".27) Ritter pflichtete Aubin bei, daß die Sozialgeschichte „große Bedeutung hat",28) doch nach einigen weiteren Diskussionen wurde die Sektion, irgendwann nach dem Januar 1953, begraben.29) Brunner hielt dann in Bremen seinen Vortrag über „Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte" am Vormittag und machte großen Eindruck. Er entwarf ein sozialgeschichtliches Programm, das ganz auf der Linie Conzes lag, und das breitere Publikum der Vbrmittagsveranstaltung wird dem Ansehen der -
26)
Rundschreiben Ritters an Hermann Aubin, Josef Vogt und Hermann Heimpel vom 20.11. 1952 (AVHD). 27) Aubin an Ritter vom 26. 11. 1952 (AVHD). 28) Ritter an Aubin vom 2. 12. 1952 (AVHD). 29) Zu den oben genannten Nachweisen vgl. außerdem die Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses am 24. September 1952, S. 3; Otto Brunner an Ritter vom 7. 11. 1952; Ritter an Brunner vom 20. 11. 1952; Ritter an Conze vom 1. 12. 1952; Conze an Ritter vom 2. 12. 1952; Steinbach an Ritter vom 5. 12. 1952; Ritter an Steinbach vom 10. 12. 1952; Ritter an Grundmann vom 19. 12. 1952; Brunner an Ritter vom 7. 1. 1953 Brunner ging zu diesem Zeitpunkt noch von der Existenz der sozialgeschichtlichen Sektion aus (AVHD). Vgl. zu allem auch Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 288 f. Ich kann Schulzes Interpretation dieser Episode: daß Ritter Ende 1952 offenbar eigenmächtig die Sektion durch den Vortrag Brunners ersetzt und damit der Sozialgeschichte einen Dämpfer versetzt habe, nicht nachvollziehen. Es ging wohl eher darum, Brunner aufzuwerten, denn zu der Zeit bemühten sich die westdeutschen Kollegen entschieden, ihrem pensionierten Kollegen in der Bundesrepublik eine neue Professur zu verschaffen. Erst im Juli 1953 kam Brunner auf die Nachfolgeliste für Hermann Aubin, erst im Dezember 1953 waren die letzten Probleme ausgeräumt (vgl. Kap. 6/II). Bedeutete außerdem ein Vormittagsvortrag nicht eine Aufwertung des Themas? Immerhin durfte ein Vortrag 50 Minuten dauern, ein Sektions-Referat sollte in 20-30 Minuten erledigt werden. Heinz Gollwitzer teilte mir am 30. 12. 1997 mit, daß die Vorträge Brunners und Freyers auf den Historikertagen in Bremen und Ulm nach dem ihm dort zugänglichen Stimmungsbild als zentrale Ereignisse gewertet wurden und die Vortragenden selbst als Autoritäten galten. Auch das spricht dafür, daß es in erster Linie um die Bedeutung Brunners gegangen ist. -
I Der langsame
Aufstieg in der Historikerzunft
97
Sozialgeschichte zugute gekommen sein. Allerdings dürfen wir auch für das Jahr 1953 nicht der Meinung sein, daß Conzes Idee der sozialhistorischen Durchdringung ein Erfolg beschieden gewesen sei. Wenn, dann sah Conze erst den Anfang des projektierten Weges. Allerdings war er allmählich in eine Position eingerückt, die ihm eine Stimme auf den Historikertagen verlieh. In Bremen sind die ersten beiden Diskussionsbeiträge von ihm aufgezeichnet worden. Theodor Schieder hatte über die Krise des bürgerlichen Liberalismus gesprochen: Während der Liberalismus zur Entschärfung der sozialen Probleme auf die Reform der politischen Verfassung setzte, baute der „Vierte Stand" auf die Revolution. Dessen Aufstieg gegenüber erwies sich der Liberalismus als zu unflexibel, er wurde zwischen „Viertem Stand" und der Politik Bismarcks zerrieben. Doch im Untergang noch siegte er und liberalisierte die Sozialdemokratie. Heute wisse man, so Schieder, den Liberalismus als die Gegenkraft lebendig, die die Freiheit des Individuums gegen den Druck der zentralisierenden Massengesellschaft zu sichern versuche.30) Die Ähnlichkeit zu Hans Freyers Denken ist unübersehbar, und obwohl er methodisch gesehen ideengeschichtlich operierte, hatte er mit der Thematik, der sozialen Frage, ein wichtiges sozialgeschichtliches Thema behandelt. Conze bescheinigte ihm in einem Diskussionsbeitrag denn auch Weite und Enge des Vortrages zugleich, indem er einmal die „Bedeutung des Vortrags für die Erkenntnis historischer Strukturfragen" anerkannte, aber andererseits wissenssoziologische, sozialanalytische und wahlsoziologische Ergänzungen wünschte.31) Der zweite Vortrag, den Conze kommentierte, war der Otto Brunners. Conze hob ergänzend die Bedeutung des Strukturwandels der fränkischen Agrarverfassung im 7. und 8. Jahrhundert hervor, die europaweite Angleichung des
Bauerntums und die Dauer dieses Prozesses bis ins 19. Jahrhundert. Dann habe die industrielle Revolution stattgefunden, eine in ihrem Grunde zwar europäische Angelegenheit, aber ganz Freyers und auch Brunners Argumentation ihren spezifisch europäischen Charakter verlierend.32) Damit hatte Conze seine drei Freyerschen Elemente der strukturgeschichtlichen Weltdeutung untergebracht: den langen Strukturwandel bis 1800, die „Schwelle" um 1800 und den übereuropäischen Charakter all dessen, der auch die Erforschung außereuro-
-
päischer Geschichte nötig mache.33)
30) Ein Herr Manne forderte anschließend markig die Ersetzung des Parteienstaates durch Berufsorganisationen (Bericht über die 22. Versammlung deutscher Historiker, S. 10). Das war ein seinerzeit noch gern beschrittener Ausweg, um dem „Parteienzwist" zu entge-
hen
(H. Mommsen, Von Weimar nach Bonn, S. 745f., 752f.).
31) Vgl. S.
den Bericht über
die
22. Versammlung
9).
deutscher
Historiker, S. 8-10 (Zitat
32) Vgl. ebd., S. 19. 33) Conze bezeichnete Schieders wie Brunners Vorträge später als großen Gewinn: Conze an
Rothfels
vom
18.10. 1953
(BAK N 1213/1).
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3. Die
Strategie
Auf demselben Historikertag hielt übrigens der Franzose Jacques Droz ein Referat über die Annales. Gerhard Ritter hatte ihn nach Bremen in seine Sektion „Methodologie und Geschichtsphilosophie" eingeladen, denn er war immer noch durch den Pariser Historikertag gereizt, durch die „Verseuchung der französischen Histoire durch materialistische Anschauungen", sowie den unschönen Verlauf, den die „französische Diskussion zwischen Soziologie und politischer Geschichte"34) bislang genommen habe. Ritter bemühte sich, Droz Gehör zu verschaffen, und rechnete sehr stark mit Conzes Beteiligung an der Diskussion; mit diesem er berief sich auf Conzes GWU-Aufsatz stimme er durchaus überein.35) Ritter war natürlich nicht um die französischen Kollegen besorgt, sondern um die eigenen. Mit Droz hatte er einen gewichtigen Oppositionellen gegen die Annales nach Bremen gebeten, der denn auch die gewünschte Kritik lieferte und die Annales in die Nähe der marxistischen Geschichtsauffassung rückte. Er verteidigte die Ereignis- oder Diplomatiegeschichte, aber sie müsse sozialhistorisch fundiert werden. So viele Haare waren in der Suppe nicht zu finden, als daß er nicht einige positive Bemerkungen über seine Kollegen mit den radikalen Ansprüchen hätte machen müssen. Schon 1952 hatte er in der GWU über die Annales berichtet, ihr revolutionäres Pathos karikierend, ohne die bedenkenswerten „Vorschläge" und „Einfälle" zu verschweigen. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sei eine notwendige Seite der allgemeinen Geschichtswissenschaft, eine reine Politikgeschichte überholt. „Eine Seite" freilich hieß, daß ein Primat der Sozialgeschichte indiskutabel war, mehr als Vorschläge anzubieten, wurde ihr nicht zugestanden. Entsprechend negativ kommentierten in der Diskussion Hermann Heimpel, Ritter und Max Braubach die Annales.36) Und doch wurde in diesem Vortrag und in dieser Sektion das Thema Sozialgeschichte diskutiert und ein ausgreifender sozialhistorischer Ansatz öffentlich vorgestellt. Bei aller Abwertung war er immerhin im Gespräch. Im Historikerverband leuchtete Conzes Stem in diesen Jahren zunehmend heller. Im September 1952 hatte der Ausschuß getagt und dabei auf einen möglichen Mitarbeiter für eine neue „Commission internationale d'histoire sociale" des Internationalen Historikerverbandes (CISH) hingewiesen: Werner Conze. (Für „Démographie" vom deutschen Verband in Anführungszeichen gesetzt wußte man niemanden zu benennen.) Die deutsche Strategie war es, so viele der CISH-Kommissionen wie möglich zu beschicken, um deutsche Interessen -
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34) Beide Zitate im Schreiben Ritters an Conze vom 1. 12. 1952 (AVHD). 35) Ritter an Conze vom 1. 12. 1952; Ritter an Leo Just vom 18. 5. 1953 (AVHD). 36) Vgl. Droz, Hauptprobleme der französischen Forschungen zur neueren Geschichte; Ders., Gegenwärtige Strömungen in der neueren französischen Geschichtsschreibung; Bericht
über
die
22. Versammlung deutscher Historiker, S. 33-36 (von Conze ist keine
Wortmeldung protokolliert). Vgl. auch Schule, Die Tendenzen der neueren französischen Historiographie und ihre Bewertung, S. 231 ; Erbe, Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung, S. 2-4.
I Der langsame
Aufstieg in der Historikerzunft
99
international geltend zu machen. Wurde Conze zu Beginn der fünfziger Jahre von seinen Kollegen allmählich als „zuständig" für Sozialgeschichte gehandelt? Oder nannte ihn sein auf dieser Sitzung anwesender Münsteraner Kollege Herbert Grundmann? Oder waren sich die großen Männer des Verbandes zu schade, ihre Zeit in einer Kommission, die eher als nebensächlich angesehen wurde, zu verschwenden eine ideale Bewährungsaufgabe für den Nachwuchs? Auf jeden Fall war Conze ein Garant dafür, daß die westdeutsche historiographische Position in der Kommission vertreten sein würde, das wußte der Verband. Über seinen Status zeigte er sich weniger gut informiert, denn der Vorsitzende Ritter vermutete in seinem Schreiben, daß Conze „Leiter [...] eines Münsteraner Instituts für Sozialgeschichte" sei.37) Conze ergriff die Gelegenheit. Er sagte zu, korrigierte Ritter dahingehend, daß er nicht Leiter eines solchen Institutes sei, daß so ein Institut überhaupt nicht existiere, und daß es er nutzte den Irrtum gleich aus nicht damit getan sei, solche Institute oder Lehrstühle zu schaffen. Vielmehr solle man „die sozialgesozialgeschichtliche schichtliche Fundierung innerhalb der allgemeinen Geschichte und damit auch sichtbar in der Systematik und im Bestand der Seminarbibliotheken erheblich stärker in Erscheinung treten lassen" und nicht eine „Social and Economic History" abspalten.38) Daß die Sozialgeschichte in Deutschland so fast gar nicht institutionalisiert sei, werde die deutsche Position in der Kommission nicht gerade stärken damit bediente er sich der deutschen Bemühungen, den Aufmarsch im CISH zu beschleunigen. Was Ritter dazu dachte, ist nicht überliefert. Er ermunterte Conze, „die Frage einer Abspaltung von social and economic history"39) auf dem Historikertag in Bremen zur Sprache zu bringen, merkte ihn als Diskussionsredner für Brunners Vortrag vor und hoffte auf seine Beteiligung an der Aussprache um Jacques Droz' Vortrag.40) Conze nahm seine Chancen wahr. Lebhaft interessiert an der Kommission des CISH, bat er am 7. 11. 1953 Peter Rassow um dessen Meinung, etwaige Wünsche, Anregungen und um Informationen über dessen Quellenedition zur deutschen Sozialpolitik, denn er wollte „bei diesem ersten Male, bei dem ich mich als deutscher Vertreter auf dem Parkett der internationalen Wissenschaft bewege, einigermaßen bestehen [können]. Einige Jahre später werde ich sicher routinierter auf diesem Gebiet sein." Conze erhoffte sich das „Ausschöpfen gewisser Möglichkeiten", die die Kommission vielleicht biete; Rassow war erfreut, daß seine Quellenedition dort bekannt gemacht würde.41) Das erste Tref-
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37) Ritter an Conze vom 20. 11. 1952 (AVHD). 38) Beide Zitate im Schreiben Conzes an Ritter vom 23. 11. 1952 (AVHD). 39) Ritter an Conze vom 1. 12. 1952 (AVHD). 40) Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses am 24. September 1952, S. 4; Ritter an Conze vom 20.
11.1952, 1. 12. 1952; Conze
an
Ritter
vom
23. 11. 1952, 2. 12. 1952
(AVHD).
41)
Conze
an
Rassow vom 7. 11. 1953 (dort die Zitate). Rassow an Conze vom 10. 11. 1953 von Aubin erbat er Ratschläge: Conze an Aubin vom 30. 10.
(BAK N 1228/ 207). Auch
100
3. Die
Strategie
fen der Kommission fand statt (im November 1953), und Conze berichtete sehr ernüchtert an Hermann Aubin, denn die Diskussionen um Projekte und ihre Finanzierung waren ziemlich im Unbestimmten verlaufen. Immerhin hatte er gewinnbringende Kontakte knüpfen können. Doch dann tat sich einiges, ab dem Jahr darauf begann alles rosiger auszusehen. Es „scheint mir doch, daß hier neue nützliche Hilfe geleistet werden wird, die auch uns zugute kommen wird, wenn wir die Absicht haben, stärker als bisher für die Zeit des 19./20. Jh. sozialgeschichtlich zu arbeiten",42) was Conze selbstverständlich zu tun wünschte. Er deutete Aubin gegenüber seine Vorstellungen zu einem Repertorium der Quellen zur Geschichte der sozialen Bewegungen an, das die Kommission plante. Aubin jedoch, immerhin Sozialhistoriker, geriet darüber in Verlegenheit, denn er konnte sich so gar nicht in Conzes Idee hineindenken, daß „soziale Bewegung" mehr sei als „Sozialismus" oder „Arbeiterbewegung". Wie solle man da noch abgrenzen? Auch Feudalismus oder die Entstehung und Entwicklung des Bürgertums seien dann ja „soziale Bewegungen". ,,[C]'està-dire pratiquement l'histoire sociale", hatte ein französisches Kommissionsmitglied das auf den Punkt gebracht, Aubin war es unverständlich.43) Conze nutzte die Kommission. Er agierte als Vorposten des deutschen Historikerverbandes im Ausland und vertrat entsprechend die deutsche Verbandspolitik. So gewann er umgekehrt in der Heimat an Gewicht, denn in der Kommission konnte er Informationen über den kommenden internationalen Historikertag in Rom sammeln, die er nach Deutschland weiterleitete. Sie waren dort zwar nicht unbekannt, aber durch ihre Übermittlung ließ sich Conze geschmeidig in die deutschen Planungen zur Tagung, über die er sonst wenig mitbekam, einbinden. Er erhielt eine „Communication", ein Referat für diesen Historikertag anvertraut. Auf der anderen Seite fand er in der Kommission mit seinem integralen Anspruch von Sozialgeschichte Gehör. Das Repertorium befand er zwar für herzlich überflüssig, aber die Subkommission für die Erforschung der sozialen Strukturen in den europäischen Staaten vom 18. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert interessierte ihn. Er hoffte, sie für seine Ziele ausschöpfen zu
können.44)
In Deutschland warb er unverdrossen weiter für seine Vorstellungen. 1956 fand der 23. Historikertag statt, in Ulm. Auch ihm ging ein internationaler Historikertag voraus, der in Rom 1955. Auch dort dominierte wieder stark die „neue Geschichte" unter Führung der Annales. In allen in Rom vorgetragenen
1953 (AVHD). Von der Quellenedition nahm die Kommission „mit Interesse Kenntnis": Conze an Aubin vom 12. 12. 1953 (AVHD). 42) Conze an Aubin vom 10. 3. 1955 (AVHD). 43) Aubin an Conze vom 2. 4. 1955 (dort das Zitat der französischen Kollegin [AVHD]). M) Vgl. zum Vorhergehenden Conze an Aubin vom 30. 10. 1953, 12. 12. 1953, 16. 2. 1954, 8. 7. 1954, 10. 3. 1955, 5. 4. 1955, 17. 8. 1955; Aubin an Conze vom 17. 12. 1953, 20. 7. 1954, 2. 4. 1955, 8. 4. 1955 (AVHD); Conze an Schieder vom 7. 4. 1955 (BAK N 1188/4).
I Der langsame
Aufstieg in der Historikerzunft
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Forschungsberichten wurde das Vordringen der wirtschafts- und sozialhistorischen Betrachtungsweisen konstatiert; in der mittelalterlichen Geschichte, so hieß es etwa, existiere politische Geschichte in Reinform kaum noch, man würde immer im engen Bezug auf die Gesellschaft forschen. Inhaltlich trat die Politikgeschichte in den Vorträgen stark zurück, es dominierte der „kulturhistorische", „totale" Ansatz der Annales.45) Gerhard Ritter trug dem ohne größere rhetorische Mühe Rechnung, indem auch er es ablehnte, eine Erzählung politischer Taten allein noch als die Geschichtsschreibung zu bezeichnen. Nachdem man gesehen habe, wohin eine solche Historie führe, komme die Politikgeschichte ohne die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Hintergründe nicht mehr aus.46) Zwar blies der Wind den deutschen Historikern weiterhin ins Gesicht, andererseits hatten sie Gerhard Ritter 1955 in den Vorstand des internationalen Historikerverbandes gehievt, was sie sehr zufriedenstellte, da der deutsche Historikerverband auf diese Weise wieder in die Spitze des CISH eintrat. Außerdem ebenfalls sehr erfreulich waren deutsche Themenstellungen auf der römischen Tagung trotz allem „vorzüglich" berücksichtigt worden.47) Die deutschen Historiker versuchten mit allen Mitteln, sich eine Art Windschutz für die deutschen Traditionen der Geschichtsschreibung zu bauen, durch Beteiligung in den Kommissionen, durch Referate, durch den Einzug in den Vorstand. Und ihr Verbandsvorsitzender legte den ausländischen Kollegen in Rom entschieden dar, wie es, trotz aller Zugeständnisse an die Sozial- und Kulturgeschichte, „eigentlich war". Die zentrale Frage, so Ritter, ist und bleibe die nach der Rolle des Staates. Darum herum gruppiere sich alle Geschichtswissenschaft, diese Frage sei die Frage aller Fragen.48) Conze fand den Beitrag wenig erfreu-
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lich.49)
Auf dem Ulmer Historikertag wirkten die Impulse aus Paris und Rom weiter. Werner Conze hatte keinen Vortrag zugeteilt bekommen, dafür sprach erneut
45) Zum römischen Historikertag vgl. Erdmann, Die Ökumene der Historiker, S. 301-313. 46) Vgl. Ritters langen Forschungsbericht für den römischen Historikertag: Ritter, Leistungen, Probleme und Aufgaben der internationalen Geschichtsschreibung zur neueren Geschichte (ein Beispiel für dieses rhetorische Zugeständnis an die Kultur- und Sozialgeschichte auf S. 213 f.). Theodor Schieder warf Ritter vor, bei der Auswahl der deutschen Literatur ausgesprochen parteiisch vorgegangen zu sein: „Wir alle" damit sind er, Rassow, Erdmann, Rothfels und andere gemeint „kommen sozusagen nicht vor" (Schieder an Ras-
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10. 8. 1955 [BAKN 1188/72]). 47) Bericht über die 23. Versammlung deutscher Historiker, S. 6. Die Westdeutschen hatten 22 Vorträge, Berichte und Mitteilungen abliefern dürfen (die DDR einen), damit standen sie an vierter Stelle hinter Frankreich (49), Italien (33) und Großbritannien (25): Erdmann, Die Ökumene der Historiker, S. 436. 48) Vgl. Ritter, Leistungen, Probleme und Aufgaben der internationalen Geschichtsschreibung zur neueren Geschichte, S. 294-315. Ritter griff seine Ausführungen vom Pariser Historikertag auf. 49) Conze an Schieder vom 13. 8. 1955 (BAK N 1188/4). sow vom
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3. Die
Strategie
sein intellektuelles Vorbild Hans Freyer, und es war wiederum eine Sektion für Wirtschafts- und Sozialgeschichte eingerichtet worden. Conze diskutierte Freyer. Der war von Hermann Aubin eingeladen worden, den vierten der großen Einzelvorträge über ,„[s]taatliche[n] Anspruch und individuelle Freiheit in den großen Geschichtsperioden', oder in kürzerer Formulierung: ,Staat und staatsfreie Zone'", zu halten. „Gerade der soziologische Untergrund Ihrer Betrachtungsweise wird es Ihnen ermöglichen, in der verfügbaren Zeit einer Stunde das weitgespannte Thema in einer allgemeinen, nicht nur auf Deutschland bezogenen Form zu behandeln", schrieb Aubin ihm.50) Freyer sagte zu und sprach über „Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters", eine kleine Umformulierung des Titels, weil er im Staat nicht den einzigen Gegenpol zur Freiheit des Einzelnen sah.51) Vor großem Publikum legte Freyer in geraffter Form die entradikalisierte und verhalten optimistische Fassung seiner Gesellschaftstheorie vor, wie wir sie im letzten Kapitel kennengelernt haben;52) nach der Tagung priesen die Historiker noch lange den Gedanken, einen Soziologen um diesen Vortrag gebeten zu haben (das jedenfalls schrieb Aubin an Freyer). Ein Historiker hätte nicht „in einer gleich großzügigen und zusammenraffenden Weise mit der ungeheuren Fülle des Stoffes fertig" werden können, Freyer habe dazu beigetragen, diesen Historikertag wie kaum einen anderen zuvor zu einem breiten Publikumserfolg zu machen.53) Und als er im Jahr darauf seinen siebzigsten Geburtstag feierte, gratulierte ihm der Historikerverband durch die „Feder" Aubins. Schon längst fühlten „sich die Historiker Ihnen verbunden und zu Dank verpflichtet als einem Genossen in der Betrachtung des Weltablaufs, wie sie ihn sich nicht erwünschter und wertvoller denken können. Mit der soziologischen Durchdringung der Geschichte haben Sie uns zu deren Klärung und Durchsichtigkeit soviel Hilfe geleistet, daß Ihr Name im Munde aller ist, die sich mit den Mitteln der Geschichtsforschung darum bemühen. Schon haben Sie uns das große zusammenfassende Werk geschenkt, das die Summe Ihrer wissenschaftlichen Erfahrungen für die Historiker zieht. Ihr Ulmer Vortrag aber hat deutlich genug bewiesen, daß jede neue Hinwendung zur Geschichtsbetrachtung, die Sie vollziehen, uns neue reiche Gaben verspricht."54) Ziehen wir die Geburtstags- und Kollegenfeierlichkeit ab, so sehen wir immer noch ein beachtliches (verbandsoffizielles) Interesse an Freyers Texten dokumentiert. Einige waren beeindruckt von ihm: Percy Ernst Schramm etwa, der nach
50)
Aubin
an
Freyer vom
15. 3. 1956
(AVHD).
51) Freyer an Aubin vom 8. 5. 1956 (AVHD). 52) Vgl. Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters, und oben, Kap. 2/III. Aubin an Freyer vom 27. 10. 1956 (AHVD). Aubin an Freyer vom 29. 7. 1957 (AHVD). Zu Freyers „hoher Wertschätzung" durch die Historiker vgl. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 283 f.
53) 54)
I Der langsame
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Aufstieg in der Historikerzunft
dem Kriege bei Peter Rassow anfragte, ob Freyer nicht auf den freiwerdenden Kölner Soziologielehrstuhl berufen werden könne.55) Auch Otto Brunner, Werner Conze und Theodor Schieder imponierte er, später Dieter Groh und Horst Stuke.56) Werner Markert gehörte zu den Auserwählten für ein Symposium, das einige Kollegen, würdig und unter ihresgleichen, zu Freyers 65. Geburtstag auszurichten planten.57) Es sind nicht zufällig die Historiker gewesen, die ihn in den fünfziger Jahren am wärmsten empfangen haben.58) Er war konservativ ihresgleichen, er ehrte bekennender Historist ihre Methoden, und er betrieb historisch denkend die Annäherung der Historie an die Soziologie sehr schonend. Seine zurückhaltenden Formulierungen und seine realistischkonservativen Gesellschaftsanalysen bestätigten die vorsichtigen Umorientierungsversuche der bundesdeutschen Historiker: deren Notwendigkeit und die Vorsicht zugleich. In der Diskussion von Freyers Vortrag auf dem Historikertag war von westlicher Seite allerdings ein leichter Vorbehalt ausgesprochen worden.59) Hans Rothfels fand die Bedeutung, die staatliche Institutionen für die Freiheit hätten, im ganzen pozu wenig berücksichtigt (worin ihm Wolfram Fischer in einer sitiven Annotation des Vortrages zustimmte60)). Vielleicht sah er zu sehr den Staat als Garanten der Freiheit (einiger) hinter der Industriegesellschaft als Möglichkeit zur Freiheit (vieler) verschwinden? Werner Conze jedenfalls bezog in seinem Diskussionsbeitrag ausdrücklich die Stellung Freyers und fragte, wie Historiker den beschriebenen weltrevolutionierenden Prozeß, in welchem politische, soziale und technisch-industrielle Aspekte unlösbar verschlungen seien und der zur Zukunft hin in seiner Entwicklung offen sei, vorurteilsfrei er-
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55)
Schramm
1228/94).
an
Rassow
vom
7. 4.
1949; Rassow
56) Gespräch mit Dieter Groh am 29.
an
Schramm
vom
19. 4. 1949 (BAK N
10. 1997 (zu Groh und Stuke). Die Integrationsthematik seiner (Grohs) Habilitationsschrift stamme von Freyer, er habe ihn schon für seine Dissertation gelesen. Zu Schieder: Muller, The Other God That Failed, S. 358 (Muller verwertet eine Information Conzes an ihn). 57) Carl Schmitt war auch unter ihnen, als eine der „Säulen des Gesprächs": Hans Dichgans an Carl Schmitt vom 21.7. 1952 und an Günther Ipsen vom 21.7. 1952 (HStAD RW 265/2860 und 2861); Ipsen an Schmitt vom 21. 6. 1952 (HStAD RW 265/6390); Schmitt an Ipsen vom 5. 8. 1952 (HStAD RW 265/3107); Schreiben der Sozialforschungsstelle Dortmund an Direktor Jost vom 28. 4. 1952; Ipsen an Markert vom 21.6. 1952; Markert an Ipsen vom 27. 6. 1952, Markert vermißte u. a. Conze unter den Teilnehmern (SFSt. 19). Für derartige Treffen wurde offenbar größtmögliche soziale Homogenität und zugleich geistige Mannigfaltigkeit der Teilnehmer angestrebt: um Konflikte auszuschließen und um Anregungen innerhalb eines geistigen Rahmens nicht auszuschließen; vgl. auch Freyer an Schmitt vom 9. 8. 53 (HStAD RW 265/4320). 58) Vgl. Muller, The Other God That Failed, S. 7, 352, 356-358. 59) Die ostdeutschen Historiker kritisierten Freyer wesentlich entschiedener und provozierten damit eine heftige Debatte, vgl. Bericht über die 23. Versammlung deutscher Historiker, S. 43^4-5. 60) W. Fischer, Neuere Veröffentlichungen zur Industriegeschichte, S. 301.
104
3. Die
Strategie
forschen könnten. Er regte diese Frage als Thema für einen Historikerkongreß an.61) Mehr ist nicht von ihm überliefert, auf der Sektion für Wirtschafts- und Sozialgeschichte meldete er sich offenbar nicht zu Wort, auch sonst scheint er keine weiteren Beiträge geliefert zu haben. Die kleinen Durchblicke, die uns die Akten bis hierhin gewähren, verraten uns, daß Werner Conze lange die Rolle des „jungen Mannes" gab, des Nachwuchswissenschaftlers, der sich genug Achtung errungen hatte, um auf Historikertagen gehört zu werden, der bei den Kollegen als zuständig für Sozialgeschichte gehandelt wurde, der aber noch lange nicht zum inneren Zirkel des Verbandes gehörte, welcher den Lauf der Geschichtswissenschaft zu moderieren versuchte. Conze brachte, wo es ging, seine Ideen vor. In ganz verschiedenen Tätigkeitsfeldern schimmert immer dasselbe Muster seines Engagements durch, z.B. in seiner projektierten Beteiligung an der sozialgeschichtlichen Abteilung der Sozialforschungsstelle Dortmund oder in seiner Mitgliedschaft in der ,Ajbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen". Die AGF war einer derjenigen Zirkel, in denen Professoren regelmäßig Forschungsprobleme referierten und diskutierten und über den sie Gelder für Forschungsarbeiten vergeben konnten; sie war einer der vielen Punkte in der Finanzierungslandschaft, die man anpeilte, wenn man Mittel für umfangreiche Projekte benötigte. Dort trug Conze, ordentliches Mitglied seit dem 2. 4. 1955 (einen Tag, nachdem er als frisch ernannter Extraordinarius zuwählbar geworden war), 1956 seine Ansichten zur „Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters" vor, die die AGF dann publizierte. Zwei Jahre später sollte er selbst einen Arbeitskreis nach ihrem Muster gründen.62) Doch es ist besonders seine Mitarbeit an den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte" (VfZ), die uns vor Augen führt, wie er seine Pläne den Gelegenheiten anpaßte. Hans Rothfels hatte ihn 1952 um Hilfe bei der Herausgabe der Zeitschrift gebeten und ihm seine Gedanken mitgeteilt. Er wollte die Zeitgeschichte 1917/18 beginnen lassen, sein neuer Mitarbeiter Conze war einverstanden. Freilich, so Conze, sollten sie die Jahre des Imperialismus um 1890 nicht völlig unberücksichtigt lassen, wodurch sich die Problematik zur Frage der sachlichen Abgrenzung weite, womit er nichts weniger meinte als „daß eine ausschließlich .politische Geschichte' im üblichen Gebrauchssinn nicht in Betracht kommen kann. Die Zeitgeschichte sollte m.E. ein besonders glückliches Exempel dafür abgeben können, daß eine sektorenhafte Behandlung von Außen und Innen, von Staaten-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Geistesgeschichte nicht möglich ist." Das solle die neue Zeitschrift nicht nur in der Art
61) 62)
Bericht über die 23. Versammlung deutscher Historiker, S. 44. Zur AGF, der späteren „Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften": Leo Brandt, Zum Werdegang der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NordrheinWestfalen, Ms. (HStAD NW 417/104, Bd. 1), und vor allem die Aktenbestände NW 15/338 und NW 417/104, 117 im HStAD.
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II Rezensionen
der Beiträge zeigen, sondern auch expressis verbis einleitend aussprechen, als möglichen Dienst an der Geschichtswissenschaft. Dann kam er zurück auf die Zeitfrage: „Sehen wir die Dinge strukturell und nicht primär von der,Ereignisgeschichte' her, dann wird übrigens 1917/18 nur ein sekundärer Einschnitt innerhalb der großen industriellen Epoche sein, deren Beginn früher liegt."63) Vielleicht war Rothfels einverstanden, vielleicht interessierten ihn diese Gedanken weniger, er machte jedenfalls keine Randnotizen. Conze dagegen präsentierte ihm kurz darauf in zwei Briefen eine Vorschlagsliste für Autoren und Themen: Sinologen, Soziologen, Philosophen, Nationalökonomen, Turkologen, Theologen, Juristen und Wirtschaftshistoriker; ,,[d]as allgemeine Problem des wirtschaftlichen und sozialen, damit politischen Strukturwandels nach dem 1. Weltkriege", die „Soziologie der Emanzipationsbewegungen", Bevölkerungsgeschichte, Flüchtlingssoziologie, ,,[d]ie soziale Wandlung des deutschen Volkes", die Geschichte des Betriebsverfassungsproblems samt seiner politischen Auswirkungen, die Soziologie des Industrievolks und die geistige Situation in Deutschland zwischen 1919 und 1933 all das und mehr befand er als Beiträge für die VfZ für sinnvoll.64) Die große „Schwelle", Interdisziplinarität, die integrale Sozialgeschichte und eine Soziologie der Industriegesellschaft, wie sie mit großem Erfolg an der Sozialforschungsstelle geleistet wurde, hatte er in beiden Briefen untergebracht. Ein ehrgeiziges Programm, das in den VfZ nicht verwirklicht wurde; Conzes Eifer an der Mitarbeit schwand bald dar-
auf.65) II Rezensionen
systematisch Werner Conze seine Themen anpries, wird deutlich, wenn seine Rezensionen liest. Conze hat in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre wie jeder seiner Kollegen Bücher besprochen, in jedem Jahr mehrere. Hauptsächlich publizierte er seine Kritiken in der HZ, seltener in anderen Zeitschriften, und sein Interesse war bei weitem nicht nur auf sozialhistorische Arbeiten beschränkt. Doch deren Besprechungen lassen allesamt eine bestimmte Richtung erkennen. Klarer als in seinen wenigen theoretischen Texten tritt in seinen Rezensionen hervor, was Conze sozialhistorisch für gut befand und was er ablehnte. Liest man sie hintereinanderweg, so ergibt sich freilich eine Wirkung, Wie
man
63)
Conze an Rothfels vom 6. 3. 1952 (BAK N 1213/46). 1956 schrieb er dann etwas apodiktisch in den VfZ: „Zeitgeschichte ist strukturell gesehen die Geschichte des technisch-industriellen Zeitalters", sie entsprach konzeptionell gesehen seiner Sozialgeschichte: Conze, Das Ende des Proletariats, S. 66. M) Conze an Rothfels vom 26. 5. 1952 (BAK N 1213/46). 65) Die Korrespondenz zwischen Conze und Rothfels zu den VfZ findet sich in Rothfels' Nachlaß (BAK N 1213/46). -
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3. Die
Strategie
der man sich nicht einfach mitreißen lassen darf: ein Feuerwerk sozialhistorischer Vorstellungen. Tatsächlich erschienen sie damals nur als kleine Splitter, über die Hefte und die Zeit verteilt, eingebettet in eine Übermacht anderer Themen, Autoren und Ansätze, kleine Leuchtspuren, die das Dunkel vereinzelt erhellten. Doch gehen wir einmal davon aus, daß ein regelmäßiger Leser historischer Fachzeitschriften allmählich auf den Namen Conze aufmerksam wurde, seine Kritiken zu schätzen lernte und sie in jedem neuen Heft las (oder zumindest überflog). Er könnte der subversiven Wirkung der Wiederholung erlegen sein, durch die Conze auch in den Rezensionen immer aufs neue das Thema Sozialgeschichte in den Diskurs der Historiker einzuschreiben versuchte. Er benutzte die besprochenen Bücher, um bestimmte Begriffe, Denkweisen und Kategorien in das Archiv der historischen Begrifflichkeiten und Denkstile einzufügen, bis es den Kollegen langsam selbstverständlich werden würde, von „Struktur", „sozial" oder „Gesellschaft" zu sprechen, und sie die neuen Denkweisen, die sich mit diesen Begriffen verbanden, auch wirklich begriffen wobei ich nicht behaupten möchte, daß Conze sich dieser Technik bewußt gewesen ist. Aber das Muster ist deutlich erkennbar, es sieht folgendermaßen aus: Das Wappenschild bildete die schon erwähnte Referenzrezension von Fernand Braudels „La Méditerranée et le Monde méditerranéen à l'époque de Philippe II." (Paris 1949).66) Die Besprechung war enthusiastisch. Conze hob, ganz seinen Ansichten entsprechend, die meisterhafte Verwebung der „permanences" mit den „forces de la longue durée" und den „événements" hervor; er erklärte Braudels Hauptanliegen, „die traditionelle politisch-diplomatische Geschichte aus den beiden vorhergehenden Teilen gleichsam herauswachsen zu lassen",67) für verwirklicht; er sah Braudel als einen Autor, der nicht eindeutig einem Determinismus der Strukturen zu Ungunsten der Freiheit der Handlungen das Wort rede (ein Irrtum, wie wir gesehen haben). Das Trennungsdenken war überwunden, die methodische Programmatik überzeugend bestätigt, das Buch ein Vorbild, „dem eine beispielgebende Wirkung zu wünschen wäre".68) Geschickt verknüpfte er Wilhelm Abel und Otto Brunner mit Braudel. Dessen „Histoire des structures" sei „Sozialgeschichte im weiten Sinne, ähnlich wie es von Otto Brunner vertreten wird"69) (ein weiterer Irrtum), außerdem ergänzten die agrarhistorischen Forschungen Abels Braudels Buch in glücklicher Weise. Auf fünf HZ-Seiten präsentierte Conze den Lesern Braudels Opus als gewichtige Referenz für sein Anliegen, machte es dem Leser durch zwei renomvon
-
mierte deutsche Wissenschaftler „heimisch"
**) Conze, Rez. Braudel, ippe II. 67) Ebd., S. 361. 68) Ebd., S. 359. 6») Ebd.
(denn Ausländer konnte
La Méditerranée et le Monde méditerranéen à
l'époque
man
de Phil-
107
II Rezensionen
ignorieren, Brunner nicht) und ließ ganz nebenbei einfließen, wie er sich eine adäquate Geschichtsschreibung, die Lösung für ein „heute vordringliches Problem unserer Geschichtswissenschaft",70) vorstellte. Das vertiefte er in einigen Folgerezensionen, in denen er Werke besprach, die an die Probleme und die
Thematik des Méditerranée-Buches anschlössen, die unbearbeitete sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte des europäischen Lebens erschlossen, die erneut den Wirkungszusammenhang zwischen Politikgeschichte einerseits und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte andererseits darstellten oder in denen er die Ansätze der Annales in aller Breite vorstellte: das Zusammengehen von Geographie und Sozialgeschichte, die Bedeutung der Regionalgeschichte, die Fragen sozialer Schichtungen, der Religionssoziologie, Familiensoziologie, Sozialpsychologie usw., um sie in Deutschland bekannter zu machen.71) Durch die Besprechung französischer Arbeiten stellte Conze dem Leser die Möglichkeiten einer immer an politischen Fragen orientierten Kulturgeschichte vor, durch die Rezension deutschsprachiger Bücher brachte er ihm eher soziologische und methodische Fragen nahe. Selbst in kleinen Notizen verpackte Conze Hinweise, daß diese oder jene Arbeit interessante sozialgeschichtliche Perspektiven oder Erträge biete die von Walther G. Hoffmann herausgegebenen „Beiträge zur Soziologie der industriellen Gesellschaft" etwa (gleich drei Empfehlungen von Conzes Seite), weil sie geeignet seien, die Arbeitsrichtung der Sozialforschungsstelle in Dortmund vorzustellen. Die Aufsätze beschäftigten sich u. a. mit der Industrie- und der amerikanischen Soziologie, dem Ruhrgebiet, den Organisationsformen der frühindustriellen Gesellschaft und hätten durch ihre soziologischen Fragestellungen sozialgeschichtliche Bedeutung, auch wenn das nicht unbedingt erkennbar sei.72) In dieselbe Kerbe schlug er mit einer Besprechung von Wilhelm Brepohls „Der Aufbau des Ruhrvolkes". Brepohl war Mitarbeiter der Sozialforschungsstelle und befaßte sich aus volkskundlicher Warte mit der Soziologie des „Ruhrvolkes", mit dessen Entstehung aus der Verschmelzung der eingewanderten Volksgruppen. Conze war sehr daran gelegen, sein „wichtiges Buch zu besprechen".73) Er geriet allerdings in Nöte, „weil doch recht viel anzuhaken ist und es mir trotzdem um der Sache willen richtig erscheint, im ganzen auf ein lobendes Urteil herauszukommen."74) 1952 erschien die Rezension in der VSWG. Conze, der die -
-
-
™) Ebd., S. 362. 71) Vgl. Conze, Rez. Braudel/Romano, Navires et marchandises à l'entrée du port de livourne; Ders., Rez. Hommage á Lucien Febvre; Ders., Rez. Koenigsberger, The Government of Sicily under Philip II of Spain; Ders., Rez. Schnerb, Le XIXe siècle; Ders., Rez. Villes et campagnes.
72) Vgl. Conze, Rez. Hoffmann, Beiträge zur Soziologie der industriellen Gesellschaft. Autoren des Buchs waren u.a. Carl Jantke, Wilhelm Brepohl, Wolfgang Köllmann und Helmuth Croon. Conze an Brepohl vom 11. 10. 1950 (SFSt. B II/l). Conze an Günther Ipsen vom 21. 2. 1952 (SFSt. 17).
73) 74)
108
3. Die
Strategie
Zielsetzung Brepohls besonders hoch wertete, war bemüht, „die kritische Ablehnung nicht zu scharf hervortreten zu lassen. Freilich: noch milder als ich es getan habe, geht es m.E. auf keinen Fall. Im ganzen ist auch sonst manches
problematisch."75) Er lobte also den beträchtlichen Gewinn für die Sozialwissenschaft, den Nutzen für die Soziologie der Industriestadt, wies auf die „anregenden Beiträge zur Soziologie des Unternehmers" hin und auf „die zahlrei-
chen Anregungen für die sozialgeschichtliche Forschung". Doch erbarmungslos kamen, mit freundlichen Relativierungen durchsichtig verhüllt, die Grenzen zur Sprache: „Andeutung", „erster Hinweis", „Vorläufiges" werde gesagt, die Arbeit „ist kein Abschluß, sondern ein Beginn". Nicht ausreichend fundierte Zahlen und besonders die fehlerhafte Charakterisierung des ostdeutschen Menschen kreidete Conze ihm an.76) Was Conze an Brepohls Buch gelegen haben muß, war, wie wir später sehen werden, die sozialintegrative Narratio, mit der die Geschichte als Dreischritt von 1. intakter Gesellschaftsordnung 2. sozialem Wandel und drohender Auflösung der Ordnung 3. Aufbau zu neuer Ordnung beschrieben wurde.77) Bei zwei Büchern Karl Dietrich Brachers und George W.F. Hallgartens zeigte er deutlich Flagge. Einen Aufsatz, den Bracher als Vorlauf zu seinem Buch über „Die Auflösung der Weimarer Republik" 1952 erscheinen ließ („Auflösung einer Demokratie"), bedachte Conze mit einer freundlichen Annotation. Was im Entstehen war, klang verheißungsvoll.78) Wie vor den Kopf gestoßen las er dann die fertige Studie. Das methodologische Programm, die Verbindung von historischer Arbeit mit systematischen, tiefdringenden Strukturanalysen, „der mutige Versuch, eng benachbarte Disziplinen des gleichen Themenbereiches zu verbinden",79) der streng analytische Stil statt des bildhaften, naiven Erzählens, die Gemeinschaftsarbeit im Rahmen eines Institutes, all das fand Conzes Zustimmung, weil es die der modernen Welt angemessene Forschungsstrategie sei. Lob bekam auch das Buch an sich, als „anregend", als „erheblicher historischer Ertrag" und als „das wohl erste größere Werk über die Weimarer Republik [...], das wissenschaftlich weiterführt, weit hinaus über die mannigfachen Selbstaussagen, Anklagen, Apologien und befangenen Versuche, die bisher das Feld beherrscht haben."80) Doch vordergründig freundlich -
75)
-
Conze
an
Hermann Aubin
vom
28. 2. 1952. Aubin
war
mit der Rezension einverstan-
den, vgl. Conze an Aubin vom 6. 3. 1952 (BAK N 1179/27). 76) Conze, Rez. Brepohl, Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-Westwanderung
(dort die vorhergehenden Zitate). Ähnlich wohlwollend
machte Conzes Schüler
Wolfgang
Köllmann, Rez. Brepohl, Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform, die Grenzen eines anderen Buches von Brepohl deutlich. 77) Vgl. Brepohl, Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-Westwanderung, und
Kap. 5/III. 78) Vgl. Conze, Rez. Bracher, Auflösung einer Demokratie. 79) Conze, Rez. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik (1. Auflage), S. 379. 80) Ebd. unten,
II Rezensionen
109
Conze: Bracher habe seine Begriffe und Modelle, mit denen er die WeiRepublik analysiere, nicht wort- und begriffsgeschichtlich gewonnen, sondern arbeite mit unhistorischen Kategorien, die seine Analyse über die Vergangenheit unzulässig präformierten. Wie beiläufig fällt der Name A.R.L. Gurlands, eines der linken Aushängeschilder des Berliner Otto-Suhr-Instituts, und macht hellhörig. Es ging nämlich gar nicht so sehr um Brachers unhistorische Soziologie: ob die Weimarer Republik wirklich ein „typisches Modell" für den Untergang einer Demokratie darstellte oder ob die deutsche Verfassungswirklichkeit vor 1918 mit dem Etikett „absolutistisch" angemessen bezeichnet sei.81) Was eine Rezension wirklich aussagt, das teilt sie manchmal nicht mit, das muß man wissen. Die väterlich klingende Kritik Conzes verwandelt sich vor unseren Augen zu scharfer Ablehnung, wenn wir uns klar machen, daß Brachers Darstellung Conzes politischer Weltsicht diametral zuwider lief, sowohl was die Einschätzung des Kaiserreichs betrifft als auch die Beurteilung Heinrich Brünings. Conze hatte schon 1954 eine eigene Geschichte der Weimarer Republik projektiert, in der er neben der „Struktur des Weimarer Staates und des deutschen Volkes in dieser Zeit"82) besonders ihren Anfang (an dem sämtliche Probleme der Republik angelegt worden seien) und ihr Ende (das besonders durch die große Wirtschaftskrise beschleunigt worden sei) darstellen wollte. Das war ein Versuch, das Deutungsmonopol zu übernehmen,83) dem Bracher nun in die Quere kam, und der Zusammenprall der beiden Deutungen auf Grund weltanschaulicher und biographischer Unterschiede führte zur sogein nannten „Bracher-Conze-Kontroverse". Bracher, Jahrgang 1922, vertrat aller Kürze die Position, daß der ersten deutschen Demokratie eine schlechte Zukunft in die Wiege gelegt worden sei, weil die Sozial- und Verfassungsstruktur des Kaiserreichs grundlegende Hindemisse für eine echte Parlamentarisierung Deutschlands geschaffen und Brüning gegen Ende der Republik den Weg zum autoritären Staat eingeschlagen habe. Die Parteien hätten sich redlich gemüht, aber wenig Chancen gehabt. Conze dagegen suchte nach den „haltenden Mächten", nach den gesellschaftsintegrierenden Kräften des Kaiserreichs und nach Hinweisen, die Brünings autoritäre Regierung als das letzte Bollwerk gewarnte marer
-
-
81
) Vgl. ebd. In seiner Besprechung der 2. Auflage nahm Conze seine Kritik nicht zurück, mußte sich aber für die Schärfe der ersten Besprechung entschuldigen: Conze, Rez. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik (2. Auflage). 82) Werner Conze, Plan einer Geschichte der Weimarer Republik [für die Dante-Stiftung], o.D. [1954] (HStAD NW 25/47). 83) Vgl. Conze an den Kultusminister von Nordrhein-Westfalen vom 29. 3. 1957 (HStAD NW 25/47). Das Projekt wurde nie verwirklicht, obwohl Conze es warmhalten wollte, „um nicht anderen Auffassungen, die sich festsetzen wollen, das Feld zu überlassen": Conze an Ipsen vom 9. 1. 1955. 1957 überlegte er, ob er den Plan nicht in eine „deutsche Geschichte im Zeitalter der Revolution" (am besten seit der napoleonischen Zeit) umwandeln solle, um der Zeit nach 1918 ihre richtige historische Tiefe zu geben: Conze an Ipsen vom 13. 12. 1957 (SFSt. 17).
110
3. Die
Strategie
gen den Nationalsozialismus erscheinen ließen. Bracher gehörte zu den ersten Nachwuchswissenschaftlern in der Bundesrepublik, die auf eine gesellschaftskritische Geschichtsschreibung setzten. Für Conze bedeutete eine derart gelagerte Kritik tendenziell Zersetzung. Er glaubte gerade durch seine Achtung und Verehrung für Brüning den Ansporn zu erhalten, dessen Politik „unbefangen nach der Art des kritisch verstehenden Historikers" würdigen zu können.84) Bracher hingegen ging ihm nicht ganz vorurteilsfrei, nicht unbefangen genug an die Sache heran, deshalb mußten die Proportionen in der Beurteilung wiederhergestellt werden was für Conze in einer vollkommenen Rehabilitierung Brünings mündete. Die Parteien hätten den Karren vorher so verfahren, daß Brünings Programm zur Rettung der Republik eigentlich unausweichlich geworden sei und im übrigen durchaus Aussicht auf Erfolg gehabt habe. Bracher wiederum lehnte derartige Proportionen entschieden ab. Trotz aller Hindernisse offen war für ihn die Entwicklung bis zum Antritt Brünings, dann wurde die Auflösung programmiert. Beide Kontrahenten konnten sich gegenseitig Determinismus vorwerfen: Bracher Conze, weil er dem Parteienstaat keine Chance gebe, Conze Bracher, weil er Brüning keine Chance gebe (ihm folgten später Waldemar Besson und Hans Rothfels, die Brachers Strukturanalyse mit dem Begriff „Fatalismus" belegten).85) Diese Kontroverse gewährt uns einen ersten Einblick, wie unlösbar die methodischen Prämissen der Historiker mit ihrem Weltbild verquickt waren. Bracher hatte wesentlich effektiver mit strukturhistorischen Methoden emst gemacht als Conze das jemals tun sollte, aber es lief auf die „falsche" Sichtweise hinaus. Conze traute auch nach 1945 der Parteiendemokratie zunächst wenig -
84) Conze, Die Regierung Brüning, S. 243 (seine kritische Würdigung erschien in der Festschrift für Brüning). 85) An seiner Beurteilung Brünings hielt Conze fest, auch nach Erscheinen von dessen Memoiren, die einiges von Conzes Urteil fragwürdig werden ließen. Vgl. Conze, Die Regierung Brüning; Ders., Die Reichsverfassungsreform als Ziel der Politik Brünings; Ders., Die politischen Entscheidungen in Deutschland 1929-1933; Ders., Die deutschen Parteien in der Staatsverfassung vor 1933; Ders., Jugendbewegung politisch gesehen, S. 10; Ders., Zum Scheitern der Weimarer Republik (bes. S. 220f.); Ders., Zur deutschen Geschichte 1918-1933; Ders./Raupach, Einleitung. Für den Jahrgang 1953 hatte Conze den VfZ eine Dokumentation „Zum Sturz Brünings" abgeliefert, die Helmut Krausnick und Theodor Eschenburg allzu unkritisch erschien: „Für den Leser hätte der Eindruck einer einseitigen Verteidigung von Schleicher und der Großgrundbesitzer entstehen können". Conze zog dann einige Linien etwas schärfer; vgl. Eschenburg an Rothfels vom 8. 4. 1953 (dort das Zitat), -
15. 7. 1953; Krausnick an Rothfels vom 3. 5. 1952 (BAK N 1213/46). Auf der anderen Seite: Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik; Ders., Parteienstaat, Präsidialsystem, Notstand; Ders., Brünings unpolitische Politik und die Auflösung der Weimarer Republik. Zu Brachers Werdegang: Karl Dietrich Bracher im Gespräch mit Werner Link; zur Bracher-Conze-Kontroverse vgl. auch Jasper, Einleitung; Kolb, Die Weimarer Republik, S. 199-203. Bessons und Rothfels' Position findet man im Gutachten zu Bessons Habilitation (UAT 131/333). -
111
II Rezensionen
und starken Männern, zumal wenn sie moralisch integer schienen,86) viel. Für Bracher waren die Kontroversen politischer Parteien nicht mit unguten Lebens-, sondern mit erfreulichen Amerika-Erfahrungen und politischen Hoffnungen verbunden; für ihn bildete die parlamentarische Demokratie die grundlegende Organisationsform der Gesellschaft. Conze war diese Vorstellung fremd. Die Demokratie war keine Organisationsform, sondern ein der Gesellschaft äußerliches, formales Steuerungsinstrument, das die Zeitumstände notwendig gemacht hatten, das er deshalb aus Überzeugung befürwortete, dessen Erfolgsaussichten er nichtsdestotrotz skeptisch beurteilte. Das war eine grundsätzlich andere Haltung zu Gesellschaft und Politik, und über den Umweg der Methodenkritik versuchte Conze Bracher inhaltlich auszuhebein und seine eigenen, zur Historiographie verfestigten politischen Ansichten zu sichern. Was ihm, nach Brachers Einschätzung, ein Stück weit gelang: Die Rezension sei verzerrend, eine Entgegnung wurde Bracher von der HZ nicht zugestanden, in der Zunft sei das Bild von seinem Buch schief geblieben und er in die Politikwissenschaft abgedrängt worden87) (der er freilich von vornherein nicht fern
gestanden hatte).
Nicht unähnlich sieht es mit der Besprechung von George W F. Hallgartens voluminösem Buch über den Imperialismus vor 1914 aus. Den Sozialhistorikern präsentierte Conze das Buch als ein doppeltes Lehrstück. Einmal, weil es zeige, daß man gerade das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts angemessen nur durchleuchten könne, wenn man die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte nicht beiseite und in gesonderte Kapitel schiebe, sondern zu einem integralen Bestandteil der Geschichtsschreibung mache. Zum andern demonstrierte es, was Conze unter Sozialgeschichte bzw. soziologischer Fundierung der Geschichtswissenschaft gerade nicht verstand: einen ökonomistischen Monokausalismus. Statt eine soziologisch hinreichende Strukturanalyse der Gesellschaft zu leisten, habe sich Hallgarten (mit unpräziser soziologischer Begrifflichkeit) darauf versteift nachzuweisen, daß die Außenpolitik der deutschen Politiker und die herrschenden Schichten durch ökonomische Interessen bestimmt gewesen seien.88) So etwas rangierte für Conze nicht unter „Soziologie", sondern unausgesprochen unter Sozialismus. Jeder wußte, daß er damit nicht verkehrt lag, denn Hallgarten hatte in der Weimarer Republik zum kleinen Zirkel der ausgesprochen gesellschaftskritischen Historiker gehört. Er bezeichnete sich als Marxist, war Freund Eckart Kehrs, der 1930 mit seinem Buch über den Schlachtflottenbau den Zorn der Zunft erregt hatte, und emigrierte wie dieser vor den Nationalsozialisten in die USA. Die Tragik seines Lebens war, daß sein -
-
86) Vgl. die hymnische Charakterisierung der Person Brünings: Conze, Die Regierung Brüning, S. 237 f. Denselben Ton schlägt der Herausgeber der Brüning-Festschrift, Theodor Schieder, in seinem Vorwort an.
87) Schriftliche Mitteilung Brachers vom 14. 12. 1997. 88) Vgl. Conze, Rez. Hallgarten, Imperialismus vor 1914.
112
3. Die
Strategie
wegen der Zeitumstände erst zu Beginn der fünfziger Jahre gedruckt wurde, und da besaß es nicht mehr die Sprengkraft, die es in seiner Entstehungszeit, den dreißiger Jahren, als Parallele zu Kehrs Buch, hätte entwickeln können. Conzes harsche Kritik wird der Verbreitung von Hallgartens Buch nicht förderlich gewesen sein, andererseits kam man auch seinerzeit trotz aller Kritik um das Buch nicht herum. Ungenügend sei es, aber im Grunde müsse man die Probleme, die Hallgarten berührt habe, durcharbeiten, meinte Hans Rothfels 1956, nachdem er, „wie wohl die meisten in Deutschland", noch vier Jahre zuvor das Imperialismus-Buch nur dem Namen nach kannte.89) Für einen VfZ-Aufsatz hatten er und Conze Hallgarten schon 1952 engagieren wollen, etwas wider Willen und nicht als Visitenkarte der Zeitschrift im ersten Heft, aber: keine Enge bei der Autorenauswahl, schrieb Conze, außerdem brauchte Rothfels aus finanztaktischen Gründen einen Linken in der Zeitschrift.90) Eine größere Rolle hat Hallgarten in der bundesdeutschen Sozialgeschichte allerdings bis heute nicht gespielt, was auch an seiner problematischen Persönlichkeit gelegen haben mag.91) Ob Verriß oder Lob, Conze nutzte die Rezensionen, um seine politischen und methodischen Ansichten zu propagieren und abzugrenzen. Dabei kam es auf eine detaillierte Darlegung dieser Ansichten nicht an, das konnte es bei der Kürze einer Rezension auch nicht. Wenn er Henny Hellgrewes Buch „Dortmund als Industrie- und Arbeiterstadt" den Vorwurf machte, es sei in erster Linie deskriptiv-statistisch, ohne daß die Statistik in soziologisch tragfähige Begriffe übersetzt werde, daß ihm sozialgeschichtliche Tiefe, soziologische Theorie und Methode fehlten,92) dann präzisierte er nicht, was sich der in diesen Dingen noch weitgehend unerfahrene Historiker unter „sozialgeschichtlicher Tiefe" oder (im Falle Hallgartens) unter „soziologisch hinreichender Strukturanalyse" vorzustellen habe. Genau wie bei der politischen Feldmarkierung war der Zweck der Rezensionen zuerst, Referenzen und empirische Bestätigungen für die Methode vorzustellen, um dem sozialhistorischen Ansatz einen breiteren Bekanntheitsgrad zu verschaffen. Die Füllung der Schlagworte
Opus
89) Rothfels an Conze vom 26. 7. 1952 (BAK N 1213/47). 9°) Vgl. Protokoll der 1. Sitzung des wissenschaftlichen Beirates des Max-Planck-Institutes
für Geschichte vom 18. 12. 1956, S. 23 f. (BAK N 1213/25); Rothfels an Conze vom 26. 7. 1952 (BAK N 1213/47); Conze an Rothfels vom 22. 7. 1952, 29. 7. 1952 (BAK N 1213/46). 91) Zu Hallgarten vgl. dessen Memoiren (Hallgarten, Als die Schatten fielen); Radkau, George W. F. Hallgarten; und einen Brief Alfred Vagts vom 11. 10. 1979 (BAK N 1269/3). Es gab übrigens auch freundlichere Besprechungen: Schinkel, Politik und Wirtschaft im Zeitalter des Imperialismus; Angermann, Über das Wesen der Diktatur (über Hallgartens
„Why Dictators"?).
92) Vgl. Conze, Rez. Hellgrewe, Dortmund als Industrie- und Arbeiterstadt. Die Auftraggeberin der
Studie, die Stadt Dortmund,
war
mit der Arbeit nicht zufrieden. Sie vermißte eine
Fragestellung, die für die Stadt verwertbar sei, äußerte Zweifel an der Qualität und fühlte sich als bloßes Forschungsobjekt für eine wissenschaftliche Pionierarbeit mißbraucht: Aktenvermerk
vom
25. 2. 1953
(SFSt. I 20).
II Rezensionen
113
wurde durch den Verweis auf vorbildliche Studien oder in Form der Abgrenzung, was Sozialgeschichte nicht sei, ersetzt. So gibt es bis etwa 1957 eine ganze Reihe von Besprechungen, in denen Conze immer aufs neue dieselben Elemente wiederholte: die Theorie der „Schwelle" um 1800, die Notwendigkeit zu Interdisziplinarität, zur Arbeit in einer größeren Forschergruppe, zu systematischer Analyse (statt naiver Erzählung), zu soziologischer Begrifflichkeit, zu historischer Fundierung (statt formalistischem Soziologismus) usw. Oder er präsentierte Antworten auf Fragen, die im Rahmen seiner Sozialgeschichte zu untersuchen waren, Antworten auf
bevölkerungssoziologische, industriesoziologische, parteiensoziologische, wirtschaftshistorische und andere Probleme mehr, also auf Fragen, die sich mit der Struktur und dem Strukturwandel der modernen Industriegesellschaft auseinandersetzten. Hat man Hans Freyers Arbeiten über die „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft", die „Weltgeschichte Europas" und die „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" gelesen, so findet man in den Rezensionen Conzes wie in einem tausendfach zerschlagenen Glas die Teilchen von Freyers Theorie gespiegelt. Wer Freyer gelesen hatte, dem kann Conze nicht fremd geblieben sein; wer Freyer nicht kannte, lernte ihn durch Conzes Besprechungen Stück für Stück kennen. Selbst eine kleine Biographie über Friedrich von Bodelschwingh war ihm als Vehikel nicht zu schade, und natürlich besprach er voll Zustimmung die Texte Freyers und Brunners. Der war zwar Frühneuzeithistoriker, führte aber von der anderen Seite her an die „Schwelle" heran. Ich erspare es uns, im einzelnen auf diese Rezensionen93) einzugehen. Von 1949 bis 1956 veröffentlichte Conze im Schnitt pro Jahr etwa drei bis vier Rezensionen zu sozialhistorischen Themen (1952 eine, 1953 sechs), 1957 bis
93) Conze, Rez. Beutin, Geschichte der südwestfälischen Industrie- und Handelskammer zu Hagen und ihrer Wirtschaftslandschaft; Ders., Rez. Brunner, Neue Wege der Sozialgeschichte; Ders., Rez. Die Landfamilie; Ders., Rez. von Dietze/Rolfes/Weippert, Lebensverhältnisse in kleinbäuerlichen Dörfern; Ders., Rez. Draheim, Die Genossenschaft als Unternehmenstyp; Ders., Rez. Duverger, Die politischen Parteien; Ders., Rez. Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters; Ders., Rez. Freyer, Weltgeschichte Europas (Conzes Besprechung dieses Buches soll eine der enthusiastischsten gewesen sein: Muller, The Other God That Failed, S. 255, Anm. 156); Ders., Rez. Gerhardt, Friedrich von Bodelschwingh; Ders., Rez. Gille, Historie économique et sociale de la Russie du moyen-âge au vingtième siècle; Ders., Rez. Herding, Das Urbar als orts- und zeitgeschichtliche Quelle; Ders., Rez. Jantke, Der vierte Stand; Ders., Rez. Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie; Ders., Rez. Lütge, Die bayerische Grundherrschaft; Ders., Rez. Mackenroth, Bevölkerungslehre; Ders., Rez. Monnerot, Soziologie des Kommunismus; Ders., Rez. Niehaus, Der Bauer in der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung; Ders., Rez. Raupach, Industrialismus als Wirklichkeit und Wirtschaftsstufe; Ders., Rez. Rechtliche Ordnung des Parteiwesens; Ders., Rez. Schieder, Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit; Ders., Rez. The Cambridge Economic History of Europe, Bd. 6; Ders., Rez. Williams jr., Die amerikanische Gesellschaft; und als eine der letzten in dieser Reihe: Ders., Rez. Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa.
114
3. Die Strategie
1959 waren es zusammen fünf, danach „schwieg" er, es erschienen nur noch vereinzelte Besprechungen zur Sozialgeschichte (im Schnitt etwas mehr als eine im Jahr). Die bei weitem wichtigste dieser späteren Besprechungen dürfte der Rezensionsaufsatz „Sozialgeschichte in der Erweiterung" sein, in der er 1974 skeptisch den Erfolg seines Unterwanderungswerkes feierte skeptisch, weil Sozialgeschichte „sich heute oft mehr, als ihrer Qualität gut tut, einer weit verbreiteten Beliebtheit" erfreue.94) Schließlich fallen da noch zwei so merkwürdig zahme Besprechungen von Kurt von Raumers „Deutschland um 1800" auf, einem im großen und ganzen klassisch politikhistorischen Handbuch, dessen „leitende Linien" Conze in der Rezension des ersten Bandes erst konstruierte. Das Zurücktreten der Sozialund Wirtschaftsgeschichte fand er schade, aber er entschärfte seine Kritik sogleich diese Grenze des Werkes sei offenbar bewußt gezogen. Das akzeptierte er und wies mit allgemeinen Worten auf die bedauerliche Tendenz hin, in Handbüchern „die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in besonderen Abschnitten von der allgemeinen Geschichte abzusondern und damit der Gefahr einer gefährlichen Zerstückelung des historischen Gesamtzusammenhanges Vorschub zu leisten."95) In der Besprechung des zweiten Bandes konstatierte Conze einfach, daß die Wirtschafts- und Sozialgeschichte „diesmal so weit zu ihrem Recht gekommen [ist], wie es die Proportionen der Komposition zuließen."96) Von Sozialgeschichte war immerhin die Rede, aber warum so auffällig zurückhaltend? Weil es mittlerweile, Anfang der sechziger Jahre, um die Finanzierung des großen Wörterbuchs der „Geschichtlichen Grundbegriffe" ging, vielleicht aber auch, weil von Raumer ein Förderer Conzes in dessen Münsteraner Zeit gewesen ist. Doch das sind zwei Zusammenhänge, auf die ich an anderer Stelle eingehe. -
-
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III
Empirische Arbeiten
Wenn Conze es mit seinen Plänen ernst meinte, so sollte man vermuten dürfen, daß er besonders in seinen Aufsätzen und Büchern seien es empirische Arbeiten, Forschungsberichte oder Vorträge seine Vorstellungen von Sozialgeschichte in extenso ausbreiten und vor allem empirisch einlösen würde. Es zeigt sich nun das merkwürdige Phänomen, daß die meisten Texte Conzes das Polen-Buch, das Buch über die Zeit Wilhelms II., der Text über die Weimarer Republik, die (Teil-)Biographie Jakob Kaisers oder gar die Geschichte der 291. Infanterie-Division, deren Vernichtung er einst durch seine Verwundung -
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94) Conze, Sozialgeschichte in der Erweiterung (Zitat S. 501). 95) Conze, Rez. Kurt von Raumer, Deutschland um 1800 (HZ 1962), S. 96) Conze, Rez. Kurt von Raumer, Deutschland um 1800 (HZ 1967), S.
130. 138.
Ill
Empirische Arbeiten
115
herzlich wenig sozialgeschichtlich auswar (eine Auftragsarbeit) sind Es klassische sind.97) politikhistorische oder biographische Stugefallen
entgangen
-
dien. Aber da für Conze die Sozialgeschichte nie Selbstzweck, sondern stets auf seine politischen Ansichten bezogen war, ergibt es sich, das letztlich auch diese Texte seinem sozialhistorischen Programm wesentlich näher stehen, als es vordergründig scheinen mag. Das werde ich in diesem Abschnitt, in dem es hauptsächlich um diejenigen Nachkriegstexte gehen wird, die am unmittelbarsten mit Sozialgeschichte, mit ihrer Propagierung oder empirischen Einlösung zu tun haben, anreißen, um im siebten Kapitel die Verflechtung von (Sozial-)Geschichte und Politik bis in einzelne Metaphern hinein zu verfolgen. 1950 hatte Conze in England eine Sammelrezension publiziert, in der er nach zwei sparsamen Einleitungsabsätzen ein Buch nach dem anderen abhandelte, das sich mit der Sozial-, Wirtschafts-, Geld-, Agrar- und Bevölkerungsgeschichte beschäftigte, mit der Kulturgeschichte des Bürgertums, den Bauern oder der Industriegesellschaft. Darin ließ er alle seine späteren Themen anklingen; außerdem sprach er kurz an, daß „the gap between traditional economic and constitutional history is still unfilled".98) In Deutschland hat dieser Text außer den Adressaten von Sonderdrucken wahrscheinlich wenige Leser erreicht, dem englischsprachigen Publikum sollte er zeigen, daß die deutsche Sozialgeschichte zwischen 1939 und 1949 ernst zu nehmen gewesen sei und an Umfang zugenommen habe. Das war eine Flagge für seine Sozialgeschichte und eine Gelegenheit, sich im Ausland bekannt zu machen, außerdem eine Verteidigung der „Völksgeschichte" und vielleicht war das die Wirkung, die er auf Deutschland kalkulierte? Nicht zufällig liest sich die Besprechung wie eine vorweggenommene Ergänzung oder als Gegengewicht zu der maßgeblich von Gerhard Ritter herausgegebenen Bibliographie zur deutschen Geschichtsschreibung im Zweiten Weltkrieg von 1951, mit welcher nachgewiesen werden sollte, daß die deutsche Historiographie auch im Nationalsozialismus den Weg sachlicher Wissenschaft nicht verlassen hatte.99) Im folgenden Jahr erschien die kurze Studie über „Leibniz als Historiker", von der ich nur hervorheben möchte, wie geschickt Conze Gottfried Wilhelm Leibniz zu seinem Ahnen machte. Er pries dessen wissenschaftliche, peinlich genaue Exaktheit, seine überlegene Quellenkritik, die Weite seines Themenspektrums, das breite Quellenspektrum, das er nutzte, die Verbindung von -
97) Vgl.
etwa Conze, Das deutsch-russische Verhältnis im Wandel der modernen Welt; Ders., Der 17. Juni. Tag der deutschen Freiheit und Einheit; Ders., Die deutsche Nation; Ders., Die Geschichte der 291. Infanterie-Division 1940-1945; Ders., Die politischen Entscheidungen in Deutschland 1929-1933; Ders., Die Weimarer Republik; Ders., Die Zeit Wilhelms II.; Ders., Einleitung (in: Conze/Hertz-Eichenrode, Karl Marx); Ders., Jakob Kaiser; Ders., Polnische Nation und polnische Politik im Ersten Weltkrieg; Ders., Staatsund Nationalpolitik; Ders., The German Empire. 98) Vgl. Conze, Writings in Social and Economic History in Germany (Zitat S. 126).
99) Vgl.
Holtzmann/Ritter: Die deutsche Geschichtswissenschaft im Zweiten
Weltkrieg.
116
3. Die
Strategie
Reichs- und Lokalgeschichte; er hob hervor, daß Leibniz nicht bieder erzählte, seinen Lesern die Quellenproblematik nicht vorenthielt und sich trotz der fragwürdigen Sicherheit der Quellen zu einem Urteil durchrang. Die große Wirkung, „die deutsche Geschichtswissenschaft entscheidend beeinflussen und heben zu können", ist ihm bedauerlicherweise versagt geblieben, man ging einen anderen Weg. Es steht deutlich zwischen den Zeilen, daß man mit Leibniz eher dahin gekommen wäre, wohin sein „Enkel" die Geschichtswissenschaft nun
bringen wollte.100)
Kurz darauf sagte er mit der schon erwähnten „Stellung der Sozialgeschichte in Forschung und Unterricht" explizit, was er dachte; danach lief 1954 der von Historikern gerühmte Aufsatz „Vom Pöbel zum Proletariat" aus den Druckmaschinen, ein Vortrag, den Conze mit Fußnoten „aufbügelte", um ihm stärker den Charakter einer Untersuchung zu geben.101) War es eine sozialhistorische Arbeit? Zuerst ist es Begriffsgeschichte. Die Begriffe „Pöbel" und „Proletariat" markierten für Conze zwei unterschiedliche gesellschaftliche Verfassungszustände. Der „Pöbel" stellte vor der industriellen Revolution den untersten Stand der Gesellschaft dar, als Arbeitskräftereservoir zwar notwendig, aber immer so in Grenzen gehalten, daß er sich nicht zu sehr vermehren konnte. Aus welchen Gründen auch immer sich die Bevölkerungszahl ab dem Ende des 18. Jahrhunderts rapide steigerte, die sozialen Unterschichten wuchsen stark an, ebenso ihr Elend. Die alte „Armenfrage", bislang immer caritativ behandelt, verwandelte sich zum „Pauperismus", zu einem sozialen Problem. Die ständischen Bindungen schwanden, der „Pöbel" „wucherte", trat „über seine Grenzen und drohte, das in sich abgestimmte Gefüge der Gesellschaft zu sprengen. Konnte er noch zurückgedämmt werden, oder lief die Flut bereits über den Damm und mußte mit neuen Mitteln in ein neues Bett geleitet werden?"102) Der Begriff „Pöbel" wurde unbrauchbar, es bürgerte sich der des „Proletariats" ein für die verfassungsbedrohende Expansion der Unterschichten. Für Conze nun stellten diese beiden Begriffe die Eckpunkte dar, über die er den Einstieg in die Analyse der großen Transformation von der alten zur industriellen Gesellschaft fand, denn die von einer Gesellschaft benutzten Begriffe deuten ihm zufolge stets auf die Verfassung dieser Gesellschaft. Folglich begleitete der Begriffswechsel vom Pöbelstand zur Proletarierklasse einen realhistorischen Prozeß, nämlich den der technischen und sozialen Revolution seit der Schwellenzeit. Soweit war die Begriffsgeschichte tatsächlich Teil einer umfassenden Sozialgeschichte. Am Ende seines Aufsatzes aber stand die Frage nach der Verfassung der modernen Industriegesellschaft. Der „Pöbel" brach
100) Vgl. Conze, Leibniz als Historiker (Zitat S. 83). Conzes Studie selbst ist eine reine Ideengeschichte. loi) Conze an Aubin vom 18. 8. 1953 (BAK N 1179/27). i°2) Conze, Vom Pöbel zum Proletariat, S. 115.
Ill
117
Empirische Arbeiten
seiner ständischen Bindung aus und wurde zur sozialen Frage, zum „Proletariat", das die überkommene Gesellschaftsordnung durch eine politische Revolution zu beseitigen drohte. Wie kann man, so fragte Conze, die aus dem Lot geratene Gesellschaft endgültig wieder in eine den neuen Verhältnissen angepaßte Form bringen? Da blitzt unversehens die politische Facette seiner sozialhistorischen Arbeit auf: Es ging um die (historische) Legitimation des Kommunismus. Durch eine knappe soziographische Beschreibung der sozialökonomischen wie der gesellschaftlichen Strukturen und durch eine bewußtseinssoziologische Analyse der Haltung der Zeitgenossen auch das war Sozialgeschichte beraubte Conze den Kommunismus seiner Berechtigung. Marx' Proletarier-Begriff bezeichnete Conze als faszinierend großartig aber abstrakt. Die Arbeiter selbst hätten damals doch eher zu des Unternehmers Friedrich Harkorts Ansicht geneigt, für den der Proletarier ein verkommenes Subjekt gewesen sei, nicht aber der brave Arbeiter, dessen Kapital, seine Arbeitskraft, ihm niemand nehmen könne, außer Krankheit und Alter. Deshalb machten sich fürsorgliche Unternehmer für die Sozialversicherung stark. Im Grunde, so Conze, war der Pauperismus durch die Industrialisierung besiegt worden, deren Hungerlöhne nicht der Gewinnsucht der Unternehmer, sondern den ökonomischen Zwängen der industriellen Anfangsjahre geschuldet gewesen seien. Die Industrialisierung führte nicht ins Verderben, sondern zur Rettung, das hatten kundige Bürger bereits mitten in den Not- und Hungerjahren erkennen können. Die Existenz wurde gesichert, das Proletariat eingegliedert, mit dem neuen Zustand verschwand auch der Begriff „Pauperismus". Verdanken wir also dem Sozialismus die Heilung der aufgeweichten Ordnung, so lautete die versteckte Frage Conzes? Nein, wir verdanken sie dem über dem Klasseninteresse stehenden Staat (sozialpolitisch engagiert), den fürsorgenden und vorausschauenden Unternehmern (den Kundigen), der christlichen Ethik (kirchlichen Bemühungen) und schließlich den kleinen Leuten, die einfach nur leben und ihren bescheidenen Wohlstand sichern wollten, weil die Politik sie überforderte. 100 Jahre nach dem kommunistischen Manifest (nicht etwa zehn Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus) sei man der politischen Heilslehren leid geworden, und so fällt der Sozialismus, ohne daß Conze es direkt ausspricht, als illegitimes und den meisten Arbeitern fremdes Kind der Aufklärung, als rein intellektuelles Unternehmen, stillschweigend aus der Geschichte heraus. Er hatte zwar existiert, doch zu welchem sinnvollen Zwecke? Das Wohl der Gesellschaft wurde von anderen gewahrt. Was sollte er also aus
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heute?103)
Die letzten beiden Fragen stellte Conze nicht ausdrücklich, denn es wäre in einem wissenschaftlichen Text nicht schicklich gewesen, seiner politischen
103) Der Untertitel des Aufsatzes spricht von den „Sozialgeschichtlichen für den Sozialismus in Deutschland", der Text handelt vom Gegenteil.
Voraussetzungen
118
3. Die
Strategie
Haltung explizit Ausdruck zu geben. Seine Meinung ergibt sich dafür deutlich aus der Art, wie er die Geschichte von Auflösung, Bedrohung und Heilung erzählte; und mit diesem Text bestritt er denn gleich mehrere Vorträge und Seminare. Seine „Communication" auf dem römischen Historikertag, die ebenfalls an diesen Aufsatz anschloß, hat die „drüben" erwartungsgemäß sehr verstimmt, wie Conze zufrieden notierte.104) Zwei Jahre später verkündete er in einer Besprechung eines Buches von Helmut Schelsky das Ende des Proletariats. Dieses Wort sei ohnehin „unvolkstümlich", und eigentlich verbinde niemand, außer gläubigen oder verkrampften Sozialisten, etwas Positives mit dem Begriff. Die angeblichen Proletarier jedenfalls seien zufrieden in der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" aufgegangen.105) Und in der Quellensammlung zur Bauernbefreiung, die er im Jahr darauf erscheinen ließ, zog er in einer langen Einleitung eine durchweg positive Bilanz der fürstenstaatlichen Reformversuche: Die überreife Anpassung der Gesellschaftsordnung an neue Sozialstrukturen war vollzogen, die Emanzipation eingeleitet, die Voraussetzung für die Industrialisierung geschaffen, die Entfesselung in neuer Ordnung aufgehoben worden. Das Thema war ein sozialhistorisches, die Durchführung reine Ideengeschichte, eine Sammlung von Texten und Edikten kundiger Männer und aufgeklärter Herrscher. Die Kritiker der Reformen die bürgerlichen, denn anderen lieh Conze sein Ohr nicht hätten zwar reale Gefahren gesehen, aber sie seien rückwärtsgewandt geblieben, weil sie das Soll fürchteten und nicht, wie die Kundigen, das zukünftige Haben in der Endabrechnung zu spüren in der Lage waren. Dem Sozialismus bot Conze erneut keinen Platz in der Geschichte; die Quellensammlung soll lange Zeit fast konkurrenzlos den Geschichtsunterricht an Schulen und Universitäten bestimmt haben.106) 1954 publizierte er außerdem einen Aufsatz, in dem er Sozialgeschichte von einer anderen Richtung her anging, den Beitrag für die Festschrift des liberalen Historikers und Bundestagsabgeordneten Ludwig Bergsträsser, der mit Conze in der „Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien" saß. Der Parlamentarismus gehörte ebenfalls zum politischen -
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104) Conze an Siegfried A. Kaehler vom 8. 3. 1956 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,27); Conze an Günther Ipsen vom 1. 3. 1955 (SFSt. I 7); Conze an Aubin vom 13. 11. 1939 [= 1953] (BAK N 1179/27). Die Rom-Communication sollte sich mit dem Problem des Ursprunges und der funktionellen Voraussetzungen der modernen „sozialen Bewegung" in Deutschland beschäftigen: Conze an Aubin vom 16. 2. 1954 (AVHD). 105) Vgl. Conze, Das Ende des Proletariats. 106) So W. Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte, S. 260. Vgl. Conze, Quellen zur Geschichte der deutschen Bauernbefreiung, und darin Ders., Vorwort/ Einführung. Das Buch sollte ursprünglich 1948 erscheinen, aber die Währungsreform hatte einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es verfolge nur einen bescheidenen Zweck, so Conze an Ipsen vom 21.9. 1957 (SFSt. I 7). Mit ähnlicher Thematik hatte er allerdings schon 1949 einen Aufsatz veröffentlicht, seine überarbeitete Antrittsvorlesung aus Posen von 1943: Conze, Die Wirkungen der liberalen Agrarreformen auf die Volksordnung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert.
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Empirische Arbeiten
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Kern seiner Sozialgeschichte, deshalb versuchte Conze, auch hier die Wege zu weisen. Das Ziel war, die bislang vernachlässigte soziologische, staatsrechtliche und historische Analyse des Parteienwesens voranzutreiben sowie Parteiensoziologie, Wahlsoziologie und die Geschichte der sozialen Bewegungen zu verknüpfen, um eine historisch vertiefte Gegenwartsanalyse des parlamentarischen Systems betreiben und die Frage nach der „politischen Haltung und Orientierung des deutschen Volkes"107) besser beantworten zu können. Als Weg zu einer Antwort stellte er einige vorbildhafte französische Studien vor. Die Monographie André Siegfrieds über das Departement Ardèche etwa, in der meisterhaft „der Mensch in die geographisch-geologischen Bedingungen, in die Wirtschafts- und Sozialverfassung, in die bis heute wirksamen geschichtlichen Traditionen (prägende historische Grenzen), in die konfessionellen kirchlichen Verhältnisse und die von außen, vor allem durch die Wanderungen und die Beziehungen zu bestimmten Städten, hineinwirkenden Einflüsse hineingestellt" sei. Diese und andere Arbeiten bewiesen Conze „sehr eindrucksvoll die Fruchtbarkeit eindringender soziologischer Strukturuntersuchungen als Grundlage für ein rechtes Verständnis der Wahlergebnisse".108) Wenn sich nämlich zeigte, daß die abgeschiedenen Bergregionen über 800 Meter Höhe unter dem Einfluß ihres Dorfpriesters rechts wählten, so galt das noch lange nicht für die ländlichen Gegenden unter 300 Meter. Dort wählte man eher links, weil wegen der offeneren Verkehrslage fremde Meinungen durchs Dorf transportiert wurden und die geistige Vorherrschaft der Kirche paralysierten. Die Lebensverhältnisse bestimmten oft mehr die Wahlentscheidung als aktuelle politische Fragen, so wird vermeintlich paradoxes Wahlverhalten durch komplexe, inter-
disziplinäre Untersuchungen erklärbar.109) Den deutschen Lesern der damaligen Zeit dürfte klar gewesen sein, wie politisch gewendet dieser Ansatz war. Die Propagierung sozialgeschichtlicher Methoden war nur ein Teil der Zielsetzung. Conze wollte nicht zufällig die sozialen Bewegungen in die Parteiengeschichte einbeziehen, in ihnen wurzelte der Sozialismus. „Die Haltung des Volkes" wollte er nicht unterschätzt sehen, „dem Volk" warf man vor, die Nazis gewählt zu haben. Daß Lebensverhältnisse oft wichtiger seien als aktuelle politische Entscheidungen, zielte auf die große deutsche Wirtschaftskrise zu Ende der zwanziger Jahre, in der Conze nach dem Kriege das Einfallstor für den Nationalsozialismus ausgemacht hatte.110) Zudem schimmert das tiefsitzende Mißtrauen gegen ein parlamenta•°7) Conze, Wahlsoziologie und Parteigeschichte, S. 251. i°8) Die Zitate ebd., S. 245. 109) Vgl. ebd.; Ders., Nachwort zur Neuausgabe (zu Robert Michels „Soziologie des Partei24 Jahre nach dem Bergsträsser-Beitrag gewesens in der modernen Demokratie"); und schrieben Ders., Politische Willensbildung im deutschen Kaiserreich als Forschungsaufgabe historischer Wahlsoziologie. HO) Vgl. Conze/raupach, Einleitung; Conze, Die politischen Entscheidungen in Deutsch-
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land 1929-1933.
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3. Die
Strategie
System durch, das es der radikalen Linken und Rechten ja offenbar ermöglicht hatte, die soziale Not des Volkes in republikvernichtende Wahlen umzusetzen womit der Untergang der deutsche Nation vorbereitet worden war. Viel war von Deutschland nun nicht mehr übrig, die umfassend sozialhistorisch fundierte Wahlsoziologie und die Parteiengeschichte bildeten zwei der verbliebenen Waffen, die Nation zu verteidigen, indem man möglichen Anfängen wehrte. Sozialgeschichte war politische Geschichte. In den folgenden Jahren veröffentlichte Conze weitere Aufsätze ähnlich der „Strukturgeschichte im technisch-industriellen Zeitalter" (1957), räumlich und zeitlich breit gestreut: „Sozialgeschichte" (1962) im Lexikon „Die Religion in Geschichte und Gegenwart", „Was ist Sozialgeschichte?" (gedruckt 1965) in Frankreich, „Sozialgeschichte" (1966/51976) für Hans-Ulrich Wehlers Sammelband „Moderne deutsche Sozialgeschichte", „Social History" (1968) für das erste Heft des „Journal of Social History", außerdem die schon erwähnte Bilanz „Sozialgeschichte in der Erweiterung" (1974). In diesen Aufsätzen griff er auf seine Ausführungen von 1952 sowie 1957 zurück, legte der Öffentlichkeit konzentriert seinen Anspruch und seinen methodischen Ansatz dar, ohne allzuviel zu ändern. Nur der Strukturbegriff rückte allmählich in die übergreifende Sozialgeschichte hinein, die zum Oberbegriff avancierte. Strategisch
risches
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sind diese Aufsätze insoweit gewesen, als sie unübersehbare Pfeiler in die Diskussion um das, was Sozialgeschichte sein könnte oder sein sollte, einzogen; auch, indem sie eine Verteidigungslinie gegen eine andere, neuere Sozialgeschichte mit einer anderen politischen Zielrichtung aufzubauen begannen, die sich seit Mitte der sechziger Jahre bemerkbar machte. Nicht geplant war die Publikation dieser Aufsätze. Conze hat sie nicht lanciert, er ist gefragt worden, sie zu schreiben und das ist ein Indiz für den zunehmenden Erfolg seiner Mühen. Peter N. Steams etwa, als Herausgeber des neuen „Journal of Social History" auf der Suche nach einem Autor für den Eröffnungsartikel der ersten Nummer, kannte von Conze dessen Arbeiten zur Bauernbefreiung, mehr nicht. Außerdem beriet ihn, so meint er sich zu erinnern, Conzes Schüler Wolfgang Köllmann. Aufgrund dieser „scattered information and advice about [Conzes] leadership position" als Sozialhistoriker und da ihm kein französisches Pendant einfiel bat er Conze um einen Beitrag.111) Friedrich Fürstenberg, der Herausgeber eines RGG-Bandes, war durch sein Studium bei Rudolf Stadelmann und Carl Brinkmann zur Soziologie und Sozialgeschichte gekommen, deshalb plante er, einen Artikel zur Sozialgeschichte in den Band aufzunehmen. Ab etwa 1958 nachdem er wissenschaftlich satisfaktionsfähig geworden war tauchte Conze in den Gesprächen seiner Kollegen auf, er rückte als -
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i") Schriftliche Mitteilung von Peter N. Stearns vom 9. 1. 1998. Stearns selbst vertrat ein anderes Konzept von Sozialgeschichte als Conze, vgl. Stearns, Some Comments on Social History (Sozialgeschichte gehe es um die Beschreibung und Erklärung von Lebensstilen, sie solle nicht immer auf die Politik bezogen werden).
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Empirische Arbeiten
einer der wenigen sozialwissenschaftlich interessierten Geisteswissenschaftler in ihr Bewußtsein ein. Fürstenberg kannte Conzes Aufsatz zur Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters, so fiel seine Wahl als Autor auf ihn.112) Der Artikel in Frankreich ist ein Referat, das Conze auf dem „2. Internationalen Kongreß für Wirtschaftsgeschichte" (1962) gehalten hat, er leitete dort die Sektion „Methodology and Terminology in Social and Economic History";113) der Wiederabdruck des RGG-Beitrages in Wehlers Sammelband schließlich geht auf die persönliche Bekanntschaft zurück, auf Conzes Stellung in der Wissenschaft und darauf, daß es noch 1966 nur wenige Historiker gab, die sich allgemeine Gedanken zur Sozialgeschichte machten.114) Eine moderne deutsche Sozialgeschichte, als Zusammenfassung seines Lebenswerkes zwar geplant, hat Conze jedoch nie geschrieben.115) Der einzige Text, den man im strengen Sinne als Einlösung seiner sozialhistorischen methodischen Ansprüche und Forderungen bezeichnen könnte (die sozialhistorisch-politischen hat er dutzendfach eingelöst), sind die beiden Abschnitte im „Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte" (1976) über die Sozialgeschichte von 1850-1918.116) Hier zog er alle Register: Familie und Geschlecht, Arbeits- und Berufssystem, Bildung, Kinder, Unternehmer, Arbeiter, Gewerkschaften, Armee, Reichstag, Landwirtschaft, Adel, Parteien, Handwerker, Angestellte, Religion und Kirchen, die soziale Seite der Politik (Trägergruppen, Modernisierung des Staates, Vereine usw.) usw. Die meisten dieser Aspekte konnte er nur wie in raschen Überflügen aufzeichnen. Er kam über strukturhistorische Oberflächenbeschreibungen nicht hinaus, er setzte im wesentlichen Statistiken in Strukturbewegungen und Strukturkorrelationen um, Mentalitäten oder Handlungen interessierten ihn nicht. Aber er versuchte, eine Verknüpfung zwischen der gesellschaftlichen, der politischen und der industriellen Entwicklung herzustellen, und es gelang ihm, mit einigem Erfolg, all die Bruchstücke an einem roten Faden festzuklammern. Dieser Faden war: die Nation. Wieweit, fragte Conze gleich auf der ersten Seite, hat in der Zeit der Zersplitterung Deutschlands in Einzelstaaten die „bewußte und aktive Trägerschaft einer die Einzelstaaten übergreifenden bzw. durchdringenden deutschen Nation gereicht", und wie hat es sich aus dieser sozialgeschichtlichen Sicht mit der Abgrenzung bzw. Grenzverwischung „gegenüber nichtdeutschen Nationen oder Nationalitäten verhalten"?117) Bildung, Industriesystem, Kultur alles wurde auf diese Einheit hin befragt. Wenn es den geeinten Staat nicht gab, mußte die Sozialgeschichte, wie einst die Völksgeschichte, einspringen, um die -
"2) Schriftliche Mitteilung von Friedrich Fürstenberg vom 2. 10. 1998. 113) Vgl. die Unterlagen im Nl Maschke (HStAS J 40/10, Nr. 37, 51). i'4) Wehler an Hans Rosenberg vom 28. 4. 1964 (BAK N 1376/38). 115) Wolgast, Die neuzeitliche Geschichte im 20. Jahrhundert, S. 151. n6) Vgl. Conze, Sozialgeschichte 1800-1850; Ders., Sozialgeschichte 1850-1918. 117) Beide Zitate in Conze, Sozialgeschichte 1800-1850, S. 426.
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3. Die
Strategie
Einheit auf einer anderen Ebene zu finden. Sie kreiste das Reich ein, schnürte es zusammen und grenzte es ab. Das war das Politische der Sozialgeschichte: Sie war Geschichte als Tat. Letztlich blieb Conze bei derartigen Überblicken. Die meisten seiner Arbeiten
Aufsätze, nicht wenige nur recht vorläufige Skizzen, nirgendwo hat er seinen Ansatz umfassend vorgeführt. Er publizierte seine Vorstellungen in zahllosen Texten, einen Klassiker ähnlich Brunners „Land und Herrschaft" hat er nicht geschrieben. Conze blieb ein unermüdlicher Anreger, der politische Vorstellungen hatte, die sozialhistorisch aufzuarbeiten waren. Die Ausführung überließ er zu einem guten Teil seinen Schülern, die durch seinen methodischen Ansatz geschult wurden118) (die aber im Laufe der Zeiten und der Generationen die politischen Hintergründe zunehmend weniger übernahmen ganz so, wie Conze es bei seinem Lehrer Ipsen gemacht haben soll119)). Schon in Göttingen er war nur Lehrbeauftragter! ließ er in seiner Werkstatt nach Kräften arbeiten. Zwei Dissertationen über die Stadt Barmen hat er initiiert,120) weil ihm das konzentrierte Untersuchungsfeld einer Stadt Ende der vierziger Jahre als besonders lohnend erschien für das kritische Nachdenken über die Grundlagen und Methoden der überlieferten Geschichtswissenschaft.121) Eine weitere handelte über Osnabrück, und die Sozialforschungsstelle Dortmund hatte 1950 Conzes Anregung „zu einer empirisch-soziologischen Beispieluntersuchung einer industriellen Großstadt" (Dortmund) gerne aufgegriffen.122) Desweiteren regte er parteisoziologische oder Parlamentarismus-historische Dissertationen, eine Dissertation über die Bergarbeiterbewegung im Ruhrgebiet, eine über Stadt und Land im Räume Braunschweig, eine wahlsoziologische (im Anschluß an André Siegfrieds Arbeit) und eine Dorfmonographie an. In all diesen Qualifikationsarbeiten schwangen seine Themen mit: Frühgeschichte des Sozialismus, soziale Bewegungen, SPD und Staat, Gewerkwaren
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118) Vgl. z.B. Rosenbaum, Sozialgeschichte der Stadt Barmen zur Zeit des Kaiserreichs, Bl. 6: Conze hat ihr die Richtlinien vorgegeben und sie in die Problematik des Gegenstandes eingeführt. Sie hatte 1949 in Göttingen zu studieren angefangen, sich unter Conzes Einfluß der Sozialgeschichte zugewandt und war ihm 1952 nach Münster gefolgt (Lebenslauf, ebd., nach Bl. 412). n9) W. Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte, S. 253. •20) Köllmann, Die Entwicklung der Stadt Barmen von 1808-1870; Rosenbaum, Sozialgeschichte der Stadt Barmen zur Zeit des Kaiserreichs. Beide Dissertationen wurden unter Köllmanns Namen zur „Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert" zusammengefaßt, Rosenbaum wurde als Mitautorin nur in der Einleitung erwähnt, nicht im Titel. 121) Vgl. Conze, Vorwort (in: Köllmann, Sozialgeschichte der Stadt Barmen). In diesem Vorwort von 1960 brachte er in kürzester Form erneut sein sozialgeschichtliches Programm unter.
122) Ipsen war Leiter des Projekts, Köllmann einer der Mitarbeiter: Bericht über den Ablauf und Stand der Studien zur industriellen Großstadt, vom 9. 10. 1957 (SFSt. I 24). Bei dieser Studie, auf die ich im fünften Kapitel eingehen werde, handelt es sich um Mackensen u.a., Daseinsformen der Großstadt.
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Empirische Arbeiten
schafts- und Arbeiterbewegung, die Revolution von 1848, das deutsche Verfassungsproblem; immer sollten sie auf das Politische hinführen und das „befangene oder parteiische Schrifttum [...] revidieren".123) Der Weggang nach Münster unterbrach sein Programm, aber er beabsichtigte, es fortzuführen.124) Seit Anfang der sechziger Jahre, um vorzugreifen, setzte er seine Schüler verstärkt auf die Geschichte der Arbeiterbewegung an, ab den siebziger Jahren auf die
Familiengeschichte. Natürlich plante er,
die eine oder andere sozialhistorische Arbeit selbst
zu
schreiben, für die Reihe „Orbus academicus" der Dante-Stiftung z. B. das Buch „Mensch und Beruf in der deutschen Geschichte": „Es wird sich also stets um die Wechselwirkung von Bewußtseins- oder Willensbildung mit den sozialpolitischen und sozialökonomischen Zuständen handeln also in gewissem Sinne um eine historische Wissenssoziologie, frei von einer bestimmten Richtung oder gar Ideologie", aber ganz der Theorie Freyers folgend125) (das Buch kam nicht zustande). Für ihre Sammlung „Geschichte der politischen Ideen in Dokumenten und Darstellungen" wollte die Dante-Stiftung den sozialpolitischen Sektor ausbauen und gewann Conze als Mitherausgeber.126) Er drängte Helmut Schelsky, zu dem er guten Kontakt hatte, einen versprochenen Aufsatz über die Meinungsforschung für die VfZ tatsächlich fertigzustellen, um die Zeitschrift „in einem Sinne zu erweitem, der der notwendigen Annäherung der politischen Disziplinen dienen sollte" (Schelsky sagte ab).127) Er regte bei der „Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie" an, Günther Ipsen etwas über die Methode der Dorfforschung schreiben zu lassen (was Ipsen offenbar nicht getan hat).128) Er erteilte Hans Linde den Auftrag, Bücher zu rezensieren, für die er, Conze, die Besprechung übernommen hatte (was prompt erledigt wurde).129) Er befürwortete, als einer der „maßgebliche[n] Gutachter", mit Nachdruck Peter Rassows Antrag auf Forschungsbeihilfe für die „Quellensammlung zur deutschen Sozialpolitik 1871-1914".130) Auf diese Art brachte er sich ins Gespräch131) und wurde von anderen ins Gespräch gebracht.132) -
i23) Conze, Gutachten zur Arbeit von Max Koch, vom 2. 2. 1954 (BAK B 324/38). 124) vgl. Conze an Alfred Milatz (Parlamentarismus-Kommission) vom 21. 2. 1952, 4. 5. 1952 (BAK B 324/38).
125) Vgl. Conze, Vorläufiger Plan zu:
Mensch und Beruf in der deutschen Geschichte, vom 6. 6. 1954 (HStAD NW 25/35/34). ,26) Dante-Stiftung an das Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen vom 23. 11. 1954 (HStAD NW 25/35). i27) Conze an Schelsky vom 28. 11. 1954; Schelsky an Conze vom 3. 12. 1954 (SFSt. S/3). 128) Günter Franz an Ipsen vom 30. 9. 1954 (SFSt. 121). i») Conze an Linde vom 11. 2. 1957; Linde an Conze vom 23. 2. 1957, 28. 6. 1958 (SFSt. Schriftwechsel Linde). 30) „Derartige Untersuchungen sollten unbedingt gefördert werden", Aktenvermerke vom 1. 9. 1954 und vom 25. 2. 1955 (HStAD NW 25/56). I31) Einen Kollegen lehrte Gerhard Ritter mit Brief vom 16. 1. 1953 in dieser Beziehung Taktik: Er solle literarisch hervortreten, sich durch Vorträge in Erinnerung bringen, die per-
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3. Die
Strategie
IV Die Bedeutung von Reputation Conzes Aktivitäten in Sachen Sozialgeschichte waren vielfältig. Wo es sich anbot, bereitete er seiner Idee ein Fundament. Seine Strategie tritt so deutlich als Muster in seinen Texten zutage, daß es gerechtfertigt ist, sie derart konzentriert herauszuschälen, auch auf die Gefahr hin, daß alles gezielt erscheint, wie nach einem Generalplan entworfen und durchgezogen. Doch man durchsucht die Akten und findet nirgendwo den Plan. Wir haben seine Idee und die Handlungen, die einem Muster folgen, aber nicht den Plan, der den Weg vorgibt. Aber wozu ein Plan? Während er das wissenschaftliche Arbeiten erlernte, nahm er ganz nebenbei ein bestimmtes Weltbild auf, und genauso beiläufig, ohne daß er es durchschaute, wurde ihm ein erfolgreiches wissenschaftliches Verhalten anerzogen, also die Fähigkeit, das richtige Verhalten zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Dosierung ahnungsvoll blind an den Tag zu legen ohne daß ein derartiges Verhalten Erfolg garantierte.133) Als Conze daran ging, Sozialgeschichte durchzusetzen, „wußte" er, was zu tun, wie vorzugehen war, ohne zu wissen, was er tat. Intuitiv handelte er richtig und zugleich zielgerichtet, wenn man darunter versteht, daß er aus seiner Lebens- und Arbeitspraxis eine Leitlinie für sein Handeln destillierte, ohne tatsächlich zu wissen, auf welches Ziel er entlang seiner Leitlinie letztlich zusteuern würde. Nun reichte es nicht, daß er Gelegenheit fand, seine Ansichten zu äußern. Durch Publikation erreicht man zunächst nicht Lektüre. „[Man] erreicht Bücherschränke".134) Man muß Texte vor dieser Sackgasse bewahren und auf Schreibtische umlenken; wichtiges Mittel hierzu ist neben Konformität Reputation.135) Konformität und Reputation des Autors schaffen das Vertrauen, daß ein Text es wert ist, mit knapper Zeit für seine Lektüre zu zahlen, und daß er empirisch zuverlässig ist. Reputation ist ein Wechsel auf Wahrheit. Ein Zei-
-
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sönliche
Verbindung
zu
Kollegen
aufnehmen
(der Historikertag
in Bremen sei sehr
geeig-
net) und Bücher wie Sonderdrucke mit Begleitschreiben versenden (BAK N 1166/340).
Ähnlich einige Bemerkungen Conzes 158).
132)
in seinen Briefen
an
Rothfels (BAK N 1213/1 und
Etwa von Helmut Schelsky, als es um eine neue Zeitschrift für das Internationale InstiSozialgeschichte in Amsterdam ging: IISG an Schelsky vom 26. 5. 1955 und seine Antwort vom 16. 6. 1955 (SFSt. S/6). 133) Zu dieser Denkfigur ausführlich: Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. 134) Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 157. 135) Die folgenden Bemerkungen über die Bedeutung von Reputation für die Wissenschaft bauen zu einem guten Teil auf Luhmann, Selbststeuerung der Wissenschaft, S. 237-244, und Ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 245-251, 352-354; die über den Ort des Sprechers und das legitime Sprechen auf Foucault, Archäologie des Wissens, S. 75-82. Zur Rekrutierung des Nachwuchses: Bourdieu, Homo academicus, S. 153-166, 244-250. Daß man in der deutschen Geschichtswissenschaft seinerzeit erst als Ordinarius etwas galt, bestätigte mir Friedrich Fürstenberg im Gespräch am 5. 11. 1998. tut für
IV Die
125
Bedeutung von Reputation
chen für Reputation und Vertrauen ist der Name des Autors und das verschafft dem wissenschaftlichen Autor eine höchst merkwürdige Position. Einerseits hat er sich in wissenschaftlichen Texten maximal zu verbergen, indem er das „ich" verjagt und „den Verfasser", besser aber noch „die Arbeit" die Verfasserschaft übernehmen läßt, um der Subjektivität das Tor zu verschließen. Aber stets muß der ausgetriebene Autor doch wieder auftauchen, auf dem Titel als Name und im Klappentext in einigen Stichworten, die denjenigen, die mit dem Namen allein nichts anfangen können, Reputation signalisieren: akademischer Grad, Universität, Publikationen, Akademiemitgliedschaften, wissenschaftliche Preise. Er muß weit im Hintergrund, unscharf, aber beruhigend sichtbar stehen und gerade durch dieses unübersehbare Zurücktreten die Einhaltung der akademischen Spielregeln, d.h. Konformität signalisieren.136) Das schafft ein Anfangsvertrauen in die Arbeit und läßt ihn zu fördern vielversprechend erscheinen (sofern die wissenschaftliche Qualität stimmt). Das wiederum hebt die Chancen, „sich einen Namen zu machen" und eine Position mit hoher Reputation zu erwerben, die der Lohn für Konformität (und wissenschaftliche Leistung) ist. Konformität ist ein effektiver Mechanismus zur Komplexitätsreduktion, weil sie als Indiz dafür verwandt wird, daß ein Kollege die wissenschaftlichen Standards skrupulös einhält. Ökonomischer als Inhalte zu prüfen ist es, die Berechenbarkeit des Verhaltens immer und immer wieder zu testen, denn der Betrieb könnte nicht funktionieren, wenn er nicht in gewissem Maße Kontrolle durch Vertrauen ersetzte. ,,[E]s wird möglich, bei Unsicherheiten des Qualitätsurteils die wissenschaftskonforme Aufmachung von Personen und Publikationen zu bewerten mit der Folge einer Konzentration des Systems auf durchschnittliche Qualitäten".137) Das ist ein Grund, warum Außenseiter es in (notwendig) derart strukturierten Gemeinschaften schwer haben: Sie sind ein Risiko, weil sie Zeit erfordern, sich mit Ungewohntem und schwer Berechenbarem auseinanderzusetzen. In der Geschichtswissenschaft der fünfziger Jahre läßt sich dieser Zusammenhang gut beobachten. Bei einer Habilitation beispielsweise wurde seinerzeit nicht nur die wissenschaftliche Leistung beurteilt, sondern gleich die ganze Person, ob sie geistig „reif sei für das Verfahren, sogar, ob sie gesund genug sei selbst dem Arzt, der einen Kandidaten zu untersuchen hatte, wurde zugestanden zu erklären, ob er Einwände gegen die Teilnahme am weiteren Habili-
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,36) Erst wenn ein Autor zum Klassiker geworden ist, löst sich der Zwang zur namentlich gekennzeichneten, entpersönlichten Anonymität auf und verkehrt sich in sein Gegenteil.
Nun ist auch die letzte unbezeichnete Textstelle eines „Großen Denkers" aufzufinden und ihm zuzuordnen nicht mehr seinem Namen als Signal für Regeleinhaltung, sondern seiner Person, die nun vortreten muß, um den Textstellen kraft Persönlichkeit ihren „wahren" Wert zu verleihen, der bei kleinen Geistern oder noch-nicht-großen Denkern nur in der Textstelle selbst, gesichert durch die bezeichnete Anonymität, liegen kann. 137) Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 324. -
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3. Die
Strategie
tationsverfahren habe.138) Alles mußte stimmen. Auch in Zeiten ihres größten Ruhmes, bis hin zu ihren Nachrufen, unterliegen Wissenschaftler den Beurteilungen durch ihre Kollegen. Bei Otto Brunner hieß es noch sechs Jahre nach seinem Ruf auf den Hamburger Lehrstuhl ausdrücklich, daß der Einsatz für ihn berechtigt gewesen sei.139) Sein Meisterwerk erschien zu der Zeit in vierter Auflage, aber man faßte noch immer die Möglichkeit ins Auge, er hätte enttäuschen können. Selbst gestörte eheliche Verhältnisse eines Kollegen bereiteten Unruhe,140) dieser Beispiele könnte man noch viele anführen. Die Zunft legt es
darauf an, durch einen ausgeklügelten Verhaltenscodex berechenbares Verhalten zu erzeugen und Abweichungen zu sanktionieren. Das ist weniger hart, als es klingt, denn es waren ja die Mitglieder der Korporation, die kontrollierten und sich gleichzeitig diesen Kontrollen unterwarfen, weil sie „merkten", daß ein hohes Maß an sozialer Kohärenz ein unerläßliches Sicherungsinstrument ist, wissenschaftliche Standards zu wahren. Zudem wurde diese kaum wahrgenommene Unterwerfung durch den Erfolg belohnt: durch Reputation, die wuchs, weil man es geschafft hat, mit ihrer Hilfe die knappe Aufmerksamkeit auf die eigene Arbeit zu ziehen. Das ist die Kehrseite. Reputation befördert Rezeption, weil der permanente Informationsüberschuß, der in der Wissenschaft herrscht, zur Selektion von Informationen zwingt und dadurch ein Rezeptionsgefälle einführt, das Wissenschaftler mit Reputation bevorzugt. Man nimmt zuerst diejenigen wahr, deren Reputation qualitätsvolle Aussagen verspricht.141) Werner Conze mußte seinen Ansichten also nicht nur Gehör verschaffen, sondern sie zusätzlich durch Re-
138) Das ist also eine Verquickung von ärztlichen und wissenschaftlichen Beurteilungen, freilich nicht ganz unverständlich: Die Zunft war eine Art sozialer Vereinigung, wer einmal habilitiert war, den wurde man nicht mehr so leicht los, weil man auch eine Scheu davor hatte, die einmal Aufgenommenen loswerden zu wollen. Das Beispiel in der Personalakte Besson (UAT 131/333). 139) Erich Keyser an Hermann Aubin vom 17. 8. 1959 (BAK N 1179/12). Das Urteil fiel im Zusammenhang mit Brunners Aufstieg in das Rektorat und könnte sich auf die politischen Schwierigkeiten bezogen haben, die Brunner bei seiner Berufung nach Hamburg gehabt hatte. Hätte sich Aubins Einsatz seinerzeit weniger gelohnt, wenn Brunner nur Ordinarius, nicht aber Rektor geworden wäre? (Das Rektorat war ein Amt, über das jeder stöhnte, das aber als Gipfel der Karriere galt, entsprechend die Reputation erhöhte und von denen, die eine Chance auf dieses Amt hatten, schmerzlich vermißt wurde, wenn es an ihnen vorüberging. Theodor Schieder z.B. hatte seinerzeit alles daran gesetzt, das Kölner Rektorat übertragen zu bekommen, unter dem er anschließend litt [freundliche Mitteilung von Mathias
Beer].) 140) Vgl. Wittram an Schieder vom 12. 7. 1967 und Antwort Schieders vom 26. 7. 1967 (BAK N 1226/81). Über einen Mediävisten wurde der Verdacht geäußert, er sei wegen einer geschiedenen Ehe und folgender Neuheirat zu Unrecht bei Berufungen mehrfach Übergängen worden: Schieder an Rudolf Vierhaus vom 5. 5. 1964 (BAKN 1188/112). 141 ) Reputation immunisiert auch gegen Kritik, wenn manche Texte aufgrund der Reputation ihres Autors (oder aus Tradition) als Klassiker durch die Wissenschaft geschleppt werden, ohne daß man sie entthronen kann.
IV Die
Bedeutung von Reputation
putation mit Autorität ausstatten,
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um ihnen Geltung zu verschaffen. Er mußte sich einen Namen machen, erst dann sollten seine Aussagen keine keine beliebigen Sätze mehr sein, die man ignorieren konnte, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Durch ihren Status und ihre Bekanntheit lösten sie im Falle einer Ablehnung zunehmend Begründungszwang aus. Man mußte sich, selbst wenn man sie ablehnte, mit ihnen auseinandersetzen. Diese Entwicklung verfolgen wir im nächsten Kapitel.
4. Die
„Position des Sprechers"
Die deutsche Geschichtswissenschaft befindet sich offensichtlich mit ihrer überkommenen Historik in einer gewissen Verlegenheit gegenüber der modernen Welt, d. h. gegenüber der Geschichte seit dem Beginn der modernen Revolution.
(Werner Conze, 1956) Der entscheidende Ort in der deutschen Geschichtswissenschaft, an dem man dauerhaft wissenschaftliche Reputation erwerben und damit Argumenten und Ansätzen Geltung verschaffen konnte, war seinerzeit das Ordinariat. Wie unreflektiert selbstverständlich der Weg zum Lehrstuhl erschien, bestätigt uns Werner Conze. Hans Rothfels hatte 1954 kurz daran gedacht, ihn in Tübingen auf ein neues Extraordinariat für Geschichte zu setzen, doch so sehr diesen die Zusammenarbeit mit seinen Königsberger Kollegen Markert und Rothfels gefreut hätte zu der Zeit war er bereits in Münster zum Extraordinarius ernannt worden. Tübingen bedeute also keine Verbesserung, so Conze, sondern nur einen weiteren Umzug. Käme dann ein Ruf auf ein Ordinariat, so müßte er annehmen und wieder gehen. Aus demselben Grunde interessierte ihn Richard Nürnbergers Professur in Bonn nicht, der wiederum einen Ruf als Nachfolger Siegfried A. Kaehlers in Göttingen annehmen müsse, weil er in Bonn nur auf einem Extraordinariat sitze.1) Keiner, der in der Geschichtswissenschaft etwas galt, blieb auf Dauer Extraordinarius. Von allen, von denen man sich inhaltlich etwas versprach, erwartete man und sie erwarteten es selbst -, daß sie früher oder später Ordinarien würden.2) Geltung und Ordinariat bedingten sich gegenseitig. Diesen institutionellen Ort nannte Michel Foucault die „Position des Sprechers", weil das Amt, das ein Sprecher bekleidet, seinen Aussagen eine Autorität verleiht, die sie aus sich heraus nicht besitzen.3) Was ein Wissenschaftler äußerte, bevor er auf einen Lehrstuhl kam, nahmen die Kollegen höchstens mit einem Vertrauensvorschuß auf. Als Ordinarius dann hatte er bewiesen, daß er in der Lage war, den vorgezeichneten Karriereweg der Historiker ordnungsgemäß zu absolvieren, er hatte gezeigt, daß er sich sowohl konform verhielt wie akzeptable wissenschaftliche Qualität bot. Der Vertrauensvorschuß erwies sich als gerechtfertigt, und nun besaßen seine Aussagen nicht mehr nur eine bloß latente Geltung, sondern Geltung dadurch, daß sie an einer jener raren Positionen -
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')
Conze an Markert vom 15. 5. 1954, 25. 6. 1954 (IOGLT Ordner „Institut B-C, von Markerts Antwort auf den ersten Brief Conzes ist undatiert (IOGLT Ordner „Prof. Markert, C-G, 1.1. 1954-"). 2) In Conzes Familie soll ein starkes Standesbewußtsein geherrscht haben, so daß Conze zumindest vor 1945 nie daran gezweifelt hatte, daß er Ordinarius würde (Gespräch mit Albrecht Conze vom 4. 11. 1998). 3) Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, S. 75-82.
1954");
I Der lange
129
Weg zum Ordinariat
hafteten, mit deren Hilfe die Wissenschaft für sie relevante
von für sie irreleschied. Wer als Ordinarius sprach, mit dem setzte man sich auseinander zumindest konnte man ihn nicht mehr einfach ignorieren.4) Für unsere Geschichte ist das Entscheidende freilich nicht, daß Werner Conze 1956 Ordinarius wurde. Einen Lehrstuhl hätte er sicherlich früher oder später bekommen, das war der reguläre und zu dieser Zeit noch hochwahrscheinliche Weg. Es ist die außerordentliche Stärke seiner Sprecherposition gewesen, die für sein sozialhistorisches Projekt so bedeutsam wurde. Er erhielt einen für damalige Verhältnisse überreich ausgestatteten Lehrstuhl, leitete ein eigenes Institut und gründete den „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte", den sogenannten Emser Kreis. Ganz unerwartet hielt Conze einen Apparat in der Hand, der ihn allein durch seine Größe an die Spitze der Forschung katapultierte, denn er verlieh seinen Aussagen, seiner Wiederholungsarbeit nicht nur ein großes Gewicht in der Zunft, sondern ermöglichte es ihm, sie in großem Stile fortzusetzen und erheblich auszuweiten. Das werde ich in diesem Kapitel nachzeichnen. Dabei wird deutlich werden, wie sehr trotz bestimmter Verhaltens- und Karrieremuster der Zufall eine Rolle spielt. Nicht nur Handlungen, auch die Kontingenz darf man aus der Wissenschafts- und Ideengeschichte nicht ausschließen.
vanten
Aussagen -
I Der
lange Weg zum Ordinariat
Im Herbst 1945 war Conzes Fahrt, wie erwähnt, in Bad Essen endgültig beendet. Dort ließ sich nicht forschen, und weil nach dem „Zusammenbruch" die allgemeine Gepflogenheit außer Kraft gesetzt war, daß man sich in einer Universitätsstadt nicht blicken ließ, „wenn man dorthin berufen werden möchte oder Aussicht hat, berufen zu werden",5) so fuhr Conze in Güterzügen nach Münster, Hamburg und Kiel. Sein Besuch bei Kurt von Raumer blieb erfolglos,6) in der Hansestadt wurde sein Fall „zu den Akten Historiker' gelegt und wird dort gut ruhen", in Kiel bezeugten ihm Karl Jordan und Otto Becker „viel ,
4)
Wie immer gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Und natürlich wird dieses Prinzip, wie alle Prinzipien, durch andere Hierarchisierungsebenen durchkreuzt. Zum einen war Lehrstuhl nicht Lehrstuhl, zum andern konnte die Persönlichkeit eines Ordinarius die Geltungsmacht des Lehrstuhles, den er besetzte, reduzieren oder heben. Außerdem spielte die Generationenschichtung eine Rolle, wenn etwa ein renommierter Ordinarius, der einen angesehenen Lehrstuhl besetzte, von einer jüngeren Generation nicht mehr seinem Range entsprechend beachtet wurde wobei ihm Reputation und Lehrstuhl wenigstens bis zu seiner Emeritierung davor bewahrten, völlig ignoriert zu werden. Danach, so beobachtet man manchmal, konnte er durchaus schlagartig im Orkus des Vergessens verschwinden. 5) Theodor Mayer an Karl Bosl vom 4. 12. 1952 (StadtAKn Nl Mayer 17/109). 6) Herbert Grundmann an Theodor Schieder vom 7.11. 1945 (in: Boockmann, Die Königsberger Historiker vom Ende des 1. Weltkrieges bis zum Ende der Universität, S. 278-281). -
130
4. Die
„Position des Sprechers'
Verständnis und Hilfsbereitschaft".7) In Göttingen hatte er Glück. Schon im Oktober hatte er u. a. Siegfried A. Kaehler aufgesucht, zwei Tage vor Weihnachten 1945 teilte er dem Dekan der Philosophischen Fakultät mit, wie er sich sein Lehrangebot vorstellte, nämlich als Fortführung seines nie ausgeführten Posener Lehrauftrages für „Agrar-, Siedlungs-, Bauern- und Wirtschaftsgeschichte, sowie Geschichte der völkischen Sozialentwicklung" freilich als Grundlage für weitergehende Pläne: „Mein Hauptanliegen liegt in der Verbindung von politischer Geschichte und Soziologie, weniger im Sinne einer bloßen ,Sozial- und Wirtschaftsgeschichte' als einer Verfassungsgeschichte, die das Verhältnis von Staat, Volk und Gesellschaft umfaßt."8) Zu der Zeit war das Interesse für die Sozialwissenschaften in Deutschland nur auf einen sehr kleinen Kreis von Wissenschaftlern beschränkt.9) 1946 erhielt er einen unbesoldeten Lehrauftrag für die „Geschichte der neueren Sozialentwicklung", danach begannen die Mühseligkeiten um die Entnazifizierung, um besoldete Lehraufträge und um Stipendien und Kredite. Er verfaßte für die CIA Analysen über die Lage im Osten10) und schrieb für Günther Ipsens „Wir Ostpreußen"-Buch. Das brachte 1949/50 immerhin etwas Geld.11) Sein unbedingtes Ziel war der Wiedereinstieg in die Wissenschaft, er wollte trotz aller materiellen Nöte nicht davon lassen, und allmählich erreichte er, was er als seinen Lebensweg vorgegeben sah. Schon 1946 begrüßte die Fakultät sowohl sein Arbeitsgebiet wie seine Persönlichkeit und befürwortete seine Unterstützung mit Nachdruck. Sein Ruf begann zu wachsen. 1946 und 1947 taucht Conze in Kaehlers Briefen nur in Nebensätzen auf: ein tüchtiger Arbeiter. Herbert Grundmann erschien er nicht recht durchsichtig, aber er könne wohl etwas. Hermann Aubin kannte Conze 1946 kaum, machte jedoch positive Bemerkungen über dessen Tüchtigkeit und Anständigkeit. Doch 1948 empfahl -
7) 8)
Conze an Wittram vom 1. 11. 1945 (BAK N 1226/43). Conze an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. Göttingen vom 22. 12. 1945 (UAG Phil. Fak., Ordner 10). Auch sein zweites Spezialgebiet, die Geschichte des deutschen resp. europäischen Ostens, wollte er immer mit der allgemeinen europäischen bzw. deutschen Geschichte verbunden sehen und nicht in einem eigenen Fach isolieren. 9) Gespräch mit Friedrich Fürstenberg am 5. 11. 1998. 10) Gespräch mit Albrecht Conze vom 4. 11. 1998. ») Vgl. Conze an Wittram vom 23. 6. 1952, 30. 12. 1955 (BAK N 1226/50); Conze an Rothfels vom29. 7. 1952(BAKN 1213/46); Einladung derDGOzurTutzingerTagung vom 15.9. 1953 (BAK N 1226/27); Korrespondenz des Herder-Institutes 1950/51 mit Aubin (BAK N 1179/44-45); Schieder an Ipsen vom 8. 5. 1949, 20. 10. 1949 und die Korrespondenz Ipsens mit Conze, Schieder und Hubatsch 1949/50 (SFSt. I 37); Conze, Königsberg und die Erneuerung Preußens (noch ganz im Banne der Stadt pries er sie als Paradies der Aufklärung, in dem Humboldt seinen Geist mit der Welt des Staates verbunden habe und in dem selbst die Offiziere in den Kasernen noch mit dem Geist in Berührung gekommen seien. Von hier aus habe der Weg der Freiheit seinen Anfang genommen, das sei ein immer noch wirksamer Höhepunkt der deutsch-ostpreußischen Geschichte. Unter den gewöhnlichen Menschen seien freilich „Lauheit, Eigensucht, Feigheit, Mietlingsgeist" verbreitet gewesen
[S. 194]).
I Der lange
Weg zum Ordinariat
131
Kaehler den jungen Königsberger auf eigene Initiative wärmstens für die Vervon Johannes Kuhns Lehrstuhl in Heidelberg, und 1951, auf Anfrage Hans Herzfelds, für einen verfassungshistorischen Lehrstuhl an der FU Berlin. Die soziologischen Tendenzen Conzes erwähnte Kaehler, aber sie scheinen ihn nicht gestört zu haben.12) Im Juli 1949 bat Conze um einen Lehrauftrag für „mittlere und neuere Geschichte, mit der Verpflichtung, im besonderen die Sozialgeschichte oder historische Soziologie zu vertreten".13) Sachlich sei das geboten. Er habe zwar nicht vor, sich auf Sozialgeschichte zu spezialisieren, könne aber diese Richtung auch in Zukunft bevorzugen. Sollte diese Formulierung Vorsicht gewesen sein, um seine Positionsmarkierung gegen eventuelle Widerstände als Angebot zu kaschieren, so scheint das nicht nötig gewesen zu sein. Die Fakultät baute seine Begründung aus (sozialgeschichtliche Kenntnisse seien zum Verständnis der gegenwärtigen Lage unabdingbar, schrieb sie) und teilte dann dem Niedersächsischen Kultusminister über Conze selbst mit, er sei „einer der ganz wenigen Historiker, die eine solide Ausbildung in der Soziologie erfahren haben: er war lange Zeit Assistent von Prof. Ipsen in Königsberg. Der beantragte Lehrauftrag würde also in seinen Händen besonders gut aufgehoben sein." Conze erziele beachtliche Lehrerfolge und habe sich in der Sozial- wie der Agrargeschichte einen Namen gemacht.14) Er zählte als fester Bestandteil zur Lehre am Historischen Seminar, seine Spannweite wurde mit Neuerer Geschichte, Sozialgeschichte, Agrargeschichte und Osteuropäischer Geschichte angegeben. Im Januar 1950 vermeldete das Göttinger Tagblatt, daß die hiesige Universität ihre Kontakte zu englischen Universitäten wiederbelebe. Conze taucht auf einem Photo „als besonderer Kenner der Landwirtschafts- und Sozialgeschichte" auf, der in England mit Vertretern der Universitäten London und Liverpool wissenschaftliche Fragen besprechen konnte. Für ihn war der Aufenthalt lohnend und das pragmatische, klare Denken eine faszinierende Offenbarung gewesen,15) außerdem hatte er erste Kontakte ins Ausland zu knüpfen begonnen, nachdem er zuvor mühsam Englisch gelernt hatte. Sogar einen kleinen Kreis von Schülern begann er bereits aufzubauen, die er auf Stadt- oder parteisoziologische Probleme ansetzte, etwa Wolfgang Köllmann oder Max Koch. Für einen jungen, vor allem noch institutionell ungefe-
tretung
12) Wolfram Fischer (schriftliche Mitteilung vom 9. 7. 1997) hatte in den fünfziger Jahren den Eindruck gewonnen, daß Kaehler seines Humboldt-Buches wegen sozialhistorischen Fragen gegenüber aufgeschlossen war. Gisela Conze (Gespräch am 21. 10. 2000) beschrieb Conzes Verhältnis zu Kaehler als sehr gut. Vgl. dagegen aber Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 113f„ der, gestützt auf Wolfgang Zorn und Wolfgang Köllmann, berichtet, daß Kaehler Conzes sozialgeschichtliche Aktivitäten nicht sonderlich geschätzt und ihm Schwierigkeiten bereitet habe. Auch Albrecht Conze (Gespräch am 20. 11. 1998) erwähnte Reibereien Conzes mit Kaehler. 13) Conze an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. Göttingen vom 18. 7. 1949 (UAG Phil. Fak., Ordner 10). 14) Dekan Kellermann vom 12. 8. 1949 (UAG Rek. PA Conze). 15) Gespräch mit Albrecht Conze am 4. 11. 1998.
132
4. Die
„Position des Sprechers'
stigten Lehrer war er recht beliebt und hatte verhältnismäßig viele Doktoranden, was ebenso an seiner Bereitschaft, auf Schüler einzugehen, an seinen neuen Ideen wie seiner Nähe zur Soziologie16) gelegen haben soll. Zudem betrachteten jüngere Studierende ihn, der wie viele von ihnen im Krieg gekämpft hatte und nicht die übliche professorale Distanz Studenten gegenüber zeigte, als einen der ihren. Auch das zog sie an, so daß er schon 1951, wie einer der „Alten", von „seinem Nachwuchs" sprechen konnte.17) 1951 bot man ihm dann an, den erkrankten Kurt von Raumer in Münster zu vertreten. Geschah das auf Vorschlag Schieders?18) Hat ein geselliges Beisammensein der alten „Königsberger" Ende April 1951 in Dortmund etwas mit Conzes Weggang nach Münster zu tun? Außer dem Hinweis, daß dieses Treffen stattfand und daß Conze mit Ipsen allein sprechen durfte -, wird uns leider nichts weiteres berichtet.19) Die Tatsache, daß zwei ehemalige Königsberger Ordinarien, Herbert Grundmann und Kurt von Raumer, an der Westfälischen Landesuniversität saßen, legt aber die Vermutung nahe, daß das Netzwerk arbeitete. Von Raumer war Jahrgang 1900, übernahm 1935 eine Professur am Herder-Institut in Riga (dort traf er Reinhard Wittram), besetzte 1939 in Königsberg den ehemaligen Lehrstuhl von Hans Rothfels als Kollege Grundmanns -, nahm Theodor Schieders Habilitation an und wechselte 1942 nach Münster. Politisch hatte er sich erheblich diskreditiert, und daß er im Geruch stand, einen Kollegen denunziert zu haben, machte ihn nicht beliebter. Deshalb erstaunte seine Wiederverwendung nach 1945 nicht wenige.20) Von Raumer -
-
16) Vgl. Horkheimer, Survey of the Social Sciences in Western Germany, S. 7, 62 (auf S. 99f. wird Conzes VSWG-Aufsatz „Die Wirkungen der liberalen Agrarreformen auf die Volksordnung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert" von 1949 genannt); Wilhelm Brepohl an Conze vom 2. 10. 1950 und Conzes Antwort vom 11. 10. 1950 (SFSt. B 1171); Conze an Ipsen vom 2. 6. 1952, 3. 6. 1952, 9. 6. 1952, 18. 6. 1952; Ipsen an Conze vom 7. 6. 1952 (SFSt. I 7). 17) Gespräche mit Wolfram Fischer vom 29. 9. 1997 und Johannes Erger am 28. 9. 2000. Vgl. auch Conze, Vorwort (in: Köllmann, Sozialgeschichte der Stadt Barmen); Conze an Ipsen vom 2. 12. 1951 (SFSt. I 7). Zu Conzes Göttinger Zeit: UAG Rek. PA Conze; UAG Phil. Fak., Ordner 10; Kaehler an Rothfels vom 7. 4. 1946, S. 5, April 1948 (?) (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,144c); Aubin an Kaehler vom 2. 2. 1946; Kaehler an Aubin vom 16. 7. 1946 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,6b); Kaehler an Hans Herzfeld vom 18.4. 1951, 30.8. 1951; Herzfeld an Kaehler vom 8.8. 1951 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,66); Conze an Kaehler vom 3. 10. 1950, 28. 12. 1952 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,27); Grundmann an Bruno Schumacher vom 17. 11. 1946 (UAL Nl Grundmann 100/11); Kaehler an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. Heidelberg vom 3. 11. 1948 (UAH H-IV-568/1); Conze an Wittram vom 25. 12. 1949 (BAK N 1226/47); Gespräch mit Albrecht Conze am 4. 11. 1998. 18) Vgl. Grundmann an Schieder vom 13. 1. 1951 (BAK N 1188/369). 19) Conze an Werner Markert vom 24. 4. 1951 (IOGLT Ordner „Br-C, bis 31. 3. 1956"). 20) Stadelmann an Grundmann vom 8. 12. 1945 (UAL Nl Grundmann 100/12). Über von Raumers Wiederverwendung wunderte sich u.a. Peter Rassow in einem Brief an Grundmann vom 21. 1. 1946 (BAK N 1228/171). Grundmann blieb von Raumer treu und entschuldigte ihn mit dem Zeitenlauf: Jedes Jahrzehnt in von Raumers Leben ein Umbruch da -
-
I Der lange Weg
zum
133
Ordinariat
leistete seinen Kollegen auf dem Münchener Historikertag 1949 freilich Abbitte,21) und 1950 schrieb er dezidiert, daß die Historiker politisch sehr lange schweigen und in aller Stille reifen sollten, um den gänzlich verspielten Kredit wiedergewinnen zu können. Das weitverbreitete Vergessen schien ihm nicht
die beste Voraussetzung dafür. Deshalb auch lehnte er die Mitarbeit an der „Politischen Literatur" ab, weil gerade diese Zeitschrift die Gefahr berge, daß man erneut blind den Forderungen der Zeit hinterherlaufe und verlockt sei, sich wiederum „gerade die Rolle zuzumessen, auf die wir, mehr als auf jede andere, z.Z. verzichten müßten." Von Raumer war auf alle Fälle entschlossen, das, was am „Dritten Reich" Schuld gehabt hatte, „durch keine Türe mehr hereinzulassen",22) und erbittert zeigte er sich über die „nichts gelernt habende Mache sogenannter .Ostforschung'" Aubin'scher Prägung.23) Mit Reinhard Wittram, Theodor Schieder, Otto Brunner, Erich Maschke und Werner Conze pflegte er freundlichen bis vertraulichen Umgang,24) besonders für Werner Conzes Pläne sollte er sich von Bedeutung erweisen. Die Vertretung war der Münsteraner Fakultät von Grundmann im Einvernehmen mit von Raumer vorgeschlagen worden, weil Conze besonders geeignet sei. Als von Raumer zurückkehrte, wollte man Conze zur Ergänzung des Lehrprogrammes dennoch behalten. Die Philosophische Fakultät stellte schon Ende August 1951 einen Antrag auf eine Diätendozentur für ihn, mit der Begründung, daß die neuere Geschichte, besonders die neueste Geschichte der letzten 50 Jahre, zu schwach vertreten sei. Druck von amerikanischer Seite wird in dem Schreiben angedeutet und auf die Bedeutung der neuesten Geschichte für die politische Bildung der Studierenden aller Fächer hingewiesen. Auf der zweiten Seite ihres Briefes sah die Fakultät sich in der glücklichen Lage, dem Kultusministerium den geeigneten Mann zur Beseitigung des Mangels zu präsentieren: Werner Conze. Dem Brief zufolge scheint er sich in wenigen Monaten zahlreiche Meriten in der Lehre erworben zu haben, an der Universität wie an der Volkshochschule. Es klingt an, daß er das seiner zeitgeschichtlichen Arbeit, dem Gegenwartsbezug seiner Arbeit und seinen Kenntnissen in der Ostgeschichte verdankte. Außerdem wurde sein damals noch -
er nicht der einzige gewesen, der sich im Zeitenwandel mitgewendet habe (Grundmann Hans Schaefer vom 11. 5. 1948 [UAL Nl Grundmann 100/11]; vgl. auch das Ms. von Grundmanns Rede zu von Raumers 60. Geburtstag [UAL Nl Grundmann 100/10]). 21) Percy Ernst Schramm an Hans Rothfels vom 13. 4. 1966 (BAK N 1213/169). 22) Beide Zitate in einem Brief von Raumers an Reinhard Wittram vom 23. 8. 1950 (BAK N
sei an
1226/48).
23) Von Raumer an Reinhard Wittram vom 9. 4. 1953 (BAK N 1226/53). 24) Vgl. die Briefwechsel von Raumers mit den Genannten in den Nachlässen von Raumers
(ULBMs Nl von Raumer), Wittrams (BAK N 1226/52-54) und Maschkes (HStAS J 40/10 Nr. 59, 61). Schieder hatte in der FAZ vom 24. 11. 1982 einen Nachruf auf von Raumer geschrieben und ihm sein Buch „Geschichte als Wissenschaft" zum 65. Geburtstag gewidmet: „Zum 15. Dezember 1965 im Gedenken an die gemeinsamen Königsberger Jahre" (Schieder, Geschichte als Wissenschaft, Vorsatzblatt).
134
4. Die „Position des
Sprechers"
ausstehender Eröffnungsvortrag auf der „Arbeitswoche für Geschichtslehrer an höheren Schulen über Sozialgeschichte" erwähnt, und auf all diese Vorzüge Conzes wollte man in Münster nicht verzichten.25) Die Bewilligung der Diätendozentur wurde rasch in Aussicht gestellt, etwas länger dauerte es mit der faktischen Übertragung an Conze selbst, sehr viel rascher ging ein weiterer Antrag der Fakultät an den Kultusminister. Otto Vbssler nämlich hatte Herbert Grundmann geschrieben, daß seine Frankfurter Fakultät Conze für ein planmäßiges Extraordinariat für Historische Hilfswissenschaften in Betracht ziehe (die Bezeichnung sei sehr dehnbar) und wünschte Informationen über ihn. Grundmann lieferte sie und bemerkte, daß Conze die Zeit nach 1914 aus intensiver Forschungsarbeit kenne, „ohne dabei politisch pro oder contra befangen oder belastet zu sein, und daß seine soziologisch-wirtschaftshistorischen Interessen nicht von irgend einer Theorie bestimmt, sondern aus seinen agrar- und siedlungsgeschichtlichen Arbeiten (bes. über Osteuropa) erwachsen sind."26) Ein Ruf aus Frankfurt käme in Münster nicht ungelegen, denn man würde ihn als Hebel benutzen, um Conzes Position auszubauen. Verlieren wollten sie ihn auf keinen Fall. Grundmann verwies Vossler für ein Fachgutachten an Schieder, der Conze wohl am besten kenne.27) Schieder war sehr glücklich, so berichtete er ihrem gemeinsamen Mentor Rothfels, daß die Dinge für Conze in Münster allmählich in Ordnung zu kommen schienen und durch die Frankfurter Geschichte offenbar beschleunigt werden könnten. Er schrieb Vbssler ein eingehendes Gutachten, in dem er Conzes wissenschaftliches Leben in der literarischen Form eines Entwicklungsromans schilderte.28) Die Münsteraner baten unterdessen im November 1951 ihren Kultusminister, die zugesagte und noch nicht erteilte Diätendozentur in ein außerplanmäßiges Extraordinariat zu verwandeln die Anfrage Vbsslers deuteten sie ihrem Minister als Absicht der Frankfurter, Conze für die Besetzung ihrer Professur vorzuschlagen.29) Um eine imposante Begründung war man nicht verlegen. Der -
-
25) Vgl.
Conze an die Dekane der Phil. Fak. und der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fak. der Univ. Göttingen vom 16. 4. 1951; Conze an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. Göttingen vom 1. 10. 1951; der Kurator der Univ. Göttingen an Conze vom 19. 5. 1951 (UAG Rek. PA Conze); Grundmann an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. Münster vom 12. 3. 1951; Phil. Fak. der Univ. Münster an den Kultusminister von Nordrhein-Westfalen vom 27. 8. 1951 (UAMs Phil. Fak., Pers.-Akt. Nr. 15); Grundmann an den Kultusminister von Nordrhein-Westfalen vom 7. 8. 1951 (UAH PA Conze). 26) Grundmann an Vossler vom 18. 11. 1951 (UAL Nl Grundmann 100/3). 27) Vgl. Vossler an Grundmann vom 12. 11. 1951 ; dessen Antwort vom 18. 11. 1951 (UAL Nl Grundmann 100/3). 28) Vgl. Schieder an Rothfels vom 31. 12. 1951 (BAK N 1188/5). Schieders Gutachten datiert vom 27. 12. 1951 (UAF Akten der Phil. Fak.). 29) Dieses Schauspiel inszenieren jedenfalls die Akten für den Leser. Die geschickte Formulierung der Münsteraner ließ im Unklaren, daß es zunächst nicht um die Besetzung der Professur, sondern um die Plazierung auf der Liste ging. Und da kam Conze schließlich auf den zweiten Platz (Berufungsliste vom 4. 7. 1952 [UAF Akten des Kurators]). Oder war immer klar gewesen, daß der Erstplazierte, Walter Kienast, wegen seiner politischen Vergan-
I Der lange
Weg zum Ordinariat
135
Frankfurter Ruf bestätige Conzes
Bedeutung, und durch seine Verbindung von zeitgeschichtlicher Forschung, soziologischer Orientierung und der Kenntnis der historischen Probleme Osteuropas sei er bestens gerüstet, historiographische Expeditionen in die gegenwärtige Situation Deutschlands, Europas und der Welt zu unternehmen, mit den gewonnenen Erkenntnissen zur politischen
Bildung der Studierenden, Geschichtslehrer und Vblkshochschulteilnehmer beizutragen und das Fehlen der Lehrstühle für politische Wissenschaften, Soziologie und osteuropäische Geschichte auszugleichen. Eine gewaltige Aufgabe, und jetzt, wo man es deutlicher als zuvor geschrieben sieht, merkt man, daß genau das bereits im Antrag vom August mitgeschwungen hatte: Es ging nur in zweiter Linie um Sozialgeschichte, in erster Linie aber dämm, was Conzes historiographischer Ansatz politisch zu erreichen in der Lage sein könnte
das war der Grund, warum Münster sich so sehr um ihn bemühte und noch bemühen sollte (er selbst hatte übrigens nach drei Semestern Zeitgeschichte genug von diesem Thema30)). Zum 1. 10. 1952 wurde Conze schließlich in eine Diätendozentur für Neueste Geschichte eingewiesen.31) In Münster fühlte er sich wohl und wollte am liebsten bleiben, das geistige Klima zog ihn an.32) Er hielt mit Paul Egon Hübinger ein Hauptseminar über Jean Bodin33) welches er kurz darauf, verknüpft mit Otto Brunners Sicht auf die alteuropäische Gesellschaft, für seinen Aufsatz über die Strukturgeschichte verwertete34) -, gab Vorlesungen und Seminare, die, abgesehen von einer zweisemestrigen Vorlesung zur Geschichte der USA und einem Schwerpunkt in der Zeitgeschichte, genau seinem Programm einer Geschichte der industriellen Gesellschaft entsprachen.35) 1952 hatte seine Bewerbung auf eine Gastprofessur in den USA Erfolg doch er lehnte sie ab, weil ihm die Bedingungen nicht günstig schienen und er keine Lust hatte, „ein Jahr in einem College europäische Geschichte in den üblichen .Kursen' zu traktieren."36) Ein Stipendium des „Ausschusses für Amerikastudien an deutschen Universitäten" ver-
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-
genheit keine Chance hatte, so daß der zweitplazierte Conze faktisch stets der Erstplazierte gewesen war?
30) Conze an Wittram vom 19. 10. 1952 (BAK N 1226/52). 31) Vgl. die umfangreichen Unterlagen in Sachen Conzes im UAMs (Neue Univ. [Pressestelle] Pers.-Akt.
Bd.
Nr. 605; Phil.
Fak., Pers.-Akt.
Nr. 15; Phil. Fak., Dienst-Akt. Nr. GB
11,
4).
32) Vgl. Conze an Wittram vom 25.
12. 1952 (BAK N 1226/52); Conze an Aubin vom 6. 3. 1952 (BAK N 1179/27). Am 25. 6. 1954 schrieb er an Werner Markert: „Allgemein können wir beide doch froh sein, daß wir dem alten Göttingen entronnen sind, das in der Entfernung für mich immer mehr an Reiz verliert." (IOGLT Ordner „Institut B-C, von 1954 bis ..."). 33) Conze an Wittram vom 25. 12. 1952 (BAK N 1226/52). 34) Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, S. 8. 35) Vgl. Universität Münster, Vorlesungsverzeichnis, Sommersemester 1951 bis Wintersemester 1956/57. 36) Conze an Ipsen vom 18. 6. 1952 (SFSt. 17).
136
4. Die
„Position des Sprechers"
pflichtete ihn zu den erwähnten Veranstaltungen über amerikanische Geschichte,37) die wiederum verwandelten sich zu Haben-Einträgen auf den Kontoauszügen, die die Fakultät mit ihren Anträgen um Verbesserung seiner Position regelmäßig an den Kultusminister einsandte.
Es scheint Conze in Münster recht gut gegangen zu sein. Der materielle Druck ließ allmählich nach, und er war durch eine Reihe wohlwollender Kollegen auf das Karussell der Lehrstuhlbesetzungen, „auf de[m] das Leben der Universitäten weithin ruht",38) aufgenommen worden. Kaehler hatte schon Anfang 1952 gesagt: „Er gehört zu den berechtigten Anwärtern auf die freiwerdenden Ordinariate".39) Für einen Lehrstuhl für Verfassungsgeschichte an der Freien Universität Berlin sah Gerhard Ritter 1951 keine Anwärter allerersten Ranges. Von Conze wußte er immerhin zu berichten, daß er gerühmt werde. Hermann Aubin erwähnte ihn 1953 gegenüber der TU Braunschweig als Kandidaten für ein persönliches Ordinariat, in Bonn warf er auf Anfrage Conzes Namen für ein Extraordinariat für Osteuropäische Geschichte in die Runde. In Kiel ging es 1954 um eine k.w.-Professur für Ostforschung, auch hier hob Aubin Conzes Doppelausbildung als Historiker und Soziologe sowie seine Bedeutung für die Sozialgeschichte hervor. Hans Raupach überlegte im selben Jahr, ob er Conze für ein persönliches Ordinariat an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven interessieren könne, da sie ja für Universitätsprofessoren allmählich salonfähig werde (statt als Endbahnhof für die Karrierefahrt zu gelten). Und schon 1953 war Conze ebenfalls in Kiel zum ersten Mal für ein richtiges Ordinariat im Gespräch gewesen, für die Nachfolge Otto Beckers. Dort handelte man Conze hoch. Rothfels, Schieder, Ludwig Dehio und Kaehler zählten den Kielern die imponierende Bandbreite seiner Forschungsfelder auf und erwähnten, auch das sprach für ihn, die Fähigkeit seiner Doktoranden. Er habe Schule gemacht. Doch letztlich ging auch dieser Kelch, wie Conze meinte, an ihm vorüber.40) -
-
37) Vgl. Conze an den Kurator der Universität Münster vom 22. 12. 1952; Aktennotiz über am 3. 2. 1953 geführtes Telefongespräch zwischen dem Amerikanischen Hochkommis-
ein
sar und dem Auslandskomitee der Universität Münster (UAMs Phil. Fak., Pers.-Akt. Nr. 15); Conze an Rothfels vom 23. 6. 1952 (BAK N 1213/46); Conze an Ipsen vom 18. 6. 1952 (SFSt. I 7). 38) Von Raumer an Wittram vom 27. 8. 1959 (BAK N 1226/63). Von Raumer beklagte sich, daß Mittfünfziger ungern berufen würden. Man verkenne die Bedeutung des „Ausschwingens", der Berufung in hohem Alter, das noch einmal große Kräfte auslösen könne. Das bezog sich auf einen Ruf an Erich Maschke, dem zwar die Münsteraner eine Chance gegeben hatten, nicht aber ihr Kultusminister. 39) Kaehler an Aubin vom 10. 4. 1952 (BAK N 1179/10). 40) Vgl. Aubin an die TU Braunschweig vom 27. 10. 1953 (BAK N 1179/10); Aubin an Richard Nürnberger vom 5. 3. 1953 (BAK N 1179/16); Aubin an das Kultusministerium von Schleswig-Holstein vom 6. 3. 1954 (BAK N 1179/49); Raupach an Werner Markert vom 25. 7. 1954 (IOGLT Ordner „Prof. Markert, L-R, 1. 1. 1954-"); Rothfels an den Prodekan der Phil. Fak. der Univ. Kiel vom 10. 3. 1953; Schieder an den Prodekan der Phil. Fak. der Univ. Kiel vom 31. 3. 1953; Ludwig Dehio vom 13. 4. 1953; Siegfried A. Kaehler vom Mai
I Der
lange Weg zum Ordinariat
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Von all diesen Vorgängen taucht in den Münsteraner Akten nichts auf, sie stellten keine konkrete Bedrohung für die Fakultät dar und waren keine Pfunde, mit denen Conze konkret wuchern konnte. Sie zeigen nur, daß er nicht schlecht im Rennen lag.41) Doch dann kam ein Alarmsignal aus Berlin. Conze war Kandidat für ein Ordinariat an der Technischen Universität Berlin, als Nachfolger Alfred Hermanns, des Leiters der Parlamentarismus-Kommission und dortigen Kollegen Conzes. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob Conze annehmen müsse, aus denselben Gründen wie kurz zuvor in Frankfurt: aus finanziellen. Bei einer Familie mit vier Kindern habe er wohl keine Wahl, hatte es damals geheißen. Er wollte aber nicht. Münster legte sich ins Zeug und forderte vom Minister, Conze nunmehr zum k.w.-Extraordinarius zu machen, so daß er sich gegen den Weggang entscheiden könne. Es gelang. Münster blieb, wie von Conze erhofft, konkurrenzfähig, indem ihm ein „überbezahltes planmäßiges Extraordinariat fest zugesagt"42) werden konnte. Hermann verstand: „C. wartet natürlich mit Recht darauf, daß bei der im nächsten halben Jahrzehnt zu erwartenden Neubesetzung von Ordinariaten in der Bundesrepublik auch er zum Zuge kommt, und ich begreife, daß er die Lehrtätigkeit an einer Universität mit allen ihren Möglichkeiten vorzieht und dafür vorübergehende schlechtere materielle Bedingungen in Kauf nimmt."43) Mancherlei Forschungspläne begannen in Conzes Kopf aufzutauchen, seine Position wurde immer stärker. Doch erst im Frühjahr 1955 war es soweit. Mit 45 Jahren wurde er zum 1. April zum außerordentlichen Professor ernannt und schlug bei den Berufungsvereinbarungen soviel heraus, wie ihm möglich schien (ein Sondergehalt, eine Kolleggeldgarantie von 3000 DM und Büchergeld in Höhe von 5000 DM).44)
1953; Peter Rassow an den Prodekan der Phil. Fak. der Univ. Kiel vom 22. 5. 1953; SonderKarl Jordans, vermutlich vom Juli 1953; Oswald Hauser, Vorschlag zur Besetzung des ordentlichen Lehrstuhls für Neuere Geschichte vom 25. 7. 1953; Alexander Scharff, Zusatzvotum vom 24. 7. 1953; Berufungsvorschlag zur Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Neuere Geschichte vom 27. 7. 1953; Otto Becker, Sondervotum vom 28. 8. 1953 (APFK Berufungslisten „Nachfolge Neuere Geschichte"); Phil. Fak. der Univ. Kiel an Gerhard Ritter vom 7. 3. 1953 (BAK N 1166/340); Alfred Heuß an Peter Rassow vom 26. 7. 1953 (BAK N 1228/190); A.W. Fehling an Rothfels vom 10. 8. 1953 (BAK N 1213/158); Conze an Rothfels vom 18. 10. 1953 (BAK N 1213/1); Conze an Wittram vom 18. 12. 1953 (BAK N 1226/53). 41 ) Allerdings handelte es sich, außer in Kiel, nirgendwo um ein Ordinariat. Conze wirkte sehr lange jünglinghaft und weniger gestanden als etwa Karl Dietrich Erdmann, was letztlich bei persönlichen Vorstellungen eine wichtige Rolle spielte (Gespräch mit Wolfram Fischer vom 29. 9. 1997). Das könnte seine Karriere verzögert und ihm zunächst nur den Nevotum
benpfad der Extraordinariate oder Ordinariate an Technischen Hochschulen eröffnet haben. 42) Hermann an Schieder vom 8. 1. 1954 (BAK N 1188/226). 43) Ebd. Schieder hatte am 21. 11.1953 an Hermann geschrieben (BAKN 1188/226), daß er daran denke, Conze auf einen beantragten Osteuropa-Lehrstuhl in Köln zu setzen (der Vorschlag kam von Rothfels: Rothfels an Schieder vom 26. 9. 1953 [BAK N 1188/5]), und daß Conze, folge Rothfels einem Ruf nach Göttingen, als einziger habilitierter Schüler Rothfels' (sie) in Tübingen sicher gewisse Aussichten habe. u) Vgl. Dekanat der Phil. Fak. der Univ. Münster an das Kultusministerium von Nordrhein-
138
4. Die „Position des
Sprechers"
Am 11.2. 1955 bereits war er von seinen Kollegen in die „innere Fakultät" aufgenommen worden, die immer „die Fakultät" geheißen wurde, und schlagartig, d.h. von einem Sitzungsprotokoll der Fakultät zum nächsten, verwandelte sich Conzes Rolle. Vorher war er das Objekt gewesen, über das die Fakultät wohlwollend beriet, nun gehörte er selbst dem engsten Führungszirkel der Fakultät an und redete im Stil der Alten über die Jungen und die Belange der übrigen Fakultät. Vorher war er der Doktorvater, jetzt durfte er über Habilitanden urteilen und Privatdozenten küren helfen.45) Außerdem wurde im Jahr darauf die Nachricht im Protokoll der Fakultät verzeichnet, daß ein weiterer Ruf Conzes in Aussicht stünde es war der Ruf, der ihn nach vielem Hin und Her auf eine damals unvergleichlich ausgestattete Position bringen sollte, auf das Ordinariat in Heidelberg. Diese Geschichte beginnt 1948 in Heidelberg, als der Lehrstuhl für Neuere Geschichte neu besetzt werden mußte. Der vorherige Inhaber, Willy Andreas, war 1946 aus politischen Gründen entlassen worden, und es zeichnete sich ab, daß er zu den wenigen gehören werde, die nicht zurückkehren würden. 1948 schon hatte Siegfried A. Kaehler Conze für eine Vertretung des Lehrstuhls vorgeschlagen, doch wurde damals der recht betagte Johannes Kühn berufen. 1954 rückte dessen Emeritierung näher und man bildete eine Berufungskommission. Hans Schaefer, ein ehemals Breslauer Althistoriker, der guten Kontakt zu Herbert Grundmann hatte, setzte sich sehr für die Belange des neuhistorischen Lehrstuhls ein; Johannes Kühn entwarf eine erste Wunschliste, auf der, nach vielen Aussonderungen, auch Werner Conze in der engeren Auswahl auftauchte. Innerhalb eines Monats, am 1.2. 1955, hatte die Fakultät dann eine quasi Zweierliste herausgeschält. An erster Stelle stand Otto Vbssler, an zweiter Conze. Auf dem dritten Platz bot man deutlich uninteressiert als Möglichkeit Karl Dietrich Erdmann, Schieder und Wittram an. So erfreulich die Plazierung für Conze auch war, von der zumindest offiziell die Münsteraner Fakultät nichts wußte es war ein wackeliger Platz. Der Senat der Universität Heidelberg lehnte die Liste ab. Vbssler habe schon einmal abgesagt, Conzes Vorlesungen seien langweilig, sein Lehrerfolg fraglich. Der Senat wollte „[ljieber eine spätere als eine schlechtere Besetzung."46) Die Liste ging zurück, die Fakultät war verärgert. Hans Schaefer wollte Conze berufen und drängte auf eine rasche -
-
Westfalen vom 22. 5.1954; Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen an das Bundesinnenministerium vom 13. 7. 1954 (HStAD NW 178/1365); Conze an Wittram vom 18. 12. 1953 (BAK N 1226/53), 19. 12. 1954; von Raumer an Wittram vom 23. 12. 1954 (BAK N 1226/54); Hermann an Schieder vom 20. 10. 1953, 28. 11. 1953, 8. 1. 1954 (BAK N 1188/226); Brunner an von Raumer vom 10. 1. 1954 (ULBMs Nl von Raumer B 37); Conze an Schieder vom 16.9. 1954, 20. 2. 1955 (BAK N 1188/4); Conze an Ipsen vom 1. 3. 1955 (SFSt. I 7); außerdem die Unterlagen im UAMs (wie Anm. 31). 45) Vgl. die Protokolle der Fakultätssitzungen 1951-1956 (UAMs Phil. Fak., Dienst-Akt. Nr. GB 11, Bd. 4; dito, Bd. 5). 46) Auszug aus dem Protokoll der Fakultätssitzung vom 2. 3. 1955 (UAH H-IV-568/1).
I Der lange
Weg zum Ordinariat
139
Besetzung des Lehrstuhls.
Die Angelegenheit zog sich freilich bis weit in das nächste Jahr hinein. Vbsslers zögerte, und in Baden begann man, die „Heidelberger Tüte"47) für ihn zu füllen wie es ihnen nur möglich war. Er blieb in Frankfurt. Im Juni 1956 sah die Lage für die Heidelberger plötzlich schlecht aus. Sie hatten schon ein Jahr zuvor notiert: „Conze soll in Münster unter allen Umständen gehalten und dort zum Ordinarius unter Bewilligung des Höchstgehaltes und einer hohen Garantie befördert werden."48) Auf keinen Fall wollten sie die Liste scheitern lassen, aber ihre Verhandlungsposition war inzwischen denkbar schwach. Conze sei nur noch mit Angeboten, die ein Äquivalent zu Münster bieten könnten, zu gewinnen.49) Dort hatte kurz zuvor die Fakultät den konkret werdenden Ruf nach Heidelberg in den Akten vermerkt und sofort einen Antrag an den Kultusminister beschlossen, Conze zum persönlichen Ordinarius zu ernennen. Ihm müsse zur möglichen Heidelberger Stelle ein Äquivalent geboten werden, zumindest ein persönliches Ordinariat als Zwischenlösung auf dem Wege zu einem Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Politische Wissenschaften, um ihn damit endgültig halten zu können. Die Kollegen holten die alten Begründungen hervor, legten diesmal aber besonders viel Nachdruck auf Conzes Bedeutung für die politische Bildung der Studierenden; auch der Wert seiner Tätigkeit für das Ruhrgebiet wurde en passant eingebaut. Ganz sicher waren sie freilich nicht mehr, daß sie ihn ewig würden binden können, denn ihre Formulierungen verraten, daß sie sich auf eine Zeit nach Conze einzurichten begannen, zumal er weiterhin für andere Professuren gehandelt wurde: Parallel zum Heidelberger Verfahren faßte Vbssler ihn für ein mögliches Extraordinariat in Frankfurt ins Auge, Gerhard Ritter wiederum teilte Vbssler mit, daß Conze auf der Liste für seine, Ritters, Nachfolge in Freiburg stehe, „wenn auch natürlich nicht an erster Stelle" (er stand an dritter). Hans Proesler erwähnte ihn als Spitzenkandidaten auf der Nachfolgeliste für seinen Erlanger Lehrstuhl, ohne aber, wegen Heidelberg, ernsthaft mit ihm zu rechnen.50) In Münster hatte das Verhältnis zwischen Fakultät und Conze im Laufe der Zeit die Züge einer Symbiose angenommen. Er war mit ihrer Hilfe allmählich Professor geworden, sie hatte durch ihn aus dem Nichts eine neue Stelle aufgebaut. Nun mußte sich die Fakultät allerdings beeilen, seine k.w.-Stelle von seiner Person zu lösen und in eine feste Stelle umzuwandeln: „Soll im Falle seines Weggangs die so glücklich eingeleitete Pflege dieses Faches [der neuesten Ge-
47) 48) 49)
Hans Georg Gadamer an Otto Vossler vom 7. 6. 1956 (UAH H-IV-568/1). Aktennotiz vom 16. 6. 1955 (UAH H-IV-568/1). Das Vorhergehende erschließt sich aus der Heidelberger Berufungsakte (UAH H-IV-568/1), den Protokollen der Fakultätssitzungen (UAH H-IV-201/6) und denen des Engeren Senats (UAH B 1266/7). 50) Vgl. Vossler an Ritter vom 15. 2. 1956; Ritter an Vossler vom 21. 2. 1956 (BAK N 1166/345); Vorschlagsliste zur Nachfolge Gerhard Ritters, o.D., S. 3 (BAK N 1166/454); Proesler an Aubin vom 28. 10. 1956 (BAK N 1179/17).
140
4. Die „Position des
Sprechers"
schichte] an unserer Fakultät wieder eingehen?"51) Der Kultusminister zeigte ein weit geöffnetes Ohr. Zum 30. 7. 1956 ernannte er Conze zum persönlichen Ordinarius, der k.w.-Vermerk wurde gestrichen, und selbst Conzes Bemühungen um eine sozialgeschichtliche Forschungsstelle unterstützte er diese Forschungsstelle sollte sich zu einem der wesentlichen Verhandlungsgegenstände in Düsseldorf wie in Stuttgart entwickeln. Conze hatte nämlich seit längerem versucht, an der Universität Münster eine solche Forschungsstelle einzurichten, das war aber gescheitert. In Dortmund allerdings gab es die „Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Sitz Dortmund", eines der wichtigsten Sozialforschungsinstitute der jungen Bundesrepublik. Deren dahinsiechender sozialgeschichtlicher Abteilung wollte Conze mit Geldern des Kultusministeriums nun neues Leben einflößen.52) Die sozialgeschichtliche Abteilung war schon zur Gründungszeit der Sozialforschungsstelle um 1946 im Gespräch gewesen, besonders der Kölner Wirtschaftshistoriker Bruno Kuske hatte sich für sie eingesetzt.53) Sozialgeschichte, so meinten die Sozialforscher, sei ein wichtiger Teil ihrer Arbeit, sie helfe, die soziale Realität der Gesellschaft zu erkennen. Kurz darauf kam die Abteilung zustande, aber nicht richtig in Gang. Die großen sozialwissenschaftlichen Forschungsaufträge, mit denen das Institut gegen Ende der vierziger Jahre seinen Aufschwung einleitete, hatten Vorrang; Kuske war unzufrieden. Sein Nachfolger als Abteilungsleiter, Carl Jantke, war hauptsächlich mit einer soziologischen Studie über Bergarbeiter beschäftigt, 1953 wurde er auf eine Professur nach Hamburg berufen. Er schlug seinerseits mögliche Nachfolger vor, unter anderem den noch unversorgten Otto Brunner. Werner Conze wurde Ende 1953 für den Fall, daß er wirklich Ordinarius werden sollte, ebenfalls ins Auge gefaßt wogegen Wilhelm Brepohl so heftig widersprach, daß man diese Überlegung fallen ließ54) -, schließlich sagte Hans Freyer zu, die Abteilung provisorisch zu leiten. Aber im Sommer 1954 beschlossen die Dortmunder -
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51)
Phil. Fak. der Univ. Münster an das Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen vom 28. 5. 1956 (UAMs Neue Univ. [Pressestelle], Pers.-Akt. Nr. 605). 52) Vgl. Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen an die Phil. Fak. der Univ. Münster vom 5. 6. 1956 (UAMs Phil. Fak., Pers.-Akt. Nr. 15); Phil. Fak. der Univ. Münster an das Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen vom 28. 5. 1956, 29. 6. 1956, 26. 7. 1956 (UAMs Neue Univ. [Pressestelle], Pers.-Akt. Nr. 605); das Protokollbuch der Fakultät (UAMs Phil. Fak., Dienst-Akt. Nr. GB 11, Bd. 5); Niederschriften über die Abteilungsleiterkonferenzen am 2. 5. 1956, 18. 5. 1956, 13. 6. 1956 (SFSt. Handakte Präsident). 53) Vgl. Beutin, Die deutsche Wirtschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert und der Anteil Bruno Kuskes daran; Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, S. 353-357; Scherbening an Flesch vom 22. 6. 1956 (SFSt. Schriftwechsel Präsident).
54) Ipsen war dieser Widerstand unerklärlich: Ipsen an Jantke vom 25.
11. 1953
(SFSt. I 12).
Hing das mit Conzes Rezension von Brepohls Buch „Der Aufbau des Ruhrvolkes" zusammen, oder damit, daß Brepohl in Conze einen gefährlichen Rivalen in der Ruhrgebiets-Sozialgeschichte sah, zumal einen, der eine leistungsfähige Forschungsabteilung leiten sollte, was Brepohl nicht tun konnte?
I Der lange
Weg zum Ordinariat
141
endgültig, sie stillzulegen. Günther Ipsen hatte historische Forschung am Institut ohnehin für falsch gehalten, da diese nicht in Gruppenarbeit erledigt werden könne. Schon in der Geschäftsordnung vom Frühjahr 1953 taucht die Abteilung nicht mehr auf, und noch 1955 wurde notiert, „dass eine ausgesprochene sozialgeschichtliche Forschung entgegen den ursprünglichen Plänen nicht aufgebaut werden soll."55) Doch dann manifestierten sich eben die Heidelberger Bewegungen in den Münsteraner Akten und verschoben die Dinge. Conze war schon zu seiner Göttinger Zeit als Besucher der Sozialforschungsstelle in deren Bericht erwähnt worden, 1951 hatte man vorgehabt, „eine oder mehrere Untersuchungen soziologischer und volkskundlicher Art über die Belegschaft" einer Zeche mit ihm durchzuführen.56) Zwar hat er in den Institutsakten dann kaum noch Spuren hinterlassen, sein Interesse an dem Dortmunder Institut war jedoch bestehen geblieben. Nun galt es für die Münsteraner Fakultät, diese Verbindung zu nutzen, um den Heidelberger Ruf abzuwehren. Das nordrhein-westfälische Kultusministerium war sehr an Conze interessiert und umstandslos bereit, die sozialgeschichtliche Abteilung zu finanzieren, mit ihm als Abteilungsleiter. Es dürfe nicht kleinlich sein, verlangte Conze, und das Ministerium befand alles für gut, was er vorschlug. Die Sozialforschungsstelle war einverstanden, die Abteilung zum 1. 4. 1957 einzurichten; Conzes Pläne, solch ein in Deutschland noch einmaliges Institut zu gründen, waren endlich nicht mehr durch das Desinteresse von Fakultäten oder fehlende Mittel blockiert. Im Juni 1956 wurde er auf einer Abteilungsleiterkonferenz vorgestellt und unterbreitete seine Gedanken zur Sozialgeschichte der industriellen Gesellschaft.57)
55) Vgl. Protokolle der Kuratoriumssitzungen der Gesellschaft „Sozialforschungsstelle" am 20. 6. 1947, S. 3, am 24. 9. 1948, S. 3, am 29. 2. 1952, S. 3 (SFSt. Kuratoriumssitzungen), am 29. 3. 1951, S. 3 (HStAD NW 181/148); Arbeitsplan der hauptamtlichen wissenschaftlichen Mitarbeiter der Sozialforschungsstelle vom 5. 4. 1949 (SFSt. Gesellschaft I); Neuloh, Sozialforschung eine öffentliche Angelegenheit, S. 11 ; Sozialforschungsstelle, Bericht [1950/51], S. 14-18; Protokolle der Abteilungsleitersitzungen vom 7.9. 1953, S. 1, vom -
21. 11. 1953, S. 2, vom 8. 1. 1954, S. 3, vom 22. 5. 1954, S. 2, vom 12. 7. 1954, S. If.; Vorschlag für eine Neubenennung und Neugruppierung der Abteilungen in der Sozialforschungsstelle vom 15. 7. 1954 (SFSt. Abteilungsleitersitzungen 1/1); Ipsen an Jantke vom 25. 11. 1953 (SFSt. I 12); Geschäftsordnung vom 12. 3. 1953 (SFSt., Präsidialsitzungen); Niederschrift über die Abteilungsleitersitzung vom 29. 1. 1955 (SFSt. Abteilungsleitersitzungen 1/2); Aktennotiz vom 29. 1. 1955; der Betriebsrat der SFSt. an ihren Präsidenten vom 1. 7. 1955; Helmuth Croon an die SFSt. vom 20. 2. 1987 (SFSt. PA Croon); Conze an Aubin vom 8. 7. 1954; Aubin an Conze vom 20. 7. 1954 (AVHD). 56) Wilhelm Brepohl an Bergassessor Backhaus vom 3. 4. 1951 (SFSt. B II/l). 57) Vgl. Sozialforschungsstelle, Bericht [1950/51], S. 9; Antrag der SFSt. an das Kultusministerium Nordrhein-Westfalen vom 13. 6. 1956 (HStAD NW 181/148); Niederschriften über die Abteilungsleiterkonferenzen vom 2. 5. 1956, S. 2, vom 18. 5. 1956, S. 2, vom 19. 6. 1956, S. 1 (SFSt. Handakte Präsident); Conze, Gedanken zur sozialgeschichtlichen Abteilung der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster (Anlage zum Protokoll der Abteilungsleitersitzung vom 19. 6. 1956; SFSt. Abteilungsleitersitzungen 1/2); Conze an Ipsen vom 21. 4. 1956, 15. 5. 1956 (SFSt. 17).
142
4. Die „Position des Sprechers"
Heidelberg hatte bis zur Absage Vbsslers Ende Juni 1956 die Lage für Conze im unklaren gelassen. Natürlich wußten alle, wie die Dinge in Heidelberg standen und schwankten, und aus Sicht der Königsberger, die sich fleißig über ihre Berufungsangelegenheiten unterrichteten, sah die „Heidelberger Affaire" noch im Juni wie „ein Windei" aus.58) Conze tat Schieder leid, ein Trost nur, daß Münster offenbar auch ohne den Heidelberger Ruf gewillt sei, Conzes Stellung aufzubessern. Rothfels, der gegenüber Ministerialbeamten nicht zu kuschen pflegte, war verärgert: „Die Sache mit Conze ist unglaublich, und ich werde in Stuttgart ein deutliches Wort sagen."59) Als Hans Schaefer im August 1956 dann doch mit Conze Kontakt aufnahm, hatte der seine Tüte prall gefüllt. Münster stand besser da. Am 18. August teilte Conze ihm mit, wie gut es ihm im Westfälischen nun gehe, daß er freie Bahn habe für seine großangelegten Forschungsprojekte. Sogleich baten ihn die Heidelberger um seine Minimalforderungen und berieten sich voll Not mit ihrem Kultusministerium. Und nach Jahren der Einschränkung langte Conze zu: Gutes Gehalt, gute Finanzmittel, ordentliche Zulagen (steuerfrei), mehrere Assistenten, Hilfskräfte, Schreibkräfte, Zeichner, Rechner, Übersetzer, Hilfen beim Autokauf, für den Hausbau und die Garantie, daß eine Forschungsbeihilfe der AGF fortgeführt werden könne. Er wollte als Äquivalent zu seiner sozialgeschichtlichen Abteilung an der Sozialforschungsstelle die „Zusicherung eines Instituts für moderne Sozialgeschichte (oder: Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters) mit einer Ausstattung, die dem für Dortmund im ersten Jahr vorgesehenen entspricht"60) (von 60000 DM war in Dortmund die Rede, mit Option auf Erhöhung dieser Summe), er wünschte die beschleunigte Einrichtung des zweiten Lehrstuhls für Neuere Geschichte und Mitsprache bei dessen Besetzung, schließlich machte er zeitlich Druck. In zwei Wochen werde in Düsseldorf vermutlich alles endgültig beschlossen und genehmigt sein. „Ich bin mir klar darüber, daß alle diese Forderungen gemessen am Ueblichen unseres Faches ungewöhnlich hoch sind."61) Aber er wollte endlich seine institutionelle Basis haben und tröstete die Heidelberger mit der Bemerkung, wie einmalig in der deutschen Historiographie ein solches Institut immerhin sei. Conze scheine sehr zufrieden, daß man ihm die Erfüllung seiner Wünsche signalisiert habe, schrieb Schaefer daraufhin an seinen Kultusminister, nun dürften die Verhandlungen auf keinen Fall scheitern, weil man sonst nicht wisse, wie man die Professur besetzen solle.62) Daß man sich in Stuttgart so sehr anstrengte und sehr viel bot, machte -
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58) Beide Zitate im Schreiben Schieders an Rothfels vom 11.6. 1956 (BAKN 1188/5). 59) Vgl. Schieder an Rothfels vom 11. 6. 1956; Rothfels an Schieder vom 14. 6. 1956 (BAK N 1188/5); Conze an Wittram vom 27. 2. 1956 (BAK N 8. 3. 1956 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,27).
6°) 61) 62)
1226/50); Conze
Conze an Schaefer vom 25. 8. 1956 (UAH H-IV-568/1). Ebd. Schaefer an Conze vom 6. 8. 1956, 24. 8. 1956; Conze
an
Schaefer
an
Kaehler
vom
18. 8.
vom
1956,
I Der lange
Weg zum Ordinariat
143
Frage für Conze schwieriger, als er erwartet hatte. Er zögerte. Die Waage neigte sich noch bis in den Oktober hinein nach Düsseldorf, aber dann riß Conze sich vom geschätzten Münsterland los und nahm den Ruf an. Schieder
die
hatte ihm mehrmals sehr zugeraten, „nicht zuletzt aus Überlegungen über die Kräfteverteilung im ganzen Fach, die mehr auf Streuung drängt."63) Die Verbindung zum Ruhrgebiet wollte Conze halten. Er ging mit schlechtem Gewissen und hoffte, daß die sozialgeschichtliche Abteilung an der Sozialforschungsstelle trotzdem eingerichtet werde. Ob man nicht zwei Zentren aufbauen könne, in Heidelberg und in Dortmund? Ipsen antwortete wohlwollend. Der Kontakt wurde locker. Conze versuchte zwar noch, der Abteilung mit Hilfe Wolfram Fischers neues Leben einzuhauchen, aber auch dieser Versuch scheiterte 1960. Weil sich nie ein Leiter fand, der sie in Ruhe aufbauen konnte, führten die zahlreichen Wiedergeburten der Abteilung jeweils gleich zum Tod. Außerdem war die Sozialforschungsstelle an Sozialforschung letztlich mehr interessiert denn an Sozialgeschichte. Sie initiierte sozialhistorische Studien immer nur fallweise, dann, wenn sie Gelder von auswärts bekam und wenn soziologische Forschungen historisch abzustützen waren.64) Das könnte eine Rolle gespielt haben, warum Conze den Ruf nach Heidelberg schließlich angenommen hat. Daß sein versprochenes Heidelberger Institut inhaltlich ungebunden war, dürfte letztlich wichtiger gewesen sein als die Möglichkeit einer engen Anbindung der Geschichtswissenschaft an die Soziologie, wie er sie für 25. 8. 1956; Schaefer an das Kultusministerium von Baden-Württemberg vom 23. 8. 1956, 26. 9. 1956 (UAH H-IV-568/1). 63) Schieder an von Raumer vom 16. 10. 1956, dort auch das Zitat (ULBMs Nl von Raumer
B215).
M) Vgl. Niederschrift über die Abteilungsleitersitzungen am 17. 5. 1957, S. 2 (SFSt. Abteilungsleitersitzungen 1/2); Fischer an die SFSt. vom 17.7. 1957 (SFSt. PA Fischer); Conze an Ipsen vom 21. 10. 1956, 15. 12. 1959 (SFSt. I 7); Sozialforschungsstelle, Berichte
1961-1968; Conze an das Bundesinnenministerium vom 21. 8. 1957 (AK); Rundschreiben der SFSt. vom 12. 6. 1958 (SFSt. I 22); Notizen für den 2. Mai 1958; Niederschriften über die Abteilungsleitersitzungen am 11. 1. 1957, S. 3f„ am 24. 7. 1957, S. 1 (SFSt. Handakte Präsident); Niederschriften über die Abteilungsleitersitzungen am 7. 12. 1956, S. 1, am 21. 2. 1957, S. 1, am 17. 5. 1957, S. lf„ am 15. 6. 1957, S. 1, am 21. 6. 1958, S. 2; Niederschrift über das Hausgespräch am 13. 7. 1957 (SFSt. Abteilungsleitersitzungen 1/2); Fischer an Wittram vom 28. 4. 1958 (BAK N 1226/61); Niederschrift über die Abteilungsleitersitzung/Wissenschaftskonferenz am 19.7. 1958, S. 2f„ am 12. 12. 1958, S. 3, am 11. 12. 1959, S. 1, am 1. 7. 1960, S. 3 (SFSt. Abteilungsleitersitzungen II); Niederschrift über die Mitgliederversammlung der Gesellschaft „Sozialforschungsstelle" am 2. 5. 1958, S. 2, 5 (HStAD NW 181/148); Niederschrift über die Sitzung des Kuratoriums und die Mitgliederversammlung der Gesellschaft „Sozialforschungsstelle" am 18. 11. 1960, S. 8; Liste der laufenden und genehmigten Forschungsaufträge nach dem Stand: November 1961, S. 1 (SFSt. Kuratoriumssitzungen); Schelsky an Jantke vom 17. 8. 1960 (SFSt. Kuratorium); die Personalakte Wolfram Fischers (SFSt. PA Fischer); die Akte über das Großindustrie-Projekt (SFSt. Projekt 34). Zu Fischer: Gespräch mit Wolfram Fischer am 29. 9. 1997 und seine schriftliche Mitteilung vom 9. 7. 1997; Fischer an Schelsky vom 1. 10. 1955, 18. 10. 1955; Schelsky an Fischer vom 11.10. 1955, 1. 11. 1955 (SFSt. S/10).
144
4. Die „Position des
Sprechers"
das Dortmunder Haus als einzigartig rühmte.65) Im nachhinein meinte Helmut Schelsky zwar, daß die Pflege der Sozialgeschichte an der Sozialforschungsstelle, besonders durch Jantke und Conze, entscheidend zur „sozialgeschichtlichen Wende" der neueren deutschen Geschichtswissenschaft beigetragen habe, und er verwies auf führende Wirtschafts- und Sozialhistoriker, wie Fischer oder Hans-Jürgen Teuteberg, die jahrelang am Institut tätig gewesen seien.66) Das ist nicht ganz falsch, doch eindeutig übertrieben. Historiker schauten in Dortmund nur noch selten vorbei, das Institut verlor für sie mit der Gründung der Ruhrgebietsuniversitäten erst recht an Bedeutung. Doch trotz des Scheiterns der sozialgeschichtlichen Abteilung war die Sozialforschungsstelle für die Sozialgeschichte wichtig: als institutioneller Rückhalt, als methodischer Rückhalt und als Rückhalt für eine bestimmte Weltsicht, die im sechsten bzw. siebten Kapitel ausführlich zur Sprache kommen wird. Am Ende langer Jahre und eines nervenaufreibenden Berufungsverfahrens war Conze nun am Endpunkt des üblichen Initationsweges angekommen. Sein alter Lehrer Ipsen vollzog den letzten Akt: „Der Augenblick, der Sie zum Ordinarius macht, ist auch für mich bemerkenswert: [...] um der Gevatterstelle willen, die mit der Meisterprüfung ausgedient hat."67) Und gleichzeitig war dieses Ende eines Weges der Ausgangspunkt eines neuen: des Weges, in Heidelberg einer der ersten Großordinarien der Bundesrepublik zu werden. Die Ablehnung zweier Rufe nach Bonn (1961) und München (1965)68) baute seine Stellung aus. Ein weiterer Assistent, weitere Hilfskräfte (etwa 14 beschäftigte er in den sechziger Jahren), Freisemester, Gehaltserhöhungen und Sachmittel wurden ihm zugesprochen: „Herr Conze gilt im In- und Ausland als einer der bedeutendsten und angesehensten Vertreter der Geschichte der Neuzeit, insbesondere im Hinblick auf die moderne Sozialgeschichte. Diese letztere verdankt ihm entscheidende Impulse und neue Einsichten auf der Grundlage soziologischer
65) Vgl. Conze an Ipsen vom 25. 7. 1956, 21.
10. 1956, 5. 9. 1956, 15. 12. 1959; Ipsen an an Carl Jantke vom 8. 10. 1956 (BAK B 324/15); Conze an Schieder vom 20. 8. 1956, 26. 9. 1956 (BAK N 1188/4); Conze an Wittram vom 30. 10. 1956 (BAK N 1226/57); Schieder an von Raumer vom 16. 10. 1956 (ULBMs Nl von Raumer B 215); Conze an Aubin vom 27. 11. 1956; Aubin an Conze vom 30. 11. 1956 (AVHD); Rothfels an Kaehler vom 4. 8. 1956; Kaehler (der Conze den Ruf sehr gönnte) an Rothfels vom 13. 8. 1956 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler l,144c/d); Sozialforschungsstelle, Berichte 1961-1968; Protokoll der Tagung über „Sozialgeschichte der modernen Welt" am 25726. 4. 1957, S. 7f. (AK). 66) Schelsky, Zur Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie, S. 51. 67) Ipsen an Conze vom 25. 10. 1956 (SFSt. I 7). Als frisch gebackenen Erwachsenen schrieb er ihn nicht mehr mit „Lieber Conze" oder „Lieber Conzmann" an, sondern mit „Lieber Herr Conze". 68) Schieder, der vor ihm auf der Liste stand, hatte zuvor den Ruf abgelehnt (vgl. Karl Bosl an Hermann Aubin vom 18. 9. 1962 [BAK N 1179/3]; Reinhard Wittram an Conze vom 2. 4. 1964 [BAKN 1226/68]). Conze
vom
25. 10. 1956 (SFSt. I 7); Conze
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und begriffsgeschichtlicher Analysen, wie er sie sowohl in eigenen Forschungen wie auch in breit angelegten Teamwork-Unternehmungen entwickelt hat." Er sei ein hervorragender Wissenschaftsorganisator. Und weiter: „Im Rahmen des Historischen Seminars unserer Universität ist Herr Conze derzeit der unbestritten bekannteste, erfolgreichste und gesuchteste akademische Lehrer mit der weitaus größten Schülerzahl. [...] Ein Weggang von Herrn Conze würde die Arbeit dieses Instituts!,] soweit sie an modemer Sozialgeschichte orientiert ist, auf längere Sicht lahmlegen."69) So oder ähnlich lauteten die Begründungen, die die Heidelberger Fakultät wie Geschütze gegen die ähnlich klingenden Geschütze anderer Fakultäten auffuhr; für Conze sprudelten die seinerzeit ertragreichen Ressourcenquellen und boten ihm die Möglichkeit, großangelegte Forschungsprojekte aufzuziehen und seine Position als „Diskursmanager" in der Zunft auszubauen. 1965 war sein Apparat so umfangreich, daß die Heidelberger keinen Sinn darin sahen, ihm in dieser Beziehung noch etwas anzubieten. Conze wollte keine Ausstattung mehr, er wollte Freisemester, um überhaupt noch arbeiten zu können.70) -
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Mit dem Ruf nach Heidelberg war der Ausbau seiner Position freilich nicht beendet. Aus seiner Stelle in Münster war das „Ordinariat für Politische, Sozialund Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit" gemacht worden, und vor seinem endgültigen Weggang nach Heidelberg hatte er die Möglichkeit, seine Spur bei der Nachfolgeregelung für den neu einzurichtenden Lehrstuhl zu hinterlassen (die etwas paradoxe Formulierung stammt von der Fakultät). Er durfte die Berufungskommission beraten, gab zu Protokoll, daß es sich praktisch um eine Professur für „Historische Soziologie der Neuzeit" handele und empfahl ausgerechnet Karl Dietrich Bracher als seinen Nachfolger.71) Aber er konnte seine Vorstellungen nicht durchsetzen, da die Kollegen sich auf Heinz Gollwitzer
69) Beide Zitate: Phil. Fak. der Univ. Heidelberg an den Kultusminister von Baden-Württemberg vom 28. 1. 1965 (UAH PA Conze). 70) Zu diesen Berufungen vgl. Phil. Fak. der Univ. Bonn an das Kultusministerium von
Nordrhein-Westfalen vom 17. 1. 1961; Otto Brunner an Phil. Fak. der Univ. Bonn vom 16. 8. 1960 (HStAD NW 178/364); Vermerk (über die Berufungsverhandlungen mit Conze) vom 31. 5. 1961; Briefauszug (an den Rektor der Univ. Bonn) vom 2. 6. 1961; die Berufungsvereinbarung Conzes mit Bonn vom 26. 7. 1961; Conze an den Kultusminister von Nordrhein-Westfalen vom 3. 8. 1961 (HStAD NW 178/379); die Heidelberger Personalakte Conzes (UAH PA Conze); Aubin an Franz Steinbach vom 12. 3. 1960 (BAK N 1179/21); die Bonner Berufungsakte (UAB P.F. 77/137); Conze an Wittram vom 5. 2. 1965, 16. 4. 1965 (BAK N 1226/74, 75); Ahasver von Brandt an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. Heidelberg vom 26. 1. 1965 (HStAS J 40/10, Nr. 22); Phil. Fak. der Univ. Heidelberg an den Kultusminister von Baden-Württemberg vom 28. 1. 1965 (UAH PA Conze). 71) Eine Begründung dafür habe ich nicht gefunden.
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4. Die „Position des
Sprechers'
verständigten, der sich selbst nicht als Sozialhistoriker „abgestempelt" wissen wollte72) und von Conze zu der Zeit wohl auch nicht als vollwertiger Sozialhistoriker angesehen wurde.73) Doch die Fakultät lobte, daß er die älteren Arbeitsrichtungen und -methoden des Faches mit den jüngeren Zeitgeschichte,
Sozialgeschichte, politische Begriffsgeschichte und Politikwissenschaften hervorragend verbunden habe;74) sein gerade vollendetes Buch über die Mediatisierten von 181575) begann als sozialgeschichtliche Arbeit eine gute Presse zu bekommen. Gollwitzer galt eben doch als Sozialhistoriker. Er entledigte sich freilich bald der „Spezialisierung"76) seines Lehrstuhles, indem er seine venia legendi in „Neuere und Neueste Geschichte" ändern ließ ohne Sozialgeschichte abzulehnen, wie auch ein Blick auf seine Lehrveranstaltun-
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gen in Münster zeigt.77) In Heidelberg traf Conze auf Erich Maschke, seinen ehemaligen Königsberger Kollegen. Maschke wohnte nach seiner Rückkehr aus dem „KZ-Lager der Sowjetzone", wie Hermann Aubin ganz im Geiste der Zeit schrieb, in Speyer und hatte dort begonnen, sich wieder in die mittelalterliche Geschichte einzulesen.78) Allerdings war seine Lage nicht unproblematisch, denn mit der Wiederverwendung wollte es zunächst nicht so ganz klappen. Schieder, Rothfels, Aubin und der Erlanger Philosoph Hans Günther setzten sich für ihn ein (wobei Rothfels gleichzeitig jede Verwendung zugunsten von Erwin Hölzle und Fritz Valjavec entschieden zurückwies), doch es ging die Rede von seiner Vergangenheit um. Paul Egon Hübinger lehnte ihn in Münster strikt ab, Fritz Ernst bedauerte, daß er dasselbe nicht auch in Heidelberg tun konnte. Schieder war empört. Aubin versuchte das, was Maschke tatsächlich wohl nur hinter vorgehaltener Hand „nachgesagt" wurde, mit der Bemerkung zu kontern, daß er von Maschkes politischer Vergangenheit nichts mitbekommen habe, zumindest traue er ihm nichts „menschlich Beschwerendes" und keine „unschönen Taten
72) Gespräch mit Heinz Gollwitzer am 2. 12. 1997. 73) Jedenfalls teilte Conze der Sozialforschungsstelle
zu der Zeit, als sich die Berufung Gollwitzers herauskristallisierte, mit, daß die Fakultät keinen Sozialhistoriker als seinen Nachfolger vorzuschlagen beabsichtige. Es sei nicht zu erwarten, daß sein Nachfolger für die Leitung der sozialhistorischen Abteilung in Frage komme: Niederschrift über die Abteilungsleiterkonferenz vom 21. 2. 1957, S. 1 (SFSt. Abteilungsleitersitzungen 1/2). 74) Zum vorhergehenden vgl. die Unterlagen im Universitätsarchiv Münster (Phil. Fak., Dienst-Akt. Nr. 38; Phil. Fak., Dienst-Akt. Nr. GB 11, Bd. 5) und im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (NW 178/638). 75) Gollwitzer, Die Standesherren. 76) Gespräch mit Heinz Gollwitzer am 2. 12. 1997. 77) Er hielt sie auch 1997, nicht lange vor seinem Tode, für „nicht allein seligmachend". Zur Sozialgeschichte kam er 1950 auf Rat Franz Schnabels, der sie durchaus da habe freilich auch Ironie mitgeschwungen als „das Kommende" erkannte (Gespräch mit Heinz Gollwitzer am 2. 12. 1997). 78) Maschke an Gerhard Ritter vom 26. 11. 1953 (BAKN 1166/341); Maschke, Begegnungen mit Geschichte, S. XV -
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zu".79) Andere Kollegen waren vielleicht aufmerksamer gewesen oder wollten
nicht alles vergessen; 1954 schanzten die Heidelberger Historiker Maschke nur einen Lehrauftrag für Wirtschafts- und Handelsgeschichte des Mittelalters zu. Das ging auf eine Idee Maschkes zurück, er war nämlich über die Geschichte der Hanse auf soziologische Fragestellungen und die Fruchtbarkeit einer Auseinandersetzung mit ihnen gestoßen. 1966 schrieb er zwar im Rückblick, daß er mehr aus Versehen in die Sozialgeschichte hineingestolpert sei und erst dann gesehen habe, welche Forschungsaufgaben dort bestünden aber hat er nicht damals gewittert, daß ihm über die Sozialgeschichte der erneute Einstieg in das akademische Leben gelingen konnte, der ihm als Mittelalterhistoriker versperrt zu bleiben drohte? Fritz Ernst jedenfalls hatte keine guten Gründe mehr anzuführen, um Maschkes Wunsch nicht zu entsprechen. 1955 dann verhalfen ihm dessen Getreue zu einer unico-loco-Liste80) in Stuttgart, 1956 bekam er durch die Wirtschaftswissenschaftler in Heidelberg ein k.w.-Ordinariat für Sozialund Wirtschaftsgeschichte. Sofort verwendete er selbst sich in Stuttgart für Günther Franz. Erst jetzt, mit der erneuten Ernennung zum Ordinarius, war für ihn die Heimkehr richtig vollzogen.81) Er wäre zwar 1959, als die Münsteraner Historiker ihn pointiert für die Nachfolge Herbert Grundmanns vorsahen, gerne dem Ruf gefolgt, aber das Kultusministerium berief den Drittplazierten aus Altersgründen, wie es hieß. Maschke hatte der Ruf sehr viel bedeutet, als Bestätigung seiner Arbeitsweise und Persönlichkeit, Conze dagegen war froh, daß Maschke blieb.82) Die mittelalterliche Geschichte hat Maschke nie aufgegeben. Ihn interessierten vor allem die durchschnittlichen Stadtbewohner aus den Unter-, vor allem -
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79)
Die Zitate in den Briefen Aubins
Carl A. Willemsen vom 2. 12. 1955 (BAK N 11. 1955 (BAKN 1179/24). 80) Das war eine Berufungsliste mit nur einem Kandidaten. 81) Vgl. Schieder an Rothfels vom 12. 5. 1952 (BAK N 1188/5); Fritz Ernst an Aubin vom 13. 3. 1954 (BAK N 1179/6); Carl A. Willemsen an Aubin vom 18. 11. 1955; Aubin an Willemsen vom 2. 12. 1955 (BAK N 1179/25); Aubin an Joseph Vogt vom 23. 11. 1955 (BAK N 1179/24); Schieder (der die Königsberger Kreise, die bis ins Vertriebenenministerium reichten, mobilisiert hatte) an Maschke vom 26. 1. 1956 (HStAS J 40/10, Nr. 59); Maschke an Fritz Martini vom 7. 6. 1956; Maschke an Hans R. G. Günther vom 9. 4. 1956, 18. 5. 1956,7. 6. 1956; Günther an Maschke vom 31. 7. 1956; Phil. Fak. der Univ. Heidelberg vom 7. 3. 1956, 19. 3. 1956; Maschke an das Kultusministerium von Baden-Württemberg vom 3. 5. 1956 (HStAS J 40/10, Nr. 97); Maschke an Gotthold Rhode vom 2. 8. 1956 (HStAS J 40/10, Nr. 59); Maschkes Personalakte beim MWFK; Maschke an Rothfels vom 12. 8. 1954 (BAK N 1213/158); Maschke an Walter Schmitthenner vom 3. 6. 1966 (HStAS J 40/10, Nr. 61). 82) Vgl. Kurt von Raumer an Maschke vom 11.5. 1959, 15.6. 1959 (HStAS J 40/10, Nr. 61); Maschke an Rudolf Buchner vom 15.12. 1965 (HStAS J 40/10, Nr. 60); von Raumer an Wittram vom 27. 8. 1959 (BAK N 1226/63); Phil. Fak. der Univ. Münster an das Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen vom 2. 4. 1959 (HStAD NW 178/640); Conze an von Raumer vom 11.6. 1959, 22. 11. 1959; Maschke an von Raumer vom 24. 5. 1959 (ULBMs Nl von Raumer B 345, 350, 448). an
1179/25) und an Herta Wallbrach vom 10.
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4. Die „Position des
Sprechers"
aber den Mittelschichten. Maschke sah sich als Humanist: Menschen waren Individuen, die handelten. Aber er war ebenso Vblkshistoriker gewesen und soziologisch beschlagen: Menschen waren auch durch ihre soziale Umwelt determiniert, sie waren zu einem guten Teil Typen, die eine Funktion erfüllten. Und diese Spannung ließ sich hervorragend an den normalen Kaufleuten des Mittelalters wie den durchschnittlichen Unternehmern des 19. Jahrhunderts untersuchen. Wie sahen ihre Prägungen durch die Umwelt aus, wie sahen die Freiräume für individuelle Handlungen aus? Wie griffen Sozialstruktur und Handlungen ineinander und steuerten die Entwicklung der sozialen Verfassung? Und wie sah die soziale Lage der Unterschichten aus? Was war ihre Funktion in der Sozialstruktur, was ihre Relevanz für die Geschichte? Bildete die Schicht der „Armen" wirklich nur eine undifferenzierte Masse? Nein, sagte Maschke, diese Schicht sei stark differenziert, die Sozial Struktur ein hochkomplexes Gebilde, dem man nicht mit einem einfachen Schichtmodell oder einer klassischen Verfassungsgeschichte beikomme. Gerade die mittelalterliche Stadt bewies ihm, daß Verfassungsgeschichte ohne sozialgeschichtliche Forschungen unzulänglich bleiben mußte, und selbst die Ideengeschichte suchte er sozialgeschichtlich zu fundieren, weil auch Ideen nicht frei in der Luft schwebten, sondern gruppen-, Schicht- oder klassenspezifisch geprägt seien. Sicherlich war Maschke einer der wenigen Historiker, die seinerzeit die Unterschichten ernsthaft in die Geschichte einbezogen. Er „verstand" die Armen aufgrund seiner eigenen Erfahrungen in der Kriegsgefangenschaft. Aber man darf nicht übersehen, daß sein Handlungsbegriff nicht dem der modernen Alltagsgeschichte entsprach: Alle Menschen verhielten sich in ihrer Umwelt, sie waren die Objekte der Welt, die sie determinierte. Doch nur die Kaufleute und Unternehmer waren darüber hinaus in der Lage zu handeln, und das machte sie zu Subjekten der Geschichte, zu wirklichen Individuen (wie alle sozial über ihnen Stehenden auch). Die Unterschichten dagegen litten und erfüllten eine Funktion. Das zeigt, wie weit Maschkes Ansatz von einem heutigen Praxisbegriff, der die Trennung zwischen Verhalten und Handeln verwischt und auch den „Leidenden" eine aktive Rolle zugesteht, entfernt war.83) Aber immerhin sprach er den Unterschichten schon gegen Ende der fünfziger Jahre erheblich mehr Bedeutung zu als Conze und Brunner, die sie bloß mit der Metapher der „Flut" erfassen konnten. Maschke hielt die Soziologie, die Wirtschaftswissenschaften und die Psychoanalyse als analytische Hilfsmittel für äußerst nützlich; sein Quellenbegriff war so weit gefaßt, wie es sich für einen ehemaligen Volkshistoriker gehörte. Seine Konzeption von Sozialgeschichte entsprach ganz der Conzes, Brunners und Fernand Braudels (nur dessen Ablehnung der Ereignisse ging ihm zu
83) Vgl. auch Schumacher, Rez. Maschke, Es entsteht ein Konzern, der kritisierte, daß Arbeiter bei Maschke bloß als „Inventar" des Konzerns auftauchten und als Empfänger der Notunterstützung. -
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weit),84) und so fand Conze in ihm einen engagierten Mitstreiter. 1956 hatten sie in Ulm auf Treppenstufen gesessen, lange miteinander gesprochen, und Maschke hat ihm geraten, nach Heidelberg zu gehen. Conze war ihm dankbar, er hatte sich stark von Maschkes Rat leiten lassen.85) Später dann erscheint er wie der große Bruder Maschkes, der lenkt, und Maschke wie der kleine Bruder, der den großen in dessen Abwesenheit vertritt.86) Beide waren eng befreundet. stets
Mit Conzes
der Ausbau des Historischen Seminars. Conze die Geschichte des Seminars einige Jahre später sehr selbstbeperiodisierte wußt in zwei Phasen. Vor 1957 verlief sie in einer ruhigen Kontinuität, mit Conzes Eintritt begannen Veränderungen und die Expansion.87) Die glücklichen Berufungsverhandlungen erlaubten es ihm, 1957 sein eigenes Institut, das „Institut für Sozialgeschichte der Gegenwart",88) zu gründen, das die Klammer zwischen dem Historischen Seminar und den Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern des Alfred-Weber-Instituts bilden und zum Ort werden sollte, an dem dieses Projekt öffentlich sichtbar seine institutionelle Verankerung fände. Bald darauf fusionierte er sein Institut mit Maschkes Lehrstuhl zum „Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" (ISW), dem dieselbe Funktion zugedacht war. Zunächst hatte Conze es als reines Forschungsinstitut geplant, das einen ,,neue[n] Beitrag zur Erforschung der modernen Welt" mit historischen
Berufung begann
84) Zum vorhergehenden vgl. Maschkes Vorlesung „Einführung in die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" vom Sommersemester 1959 (HStAS J 40/10, Nr. 28); Maschke an Rothfels vom 27. 11. 1961 (AVHD); seinen Vortrag „Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte
vom 5. 12. 1961 (HStAS J 40/10, Nr. 44); Maschke an Markert vom 15. 12. 1961 (AVHD); Maschke an Ahasver von Brandt vom 4. 6. 1962 (HStAS J 40/10, Nr. 60); seinen Vortrag „Die Bedeutung sozialgeschichtlicher Perspektiven" vom 11.2. 1964 (HStAS J 40/10, Nr. 6); Maschke an Wolfgang Zorn vom 15. 1. 1965 (HStAS J 40/10, Nr. 68); Maschke an Gerd Wunder vom 18. 6. 1965 (HStAS J 40/10, Nr. 61); seine Vorlesung „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" von 1968 (HStAS J 40/10, Nr. 9); Maschke an Walter Schmitthenner vom 13. 11. 1969 (HStAS J 40/10, Nr. 63); Maschke an Bob Scribner vom 26. 5. 1972 (HStAS J 40/10, Nr. 25); Maschke, Begegnungen mit Geschichte, S. XVIXVIII; Ders., Die Unterschichten der mittelalterlichen Städte Deutschlands; Ders., Verfassung und soziale Kräfte in der deutschen Stadt des späten Mittelalters in Oberdeutschland; Ders., Industrialisierung und Landesgeschichte; Stoob, Rez. Maschke/Sydow, Gesellschaftliche Unterschichten in den südwestdeutschen Städten; Schaab, Landesgeschichte in Heidelberg, S. 197f.; Schreiner, Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters nach 1945, S. 88f. Zu Maschke siehe auch Conze, Nachruf Erich Maschke; Schremmer, Erich Maschke; Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters, S. 66-75. 85) Conze an Maschke vom 21. 10. 1956, 2. 11. 1956 (HStAS J 40/10, Nr. 59). 86) Den Eindruck habe ich aus den Akten, dem Stil von Maschkes Briefen, gewonnen. Wolfram Fischer hat mir meine Vermutung bestätigt (Gespräch am 29. 9. 1997). 87) Vgl. Conze/Mussgnug, Das Historische Seminar, S. 152. 88) So der offizielle Name 1957/58; Conze sprach auch vom „Institut für moderne Sozialge-
bis 1914"
schichte".
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4. Die
„Position des Sprechers"
Methoden leisten sollte, in „organisierter Zusammenarbeit"89) mit anderen Fächern, besonders der Soziologie. Er träumte davon, daß es zum Zentrum der modernen Sozialgeschichte in Deutschland werden würde, daß Forscher kämen, in der Spezialbibliothek des Instituts mit der herausragenden Abteilung „Sozialismus und Arbeiterbewegung" arbeiteten und sich in „Teams" einbinden ließen, um gemeinsam großangelegte Forschungsprojekte durchzuführen. Das war das Konzept der Sozialforschungsstelle in Dortmund, das Conze sich abgeschaut hatte. Nach Maschkes Beitritt übernahm das Institut allerdings Aufgaben für das Historische Seminar, nämlich die Ausbildung von Wirtschaftshistorikern. Es war kein reines Forschungsinstitut mehr. Gleichzeitig hatten die Zeitumstände die erhoffte Klammerfunktion des Instituts unterlaufen, denn auch Heidelberg hatte das neuartige Problem der alten Universitäten zu spüren bekommen. Mit ihrem rasanten Wachstum nahm die räumliche Zersplitterung der Universität rapide zu. Die Institute der einzelnen Fächer wurden über die ganze Stadt verteilt, wurden da eingemietet, wo Raum vorhanden war, und je mehr sich die Gehwege dehnten, desto leichter zerrissen die immer dünneren Bänder zwischen den sich geistig ohnehin auseinanderbewegenden Fächern. Nach dem Umzug in ein neues Institutsgebäude wurde der Kontakt zwischen dem Historischen Seminar und dem ISW allerdings wieder sehr eng, beide sollen eine untrennbare Einheit gebildet haben.90) Außerdem gelang Conze die Verknüpfung über viel weitere Räume hinweg. Um die Arbeit mit anderen Instituten zu koordinieren und möglichst vielfältige Anregungen zu empfangen, hielt das ISW Kontakt zur Sozialforschungsstelle in Dortmund, zum Seminar für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Köln (Ludwig Beutin), zum Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Hamburg (Schelsky und Jantke), zum Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen (Schieder, Conze, Wittram und Rothfels saßen dort im Beirat), zur Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Friedrich Lütge), zur Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (Mitglieder waren u. a. Schieder und Conze), zum Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, zur VIe Section de l'École pratique des Hautes Etudes in Paris (Braudel), zur Scandinavian Society for Economic and Social History, zum Norsk Folkemuseum in Oslo, zum Arbetarrörelsens Arkiv in Stockholm, zum Schweizerischen Sozialarchiv in Bern und zum sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Forschungszentrum in Cambridge. Für die Commission d'histoire des mouvements sociaux et des structures sociales erledigte das Institut die Deutschland betreffende Arbeit, für die Economie History Review lieferte es einmal jährlich Rezensionen deutschsprachiger Veröffentlichungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Conze führte das Amt des -
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89) Beide Zitate im Bericht über das Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Universität Heidelberg (1957-1963), S. 2 (IOGLT Ordner „Ca-Cz, ab 1964"). 90) Gespräch mit Heilwig Gudehus am 1. 10. 1999.
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„German Review Correspondent". Aber auch der von Conze begründete „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte" war durch seine Mitglieder Bestandteil eines über die Republik ausgeworfenen Netzes sozialhistorischer Stützpunkte: Otto Brunner und Carl Jantke saßen in Hamburg, das, „schon aufgrund der günstigen personellen Zusammensetzung und der in Prof. Jantkes Lehrstuhl bisher einzig dastehenden Verbindung der Soziologie mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, künftig in besonderem Maße als eines der Forschungszentren anzusprechen sein"91) werde. Günther Ipsen war bis 1961 Angestellter der Sozialforschungsstelle in Dortmund, die sich trotz Conzes Weggang in gewisser Weise noch um die Sozialgeschichte bemühte. Richard Nürnberger berichtete als Mitglied des Max-Planck-Instituts für Geschichte, daß man dort zwar primär von politikhistorischen Gesichtspunkten ausgehe, aber er deutete Anknüpfungspunkte an (später gewann dann die Sozialgeschichte zunehmend Bedeutung am MPI92)). Wilhelm Treue beschäftigte sich an der TH Hannover mit der Technik- und Untemehmensgeschichte; in Köln waren Ludwig Beutin und Friedrich Seidel am Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Institut darauf aus, „in methodischer Hinsicht auf die Versöhnung von Modell und Empirie, d. h. die Überwindung der Antinomie von abstrakter Theorie und empirischem Tatsachenmaterial",93) hinzuwirken. Friedrich Lütge war nicht an einer regelmäßigen Mitarbeit im Arbeitskreis interessiert, wohl aber am Kontakt zu seinem „Fachausschuß für Wirtschaftsgeschichte" der „Gesellschaft für Sozialwissenschaften" (GSW, vormals „Verein für Socialpolitik"). Auch die übrigen Mitglieder (außer den schon genannten noch der hochkonservative Königsberger Staatsrechtler Herbert Krüger, Andreas Predöhl, Hans Raupach und 91 )
Protokoll der Tagung über „Sozialgeschichte der modernen Welt" am 25726. 4. 1957, S. 7 (AK). Zu Jantke vgl. dessen Personalakten an der Universität Hamburg (StAH 2230) und der Sozialforschungsstelle in Dortmund (SFSt. PA Jantke); Conze, Die Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, S. 25-27; Bernsdorf/Knospe, Internationales Soziologenlexikon (1. Aufl.), S. 245 (in der zweiten Auflage war Jantke bereits vergessen); Weyer, Die Entwicklung der westdeutschen Soziologie von 1945 bis 1960 in ihrem institutionellen und gesellschaftlichen Kontext, S. 101 f., 239f„ 407; Hilger, In memoriam Carl Jantke; Teuteberg, Carl Jantke (1910-1989). Nach Conzes Einschätzung war Jantke der Ansprechpartner für sein sozialhistorisches Projekt, sein Lehrstuhl wurde zu einem der wichtigen Zentren für die Verbindung von Geschichte und Soziologie und natürlich zu einem der Punkte, den Nachwuchswissenschaftler aus dem Umfeld Conzes auf ihrem Karriereweg anlaufen konnten. Zu Jantkes kritischer Haltung gegenüber der Arbeit der Sozialforschungsstelle, deren Programm er durch seine Beteiligung an drei Untersuchungen durchaus mitgetragen hatte, vgl. Jantke, Industriegesellschaft und Tradition. 92) Zu den Überlegungen zur Sozialgeschichte am MPI vgl. die Protokolle der 1., 2., 4. und 9. Sitzung des wissenschaftlichen Beirates des MPI für Geschichte in Göttingen am 18. 12. 1956 (S. 8f., 14-19, 23-25), 20./21. 12. 1957 (S. 3, 5f.), 18. 12. 1959 (S. 17-22), 11. 3. 1968 (S. 24) (BAK N 1213/25). An der ersten Sitzung nahmen Conze, Schieder, Wittram, Rothfels und Gerhard Ritter teil. Das Protokoll läßt durchscheinen, daß zwei Fraktionen unter dem Schein der Kooperation Terrain im MPI zu besetzen versuchten. 93) Protokoll der Tagung über „Sozialgeschichte der modernen Welt" am 25726. 4. 1957, S. 9 (AK). -
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4. Die „Position des
Sprechers"
Jürgensen), einige der Gäste (etwa Karl Erich Born, Wolfgang Zorn, Wolfgang Köllmann oder Wolfram Fischer) und natürlich Conze selbst knüpfHarald
den Arbeitskreis im ersten Jahrzehnt seines Bestehens in das Netz der sozialhistorischen Forschung ein.94) Natürlich fiel der Kontakt zu all diesen Institutionen nicht gleich intensiv aus, aber allen wurde mitgeteilt, was in Heidelberg geforscht wurde, und sie wirkten, so wird man vermuten dürfen, als „Multiplikatoren" (denn auch wenn Rechenschaftsberichte in Ordnern verschwinden, so erreicht man über den Schriftentausch doch die Bibliotheken). Wirkungsvoll war auf jeden Fall die Verbindung des ISW mit dem Arbeitskreis, der nach seinem ursprünglichen Tagungsort auch „Emser Kreis" genannt wurde. Das Institut bekam vom Land nämlich keine Personalmittel für Forschungsvorhaben, der finanziell gut ausgestattete Arbeitskreis wiederum regte in erster Linie Projekte an, für die er dann Gelder bereitstellen konnte. Ob Conze die Gründung beider Einrichtungen gezielt auf diese Kooperation hin betrieben hat, geht aus keiner einsehbaren Akte hervor, doch Tatsache ist, daß der Arbeitskreis die größeren Forschungsvorhaben des Instituts finanzierte und dieses wiederum diejenigen Projekte durchführte, für die Conze zuvor im Arbeitskreis die Verantwortung übernommen hatte, etwa die Arbeit an den „Geschichtlichen Grundbegriffen", wichtige Vorarbeiten zur ersten Publikation des Emser Kreises oder mehrere Studien zur Geschichte der Arbeiterbewegung.95) Damit war seine Position jedoch noch lange nicht ausgebaut. Neben der Institutsgründung war ein neues Extraordinariat für Neuere Geschichte zu besetzen, Conze machte selbstbewußt von seinem Mitspracherecht bei der Besetzung Gebrauch. Noch von Münster aus meldete er seinen Wunsch an, daß das Extraordinariat eine Ergänzung zu seinem Lehrstuhl bilden, d. h. einen deutlichen Schwerpunkt in der Frühen Neuzeit aufweisen sollte, und er wollte eben ten
94) Vgl. ebd.,
S. 7-10; Protokoll der Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte am 23724. 10. 1957, S. 2; Anlage zum Schreiben an das Bundesinnenministerium vom 16. 3. 1961, S. lOf. (AK); Conze, Die Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, S. 28 f. Conzes Netzwerke durchdrangen die Forschungslandschaft und reichten in die Wissenschaftsförderungsinstitutionen sowie weit in die Politik hinein. 95) Conze an von Raumer vom 22. 11. 1959 (ULBMs Nl von Raumer B 350). Zum ISW vgl. den Bericht über das Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg (1957-1963) (IOGLT Ordner „Ca-Cz, ab 1964"), den Bericht über das Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg für 1966 (StAH 622-2, Nr. 51), das Protokoll der 2. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates des MPI für Geschichte vom 20721. 12. 1957, S. 3, 5f. (BAK N 1213/25), und mein Gespräch mit Heilwig Gudehus am 1. 10. 1999. Conze/Mussgnug, Das Historische Seminar, S. 146f.; Schaab, Landesgeschichte in Heidelberg, S. 196: Die Verbindung zu den Geographen, die man von dezidierten Sympathisanten der Annales hätte erwarten dürfen, war allenfalls marginal ausgeprägt. Die Bedeutung von Instituten für das Bekanntmachen von Forschungen wird auch am Werk Otto Brunners deutlich, das in Italien mit Hilfe des Comitato Scientifico das sich als „Poststation" zwischen der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft großartig bewährt habe systematisch entdeckt und in die italienische Diskussion eingeschleust wurde: Wandruszka, Otto Brunner, S. 17. -
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II
Heidelberg
153
den Heinz Gollwitzer, den er für Münster weniger geeignet hielt, berufen sehen. Gollwitzer freilich war in Tübingen, Saarbrücken und Münster im Gespräch, das machte die Konstellationen der Berufungsangebote kompliziert. Nach einigen Verhandlungsrunden konnten Conzes Heidelberger Angebote nicht mehr mit dem Lehrstuhl konkurrieren, den er in Münster hinterlassen hatte. Dafür aber waren er und seine Kollegen auf die Qualitäten Rudolf von Albertinis aufmerksam geworden und hatten ihn auf ihrer Liste entschieden nach vorne gerückt. Daß er in Saarbrücken für ein Ordinariat auf Platz zwei hinter Heinz Gollwitzer stand, ließ die Besetzung der Professur erneut unsicher werden, aber schließlich nahm er in Heidelberg an. Von Albertini war auf die Frühe Neuzeit, die englische und französische Geschichte spezialisiert, später entwickelte er sich zu einem der wichtigen Vertreter der Kolonialgeschichte.96) 1964 konnte Conze außerdem das Profil der Professur für Osteuropäische Geschichte an der er sehr interessiert war mitbestimmen, der Schwerpunkt wurde auf das späte Mittelalter und die Frühneuzeit gelegt, da Werner Markert in Tübingen und die Heidelberger Politologen die spätere Neuzeit abdeckten. Schon 1962 hatte er sich als Gründungsdirektor an der Einrichtung des „Südasien-Institutes" beteiligt. Dort konnte er seine Vorstellungen von interdisziplinärer wissenschaftlicher Arbeit und außereuropäischer Geschichte einbringen, nachdem zuvor seine Klagen, daß man sich zuwenig mit der Geschichte Asiens beschäftige, bei seinen Schülern ungehört verhallt waren und auch er sich auf andere Dinge konzentriert hatte. Der bei ihm habilitierte Dietmar Rothermund wurde Direktor der Abteilung für Geschichte;97) 1967 und 1972 wurden zwei Schüler, Reinhart Koselleck und Dieter Groh, zeitweilig seine Professorenkol-
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legen.
Die Zahl der Studierenden wie der Lehrenden und die Höhe der Finanzmittel stiegen bis in die siebziger Jahre erheblich an. Die Konjunktur verlief für den Ausbau und die Ausdifferenzierung der Wissenschaft seit Mitte der fünfziger Jahre sehr günstig, das verschuf Conze die Basis, sein sozialhistorisches Programm von seinen Schülern in großem Stile empirisch ausarbeiten zu lassen.
96) Vgl. Conze an die Phil. Fak. der Univ. Heidelberg vom 3. 12. 1956, 7. 12. 1956 (HStAS J 40/10, Nr. 22); die Berufungsakte (UAH H-IV-568/2) und die Personalakte von Albertinis (UAH P 3113). Zu von Albertini vgl. auch Hablützel, Historische Forschung und politisches Engagement (Hablützel muß bei der Würdigung des „bürgerlichen" Historisten von Albertini einen Spagat bewältigen, denn einerseits gehört Hablützel sichtbar der dezidiert gesellschaftskritischen Aufklärungshistorie der siebziger Jahre an, andererseits geboten seine Schülerrolle und der Publikationsort dieses Textes, von Albertinis Festschrift, Lob. Er löste das Problem, indem er das Leben seines Lehrers nach dem Modell des Erweckungsromans stilisierte: Der ehedem „bürgerliche" Historiker hat zum Zeitpunkt, da ihm die Festschrift gereicht wird, zu einem kritischen Bewußtsein gefunden). 97) Vgl. Neubauer, Heidelberg, S. 127f.; Conze/Hahn, Eröffnung des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg; Otto Schiller, Die Aufgabenstellung des Südasien-Instituts, 1966 (HStAS J 40/10, Nr. 18); Conze/Mussgnug, Das Historische Seminar, S. 147f.; Wolgast, Die neuzeitliche Geschichte im 20. Jahrhundert, S. 154.
154
4. Die
1960 steuerte
er
ein
neues
„Position des Sprechers"
Hauptthema
an,
[...], die auf eine angemessene Weise in
„die deutsche Arbeiterbewegung
unser
Geschichtsbild
eingearbeitet
werden muß. Manches ist dazu in letzter Zeit schon beigetragen worden. Es erscheint mir jetzt notwendig zu sein, neue Forschung mit dem kritischen Durch-
denken des schon Dargebotenen zu verbinden und einen Bogen zu spannen von ,1848' bis ,1933' oder bis in unsere Tage hinein."98) Von den mindestens 55 Dissertationen, die er insgesamt betreut hat, beschäftigten sich besonders die in Heidelberg angeregten mit der Geschichte der Arbeiterbewegung. Conze favorisierte nicht die klassische Arbeiterorganisationsgeschichte, sondern eine Geschichte der Arbeiterbewegung, hineingestellt in den sozialhistorischen, deutschen und europäischen Kontext. Das war seinerzeit schwierig, weil neu, zumal noch nicht einmal der Beginn der Arbeiterbewegung näher bestimmt war. Nachdem er und seine Gruppe diese Perspektive in den sechziger Jahren erfolgreich etabliert hatten, verlegte er den Schwerpunkt auf die soziale Lage der Arbeiterschaft. Immer wieder benutzte er seinen „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte" als Basis für derartige Vorstöße in neues Terrain und sein Institut für die empirische Einlösung der Vorstöße.99) Gemäß seinem Programm regte Conze in zahlreichen Forschungsfeldem Untersuchungen an, in der
Agrar-, Parteien-, Arbeiter-, National-, Verfassungs-, Familien-, Wirtschafts-, Industrialisierungsgeschichte usw. Das läßt sich auch an den Titeln seiner Lehrveranstaltungen ablesen, bei denen der Begriff „Sozialgeschichte" übrigens selten auftaucht. „Conze war, aufs Ganze gesehen, eher untheoretischpragmatisch orientiert. Er war der große Initiator und Experimentator, der wie ein Seismograph neue, anscheinend vielversprechende und aktuelle Forschungsrichtungen registrierte, Programme entwarf und Wege wies. Er machte sich in bemerkenswertem Umfang die biblische Weisung zu eigen: .Prüfet alles und behaltet das Gute' jedenfalls was ihm als Gutes erschien."100) Conze konnte delegieren, er ließ Leute, von denen er überzeugt war, gewähren, und er zeigte sich allem gegenüber sehr interessiert.101) Diese Offenheit zog Dieter -
98) Conze an Wittram vom 28. 2. 1960 (BAK N 1226/62). 99) Vgl. Conze, Akademische Antrittsrede, S. 59; Ders., Der Weg zur Sozialgeschichte, S. 75-77; W Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte, S. 260-262. Das sogenannte „Württemberg-Projekt" zur Sozialgeschichte der Arbeiter in Württemberg war das spektakulärste Großprojekt Conzes. Es wurde, wie alle seine Projekte, finanziell großzügig gefördert, weil es als Gegenprojekt zur DDR-Historiographie politischen Interessen in der Bundesrepublik entgegenkam (Gespräch mit Heilwig Gudehus am 1. 10. 1999). 100) Wolgast, Die neuzeitliche Geschichte im 20. Jahrhundert, S. 150. Zum Ausbau des Seminars und den Lehrveranstaltungen vgl. außerdem Conze/Mussgnug, Das Historische
Seminar; Peters, Lehrangebot und Geschichtsbild; Jungmann, Vom Lernen zum Forschen; Ruprecht-Karl-Universität Heidelberg, Personal- und Vorlesungs-Verzeichnis, Sommersemester
1947 bis Sommersemester 1976.
101) Außerdem zeichnete er sich, wie Schieder und Rothfels, durch eine weitgehende Libe-
ralität aus: Hans-Ulrich Wehler etwa hielt er für „deutschfeindlich", bot ihm aber trotzdem eine Assistentenstelle an. Schieder war mit vielem, was seine Schüler machten, nicht einver-
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Heidelberg
Groh und Reinhart Koselleck an, zwei Doktoranden Johannes Kuhns, die Conzes Assistenten wurden. Als „Erweckungserlebnis"102) empfanden sie ihn nicht im Gegensatz zu vielen Studierenden, für die Conze bzw. die Sozialgeschichte die Moderne in einer veralteten Geschichtswissenschaft symbolisierten.103) Trotz der gezielten Institutionalisierungsarbeit wird man sich aber hüten müssen, von einer Conze-Schule zu sprechen, denn der Rahmen die Arbeitsmöglichkeiten und Conzes sozialhistorisches Programm verlieh seiner Gruppe zwar eine gewisse Einheitlichkeit, die jedoch niemanden endgültig auf eine Linie zwang.104) Selbstverständlich war Conze Mitglied verschiedener Wissenschaftsorganisationen. Nach wenigen Jahren der Bewährung vor Ort wurde er in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften aufgenommen, etwa zur selben Zeit in die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er übernahm hier die Leitung der sozialgeschichtlichen Abteilung. Im Max-Planck-Institut für Geschichte saß er im Beirat, ebenso im Arbeitskreis „19. Jahrhundert-Geschichte", der ihm eine weitere Arena für seine Sozialgeschichte bot und seinem Kollegen Schieder eine für dessen Nationalstaatsforschung. Reinhart Koselleck nennt 15 solcher Organisationen, die Conze geleitet, gegründet oder mitgeprägt habe, um dessen Bedeutung hervorzuheben tatsächlich aber ließ Conze sich in einigen dieser Institutionen wie dem „Göttinger Arbeitskreis", dem „Herder-Institut" oder Wittrams „Baltenhistorischer Vereinigung" aus verschiedenen Gründen selten oder so gut wie nie blicken; aus der „Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte" wollte er schon 1959 dringend austreten, wegen Arbeitsüberlastung.105) -
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er ihnen durchaus die Leviten, so Wehler, nach außen hin verteidigte er sie (Gespräch mit Hans-Ulrich Wehler am 30. 9. 1997). Die Liberalität Conzes wie Schieders bestätigten auch Heinz Gollwitzer, Dieter Groh und Heilwig Gudehus (Gespräche am 2. 12. 1997, 29. 10. 1997 und am 1. 10. 1999). 102) Gespräch mit Dieter Groh am 29. 10. 1997. 103) Reinhart Koselleck (Gespräch am 30. 10. 1999) meinte, daß Conze kein intellektueller Inspirator gewesen sei, ihm sei der intellektuelle Habitus abgegangen. Dafür sei er hellwach gewesen, wenn es um methodische Anregungen gegangen sei. Heilwig Gudehus (Gespräch am 1. 10. 1999) berichtete, daß man als Projektmitarbeiter Conzes das Gefühl gehabt habe, in der Forschung ganz vorne dabei zu sein. 104) Conze ließ seinen Schülern viel Freiheit. Erst mit dem „Württemberg-Projekt" zu Beginn der siebziger Jahre begann er, sie rigoroser entlang einer Linie auszurichten (Gespräch mit Heilwig Gudehus am 1. 10. 1999). 105) Koselleck, Werner Conze, S. 540f. Zur baltenhistorischen Vereinigung siehe die Briefe zwischen Conze und Wittram in dessen Nachlaß sowie Kaegbein/Lenz, Fünfzig Jahre baltische Geschichtsforschung 1947-1996. Zur Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte: Protokoll der Sitzung der Vereinigung vom 8. 3. 1960, S. 7 (BAK N 1228/71). Zur Historischen Kommission: Johannes Kühn an Peter Rassow vom 31. 7. 1958; Aubin an Rassow vom 12. 6. 1959; Rassow an Götz von Pölnitz vom 14. 9. 1959 (BAK N 1228/1) Brunner, Schieder, Ritter, Aubin, Rassow und Kühn befürworteten die Aufnahme Conzes-; Conze an Aubin vom 19. 11. 1960 (BAKN 1179/37); Zorn, Nachruf auf Werner Conze, S. 156. Zum Arbeitskreis „19. Jahrhundert-Geschichte": Bericht über die Sitzung
standen, ließ sie aber gewähren. Intern las
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156
4. Die „Position des
Sprechers"
Conze war ein Wissenschaftsmanager geworden, wie ihn Jacques Droz noch 1952 verspottet hatte.106) Vorträge, Konferenzen, Kommissionen, Tagungen an allen Brennpunkten wollte er zumindest in die Diskussion eingreifen -, Unterricht am Auswärtigen Amt (mit Ruth Fischer, von der er sehr beeindruckt -
war), die Verwaltung seines Arbeitskreises, Lehre, Doktorandenbetreuung, die
seiner Forschungsprojekte, Auslandsbesuche, die Leitung einer Sektion auf dem Philosophenkongreß 1962, Engagement in Institut, Fakultät und Universität, politische Tätigkeit für die CDU, ab Ende der sechziger Jahre immer stärkere politische Auseinandersetzungen mit den Studierenden, sein Rektorat 1969/70, der Aufbau der Universitäten Bochum und Bielefeld, alles hielt ihn von der Forschungsarbeit ab. „Ich würde gerne an einen ruhigeren, kleineren Platz mit mehr Freiheit zur eigentlichen Arbeit [ziehen]."107) Statt dessen drohte er zum „Reiseprofessor" zu werden. Aber diesem Stoßseufzer, mit dem er in den Chor seiner Kollegen einstimmte, folgten keine Konsequenzen, denn das hätte Verzicht auf Einfluß und Reputation bedeutet. Allerdings hatte er sich Anfang der fünfziger Jahre die moderne Forschungsarbeit wohl etwas anders vorgestellt, als sie dann faktisch aussah. Er war ja trotz der Vblksgeschichte in einer Zeit der wissenschaftlichen Einzelkarrieren aufgewachsen, in der für die Ordinarien das teamwork fast schon begann, wenn sie einen persönlichen Assistenten und eine Sekretärin zugeteilt bekamen. Letzteres war noch in den fünfziger Jahren durchaus ungewöhnlich. Conzes Gruppen dagegen wuchsen nur wenige Jahre später schon auf die Belegschaftsstärke eines kleineren Betriebes an, und er mußte erst mühsam lernen, derartig dimensionierte Forschung zu dirigieren.108) Daß junge Forscher, die seit den sechziger Jahren auf günstige Karrierechancen stießen, wenig Neigung zeigten, sich auf aufwendige Gruppenarbeit einzulassen, statt sich mit einer klassischen Ein-Mann-Studie rasch zu profilieren, erleichterte die Sache nicht: „Die geisteswissenschaftliche Tradition des Arbeitsindividualismus wurde durch die beginnende Konjunktur stark unterstützt",109) das war das Paradoxe der Situation. Vielleicht hat Conze
Leitung
des Arbeitskreises „19. Jahrhundert-Geschichte" in Frankfurt am Main am 28. November 1962 (BAK B 227/823). 106) Vgl. Droz, Gegenwärtige Strömungen in der neueren französischen Geschichtsschreibung, S. 178. 107) Conze an Wittram vom 30. 12. 1965 (BAK N 1226/77). Vgl. auch Conze an Rothfels vom 7. 11. 1957 (BAK N 1213/1); Maschke an Hermann Weber vom 12. 6. 1962 (HStAS J
40/10, Nr. 21).
108) Das ist ihm nach Aussage von Heilwig Gudehus (Gespräch am 1. 10. 1999) nicht gelungen, es habe kein wirkliches teamwork gegeben. 109) So sah das jedenfalls der enttäuschte Conze: Conze, Der Weg zur Sozialgeschichte nach 1945, S. 75. Vgl. auch Ders., Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, S. 26f. Mit diesen beiden Aufsätzen und Conze, Verfall der Universität?, legte er Rechenschaft ab über seine Stellung im Wissenschaftsbetrieb und über das Zukurzkommen mancher seiner Teamwork hatte es nach dem Kriege in der deutschen (Geambitionierten Projekte. schichts-)Wissenschaft nicht leicht: Wolfram Fischer an Helmut Schelsky vom 18. 10. 1955 -
Ill Der „Arbeitskreis für moderne
Sozialgeschichte"
157
deshalb nicht zusätzlich noch eine Zeitschrift gegründet, obwohl er dazu gedrängt worden ist. Eine Zeitschrift ist für den Prozeß der Institutionalisierung ein gutes Mittel, weil sie der Selbstinszenierung dient, die Gruppenidentität ausbaut, Einfluß auf die Lenkung der Forschung erlaubt und die eigene Sichtweise zu kanonisieren hilft. Man kann mit ihr das Feld effektiver besetzen Sozialgeschichte hätte sich mit Hilfe einer Zeitschrift wohl schneller durchgesetzt, mutmaßte Wolfgang Schieder nach Conzes Tod. Conze war später dann sehr von der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft" irritiert, die zum markantesten Tor der Sozialhistoriker zur (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit wurde und eine verstörend andere Konzeption von Sozialgeschichte vertrat. Er versuchte sein Versäumnis wettzumachen, indem er 1979 als Herausgeber den VSWG beitrat.110) -
III Der
„Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte"
Der „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte" war die dritte Institution neben Lehrstuhl und ISW, mit der Conze seine Position des Sprechers absicherte. Alle drei Institutionen waren verzahnt. Der Lehrstuhl stärkte seine persönliche Reputation und bot die Möglichkeit, Institut und Arbeitskreis zu gründen; im ISW wurden Lehre und Forschung auf der Schülerebene betrieben und koordiniert, außerdem war dort die Geschäftsstelle des Arbeitskreises angesiedelt; mit dem Emser Kreis griff er auf Ordinarienebene in den Wissenschaftsbetrieb aus und organisierte überregionale Forschungsprojekte (die teilweise wiederum am ISW durchgeführt wurden). Es war dieses dreifach gestützte institutionelle Podium, von dem herab die Sozialgeschichte mit Erfolg publik gemacht werden konnte. Die Gründungsgeschichte des Arbeitskreises ist bereits zweimal ausführlich dargestellt worden,111) deshalb gehe ich hier nur kurz darauf ein. Sie hat ihre
(SFSt. S/10); Wagner, Moderne Geschichtsschreibung, S. 106-111; Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung, S. 277 f. Heute wird der Glaube an die Effektivität von Teamarbeit gar als Mythos bezeichnet: Deckstein, Teamarbeit ein moderner Mythos. 110) W. Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte, S. 245 f. Zu den Möglichkeiten, die die Herausgabe einer Zeitschrift im wissenschaftlichen Konkurrenzkampferöffnet, vgl. Hartmann, Zum Eintritt in den 30. Jahrgang; Raphael, Die Erben von -
Bloch und Febvre, S. 206-226. m) Conze, Die Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 254-262. Vgl. aber auch Conze an Rothfels vom 27. 12. 1954 (BAKN 1213/158), 5. 7. 1957 (BAKN 1213/1); Conze an Hübinger vom 10. 11. 1956 (AK); Rothfels an Rassow vom 21. 9. 1957; Hübinger an Rothfels vom 6. 11. 1958; Max Braubach/Wemer Conze/Fritz Hartung/Peter Rassow, Aufgaben für eine Historische Bundeskommission, o.D. [Winter 1956/57] (BAK N 1213/24); Rundschreiben Rothfels' an die Vorstandsmitglieder des Historikerverbandes vom 12. 1. 1959 (BAK N
1179/52).
158
4. Die „Position des
Sprechers"
Vorgeschichte in Münster und Dortmund. Der Arbeitskreis hat seine Entstehung zu einem guten Teil persönlichen Beziehungen zu verdanken, da die Wissenschaftsförderung in den fünfziger Jahren noch relativ wenig institutionalisiert war bzw. Freiräume für die „privaten" Wissenschaftsförderungs-Initiativen Paul Egon Hübingers beließ. Dieser hatte mit Conze zusammen in Münster Seminare gehalten und war 1954 ins Bundesinnenministerium gewechselt, wo er als Leiter der Abteilung III für kulturelle Angelegenheiten vor allem für die Historiker erhebliche Gelder zu mobilisieren verstand. Hübinger war an Conzes Plänen interessiert, der ihm im selben Jahr zum ersten Male die Gründung eines „Instituts zur Geschichte der sozialen Bewegung oder Strukturgeschichte der industriellen Gesellschaft in Deutschland" vorgeschlagen hatte.112) In vertraulichen Briefen und auf Sonntagsspaziergängen wurde das Thema erörtert, aber die Planungen für das Max-Planck-Institut für Geschichte und eine „Historische Bundeskommission" mit mehreren Abteilungen, darunter einer sozialhistorischen, verzögerten und durchkreuzten Conzes Initiative. Als Hübinger 1956 nämlich hörte, daß Conze den Lehrstuhl in Heidelberg angenommen hatte, griff er gleich zu und sah in Conzes institutionellen Bestrebungen den Kern einer potentiellen Abteilung der Kommission. Für Conze freilich liefen
die Überlegungen inzwischen auf einen Arbeitskreis neben seinem Institut hinaus, in dem an Sozialgeschichte interessierte Wissenschaftler methodische und inhaltliche Probleme besprechen und sozialhistorische Forschung in Gang setzen sollten, eben auf den „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte". Das „modem" wird als Begriff nirgendwo ausdrücklich erläutert, aber es wird sowohl durch die Beschreibung seines Forschungsgegenstandes, dem Werden der modernen Welt, verständlich, als auch indirekt durch die zahllosen Bemerkungen Conzes, wie dieses Thema methodisch zu bewältigen sei: als integrale Sozialgeschichte (im Gegensatz zur alten, sektoralen). Hübinger und sein Kollege Peter Rassow dagegen legten den Schwerpunkt der Kommission auf eine damals klassische Aufgabe außeruniversitärer Institutionen, auf die Aktenedition. Der Arbeitskreis als Abteilung wäre dann für die Quellen zur Sozialgeschichte zuständig gewesen. Für Conze war diese Idee Gefahr und Chance zugleich. Chance, weil das seine Einrichtung solide institutionalisiert hätte, Gefahr, weil alles in eine unwillkommene Richtung zu laufen drohte. Er durfte freilich ein Exposé zur Kommission entwerfen, und geschickt nahm er die Gelegenheit wahr, den Editionsplan zum Vorschlag umzubiegen, die Abteilung auch auf historische Untersuchungen und theoretische Überlegungen anzusetzen. Wenn man schon in die offenbar unvermeidliche Bundeskommission hinein mußte, dann von vornherein mit einem Höchstmaß an Freiheit, um die Gelder für die eigenen Pläne abzuschöpfen. Carl Jantke bestärkte ihn darin, gute Miene zum bösen Spiel zu machen: Conzes Expose-Entwurf sei gut, weil unklar in allen zentralen Fragen. Es gehe nicht daraus hervor, inwie-
l12) Conze, Die Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, S. 24.
Ill Der „Arbeitskreis für moderne
Sozialgeschichte"
159
weit der Arbeitskreis wirklich Quellen zu edieren gedenke. Peter Rassow allerdings übernahm die Endredaktion des Exposés zur Bundeskommission und widersetzte sich zäh Conzes Vorstellungen. Rothfels, an der Planung beteiligt, hielt ebenfalls wenig von Rassows Editions-Plänen. Er habe von ihnen, so schrieb er Rassow, „wie man in einem solchen Fall ja wohl sagt, mit Interesse Kenntnis genommen. [...]. [I]ch [...] werde dem Entwurf meine Achtung bezeugen, indem ich ihn mir abschreiben lasse."113) Doch die Entwicklung verlief glücklich. Der Finanzminister versagte der Bundeskommission schon im Mai 1957 die Mittel. Hübinger verfolgte die Idee trotzdem weiter, aber mittlerweile spielten viele Historiker nicht mehr mit. Auf einer Sitzung der Leiter wichtiger Forschungskommissionen gab der neue Vorsitzende des Historikerverbandes, Hans Rothfels, der seit den frühen dreißiger Jahren ungute Erinnerungen an die Historische Reichskommission mit sich trug, Conze Flankenschutz, während die Vorsitzenden der Parlamentarismus-Kommission (Schieder, als Vertreter Conzes), des Emser Kreises (Conze) und der „Vereinigung für Neuere Geschichte" (Max Braubach) die Autonomie ihrer Institutionen wahren wollten. Alle lehnten einen revidierten Plan für die Bundeskommission als monströs ab.114) Sie verschwand aus dem wissenschaftlichen Alltag der Bun-
desrepublik.115)
Unterdessen hatte Werner Conze, nach einer Besprechung mit Hübinger kurz vor Weihnachten 1956, die Gründung des Arbeitskreises vorangetrieben. Er sollte nach seinen Vorstellungen aus zwölf bis 20 Mitgliedern bestehen, nach Möglichkeit Habilitierten, denn nur ihnen wurde die Fähigkeit zugeschrieben, Forschungsvorhaben leiten bzw. begutachten zu können, und zwar Historikern (die das Schwergewicht bilden sollten und dann auch bildeten), Soziologen, Geographen, Nationalökonomen und Staatsrechtlern, sofern sie ein „Organ für Geschichte" aufwiesen.116) Die Auswahl sei nicht groß, aber der Nachwuchs komme. Es wurden acht Ordinarien angeschrieben: Ludwig
113) 114)
Rothfels an Rassow vom 29. 1. 1957 (BAK N 1213/24). In dieser Sitzung trat Conze im Grunde also gleich dreimal auf: Als Vertreter des Emser Kreises, als Vorsitzender der Parlamentarismus-Kommission (vertreten durch Schieder) und als Mitglied der Vereinigung für Neuere Geschichte. Zusätzlich nahm sein Protektor, Rothfels, teil. Das war eine geschickte Ballung des Machtpotentials. Die Vereinigung für Neuere Geschichte war ebenfalls als eine Vorabgründung für die Bundeskommission gedacht gewesen, Conze war vermutlich aus taktischen Gründen Mitglied. 1959, nachdem sein Arbeitskreis gesichert war, trat er, wie erwähnt, aus. 115) Sozialhistorische Quellen ließ Conze später in seiner sozialhistorischen Abteilung in der Historischen Kommisssion bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften edieren. Er wollte dieses Feld durchaus bestellen: Typologie landständischer Verfassungen, Quellen zur Sozialgeschichte der deutschen Nationalstaatsbildung, Quellen zur Arbeiterverbrüderung 1948-1952 usw. lauteten 1960 seine Vorschläge; Quellen über die Bauernbefreiung wurden 1966 herausgegeben: Conze an Aubin vom 19. 11. 1960; Vorberichte der Herren -
Abteilungsleiter für die Jahresversammlung der Historischen Kommission am 879. 3. 1966, S. 21-25 (BAK N 1166/267). Vgl. auch Zorn, Werner Conze zum Gedächtnis, S. 156. 116) Conze an Hübinger vom 10. 11. 1956 (AK).
160
4. Die „Position des
Sprechers"
Beutin, Brunner, Ipsen, Jantke, Richard Nürnberger, Schieder, Wilhelm Treue
und Georg Weippert, und selbstverständlich wurde Hübinger eingeladen. Diese Gruppe bildete fortan den Kern des Arbeitskreises (ab 1958 stieß auch der nichthabilitierte Nachwuchs hinzu, in den folgenden Jahren dann Erich Maschke und andere Gäste mit Professorenstatus). Conze legte ihnen seinen Plan dar und lud zur ersten Aussprache nach Bad Ems ein, wo der Arbeitskreis einige Jahre lang regelmäßig tagen sollte. Nachdem dieses Treffen erfolgreich verlaufen war, fehlte nur noch die feste Etatisierung des Arbeitskreises, um nicht weiterhin von Hübingers „Dispositionsfonds" abhängig zu sein. So sicher war diese Quelle nicht. 1959 bekam der Emser Kreis seinen eigenen Etat beachtliche 100000 DM per anno -, und damit war die äußere Institutionalisierung des Arbeitskreises abgeschlossen. -
IV Was ist Sozialgeschichte? Die innere Institutionalisierung des Arbeitskreises hat viel mit einer Frage zu tun, die bislang nur gestreift wurde: Was ist Sozialgeschichte überhaupt? Die zeitgenössische Antwort darauf kann man in den Tagungsprotokollen ablesen, und zwar in der Art, wie die Diskussion verlief. Zunächst hatte Conze den Rahmen abgesteckt, den er wenige Jahre später, 1961, in einem einzigen Satz so zusammenfaßte: Aufgabe des Arbeitskreises sei „1. in Verbindung mit Spezialreferaten auf jährlich zwei wissenschaftlichen Tagungen Hauptprobleme der modernen Sozialgeschichte (vornehmlich in Deutschland und Europa) in ihrer historischen Gesamtverflechtung kontinuierlich zu diskutieren, und zwar in Zusammenarbeit mit Vertretern der Fächer, die sich unter den für sie spezifischen Gesichtspunkten mit den Strukturwandlungen der Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert befassen, um die zur angemessenen Erörterung und Analyse des geschichtlichen Strukturzusammenhanges der modernen Industriegesellschaft unerläßlichen Voraussetzungen (einschließlich der wissenschaftstheoretischen und methodologischen) zu gewinnen; 2. Forschungsarbeiten über Themen aus diesem Bereich anzuregen, durchzuführen und der Öffentlichkeit zu-
gänglich zu machen."117) Inhaltliche, methodische, theoretische, interdisziplinäre Selbstvergewisserung verquickt mit der Publikation empirischer Arbeiten als der praktischen Seite der theoretischen Beschäftigung mit Sozialgeschichte bildeten eine Einheit. Es ging nicht nur um bloße Forschungsorganisation, sondern immer auch um die Klärung der Thematik, die man bearbeitete.118) Doch um Sozialgeschichte schreiben zu können, muß man wissen, was Sozialgeschichte ist. Das wurde auf der ersten Sitzung des Arbeitskreises auszuloten ln) Anlage zum Schreiben an das Bundesinnenministerium vom 16. 3. 1961, S. 10 (AK). 118) vgl. das Protokoll der Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte am
23V24. 10. 1957, S. 1
(AK).
IV Was ist
161
Sozialgeschichte?
versucht. Conze erklärte dort, am 25. April 1957, zur „Aufgabe der Geschichtswissenschaft, eine ,Theorie des gegenwärtigen Zeitalters', wie sie z.B. Hans Freyer aufgestellt habe, historisch-kritisch zu unterbauen oder zu überprüfen, m.a.W. die Struktur der modernen Welt seit den Emanzipationen [sie!] und der Revolution in ihrer geschichtlichen Tiefe zu untersuchen, sowohl im Hinblick auf das spezifisch Neue der modernen Weltepoche wie auf die Kontinuität weiterwirkender, vorrevolutionärer Traditionen." Dem müsse die historische Methodik angepaßt werden, und terminologisch konnte Conze das „nicht unter den Begriff der Sozialgeschichte subsumieren, weil dieser zu eng sei. Besser sei der Begriff (Struktur-)Geschichte der modernen Welt oder ein ähnlicher."119) Nach Conzes Referat wurde diskutiert, zuerst die Begriffsfrage. Was genau sei mit „Strukturgeschichte" gemeint, wollte Richard Nürnberger wissen, und Conze benutzte ohne seine Überlegungen von 1952 zu wiederholen den Begriff „Verfassung" als Synonym. Ungern allerdings, da diese Bezeichnung schon belegt sei, ebenso wie „Wirtschafts- und Sozialgeschichte". Auch „Strukturgeschichte" sei nur eine Verlegenheitslösung, an der Otto Brunner freilich bei allen Bedenken als der besten festhalten wollte. Weiter wurde die Begriffsfrage damals nicht verfolgt, bekanntlich geriet der Strukturbegriff dann im praktischen Forschungsvollzug ins Hintertreffen. Schon am Ende derselben Tagung war „die Arbeit des,Emser Kreises unter den Oberbegriff der Sozialgeschichte (Verfassungsgeschichte) der modernen Welt gestellt" worden.120) Das Verhältnis von Soziologie und Sozialgeschichte kam ebenfalls zur Sprache und wurde ähnlich pragmatisch behandelt. Nach gemeinsamer scharfer Verurteilung einer geschichtsfremden Soziologie markierte Günther Ipsen den Unterschied zwischen Geschichte und Soziologie, indem er der Soziologie die Bildung einer abstrakt-allgemeinen und systematischen Begrifflichkeit als Aufgabe zuschrieb, während das Erzählen, „,wie es wirklich gewesen ist'"121) konstitutiv für die Historiker sei. Hier lag für ihn die Grenze, an der bei der Bearbeitung jedes Themas ausgemacht werden mußte, wieweit beide Wissenschaften kooperieren könnten und welche gegebenenfalls die Führung übernehmen sollte. An der markierten Grenze, so ergab sich aus der weiteren Diskussion, waren allerdings ebenso die Überlappung der beiden Wissenschaften und gleichzeitig ein gewichtiges Problem für die Sozialgeschichte zu finden. Der gewaltige Strukturumbruch um 1800 verbiete den Historikern geradezu das naive Erzählen nach Art der Vorväter um 1900, gleichwohl dürften sie es nicht unterlassen zu erzählen, um verständlich zu bleiben. Wie nötig und wie unmöglich war also das Erzählen? Wie nötig und wie gefährlich waren syste-
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119) Protokoll der Tagung über „Sozialgeschichte der modernen Welt" am 25726. 4. 1957 in Bad Ems, S. 1 (AK). 120) Ebd., S. 11. !2i) Ebd.,S. 3.
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4. Die
„Position des Sprechers'
matische Begriffe? Und wie war die Rißstelle konkret zu vernähen? Man bot keine Lösung, man sprach das Problem an.122) Im weiteren Verlauf und auf den nächsten Tagungen sprachen die Versammelten in erster Linie über die Themen, die den Kreis bewegen sollten und für die er Forschungen anstoßen wollte. Die Palette der Vorschläge war vielfältig: Agrarverhältnisse und soziale Emanzipation, Pauperismus, Herkunft und Lage des Proletariats, Stand und Klasse, Arbeiterbewegung, Erforschung des Mittelstandes und anderer sozialer Gruppen, Untemehmensgeschichte und Unternehmerbiographien „(Die Persönlichkeit in der modernen Welt!)",123) Entstehung der Großindustrie im Ruhrgebiet, die Haltung des Staates zur sozialen Frage, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Vormärz, Technik und Gesellschaft bzw. moderne Welt, die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit und das Problem der Ideologien, der Imperialismus in der letzten Phase europäischer Herrschaft über die Erde usw. Aber die Vielfalt der Projekte kreiste um eines: um die „Sozialgeschichte der modernen Welt (insbes. die Strukturgeschichte des Zeitalters der .europäischen Weltrevolution', d.h. die gesellschaftlichen Wandlungen unter den Bedingungen des Industrialisme seit dem 18. Jahrhundert in ihrer historischen Gesamtverflechtung)."124) Es war dieses Thema, das mit immer neuen Formulierungen umschrieben wurde und die Forschungsarbeit des Arbeitskreises bestimmte. Es wurde immer von diesem Thema her argumentiert, auch wenn es um inhaltliche, methodische oder (wissenschafts-jtheoretische Fragen ging. In den Worten Carl Jantkes: ,„Methodenfragen' können jedenfalls im Bereich der historischen Forschung sinnvoll nur diskutiert werden von dem spezifischen Sachinteresse aus, das den jeweiligen Bemühungen des Historikers zugrundeliegt. Nur von einer bereits gewonnenen Gegenstandsnähe her haben solche Erörterungen einen Sinn."125) Deshalb haben wir bislang keine Definition des Begriffes „Sozialgeschichte" gefunden, deshalb werden wir auch keine finden.126) Es gab das Konzept und es gab die
122) Vgl. ebd., S. 2-5. Daß auch im Heidelberger Forschungsalltag die Grundlagen der Sozialgeschichte nicht reflektiert wurden, bestätigte mir Heilwig Gudehus. Nur unter dem Druck der 68er-Ereignisse habe es eine Phase gegeben, in der man eine Theoriediskussion zu
fuhren versucht habe. Conze habe sie
später eher erleichtert
wieder fallenlassen
(Ge-
spräch am 1. 10. 1999). 123) Protokoll der Tagung über „Sozialgeschichte der modernen Welt" am 25726. 4. 1957 in Bad Ems, S. 8f. (AK). 124) Antwort Conzes auf einen Fragebogen des Wissenschaftsrates vom 8. 7. 1959 (AK). ,25) Protokoll der Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte am 11712. 10. 1960, S. 18 (AK). Ähnlich Brunner in seinem Vortrag „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" vom 25. 10. 1966 in Salzburg, S. 11 (StAH 622-2, Nr. 18). Als 1954 die Vertreter mehrerer Institute die Ruhrgebietsforschung koordinieren wollten, handhabten sie die Definition „Ruhrgebiet" ebenfalls recht pragmatisch, vgl. Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volkskunde [...], Die geschichtliche Erforschung des rheinisch-westfälischen Industriegebietes, S. 15 f. 126) Auch auf einer späteren Tagung wurde die Definition von „Sozialgeschichte" diskutiert und nicht geklärt. Vielmehr hatte man rasch zu kritischen Bemerkungen über die Annales und
IV Was ist Sozialgeschichte?
163
Suche nach einem Begriff, der erfolgreich das Konzept in der Öffentlichkeit Solch ein Begriff sollte einerseits beim Adressaten automatisch die richtigen Vorstellungen, was sich mit ihm verbinde, aufrufen, andererseits aber klar abgrenzen und ausschließen, also das Bezeichnete zu anderen Begriffen in Gegensatz- bzw. Komplementärbeziehungen setzen.127) Wegen dieses doppelten Verweises auf die eigene Sache und auf andere Begriffe mußte „Sozialgeschichte" hinreichend scharf bestimmt werden. Deshalb gab es eine Diskussion, um sie zu definieren, sowie Bemühungen, den Begriff zu besetzen. Die Vorstellung von der Sache mußte hinreichend klar, die Verbindung mit einem Begriff einigermaßen einmalig, sein Verhältnis zur Nachbarschaft halbwegs eindeutig sein. Gleichzeitig führten die Bemühungen, Sozialgeschichte zu definieren, nie endgültig zu einem Ziel. Das konnten sie nicht, weil sich zu viele unterschiedliche Gebrauchsweisen mit dem Begriff verbanden. Er behielt seine Mehrdeutigkeit, weil er nicht eindeutig verwendet wurde, und er wurde mehrdeutig verwendet, weil letztlich die Bemühungen um Eindeutigkeit erfolglos blieben und erfolglos bleiben mußten. Denn der Begriff hatte hinreichend offen zu sein, um neue Entwicklungen aufgreifen und vereinnahmen zu können. Was wäre aus der Familie geworden, wenn Sozialgeschichte als „Arbeiterbewegungsgeschichte" definiert worden wäre? Aber er bedurfte auch nicht unbedingt der Eindeutigkeit, denn „Pferde können als solche erkannt und geritten werden, ohne daß man sie definieren kann".128) Der Begriff hatte Symbolfunktion. Er wirkte als Bild und suggerierte Schärfe, indem er das Bezeichnete zusammenfaßte und kohärenter machte, als es war. Aber Begriffe ändern ihren Inhalt in der Auseinandersetzung um ihre Bedeutung und durch ihre Verwendungsweisen. Sie ändern ihn durch Modernisierungsversuche, Übernahmen oder Neuaufladung im Gefolge gesellschaftlicher Änderungen. Oder sie werden durch Ächtung stillgestellt. Genau das bekam, wie wir im letzten Kapitel sehen werden, die frühe Sozialgeschichte zu spüren. Die „Historische Sozialwissenschaft" entwarf nämlich neben der Selbstbezeichnung einen Gegenbegriff, dem sie erfolgreich alle Defizite, die sie dem gegnerischen Lager zuschrieb, aufbürdete. Durch diese „Begriffspolitik" (Sarah Schmidt) wurde der Gegner, der „Historismus", ebenfalls kohärenter dargestellt, als er war, und in den Sog seiner systematischen Abwertung geriet auch die „Sozialgeschichte", die mit ihrer Selbstbezeichnung plötzlich ein als veraltet angegriffenes Konzept verbunden sehen mußte.129) vertreten könnte.
die sowjetische Geschichtswissenschaft gefunden und dadurch eine negative Abgrenzung der eigenen Sozialgeschichte vorgenommen (vgl. Protokoll der Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte am 9. Oktober 1962 in Bad Ems, S. 3f. (BAK N 1188/461). 127) Gegenüber Karl Lamprecht oder G.W.F. Hallgarten etwa sollte mit Nennung des Begriffes „Sozialgeschichte" Opposition verstanden werden, gegenüber der Wirtschafts- und Sozialgeschichte oder der Politikgeschichte gewisse Formen der Kooperation. 128) Hobsbawm, Von der Sozialgeschichte zur Geschichte der Gesellschaft, S. 345. 129) vgl. zum vorhergehenden auch Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft,
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4. Die
„Position des Sprechers"
Zunächst jedoch versuchten Brunner, Conze und ihre Kollegen, für ihr Projekt die richtige Bezeichnung zu finden. Sie mußte die Erinnerung an bereits etablierte Forschungsrichtungen wachrufen, also Fremdheit beseitigen, und im selben Moment klarmachen, daß es um etwas Neues ging, also Abgrenzung erzeugen. Daß Otto Brunner, führend bei diesem Versuch, sich bei der Wahl der Begriffe über Jahre hinweg nicht entscheiden konnte, war symptomatisch. Vor 1945 bereiteten ihm „Vblksgeschichte" und „inneres Gefüge" keine Schwierigkeiten, sie waren anschließend aber „mißverständlich", wie er einmal bemerkte.130) 1948, 1953 und 1956 sprach er von „Sozialgeschichte", der Begriff war ihm von früher her bekannt. 1958 erlebte das „innere Gefüge" eine kurze Renaissance, 1959 hatte er von Conze dann den Begriff „Strukturgeschichte" übernommen, um den Lesern 1962 wiederum eine „sozialgeschichtliche Konfrontierung" und 1968 den Titel „Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte" anzubieten, nachdem ihm zwischendurch (1966) keiner dieser Begriffe mehr so richtig gepaßt hatte.131) Da „Verfassungsgeschichte" einschlägig belegt war und als Begriff mehr als jeder andere von dem zu Bezeichnenden aufdas Abzulehnende gelenkt hätte, von der neuen Sozialgeschichte ausgerechnet auf die veraltete Verfassungsgeschichte, blieb nur „Sozialgeschichte". Dieser Begriff war zunächst an das engführende Fach der „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" gebunden, doch nach einigen Jahren stellte sich heraus, daß durch die immer ausgedehntere Forschung in Heidelberg, Hamburg und anderswo die einengende Konnotation aufgebrochen und der Begriff in die gewünschte Weite geführt worden war. „Sozialgeschichte" setzte sich, wenn man so will, nicht auf dem heißen Wege theoretischer DiskusS. 384-388, 502f.; Mergel, Kulturgeschichte die neue „große Erzählung"?, S. 46-54; Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, -
S. 516f. 13°) Daß der Begriff „Volksgeschichte" nach 1945 völlig inopportune politische Hintergedanken mobilisierte, ließ nur wenige ganz Unverdrossene wie Max Hildebert Boehm kalt. Boehm wollte noch 1954 die deutsche Geschichte als Vblksgeschichte geschrieben sehen, mit denselben Konzepten und Zielen wie nach 1918 (in der Zeit der staatlichen Auflösung sei der Wesenskern des deutschen Volkes zu erhalten, um dem politischen Selbstmord vorzubeugen): Boehm, Deutsche Geschichte als Volksgeschichte. Wittrams Landsmann und Vetter Boehm stand im Wesentlichen auf dem Boden der alten Volkstumspolitik: Wittram an von Raumer vom 21. 4. 1953 (ULBMs Nl von Raumer B 264). 131) Vgl. Brunner, Sozialgeschichtliche Forschungsaufgaben, erörtert am Beispiel Niederösterreichs; Ders., Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte; Ders., Neue Wege der Sozialgeschichte; Ders., Inneres Gefüge des Abendlandes; Ders., Das Fach „Geschichte" und die historischen Wissenschaften, S. 24; Ders., Land und Herrschaft (5. Aufl.), S. 164, Anm. 1; Ders., Hamburg und Wien; Ders., Zum Begriff des Bürgertums, S. 15f.; Ders., Landesgeschichte und moderne Sozialgeschichte, S. 337; Ders., Rez. Historia Mundi, Bd. 7, S. 44. 1966 hielt er seine Bemühungen für gescheitert: „Begriffe sind an die organisierten Fachwissenschaften gebunden und nicht davon zu lösen" (Brunner, Sozialund Wirtschaftsgeschichte. Vortrag in Salzburg am 25. 10. 1966, S. 11 [StAH 622-2, Nr. 18]).
IV Was ist Sozialgeschichte?
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sionen und definitorischer Präzisierungen durch, sondern auf kaltem Wege, indem er immer häufiger benutzt und eingeschliffen wurde. Aber keiner wußte, was wirklich unter ihm zu verstehen war. Auch nachdem er sich endlich als der treffendste, am wenigsten belastete und am wenigsten irreführende Begriff durchgesetzt hatte, blieb er eine Formel, die die Interessen und Forschungen einer Reihe von Historikern und anderer Wissenschaftler bündelte und die ihnen gewissermaßen als Schlachtruf dienen konnte. War „Sozialgeschichte" aber eine Methode? Oder war es nur ein bestimmter Themenkomplex, wie er in den Akten des Arbeitskreises in immer neuen Wendungen umschrieben wird? Conzes Definitionsversuche blieben alles andere als widerspruchsfrei: Sozialgeschichte habe es mit der Erforschung gesellschaftlicher Strukturen und Bewegungen zu tun, die zeitlich nicht mit Kausalketten politischer Ereignisse und Entscheidungen korrespondierten. Ihr fundamentaler Begriff sei „Gesellschaft"; sie sei kein Fach, sondern Betrachtungsweise; Sozialgeschichte (als Fach) verbinde sich mit der Wirtschafts- und Politikgeschichte; sie verbinde (als Sichtweise) Strukturen und Handlungen, lege aber das Schwergewicht auf die dem politischen Entscheidungshandeln zugrundeliegenden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen. Sie sei nicht soziale Theorie, sondern unterliege der historischen Methode.132) Geklärt wurden derartige Brüche nicht. Sozialgeschichte wurde auf einem gewissen gemeinsamen Nenner vollzogen. Bestimmte Kollegen galten als Sozialhistoriker, und ein bestimmter Themenkomplex, der beständig ausgeweitet wurde, galt als Sozialgeschichte, wobei verschiedene Historiker oder auch Lehrerganz unterschiedliche Dinge unter diesem Begriff verstehen konnten. Je mehr sich Sozialgeschichte aber von ihren ursprünglichen Trägem löste, also durchsetzte, desto mehr zerfaserte sie in unterschiedliche Richtungen, desto vager und allgemeiner wurde der Begriff bis heute so gut wie jeder Historiker als Sozialhistoriker bezeichnet und gleichzeitig ernsthaft behauptet werden kann, Sozialgeschichte sei auf dem Rückzug begriffen. Die Unklarheit, die für die junge Sozialgeschichte kennzeichnend war, vor allem das zunächst fehlende Etikett, hat die Rezeption durch die Kollegen zu Beginn wohl erheblich erschwert. Für Sozialhistoriker selbst stellte die Unklarheit kein ernstes Hindernis dar. Die angerissenen Debatten führten im Arbeitskreis nicht zu Dissens, die Tagungsteilnehmer konnten sogar die erstaunlich große Differenz zwischen den sozialhistorischen Konzeptionen Otto Brunners und Werner Conzes überspielen, ohne in Nöte zu geraten. Brunners Sicht konvergierte zwar mit derjenigen Werner Conzes und Hans Freyers, mit beiden -
er dasselbe Periodisierungsschema der Geschichte: Erst kam „Alteuropa", dann die Moderne. Doch für Conze und Freyer war die Zeit, die Brunner
teilte
132) Vgl. Werner Conze, Thesen zur Begriffsbestimmung von „Sozialgeschichte". 2. Internationaler Kongreß für Wirtschaftsgeschichte, Aix-en-Provence, 28. 8.^t. 9. 1962 (HStAS J 40/10, Nr. 51); Conze, Die sozialgeschichtliche Bedeutung der deutschen Revolution von 1918/19, S.71. Einen weiteren der spärlichen Definitonsversuche lieferte 1969 Wolfram Fischer: Fischer, Artikel „Sozialgeschichte".
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4. Die „Position des
Sprechers'
untersuchte, Vorgeschichte. Ihre Zeit war aus der „Schwelle", dem Umbruch zur modernen Welt, hervorgegangen, die seiner Zeit das Ende bereitet hatte. Alle drei verspürten Unbehagen angesichts der Moderne, doch während Conze
und Freyer die Moderne in der näheren Vergangenheit zu bewältigen trachteten, ging Brunner in die fernere zurück, um ein Gegenbild zur näheren zu entwerfen. Brunners Vorstellung der sozialen Strukturen war eher statisch, von Dynamik berichtete er ansatzweise für die Zeit gegen Ende „Alteuropas" als Untergang. Conzes Strukturgeschichte dagegen analysierte, wie das Zeitalter der dreifachen Revolution die permanente Dynamik der sozialen Ordnung in Gang gesetzt hatte vielleicht war Conze deshalb rascher bereit gewesen, den Strukturbegriff ad acta zu legen? Beide Konzeptionen näherten sich also derselben Grenze, doch von zwei Seiten, ohne die Grenze ernsthaft zu überschreiten, und Carl Jantke hat 1960 auf einer Tagung des Emser Kreises diesen Tatbestand in die interessante Frage gefaßt, ob sich Brunner und Conze mit ihren Konzeptionen von Sozialgeschichte wohl zurecht aufeinander bezögen? Brunners Sozialgeschichte sei keine Integrationswissenschaft wie die Conzes, sondern baue gerade auf einer vollständigen Ablehnung des Trennungsdenkens auf im Rückgriff auf eine Vergangenheit, der es noch nicht entspreche. Conzes Integrationswissenschaft dagegen müsse das Trennungsdenken voraussetzen, um es dann im Vorgriff auf eine Zeit, der es nicht mehr entspreche überwinden zu können. Brunner dachte, wie wir gesehen haben, seine Sozialgeschichte vom „inneren Gefüge" her, das ihr die Einheit von innen verlieh, Conze die seine von einer Interdependenz verschiedener Sphären her, die sie von außen zusammenpreßte.133) Das ist eine wichtige Differenz der beiden sozialgeschichtlichen Ansätze Brunners und Conzes. Das 19. Jahrhundert lag wie ein Block zwischen einer besseren Vergangenheit und einer besseren Zukunft, und beide versuchten, der eine als Mittelalter- und Frühneuzeithistoriker notwendig vor ihm, die anderen als Neuzeithistoriker notwendig nach ihm, die Folgen dieses Jahrhunderts historiographisch zu bewältigen. Beide griffen aber auch über die Schwelle auf die jeweils andere Seite hinüber. Brunner zumindest vor der deutschen Kapitulation hatte auf eine Zukunft vorzugreifen, die vermeintlich dabei war, das Trennungsdenken wieder zu überwinden. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die ungenierte Spiegelung über das 19. Jahrhundert hinweg entfallen mußte, mag Jantke recht haben, Brunner schien tatsächlich leicht nostalgisch nur die Vergangenheit zu untersuchen. Umgekehrt umklammerte auch Conze immer den Block, indem er in eine Zeit zurückgriff, der das Trennungsdenken noch nicht entsprach. Conzes Konzept bedurfte, zumindest in allgemeinen Sätzen, immer auch des in sich ruhenden Alteuropas Brunners, um das für Brunner ungeheuerliche, für Conze eher bedrückende Außergewöhnliche des -
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133) vgl.
das Protokoll der Tagung des Arbeitskreises für moderne 11./12. 10. 1960, S. 23 (AK).
Sozialgeschichte
am
IV Was ist
167
Sozialgeschichte?
19. Jahrhunderts heraustreten zu lassen: die Permanenz der Instabilität. Ausgerechnet der Soziologe Jantke mahnte sie nun seine Kritik mit beschwichtigenden Formeln formal entschärfend -, das 19. Jahrhundert historistischer zu behandeln. Er sah es zerrieben zwischen zwei leistungsfähigen sozialhistorischen Ansätzen, von denen Brunners frühneuzeitlicher die Besonderheiten des 19. Jahrhunderts als Nachzeit nicht mehr erfassen könne, während Conze verkürzten soziologischen Vorstellungen von Emanzipation und Revolution auf den Leim zu gehen drohe, Vorstellungen, die die historische Komplexität auf ökonomische und technische Prozesse reduzierten. Conze, so schien es Jantke, konnte das 19. Jahrhundert noch nicht angemessen erfassen, sondern laufe Gefahr, es ungewollt! allein als Vorzeit zu sehen. „Die sich den sozialgeschichtlichen Problemen des 19. Jahrhunderts widmende Geschichtsforschung steht stärker als je zuvor im Banne einer soziologisch vorgedachten Entwicklungsgesetzlichkeit, wobei das 19. Jahrhundert mit einer oft erstaunlichen Selbstverständlichkeit als eine Art Vor- oder Durchgangsstufe zur vollentwikkelten Industriegesellschaft mit ihren sog. SuperStrukturen, ihrem .reduzierten Menschen', ihrem .sekundären System', um nur einige der gängigsten Formeln, die die Historie von der Soziologie übernommen hat, angesehen wird."134) Jantke warnte vor einer ganz anderen begriffsgeschichtlichen Falle als Brunner. Der hatte ja gemahnt, „Realbegriffe" wie „Feudalismus" oder „Staat" vor ihrer Verwendung kritisch zu prüfen, und er war darauf aufmerksam geworden, weil für seinen Forschungszeitraum Gegenstand und Begriff so wenig zusammenpaßten. Jantke sagte zweierlei: Einmal, daß auch die vermeintlich rein technischen Begriffe wie „Funktion" oder „Interdependenz" nur vordergründig frei seien von einem bestimmten historischen Kontext, zwar für alle Zeiten anwendbar schienen, aber heimlich dazu verleiteten, doch ein historisch gebundenes Bild auf die Vergangenheit zu übertragen. Und zum andern sah er Conze in die Falle laufen, wenn er „Emanzipation" oder „Bewegung" als die Charakteristika des 19. Jahrhunderts ansehe, also als Realität, statt zunächst einmal als das, was sie tatsächlich waren: als soziologische Begriffe, wenn auch durch die damaligen Zeitgenossen geprägte. Conze, das merken wir nun, hat nur die eine Hälfte von Brunners Begriffstheorie wirklich beherzigt: Vorsicht bei der Übertragung von Begriffen zurück. Bei der anderen Hälfte, der Konstruktion der Begriffe aus ihrer Zeit, verfuhr er sorglos. Weil er seine soziologischen Begriffe auch von den Zeitgenossen benutzt fand und von nie-
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mand anderem, von keiner anderen Zeit, hielt er sie schon für Realität (sogar für das Ganze der Realität), denn sie waren ja so offensichtlich von nirgendwo-
134)
Protokoll der
Tagung
des Arbeitskreises für moderne
Sozialgeschichte
am
1960, S. 21 (AK). Vgl. auch Jantke, Zur Deutung des Pauperismus, S. 11-13, Kritik
um
zwei Defizite erweitert wiederholt.
11712. 10. diese
wo er
168
4. Die „Position des
Sprechers"
übertragen worden.135) Jantke wünschte sich dagegen eine differenzierte Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, die es in seiner Eigenart anerkenne.136) Jantkes Referat ist die einzig wirklich tiefgehende theoretische Analyse, mit der der Emser Kreis sich seinerzeit über die Themen Soziologie und Geschichtswissenschaft bzw. das Problem der Begriffsbildung selbst zu vergewissem suchte. Grundlegend änderte dieses Referat nichts. Es wurde diskutiert, Brunner war leider abwesend, Conze verteidigte seine Stellung. Noch 1967 machte sich der Arbeitskreis auf die Suche nach dem Beginn der „modernen Welt", und zwar allen Ernstes mit dem Ansatz, mit Hilfe von Indikatorbegriffen wie „Beschleunigung", „Verzögerung", „Prozeß" oder „fixierbarem ,Wachstums'beginn", die sich aus der Beobachtung ergäben oder aber aus der Zeit gewonnen werden könnten, zu operieren. Ökonomische Theorien seien zu prüfen, zu kritisieren und dann in anderen Lebensbereichen aufzusuchen (nicht: ihnen anzulegen!). Man sprach von „Realphänomenen" und „Bewußtseinsphänomenen" (der Zeitgenossen), alles lag in der Realität vergraben und war gleichsam archäologisch klar zu bestimmen. Das hatte wenig mit einer kritischen „Archäologie" der Begriffe zu tun, wie sie Brunner und Jantke entworfen hatten.137) Es scheint, daß Reflexion dem Arbeitskreis weniger der Selbstkritik denn der Selbstvergewisserung gedient hat. Die Theoriediskussion sollte den eigenen Kurs sichern und über den Vollzugsra/tmen zukünftiger Arbeit Einigkeit herstellen. Deshalb mußte Jantkes Referat keine Konsequenzen provozieren, am Ende zogen nämlich, wie Jantke richtig sah, doch alle an einem Strang. Es reichte zu sehen, daß der Dissens hinreichend klein und das Profil her
135) Das wird auch deutlich in Conze, Politische Willensbildung im deutschen Kaiserreich als Forschungsaufgabe historischer Wahlsoziologie, S. 335: Die Fünfgliederung des deutschen Parteiensystems sei keine postume Konstruktion, sondern der Zeit entnommen. 136) vgl. Jantkes ausführliches Referat zu diesen Fragen im Protokoll der Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte am 11712. 10. 1960, S. 16-24, und die Diskussion auf den Seiten 24-26 (AK). Schon Richard Nürnberger hatte drei Jahre zuvor gewarnt, „die Sonderstellung der modernen Welt zu überschätzen": Protokoll der Tagung über „Sozialgeschichte der modernen Welt" am 25726. 4. 1957, S. 5 (AK). Conze hat nicht nur Brunners theoretische Überlegungen ignoriert, sondern auch dessen vielschichtiges Herrschaftsmodell. Trotz gegenteiliger Bekundungen übertrug er das moderne Nationenverständnis in die Vergangenheit während Brunner sein Herrschaftsmodell bis 1848 vorschob: Erst danach werde die Vorstellung eines einheitlichen Staates anwendbar (Brunner, Staat und Gesellschaft im vormärzlichen Österreich im Spiegel von J. Beidtels Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1740-1848, S. 51-58, 75. Ganz gegenteilig freilich das, was er neun Jahre zuvor geschrieben hatte: Brunner, Kaiser und Reich im Zeitalter der Habsburger und Luxemburger). 137) vgl. das Rundschreiben Conzes an die Mitglieder des Arbeitskreises vom 9. 5. 1967 (AK). Ganz in diesem Sinne wurde die Frage: „Was ist, wann und wie beginnt die .moderne Welt'", zum Generalthema für das Jahr 1970 erklärt: Erläuterungen zur allgemeinen Thematik der Oktober-Tagung 1970 des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte (StAH 622-2, Nr. 51). -
IV Was ist
Sozialgeschichte?
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hinreichend scharf blieben, um erfolgreich sozialhistorische Forschung auf die Gleise setzen zu können. Das leistete der Arbeitskreis. Conze hatte die entscheidende Stellung inne. Er leitete den Emser Kreis geschickt, freundlich und tolerant, aber er dominierte ihn auch.138) Er war derjenige, über den, nach der Etatisierung des Arbeitskreises, die Anträge zur Forschungsfinanzierung liefen, er war derjenige, der umfangreiche Mittel bewilligen konnte. Natürlich entschied der Arbeitskreis als Ganzes über die Vergabe von Forschungsaufträgen, natürlich konnte Conze seinen Ordinarien-Kollegen im Arbeitskreis nicht nach Gutdünken Gelder verweigern. Aber die Akten verraten, daß er im Mittelpunkt stand. Plötzlich wurde der ehemalige Schüler selbst von Ipsen befragt, ob alles so laufe, wie er es wünsche (obwohl Conze wiederum nie seiner Schülerrolle entkam und Ipsen immer um den Rat des Meisters bat139)). Der Arbeitskreis entwickelte eine umfangreiche Förderungstätigkeit. Den für damalige Verhältnisse erheblichen Etat benötigte er, um „auch in Zukunft mindestens zwei große Forschungsvorhaben mit jeweils drei bis vier Mitarbeitern und 1 bis 2 Forschungsarbeiten mit jeweils einem Mitarbeiter durchführen zu können."140) Derartige Vorhaben waren etwa Wolfram Fischers Projekt über „Die Entstehung der Großindustrie im Ruhrgebiet" an der Sozialforschungsstelle, eine finanzielle Förderung des Amsterdamer „Internationalen Instituts für Sozialgeschichte" (die Idee wurde fallengelassen) oder die im Bereich der Arbeiter- bzw. Industrialisierungsgeschichte angelegten Untersuchungen von Wolfgang Schieder, Heilwig Schomerus, Peter Borscheid, Wolfgang Köllmann, Hans-Jürgen Teuteberg, Frolinde Baiser und anderen. Doch der Vorstoß in die wissenschaftliche Öffentlichkeit geschah konzentrierter als allein durch die Förderung verschiedener, um das zentrale Thema gruppierter Studien. Zum einen entschloß sich der Arbeitskreis, eine eigene Publikationsreihe herauszugeben, in der die Ergebnisse der Projekte veröffentlicht wurden. Eine solche Publikationsreihe bot ein viel wirksameres Mittel, sich in der akademischen Welt zu verankern, als vereinzelt erscheinende Bücher oder das eine Heft der HZ, das Theodor Schieder dem Arbeitskreis zur Verfügung stellen wollte. Die „erste Visitenkarte nach außen"141) war der Band über „Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz", der aus den Referaten Conzes, Jantkes, Brunners, Schieders, Reinhart Kosellecks, Wolfram Fischers, Nürnbergers und Wolfgang Zorns bestand, die diese auf der Herbsttagung des Emser Kreises 1958 gehalten hatten. („Unter dem Thema ,Staat und Gesellschaft in der Bewegung der Zeit zwischen dem vorrevolutionären Fürstenstaat und der voll einsetzenden Industrialisierung' soll im Zusammenwirken von Soziologie und Geschichtswissenschaft diese Phase im Hinblick auf
138) Kocka, Werner Conze und die Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland, S. 601; W. Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte, S. 256f. 139) Vgl. den umfangreichen Briefwechsel zwischen beiden aus den 50er Jahren (SFSt. 17). 140) Anlage zum Schreiben an das Bundesinnenministerium vom 16. 3. 1961, S. 12 (AK). 141) Conze an Ipsen vom 22. 1. 1959 (SFSt. I 7).
170
4. Die
„Position des Sprechers"
die sozialen Ordnungen des Lebens und ihre politischen Formen analysiert und ein grundlegender Beitrag sowohl zum angemessenen Verständnis der Revolution von 1848 als auch zum Verständnis des Ursprungs und der Bedeutung der Ideologien in dieser Zeit gegeben werden."142)) Der Band bekam gute Kritiken, in denen auch das methodische Anliegen des Arbeitskreises gewürdigt wurde,143) und die Reihe etablierte sich erfolgreich in der Forschung. Zum andern nutzte der Arbeitskreis seine Tagungen zunehmend, um neue Untersuchungsfelder zu eröffnen. Auf und nach Vörtagungen dieses Verfahren wurde 1959 während einer Krise des Arbeitskreises eingeführt klärten die Teilnehmer das Feld, erkundeten die Forschungslage, nutzten bestehende Beziehungen, um weitere Beziehungen zu knüpfen; auf der folgenden Haupttagung wurde das Feld eröffnet: Mitglieder des Arbeitskreises und einschlägig ausgewiesene Gäste referierten über neue Themen und Ansätze. Anschließend veröffentlichten sie die Referate in einem Band der „Industriellen Welt" und speisten sie in den Gang der Wissenschaft ein. Im Falle des Themas „Sozialgeschichte der Familie" konnten sie sogar die Bielefelder Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft" nutzen, um zu markieren, in welche Richtung sie den Lauf der Forschung gelenkt wissen wollten.144) Und Conze war sich gelegentlich nicht zu schade, die Bände durch eigene Schüler rezensieren zu lassen. Auf diese Art wurde die Sozialgeschichte ständig erweitert, zugleich jedoch, da der Teilnehmerkreis aus durchaus verschiedenen Lagern zusammengetrommelt wurde, ein Stück weit inhomogener. Insgesamt aber paßte sich der Arbeitskreis erfolgreich der sich ändernden gesellschaftlichen und historiographischen Lage an, ohne seine Zielrichtung preiszugeben. Die Strategie zeitigte ihren Erfolg. Selbst heute kommt man bei Themen wie der Sozialgeschichte der Familie, der Lage der Arbeiter, der Arbeiterbewegung, dem Vormärz, der Sozialdemokratie oder der Sozialgeschichte des Bürgertums um die Publikationen des Arbeitskreises, schlagkräftig gebündelt in der „Industriellen Welt", nicht hemm, und es sollte einmal untersucht werden, wie und wie stark sie seit den sechziger Jahren die einzelnen Themenfelder in der deutschen (und internationalen?) Historiographie besetzt und geprägt haben.145) -
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142)
„Sozialgeschichte der modernen Welt" am 25726. 4. 1957, (AK). 143) Vgl. Boockmann, Rez. Conze, Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz; Getzeny, Rez. Conze, Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz; Vierhaus, Rez. Conze, Protokoll der Tagung über
S. 11
Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz. 144) vgl. Hausen, Familie als Gegenstand Historischer Sozialwissenschaft. 145) vgl. das Protokoll der Tagung über „Sozialgeschichte der modernen Welt" am 25726. 4. 1957, S. 7; Protokoll der Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte am 23724. 10. 1957, S. 1, 5, am 21./22. 10. 1959, S. 1^1 (die Krise bestand darin, daß die Mitglieder nicht mehr aktiv mitarbeiteten, aber die Überlegung, auf die Aussprache über
Forschungsprobleme zu verzichten, wurde von den Beteiligten einhellig abgelehnt); Tätigkeitsbericht für das Rechnungsjahr 1960; außerdem die übrige vorhandene Korrespondenz des Arbeitskreises (AK). Details zu den geförderten Arbeiten und ihrem Fortgang finden
V Die
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„Geschichtlichen Grundbegriffe"
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„Geschichtlichen Grundbegriffe"
Mit seinem „Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland", den „Geschichtlichen Grundbegriffen", erwarb sich der Arbeitskreis zweifellos großen Ruhm wenn sich auch die Wirkung des gewaltigen Unternehmens wegen seines langen Entstehungsprozesses und geänderter Konstellationen in der westdeutschen Geschichtswissenschaft offenbar nicht richtig entfalten konnte.146) Ursprünglich war ein viel handlicheres Lexikon geplant. Auf der Frühjahrstagung 1958 entstand auf Vorschlag Conzes, der sich von Brunners begriffsgeschichtlichen Überlegungen anregen ließ, der Plan eines „.Historischen Wörterbuchs der sozialen Welt' für die Zeit von ca. 1750 bis 1848/50",147) worin, wie Conze im Herbst darauf berichtete, „Tradition, Traditionsbruch, Bedeutungswandel und ideologische Verkehrungen der wichtigsten Wörter und Begriffe der sich aufspaltenden und ausweitenden alten ,res publica seu societas civilis' festgestellt werden sollen."148) Damals ging man von einem Band mit 500 Seiten Umfang und etwa 200 Stichwörtern aus, finanzieren sollte die DFG, um die Mittel des Arbeitskreises nicht gleich zu Beginn seiner Existenz über Gebühr zu beanspruchen.149) Und hier findet die Geschichte von den beiden zahmen Rezensionen Conzes zu Kurt von Raumers „Deutschland um 1800" ihre Fortsetzung. Denn je mehr der Plan Gestalt gewann, je mehr die Finanzierung durch die DFG gewünscht wurde, desto mehr hing man von deren Fachgutachtern ab, die das Projekt zu befürworten hatten. Kurt von Raumer war seit 1956 ein solcher Fachgutachter, seit 1959 sogar Vorsitzender des Fachausschusses Geschichte der DFG, und seit genau diesem Jahr besprachen er und Conze wie zufällig zwei Themen zugleich in ihren Briefen. Conze schmeichelte von Raumer, indem er auf ihre Gemeinsamkeiten seit den Münsteraner Jahren hinwies und pries, welchen Anteil von Raumer -
sich in den Protokollen des Arbeitskreises (AK); Boockmann, Rez. Conze, Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848; Getzeny, Rez. Conze, Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848; Vierhaus, Rez. Conze, Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848; Conze, Einleitung (in: ders., Sozialgeschichte der Familie); Ders., Der Weg zur Sozialgeschichte nach 1945, S. 74-77; W. Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte, S. 257; Hippel, Rez. Conze, Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas; Gespräch mit Hans Medick 30. 9. 1997. 146) Zu den „Geschichtlichen Grundbegriffen" vgl. Dipper, Die „Geschichtlichen Grundbegriffe" (mit Nennung der älteren Literatur). Vgl. auch [Koselleck], Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte; Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter, S. 22-29, 251-253. 147) Protokoll der Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte am 23724. 4. 1958, S. 17 (AK). 148) Protokoll der Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte am 23. 10. 1958, S. 1(AK). 149) Vgl. das Protokoll der Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte am 23724. 4. 1958, S. 16f„ und am 23. 10. 1958, S. 1-3 (AK).
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4. Die
„Position des Sprechers"
(neben Brunner) daran habe, daß Conzes altes „Unbehagen über unsere histo-
rische Sprachverwirrung bis weit in die Kreise sogar der zünftigen Historik hinein" endlich im Wörterbuchplan ein Ventil gefunden habe. Er habe viel von ihm gelernt und könne sich „nicht denken, daß Sie den Plan als solchen in Frage stellen werden."150) Von Raumer sollte das Projekt nämlich im Auftrage Wolfgang Treues, des Referatsleiters für Geisteswissenschaften bei der DFG, begutachten, und Conzes Sorge war, daß der altgediente Ordinarius den Aufwand für zu hoch befinden könnte. Diesen Aufwand versuchte er zu rechtfertigen. Von Raumer aber war wohlwollend, befürwortete entschieden, hielt Conze auf dem Laufenden über die Vorgänge bei der DFG und machte ihn nebenbei auf sein „Deutschland um 1800" aufmerksam. Das war Conze entgangen, er entschuldigte sich mit einem Englandaufenthalt und begann sogleich, alle paar Tage eine Postkarte an seinen Münsteraner Kollegen zu schreiben, auf der er versicherte, wieviel ihm das Buch bringe, daß er die einzelnen Lieferungen sofort lese, daß es hervorragend zu seiner Vorlesung passe, daß er es natürlich seinen Studierenden empfehle und es für das Historische Seminar anschaffe. Im Jahr darauf überlegten beide gemeinsam mit Schieder, wie man mit einer Rezension des Werkes verfahren solle; von Raumers Andeutungen über Gewichtsverteilung und Absichten seines Buches stießen bei Conze auf offene Ohren.151) Auch wenn das nach einem Geschäft aussieht, so war der Handel insgesamt noch lange nicht abgeschlossen. Von Raumer bildete nur eine der Positionen im Gefüge der Interessen und Stellungnahmen zum Wörterbuchprojekt. Verschiedene Fraktionen waren begierig, auf das Unternehmen in ihrem Sinne Einfluß nehmen zu können. Gegen sie mußte man sich abgrenzen und zugleich ihre Hilfe suchen, weil sich ohne sie nichts unternehmen ließ. Außerdem stammte zwar ein erfolgversprechend großer Teil der Gutachter aus dem Umkreis des Projektes, teils weil Conze sie vorschlagen durfte etwa Brunner und von Raumer -, teils weil Treue darüber im Unklaren gelassen worden war, daß einige Mitglieder der Conze-Gruppe bzw. der am Projekt Beteiligten unerkannt in den Führungszirkeln der DFG und im Fachausschuß Geschichte saßen.152) Aber die DFG war trotzdem skeptisch. Treue bat um Spezifizierungen und warf die hellsichtige Frage auf, ob ein Band für das Lexikon überhaupt ausreiche. -
15°) 151)
Conze an von Raumer vom 3. 5. 1959 (ULBMs Nl von Raumer B 344). Die Rezension erzählt eine Kurzgeschichte („Deutschland um 1800") und versteckt einen Roman (die „Geschichtlichen Grundbegriffe"): Vgl. die Schreiben Conzes an von Raumer vom 3. 5. 1959, 11. 6. 1959, 14. 6. 1959, 20. 6. 1959, 29. 6. 1959, 27. 7. 1959, 22. 11. 1959, 21. 12. 1959, 18. 3. 1960, 22. 3. 1960, 9. 4. 1960,4. 5. 1960 (ULBMs Nl von Raumer B 344-355); Conze an Ipsen vom 7. 7. 1959 (SFSt. I 7). 152) Rothfels, Schieder, Grundmann, von Raumer, Jost Trier, Andreas Predöhl, später Brunner und Heinz Gollwitzer, vgl. Dfg, Deutsche Forschungsgemeinschaft (alle Auflagen); ZieROLD, Forschungsförderung in drei Epochen, S. 316f„ 325. Leider habe ich kaum Akten zur Förderung der „Geschichtlichen Grundbegriffe" durch die DFG gefunden und kann daher nicht einschätzen, wie erfolgreich die Kollegen wirken konnten.
V Die
„Geschichtlichen Grundbegriffe'
173
Conze, bis dahin seiner Sache sicher, fühlte sich bevormundet und dachte
an
Rückzug. Ipsen rief zur Generalmobilmachung der Truppen auf. Die DFG habe noch nicht begriffen, wie man kooperative Forschungsuntemehmen zu begutachten habe. Außerdem leitete von Raumer inzwischen mit Grundmann den Fachausschuß Geschichte und wollte das Projekt auf jeden Fall durchbringen. Conze schrieb also eine klare Antwort an Treue, bestand auf seinen Positionen und akzeptierte im übrigen einen zweiten Band, um das Mißverhältnis von Apparat und Ergebnis nach außen hin zu mildem. Damals war das wirklich ein Zugeständnis, schon 1964 plante man nicht mehr unter drei Bänden, die 1968 erschienen sein sollten. Emser Kreis und DFG finanzierten, die Schwierigkeiten waren enorm, der Mitarbeiterstab wurde immer größer, dann wurde für 1968 der erste Band angekündigt. 1970 hoffte man, daß der erste Band des fünfbändigen Lexikons um die Jahreswende 1970/71 erscheinen könne. 1972 hielten sie ihn in Händen, als ersten von schließlich acht Bänden.153) Die „Geschichtlichen Grundbegriffe" sind ein höchst lohnendes Objekt, um den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Zuständen, Historikergeneration, Weltbild und praktizierter Geschichtswissenschaft zu untersuchen. Gerade weil sich die Erscheinungstermine der einzelnen Bände so weit auseinandergezogen haben, viele unterschiedliche Autoren beteiligt waren, das Projekt sich verselbständigte und die ursprüngliche Konzeption durch den intellektuellen Einfluß Reinhart Kosellecks verändert wurde, könnte man diesen Zusammenhang im zeitlichen Wandel und in der Generationenabfolge untersuchen aber das wäre eine Arbeit für sich, die ich nicht leisten werde.154) Ich skizziere im folgenden ausschließlich die Grundannahmen, auf denen die „Geschichtlichen Grundbegriffe" ursprünglich aufbauten, um dann im siebten Kapitel im Zusammenhang mit anderen sozialhistorischen Texten auf das Weltbild, das in Teilen des Lexikons zu finden ist, eingehen zu können.155)
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153) Vgl. Conze an Ipsen vom 4. 11. 1958, 18. 11. 1958,3.5. 1959,7.7. 1959,25.7. 1959, 17. 12. 1959, 30. 12. 1959; Wolfgang Treue an Conze vom 16. 12. 1959; Conze an Treue vom 4. 2. 1960; Ipsen an Conze vom 12. 11. 1958, 22. 12. 1959 (SFSt. I 7); das 54-seitige Ergebnisprotokoll der Sitzung vom 1. 4. 1963, das zugleich Arbeitsanweisung für die Lexi-
konarbeit war; Rundschreiben Conze an die Mitarbeiter vom 28. 9. 1964 (StAH 622-2, Nr. 51); Conze an Wittram vom 16. 4. 1968 (BAK N 1226/83); Arbeitspapiere für ein Kolloquium von Vertretern historischer Forschungseinrichtungen am 9. 3. 1970, S. 15 (BAK N 1213/24). Zum Annales-Projekt einer „Historischen Semantik" vgl. Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, S. 250-252. 154) Vgl. dazu nun Dipper, Die „Geschichtlichen Grundbegriffe". 155) Das folgende läßt sich aus dem von Reinhart Koselleck verfaßten Ergebnisprotokoll der Sitzung vom 1. April 1963[,] zugleich Anweisung für die Arbeit am Lexikon politischsozialer Begriffe der Neuzeit, bes. S. 1-24 (StAH 622-2, Nr. 51), herausdestillieren. Gedruckt wurde der Text 1967 als Koselleck, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit.
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4. Die „Position des
Sprechers'
Die Auflösung der alten und die Entstehung der neuen Welt „soll in der Geschichte ihrer begrifflichen Erfassung untersucht werden",156) heißt es 1963 in den Richtlinien für die Lexikonarbeit. Die Herausgeber Conze, Brunner und Koselleck gingen davon aus, daß Begriffe von Zeitgenossen benutzt wurden, um eine soziale Situation begreifbar zu machen, daß Begriffe also auf eine bestimmte Weise mit der Realität konvergierten. Zwischen 1750 und 1850 nun hat sich, so eine weitere Vorstellung, jener fundamentale gesellschaftliche Umbruchsprozeß vollzogen, den Hans Freyer „Schwelle" genannt hatte und Koselleck „Sattelzeit" nennen sollte, in dem Begriffe entweder untergingen, weil sie die Realität nicht mehr erfassen konnten („Zunft"), auftauchten, weil sie nötig wurden („Proletarier") oder zwar bestehen blieben, ihre alte Bedeutung aber abstreiften und eine neue annahmen („Fabrik"). Für die Zeit vor der Sattelzeit verweisen die überlebenden Begriffe auf soziale Zustände, die heute nicht mehr begreifbar sind und übersetzt werden müssen, etwa die alte Bedeutung von „Fabrik". In dem Moment aber, in dem die Worte ihren endgültigen Gehalt gefunden haben, wenn „Begrifflichkeit und Begreifbarkeit"157) dauerhaft zusammenfallen, ist die Arbeit des Lexikons getan.158) Hinter diesem Konzept verbirgt sich eine spezifische Vorstellung von Identität. Nämlich erstens die Identität von Begriff und Begreifbarkeit, denn irgendwann ist für die Herausgeber des Lexikons ein Begriff vollendet, er hat seine Entwicklung abgeschlossen, er ist endgültig mit Bedeutung gefüllt. Die Artikel des Lexikons lesen sich manchmal wie klassische Entwicklungsromane, die mit der Reife der Begriffe enden. Natürlich ignorierten die Herausgeber die Vieldeutigkeit von Begriffen nicht (im Gegensatz zu den angeblich eindeutigen und exakt definierbaren Worten wie ausgerechnet „Zunft"), aber die Vieldeutigkeit schienen sie eher in der Diachronie zu suchen. In der Geschichte des Begriffs verschiebt sich Bedeutung, und der Komplex ganz verschiedener Bedeutungen, der in einem Begriff wie „Staat" versammelt ist (Herrschaft, Gebiet, Rechtsprechung und vieles mehr) verändert sich im Lauf der Zeit in seiner Zusammensetzung. An beliebig ausgewählten Zeitpunkten und an seinem Höhepunkt dagegen scheint der Begriff identisch zu sein mit einer feststellbaren Bedeutung oder einem Bedeutungskomplex. Zweitens liegt die verborgene Identität im Ideal, daß Begriff und Realität zusammenfallen möchten. Sie stehen zwar in Spannung, aber der realitätsnächste Begriff ist den Herausgebern -
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156) Ergebnisprotokoll der Sitzung vom 1. April 1963[,] zugleich Anweisung für die Arbeit Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, S. 1 (StAH 622-2, Nr. 51). 157) Ebd., S. 2. 158) Allerdings wurde kritisiert, daß die Geschichtlichen Grundbegriffe zu sehr auf der intellektuellen Ebene der reinen Ideen- und Begriffsgeschichte verblieben, also die Verbindung mit der Realgeschichte nur mangelhaft vollzögen: Graf, Rez. Stuke, Sozialgeschichte Begriffsgeschichte Ideengeschichte; Zorn, Rez. Geschichtliche Grundbegriffe. Zorn nannte als Gegenstück Jürgen Schlumbohms Buch „Freiheit. Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitworts" (Düsseldorf 1975). am
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V Die „Geschichtlichen
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Grundbegriffe'
immer noch der beste. Dazu mußten sie allerdings voraussetzen, daß sich sowohl die Realität als auch die Vieldeutigkeit der Begriffe eindeutig bestimmen ließen, um die Messung von Abweichungen vornehmen zu können. Drittens wird mit dem Gedanken, daß ein Begriff eine „Geltungsdauer", also über eine Zeit hinweg eine gleichbleibende Bedeutung habe, Identität impliziert. Begriffe wie „Umbruchstellen" oder „soziale Geltung" verstärken diesen Eindruck. Ein Begriff ist in den Vorstellungen der Herausgeber durch viele Fronten, diachrone wie synchrone, durchzogen, aber jede dieser Fronten grenzt letztlich nur etwas Identisches ab, also etwas, was ist und (eine Zeitlang) bleibt. Differenz wird benutzt, um Identität zu bestimmen. Begriffe werden in diesem Entwurf immer mit der Notwendigkeit des Begreifens zusammengeschlossen, also im Grunde mit dem bildungsbürgerlichen Ideal des „Lernens" und der Suche nach der „Wahrheit". Es überrascht deshalb kaum, die Frage, wer in welcher Situation Begriffe in welcher Absicht benutzte, in der Gruppe der Kontrollfragen wiederzufinden, mit denen die Mehrdeutigkeit von Begriffen geprüft werden sollte. Auch für die Herausgeber hing die Bedeutung eines Begriffes davon ab, in welcher Absicht er benutzt wurde und welchen Stellenwert er im sozialen Gefüge einnahm. Doch es fällt in den Anweisungen für die Lexikonarbeit das Wort „Manipulierbarkeit", das „Verfälschung" konnotiert, und zu den Begriffen „Begreifen", „Bewußtwerdung", „Ursprung" und „Vollendung" lassen sich zwischen den Zeilen als Gegenbegriffe „Manipulation", „Interesse" oder „Parteilichkeit" mit den entsprechend negativen Konnotationen lesen. Daß Begriffe aber nicht nur benutzt werden, um zu begreifen, sondern auch, um etwas zu „wollen, und das heißt, [daß sie] eine pragmatische Funktion haben, die als Intention in einem Handlungszusammenhang gesehen werden muß", das formulierte Günther Ipsen 1958 für das Wörterbuch allein deshalb als These, um sich gegen die möglichen Einflußversuche Hans-Georg Gadamers und Erich Rothackers, die für die DFG eine „Kommission für begriffsgeschichtliche Forschung" leiteten, abschirmen zu können.159) Ihnen beiden ging es allein um die Bedeutung von Begriffen, da entkam man ihnen mit deren Funktion. Doch wurde in der Konzeption der „Geschichtlichen Grundbegriffe" verdrängt, daß Begriffe Mittel in der sozialen Auseinandersetzung sind und daß das wiederum die Aus- und Umformung, also die Konstitution von Begriffen prägt. Die Praxis der Begriffsverwendung stellte für deren Herausgeber nur eine Frontlinie dar, die den ontologischen Gehalt eines Begriffes genauer eingrenzen sollte. Dabei war ein Blick auf die Praxis der Begriffsverwendung zu Anfang der sechziger Jahre nichts Unbekanntes. Just bevor die Richtlinien für das Wörterbuch formuliert wurden, hatte Heinz Gollwitzer 1962 sein Buch „Die gelbe Gefahr" publiziert. Es ging darum, wie in einem „Schlagwort" gesellschaftliche Ängste und Wahrnehmungen gebündelt werden und dadurch eine Realität
l59)
Und er meinte
nur
politische Begriffe: Ipsen an Conze vom
12. 11. 1958
(SFSt. I 7).
176
4. Die
„Position des Sprechers"
erschaffen wird, mit der man politisch operieren kann, die sich aber nicht wirklich verifizieren läßt. Die „gelbe Gefahr" war virtuell und operationalisierbar zugleich (in heutiger Diktion gesprochen).160) Freilich: „Schlagwort" war seinerzeit ebenfalls ein negativ besetzter Begriff, verbunden mit dem Gedanken an Tagespolitik, Emotionen, Verführbarkeit, Journalismus, also letztlich „Unwahrhaftigkeit". Und das war, wie man in sämtlichen Quellen sieht, nicht der „Ton" von Historikern. War das ein Grund, daß die Praxis in den „Geschichtlichen Grundbegriffen" nicht zur Geltung kam? Entscheidend dürfte gewesen sein, daß das Wörterbuch einer historiographischen Tradition entstammt, die gerade die ideologische Benutzung von Begriffen vor allem durch den Marxismus entschieden ablehnte. Hier liegt m.E. das entscheidende Motiv, das Conze das Lexikon planen ließ. In dem Moment nämlich, in dem Begriffe historisch erklärt sowie ihre Genese und ihr Wandel erforscht sind, versprachen sie auch geklärt und damit politisch „falschen" Verwendungen entzogen zu sein. Bei den unterschiedlichen Autoren des Lexikons und durch Kosellecks Herausgeberschaft ist dieses politische Ziel in den Hintergrund getreten, doch der Plan des Wörterbuchs zeigt erneut die Verzahnung von Antikommunismus und Wissenschaft, die uns besonders im sechsten und siebten Kapitel wieder -
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begegnen wird.161)
160) vgl. Gollwitzer, Die gelbe Gefahr. Gollwitzers Ansatz wurde zumindest von Taube. Rez. Gollwitzer, Die gelbe Gefahr, positiv aufgenommen. 161) Um zwei Mißverständnisse auszuschließen: Das politische Programm der frühen Sozialgeschichte, das Conze die Geschichtlichen Grundbegriffe initiieren ließ, ist in Kosellecks methodischem Entwurf einer Begriffsgeschichte nicht aufzufinden. Außerdem darf man die Richtlinien von 1963 nicht mit Kosellecks späterem Verständnis von Begriffsgeschichte verwechseln. 1972 ist nämlich eine wichtige Verschiebung in seinem Ansatz erkennbar: Es ging nicht mehr nur um das Begreifen der Gegenwart, sondern verstärkt um die Zukunft, um die Funktion von Begriffen, Utopien zu bezeichnen. Auf diese Art rückte der Aspekt des Kampfes um Begriffe als Teil gesellschaftlicher Konflikte stärker ins Bewußtsein womit unausgesprochen auch marxistische Versuche, Begriffe zu besetzen, Gegenstand einer unaufgeregten begriffsgeschichtlichen Analyse werden können, statt bloß Stimulus zu sein, sie begriffsgeschichtlich abzuwehren (den Charakter eines Begriffs als im Kern Identisches gab Koselleck allerdings nicht auf. So dienten ihm Parallel- und Gegenbegriffe in erster Linie dazu, die Einheit eines Begriffs genauer abzugrenzen): Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte; aber auch [Koselleck], Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte, wo er im Abstand von knapp 40 Jahren über dieses Projekt berichtet und seine Grundannahmen verteidigt. Eine Alternative, mit der Bedeutung von Begriffen umzugehen, ist die Übertragung semiotischer Theorien auf die Begriffsgeschichte: Man würde die Begriffe in ihre denotativen und konnotativen Elemente, die je (historischer) Situation anders ausfallen, aufteilen und zu rekonstruieren versuchen, wie sie ihre Bedeutung allein dadurch gewinnen, daß sie je Kontext in einem Gefüge von Begriffen stehen, die gegenseitig aufeinander verweisen und sich so Bedeutung zuweisen, d.h. die Bedeutung von Begriffen jenseits feststehender Indentitätskerne erst konstituieren. Für einen komplexeren Ansatz von Begriffsgeschichte vgl. z.B. Wellmann, Der historische Begriff der „Ehre". -
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5. Der Resonanzboden Gesellschaft durchsetzt mit Herden von sozial unangepaßten Menschen und Menschengruppen in allen Bevölkerungsschichten. Diese stören nicht nur sozial, So ist die moderne
sondern sind auch
subjektiv dabei oft tiefunglücklich.
(Curt Bondy/Rudolf Sieverts, 1953) Mit der Etablierung des Arbeitskreises und seiner Publikationsreihe befand sich Werner Conze als Sozialhistoriker in einer zentralen Stellung. Er war sowohl ein „klassischer" Ordinarius als auch ein gewichtiger Wissenschaftsmanager. Sein Institut und der Emser Kreis trugen die Sozialgeschichte in die Wissenschaft hinein, die stetig wachsende Zahl seiner Schüler trug sie in die nächste Generation. So wenig zu unterschätzen nun aber diese Institutionalisierungsarbeit ist, so wenig fand sie in einem luftleeren Raum statt. Die Geschichte der frühen Bundesrepublik, die Entwicklung des Bildungswesens, bestimmter Nachbarwissenschaften sowie der Geschichtswissenschaft selbst bildeten das Umfeld, in dem die Bemühungen zugunsten der Sozialgeschichte überhaupt erst gedeihen konnten. Ohne Umfeld wäre Conzes Handeln sinnlos und ein Aufsatz wie „Vom Pöbel zum Proletariat" folgenlos geblieben. Gehör und Geltung kann man einer Aussage nicht verschaffen, wenn nicht ein Resonanzboden vorhanden ist, der Rezeption erst begünstigt. In diesem Kapitel werde ich entscheidende Partien dieses Kontextes skizzieren. Von ihm ging ein Umformungsdruck auf die Geschichtswissenschaft aus, der die Etablierung der frühen Sozialgeschichte begünstigte nicht zuletzt, weil sie eine damals attraktive Deutung der gesellschaftlichen Prozesse zu liefern in der Lage war. Im letzten Kapitel werden wir sehen, wie der gleiche Prozeß unter anderen Vorzeichen der frühen Sozialgeschichte diese Deutungsmacht zugunsten einer neuen Form von Sozialgeschichte wieder rauben sollte. -
I Gesellschaft mit der besonderen Geschichte Westdeutschlands, einer Geerst mit der Gründung der Republik begann und die nicht ohne die für die Bundesrepublik so charakteristische doppelte Verankerung jenseits ihrer Staatsgrenzen, im Osten wie im Westen, zu verstehen ist.1) Diese Ich
beginne
schichte, die nicht
') Die folgenden Abschnitte bauen vor allem auf Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980; Arbeitsgruppe Bildungsbericht, Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland; Arnold/Marz, Einführung in die Bildungspolitik; Asemissen, Nachwuchsfragen im Spiegel einer Erhebung; Berghoff, Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung; Beyme, Vier Jahrzehnte Wiederaufbau in der Bundesrepublik
178
5. Der Resonanzboden
Situation schlug sich auf die Arbeit und das Selbstverständnis der Historiker nieder. Zunächst ist das Fortbestehen tief in die deutsche Geschichte eingegrabener Kontinuitäten über 1945 hinweg zu notieren: Das traditionelle, dreigliedrige Schulsystem wurde rekonstruiert. Die deutsche Universität hatte den Krieg scheinbar schadlos überstanden, an der Herrschaft der Ordinarien wurde faktisch nicht gerührt. Die Struktur der Verwaltung und das Beamtentum wurden zäh gegen Reformvorstellungen der Alliierten verteidigt, Entnazifizierung und Aufarbeitung der Vergangenheit rasch auf ein Minimum reduziert. Verhaltensmuster wie Obrigkeitshörigkeit und die Neigung, Betriebe wie Gesellschaft und Familien autoritär zu führen, hielten sich hartnäckig. All das war der Suche nach materieller und ideeller Sicherheit in einer Welt weitestgehender Unordnung geschuldet. Bis weit in die fünfziger Jahre fehlte Wohnraum, war die Versorgung prekär, die Identität angeschlagen, sah man die Werte in Gefahr und befürchtete einen neuen Krieg mit dem Osten. Deshalb versuchte man, Strukturen in Gang und Verhaltensweisen aufrechtzuerhalten, die seit je zuverlässig funktioniert und sich auch in der Zeit des Zusammenbruchs bewährt hatten. „Das Streben nach Sicherheit", die „gewisse Stille" über der Vergangenheit oder die geistige „Massenflucht nach Weimar", in die schützenden Arme der großen Autorität Goethes, bezeichnen ein Verhalten, das darauf angelegt war, Ungewißheit abzubauen und Ordnung zu stabilisieren. Die junge Republik stützte diesen Kurs erfolgreich. All jene Kräfte, die die Weimarer Republik bekämpft oder einfach nicht verteidigt hatten, stellten sich nunmehr auf den Boden des neuen Staates: Ordinarien, Rechtsintellektuelle, die nicht zu unterDeutschland; Braun, Das Streben nach „Sicherheit" in den 50er Jahren; Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer; Ders., Strukturmerkmale der Kanzlerdemokratie; Ders., Wie westlich sind die Deutschen?; Frei, Vergangenheitspolitik; Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland; Gauly, Kirche und Politik in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1976; Geissler, Die Sozialstruktur Deutschlands; Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; Hüfner/Naumann, Konjunkturen der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland; Klessmann, Die doppelte Staatsgründung; Ders., Zwei Staaten, eine Nation; Lübbe, Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart; Naumann, Entwicklungstendenzen des Bildungswesens der Bundesre-
publik Deutschland im Rahmen wirtschaftlicher und demographischer Veränderungen; Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft; Oehler, Hochschulentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945; Otto, Vom Ostermarsch zur APO; Peisert/Framheim, Das Hochschulsystem in der Bundesrepublik Deutschland; Raschert, Bildungspolitik im kooperativen Föderalismus; Rupp, Außerparlamentarische Opposition in der Ära Ade-
Schäfers, Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland; Schildt, „Moderne Zeiten"; Ders., Nachkriegszeit; Ders./Sywottek, Modernisierung im Wiederaufbau; Schildt/Siegfried/Lammers, Dynamische Zeiten; Schwarz, Die Ära Adenauer; Seifert, Die SpiegelAffäre; Sontheimer, Die Adenauer-Ära; Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung; Tenbruck, Alltagsnormen und Lebensgefühle in der Bundesrepublik; Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; Weingart u.a., Die sog. Geisteswissenschaften: Außenansichten; Wildt, Vom kleinen Wohlstand. Zum unignorierbaren Gegenpart der Bundesrepublik, der DDR, vgl. neben Kleßmann Staritz, Geschichte der DDR. nauer;
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I Gesellschaft
schätzende Verwaltung oder die ehemaligen Militärs. Die nationalsozialistische Ideologie war in weiten Kreisen der Bevölkerung restlos diskreditiert, die zumindest formelhafte Distanzierung vom „Dritten Reich" war eine Grundvoraussetzung, um in die bürgerliche Gemeinschaft der Republik aufgenommen zu werden. Außerdem verlief der Wiederaufbau erfolgreich, die materielle Lage verbesserte sich, die Wirtschaft prosperierte in den Jahren nach dem Koreakrieg, die soziale Absicherung wurde ausgebaut, etwa 16 Mio. Vertriebene und Flüchtlinge wurden bis 1960 integriert, die politische Kultur unterschied sich grundlegend von der der Weimarer Republik. Das Wunder gelang, aus einer besiegten und zerteilten Großmacht ein stabiles, demokratisches Staatswesen zu machen, obwohl es kaum ein Identifikationspotential besaß. Man konnte zwar mit einigen Kunststücken an positive Traditionsbestände der deutschen Geschichte anschließen, aber zum tatsächlichen Kitt wurde neben dem materiellen Wohlergehen eine doppelte Abgrenzung: die Frontstellung gegen die totalitären Diktaturen des Nationalsozialismus und des Kommunismus, die man als zwei Varianten desselben Typs Diktatur auffaßte. Die betonte Abkehr vom „Dritten Reich" bot über die Denkfigur des Antitotalitarismus die Legitimation, sich gegen den Kommunismus zu wenden, denn wer aus antitotalitärer Gesinnung gegen den Faschismus war, war Demokrat und mußte folglich gegen den Kommunismus sein; demokratische Gesinnung wurde zunächst durch Antikommunismus bezeugt. Außerdem stand mit dem Antikommunismus eine vertraute Feindfigur zur Verfügung, und ein vertrautes Denkmuster ließ sich fortführen: Der Bolschewismus war seit je der Gegner, Deutschland seit je der Vorposten des Abendlandes gegen den Osten gewesen. Durch diese Konstruktion, die man da sie sich ausschließlich gegen totalitäre Ideologien richtete für unideologisch hielt, wurden zwei negative Grenzen gezogen, eine gegen die Vergangenheit, eine weitere gegen den Osten. Das hatte den positiven Effekt, dem schmalen Land sowohl ein Ziel zu geben man focht für die Einheit Deutschlands in Freiheit wie auch der Vergangenheit einen Sinn aus ihr entnahm man die Mission, fortan an der Seite des Westens für die Freiheit zu kämpfen. Diese Frontstellung schmiedete die Republik zusammen, sicherte ihre Westintegration und prägte ihre Innenpolitik bis hin zur Sozial-, Familien- oder Bildungspolitik. Wirtschaftliche und politische Freiheit, verkoppelt mit sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit, sollten die Republik innerlich stabilisieren und nach Osten hin attraktiv machen, denn so-
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wohl die Sowjetunion als auch die DDR wurden als ständige Herausforderung empfunden. Noch das Wettrennen darum, wer 1959 zuerst ein „Sandmännchen" auf den Fernsehbildschirm bringen konnte, war ein Produkt dieser Rivalität.2) Die beiden deutschen Staaten waren aufeinander fixiert, der jeweils an-
2)
Das war eines der wenigen Rennen, das die DDR gewann, und 1992 mußte gar der WestSandmann seinen Dienst zugunsten des Ost-Sandmannes quittieren (SZ vom 9. 4. 1999, S. 12).
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5. Der Resonanzboden
dere war das negative Gegenbild, an dem man sich abarbeitete. Der Preis für diesen Stabilitäts- und Identitätsgewinn waren in der Bundesrepublik ein innenpolitisches Klima, das durch einen latenten Kommunismusverdacht verhärtet war, und die Hypothek einer aus dem Blick geräumten Vergangenheit. Beides verhinderte weitgehend eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner wie dem Nationalsozialismus, das trug zur politischen Radikalisierung seit den sechziger Jahren bei. Die Stabilität der Republik, im Erfahrungshaushalt der Deutschen etwas Neues, wurde seit Ende der fünfziger Jahre unübersehbar. Unter aller Kontinuität verborgen jedoch hatte schon längst ein Wandlungsprozeß begonnen, der im darauffolgenden Jahrzehnt an die Oberfläche brechen sollte. Seine Wurzeln reichen ebenfalls weit in die deutsche Geschichte zurück. Die Sozialstruktur hatte sich grundlegend geändert, die seit langem fortschreitende Industrialisierung, die Erfordernisse des zuletzt „Totalen Krieges", der Verlust des agrarischen Ostens sowie Vertriebene und Flüchtlinge hatten zu einem Abbau der hierarchischen Klassengesellschaft geführt. Adel, ostelbische Junker und Militärs waren ihrer beherrschenden Position in der Gesellschaft verlustig gegangen. Die Gesellschaft verschmolz zwar nicht zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft", wurde aber sozial homogener. Der primäre Sektor verlor immer rapider an Bedeutung. Die Dominanz des protestantischen Bevölkerungsteiles war einer Parität mit den Katholiken gewichen. Beide Kirchen gewannen allmählich ein neues Verhältnis zum Staat, die Protestanten ein distanzierteres, kritischeres, die Katholiken ein positiveres, weniger kulturkämpferisches. Die großen Parteien näherten sich allmählich an, der langsame Aufstieg der SPD von der Milieu- oder Weltanschauungspartei zur „Völkspartei" begann. Tradierte Verhaltensmuster änderten sich, alte Normen verloren in einer sich wandelnden Gesellschaft an Überzeugungskraft, der Bedarf an Autorität, den gerade auch Adenauer verkörperte, nahm ab. Insgesamt wurden soziale, ideologische und konfessionelle Konfliktlinien verschliffen. Außerdem expandierte das nach 1945 rekonstruierte Bildungswesen, dies sollte zunächst unerkannt, doch unwiderruflich dessen tradierte Struktur zersetzen. Nach dem Krieg fanden im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit westliche Werte und Verhaltensweisen durch verschiedene Tore stetig Einlaß in die westdeutsche Gesellschaft, etwa über die Amerikahäuser, durch Aufenthalte deutscher Schüler, Studenten, Dozenten und anderer potentieller „Multiplikatoren" -
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USA, durch die ideelle Verwestlichung der Eliten, durch die politische Annäherung an den Westen im Zuge des Kalten Krieges oder aber über den „American Way of Life", die Rock'n'Roll-, Beat- und später die britische Popkultur, die mit den Besatzungssoldaten, durch reisende Jugendliche und die Medien in die deutsche Gesellschaft eingeschleust wurden. Ohne diese Einflüsse auf der materiellen wie der geistigen Ebene ist die Geschichte der Bundesrepublik nicht angemessen zu verstehen. Während die stilisierte Resistenz gegen den Osten zur Stärkung der westdeutschen Identität herangezogen in den
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I Gesellschaft
wurde, stieß der westliche Einfluß zunächst auf die Resistenz deutscher Werte und Traditionen. Das führte in den fünfziger Jahren zu zahlreichen Konflikten im Alltag der westdeutschen Gesellschaft. Auf die lange Dauer freilich brach die nationale Kultur auf und setzte sich dieser Einfluß seit den sechziger Jahren ebenso durch wie das Verhältnis zum Osten neu bestimmt wurde dies nicht zuletzt wegen der erfolgreichen ideellen Verwestlichung der Republik.3) Das Ineinander von Rekonstruktion und schleichendem, ungeplantem und oft ungewolltem Wandel betraf die Geschichtswissenschaft, indem die stabilisierten Strukturen und geistigen Dispositionen der Gesellschaft es den Historikern zunächst erlaubten, an bewährten Verhaltensmustern, wissenschaftlichen Ansätzen, Methoden und Weltanschauungen, etwa ihrem tiefsitzenden Antikommunismus, festzuhalten und selbst politisch schwer belastete Kollegen unter dem Banner des antikommunistischen Grundkonsenses zu integrieren. Die Veränderungen in der Gesellschaft dagegen erzwangen von der Geschichtswissenschaft allmählich neue Sichtweisen auf die Welt, eröffneten Spielräume für neue Ansätze und entschärften gleichzeitig Oppositionen zwischen konkurrierenden traditionellen und innovativen Strömungen dadurch, daß sie ihnen einen erweiterten institutionellen Raum boten, in dem sie konfliktfrei nebeneinander her existieren konnten. Es entstand eine Leerstelle, die Werner Conze mit seiner sozialgeschichtlichen Sichtweise besetzen konnte. -
Das erwähnte schleichende Wachstum und die verdeckte Umstrukturierung des Bildungssystems waren zunächst nicht geplant gewesen, sie waren geschehen.4) Das begann sich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu ändern. Der sogenannte „Sputnik-Schock" von 1957 vielleicht auch der amerikanische „Flopnik"5) symbolisierte für die Experten in der Bundesrepublik einen „Bildungsnotstand". Westdeutschland bildete nicht genug technische Fachkräfte aus und drohte gegenüber seinen Nachbarländern ins Hintertreffen zu geraten, besonders gegenüber dem Osten. Daher bekam die Forderung nach einer gezielten Reform des Bildungswesens Gewicht. Die Wirtschaftslage zu Beginn -
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3)
Der Beitrag deutscher Eliten zu dieser „Westernisierung", ihre Rolle als Übersetzer westlicher Werte in die Bundesrepublik, wird in einem Forschungsprojekt in Tübingen untersucht. Zusammenfassend: Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? 4) Die Zahl der Abiturienten erhöhte sich von 27000 auf 57000 (1950-1960), die der Studierenden von 100000 auf 207000 (1951-1961). Das blieb im internationalen Vergleich zwar eine bescheidene Steigerung, brach langfristig aber die auf die Ausbildung einer kleinen Elite ausgelegte Struktur des Bildungswesens auf. Vgl. die Daten, ihre graphischen Darstellungen und Interpretationen zum Wachstum des Bildungssektors bei Hüfner/Naumann, Konjunkturen der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 73-79, 190-225, 235-248; Naumann, Entwicklungstendenzen des Bildungswesens der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen wirtschaftlicher und demographischer Veränderungen, S. 53-75; Weingart u.a., Die sog. Geisteswissenschaften: Außenansichten, S. 78-82, 321 f. 5) So wurde die amerikanische Antwort auf die sowjetische Trägerrakete des Sputnik getauft, als sie beim Abheben explodierte. -
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5. Der Resonanzboden
sechziger Jahre war gut, es floß Geld in die öffentlichen Kassen, die Erhöhung der Abiturienten- und Studierendenzahlen sowie des Lehrpersonals der
wurde nunmehr Teil einer aktiven Bildungspolitik.6) Ab etwa 1964 stieß diese rein quantitative Reform allerdings an ihre Grenzen. Schon 1960 hatte der Wissenschaftsrat mit einer düsteren Lagebeschreibung der Universitäten Besorgnis erregt, in der Folge wurden Hochschulen wieder- oder neugegründet und differenzierte man das Hochschulwesen immer weiter aus, um die steigenden Studierendenzahlen auffangen und den dringend benötigten akademischen Nachwuchs heranbilden zu können der Nachwuchs an Lehrenden für diese Hochschulen jedoch begann zu fehlen. Zunehmend konnten die neuen Professorenstellen nur mit Mühe besetzt werden, also behalf man sich, indem man die teilweise gerade eingerichteten Extraordinariate möglichst rasch in Lehrstühle umwidmete, um dem Nachwuchs noch etwas Attraktives bieten zu können. Damit wiederum gerieten Anciennitätsprinzip und Regellaufbahn durcheinander, wenn etwa ein älterer und bewährter Extraordinarius von einem jüngeren Kollegen, der an dieselbe Fakultät als Ordinarius berufen werden sollte, „überholt" zu werden drohte. Also wurden auch diese älteren Extraordinariate aufgewertet. Die Zahl der geisteswissenschaftlichen Professuren stieg von 357 (1954) auf 614 (1960), 626 (1963) und 880 (1966). Der Mittelbau wurde von 600 (1954) auf 1152 (1960) und 2294 (1966) Angestellte jeweils fast verdoppelt. Die alten Universitäten mit konservativer Prägung verloren allmählich ihren Vorrang, die Ordinarien ihre alles beherrschende Position; Hierarchien, Karrierewege und thematische Begrenzungen weichten auf. Seit Anfang der sechziger Jahre tauchten vorsichtige Überlegungen auf, die Verfassungsstruktur der Universitäten grundlegend umzuarbeiten. Das mündete zwar erst in den siebziger Jahren in die umstrittene „Gruppenuniversität", aber schon vorher war im Laufe der Entwicklungen das ältere Personal in großem Stile durch jüngere Wissenschaftler ausgetauscht oder ergänzt worden, die für eine Universitätsreform und veränderte wissenschaftliche Existenz- und Arbeitsweisen empfänglicher waren. All das hat auf lange Sicht, besonders seit den siebziger Jahren, die Geschichtswissenschaft geprägt. Das Fach war an immer mehr Universitäten mit -
6) Vgl. Friedeburg, Bildungsreform
in Deutschland, S. 325-361; Arbeitsgruppe Bildungsbericht, Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 118-127; Geissler, Die Sozialstruktur Deutschlands, S. 256f.; Hüfner/Naumann, Konjunkturen der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland; Naumann, Entwicklungstendenzen des Bildungswesens der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen wirtschaftlicher und demographischer Veränderungen; Raschert, Bildungspolitik im kooperativen Föderalismus; Arnold/Marz, Einführung in die Bildungspolitik, S. 16-23; Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung, S. 195-202. Die dezidierte Orientierung der Bildungspolitik an der Ostbzw. Industrialisierungspolitik wird deutlich bei Edding, Internationale Tendenzen in der Entwicklung der Ausgaben für die Schulen und Hochschulen, bes. S. 2f.; Froese, Bildungs-
politik und zweite industrielle Revolution.
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immer mehr Professoren vertreten; es differenzierte sich immer weiter aus, was auch der Fachbenennung „Sozialgeschichte" zum Aufstieg verhalf. 1954 wurde sie innerhalb des Faches viermal, 1969 18mal, 1975 49mal und 1984 80mal als Teilfach genannt, freilich erst seit 1972 auch ohne den Zusatz „und Wirtschaftsgeschichte" (wobei man nicht übersehen darf, daß sich nicht nur hinter der Fachbezeichnung „Sozialgeschichte" Sozialgeschichte verbarg). Der Sozialgeschichte wurde der institutionelle Raum geöffnet, und sie traf auf immer mehr Historiker, die ihr aufgeschlossen gegenüberstanden.7) Die Expansion des Bildungssektors hatte weitere Folgen. Es floß in den fünfziger Jahren nicht nur viel Geld in die Forschung,8) sondern deren Arbeitstechniken begannen sich schleichend zu verändern. Als Möglichkeit oder als Drohbild, das an kollektivistische Forschungsunternehmen im „Dritten Reich" und der DDR erinnerte zeichnete sich am Horizont die Ablösung der alten Herren, über die Lucien Febvre einst gespottet hatte, der Ordinarien, die einsam ihre Forschung vorantrieben, durch die manager der Wissenschaft ab, die Forschungsgruppen dirigierten und die Arbeit in teamwork leisten ließen. Forschungsprojekte nahmen an Umfang zu, die Universitäten mit ihrer noch starren Instituts- und Ordinarienstruktur ließen dafür aber zunächst wenig Raum. Nicht zuletzt deshalb entstanden bis 1958 im ganzen Land außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, auch in der Geschichtswissenschaft. In Mainz waren das „Institut für Europäische Geschichte", in München das „Institut für Zeitgeschichte", in Paris ein „Deutsches Historisches Institut", in Bonn die „Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte" gegründet worden, dazu kamen das Militärgeschichtliche Forschungsamt, der „Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte", die „Kommission für Zeitgeschichte", mehrere Institute für die Ost- und Südosteuropaforschung, Conzes Emser Kreis, die „Kommission für die Geschichte der politischen Parteien und des Parlamenta-
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7) Vgl. Prahl, Sozialgeschichte
des Hochschulwesens, S. 335-337; Conze, Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, S. 18-24; Naumann, Entwicklungstendenzen des Bildungswesens der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen wirtschaftlicher und demographischer Veränderungen, S. 78-81; Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 339-343, 378-383; Weingart u.a., Die sog. Geisteswissenschaften: Außenansichten, S. 77-91,193-223,321-335,341. Die Lehrstühle an den wissenschaftlichen Hochschulen bieten die Möglichkeit, Ausbau und Ausdifferenzierung der Professuren für Geschichte bzw. (Wirtschafts- und) Sozialgeschichte von 1954 bis 1970 namentlich zu verfolgen. 8) Die Ausgaben für die Wissenschaft steigerten sich von etwa 617 Mio. DM (1950) auf 1,37 Mrd. DM (1955) und 8,3 Mrd. DM (1967). Diese Statistik wesentlich detaillierter und aufgeschlüsselt nach Bund, Ländern und Kommunen bei Hüfner/Naumann, Konjunkturen der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 80 f. Die Kultusausgaben der Länder verdoppelten sich allein zwischen 1956 und 1963 von 4,2 auf 8,4 Mrd. DM (Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 339), und von den Millionen, die dem Historiker Paul Egon Hübinger als Leiter der Abteilung III für kulturelle Angelegenheiten im Bundesinnenministerium seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zur Verfügung standen, erhielten
seine Fachkollegen überdurchschnittlich viel.
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rismus", Historische Kommissionen, Arbeitskreise in großer Zahl. Älteren Datums waren der „Göttinger Arbeitskreis" und das „Herder-Institut" in Marburg, die versuchten, die alte Ostforschung fortzuführen, aber auch das Max-Planck-
Institut für Geschichte verdankte dem Gründungsfieber der fünfziger Jahre seine Existenz. Zunächst war dort eher an herkömmliche wissenschaftliche Arbeit gedacht worden, doch Hermann Heimpel, auf den das Institut zugeschnitten wurde, war sich der veränderten Bedingungen in der Wissenschaft bewußt und propagierte die Anwendung neuer Methoden und eine Rezeption der So-
ziologie.9)
Immer wieder wehrten sich Historiker wie Gerhard Ritter gegen die Einrich-
tung solcher Institutionen, regelmäßig wurden solche Gründungen von Historikern wie Werner Conze oder Hans Rothfels begrüßt. Mit diesen Instituten, Arbeitskreisen, Kommissionen, Forschungsabteilungen wurde ein Teil der For-
schung aus den Universitäten ausgelagert, und zwar wohl derjenige, der zu umfangreich oder zu innovativ war, um von einzelnen Ordinarien bzw. innerhalb der überkommenen Universitätsstrukturen bewältigt werden zu können freilich waren die forschenden Mitglieder dieser Institutionen in der Regel selbst -
Ordinarien oder bemühten sich um Anschluß an die Universitäten, weil trotz allem dort die Forschungstrends sanktioniert und rezeptionsfähig gemacht wurden. Der tradierte Rahmen der Einzelforschung wurde „bewußt und konsequent überschritten".10) Methodische Innovationen oder „neue Wege" wurden zunehmend weniger durch einzelne Gelehrte eingeführt und beschriften, sondern durch die Kooperation von Wissenschaftlern entworfen und verfeinert. Die neuen Institutionen boten Raum für neue Themen, aber die spezifische Struktur eines Instituts formierte auch den Zuschnitt und die Richtung der Forschung. Behaglich war nicht jedem dabei: Großprojekte würden die Freiheit des Forschers einschränken, fürchtete man, und es gab zahlreiche Probleme bei der praktischen Durchführung von Gruppenarbeiten. Aber man gewöhnte sich daran, und bereits 1951 initiierte Theodor Schieder mit der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" eines der bis dahin größten Projekte in der Geschichte der deutschen Historiographie.11)
9) Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 246-248. I0) Ebd., S. 264. ") Zu den Gründungsgeschichten der Institute ausführlich: Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 228-254, 262-280; zum Institut für Europäische Geschichte in Mainz: Schulze/Defrance: Die Gründung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; zum Institut für Zeitgeschichte: Auerbach, Die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte; Benz, Wissenschaft oder Alibi?; Möller, Das Institut für Zeitgeschichte und die Entwick-
lung der Zeitgeschichtsschreibung in Deutschland; zur Parlamentarismus-Kommission: Schumacher, Gründung und Gründer der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; zur Kommission für Zeitgeschichte: Morsey, Gründung und Gründer der Kommission für Zeitgeschichte. Zur Bedeutung der nicht- oder halbuniversitären Institutionen vgl. auch Schieder, Die deutsche Geschichtswissenschaft in ihren Institutionen; Ders., Organisation und Organisationen der Geschichtswissenschaft, bes.
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Die politische Zäsur von 1945 und der fundamentale gesellschaftliche Wandel der Nachkriegszeit blieben nicht ohne Einfluß auf den Geschichtsunterricht, das wiederum schlug langfristig auf die Geschichtswissenschaft durch. Nach dem Krieg begannen Pädagogen eine Diskussion darüber, wie ein den Zeiten angemessener Geschichtsunterricht aussehen müsste. Universitätshistoriker interessierten diese Überlegungen zunächst weniger, sie begannen sich erst gegen Ende der fünfziger Jahre einzumischen, als das Fach Geschichte während der Auseinandersetzungen um die sogenannte Gemeinschaftskunde auf dem Spiel zu stehen drohte. Bis Ende des Jahrzehnts hatte das Fach jedoch nichts zu befürchten, die Eigenständigkeit des Geschichtsunterrichts und die Bedeutung der Geschichte im Rahmen der Schulbildung wurden von niemandem in Frage gestellt. Vielmehr entwarfen die ersten Unterrichtsrichtlinien der Länder ohne großen Unterschied denselben Plan eines zukünftigen Geschichtsunterrichts an den Schulen: Der Mensch (aber nicht mehr nur die „Großen Männer") und sein Handeln bildeten das Zentrum, der Staat und die Politikgeschichte den Überbau. Kulturgeschichte, Ethik, Religion, Wirtschafts-, Geistes- und Sozialgeschichte wurde eine durchaus tragende, letztlich aber doch nur dienende Position zugestanden. Ziel war die Erziehung des sicher, wertbewußt und verantwortungsvoll urteilenden Staatsbürgers doch der Staat als „tragende Organisation menschlichen Schaffens"12) blieb den Bürgern nach wie vor übergeordnet. Einige Autoren allerdings betrachteten Politik und (eine Undefinierte) „Kultur" als die zwei Seiten derselben Münze, bei der die politische Seite zwar noch oben liegen mochte, bei der aber die Kultur die notwendige untere, d. h. tragende Kehrseite der Politik bildete. Für sie war „Kulturgeschichte" nicht länger ein Synonym für die Flucht vor der politischen Verantwortung, wie etwa noch für Erich Weniger. Und selbst der mußte bereits 1950 in den „Richtlinien für den Geschichtsunterricht an allen Schulen" die Zerstörung der Chronologie und einen gewissen Hang zur Typologie entdecken. Das gefiel ihm nicht, denn es verberge die Dynamik der Geschichte und sei im übrigen zu abstrakt für die Schule.13) Im gleichen Jahr jedoch forderten hessische Geschichtslehrer die -
S. 282-285; Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 162-168. Aus der Vielzahl der Bemerkungen zu den neuen Arbeitstechniken nur: Kroeschell, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht, S. 54, Anm. 243; Conze, Der Weg zur Sozialgeschichte nach 1945, S. 75; Oestreich, 30 Jahre Historiker, S. 25; Demeter, Neues parteigeschichtliches Schrifttum, S. 254; Historisches Forschungszentrum Berlin. Ein Bericht von Alexander von Cube. Ms. einer Deutschlandfunk-Sendung vom 29. 8. 1965, S. 2-A (BAK B 227/823); Franz, Rez. Aufgaben deutscher Forschung, S. 294. Zur Vertriebenendokumentation siehe unten Kap. 8/1. 12) Entwurf eines Lehrplans, S. 478. ,3) Dagegen Wolfgang Köllmann, Aufgaben und Fragestellungen einer neuen Harkort-Biographie, S. 1 (HStAD NW 25/34): Durch Lokalgeschichte könnten Strukturentwicklungen im Unterricht anschaulich gemacht werden.
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sinnvolle Einordnung der Politik- in die ,„Kultur'-Geschichte",14) im Jahr darauf meinte Karl Krüger ganz allgemein das Zurücktreten der Politikgeschichte zu bemerken. Schon in den Gründerjahren der Republik stand also die chronologische Ereignisgeschichte zur Debatte. Die Alternative, die einige Autoren propagierten, waren eine Strukturanalyse der Gegenwart und das Zurückverfolgen der Phänomene bis zu ihren geschichtlichen Ursprüngen. Außerdem darüber gab es freilich keinen Streit könne Geschichte nur von der Gegenwart her geschrieben werden und sie müsse dieser Gegenwart aufklärend dienen. Nach den Erfahrungen mit dem „Dritten Reich" akzeptierten die Pädagogen die gezielte Ausrichtung des Geschichtsunterrichts auf die politische Bildung. In fast allen Bundesländern stellte die „Staatsbürgerkunde" das Lehrprinzip für den Geschichtsunterricht dar, zumindest an den höheren Schulen, nebenbei schlichen sich in die ersten Lehrpläne die Begriffe „Sozialkunde", „Gemeinschaftskunde" oder „Gegenwartskunde" ein. Gleichzeitig wurden Ansätze erkennbar, das Ziel, die politische Bildung, über den Weg, den Geschichtsunterricht, zu stellen auch wenn der noch als entscheidend für eine solide politische Erziehung angesehen wurde und niemand an seine Abschaffung dachte. Außerdem wurde der „Mut zur Lücke", wie man die Theorie des „exemplarischen Lernens" umschrieb, diskutiert. Nicht mehr die Totalität des Stoffes wollte man den Schülern zu lernen aufgeben, sondern ausgewählte Themen intensiv bearbeiten lassen. Durch diese Tendenzen war Mitte der fünfziger Jahre eine später gefährlich werdende Situation umrissen: Eine Gemeinschaftskunde als eigenes Fach, die Theorie des exemplarischen Lernens, der Primat der politischen Bildung und des Gegenwartsbezuges sollten den Geschichtsunterricht den geistigen Erfordernissen der Nachkriegsgesellschaft öffnen, das aber sollte ihn bald darauf massiv bedrohen. Die Geschichtspädagogen trieben diese Entwicklung voran, sie gedachten allerdings, die Einlösung dieser Bedürfnisse strikt in ihrer Hand zu behalten. Politische Bildung war Aufgabe des Geschichtsunterrichts, nicht eines eigenen Faches.15) Man darf freilich nicht übersehen, daß all dies Mitte der fünfziger Jahre nur schemenhaft zu erkennen war und sich erst zu entwickeln begann. Doch der
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14) Notiz in der GWU 1/1950, S. 234 f. 15) Zum vorhergehenden: Entwurf eines Lehrplans; Richtlinien für den Geschichts Unterricht; Weniger, Die Angst vor der politischen Geschichte; Wilmanns, Politische Entscheidung und Geschichtsunterricht; eine Notiz in der GWU 1/1950, S. 234f.; Krüger, Die Lehrpläne für den Geschichtsunterricht an den höheren Schulen der westdeutschen Län-
der; Empfehlung
Kultusminister-Konferenz; Messerschmid, Zur westdeutschen für Geschichte in Calw; Felix Messerschmid an Ludwig Bergsträsser vom 1. 12. 1950 (UBMar Nl Bergsträsser, Kasten 1, Mappe „Korrespondenz"); Gutachten DES DEUTSCHEN AUSSCHUSSES FÜR DAS ERZIEHUNGS- UND BlLDUNGSWESEN; MÜLLER, Zu den „Grundsätzen zum Geschichtsunterricht"; Wilsing, Zur Gestaltung der Geschichtslehrpläne; Westdeutsche Lehrplankonferenz für Geschichte; zur Diskussion um die Lehrplanfrage Zu Herkunft und Problemen der Theorie des exemplarischen Lernens vgl. Messerschmid, Historische und politische Bildung, S. 13 f.
Lehrplankonferenz
der
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Umbau des Schulfaches Geschichte hatte eingesetzt. Aufgaben, Methoden und Inhalte der politischen Bildung waren so unsicher wie ihr Name (Staatsbürger-
kunde, Bürgerkunde, Sozialkunde, Gesellschaftskunde, Gemeinschaftskunde,
Gegenwartskunde, politischer Unterricht), aber seit Mitte des Jahrzehnts erschien die politische Bildung zunehmend als ein eigenständiges Fach in der Diskussion. Noch immer spielte bei diesen Überlegungen zwar die Geschichte die erste Lehrmeisterin, die anderen Fächer begannen jedoch gleichzuziehen. Und Kurt Jürgensens Frage: „Geschichte Nebenfach oder Hauptfach?"16) leiJahrzehnts die Defensive der Historiker ein. Die Diskussion um eine Reform des Bildungswesens schlug in Form der Saarbrücker „Rahmenvereinbarung zur Ordnung des Unterrichts auf der Oberstufe der Gymnasien" von 1960 auf den Schulunterricht durch. Die Kultusminister planten eine Verringerung der Pflichtfächer und eine Konzentration des Unterrichtsstoffes auf exemplarisch ausgewählte und für das gegenwärtige gesellschaftliche Leben bedeutsame Themen, die dafür um so intensiver behandelt werden sollten. Die Gemeinschaftskunde visierten sie endgültig als eigenes Fach an, das die Aufgabe der politischen Bildung übernehmen sollte, und das schien nun doch auf Kosten des Geschichtsunterrichtes zu gehen. Diese erste wirkliche Herausforderung des Primats des Geschichtsunterrichts zu Beginn der sechziger Jahre konnten die Universitätshistoriker nicht mehr ignorieren, denn nun drohten ihnen Nachwuchs und Leserschaft, damit ihr Einfluß auf die Gesellschaft, verloren zu gehen. Letztlich konnten die Saarbrücker Richtlinien nicht verwirklicht werden, weil deren Konzeption unausgereift blieb und zu umstritten war. Dieses Scheitern der Beschlüsse kam den Historikern zu Hilfe, sie hatten jedoch die Herausforderung anzunehmen und in ihre Vorstellungen einzuarbeiten, weil eine reine Blockade der Reformüberlegungen wirkungslos geblieben wäre. Im Prinzip befürworteten viele Geschichtslehrer und einige Fachhistoriker sogar die Saarbrücker Beschlüsse, u. a. weil die Entwicklung zur Gemeinschaftskunde bereits seit einigen Jahren anhielt und man sich mehr oder weniger damit abgefunden hatte. Kritisiert wurde freilich, daß der Geschichtsunterricht wegen der unklaren Richtlinien endgültig aus der Gemeinschaftskunde verdrängt zu werden drohte, und die Lehrplandiskussion in der ersten Hälfte der sechziger Jahre gab diesen Befürchtungen Nahrung. Allmählich begannen die Pädagogen nämlich, an die Komplexität der Vergangenheit erinnern zu müssen man solle nicht tete gegen Ende des
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Vergangenheit und Gegenwart zum Zwecke der Systemkritik simpel parallelisieren („Römerstraßen Reichsautobahnen"17)) -, und schließlich sogar daran, daß selbst aus der Geschichte vor 1789 etwas gelernt werden könne. Eine fun-
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damentale Krise des Geschichtsunterrichts deutete sich an. Sein Nutzen wurde angezweifelt, er mußte sein Prestige bei Schülern, Eltern und Lehrplanem wie-
16) So der Titel seines Aufsatzes in der GWU 1959. 17) Kampmann, Fragen einer nachdenklichen Geschichtslehrerin, S. 489.
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dergewinnen. Deshalb waren Historiker bereit, ihn den neuen gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen und in der Gemeinschaftskunde mit anderen Fächern zu verklammem.18) Dagegen gab es kaum noch wirkungsvollen Widerstand, nur Gerhard Ritter und von ihm ausgebildetete Lehrer wüteten mit verbissenem Spott darüber, daß „das Lehrfach Geschichte [...] in einen höchst vagen Urbrei von .Gemeinschaftskunde' hineingerührt worden ist, in dem sich auch Soziologie, die sogen, politische Wissenschaft und sogar Geographie befinden sollen."19) Die ihm verhaßten linken Gesellschaftsreformer meldeten 18) Vgl. Jürgensen, Geschichte Nebenfach oder Hauptfach?; Pohl, Über das Verhältnis geschichtlichem und politischem Unterricht; Messerschmid, Gedanken zum Fach Ge-
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meinschaftskunde in den Primen der höheren Schulen nach der Saarbrücker Rahmenvereinbarung der Kultusminister; Ders., Historische und politische Bildung; Kampmann, Der Schritt zurück; Dies., Fragen einer nachdenklichen Geschichtslehrerin; Dies., Was ist gemeint?; Sutor, Geschichtsunterricht und politische Gemeinschaftskunde; Ders., Zur Diskussion über die Gestaltung des Geschichtsunterrichts auf der Oberstufe; Tiburtius. Ein Brief zur Rahmenvereinbarung; R. Kuhn, Zur zukünftigen Gestaltung der Gemeinschaftskunde (ein isolierter Versuch, die Gemeinschaftskunde für den Kalten Krieg zu instrumentalisieren); Ritter, Geschichtsunterricht oder „Gemeinschaftskunde"?; Zwei Schreiben an die Kultusminister der Länder; Rintelen, Gemeinschaftskunde und Geschichtsunterricht; Ders., Erfahrungen mit der neuen Gemeinschaftskunde; Herzfeld, Zur Krise des Geschichtsunterrichts; Bayer, Der historisch-politische Bereich an der Oberstufe; Erdmann, Entwurf einer historischen Gegenwartskunde; Entschliessung des Verbandes der Geschichtslehrer DEUTSCHLANDS; GESCHICHTE UND POLITISCHE WELTKUNDE; KÖRNER, Zur Struktur des politischen Unterrichts auf der Oberstufe; Friedeburg/Hübner, Das Geschichtsbild der Jugend; Krüger, Tagung des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands; Ders., Pfingsttagung des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands in Münster; Rohlfes, Die Herausforderung der Geschichte durch die Gemeinschaftskunde; Multhoff, Die Reform des französischen Geschichtsunterrichts; Schörken, Grundzüge des Geschichtsunterrichts in den USA. In den 70er Jahren erschienen als Nachschläge: Pellens, Moderner Oberstufenunterricht?; Schoebe, Geschichte innerhalb der Gemeinschaftskunde; Ders., Geschichte und Gemeinschaftskunde. Vgl. auch Hüttig/Raphael, Der „Partisanprofessor" und sein Erbe, S. 43, 47, 51, 58f„ 62; Kuss, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland. 19) Gerhard Ritter an Theodor Schieder vom 4. 12. 1961 (BAK N 1166/351). Ritter griff 1962 auf dem Historikertag in Duisburg in die Diskussion um die Gemeinschaftskunde ein und versuchte, die Fachkollegen auf seine Seite zu ziehen. Doch ihm erging es nicht gut, denn er sah sich einer interessanten Koalition, die von Hans Rothfels bis Wolfgang Abendroth reichte, gegenüber, die aus ganz verschiedenen Gründen die politische Bildung im Rahmen der Gemeinschaftskunde zu fördern wünschte. Ritter war völlig isoliert; vgl. Arnold Bergstraesser an Rothfels vom 2. 3. 1962 und dessen Antwort vom 16. 3. 1962: „Gerhard Ritter mit 10 Minuten muss eben ertragen werden." (AVHD); Otto H. von der Gablentz an Dolf Sternberger vom 1. 11. 1962 (IISG Nl Abendroth, Kasten 560); und die Korrespondenz Ritters in seinem Nachlaß (BAK N 1166/280, 281, 351). Die Koalition pro Gemeinschaftskunde bestand u.a. aus Hans Rothfels, Felix Messerschmid, Karl Dietrich Bracher, Gerhard A. Ritter, Wolfgang Abendroth, Hans Herzfeld, Otto von der Gablentz, Arnold Bergstraesser, Ludwig Bergsträsser und Karl Dietrich Erdmann. Wie übel es Ritter 1962 erging, kann man im Bericht über die 25. Versammlung deutscher Historiker, S. 97-113, 129, nachlesen; vgl. auch Messerschmids Brief an Hans Rothfels vom 7. 1. 1963 (AK), in dem er Rothfels seinen Dank für dessen Haltung übermittelt, und Ritters Brief an Theodor -
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Wort. Aus Frankfurt kam 1964 eine Studie über das Geschichtsbild der Jugend, die scharf mit dem alten personenzentrierten Geschichtsbild abrechnete, das den Blick auf die gesellschaftliche Realität verstelle, konservativen und politisch opportunistischen Ordnungsvorstellungen Vorschub leiste und für totalitäre Manipulationen anfällig mache. In Marburg wurden durch die Schule Wolfgang Abendroths mehrere Generationen hessischer Sozialkundelehrer ausgebildet, und eine Gruppe von Soziologen, Geschichtslehrern und Historikern arbeitete an der Profilierung des neuen Faches. Bei den Geschichtslehrern war 1965 die Annäherung an die Gemeinschaftskunde so weit fortgeschritten, daß sie erwogen, ihren Verband umzubenennen, um die neu ausgebildeten Sozialkundelehrer besser repräsentieren zu können (daraus wurde allerdings nichts). Und im selben Jahr protestierte die Historikerin Wanda Kampmann erneut vehement: gegen die nordrhein-westfälischen Richtlinien für die Gemeinschaftskunde, die sie nur als Schritt zurück bezeichnen konnte, zurück zur Fächertrennung und zur Einverleibung der Sozialkunde in den Geschichtsunterricht. Dabei sei doch die Sozialkunde der Kern der politischen Bildung und die Koordinationsinstanz der einzelnen Fächer! Soweit war man des Wegs gekommen, im doppelten Sinne. Einerseits zeigte man sich auf Druck hin bereit, die Ansprüche auf eine andere Art Geschichtsunterricht ernst zu nehmen, andererseits war die Bedrohung des Vorrangs der Geschichte, die von diesen Ansprüchen ausging, mit dem Scheitern der Saarbrücker Beschlüsse erst einmal entschärft, weil eine Gemeinschaftskunde, die den Geschichtsunterricht eliminiert hätte, nicht zustande gekommen war. Der Didaktiker Joachim Rohlfes faßte 1965 die stürmischen Jahre zusammen: „Die Geschichte ist durch die Gemeinschaftskunde herausgefordert worden. Man hat ihre Modernität, ihre Aufgeschlossenheit für die Gegenwart, ihren politischen Bildungseffekt in Frage gestellt. Ihr sind Konkurrenten beigegeben worden, die das leisten sollen, was die Geschichte bislang versäumte. [...] Man kann nicht länger so tun, als sei der Differenzierungsprozeß der modernen politisch-sozialen Wissenschaften eine zufällige, bedauernswerte Entwicklung. Die Geschichte kann nicht ewig auf ihre Mutterrolle pochen und die selbständig gewordenen Töchter bevormunden. Sie muß sich vielmehr sputen, den Anschluß an die allgemeine wissenschaftliche Entwicklung nicht zu verpassen. Sie kommt um generalisierende, analytische, theoriebildende Verfahren nicht herum, sie kann die Sozial-, Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte nicht ins zweite Glied abschieben, sie darf neben den Ereignis- nicht die Strukturzusammenhänge vergessen, sie muß endlich von den Ergebnissen der systematischen Wissenschaften Notiz nehmen. Wenn wir das im Schulunterricht beherzigen, zu
Litt vom 9. 2. 1962 (BAK N 1166/351), dem er mitteilte, daß er Schwierigkeiten habe, gegen Messerschmid und A. Bergstraesser seinen Artikel zur Gemeinschaftskunde für die GWU zum Druck durchzusetzen.
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[...] dann können wir mit gutem Grund davon überzeugt sein, daß der Geschichte der Primat in der Politischen Bildung gebührt."20) Es wurde für einige Jahre ruhig. 1968 wurde dann noch eine Attacke gegen die Fachhistorie an den Universitäten geritten, die deutlich macht, daß die Lehrer den Reformdruck an die Hochschulen weiterzugeben versuchten. Auch diese sollten sich endlich den neuen Bedingungen anpassen, neue Methoden und mit Gegenwartsbezug lehren sowie sich den Sozialwissenschaften zuwenden. Mit den herkömmlichen Methoden lasse sich die Gegenwart nicht mehr erfassen. An der antiquierten Geschichtsschreibung, wie sie immer noch praktiziert werde, nehme das Publikum keinen Anteil mehr. Das Geschichtsstudium bedürfe der Reform, nicht zuletzt, um die Lehrer angemessen auf den Unterricht der Gemeinschaftskunde vorzubereiten.21) II Politikwissenschaft Das wissenschaftliche Pendant zur politischen Bildung bildeten die politischen Wissenschaften, zu Beginn oft auch political sciences oder Wissenschaft von der Politik und später Politikwissenschaften genannt. Die Uneinheitlichkeit des Namens und die englische Bezeichnung spiegeln die Situation des Faches nach dem Kriege wider. Seine Etablierung war nicht leicht, wurde aber mustergültig betrieben: durch Versuche, ausdrücklich politologische Professuren einzurichten oder umzuwidmen, durch die Rekrutierung von Fachvertretern mit hoher Reputation wovon die Anerkennung des neuen Faches stark abhing -, durch die Verankerung im Lehr- und Prüfungsplan der Universitäten um die Politologie durch Absolventen in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit zu verankern -, durch die Erringung des Promotionsrechts um eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs heranziehen zu können -, durch den Aufbau eigener Seminare oder gar Institute um sich der Blockademacht der Ordinarien der Nachbarfächer zu entziehen -, durch den Aufbau eigener Bibliotheken, durch die Schaffung zweiter und dritter Professuren für Politikwissenschaft um das Fach in größerer Breite lehren und so außerhalb der Universitäten besser anwendbar machen zu können -, durch die Herausgabe eines jährlich erscheinenden Verzeichnisses politikwissenschaftlicher Literatur und durch die Verankerung im Schulunterricht. Die Amerikaner förderten die Politikwissenschaft im Rahmen ihrer Reeducation-Politik, aber der Widerstand der Fakultäten war zäh. Als Hauptargument wurde die fehlende Methode ins Feld geführt, die es nicht rechtfertige, von einem eigenen Fach „Politikwissenschaft" zu sprechen (worauf einmal kühl geantwortet wurde: „Der Vertreter der Politischen Wis-
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20) Rohlfes, Die Herausforderung der Geschichte durch die Gemeinschaftskunde, S. 19. 21) Vgl. Schoebe, Geschichte und Gemeinschaftskunde; Zur Gestaltung des Geschichtsstudiums.
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senschaft qualifiziert sich durch sich selbst"22)). Die Soziologie, selbst noch nicht endgültig als Disziplin etabliert und die Konkurrenz der Politologen fürchtend, leistete dem sich herauskristallisierenden Fach Schützenhilfe um es freilich sogleich als untergeordnete Sozialwissenschaft unter ihre eigenen Fittiche nehmen zu wollen. Die Historiker wiederum, zumindest in Münster, meinten, „daß politische Wissenschaft' am fruchtbarsten von der methodisch sicheren Grundlage eines Einzelfaches aus zu treiben sei", was der nach Heidelberg scheidende Werner Conze ausgezeichnet bewiesen habe.23) Die Politologen dagegen verstanden ihre Wissenschaft als eigenes Fach, das die politischen Wissenschaften, also all die Fächer, die die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung untersuchten, koordinieren sollte. Sie formulierten als ihre Aufgabe, in enger Verbindung zu den Wirtschaftswissenschaften, zur Rechtswissenschaft, zur Geschichte und zur Soziologie die politische Ordnung der Gesellschaft unter speziell politikwissenschaftlichen Fragestellungen zu analysieren. Analyse hieß: Entwurf einer Theorie von der Politik, statt einer historischdeskriptiven Staatsformenlehre oder einer Geschichte der politischen Ideen. Sonst habe das Fach tatsächlich keinen Sinn. Außerdem sollte die Fähigkeit zur Theoriebildung die bestrittene Wissenschaftlichkeit des Faches beweisen. Politikwissenschaft hieß aber auch, als politisches Ziel der Wissenschaft die Stärkung und Sicherung der Demokratie mit wissenschaftlichen Mitteln vor Augen seltener aus marxistischer Perspektive, wie bei Ossip K. Flechtheim zu haben oder Wolfgang Abendroth, meist aus gut sozialdemokratischer, wie bei den meisten Mitarbeitern des berühmten Otto-Suhr-Instituts an der Freien Universität Berlin. So wurden Führungsansprüche angemeldet oder bestritten und Symbiosen beim Aufbau des Faches eingegangen oder Vereinnahmungsversuche abgewehrt. Und obwohl noch in den sechziger Jahren die Lage für die Politologie als unbefriedigend geschildert wurde zudem sei die Rezeption durch Historiker wie Werner Conze oder Theodor Schieder weiterhin die Ausnahme verlief letztlich ihre Geschichte, wie wir wissen, erfolgreich.24) Die Politologie ist -
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Denkschrift zur Lage der Soziologie und der politischen Wissenschaften, S. 103. Phil. Fak. der Univ. Münster an das Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen vom 28. 2. 1957 (HStAD NW 178/638). Auch Conze ließ Rivalität gegenüber den Politologen erkennen: Conze an Rothfels vom 24. 12. 1953 (BAK N 1213/158). 24) Vgl. Kastendiek, Die Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft, S. 75-303; Hüttig/Raphael, Der „Partisanprofessor" und sein Erbe; Leopold von Wiese an Schelsky vom 3. 11. 1950; Resolution über die Förderung der politischen Wissenschaften im Rahmen der gesamten Sozialwissenschaften [1950] (SFSt. S 1/6); Zusammenstellung über den Stand der Förderungsbestrebungen zur politischen Bildung an den deutschen Hochschulen (Politische Wissenschaften), Stand: Sommer 1951 (UAT 131/151); Denkschrift zur Lage der Soziologie und der politischen Wissenschaften; Mierendorf, Rez. Flechtheim, Grundlegung der politischen Wissenschaft; Fischer, Rez. Hochschule für Politische Wissenschaften, Literaturverzeichnis der Politischen Wissenschaften 1958; Maier, Zur Lage der Politischen Wissenschaft in Deutschland. Die Lehrstühle an den wissenschaftlichen Hoch-
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für unser Thema wichtig, weil sie die Beschäftigung mit den Parteien und dem Parlamentarismus forcierte und damit auch Historiker beeinflußte, die nicht zuletzt aufgrund politologischer Arbeiten die moderne Gesellschaft anders zu sehen und anders zu untersuchen begannen, ja überhaupt erst begannen, sie zu untersuchen.25) Außerdem fällt in diesem Zusammenhang eine interessante Koalition von Personen auf. So unterschiedliche Gelehrte wie Hans Rothfels, Wolfgang Abendroth, Arnold Bergstraesser, Gerhard A. Ritter, Karl Dietrich Erdmann, Ludwig Bergsträsser, Felix Messerschmid, Hans Herzfeld, Karl Dietrich Bracher, Otto von der Gablentz waren sich 1962 darin einig, daß die politische Bildung im Schulunterricht auf einen neuen Boden gestellt werden müsse.26) Und eine ähnliche Koalition findet man im Umkreis der Kommission für die „Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien" wieder, die 1950 gegründet worden war, um „die massenpsychologischen, soziologischen und sozialpolitischen, wirtschaftspolitischen, publizistischen, organisatorischen und öffentlich-rechtlichen Wirkungsformen der Parteien und Parlamente systematisch zu erforschen. Es gilt insbesondere zu untersuchen, wie auch in Deutschland die Massen, und zwar sehr viel weitgehender als bisher erkannt, allmählich in die politische Verantwortung hineingewachsen und vom Objekt zum Subjekt politischer Entscheidungen geworden sind. [...] Diese Arbeit ist auch aus staatspolitischen Gründen geboten. Sie ist unentbehrlich für die politische Durchbildung des deutschen Volkes. Sie soll femer den politischen Parteien und der gesamten politischen Öffentlichkeit jene demokratische Tradition bewußt machen, die in Deutschland bisher nicht zu einem lebendigen -
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Wert geworden ist."27) Abendroth, Ossip K. Flechtheim, Bergsträsser, Theodor Eschenburg, Fritz Fischer, Alfred Hermann (bis 1956 als Vorsitzender), Erdmann, Conze, Schieder, Jantke, Max Braubach, Max Spindler und andere gehörten ihr 1959 an und arbeiteten zusammen.28) Das waren, abgesehen viel-
bieten die Möglichkeit, Ausbau und Ausdifferenzierung auch der Professuren für Politikwissenschaft von 1954 bis 1970 namentlich zu verfolgen. Zu den vielen kleinlichen Widerständen der Kollegen gegen die Politologen vgl. nur Siegfried Landshuts Schwierigkeiten in Hamburg: Nicolaysen, Siegfried Landshut, S. 392-405; die freundliche Haltung der Soziologen zur Politologie wird dagegen in den Rezensionen in der SFSt.-Zeitschrift „Soziale Welt" deutlich. In den Rezensionen zu Bergsträssers „Geschichte der politischen Parteien in Deutschland" scheinen Desiderata der Politikwissenschaft auf (ULB-Mar, Nachlaß Bergsträssers, Kasten 1, Mappe 7-11); vgl. auch Demeter, Neues parteigeschichtliches Schrifttum. 25) Vgl. H. Mommsen, Der lange Schatten der untergehenden Republik; Möller, Die Weimarer Republik in der zeitgeschichtlichen Perspektive der Bundesrepublik Deutschland während der frühen fünfziger und sechziger Jahre, S. 161. 26) Vgl. oben, Anm. 19. ") Erklärung vom 25. 11. 1950 (BAK B 324/12). 28) Vergleichsvorschlag Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus usw., Bonn, gegen N.N., Bremen, vom 13. 11. 1959, S. 1 (UBMar, Nl Bergsträsser, Kasten 22, Mappe „Kommission für die Geschichte ..."). Conze war 1952 zum korrespondierenden, 1953 zusammen mit Spindler zum ordentlichen Mitglied berufen worden; Jantke und Flechtheim schulen
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leicht von Spindler und Braubach, diejenigen Wissenschaftler ganz unterschiedlicher politischer Provenienz, die früh von der Notwendigkeit einer erneuerten politischen Bildung und einer wissenschaftlichen Behandlung der Parteiendemokratie überzeugt waren und sie deshalb förderten und die die Kommission für ihre persönlichen gesellschaftspolitischen Anliegen nutzten. Werner Conze z.B., der auf Schieders Vorschlag zum ordentlichen Mitglied berufen worden war, fehlte selten bei einer der halbjährlichen Kommissionssitzungen und verfolgte als Ziel, wahlsoziologische Arbeiten nach französischem Vorbild ergänzt durch die historische Tiefendimension zu fördern; seine politischen Hintergedanken, die ich im dritten Kapitel angerissen habe, schimmern auch hier durch. Im Mai 1956 übernahm er unter „allgemeiner freudiger Zustimmung"29) den Vorsitz der Kommission, obwohl er sich nur drei Monate vorher von dem, wie er meinte, Verein kranker oder überlasteter Männer nicht allzuviel erhofft hatte. Doch er dankte erst 1963 ab.30) Für Ludwig Bergsträsser dagegen diente die Kommission der „Propaganda" für den Parlamentarismus und die Parteiendemokratie. Er war als Politiker in der Weimarer Republik ein dezidierter Demokrat gewesen, nach 1945 Regierungspräsident von Hessen-Darmstadt, seit 1949 Bundestagsabgeordneter, und er vertrat selbstbewußt bürgerlich-liberale Positionen in der Kommission ebenso im Beirat des jungen „Instituts für Zeitgeschichte", dessen Arbeit er dahingehend beeinflussen wollte, daß auch der sozialdemokratische und kommunistische Widerstand gegen den Nationalsozialismus endlich Berücksichtigung fände, nicht nur Rothfels' und Ritters bürgerliche Kreise.31) -
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berief der Innenminister 1956: Niederschrift über die konstituierende Sitzung am 30. 1. 1951; Bundesinnenminister an Conze bzw. Spindler vom 9. 2. 1953; Über Aufgaben und Ziele der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien [April 1953], S. 1; Protokoll der Kommissionssitzung am 5.5. 1956, S. 4f. (BAK B 324/12); Hermann an Jantke vom 6. 5. 1956 (BAK B 324/15); Alfred Milatz an Conze vom 7. 4. 1952 (BAK B 324/38). 29) Protokoll der Kommissionssitzung am 5. 5. 1956, S. 4 (BAK B 324/12). 30) Vgl. Conzes Gutachten zu partei- und wahlsoziologischen und -geschichtlichen Arbeiten (BAK B 324/38) und die schon im dritten Kapitel erwähnten Briefe an Milatz vom 21.2. und vom 4. 5. 1952 (BAK B 324/38). Außerdem: Conze an Schieder vom 11. 2. 1956 (BAK N 1188/4); Protokoll der Kommissionssitzung am 5. 5. 1956, S. 4 (BAK B 324/12). 31) Vgl. Rothfels an Bergsträsser vom 11. 12. 1956; Bergsträsser an Rothfels vom 11. 12. 1956; Bergsträsser an den Hauptvorstand der SPD vom 15. 9. 1950 (dieser zeigte in seiner Antwort vom 26. 9. wenig Begeisterung von Bergsträssers Initiative betreffend die Widerstandsforschung); Bergsträsser an Walter Hagemann vom 7. 12. 1950; Ergebnisprotokoll über die gemeinsame Sitzung von Kuratorium und Beirat des Instituts für Zeitgeschichte in München vom 7. 11. 1952, S. 3 (UBMar Nl Bergsträsser, Kasten 10, Mappen 1-3 „Institut für Zeitgeschichte"); Fehrenbach, Ludwig Bergsträsser. Walther Hubatsch schrieb am 19. 7. 1954 an Theodor Schieder (BAK N 1188/177): „Daß der Droste-Verlag nach den beiden Festschriften für Kaehler und Rothfels die dritten nun ausgerechnet für Ludwig Bergstraesser [sie] herausgibt, entbehrt nicht einer gewissen Komik, man kann es auch faux-pas nennen. Es wird Ihnen kaum bekannt sein, daß der Gefeierte in der Zeit seiner Reichsarchivtätigkeit die Herren Kollegen Rothfels und Kaehler zum Gegenstand einer Anzeige wegen
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Wolfgang Abendroth wiederum war in diesem Kreis der wohl schärfste Kritiker der bundesrepublikanischen Realitäten und des westlichen Gesellschaftssystems, einer der wenigen Sozialisten unter den deutschen Professoren. Abendroth war als charismatischer Chef des Marburger „Instituts für wissenschaftliche Politik" einer der profilierten Gründungsväter der westdeutschen Politikwissenschaft. Als Politologe und Staatsrechtler kümmerte er sich auch um die Historiographie, mit der er wenig zufrieden war und deren Forschungen er mit historisch-politologischen Arbeiten seiner Schule korrigieren wollte. Das „Institut zur Verschleierung der nationalsozialistischen Zeit" in München kritisierte er sarkastisch, weil dort deutschnationale Historiker „mit preussischem Machtfimmel" vom Schlage Ritters „den Widerstand gegen den Nationalsozialismus für die grossbürgerlichen Cliquen, Ministerialbürokraten und Militärs des 20. Juli zu monopolisieren und als Konsequenz des Bismarck'schen Staatsgedankens darzustellen" versuchten.32) Für deutsche Gelehrte mit ihrer Tendenz, sich den herrschenden Machtgruppen anzulehnen, hatte er nicht viel übrig, die umgekehrt wenig für ihn. Er versuchte, die „fortschrittlichen Kräfte" wie Karl Dietrich Bracher oder G.W.F. Hallgarten zu fördern, die übrigen deutschen Sozialhistoriker standen ihm unter „sehr bedenklichen Vorzeichen".33) Immerhin bescheinigte er Conze und Schieder eine gewisse Toleranz, und das Verfahren um die Annahme der Habilitationsschrift eines Abendroth-Schülers, die an der Universität Göttingen wie in der Parlamentarismus-Kommission (für den Druck) durchgebracht werden mußte, zeigt, daß die ideologischen Gegner trotz harter Gefechte bereit waren, zu einer Übereinkunft zu kommen. Es kostete Abendroth und seinen Schüler allerdings einige taktische Zugeständnisse, damit die „bürgerlichen" Wissenschaftler, die letztlich am längeren Hebel saßen und überall die größere Fraktion bildeten, sich überwinden konnten, die Habilitation durchzuführen und die Arbeit für den Druck anzunehmen. Abendroth pflegte mit seinen Kollegen aus dem anderen Lager höflich-distanzierten Umgang, Probleme bei der Zusammenarbeit scheint es nicht gegeben zu haben. Als es 1962 zur „Abendroth-Krise" kam, stand die Kommission hinter ihm. Innenminister Höcherl hatte sich durch einen Aufsatz Abendroths in den „Frankfurter Heften", dem er entnahm, er treibe die Bundesrepublik mit Hilfe rechtstechnischer Mittel in den Faschismus, persönlich beleidigt gefühlt. Daraufhin wollte er die Wiederwahl Abendroths in die Kommission nicht bestätigen, das wiederum wertete die Kommission als politischen Eingriff in ihre Arbeit. Sie gab eine Ehrenerklärung für ihren Kollegen ab und bestand auf nicht genügender demokratischer Staatsgesinnung gemacht hat. Kaehler hat das vor einiger Zeit mit allerlei Einzelheiten berichtet und dabei Vokabeln gebraucht, die ich hier nicht wiederholen möchte. Dies nur zu Ihrer Orientierung und bitte vertraulich." 32) Wolfgang Abendroth vom 2. 5. 1951 (IISG Nl Abendroth, Mappe 57). 33) Abendroth an Hermann Weber vom 2. 2. 1962 (IISG Nl Abendroth, Mappe 76).
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II Politikwissenschaft
Toleranz im wissenschaftlichen Bereich. Conze als Vorsitzender in hielt sich dieser Diskussion zurück, bewegte aber den Minister, eine kleine Brücke zu bauen, die Abendroth dann mit der Erklärung, daß er nicht auf der persönlichen, sondern auf der objektiven Ebene argumentiert habe, überschreiten mußte. Man kam miteinander aus. Der Sozialist Abendroth agierte als Politologe in einer anderen Arena als die Historiker, deshalb wurde er nicht bekämpft. Außerdem bestand auf beiden Seiten die Neigung, den Respekt vor wissenschaftlichen Leistungen über politischen Dissens zu stellen. Das konnte man, weil es keinen Einsatz gab, um den man in direkter Konfrontation streiten mußte. Beim Kampf um die rechte Gesellschaftsordnung kam man sich außer in Rezensionen kaum in die Quere, in Institutionen wie der Parlamentarismus-Kommission war die „bürgerliche" Dominanz eindeutig zu groß, um Streit für die Marburger erfolgversprechend zu machen.34) Über die Methode herrschte kein Dissens. Auch Abendroth war „Wirklichkeitswissenschaftler", kein abstrakter Theoretiker, und er beteiligte sich fleißig an den Versuchen der Kommission, Profil zu gewinnen, die Arbeit zu systematisieren und aus der Anonymität herauszutreten. Der Kommission fehlte nämlich ein Programm, ein Manifest, das ihr einen methodisch festen Boden und einen Rahmen gab, mit dessen Hilfe sie ihre Ziele im wissenschaftlichen Umfeld durchsetzen konnte. Die historische Wahlsoziologie zu forcieren war ein Versuch, die Zufälligkeiten der bisherigen Arbeit auf Linie zu bringen. Abendroth entwarf Verfahrensvorschläge, sie fanden die volle Billigung der Mitglieder und wurden in den VfZ gedruckt.35) All das zeigt, wie vorsichtig man sein
politischer
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34) Vgl. Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung; Hüttig/Raphael, Der „Partisanprofessor" und sein Erbe; den Briefwechsel Abendroths mit Walter Hammer (IISG Nl Abendroth, Mappe 19); Stuke, Rez. Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung (der Abendroths Darstellung vehement ablehnt, aber ironisch für das sachliche Zusammentragen von Fakten dankt); Abendroth an Hermann Weber vom 2. 2. 1962 (IISG Nl Abendroth, Mappe 76); Abendroth an Dekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fak. der Univ. des Saarlandes vom 31.1. 1958 (IISG Nl Abendroth, Mappe 82); Abendroth an Hallgarten vom 19. 1. 1962 (IISG Nl Abendroth, Mappe 88); Abendroth an Peter von Oertzen vom 15.8. 1958,3. 11. 1959 (IISG Nl Abendroth, Mappe 67). Außerdem eine schriftliche Mitteilung Lisa Abendroths vom 5. 11. 1997 und mein Gespräch mit Dieter Groh am 29. 10. 1997. Die Schlachten, die legendär geworden sind und die einen vermuten lassen könnten, daß die Marburger seit jeher in heftiger Opposition zu den Historikern -
erst in den siebziger Jahren in Marburg statt, also in ideologisch viel harscheren Zeiten und da, wo dank starker Hausmacht tatsächlich Chancen bestanden, die bürgerlichen Fronten aufzurollen. 35) Vgl. Hüttig/Raphael, Der „Partisanprofessor" und sein Erbe, S. 32; Gedanken zur bisherigen und weiteren Arbeit der Kommission (Bonn, 20. 3. 1957); Wolfgang Abendroth, Zu den Aufgaben und Methoden einer deutschen historischen Wahlsoziologie [1957] (im selben Jahr in den VfZ gedruckt als: Abendroth, Aufgaben und Methoden einer deutschen historischen Wahlsoziologie); Betr.: Historische Wahlsoziologie [Oktober 1958] (BAK B 324/3); Protokoll der Kommissionssitzung vom 27. 10. 1956, S. 4f. (BAK B 324/12); Protokoll der Kommissionssitzung vom 24. 4. 1957, S. 7 (BAK B 324/30); Protokoll der ordent-
gestanden hatten, fanden
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wenn man von Gegnerschaft zwischen Wissenschaftlern sprechen will, weil „Fronten" oft durch Umgangsformen, Situationen oder Strukturen überspielt und relativiert werden ohne zu verschwinden. Auch dieser Sachverhalt wird sich im nächsten Kapitel als grundlegend für die Durchsetzung der Sozialgeschichte erweisen. Außerdem ist deutlich geworden, daß mit der Parlamentarismus-Kommission ein weiteres Forum existierte, in dem Conze einen Teil seiner Sozialgeschichte abarbeitete oder abarbeiten ließ und das, zusammen mit der Politologie, der Gemeinschaftskunde-Debatte, den gesellschaftlichen Entwicklungen und dem Aufstieg der Sozialwissenschaften, neue Fragen, Themen, Techniken, Quellen und Perspektiven in der Geschichtswissenschaft akzeptabel werden ließ. In den kleinen privaten Bemerkungen wird deutlich, daß (als Lippenbekenntnisse) auch traditionelle Historiker den Wert neuer Forschungsrichtungen anerkannten und akzeptierten, und deshalb konnten diese wiederum relativ unangefochten neben der älteren Forschung herlaufen und sich allmählich in der Wissenschaft etablieren, bis sie für eine Generation jüngerer Nachwuchswissenschaftler dann zum Standard wurden.
muß,
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wichtigsten für die junge Sozialgeschichte dürfte jedoch der Aufstieg der Soziologie gewesen sein.36) Sie trug stark dazu bei, daß sich allmählich eine
Am
liehen Mitgliederversammlung der Kommission [...] vom 28.4. 1960 (BAK B324/11); Abendroth an Helmuth Krausnick vom 30. 4. 1957 (BAK N 1213/47). 36) Zum folgenden vgl. Weyer, Die Entwicklung der westdeutschen Soziologie von 1945 bis 1960 in ihrem institutionellen und gesellschaftlichen Kontext; Lepsius, Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1967; Plé, Wissenschaft und säkulare Mission; Braun, Die gesellschaftliche Ausgangslage der Bundesrepublik als Gegenstand der zeitgenössischen soziologischen Forschung; Sternberger, The Social Sciences in Western Germany; Horkheimer, Survey of the Social Sciences in Western Germany; Potthoff, Die Sozialwissenschaften an den deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen; Denkschrift zur Lage der Soziologie und der politischen Wissenschaften; die Lehrstühle an den wissenschaftlichen Hochschulen; Fijalkowski, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie; Hartmann, Zu einer Denkschrift über die Lage der Soziologie; Schelsky, Zur Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie; Linde, Summen der deutschen Nachkriegssoziologie; Schoeck, Die wissenschaftsgeschichtliche Problemlage der Soziologie; Wilhelm Brepohl an Alfred Müller-Armack vom 19. 5. 1949; Vorschläge zum Studienplan für Sozialwissenschaften [1950] (SFSt. B II/3); Gerhard Albrecht an Gerhard Ritter vom 24. 2. 1950, 3. 4. 1950 (AVHD); Plan für ein Soziologisches Institut an der Universität Freiburg [1952] (SFSt. I 6); Erläuterungen zum Studienplan für das sozialwissenschaftliche Studium an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven-Rüstersiel, vom November 1954 (SFSt. S/7); Niederschrift! Über die Sitzung für die Vorbereitung einer Sozialen Akademie in Hamburg am 9. Mai 1955 (SFSt. S/5); Memorandum des Instituts für vergleichende Sozialwissenschaften Stuttgart (George-Washington-Institut) vom Juni 1955; Schelsky an Erwin Fues vom 8. 2. 1954 (SFSt. S/10); Schelsky an Kurt Ballerstedt vom 9. 6. 1955; Otto Stammer an Schelsky vom 6. 5. 1955 (SFSt. S/8);
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veränderte Bewertung der Gesellschaft und eine veränderte Sicht auf die Gesellschaft durchsetzten und damit auch auf die Geschichte und auf die Gesellschaft in der Geschichte. Dieser Prozeß hatte lange vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen, als die Soziologen ihre Disziplin im Universitätsbetrieb halbwegs hatten etablieren können. Im „Dritten Reich" wurde dieses junge Fach keineswegs unterdrückt, sondern konnte nach einer Art Selbstgleichschaltung als „Deutsche Soziologie" weiterexistieren. Ein Teil der Soziologen mußte emigrieren, andere wie Hans Freyer, Hans Linde, Günther Ipsen, Arnold Gehlen oder Carl Jantke engagierten sich für den Nationalsozialismus und hatten sich nach 1945 deswegen zunächst im Hintergrund zu halten. Die Reetablierung der Soziologie nach dem Kriege verlief zweigleisig: Die „Frankfurter Schule" bzw. die Kölner Soziologie um René König bestimmten das Bild, die kompromittierten Realsoziologen fanden an Instituten wie der Sozialforschungsstelle in Dortmund Unterschlupf, wo sie einige Zeit in aller Stille erfolgreich forschten, auch sie mitfinanziert durch amerikanische Stellen, die die deutsche Soziologie insgesamt für ihre Reeducation-Politik nutzen wollten. Unangefochten war die Stellung des Faches aber auch in der Bundesrepublik noch nicht. Den Studierenden war die soziologische Denkweise neuartig, und die Soziologen selbst machten Defizite bei sich aus, die ihre Disziplin daran hindern würden, zur vollen Reife zu gelangen. So wurde in den fünfziger Jahren der äußere und innere Institutionalisierungsprozeß vorangetrieben, der äußere auf die bewährte Weise: Ausbau zum eigenständigen Hauptfach mit vollen Prüfungsrechten, und zwar möglichst an jeder Universität, Vermehrung der Dozenturen, um überall das ganze Fach lehren zu können, Nachwuchsförderung, Ausbau der Seminare und Institute, Einrichtung von Forschungsinstituten, Forderung nach mehr Geldern. Das war nicht alles. Die Soziologen beanspruchten exklusiv, diejenige Instanz zu sein, mit deren Hilfe sich die Gesellschaft selbst analysiert. Sie forderten den Ausbau der Soziologie als Nebenfach und dessen Einbindung in die Prüfungsordnungen der Nachbarfächer, um sie auch dort zu verankern. Sie forderten die Einrichtung spezieller Fachsoziologien in den Nachbarfächern, die in der Soziologie ihren Rückhalt fänden. Sie forderten einen interfakultativen Status der Soziologie, um die anderen Fächer besser durchdringen zu können. Und sie verlangten nicht nur die Einbeziehung der Soziologie in den Schulunterricht, sondern mit ihrer Hilfe gleich ein neues Bildungsideal: statt des neuhumanistischen ein sozialkundliches, das die Schüler zu Staatsbür-
Gesellschaftsanalytikern erziehen sollte. Die Soziologie sollte als Steuerungsinstanz für die Gesellschaft unentbehrlich werden. Allerdings mußten die Soziologen ihr Fach zunächst von innen aufbauen, um ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden zu können. Noch 1961 wurde ein auffälliger Mangel an theoretischen Arbeiten notiert, schon früher war die gern und
Schelsky an Wilhelm Arnold vom 10.2. 1956 (SFSt. S/9); Jantke. Das sozialreformerische Anliegen der deutschen industriellen Sozialforschung, S. 131-137.
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mangelhafte Rezeption ausländischer
und
neuerer
Ansätze in den Gesell-
schaftswissenschaften bemerkt worden, und 1952 hatte Carl Jantke harsch kri-
tisiert, daß die deutsche Nachkriegssoziologie trotz aller Leistungen ideenzentriert und ideologiegeleitet sei, daß ihr sowohl Methode wie Zielkonzeption
fehlten. Diese Einschätzung wurde geteilt. Die deutsche Soziologie hinke im internationalen Vergleich hinterher, besonders groß sei der Vörsprung der Amerikaner, mit ihrer eher untheoretischen, nicht geistesgeschichtlich orientierten empirischen social research, speziell der Industriesoziologie. Schon zu Beginn der fünfziger Jahre war klar, daß die deutsche Wissenschaftstradition die amerikanische Soziologie nicht mehr einfach ignorieren konnte, deshalb wurden amerikanische Methoden rezipiert, indem man die entsprechende Literatur las, Gastprofessoren einlud und den wissenschaftlichen Nachwuchs in die USA schickte. Allerdings hätten nur acht Jahre gereicht, so schrieb Helmut Schelsky 1956, um ihn und eine Reihe von Kollegen erkennen zu lassen, „daß diese Methoden weitgehend pseudoexakt in bezug auf die sozialen Aussagen sind, daß sie sehr stark an amerikanische soziale Voraussetzungen gebunden sind usw., d. h. daß wir unserer Gesellschaftsstruktur und unserem zu verantwortenden Geldaufwand angemessene eigene Methoden entwickeln müssen."37) Außerdem wurde befürchtet, daß eine derartige Empirische Sozialforschung rasch in reiner Statistik münde. Die Empfänglichkeit für neue Dinge wurde eskortiert durch den Rekurs auf bewährte Traditionen. Immerhin konnte man z. B. auf Max Weber zurückgreifen.38) Weber war nie in Vergessenheit geraten. In den zwanziger und dreißiger Jahren setzten sich Hans Freyer, Günther Ipsen, Georg Weippert und andere heftig mit ihm auseinander, selbst Hans Frank reklamierte ihn für sich. Mit einer Fanfare begann Freyer 1937 seinen Aufsatz „Gesellschaft und Geschichte": „Alle Nachfolger und Bewunderer Max Webers und wer von den Heutigen wäre nicht in irgendeinem Sinne sein Nachfolger oder wenigstens sein Bewunderer -", um Weber dann allerdings scharf zu kritisieren. Webers Popularität hat es nicht geschadet. Er blieb der große Mann der deutschen Soziologie und die Gegenfigur zur amerikanischen. Wilhelm Brepohl war beeindruckt von „Kapitalismus und Agrarverfassung". Walter Kienast schrieb von den Zyklopenmauern der Weberschen Aufsätze. Die Realsoziologie beanspruchte ihn nach 1945 mühelos als Fundament. Die Sozialforschungsstelle wollte ihren Neubau mit seiner Büste schmücken. Conze fühlte sich ihm verpflichtet, aber auch von ihm unter Druck gesetzt, denn er hatte keine Zeit, ihn zu lesen. Weber stand auf seinem Schreibtisch und -
37) Schelsky an Erwin Fues vom 8. 2. 1956 (SFSt. S/10). 38) Zur (Nicht-)Amerikanisierung der Soziologie vgl. Weyer, Die Entwicklung der westdeutschen Soziologie von 1945 bis 1960 in ihrem institutionellen und gesellschaftlichen Kontext; Plé, Wissenschaft und säkulare Mission; Schreiben an Erskine McKinley [1954]; Rainer Mackensen an Dietrich Storbeck vom 27. 1. 1962 (SFSt. PA Mackensen); Ipsen an Jantke vom 25. 1. 1950 (SFSt. I 37); Hans Herzfeld an Eduard Spranger vom 29. 11. 1954 (BAK N 1182/190); Schelsky an Erwin Fues vom 8. 2. 1956 (SFSt. S/10).
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sah ihn strafend an. Otto Brunner arbeitete sich an ihm ab, Schieder äußerte seine Gedanken zu ihm. Wohin man schaut, überall stößt man in den fünfziger Jahren auf eine Weber-Rezeption, die amerikanische Einflüsse zähmen half.39) Die alte, deutsche Realsoziologie blieb ein wichtiger Zweig der bundesdeutschen Soziologie, ihren vielleicht wichtigsten Stützpunkt bildete die „Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Sitz Dortmund". Hier feierte die interdisziplinär arbeitende empirische Sozialforschung in den fünfziger Jahren große Erfolge. Gegründet worden war das Institut im April 1946, nach knapp acht Monaten der Planung, sein Ziel sollte sein: „1) Die Erforschung des sozialen Lebens, 2) die Gutachtertätigkeit für zentrale Behörden und Organisationen, 3) die Lehrtätigkeit."40) Welcher Landstrich bot besseres empirisches Material als das Ruhrgebiet, um den sozialen Sprengstoff des Lebens unmittelbar nach dem Kriege wissenschaftlich erforschen zu können? Man zog also nach Dortmund in ein teilweise zerstörtes Gebäude, räumte den Schutt beiseite, errichtete ein Dozentenheim, das in der schwierigen Aufbauphase als „Keimzelle für die Stabilität der Entwicklung des Instituts angesichts der Unsicherheiten in der Umwelt"41) fungierte, gliederte zwei andere Forschungsstellen ein, bereitete die Publikationstätigkeit vor und arbeitete einige Jahre unter kärglichsten Bedingungen, zeitweise ohne Heizung und unbezahlt. Gleichzeitig machte man sich bei anderen Instituten, Behörden, Zentralstellen, den Gewerkschaften bekannt, und der „Erfolg dieser organischen Ausweitung der Sozialforschungsstelle lag nicht nur darin, dass sie bei allen massgeblichen Regierungsstellen bekannt
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Zur Weber-Rezeption vgl. Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, S. 171-216; Schäfer, Wider die Inszenierung des Vergessens, S. 147; Muller, „Historical Social Science" and Political Myth, S. 208f.; Freyer, Gesellschaft und Geschichte; Ders., Gegenwartsaufgaben der deutschen Soziologie; Ders., Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 145-158; Reinhard Wittram an Eduard Baumgarten vom 23. 1. 1950 (BAK N 1226/48); Conze an Wittram vom 17. 2. 1957 (BAK N 1226/58); Brepohl an Walther G. Hoffmann vom 7. 8. 1952, Brepohl an G. Hartje vom 5. 1. 1952, Brepohl an Marianne Weber vom 5. 1. 1952 (SFSt. B II/l); Conze an Brepohl vom 7. 12. 1953 (SFSt. B II/3); Entwurf zu einem zweiten Versuchsprogramm „Drittes Programm", S. 7 [nach 1954] (SFSt. S/7); Conze, Die moderne Revolution (I), S. 156, Anm. 31; Kahmann, Grundprobleme der Sozial Wissenschaften, S. 105-109; Kienast, Rez. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre; Fischer, Rez. Weber, Gesammelte Politische Schriften; Schieder, Rez. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages; Pitz, Rez. Janoska-Bendl, Methodologische Aspekte des Idealtypus; Mergel, Kulturgeschichte die neue „große Erzählung"?, S. 54. Bei dieser Weber-Rezeption handelt es sich noch nicht um den „parsonierten", den durch den US-So-
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ziologen Talcott Parsons interpretierten Weber. Der amerikanisierte Weber trat bei jüngeren deutschen Historikern ab den sechziger Jahren als der nunmehr „richtig" gelesene Weber in den Vordergrund heute gilt auch er nur als „halber" Weber: vgl. Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, S. 96-115. 40) Die Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Sitz Dortmund [1947], S. 8 (SFSt. Material zur Entstehung und Entwicklung der Sozialforschungsstelle). 41) Neuloh u.a., Sozialforschung aus gesellschaftlicher Verantwortung, S. 16. -
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wurde, sondern dass immer zahlreichere Wünsche auf wissenschaftliche Mitarbeit der Sozialforschungsstelle herangebracht wurden."42) 1946 gelang ihr der Anschluß an die Universität Münster, das bescherte ihr, obwohl die Verbindung locker blieb, alle Vorteile, die dies in der damaligen Forschungslandschaft mit sich brachte. Walther G. Hoffmann, Professor an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, wurde im selben Jahr wissenschaftlicher Direktor. 1948 hatte sich das Institut konsolidiert, und nachdem im selben Jahr u.a. die Rockefeller Foundation in die Finanzierung einstieg, setzte die „Amerikanisierung" der Sozialforschungsstelle ein, freilich in erster Linie die methodische. Die Betriebssoziologie wurde zur herausragenden Aufgabe. Das Institut konnte sich einen Neubau erlauben, es betrieb mit seiner Zeitschrift „Soziale Welt" und den „Dortmunder Schriften zur Sozialforschung" eine strategisch konzeptionierte, wirkungsvolle Publikationspolitik, und 1952 hatte es bereits rund 50 Angestellte (davon etwa 25 wissenschaftliche) bei einem Haushalt von 200000 DM (dazu kamen mindestens 100000 DM amerikanischer Gelder über fünf Jahre sowie Zuschüsse für einzelne Forschungsaufträge, letztere konnten durchaus weitere 150000 DM für ein Projekt einbringen). 1955/56 betrug der Etat etwa 500000 DM, die Mitarbeiterzahl stieg bis 1960 auf über 100. Das machte das Institut zur größten Sozialforschungsstelle in der Bundesrepublik, bald sogar zur größten Europas. Aus allen Ecken pilgerten die wissenschaftlichen Touristen nach Dortmund, besuchten das Institut oder seine gezielt öffentlichkeitswirksamen soziologischen „Großveranstaltungen. Klangvolle (oder auch: schillernde) Namen vor allem der Soziologie verbanden sich mit dem Institut: Hans Paul Bahrdt, Elisabeth Pfeil, Otto Neuloh, Johannes Papalekas, Heinrich Popitz, Wilhelm Brepohl, Carl Jantke, Günther Ipsen, Dietrich von Oppen, Hans Linde, Helmut Schelsky, Georg Weippert, Arnold Gehlen, Otto Brunner, Hans Raupach und Hans Freyer, sie alle hatten im Laufe der Zeit mit der Sozialforschungsstelle zu tun, saßen im Kuratorium, waren mehr oder weniger feste Mitarbeiter. Gerade die vielen Königsberger Namen besagen auch, daß das Institut belasteten Wissenschaftlern in rauhen Zeiten Deckung geboten hatte, nicht nur Ipsen und Jantke, sondern auch Brepohl oder Pfeil. Es sicherte der „Deutschen Soziologie" eine Kontinuität über 1945 hinweg. Und es bildete aus. Wie in der Forschung seinerzeit, so galten wissenschaftlich auch an der Sozialforschungsstelle nur die habilitierten Mitarbeiter wirklich etwas. Also habilitierten sich diese und besetzten in den 20 Jahren zwischen 1950 und 1970 mehr als 40 Lehrstühle für Soziologie, Sozialgeschichte und Sozialpolitik in der Bundesrepublik. Allein in den Jahren bis 1960 sollen insgesamt 100 Nachwuchskräfte ausgebildet worden sein, das war ein wirkungsvolles Potential, um den theoretischen und inhaltlichen Ansatz der Sozialforschungsstelle in der
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Die
Sozialforschungsstelle
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der Universität Münster, Sitz Dortmund
(SFSt. Material zur Entstehung und Entwicklung der Sozialforschungsstelle).
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bundesdeutschen Soziologie Mittel gezielt ein.43)
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Soziologie
institutionalisieren. Das Institut
setzte
dieses
Der Ansatz der Dortmunder sah wie folgt aus: Zunächst verkündeten sie im Geiste der Zeit, daß sie strikt ideologiefrei arbeiten würden und rein empirisch. Ressentimentgeladene „-ismus-Begriffe" wie „Kapitalismus" und ideologische Konzepte (z.B. „Klassenkampf) lehnten sie ab, weder weltanschauliche noch theoretische Vorgaben sollten ihre Arbeit verzerren. Sie entnahmen ihre Untersuchungsobjekte der sozialen Wirklichkeit. Sie sahen, so meinten sie, die Dinge, wie sie waren, und wenn etwas defekt war, was sich durch Ansicht zweifelsfrei feststellen ließ, so gingen sie zum nächsten Schritt über, analysierten den Fehler und machten Vorschläge zu seiner Behebung. Der wichtigste Gegenstand war ihnen dabei die stets prekäre industriegesellschaftliche Ordnung, deshalb lag der Schwerpunkt des Instituts auf der Industriesoziologie bzw. auf der Soziologie des Ruhrgebietes. Die Dortmunder gingen in Betriebe, Familien und Gemeinden hinein die sie als die drei grundlegenden Sozialformationen der industriellen Gesellschaft betrachteten44) -, sie setzten sich eingehend mit der Lebens- und Arbeitswelt der untersuchten Menschen auseinander, sie fuhren in Bergwerken wochenlang Untertage oder beobachteten intensiv die Arbeit im Stahlwerk, sie lebten monatelang in den Ledigenwohnheimen, führten eingehende Befragungen durch und werteten Archive aus.45) Die-
43) Vgl. Weyer,
Die Entwicklung der westdeutschen Soziologie von 1945 bis 1960 in ihinstitutionellen und gesellschaftlichen Kontext, S. 207-304; Schellhase, Die industrieund betriebssoziologischen Untersuchungen der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster (Sitz Dortmund) in den 50er Jahren, bes. S. 308-321; Linne, Das Ruhrgebiet als Testfall; Neuloh u.a., Sozialforschung aus gesellschaftlicher Verantwortung; Sozialforschungsstelle, Bericht für die Zeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1951; Die Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Sitz Dortmund [1947] (SFSt. Material zur Entstehung und Entwicklung der Sozialforschungsstelle); Gründung, Entwicklung und Bedeutung der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Sitz Dortmund, 5. 2. 1952 (SFSt. Allg. Schriftwechsel); Geschäftsordnung vom 27. 6. 1947 (SFSt. I 20); Entwurf für den Organisations- und Stellenplan [1957] (SFSt. Abteilungsleitersitzungen 1/2); Verteilerliste für Forschungsberichte vom 9. 1. 1959 (SFSt. Arge deutsche wirtschaftswissenschaftliche Institute); Günther Ipsen, Bericht über den Ablauf und Stand der Studien zur industriellen Großstadt vom 9. 10. 1957 (SFSt. I 24). u) Die Dortmunder operierten mit einem weiten Betriebsverfassungsbegriff. Die Industrie war für sie mehr als die Summe der Betriebe, die Betriebe endeten nicht an der Innenseite ihrer Tore, sondern umgriffen die gesamte Sozialverfassung einer Industriegemeinde (das machte Günther Ipsen 1954 sehr deutlich: Provinzialinstitut für westfälische Landesund Volkskunde [...], Die geschichtliche Erforschung des rheinisch-westfälischen Industriegebietes, S. 27. Vgl. auch ebd., S. 44). 45) Dieses Vorgehen wurde nicht als „teilnehmende Beobachtung" bezeichnet, weil man den Glauben, der Soziologe könne etwa als vierter Schmelzer in einer Arbeitsgruppe eine Art Innenansicht gewinnen, für falsche Romantik und Selbstbetrug hielt. Man war sich der Distanz zwischen Arbeitern und die Arbeit beobachtenden Interviewern bewußt (vgl. Popitz rem
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5. Der Resonanzboden
Material bildete die Basis für die anschließende Deutung der Lage, das ehrwar a) Ordnungsgesetze des Zusammenlebens der Menschen zu erforschen, b) Störstellen samt Ursachen in kleinsten sozialen Einheiten festzustellen, c) Mittel zur Beseitigung der Störungen zu finden, diese in ihrer Wirkung, ihrem Sinn und ihren Folgen abzuschätzen und zu begründen, sowie d) möglichst eine Theorie der Gesellschaft zu entwerfen, als Ergebnis empirischer Arbeit.46) Das industrielle System, das sagte man in Dortmund unbefangen, richtete die Menschen ab, es hatte Auswirkungen auf die menschlichen Beziehungen. Wenn die Menschen den Anforderungen der Industriegesellschaft nicht mehr genügen konnten, entstanden „Störstellen", „Krankheiten" oder „Brandherde", die zu „entschärfen" waren durch „Entproletarisierung", „Entmassung", „Integration" oder allgemein gesagt: „Entstörung des sozialen Lebensseins".47) Die Begriffe deuten an, daß in erster Linie die Arbeiter Probleme verursachten, aus zwei Gründen. Betrieb und Arbeitskraft waren nicht optimal aufeinander abgestimmt und die Integration der Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft war bislang nicht zustande gekommen. Auf diesen beiden Ebenen mußte die Lösung gefunden werden, und die „Aerzte des sozialen Lebens"48) suchten sie in historischen und soziologischen Studien, die sie dann, unparteiisch, die von Max Weber aufgestellten Grundsätze der Vorurteilslosigkeit und relativen Objektivität einhaltend, als „Dritte Kraft" den Sozialpartnern anboten. Deren Aufgabe blieb die Umsetzung der Analysen in Sozialpolitik. Diese wies in den Augen der Dortmunder freilich erhebliche Schwächen auf. Vor allem die sachgemäße Beurteilung des sozialen Bereichs sei trotz jahrzehntelanger Bemühungen nach wie vor durch „Vorurteile", „unkontrollierte Gefühle" oder „demagogische Forderungen" getrübt. Dagegen ging die Sozialforschungsstelle mit durchaus radikalen Vorschlägen an. Die sozialen Probleme dürften nicht einfach nur verwaltet, geflickt oder ihre Lösung von oben verordnet werden, sondern die gesamte Sozialordnung müsse neu gestaltet werden, und zwar von unten, von den sozialen Basiseinheiten her, wissenschaftlich gestützt, um wirklich integrierend wirken zu können. Sie sollte so angelegt sein, daß Arbeiter dank guter Arbeits- und Lebensumstände keinen Anlaß mehr hätten, sich nicht zufrieden an ihren Platz in der Gesellschaft zu fügen.49) ses
geizige Ziel
u.a., Technik und
Industriearbeit, S. 215 f.). Andererseits zog man Werkstudenten, die in den
regulären Arbeitsprozeß eingebunden waren, heran und wertete deren Beobachtungen aus. 46) Das war strikt antimarxistisch gedacht: Die empirische Arbeit fundiert die Theorie, statt daß die Theorie die Ergebnisse formiert. 47) Neuloh, Sozialforschung eine öffentliche Angelegenheit, S. 10. 4«) Ebd., S. 13. 49) Vgl. Neuloh, Sozialforschung eine öffentliche Angelegenheit; Ders. u.a., Sozialforschung aus gesellschaftlicher Verantwortung; Hoffmann, Sozialforschung als Aufgabe; Ders., Zur Dynamik der „industriellen Gesellschaft", S. 14f.; Mackensen, Die Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund; Sozialforschungsstelle Dort-
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Soziologie
In den Texten aus dem Umkreis der Sozialforschungsstelle wechselt die Meaber zwei Bilder tauchen immer wieder auf, nämlich der Sozialforscher als nüchterner Arzt, seiner Pflicht zur Hilfe ohne Ansehen von Rasse, Geschlecht, Herkunft folgend und die Geschwüre entfernend oder als Handwerker, voll Berufsstolz in allen Haushalten seine Reparaturen erledigend. Dortmunder Sozialforschung verstand sich als wertfreies social engineering; die sozial und ökonomisch optimale Gestaltung des Lebens war ihr Anliegen, soziale Harmonie zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen ihr Ziel. Ein zeitnahes reformerisches Wollen verband sich in der Selbstsicht der Dortmunder mit unabhängiger Wissenschaftlichkeit. Allerdings war ihnen gleichzeitig klar, daß sie die Dinge nicht völlig voraussetzungslos sehen konnten, daß ihre Sozialisation und die Verwendung von Theorien die Beziehung zwischen den Gegenständen und ihnen trübten, daß, gerade weil sie mit Idealtypen operierten, immer eine Auswahl aus der Masse der Daten notwendig war, und daß die Daten ohne vorgängige Theorie nichts aussagten. Aber dieses Wissen störte den Glauben nicht, denn sie meinten, durch die ausdrückliche Formulierung der Ausgangsprämissen, durch Verantwortungsgefühl, durch das fachliche Geschick der Mitarbeiter und durch die wechselseitige Verifikation von Theorie und Empirie diese Störungen ausschalten zu können wenn sie sie nicht schlicht ignorierten, sobald es an die Arbeit ging.50)
taphorik,
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5, 15f., 19; JaNTKE, Das sozialreformerische Anliegen der deutschen industriellen Sozialforschung; Ders., Industriebetriebsforschung als soziologische Aufgabe, S. 14; Siegmund-Schultze, Die Eingliederung der Industriearbeiterschaft in den sozialen Organismus des Volkes; Wilhelm Brepohl, Bescheinigung [für einen Schüler] vom 21. 11. 1950 (SFSt. B II/3); Rothe, Industriebetrieb und Gesellschaft; Teuteberg, Rez. Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz; Ders., Rez. Kirchhoff, Die staatliche Sozialpolitik im Ruhrbergbau/Koch, Die Bergarbeiterbewegung im Ruhrgebiet zur Zeit Wilhelms II.; Kahmann, Grundprobleme der Sozialwissenschaften; Sozialforschungsstelle, Bericht für die Zeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1951, S. 10-18; Papalekas. Artikel „Masse"; Niederschrift über die Abteilungsleiter-Sitzung vom 16. Juli 1954, S. 2 (SFSt. Abteilungsleitersitzungen 1/1); Brief an Erskine McKinley [1954] (SFSt. PA Mackensen); Brepohl, Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform, dargestellt am Ruhrgebiet; Köllmann, Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert; Lepsius, Strukturen und Wandlungen im Industriebetrieb. Weippert, Zur Soziologie des Landvolks, gehörte zu den wenigen, die noch einmal das „echte Bauerntum" mobilisieren wollten, um dem Abgleiten der Gesellschaft in den „Rationalismus" Einhalt zu gebieten. Dem Sozialforscher komme dabei „geburtshelferische" Arbeit zu. Inhaltsangaben und umfangreiche Rezensionsabschriften zu Arbeiten von SFSt.-Mitarbeitern finden sich in: Sozialforschungsstelle, Berichte. Im Archiv der Sozialforschungsstelle lagert außerdem das Material verschiedener SFSt.-Untersuchungen. Man könnte im Detail rekonstruieren, wie die Untersuchungen zustande kamen und wie das erhobene Material gewertet und verarbeitet wurde. Conze an Ipsen vom 2. 6. 1952 zu dessen Bergarbeiterwohnungsprogramm-Studie (SFSt. I 7): „Besonders freute mich, wie Sie ihren sozialpolitischen Willen nicht den Ergebnissen untergeordnet haben, sondern umgekehrt!" 50) Vgl. Brepohl, Die Heimat als Beziehungsfeld, S. 18f.; Mackensen u.a., Daseinsformen der Großstadt, S. 318f.; Hoffmann, Sozialforschung als Aufgabe, S. 331-333. Vgl. mund, 1946-1956, S.
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5. Der Resonanzboden
Die Ergebnisse dieses Dortmunder Programms waren höchst bemerkensDa die Sozialforscher nicht annähernd in den Verdacht kommen konnten, auch nur Sympathien für den Kommunismus zu hegen, hatten sie keinerlei Hemmungen, soziale Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft eingehend zu schildern. Da wurde in ihrer Zeitschrift z. B. mehrfach die „Negerfrage" behandelt: Weder Unterdrückung noch Rassentrennung hätten sich als dauerhafte Lösungen des Rassenproblems erwiesen. Die völlige Liberalisierung der Rassenbeziehungen werde sicher neue und sehr ernste sozialpsychologische Probleme aufwerfen, aber: eine andere Entwicklung sei nicht sinnvoll, und sie komme auch auf Europa zu. Die Autoren ließen keine besonderen Sympathien für die Farbigen erkennen es ging um den durch eine unangemessene Sozialordnung bedrohten Zusammenhalt der Gesellschaft. Ähnlich gelagert war der Bericht darüber, daß die Kinder der (schwedischen) unteren Sozialschichten einen Unruheherd bildeten. Nicht weil sie rassebiologisch minderwertig seien, sondern weil ihnen das Sozialmilieu, in dem sie aufwüchsen, qualitativ wenig Möglichkeiten zur Entwicklung biete. Das Gegenstück zu derartigen Berichten bildeten ausführliche Mitteilungen über das skandinavische (besonders das schwedische) Sozialversicherungswesen, das gerade solche Lagen zu entschärfen versprach.51) Aus verschiedenen Perspektiven führten die Autoren der „Sozialen Welt" ihren Lesern vor, wie die Stabilität der Gesellschaft ständig durch Fehler in der Sozialordnung bedroht war.52) Überall entdeckten sie Sprengstoff, und sie benannten ihn mit einer Unverblümtheit, vor der die Kollegen im Frankfurter Institut für Sozialforschung stets zurückschreckten, weil sie in der Angst lebten, als „Kommunisten" ihre bürgerliche Reputation zu verlieren. Die Dortmunder Studie über „Das Gesellschaftsbild des Arbeiters" (1957) ist das überlegene Gegenstück zur Frankfurter Studie über das Betriebsklima bei Mannesmann (1955). Diese gründete lediglich auf kurzen, standardisierten Befragungen und (methodisch innovativen) Gruppendiskussionen, für die die Befragten vom Werk abgeordnet wurden; das Thema Klassenkampf spielte außer in Andeutungen in der Einleitung keine Rolle in der Untersuchung. Für jene zog die Forschergruppe wochen- bzw. monatelang an die Arbeitsplätze und in das Ledigenwohnheim des Betriebes, ließ die Arbeiter ausführlich zu Wort kommen und ihre Lage schildern und legte die Schwächen der Betriebsverfassung, Ungerechtigkeiten in der Sozialversicherung und die Gefahren der wert.
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auch Dietrich von Oppens Gedanken zu diesem Thema: Oppen, Unser Verhältnis zu Wirklichkeit. 51) Anders gestaltete sich die Praxis der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten zu dieser Zeit, die mit einer umfangreichen eugenischen Gesetzgebung und Zwangssterilisierungen soziale Randgruppen in Schach zu halten versuchten das betraf v.a. Frauen aus den Unterschichten: Broberg/Roll-Hansen, Eugenics and the Welfare State; RuNCis, Steriliseringar i folkhemmet; Koch, Racehygiejne i Danmark. 52) Vgl. neben zahlreichen weiteren Artikeln zu diesen Themen in der „Sozialen Welt" Hector, Die Negerstudenten in den USA; Lattka, Krise in der schwedischen Familie? -
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Betriebsarbeit bloß. Schon vorher hatten die Dortmunder den Frankfurtern in einer Rezension erklärt, daß deren Arbeit nicht das adäquate Bild der sozialen Zustände vermittele, ihre zu oberflächlich angelegte Untersuchung färbe das Bild zu optimistisch. Die Zustände sollten nicht geschönt werden!53) Doch trotz der kritischen Aufmerksamkeit für die Lage der Arbeiter und deren Selbstbild fiel auch das Fazit der Dortmunder positiv aus. Immer wieder entdeckten sie selbst in monotoner Arbeit Möglichkeiten zur Vielfalt, zum eigenverantwortlichen Handeln, zur Selbständigkeit, zur produktiven Aneignung der Arbeitssituation. Arbeiter waren für sie keine Roboter, und eingehend erläuterten Heinrich Popitz und seine Mitarbeiter, welche intellektuellen Anforderungen die Tätigkeiten der Industriearbeiter stellten, wie sie, trotz Herrschaft der Maschinen, Herren an ihren Arbeitsplätzen waren. Jenem Drittel der Arbeiter, die auf ein geregeltes Aushandeln der Arbeits- und Tarifkonflikte mit Arbeitgebern und Staat setzten und damit zu einer Harmonisierung der Gesellschaftsordnung beitrugen, galt eindeutig die Sympathie der Dortmunder. Ihre Studie war kritisch, insoweit sie Mißstände schonungslos benannte, und zugleich systemkonform, insoweit die Fixierung auf die Frage der Mängelbeseitigung sie davor bewahrte, das Gesellschaftssystem in Frage stellen zu müssen.54) Über die Großstadt teilten die Dortmunder Sozialforscher nach eingehenden Feldforschungen in der eigenen Stadt ebenfalls Neues mit. Verblüfft und zustimmend nahmen die Rezensenten zur Kenntnis, daß der Ballungsraum nicht von einer entseelten, ungegliederten, mit ihrem Schicksal hadernden Menschenmasse bewohnt wurde, daß die Bewohner trotz unzumutbarer Wohnbedingungen ihrem Dasein etwas Schönes abgewannen, Heimat gestalteten und soziale Beziehungen zueinander entwickelten. Gesetze wurden sichtbar, „die offenbar für das menschliche Zusammenleben allgemein gelten und die sich nach einer Zeit überstürzten und unorganischen Wachstum [sie] immer wieder und überall durchsetzen."55) Die Bewohner der Großstadt durchdrangen die Widerwärtigkeiten mit einem Hauch menschlicher Wärme, und sie wurden durch die Stadt in einer neuen Sozialordnung organisiert. Die Stadt vernichtete nicht einfach das Land und die Menschen, sie war eine neue Organisationsform. Werner Conze hatte sie angeregt, Günther Ipsen hatte die Untersuchung
53)
Als Ergebnis stellte die Frankfurter Studie fest, daß die Mehrzahl der Arbeiter mit Manzufrieden war, vgl. Betriebsklima; außerdem Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 545-549; Schellhase, Die industrie- und betriebssoziologischen Untersuchungen der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster (Sitz Dortmund) in den 50er Jahren, S. 228f.; Wiedemann, Rez. Betriebsklima (mit starker methodischer Kritik); vgl. auch Teuteberg, Rez. Fischer, Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. 54) Vgl. Popitz u.a., Das Gesellschaftsbild des Arbeiters; Dies., Technik und Industriearbeit. Mit ähnlicher Tendenz einige Jahre zuvor: Jantke, Bergmann und Zeche (Zu „Bergmann und Zeche" vgl. auch Schellhase, Die industrie- und betriebssoziologischen Untersuchungen der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster [Sitz Dortmund] in den fünfziger Jahren, S. 75-98). 55) Sozialforschungsstelle, Berichte 1/1961, S. 49. nesmann
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5. Der Resonanzboden
geleitet, mit der Dortmund bis in die kleinsten Nischen der nachbarschaftlichen Beziehungen hinein durchleuchtet werden sollte, um sozialpolitisch verwertbare Erkenntnisse über die Großstadt gewinnen zu können. Das geschah natürlich mit dem Ziel, die Gesellschaftsordnung zu optimieren, hatte aber den Effekt, daß alte Bewertungen über die industrielle Gesellschaft als Vorurteile überführt wurden.56) Die Grundhaltung der Dortmunder Sozialforscher war im Grunde optimistisch: Alles war bedroht, aber die Ordnung befand sich in einer Verfassung, daß sich die Bedrohungen überwinden ließen, wenn man den Hebel nur richtig anzusetzen verstand.57) Wilhelm Brepohls „Industrielle Volkskunde" kann man als Scharnier zwischen der Sozialforschungsstelle und der frühen Sozialgeschichte betrachten. Brepohl war einerseits in den Denk- und Argumentationsstil des Dortmunder Instituts eingebunden, andererseits entwarf er mit seiner Ruhrgebietsforschung ein Modell des Geschichtsverlaufs, das mit dem Denkstil der frühen Sozialgeschichte korrespondierte, wie wir im siebten Kapitel sehen werden. 1893 in Gelsenkirchen geboren, leitete Brepohl seit 1935 die „Forschungsstelle für das Vblkstum im Ruhrgebiet", in der er das Werden des „Ruhrstammes", die Verschmelzung ostdeutscher, westdeutscher und slawischer Bevölkerungsgruppen untersuchte. Das Ruhrgebiet bewies ihm zufolge seine Assimilations- und Absorptionskraft, indem es das Fremde aufnahm und den „Ruhrmenschen" entstehen ließ, der einen neuen Typus des „Industriemenschen" darstellte. Das Ergebnis seiner Forschungen vor 1945 waren die wissenschaftlich gelungene rassische und soziale Harmonisierung der Ruhrgebietsbevölkerung und der Nachweis, daß die „Industriemenschen" keine Proletarier seien. Damit war Brepohl
56) Vgl. Mackensen u.a., Daseinsformen der Großstadt; die Rezensionsabschriften zu dieser Arbeit in: Sozialforschungsstelle, Berichte 1/1961, S. 47-53; außerdem Schelsky, Ist der Großstädter wirklich einsam?; Rumpf, Rez. Hellpach, Mensch und Volk in der Großstadt (Rumpf und Hellpach fahren allerdings noch auf alten Gleisen: Stadtleben ist schlecht. Aber: man muß es erforschen); Croon, Rez. Köllmann, Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert. Mit derselben Tendenz (vielleicht etwas mehr die negativen Auswirkungen der Vergroßstädterung betonend) schon seit den dreißiger Jahren: Brepohl an Willy Hellpach vom 2. 4. 1942 (SFSt. Kartei „Biographie/Bibliographie [Brepohl]"); Brepohl, Artikel „Soziologie der Großstadt" vom 2.12. 1953 (Ms. für das Wörterbuch der Soziologie; SFSt. B H/10). Zur empirischen Stadtforschung vor 1945 vgl. auch Gutberger, Volk, Raum
Sozialstruktur, S. 217-295. Diese durchaus positive Sicht konservativer Analytiker auf die Gegenwart findet man besonders schön bei Gehlen, Mensch trotz Masse, vorgeführt. Gehlen dekliniert zuerst die gängigen kulturpessimistischen Topoi durch, unterwirft danach die Kulturpessimisten einer knappen, kritischen Analyse, um abschließend positive Tendenzen der Gesellschaftsentwicklung herauszustreichen. Einen ausführlichen Überblick über die Kultur- und Technikkritik in den fünfziger Jahren bietet Schildt, Moderne Zeiten, S. 324-350. Vgl. Ders., Konservatismus in Deutschland, S. 211-252, zum Nachkriegskonservatismus. und
57)
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Teil einer noch kleinen soziologischen Strömung, die sich mit der Industriearbeiterschaft auseinandersetzte und nach dem Kriege zum Zuge kam.58) Auch deshalb konnte er über das Kriegsende hinweg nahtlos weitermachen. 1947 gelang ihm die Integration seiner Forschungsstelle in das entstehende Dortmunder Institut,59) und er nahm die Auswertung der Materialien, die er durch Umfragen, Aktenauswertungen usw. vor 1945 im Ruhrgebiet erhoben hatte, in Angriff. 1948 erschien „Der Aufbau des Ruhrvolkes" mit ausdrücklichem Verweis auf diese Vorarbeiten. In extenso beschrieb er die Entstehung des „Ruhrstammes", in der alten Terminologie. Ihm gelang es am schlechtesten von allen Dortmundern, sich der sprachlichen Bezüge zum Nationalsozialismus zu entledigen, das bekam er erst zu Beginn der fünfziger Jahre in den Griff, als auch seine Texte für die Förderungserwägungen der Rockefeller-Stiftung Bedeutung gewannen. 1957 veröffentlichte er „Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform". Der Titel deutet an, daß Brepohl eine Transformation behandelte, den Weg von der Auflösung einer alten Gesellschaftsordnung mit ihren Bräuchen und Traditionen hin zu ihrer Reintegration in der neuen Ordnung der industriellen Gesellschaft. Das entscheidende Problem auf diesem Weg war der Übergangszustand zwischen Auflösung und Neuordnung, in dem der gesamte soziale Sprengstoff angesammelt lag: „Es ist gewiss, dass kein Ereignis des vielgerühmten und vielgeschmähten 19. Jahrhunderts so schwer auf den Menschen gelastet hat wie dieses Heimatloswerden, das späterhin jedem Einzelnen bewusst oder unbewusst zeigte, wie wenig er ist, wenn er Ort und Ordnung verliert; wenn er keinen Halt mehr hat, kann er auch keine Haltung mehr haben. [...] Dieses Heimatloswerden kann man nicht ernst genug auffassen. Es bedeutet, dass ein Mensch, der nicht eingeordnet und nicht geortet ist, kein ganzer Mensch ist. Wichtige Merkmale und Fähigkeiten können bei ihm nicht zutagetreten. Erst wenn die Einordnung wieder möglich ist und die Ortung, d. h. die Ausrichtung auf bestimmte Ziele sich durchsetzt, kann er zu sich selbst kommen und das bedeutet, dass der Mensch als soziales Wesen nichts so nötig hat wie eben seine Heimat. Welches nun auf die Dauer die echte Heimat ist, ob die alte oder der deutsche Westen, das ist die Schicksalsfrage und zugleich die Bedrohung, die über dem Unglück so vieler Menschen immer noch schwebt. Das Trauma tragen sie in sich. Daß aber die Wunde vernarbt und daß man sich danach einrichtet, ist eine der bedeutendsten nationalen Aufgaben unserer Zeit."60) Mit diesem Zitat aus einem Vortrag von
58) Ausführlicher und besonders zu Brepohls Arbeit für die nationalsozialistische Sozialtechnologie: Weyer, Die Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet; Linne, Das Ruhrgebiet als Testfall. Vgl. auch Braunschädel, Mythos „Ruhrvolk"; Brepohl an Hellpach vom 26. 11. 1941, 2.4. 1942, 15.7. 1947 (SFSt. Kartei „Biographie/Bibliographie [Brepohl]"); Brepohl an Hoffmann vom 31.1. 1950 (SFSt. PA Brepohl). 59) Vgl. Sozialforschungsstelle, Bericht für die Zeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1951, S. 19f.,26f.
60) Vortrag Brepohls über die Heimatvertriebenen von 1952, S. 9 f. (SFSt. B II/7).
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5. Der Resonanzboden
1952 meinte Brepohl zwar die Heimatvertriebenen des Zweiten Weltkrieges, doch das Thema durchzieht seine ganze Arbeit, zusammen mit den Begriffen „Desintegration", „Dislozierung", „Dissoziierung" und „Desorientierung": Auflösung der Ordnung, Herausgerissenwerden aus der Ordnung, Versetzung in eine andere Ordnung, Verlust der Orientierung.61) Aber wie seine Dortmunder Kollegen war auch Brepohl kein Pessimist. Desintegration enthielt für ihn schon die Ansätze zur Reintegration, zu einer neuen Synthese der Ordnung wie der Persönlichkeit. Wie seine Kollegen machte er die Ursachen für Unangepaßtheit, Unsicherheit, Unzufriedenheit, Unbildung und Kriminalität in der Umwelt, im Milieu der Menschen aus, nicht in ihren Erbanlagen. Ordnung, Anpassung, Stabilität, soziale Einbettung, „Seele", Stabilisierung des „echten Volkstums" bildeten seine leitenden Wertvorstellungen. Wenn diese Faktoren nur gewahrt würden, dann hatte er gegen gesellschaftlichen Wandel nichts einzuwenden, dann wäre sogar das revolutionär Neue der Nachkriegsgesellschaft, nämlich die Dauerhaftigkeit des Übergangszustandes, das dauernde Auflösen und Neuintegrieren, zu verkraften. Daß die Familienstrukturen sich änderten oder die Kinder nicht mehr Weidenflöten schnitzten, sondern Fahrräder mit Stützrädern benutzten, technisches, „entseeltes" Spielzeug, störte Brepohl in seinen Texten nicht. Gesellschaft und Kultur veränderten sich nun einmal, und zwar korrelativ. „Komplementär dazu vollzieht sich ein Ausräumen der alten Vblkskultur, was positiv und für sich gesehen einer geistigen Wandlung des ,Volkes' gleichkommt."62) Er machte erst dann „Verproletarisierung", „Verfall" oder „Verkümmerung" aus, wenn er sah, daß Ordnung und Vblkstum nicht mehr stabilisiert werden konnten, wenn die Arbeiter nur noch an Geld dachten, wenn sie nur noch auf die nächsten Dinge starrten („Konkretismus"), wenn sie aus Notwehr gegen ausbeuterische Unternehmer in den Klassenkampf gezwungen und kommunistisch wurden, wenn heimatlose Arbeiter aus dem Osten, die kein Ethos zu verteidigen hatten wie der westfälische Bergmann, jede Auseinandersetzung mit den Unternehmern zu bloßen Auseinandersetzungen um Geld ummünzten. Brepohl erzählte die „Sozialgeschichte des Ruhrgebiets" in drei Schritten: Nach einer Welt, die ganz wie Brunners „Alteuropa" modelliert war und in der
61)
Das
gilt auch
für andere Arbeiten des Instituts. Ausdrücklich z.B. Sozialforschungsvom 1. April 1950 bis 31. März 1951, S. 18: Wiederseßhaftmachung auf eigener Scholle löst innere Befriedigung aus und verhindert Bildung von Volkstumsfremdkörpern innerhalb bestehender Ordnungen. Die Konstruktion von „Heimat" als Chiffre für „Geborgenheit" und „Gemeinschaft" hat eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht: Hertfelder, Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft, S. 211-221. Zur Bedeutung der „Heimat" für die ehemaligen Volkshistoriker nach 1945: Oberkrome, Zur Kontinuität ethnozentristischer Geschichtswissenschaft nach 1945. 62) Brepohl, Artikel „Desintegration (zugleich Differenzierung)", o.D., S. 6 (Ms. für das Wörterbuch der Soziologie; SFSt. B 11/10). Mit selbem Tenor: Hoffmann, Zur Dynamik der „industriellen Gesellschaft". stelle, Bericht für die Zeit
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die Menschen „kastenfest, störungsfrei in sich gesichert, vollkommen solide, auch wenn sie arm waren", gelebt haben sollen,63) zog eine neue Welt der Arbeit und des Arbeiters herauf. Diese Zeit verlief konfliktreich, „Desintegration", „Verwirrung" und „Chaos" herrschten. Seit Ende des Ersten Weltkrieges sind Synthese die Ansätze zu neuer Ordnung erkennbar, ein Prozeß, der andauerte und in dem Brepohl sich mit seiner „Volkskunde der Industriegesellschaft" eingreifend angesiedelt hatte. Er notierte die Gefahren für die gesellschaftliche Ordnung, die vergangenen wie die latent drohenden, und die voranschreitende Verfestigung zu einer neuen Ordnung im Ruhrgebiet.64) Genau so wurden seine Arbeiten auch verstanden. Wieder sammelte das Dortmunder Institut erstaunte und zustimmende Rezensionen, in denen vor allem ein Punkt wie eine kleine Sensation aufgegriffen wurde: daß die Industriebevölkerung keine graue, ungegliederte Masse sei, daß man mithin mit den alten Verrnassungstheorien nicht mehr hinkomme. Brepohl habe mit Klischees und Vorurteilen über das Ruhrgebiet aufgeräumt und schlagwortartig vereinfachte Gegensätze (Stadt-Land, Industrie-Agrarwirtschaft usw.) widerlegt. Das Ruhrgebiet konnte durchaus Heimat sein, eine positive Kraft; die Industrie war kein Fremdkörper im umliegenden Land, sondern organisch aus diesem ge-
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wachsen.65)
Zu seinem 70. Geburtstag hatte sich Brepohl den Titel „Vater des Volkes an der Ruhr" erworben und wurde im Rundfunk gewürdigt.66) Er weitete mit sei-
63) Brepohl, Vortrag auf einem Kongreß in Luxemburg, Januar 1957, S. 11 (SFSt. B II/9). M) Vgl. Brepohl, Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-Westwanderung; Ders., In-
dustrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform; Ders., Vom Werden der industriellen Daseinsform; Ders., Die Heimat als Beziehungsfeld; Ders., Industrielle Volkskunde; ders., Vortrag über das Schicksal der Heimatvertriebenen und den Verlust der Heimat vom 10. 10. 1952 (SFSt. B U/7); ders., Der Mensch in der Industrie [1955] (SFSt. B II/8); ders., Vortrag auf einem Kongreß in Luxemburg, Januar 1957 (SFSt. B II/9); ders., Artikel „Anpassung" vom 17. 3. 1953, Artikel „Desintegration (zugleich Differenzierung)", o.D., Artikel „Sozialer Strukturwandel" vom 22. 12. 1952 (Ms. für das Wörterbuch der Soziologie; SFSt. B 11/10); Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volkskunde [...], Die geschichtliche Erforschung des rheinisch-westfälischen Industriegebietes, S. 16-19 (auf dieser Tagung stellte er 1954 sein Projekt einer „Vblksgeschichte des Ruhrgebietes" vor). 65) Vgl. Fischer, Rez. Brepohl, Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform; Hüfner, Rez. Brepohl, Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform; Köllmann, Binnenwanderung und Bevölkerungsstrukturen der Ruhrgebietsgroßstädte im Jahre 1907; sowie die zahlreichen Rezensionsabschriften in Sozialforschungsstelle, Berichte 1/1961, Heft 2, S. 31-46. 66) Vgl. Weyer, Die Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet, S. 139; Ms. einer WDR-Sendung vom 16. 8. 1964 (SFSt. PA Brepohl). Brepohl betätigte sich auch als Maler, doch er malte das genaue Gegenteil seines Forschungsgegenstandes: „Ja ich weiß, es ist eine Grundtatsache, wenn ich meine ganze sagen wir einmal menschlich-wissenschaftliche Tätigkeit zusammennehme und sie genau ins Gegenteil verkehre, dann kommt das heraus, was ich male. Also Landschaft mit Bäumen, fast keine Häuser, mit Himmel, der nur ein Fluten von Licht und Farben ist. Im Ganzen ist das vollkommen die Umkehrung von dem, was -
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5. Der Resonanzboden
im
Texten
Zusammenspiel mit den anderen Dortmunder Arbeiten
das -
Bewußtsein, wie komplex und wichtig der Untersuchungsgegenstand „Gesellschaft" war und wie komplex die Untersuchungsmethoden sein mußten, um ihm beikommen zu können; außerdem berichtete er den Lesern der „Westfäli-
Forschungen" von Conzes sozialhistorischen Überlegungen und seiner eigenen grundsätzlichen Zustimmung zu ihnen.67) Conze war ihm dankbar für diese „erste echte Auseinandersetzung mit meinem Aufsatz überhaupt, den ich ja um der Diskussion Willen geschrieben habe."68) Brepohl unterstützte Conzes Sozialgeschichte, direkt und indirekt. Beide verabredeten, sich auszutauschen, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Conze von der modernisierten Volkskunde Brepohls nicht allzuviel hielt. Sie war ihm zu schwammig.69) Zu einer wirklichen Zusammenarbeit kam es nicht, überhaupt koopeschen
rierten Historiker und Volkskundler nicht. Im Kreise der mit Conze verbundenen Personen weisen die Akten Brepohl nur 1962, auf dem Duisburger Historikertag, noch einmal aus.
IV Schluß Durch all die Entwicklungen und Tendenzen, die ich in diesem Kapitel angerissen habe, entstand im Laufe von 10 bis 15 Jahren allmählich ein Umfeld, das es Werner Conze ermöglichte, seine sozialgeschichtlichen Pläne zu verwirklichen. Die „nationalen Krise" von 1918 sowie die Zwischenkriegszeit machten zahlreichen Wissenschaftlern erstmals das veränderte Gesicht ihrer Gesellschaft bewußt: das der industrialisierten Massengesellschaft. Lange Zeit setzte sich nur eine Minderheit mit diesem Gesicht auseinander, doch Krieg und Aufbau der Bundesrepublik ließen immer mehr Beobachtern immer deutlicher werden, daß die Gesellschaft schon seit Jahrzehnten einen tiefen Strukturwandel durchgemacht hatte, der nur mit neuen Begriffen, Wertungen und Analysemethoden zu erfassen war. Und diese Erkenntnis konnte nach dem Kriege verstärkt der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit und Politikern vermittelt werich wissenschaftlich getan habe." Das seien Bilder ohne Technik und arbeitende Menschen, hatte der Interviewer vorher ergänzt, aber es wurde nicht gefragt, was das bedeuten könnte (Ms. einer WDR-Sendung vom 16. 8. 1964, S. 3 [SFSt. PA Brepohl]). Es deutet vielleicht an, daß die positive Wertung der industriellen Gesellschaft keine Herzensangelegenheit war, daß Brepohl sich, nachdem er die Industriegesellschaft wissenschaftlich integriert hatte, in eine andere gesellschaftliche Welt zurückzog, die eigentlich die Seine war. 67) Brepohl, Zum Thema „Westfälische Sozialgeschichte"; Brepohl an Conze vom 10. 1. 1954 (SFSt. BÜ72). 68) Conze an Brepohl vom 26. 2. 1954 (SFSt. B II/2). Gemeint ist „Die Stellung der Sozialgeschichte" von 1952. 69) In der Tat wimmeln Brepohls Texte von Widersprüchen und unklaren Begriffen, die in der Kürze meiner Zusammenfassung sehr geglättet sind.
211
IV Schluß
den weil diese bereit waren, sich auf diese Art, die Gesellschaft zu beobachten, einzulassen. So wurde die Nische, in der die volkshistorisch inspirierte Sozialgeschichte zunächst gefangen war, innerhalb einiger Jahre erweitert. Einmal nämlich profitierten die neuen Wissenschaften Soziologie und Politologie von der veränderten Beobachtungsweise, indem sie als Folge günstiger wirtschaftlicher Bedingungen und des expandierenden Bildungswesens institutionalisiert wurden. Ihr Anspruch, den gesellschaftlichen Wandel adäquat zu analysieren und damit für die Gesellschaft in den Griff zu bekommen, fand Zustimmung und Gelder. Dadurch wiederum wurde der neue Blick auf die Gesellschaft geschärft; die Debatte um den Geschichtsunterricht wirkte dabei als eine der Vermittlungsinstanzen zwischen den Gesellschaftswissenschaften und der Öffentlichkeit. Die westdeutschen Historiker hingen, wie wir gesehen haben, im Schlepptau dieser Entwicklung, die sie immer weniger ignorieren konnten. Wenn also einige Historiker die Geschichtswissenschaft auf neue sozialhistorische Füße stellen wollten, so konnten sie sich auf immer zahlreichere Referenzen berufen, um die gesellschaftliche Notwendigkeit dieser Umstellung zu begründen. Sie konnten immer mehr inhaltliche wie methodische Vorbilder anführen und für ihre Sozialgeschichte in Dienst nehmen. Es standen ihnen immer mehr Institutionen zur Verfügung, die sie für sozialgeschichtliche Arbeiten nutzen konnten, in denen sie sie verankern konnten und von denen sie sie gefördert sahen. Sie profitierten direkt von dem gesellschaftlichen Wandel, der das Movens ihrer Arbeit war, indem nämlich auch sie an der Expansion des Bildungswesens und dem Umbau der Wissenschaft teilhatten, was ihnen eine immer breitere materielle Grundlage, eine zunehmende geistige Aufgeschlossenheit der Kollegen für neue Methoden und zahlreiche Stellen bescherte. Das wiederum vervielfachte den output ihrer Arbeit, erweiterte durch das Angebot das Publikum, was wiederum den Sozialhistorikern zunehmend Nachwuchs zuführte (das war freilich auch den allgemein steigenden Studierendenzahlen zu verdanken). Das strategische Handeln Conzes war ein Teil in diesem Prozeß: der Verdichtung der allgemeinen Entwicklung in einem einigermaßen kohärenten Konzept; der Formulierung des Ziels, das die Geschichtswissenschaft ansteuern sollte; der gezielten Beschleunigung, damit die Geschichtswissenschaft das Ziel rascher erreichen möge. -
-
-
6. Die Zunft Denn
[...] das Gelehrtendasein, das einem einerseits so viel
Ärger, auch Feindschaft einträgt, hat andererseits den großen Vorzug vor den meisten Berufen, daß es Männer-
freundschaften anbahnt,
in die in besonders begünstigten Fällen dann auch noch die Frauen einbezogen werden. Solche Beziehungen haben gegenüber denen, die durch die Schule und das Studium, durch Wehrdienst und Gefangenschaft geschaffen wurden, den Vorzug, daß sie nicht auf der Grundlage einer auf bestimmte Jahre beschränkten Gemeinschaft beruhen, sondern auch dann lebendig bleiben, wenn man sich längere Zeit nicht trifft. Man hört voneinander, spürt die Auswirkungen des Freundes an seinen Schülern, vor allem: man liest wechselseitig das Geschriebene und Vorgetragene, setzt sich mit ihm auseinander und verfolgt das Echo in der Zunft. Eine dauernde Zwiesprache, auch wenn man den anderen nicht unmittelbar hört, die ermöglicht, ein neues Treffen mit den Worten zu beginnen: was ich noch sagen wollte, ist dies! Gestern, vorgestern machte ich Ihnen diese Einwände. Jetzt habe ich eine bessere Formulierung. (Percy Ernst Schramm, 1966) „
"
Eine neue Geschichtsschreibung benötigt mehr als ein ihr günstiges gesellschaftliches Umfeld. Bestimmte gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen mögen eine derart starke Wirkung haben, daß sie von der Geschichtswissenschaft kaum ignoriert werden können, doch wie diese Anstöße in Geschichtsschreibung umgesetzt werden, ist im wesentlichen eine Sache der Zunft. Die Industrialisierung allein hatte nicht gereicht, um einen neuen Blick auf die Geschichte zu provozieren. Es ist die Zunft, die durch ihre Traditionen und erprobte Sicht auf die Welt neue Perspektiven formiert. In diesem Kapitel werde ich deshalb zuerst die Situation der deutschen Geschichtswissenschaft um und nach 1945 beschreiben, die „Krise" und den „Neuanfang", die zunächst nicht zu wesentlichen Veränderungen der historiographischen Praxis führten. Der merkwürdige Charakter der „Diskussion" um Nutzen oder Gefahren der Sozialgeschichte, die Historiker in den fünfziger Jahren führten, zeigt aber, daß nicht nur eine massive personelle und konzeptionelle Kontinuität über 1945 hinweg zu verzeichnen ist, sondern daß neue Ansätze mit einer gewissen Passivität akzeptiert wurden. Man lotete einige Grenzen aus, die Sozialhistoriker nicht verletzen durften, und eröffnete dadurch der Sozialgeschichte innerhalb der allgemeinen Geschichte einen Raum, in dem sie sich entfalten konnte. Eine Schlüsselstellung innerhalb dieses Prozesses kommt den Mitgliedern der „Rothfels-Gruppe" zu. Wir werden sehen, wie die „Rothfelsianer" in der Zunft verankert waren und wie ihre Netzwerkpolitik funktionierte. Sie bildeten
I Die Zäsur von 1945 und die „Auseinandersetzung" um die Sozialgeschichte
mit ihrem
Oberhaupt
213
Hans Rothfels eine starke pressure group innerhalb der
Geschichtswissenschaft, sie besetzten wichtige Lehrstühle und übernahmen
gegen Ende der fünfziger Jahre eine immer wichtigere Rolle im Historikerverband. Ihre Bedeutung für Werner Conzes sozialgeschichtliche Konzeption ist nicht zu unterschätzen, denn sie sicherten seine Bemühungen innerhalb der Zunft ab und verliehen ihnen Gewicht, wie man am Beispiel der Historikertage seit 1958 sehr gut sehen kann. Erst die Verbindung von Passivität der Historiker gegenüber der Sozialgeschichte, deren aktiver Propagierung durch Werner Conze und der Absicherung durch die „Rothfels-Gruppe" ermöglichten den Erfolg von Conzes Anstrengungen.
I Die
„Zäsur" von 1945 und die „Auseinandersetzung" um
die
Sozialgeschichte
Schon das heute bizarr anmutende Verhalten deutscher Historiker zur „Stunde Null" läßt eine Ahnung aufkommen, warum sich 1945 in der deutschen Geschichtswissenschaft kaum etwas Wesentliches änderte. Otto Brunner hielt im Januar in Berlin einen Durchhaltevortrag voll ermunternder historischer Parallelen.1) Das Reich zerfiel, doch es wurde verzweifelt studiert und promoviert. Historiker berieten sich über Forschungsprobleme, sandten sich Bücher zu, sprachen von dringenden Forschungseinsätzen für den Osten, planten Berufungen, schlössen Druckverträge all das kurz vor der Kapitulation, in einem Ton, als herrsche tiefster Frieden, ganz so, wie sie sich immer geschrieben hatten und bald wieder schreiben sollten.2) Die Wissenschaft war eine höhere Macht, die ihre Angehörigen nicht entließ: „Bitte laß gelegentlich mit einer Zeile hören, was von unserem Arbeitsvorhaben noch läuft. Fast mutet einen der Gedanke an wissenschaftliche Arbeit gespenstisch an und doch entbindet uns vorerst nichts und niemand von ihr, so schwer sie auch sicher fällt."3) Allerdings deutet wenig darauf hin, daß der Wegfall dieser Last ernsthaft gewünscht -
-
1)
S.o. S. 82f.
2) Vgl. Höss, Studien und Berufsaussichten in turbulenter Zeit, S. 111; Zorn, Studium der Geschichte im Geschichtserleben vor und nach Kriegsende, S. 262 f.; Otto Brunner an Reinhard Wittram vom 5. 1. 1945 (Brunner in Wien empfiehlt Wittram in Posen einen Prager Kollegen keine zwei Monate darauf mußte Wittram Posen verlassen); Werner Conze an
Wittram vom 13. 11. 1944 und vom 11. 1. 1945; Theodor Schieder an Wittram vom 9. 3. 1945 (alle BAK N 1226/3). Schieder ließ sich noch im Dezember 1944 Bücher von Königsberg nach Bayern senden. Den Grund für den langen Postweg vermutete die Bibliothekarin in einer Überlastung der Reichspost: Irmgard Müller an Schieder vom 15. 12. 1944 (BAK N 1188/21 ). Zur Lage der Historiker 1945 und dem „geradezu gespenstisch anmutenden Drang zur Normalität" vgl. auch die Impressionen bei Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 25-27. 3) Kurt von Raumer an Wittram vom 12. 2. 1945 (BAK N 1226/3). -
214
6. Die Zunft
wurde. Wenn Theodor Mayer 1954 bekannte, daß die Wissenschaft sein einziger Lebensinhalt sei,4) so trifft das auf seine Kollegen ebenso zu. Wissenschaft war ein Beruf, dem sie mit Leib und Seele verschrieben waren, sie war ihnen, was das Meer für Fische bedeutet. Deshalb versuchten sie, inmitten des Chaos normale wissenschaftliche Zustände zu erhalten, als gehe sie der Untergang der Welt nichts an es war der Untergang der materiellen Welt, der ohnehin nicht mehr zu verhindern war. Es konnte nur noch darum gehen, die bewährte Ordnung der akademischen Welt zu retten, um nicht an Land geworfen zu werden. Das war weniger bizarr denn ein überlebensnotwendiger Reflex, aber das ließ wenig Raum, über die Ursachen dieses Reflexes nachzudenken. Nach Kriegsende befand sich die Historiographie in einer „tiefgreifenden Identitätskrise".5) Die überwiegende Zahl der deutschen Neuzeithistoriker war einer politikhistorischen Wissenschaftskonzeption verpflichtet, in der die deutsche Nation in Form des Bismarck-Reiches im Mittelpunkt stand. Von Ausnahmen abgesehen, schilderten sie seit Ende des letzten Jahrhunderts die Geschichte als Abfolge individueller (staatspolitischer) Handlungen oder von Ideen, seien es jene „Großer Männer" oder jene von Staaten oder Kulturen, die wie Individuen behandelt wurden. Die bedingungslose Identifikation mit der deutschen Nation ließ es ihnen selbstverständlich erscheinen, den Selbstbehauptungskampf dieser Nation im Konflikt der großen Mächte mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu unterstützen. Diese nur von wenigen hinterfragte Politisierung der Wissenschaft führte nach Kriegsende zwar zur Forderung nach einer Revision des deutschen Geschichtsbildes. Historiker begannen zu kritisieren, daß durch die Verherrlichung der Macht und des Staates als oberster, unhinterfragbarer Norm, sowie durch die Verherrlichung der großen Geister und Staatsmänner der Weg für den Nationalsozialismus geebnet worden sei. Peter Rassow etwa sprach sich gegen die Wiederbegründung des Historikerverbandes und die Reanimierung der Historischen Zeitschrift aus: „Ich meine gar, es würde der Geschichtswissenschaft gut tun, wenn man eine ganz neue Zeitschrift ins Leben riefe. Die Linie Sybel-Treitschke-Meinecke-Müller kann doch eigentlich nicht fortgesetzt werden."6) Letztlich blieb die Selbstkritik jedoch verschwommen. Die Historiker ahnten, wie unheilig die Allianz zwischen ihnen und der Nation tatsächlich geworden war, aber da die meisten von ihnen nur in den Termini von Staat und Politik zu denken gelernt hatten -
4) Mayer an
Paul Egon Hübinger vom 28. 8. 1954 (StadtAKn, Nl Mayer, Varia 42). Theodor Schieder spürte 1946 bei einem Besuch in Göttingen, was ihm in seinem bayrischen Exil „gefehlt hat wie das liebe Brot: die Verbindung mit Beruf und Wissenschaft. Ist sie einmal wieder hergestellt, dann tritt alles andere zunächst doch in den Hintergrund." (Schieder an Kurator Hoffmann vom 13. 10. 1946 [Geheimes Staatsarchiv Berlin XX HA, Rep. 99c, Nr. 59]. Die Hinweise auf die Bestände des Geheimen Staatsarchivs verdanke ich Mathias
Beer, Tübingen). 5) Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, S. 638. 6) Rassow an Otto Vossler vom 29. 1. 1947 (BAK N 1228/115).
I Die Zäsur von 1945 und die „Auseinandersetzung" um die Sozialgeschichte
215
und seit Generationen in einer Symbiose mit ihrer Nation lebten, so fehlte ihnen die Sprache, um diese Ahnung artikulieren und eine Revision der Geschichtsschreibung durchführen zu können. Realistische Alternativen fehlten zudem, denn die marxistischen oder süddeutsch-katholisch-antiborussischen Interpretationsangebote lehnten die meisten Historiker ab. Niemand forderte sie außerdem ernsthaft auf, eine neue Sprache zu erlernen. Und da kaum einer der ihren wirklich als dezidierter Nationalsozialist hervorgetreten war, vielmehr alle meinten, die wissenschaftlichen Standards gewahrt und der Ideologie ferngestanden zu haben, schien auch die Zunft gegen den Nationalsozialismus résistent geblieben zu sein. Der wissenschaftlichen Methode, so dachten sie, konnten gewisse politische „Verirrungen" einzelner nicht angekreidet werden. Deshalb währte die Krise der Geschichtswissenschaft in der Öffentlichkeit nur kurz und nahm keine gefährlichen Ausmaße an, deshalb blieb es bei Versuchen, das Unerklärliche mit Worten wie „Dämonie der Macht" zu erfassen, deshalb konnte sich unter Historikern rasch die Meinung etablieren, daß es eben doch nur die wenigen „Epigonen" unter ihnen gewesen seien, fachlich zweifelhafte, aber in der NS-Hierarchie hochstehende Individuen, die die deutsche Historiographie in der Öffentlichkeit korrumpiert hätten.7) Gegen diese Epigonen setzte man Friedrich Meinecke, der den Krieg überlebt hatte. Er war schon in der ersten Republik so etwas wie ein Weiser der Zunft gewesen, zu ihm pilgerte man, wenn man wissen wollte, ob man für das Geschichtsstudium tauge, er wurde zum Seher stilisiert, man befragte ihn als Orakel, er „war selbst das Licht, und so sehr er um Erleuchtung rang, sie strahlte aus seinem Innern."8) Meinecke war das lebende Ideal der Zunft: der klassisch gebildete, humanistische Geisteshistoriker, Republikaner, einst verfemt, in biblischem Alter stehend und ein liberaler Lehrer. Er fungierte als die
7)
Zur Revisionsdebatte: Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 46-65, 116f„ 169-175, 201-230, 302f.; Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, S. 638-667; Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 338-350; Schulin, Zur Restaura-
tion und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. Zur Diskussion nach 1945 um die Verantwortung der Wissenschaft im allgemeinen: Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung, S. 150-154. Zum Geschichtsbewußtsein von Historikern und der Öffentlichkeit einige Anmerkungen von Klessmann, Geschichtsbewußtsein nach 1945. Paul Egon Hübinger veröffentlichte noch 1950 eine scharfe Kritik an der Art, mit der deutschen Vergangenheit umzugehen: „Niemand bekennt sich gern zu seinen Sünden. [...] In Deutschland scheint aber die Gabe, sie zu ignorieren, besonders entwickelt zu sein. [...] Nicht nur Einzelfakten, sondern ganze Partien der Geschichte werden je nach der .Weltanschauung', die man besitzt, ganz ausgestrichen oder ignoriert." (Hübinger, Um ein neues Geschichtsbild, S. 396). Vgl. auch Hübingers Brief an Karl Epting vom 10. 12. 1950 (HStAD RW 265/6298), in der er scharf die Haltung verurteilt, immer nur über das den Deutschen zugefügte Unrecht zu schimpfen, ohne zu akzeptieren, daß das Folge dessen sei, was Deutschland vor 1945 getan habe. Auch mit dem Irrtumszugeständnis solle man nicht gar so rasch bei der Hand sein, etwa im Falle Carl Schmitts. 8) Hermann Aubin, Ansprache bei der Beisetzung Friedrich Meineckes (BAK N 1179/15).
216
6. Die Zunft
moralische Instanz der Historiker nach 1945, mehr als sein Konkurrent in diesem Amte, Gerhard Ritter, der nicht über den Parteien zu stehen vermochte. Auf Meinecke wurde projiziert, wie Historiker idealiter zu sein hätten, und indem er die Zunft verkörperte, eliminierte er ihre eventuelle moralische
Schuld.9) Auf Grund dieser Konstellation hörten (west-)deutsche Historiker schon 1949 gerne auf Gerhard Ritters Wort: „Ich glaube nicht, daß sie [die Geschichtswissenschaft] irgendwelchen Anlaß hat, diese ihre Haltung heute grundsätzlich zu ändern."10) Im Grunde war die deutsche Geschichte sinnvoll verlaufen, nur die zwölf Jahre erschienen als ein „Betriebsunfall", etwas unbegreiflich „Dämonisches", das von außen über die Deutschen hereingebrochen war und sie recht eigentlich unterjocht hatte. In seinem Grunde wurzelte der Nationalsozialismus, ein „Gewächs",11) allein in der Kontinuität europäischer Geschichte, er war Folge nicht Luthers und Bismarcks, sondern der französischen Revolution, denn der Durchbruch des abstrakten, „egalitären und totalitären Demokratismus"12) hatte totalitäre Einparteienstaate« das zielte auf die Gleichsetzung von Bolschewismus und Nationalsozialismus erst möglich ge-
-
9) Vgl. Thimme,
Von der Geschichte geprägt, S. 169f.; Bussmann, Siegfried A. Kaehler, S. 39; Hermann Aubin, Ansprache bei der Beisetzung Friedrich Meineckes (BAK N 1179/15); Kaehler an Rassow vom 25. 5. 1945, 2. 9. 1945 (BAK N 1228/165); Gerhard Ritter an Carl Hinrichs vom 13. 4. 1959: „Ich bewundere den Eifer, mit dem man in Berlin seine Meinecke-Verehrung zu einer neuen Art von wissenschaflichem Studium entwickelt" (BAK N 1166/348); Rothfels an Meinecke vom 28. 7. 1952 (BAK N 1213/47); Brief an Egmont Zechlin vom 21.5. 1953 (UAMs, Phil. Fak. Nr. 110); Theodor Schieder an Kurt von Raumer vom 28. 2. 1954 (ULBMs Nl von Raumer B 199); Kaehlers Briefwechsel mit Hans Rothfels (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,144c); Knudsen, Friedrich Meinecke (1862-1954); Schulin, Friedrich Meineckes Stellung in der deutschen Geschichtswissenschaft; Ders., Friedrich Meinecke (Schulin macht Meineckes Wirkung im stabilisierenden „Trostcharakter seiner Geistesgeschichte" aus, wodurch er seinen Kollegen die Umbrüche mit Sinn auflud und das ungebrochene Weitermachen erleichterte [S. 8]); Protokoll über die Sitzungen der 20. Versammlung deutscher Historiker (12.-14. Sept. 1949) [...] zu München, S. 2f. Vgl. auch Besson, Friedrich Meinecke und der Historismus, bzw. dagegen Geiss. Kritischer Rückblick auf Friedrich Meinecke. 1952 entwarf der Historikerverband folgendes Telegramm an Meinecke: „Friedrich Meinecke dem Neunzigjährigen dem Vergeistiger der Nationalidee dem Deuter des Historismus aus Goethes Geist dem Erklärer der Staatsräson dem Erforscher der Kausalitäten und Hüter der Werte im Glanz des Vaterlands und in zwei Niederbrüchen, der im biblischen Alter mitten in der Katastrophe zu sammelnder Wiederbesinnung das Seine tat entbietet ehrfurchtsvollen Gruss der Verband der Historiker Deutschlands Im Auftrage Hermann Heimpel" (handschriftl. Konzept im AVHD).
10) Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft, S. 8. Vgl. auch Ders., The German Professor in the Third Reich. ") Gerhard Ritter, zit. nach Kwiet, Die NS-Zeit in der westdeutschen Forschung 1945-1961, S. 186. 12) Gerhard Ritter an Andreas Dorpalen vom 3. 7. 1962, S. 5 (BAK N 1166/351). Ritter verwahrte sich gegen den Gedanken, daß er den Nationalsozialismus aus der französischen Revolution ableite: Sie sei vielmehr die historische Grundlage, ohne die er nicht möglich gewesen wäre! Macht das im Ergebnis seiner Argumentation einen Unterschied?
I Die Zäsur von 1945 und die „Auseinandersetzung" um die Sozialgeschichte
217
macht. Aus dem Untergrund, durch die dünne, zerborstene Decke abendländischer Zivilisation, war ein gigantischer Höllenzug Bosch'scher Monstren heraufgezogen, der Deutschland und Europa gründlich verheert hatte.13) Die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa erschien da nur das letzte Kettenglied in einem gesamteuropäischen Zusammenhang des Grauens, zu dem die Taten aller europäischen Völker, „nicht zuletzt" die Massenmorde der SS, beigetragen hatten.14) Mit der Personifizierung der Diktatur in der Person Hitlers, des Undeutschen, wälzte man das „Dritte Reich" dann noch einmal von den Deutschen ab. „Im Rückgriff auf Kontingenz und Metaphysik ließ sich der Nationalsozialismus am ehesten ,aus der deutschen Gesellschaft hinauskatapultie-
(K. Kwiet)".15) So, wie man die deutsche Geschichte entnazifizierte,
ren'
so entnazifizierte man Kaum ein Historiker hatte dem Nationalsozialismus wirklich ferngestanden,16) nur wenige verweigerten sich der „Desinfektion" belasteter
sich
gegenseitig.
13) Solche Assoziationen erweckte Gerhard Ritter noch 1966: Ritter, Wissenschaftliche Historie einst und jetzt, S. 582. 14) Conze, Die Dokumentation der Vertreibung, S. 236 f. 15) Reichel, Zwischen Dämonisierung und Verharmlosung, S. 682, s. a. S. 692. Zur Entlastung der deutschen Geschichte: Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 175, 225-227; Schulin, Zur Restauration und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 136; Kwiet, Die NS-Zeit in der westdeutschen Forschung 1945-1961, S. 187-198; Dorpalen, Gerhard Ritter, S. 93f.; Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 338-350; H. Mommsen, Haupttendenzen nach 1945 und in der Ära des Kalten Krieges, S. 113-115. Noch 1964 entlastete Hans Rothfels auf diese Weise die deutsche Geschichtswissenschaft, vgl. den Bericht über seinen Vortrag in der Ringvorlesung „Das deutsche Geistesleben und der Nationalsozialismus" im Schwäbischen Tagblatt vom 12. 12. 1964 (UAT 131/472). Die Umstellung auf Europa integrierte die deutsche Geschichte allerdings auch positiv in die europäische: Deutschland als uralter Vorkämpfer für das „Abendland", als Bollwerk gegen den Osten usw. Wenn die deutsche Kultur diese Rolle für das Abendland gespielt hat, dann konnte das „Dritte Reich" nicht mehr als eine Anekdote der Geschichte darstellen (vgl. auch Arentin, Deutsche Geschichtswissenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg, S. 358, 360f.; E. Melton, Comment, S. 252-361). 16) Schönwälder, Historiker und Politik, S. 268: Das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Nationalsozialismus ist „eine Geschichte der langjährigen Übereinstimmung in wesentlichen Fragen der Politik, der vielfältigen wenn auch nicht konfliktfreien Kooperation, der Begeisterung über neue nationale Größe, ungekannte Macht und europäische Vorherrschaft, nur gelegentlicher Zweifel und später Erkenntnisse. Es ist eine Geschichte der Kontinuität wissenschaftlichen Forschens, aber auch der Anpassung wissenschaftlichen Fragens und Antwortens an die dominierenden Tendenzen der Zeit und des Einsatzes von Wissenschaft für die Zwecke von Krieg und Eroberung. Und es ist eine Geschichte historischer .Sinnstiftung' für ein verbrecherisches Regime und dessen Eroberungsfeldzug." Ericksen, Kontinuitäten konservativer Geschichtsschreibung am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, bestätigt diesen Befund für die Göttinger Historiker. Vgl. auch Wolf, Litteris et Patriae; Schwabe, Deutsche Hochschullehrer und Hitlers Krieg (Schwabe versucht etwas bemüht, den Widerstand unter Historikern aufzuzeigen, „vorerst", da die Quellen fehlten, nur am Beispiel Gerhard Ritters. Er kann allerdings nicht viel vorweisen; vgl. S. 328-332); Oexle, „Zusammenarbeit mit Baal". -
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218
6. Die Zunft
Kollegen.17) In den Nachlässen deutscher Historiker finden sich reihenweise Bitten um „Persilscheine", denen wie gewünscht entsprochen wurde. Gaben und Gegengaben wurden ausgetauscht. „Professoren legten Ideologie und Begrifflichkeit des Nationalsozialismus ab wie altmodische Kleider, über die kein Wort zu verlieren war. Die wissenschaftliche Öffentlichkeit beobachtete dies, hielt sich im übrigen aber mit Kommentaren zurück."18) Bei den meisten Kollegen funktionierte das problemlos. Die Vergangenheit derjenigen, die unvorsichtig gewesen waren, legte man den Behörden im richtigen Licht aus: „Er gehört zu den zahllosen Leuten, welche zu Beginn der NS-Herrschaft es für nötig hielten, durch Eintritt in die Partei zur geistigen Bremsung der Entwicklung beizutragen, während er es mehrfachen und dringlichen Aufforderungen gegenüber abgelehnt hat, in die SA einzutreten."19) Wahlweise waren sie Idealisten und nur formal Mitglieder der Partei oder Idealisten und von der Partei angewidert oder schwach (wer ist zu der Zeit schon stark gewesen?) oder Angehörige der unglücklichen Zwischenkriegsgeneration, denen ein Leben im Abseits gedroht hätte.20) Und nachdem in den ersten Jahren der neuen Republik die Entlastungsarbeit erledigt worden war, begaben sich die Historiker unter den Schweigemantel der jungen Republik. Historiker, fast ausnahmslos derselben gehobenen bürgerlichen Sozialschicht entstammend, verstanden sich als „Persönlichkeiten", als Personen, die einen seit Kindheit anerzogenen „Geschmack" besaßen, der sie über eventuelle, individuelle „Verfehlungen" ihrer Kollegen taktvoll hinwegsehen ließ und sie gleichzeitig davor bewahrte, daß Kollegen so geschmacklos sein konnten, die ihren auch nur anzudeuten. „Man war im Kollegenkreis über die politische Vergangenheit der Fachgenossen natürlich im wesentlichen im Bilde. [...] Aus humanen, kollegialen und anderen Gründen wünschte man im allgemeinen ihre Schädigung und Ausschaltung nicht."21) Grundbedingung war in der Regel das öffentlich proklamierte Abschwören vom Nationalsozialismus, und sei es nur in einer allgemeinen Formel. Dann durfte man sich in die „Sicherheit des Schweigens" zurückziehen, in jene Residuen, die man sich gegenseitig schuf, indem man die „Integrität der Persönlichkeit" der Kollegen achtete. Niemand störte diese Stille, in der man n) Vgl. Schulze, Doppelte Entnazifizierung, S. 268, 272; Ders., Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 120-130 (der Begriff „desinfizieren" wurde von Friedrich Baetgen verwendet; ebd., S. 127). ig) Obenaus, Geschichtsstudium und Universität nach der Katastrophe von 1945, S. 314. '9) Siegfried A. Kaehler an Hermann Nohl vom 9. 7. 1945 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,126).
20)
Dies sind Argumente, die man im Nachlaß Kaehlers (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,126) bzw. in Kaehler, Briefe 1900-1963, S. 365, findet.
21)
Schriftliche
Mitteilung
Heinz Gollwitzers
vom
30. 12. 1997. Auch Schieder wußte
es
einzuordnen, als ihm Hellmuth Rößler schrieb, er könne über die politische Betätigung eines
Kollegen vor 1945 nichts aussagen, da er sie von Österreich aus nicht verfolgt habe. Schieders handschriftlicher Kommentar: „Innsbruck 1942!" (Rößler an Schieder vom 12. 7. 1957 [BAKN 1188/88]).
I Die Zäsur von 1945 und die „Auseinandersetzung" um die Sozialgeschichte
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auf je eigene Art mit der Vergangenheit abschließen konnte.22) Dieses Schweigen war zunächst derart absolut, daß selbst Wolfgang Abendroth, der entschieden linke Kritiker der Republik und ihrer Verdrängungsarbeit, der in Marburg Seminare zur Jurisprudenz im „Dritten Reich" anbot, nie einschlägige Texte seiner Marburger Kollegen bearbeiten ließ. Ein SDS-Student, der gegen Abendroths Rat Anfang der sechziger Jahre den Mut besaß, nationalsozialistische Schriften eines Marburger Juristen publik zu machen, wurde unerbittlich von der Universität relegiert, strafrechtlich verfolgt und wegen Beleidigung bestraft. Selbst die Mehrheit seiner Kommilitonen, auch diejenigen, die bei Abendroth die Nazivergangenheit anderer Juristen aufarbeiteten, betrachteten seine Tat als unanständig.23) Nur sehr wenige sahen auf lange Zeit oder endgültig ihre Karriere beendet, weil sich von ihnen selbst die Zunft distanzierte. In den Nachlässen finden sich lange Briefe Rudolf Buchners, Erwin Hölzles, Franz Lerners und anderer, in denen sie ihr Verhalten im „Dritten Reich" zu rechtfertigen versuchten, um erneuten Einlaß in die Universität baten oder selbstgerecht vor sich hingrummelten, daß sie sich nichts vorzuwerfen hätten: „Wir haben uns nicht wie die Herren Neuzeitler [gemeint ist u. a. Gerhard Ritter] soviel vorzuwerfen, wir sind auch im III. Reich unserer wissenschaftlichen Ethik nicht untreu geworden."24) Sie klopften vergeblich, aber das mehrfach wiederkehrende Begründungsmu-
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22) Zum Schweigen und zum geistigen Konzept der „Persönlichkeit" in der Bundesrepublik vgl. Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S. 105-119, 126-175; zu den Techniken Rechtsintellektueller, nach dem Kriege mit der neuen Situation fertig zu werden: Ders., „Nach dem Sturm schlägt man auf die Barometer ein...". Vgl. auch Lübbe, Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart. Noch Karl Christ, Römische
Geschichte und Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 14, forderte „Takt" und „Diskretion" bei der historiographischen Behandlung der damaligen Kollegen. Der (un-ausgesprochene, unüberhörbare Gegenbegriff zu „Takt" ist die .journalistische Enthüllung", mit der man Aufklärung leicht in die Nähe der Schmutzpresse rücken kann. Derartige „Enthüllungen" zu verhindern, erscheint legitim, das ist man „Seinesgleichen" auch heute noch schuldig. Theodor Schieder gestand 1965 in einem Gutachten über Helmut Heibers Buch „Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland", „daß ich damals [1959], als ich den Jubiläumsband der Historischen Zeitschrift herausgab und dazu eine Geschichte der HZ schrieb, noch einige menschliche Rücksichten genommen habe." (Gutachten vom 15. 6. 1965, S. 2 [BAK N 1188/269]). 1960 hatte er sich noch ausdrücklich gegen den Vorwurf verwahrt, in diesem Beitrag zu taktvoll mit Karl Alexander von Müllers Rolle umgegangen zu sein, und hatte eine zu weitgehende Kritik mit einer Schwächung der Nation gegenüber dem Ostblock in Beziehung gesetzt (Schieder vom 3. 5. 1960 [BAK N 1188/566). 23) Nicht lange darauf setzte ein Stimmungsumschwung ein, und es wurde begonnen, die Vergangenheit der Lehrer öffentlich zu machen: Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung, S. 236 f., 258-260. 24) Das schrieb ausgerechnet Theodor Mayer, der nun wirklich dem Nationalsozialismus nicht fern gestanden hatte, am 27. 12. 1950 (StadtAKn Nl Mayer 17/208). Zum Fall Wilhelm Mommsen, bei dessen Entlassung nach 1945 einige seiner Marburger Kollegen offenbar schmutzige Wäsche wuschen: Nagel, „Der Prototyp der Leute, die man entfernen soll, ist Mommsen".
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6. Die Zunft
ster, warum sie nicht eingelassen wurden, liest sich abenteuerlich. Nicht, weil ihre wissenschaftliche Produktion schlecht oder ideologiegesättigt gewesen sei, wollte man ihnen keine Professur mehr zusprechen die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit wurde anerkannt und man schanzte ihnen kleine Forschungsaufträge zu. Nicht, weil sie wirklich überzeugte Nationalsozialisten gewesen waren, wollte man sie nicht mehr lehren lassen man gestand jedem einen politischen Irrtum zu und ging von Lernfähigkeit aus.25) Sondern man ließ sie nicht mehr ein, weil sie einen viel schlimmeren Eintrag im Führungszeugnis, das ihnen die Zunft ausstellte, aufzuweisen hatten. Sie waren charakterschwach gewesen, sie hatten versucht, mit Hilfe des Regimes die Aufstiegsregeln der Zunft außer Kraft zu setzen und ihre Karriere in der Universität zu beschleunigen damit hatten sie das Vertrauen der Kollegen verspielt. Sie hatten nicht bei ihren Leisten bleiben wollen, waren mit rüden Methoden gegen ihre Standesgenossen vorgegangen, hatten zu offensiv ihre Geringschätzung der Institution Universität geäußert, das führte nach Kriegsende zu einem jähen Abbruch ihrer Laufbahnen. Die Kollegen schrieben sich untereinander, wer der Untragbaren nun wieder bei ihnen um Hilfe nachgesucht habe, warnten einander gegenseitig oder schimpften über diejenigen, die einfach nicht locker ließen: „Ich erinnere mich nur zu gut, wie er bei meiner Antrittsgastvorlesung 1949 versuchte, auf meinem Rücken in das so lange entbehrte Rampenlicht zu klettern. Es ist immer wieder dieselbe Eitelkeit, die ihn nicht ruhenläßt, obwohl er, weiß Gott, Grund genug hätte, den Mund zu halten, nach all dem Schleim, den er schon produziert hat, von dem er aber offenbar nicht lassen kann. [...] Ich glaube, daß wir beide gegenüber den Herren am Bodensee die Ironie der ,quietistischen Wissenschaftlichkeit' voll empfinden."26) Derselbe Hans Rothfels, der so Theodor Schieder schrieb, hatte diesem dessen NS-Vergangenheit schon lange verziehen und seine verzweifelten Versuche, nach 1945 erneut an die Universität zurückzukehren, nicht im mindesten als eitel empfunden. Es war der Ton, der die Musik machte, und man ließ sich untereinander erbarmungslos über das mangelnde Schamgefühl derjenigen „amtsverdrängten" Kollegen aus, die sich als Opfer gebärdeten,27) aber nach ihrer Vergangenheit noch immer nicht Takt gelernt hatten. So unverblümt die Kollegen zum Teil untereinander schrieben, so höflich waren sie gegenüber den Treulosen. Man tat niemandem weh. Erich Maschke etwa wurde nach seinem Wechsel in die Neuzeithistorie bei Mittelalter-Berufungen einfach nicht mehr konsultiert, so teilte er Rudolf Buchner mit, -
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25)
Gerhard Ritter in einem Brief vom 1. 2. 1957: „Man kann ja nicht politische Irrtümer einem Gelehrten dauernd nachtragen, auch dann nicht, wenn er Historiker der neueren Geschichte ist." (BAK N 1166/346). -b) Rothfels an Schieder vom 19. 11. 1957 über einen Kollegen (BAK N 1213/1). 27) Kaehler an Rothfels vom 28. 5. 1951 (SUBG Cod. Ms. S.A. Kaehler l,144d). Die Anführungszeichen stammen von Kaehler.
I Die Zäsur von 1945 und die „Auseinandersetzung" um die Sozialgeschichte
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folglich könne er ihn nicht mehr ins Spiel bringen.28) Meist verwies man die ungeliebten Kollegen freundlich auf eine angebliche „Überfüllung des Fachs" oder der jeweiligen Fakultät. Nie teilte man einem von ihnen mit, was die Zunft wirklich dachte.29) Für die Ausgestoßenen war es in der Tat eine „friedlose Zeit",30) und über die Historikerzunft sagt dieses Entnazifizierungsverhalten einiges aus. Es macht deutlich, wie sehr die deutschen Historiker eine Solidargemeinschaft bildeten, mit Regeln, die Zusammenhalt, Umgang, Aufstieg und Position in ihr bestimmten. Wer diese Regeln beachtete, dem wurde geholfen, dann funktionierte eine Solidarität, die keinen der ihren verkommen ließ und die auch politischen Belastungen und persönlichen Animositäten standhalten konnte. Aber man hatte durch sein Verhalten das in einer Gemeinschaft notwendige Vertrauen seiner Kollegen zu pflegen. Man hatte sich den Regeln der Gemeinschaft zu unterwerfen. Man durfte den Weg, den die Zunft individuell einem jeden ihrer Mitglieder wies, nicht verlassen. Man mußte den endgültigen Platz akzeptieren, den die Zunft einem als angemessen zuteilte. Ein ganz bestimmtes, kollegiales Persönlichkeitsprofil wurde belohnt. Wer Charakterschwäche bewiesen und diese Grenzen in einer Zeit, in der die Autonomie der Zunft beschränkt war, zu beseitigen versucht hatte, den ließ die Zunft dies, nachdem sie ihre Macht zurückgewonnen hatte, teuer bezahlen. Diese Art der Entnazifizierung darf man wohl als ein internes Verfahren deuten, mit dem eine Gruppe ihre Standards wieder etablierte, allen Mitgliedern gegenüber bekräftigte und denjenigen, die den Standards treu geblieben waren, die wissenMaschke an Rudolf Buchner vom 15. 12. 1965 (HStAS J 40/10, Nr. 60). Herbert Grundmann schrieb zwei Kollegen sehr deutlich, was er über ihr Engagement im Nationalsozialismus bzw. das des Vaters des einen Kollegen dachte, und daß er das nicht unter den Teppich kehren könne. Doch das sei seine Privatmeinung, die er zudem in einem Fall zunächst nicht abschickte, um dem Kollegen die Lage nicht noch zu erschweren. Einige Zeit später fügte er diesem Brief ein PS an, daß man trotz allem wieder ins Gespräch kommen solle (Briefe vom 26. 12. 1947 bzw. vom 20. 4. 1948 [UAL Nl Grundmann 100/8 bzw. 100/11]). Neben den bereits angeführten Belegstellen finden sich die Briefwechsel zu den Rückkehrbemühungen dieser Historiker vor allem in den Nachlässen Hermann Aubins, Gerhard Ritters und Hans Rothfels' (alle im BAK), sie reichen bis weit in die sechziger Jahre hinein. 30) So beklagte sich der ebenfalls inkriminierte Günther Franz, der es nach langer Zeit doch noch geschafft hatte, an eine Hochschule zu kommen (an die landwirtschaftliche Hochschule Hohenheim bei Stuttgart), bei Erich Maschke am 1.3. 1970 (HStAS J 40/10, Nr. 101 ). Die Unerwünschten konnten noch nicht einmal mit Sicherheit vom Schweigemantel profitieren, denn ,,[w]er im Dritten Reich Ämter innegehabt hat, muß sich gefallen lassen, daß sie heute noch genannt und ihm vorgehalten werden." Damit gab 1970 das Landgericht Frankfurt G.W.F. Hallgarten in einem Prozeß gegen Erwin Hölzle recht (BAK N 1269/10). Die meisten Historiker hatten allerdings keine Ämter innegehabt oder der Partei angehört, deshalb genossen sie eine gewisse Immunität gegen Angriffe: Man konnte ihnen lange Zeit wenig Konkretes vorwerfen. Erst heute kommt Unschönes aus lange Zeit verschnürten AkZu Franz: Behringer, Von Krieg zu Krieg; Ders., Bauern-Franz und Rasten ans Licht. sen-Günther.
28) 29)
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6. Die Zunft
schaftliche Existenz sicherte. Die
Stigmatisierten
markierten eine
negative
Grenze, ein Verhalten im „Dritten Reich", das die Gruppe nachträglich verwarf und sanktionierte als Demonstration nach außen und für die verbliebenen Mitglieder. So, wie die Zunft auf Meinecke ihre moralische Integrität projizierte, so lud sie den Stigmatisierten die Schuld auf. Meinecke entlastete die Zunft als Ganzes, die Stigmatisierten verkörperten die mögliche individuelle Schuld der einzelnen. Dadurch erklärt sich umgekehrt, daß politisch schwer belastete, aber zunftkonforme Historiker wie Gotthold Rhode, Theodor Schieder oder Werner Markert wider Erwarten erneut in den Betrieb einsteigen -
konnten.31) Insgesamt betrachtet machten die Historiker weiter wie bisher.32) Reflexartiges Weitermachen, Entschärfung der Vergangenheit, fehlende Sprache, Selbstentlastung, fehlende Nachfrage nach einer Revision und fehlender Einfluß der emigrierten Historiker (die neue Ansätze aus den USA hätten mitbringen können) verhinderten, daß Geschichtsbild, Methoden und das Verhältnis der Histo-
riker zur Nation und zum Staat wirklich hinterfragt wurden. Die meisten Historiker verfaßten weiter ihre „drum and trumpet history" (Peter Burke), achteten im übrigen jedoch zum ersten Male die demokratische Staatsverfassung auch wenn es manchmal lange dauerte, bis sie sich von deren Fähigkeit, dem Wohle der Nation zu dienen, überzeugen ließen. Aber die Bonner Republik war vorerst der letzte Rest, der ihnen die Nation verkörperte und diese gegen den Kommu-
31)
Immerhin haben die Historiker, getreu ihrer gesellschaftlichen Aufgabe, die Schweigesolidarität nicht auf die eigenen Kreise beschränkt, sondern alle gebildeten Menschen einbezogen. Ihre historiographische Aufarbeitung des Nationalsozialismus betraf allein die Naziverbrecher, die „Massen", die sich wie stets hatten verführen lassen, und den gebildeten, bürgerlichen Widerstand des „besseren Deutschlands". Der Rest der „Geistesmenschen" wurde taktvoll schweigend der „inneren Emigration" zugerechnet was übrigens auch als gesellschaftspolitischer Kommentar zu lesen ist, als Abgrenzung der eigenen Sozialschicht gegen die anderen. Nur auf der politischen Ebene bezeichneten sie das deutsche Volk insgesamt als „mißbraucht", denn hier ging es um den inneren Zusammenhalt Deutschlands, gegen das Ausland diese unerträgliche Apologie verbreitete selbst Hans Rothfels nach seiner Rückkehr aus den USA ungerührt: Rothfels, 10 Jahre nach der Kapitulation. Zur Entnazifizierung der bundesdeutschen Gesellschaft vgl. Frei, Vergangenheitspolitik; zu der der Hochschulen: Schildt, Im Kern gesund?; zu der der Historiker: Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 120-130. Vgl. auch Wengst, Geschichtswissenschaft und „Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland nach 1945 und nach 1989/90. 32) Vgl. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 34-^t4, 110-116, 123; Schulin, Zur Restauration und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 133f„ 137-139; Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 326f.; Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, S. 638-642. Für die Mittelaltergeschichte: Schreiner, Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters nach 1945, S. 76-79; für die Alte Geschichte, die sich bis in die sechziger Jahre von Neuorientierungen in der Geschichtswissenschaft isoliert hatte: Bichler, Neuorientierung in der Alten Geschichte?, bes. S. 73, 75-84; Christ, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, S. 310. -
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I Die Zäsur von 1945 und die „Auseinandersetzung" um die Sozialgeschichte
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nismus verteidigte, deshalb dienten sie ihr. Und als sie sich bereits nach wenigen Jahren als stabil und als würdige Vertreterin der nationalen Sache erwies, zudem Historiker im Bundestag zu eben dieser Sache sprechen ließ, statt kritisch deren Vergangenheit zu kommentieren, da schien die Entscheidung der Zunft, weiter der alten
Spur zu folgen, endgültig als richtig bestätigt.
Damit ist aber nur die eine Seite des Verhaltens von Historikern seit den frühen fünfziger Jahren bezeichnet. Die Art der Reaktionen auf Conzes Pläne, auf eine Annäherung der Geschichtswissenschaft an die Soziologie, auf die „Kulturgeschichte" und die Annales-Historiker gibt die andere Seite preis. Gerhard Ritter33) z.B. mahnte unermüdlich nach zwei Seiten. Auf dem Münchner Historikertag von 1949 sprach er seinen Zuhörern zwar ein ruhiges Gewissen zu, doch er ließ sie nicht im Zweifel darüber, daß die Geschichtswissenschaft nicht ganz zu Unrecht in Verruf geraten war. Man habe seit Beginn des Jahrhunderts viel zu sehr die zweifellos zentrale Rolle des Staates zum „Primat der Außenpolitik" dogmatisiert, die Geschichte auf einen ewigwährenden Kampf der Nationen reduziert oder aber sich in den Weiten einer Welt verloren, in der historische Quellen wie Relikte verehrt worden seien und die Diskussionen gelehrter Einzelprobleme jeden Bezug zu einem übergeordneten Ganzen verloren hätten. All das habe die deutsche Geschichtswissenschaft allmählich zu politischer Primitivität, weltfremder Neutralität, zu nationaler Selbstüberhebung und zu einer geradezu verbissenen Abwehr gegen „westliche", generalisierende Methoden geführt. Ritter aber fragte seine Kollegen, „ob die Besorgnis vor wesensfremden Theorien, vor schematisierender Vereinfachung der geschichtlichen Wirklichkeit und ihres unendlichen Reichtums an individuellen Erscheinungen nicht das Blickfeld ihrer Forschung gefährlich verengert hat." Die Historiker sollten ihre „überlieferte Scheu vor generalisierender Geschichtsbetrachtung, d.h. vor der Bildung historischer Allgemeinbegriffe, vor einer ,Typenlehre' also, nicht so weit treiben, daß sie zur Gedankenlosigkeit wird. Typisches und Einmaliges findet sich schließlich Beides in der geschichtlichen Wirklichkeit; wer das Erstere nicht zu sehen und zu formulieren vermag, der wird auch das Zweite, das Einmalig-Unwiederholbare, nicht in seiner Besonderheit erfassen. Die Fruchtbarkeit unserer historischen Fragestellung hängt ganz wesentlich davon ab, daß wir uns einer generalisierenden Betrachtung nicht einfach verschließen, sondern sie als heuristisches Hilfsmittel zu benutzen wissen. [...] Historie der neuesten Zeit ohne Beherrschung der ökonomischen Grundbegriffe, besonders der Währungsprobleme und der Finanzwissenschaft, aber auch der soziologischen Methoden, führt zu bloßer Rhetorik ohne
33)
Zu Ritter vgl. Schumann, Gerhard Ritter und die deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg; Dorpalen, Gerhard Ritter; Schwabe, Gerhard Ritter.
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6. Die Zunft
Erkenntniswert."34) Er selbst hatte schon 1942 keine Schwierigkeiten Annelise Thimme das Nebenfach Nationalökonomie für ihr Studium gehabt, zu empfehlen, er hatte auch 1955 keine Probleme, in seinem Forschungsbericht auf dem internationalen Historikertag in Rom für alle Länder das Vordringen bis hin zur Geschichte von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu konstatieren des Alltags. Es fiel ihm nicht schwer, die Arbeiten Lucien Febvres, Otto Brunners oder verhalten Fernand Braudels zu loben.35) 1950 monierte er an E.R. Hubers projektierter Verfassungsgeschichte den gänzlichen Ausfall sozialgeschichtlicher und soziologischer Fragestellungen, 1958 redete er durchaus einer „Weltgeschichte Europas" das Wort. Max Weber, dessen Schriften er im Studium gelesen hatte, zählte für ihn zu den genialsten aller Soziologen, und 1963 versicherte er Georg G. Iggers, daß „sociology" zu Beginn des Jahrhunderts in Deutschland durchaus kein „dirty word" gewesen sei. Im Gegenteil, am Aufbau der modernen Soziologie wie Sozial- und Wirtschaftsgeschichte habe die deutsche Geschichtswissenschaft „von Anfang an einen ganz gewaltigen Anteil gehabt. [...] Schließlich ist doch auch Karl Marx ein Deutscher gewesen und hat das deutsche Denken ungeheuer beeinflußt."36) Ritter war sogar der Meinung, „daß er schließlich unter den deutschen Historikern der erste gewesen sei, für den die geschichtsträchtige Bedeutung sozialgeschichtlicher Aspekte so wichtig war, daß er sie in die Geschichtsschreibung eingeführt habe."37) So ging denn Peter Rassow 1948 davon aus, daß sein Freiburger Kol-
tieferen
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34) Vgl. Ritter, Gegenwärtige Lage
und
Zukunftsaufgaben
deutscher Geschichtswissen-
(die Zitate auf S. 8f„ 21 f.). 35) Thimme, Geprägt von der Geschichte, S. 171; Ritter, Leistungen, Probleme und Aufgaschaft
ben der internationalen Geschichtsschreibung zur neueren Geschichte. Vgl. auch seinen Schlußrapport vom 11.9.1955 auf dem römischen Historikertag, S. 6-8 (BAK N 1166/275). Etwa 1950 empfahl er in einem Merkblatt für Studierende der Geschichte die Soziologie als Nebenfach und eine Erweiterung ihres Blicks durch kulturgeschichtliche Betrachtungsweisen (BAK N 1166/454). 36) Ritter an Iggers vom 15. 3. 1963 (BAK N 1166/352); Ritter an die Notgemeinschaft Deutscher Forschung vom 12. 12. 1950 (BAK N 1166/389); Ritter an Hermann Heimpel vom 21. 1. 1958, 19. 1. 1960 (BAK N 1166/268); Ritter, Wissenschaftliche Historie einst und jetzt, S. 575, 579. Vgl. auch Ritter an Dietrich Gerhard vom 22. 11. 1960 (BAK N 1166/350): Aktuell sei die Weltgeschichte, nicht das immer neue Durchwühlen der preußisch-deutschen Geschichte. Man solle den wissenschaftlichen Nachwuchs zu intensiven universalhistorischen und soziologischen Studien ins Ausland schicken, schlug er vor. Vgl. außerdem Ritter, Deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, S. 84-88, 95, 133. 37) Schriftliche Mitteilung Frido Ritters vom 23. 10. 1997. Ritter betonte seine sozialgeschichtliche Vorreiterrolle recht häufig, so erinnert sich sein Sohn. Schwabe, Change and Continuity in German Historiography from 1933 into the early 1950s, meint, daß Ritter schon vor dem Kriege eine grundlegende Revision des deutschen Geschichtsbildes vollzogen habe, seine Kollegen hätten nach 1945 erst folgen müssen. Dieser Sicht widerspricht Brady, Comment, deutlich.
I Die Zäsur von 1945 und die „Auseinandersetzung" um die Sozialgeschichte
225
lege bereit sein könne, zusammen mit einem Soziologen eine bevölkerungsgeschichtliche Arbeit in Angriff zu nehmen.38) Ritter hatte einen guten Grund, sich für Sozialgeschichte stark zu machen. Ihm ging es, wie vielen Historikern, nie um die Erforschung der Vergangenheit an sich, sondern er maß der geschriebenen Geschichte eine sittlich-politische Orientierungsfunktion für die Gesellschaft zu. Seitdem jedoch die Welt zunehmend komplizierter geworden zu sein schien, drohte die Soziologie den Historikern die Führungsrolle als Leitwissenschaft streitig zu machen. Die Geschichtswissenschaft habe, so Ritter, „nur solange eine Mission als politische Bildungsmacht, als sie den jeweiligen Problemen der Gegenwart gewachsen bleibt. Nur wer mitten im Strom der geistigen, politischen und wirtschaftlichsozialen Probleme lebt, mit denen unsere Epoche ringt, wird imstande sein, an die Vergangenheit wirklich fruchtbare Fragen zu stellen, deren Beantwortung unser heutiges Dasein erhellt." Die Konkurrenz um die geistige Führung der Nation verlangte deshalb eine „Reform des herkömmlichen historischen Lehrund Studienbetriebes".39) Die Geschichtswissenschaft sollte nicht zur Magd der neuen systematischen Wissenschaften verkommen, sondern Herrin im Haus bleiben, das die Sozial- bzw. Politikwissenschaften zu übernehmen drohten und das sah Ritter u. a. auf eine wenig erfreuliche „Lehre von den demokratischen Formen oder von der sogen, politischen Partnerschaft"40) hinauslaufen. Mit der „Massendemokratie" und den „Massen" hatte er nie viel anfangen können. Letztere waren als „geschichtsbildende Kraft" zwar nicht mehr zu ignorieren, aber Ritter betrachtete sie immer zuerst als Gefahr, weil sie über die „Demokratie" einen politischen Einfluß zu erhalten drohten, den sie verantwortungsbewußt gar nicht ausüben könnten.41) -
38) Rassow an Ritter vom 31. 5. 1948 (BAKN 1166/332). 39) Beide Zitate: Ritter, Deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, S. 137. 40) Ritter an Theodor Litt vom 9. 2. 1962 (BAK N 1166/351). 41) Vgl. Ritter, Die Krisis des deutschen Universitätswesens; Ders., Die Universität darf nicht Berufsschule werden; Ritter an Theodor Schieder vom 21. 4. 1954 (BAK N 1166/273). Nur in einem Moment war Ritter damit zufrieden, daß sich der geballte Volkswille als stärker erweisen könnte als die großen Mächte und ihre Kabinette: in der Deutschlandfrage, die man nicht einfach vertrauensvoll der Politik überlassen solle, weil sich dann nichts ändere. Während das auf die Westmächte gemünzt war, die durch den (westdeutschen) Volkswillen zu einer energischeren Haltung in der Deutschlandpolitik angehalten werden sollten, zielte er mit seinen Ausführungen zum 17. Juni auf die Staatsführung der DDR. Die sei durch den (ostdeutschen) Volkswillen 1953 sichtbar delegitimiert worden. Außerdem verband er den 17. Juni mit dem 20. Juli, denn als eigentliche Tat des Widerstandes gegen Hitler galt ihm die der „Männer des 20. Juli", diese Tat müsse im Osten wiederholt werden. Die Koppelung beider Daten bezeichnete die Kontinuität des „guten Deutschlands" gegen die Kontinuität des totalitären Deutschlands, der „Volkswille" übte den nötigen Druck auf alle Herrschenden aus, aber die Tat der Eliten am 20. Juli war die vorbildliche Tat und begründete deren Führungsanspruch (vgl. Ritter, Von der Unteilbarkeit deutscher Vaterlandsliebe, bes. S. 28 f. Ähnlich übrigens auch Conze, Der 17. Juni; Ders., Geschichtsbewußtsein und Wiedervereinigung, S. 550, 552; Schieder, [Festrede zum 17. Juni 1964]).
226
6. Die Zunft
Tatsächlich hatte Ritter mit einer Analyse der Gesellschaft nichts im Sinn.42) Das wird deutlich an der Kehrseite seiner Mahnungen, an seiner Sorge vor zuviel „Kulturgeschichte". Alle positiven Bemerkungen zu Soziologie und Sozialgeschichte balancierte er aus, indem er die „Kulturgeschichte", besonders in Gestalt der französischen „Histoire de la civilisation", vehement bekämpfte. Ihm erschien die bisher geschriebene „Kulturgeschichte" und von ihr schloß als eine bloße Kompilation von Fakten er ohne weiteres auf die zukünftige aus Religion, Musik, Kunst, Philosophie oder Recht, als eine Wissenschaft von allem und jedem, ohne eigenes Erkenntnisziel und gestaltendes Prinzip. Sie kratze an der Oberfläche und werde nie die verborgenen „Wesensgesetze" der geistigen Schöpfungen zu greifen bekommen. Kaum ein Historiker könne alle Disziplinen zugleich so tiefschürfend wie ein Fachspezialist beherrschen, genau das sei aber nötig, um „Kulturgeschichte" schreiben zu können. Hatte denn die französische Kulturgeschichte eine Methode und ein Erkenntnisziel anzubieten? Es erschien Ritter undenkbar. Besaßen die Annales-Historiker ein Gestaltungsprinzip? Ritter erkannte keines. Könnte vielleicht „der Mensch an sich" ein solches Prinzip abgeben? Für Ritter war das eine anthropologische Vagheit. Und doch war Kulturgeschichte plötzlich möglich, sobald ein Jakob Burckhardt sich der Sache annahm. Burckhardt habe das Gestaltungsprinzip, das Kulturgeschichte möglich mache, gehabt, denn er sei vom festen Boden einer Spezialdisziplin hergekommen, habe den kulturschöpfenden Menschen in den Mittelpunkt gestellt und so anthropologische Statik in Geschichte verwandelt, nicht in eine chronologische „Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne", sondern in historische Querschnittsanalysen. Ritters Überlegungen waren nicht unbedingt widerspruchsfrei, schließlich ging es ihm nicht darum, eine Kultur- oder Sozialgeschichte durch sachliche Kritik zu fördern. Er hob Burckhardts Kulturgeschichte vielmehr deshalb lobend gegenüber den französischen Ansätzen ab, weil Burckhardt die Grenze zur Politikgeschichte nicht zu überschreiten beansprucht hatte. Er hatte sich in die Kultur der Antike und der Renaissance eingefühlt und Studien geschrieben, die ein bildungsbürgerlicher Historiker wie Ritter als geistige Rückzugsorte schätzte, wenn er sich von den Niederungen der Macht, mit denen er sich in der Politikgeschichte zu beschäftigen hatte, erholen wollte. Für ihn blieb die Politikgeschichte die „eigentliche Geschichte", Burckhardts Kulturgeschichte stellte ein Residuum dar, die „Histoire totale" dagegen eine Bedrohung des politikhistorischen Primats, die -
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Sozialgeschichte aber eine hilfreiche Ergänzung, um die Politikgeschichte an die neuen Zeiten anpassen zu können. Die Forderung, Sozialgeschichte ins Zentrum der Geschichtsschreibung zu stellen, lehnte Ritter kategorisch ab, er sah ihren 42) Vgl.
auch Ritters Brief an Tatsuya Kishida vom 1. 6. 1965 (in: Ritter, Ein politischer Historiker in seinen Briefen, S. 603) und seine Aussage in einem Film von 1966 (Institut für den wissenschaftlichen Film, Filmdokumente zur Zeitgeschichte: Gerhard Ritter, S. 118).
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Wert überschätzt. Der Parteienforschung stand er skeptisch gegenüber, „Teamwork" war ohnehin nichts für ihn. Immer wieder wies er auf die Begrenzungen sozialhistorischer Arbeiten hin und verteidigte den Primat der Politikgeschichte mit scharfer Klinge. Von den systematischen Wissenschaften befürchteten Ritter und viele Kollegen, daß sie der Geschichtsschreibung schematische Kategorien („Lebensstil einer Epoche") und Entwicklungsgesetze aufzwingen würden, die die vielen Individualitäten, die das „Wesen einer Epoche" ausmachten, in generalisierenden Abstraktionen verschliffen und einebneten.43) Auf diese Bedrohung zielten die Mahnungen vor zuviel „Kulturgeschichte" oder vor den Schwächen der Sozialgeschichte. Die Gretchenfrage war, wer den Gang der Welt bestimmte: die determinierende Struktur oder das handelnde Individuum in Form der großen Männer? Eine Struktur- oder Sozialgeschichte konnte (und sollte) nicht mehr wie zu Lamprechts Zeiten bekämpft werden, wie also ließ sie sich der Politikgeschichte fruchtbar, d. h. die Abwehrfront nach Ost wie West stärkend, unterordnen? Diese Probleme beschäftigten Gerhard Ritter, nicht ein genuines Interesse an Sozialgeschichte. Eine Reihe seiner Kollegen machte sich ebenfalls Gedanken über diesen Fragenkreis, ihre Argumentationsmuster gleichen sich. Ernst Pitz z.B. versuchte 1964 eine Vermittlung der Positionen, indem er Strukturen „Motivationsketten" nannte. Dieser Begriff stellte für ihn klar, daß Strukturen letztlich aus den immer gleichen, wiederholten, motivierten Handlungen der Menschen entstanden und nicht durch die technokratische Seelenlosigkeit irgendwelcher „Verhältnisse". „Motivationsketten" lagen in der geschichtlichen Wirklichkeit bereit, sie konnten erkannt und empirisch aus den Quellen gewonnen werden. So war es Pitz möglich, mit Strukturbegriffen zu operieren und doch den Menschen im Mittelpunkt zu belassen. Er sah strukturelle Determinanten und vermied doch (marxistische) Teleologien. Er konnte generalisierende Begriffe verwenden, doch es waren nicht die schematischen der zeitgenössischen Soziologie. Und er brachte die Strukturen, die Vielzahl der Menschen und die großen Individuen, Zwang und Freiheit unter einen Hut: Alle handelnden Menschen sind individuelle Persönlichkeiten, auch wenn wir ihre Namen nicht mehr wissen; die Handlungen der großen, Strukturen prägenden Persönlichkeiten müssen erst von den vielen akzeptiert und legitimiert werden; je mehr der zwingenden Strukturen, desto mehr der Führungspositionen. Dagegen allein „durch scharfes Nachdenken", mit abstrakten, soziologischen oder auch nur idealtypi-
Ritters Kritik an der „Kulturgeschichte" und die Verteidigung der Politikgeschichte: Ritter, Zum Begriff der „Kulturgeschichte"; Ders., Leistungen, Probleme und Aufgaben der internationalen Geschichtsschreibung zur neueren Geschichte, bes. S. 290-315; Ders., Wissenschaftliche Historie einst und jetzt; Ritter an Fernand Braudel vom 16. 12. 1958 (BAK N 1166/348). Stellte sich Ritter beim „Wesensgesetz" die Notwendigkeit einer präzisen Definition übrigens nicht, so erschien sie ihm beim „Begriffsgespenst" (Ritter, Zum Begriff der „Kulturgeschichte", S. 295) .Lebensstil" eminent wichtig. Eine ähnliche Polemik gegen die Kulturgeschichte kam 1956 von Heimpel, Geschichte und Geschichtswissenschaft, S. 4.
43)
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sehen Begriffen an die Geschichte heranzugehen, um sich die empirische Arbeit zu ersparen, bezeichnete Pitz als „Rückfall in das Erbübel metaphysischen Denkens". ,,[G]eneralisierende Ideen vom Himmel zu reißen", aus „Unmut und Ungeduld", sei „Sünde wider den Geist". Die das täten, würden sich „der Einsicht in die Macht des Einzelnen, Strukturen zu formen, sie über ihre Zeit am Leben zu erhalten oder sie vorzeitig zu zerstören, verschließen". Gerade auf diese Einsicht aber nehme das moderne Empfinden, das dem Gleichheitsgrundsatz verhaftet sei, keine Rücksicht mehr.44) Einige Jahre später sah er die Dinge freilich gelassener und forderte soziologisch, ethnologisch, kulturanthropologisch und volkswirtschaftlich ausgebildete Historiker, um die Fragen der Gegenwart angemessen beantworten zu können.45) Reinhard Wittram meinte: Selbst „wenn wir uns seine [des Menschen] Abhängigkeit vom Zeitgeist, von den Sachbeziehungen und überpersönlichen Formkräften lückenlos denken [...], erlischt seine Verantwortung nicht, da jede neue Situation eine eigene Entscheidung verlangt. Unser Interesse am Menschen bleibt bestimmend, auch wenn wir die sachbedingten Zwangsläufigkeiten' (Freyer) in vollem Umfang ernst nehmen. [...] Damit hängt zusammen, daß wir den Gegensatz einer individualisierenden und generalisierenden Methode für überlebt halten." Strukturen determinieren den Menschen nicht, er ist unmittelbar zu Gott. Deshalb „ist vom Menschen her alle Sozial- und Strukturgeschichte nicht nur motiviert, sondern gefordert." Anschließend warnte auch er vor soziologischem Schematismus.46) Das Doktorkolloquium, das er zusammen mit Hellmuth Plessner abhielt, lief für ihn unter dem Motto: „So seid denn auch mißtrauisch bis zur letzten Zeile, wenn Soziologen euch Typen zu zeigen beeilen".47) Gegen das, was „die französische Schule der .Strukturforschung' unter Geschichte" verstand, hatte er sachliche Einwände.48) Aber er verhandelte das Verhältnis von Geschichte und Soziologie immerhin, er beantragte Mittel bei der DFG, damit ein Habilitand die russische Adelsgeschichte „mit den Mitteln der modernen sozialgeschichtlichen Forschung" aufhellen könne,49) und er stimmte mit Conzes Ansichten zur Strukturgeschichte überein.50) ,
**) Vgl. Pitz, Geschichtliche Strukturen (die Zitate auf S. 300, 304, 265). Vgl. auch Ders., Hansische Geschichtsforschung. 45) Vgl. Pitz, Geschichtsschreibung im Wandel der Interessen und Methoden. 46) Vgl. Wittram, Das Faktum und der Mensch (die Zitate auf S. 77, 75); Ders., Anspruch und Fragwürdigkeit der Geschichte; Ders., Das Interesse an der Geschichte. 47) Wittram an Kurt von Raumer vom 2. 3. 1957 (ULB Münster, Nl von Raumer B 267). In einem Brief an Harold Steinacker vom 22. 5. 1955 (BAK N ackers Meinung, daß man das historische Interesse gegen
1226/51) teilte Wittram Stein-
soziologische Fragestellungen
abgrenzen müsse. 48) Er legte sie freilich nicht näher dar: Wittram an Jürgen von Hehn vom N
1226/77).
«) Wittram an die DFG vom 30. 7. 1956 (BAK N 1226/57). 50) Vgl. Wittram, Das Faktum und der Mensch, pass.
11. 1. 1966
(BAK
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Fritz
Wagner kritisierte zwar an Ritters Seite die Annales, aber er versuchte gleichzeitig, mit mehreren Texten zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft zu vermitteln. OthmarF. Anderle ging denselben goldenen Mittelweg wie Pitz und Wagner; Peter Rassow hielt einen Radiovortrag, in dem er darauf hinwies, daß neue Erkenntnisse aus der „Tier-Soziologie" Konsequenzen für die Auffassung von der menschlichen Individualität haben könnten.51) Wer immer sich in den fünfziger Jahren und zu Beginn der sechziger Jahre zu Sozialgeschichte oder zur Begegnung zwischen Historie und Soziologie äußerte, folgte demselben Muster: Methodische Anleihen bei der Soziologie seien unumgänglich und wünschenswert, aber nur solange die Individuen, ihre Handlungsfreiheit und die Politikgeschichte nicht eliminiert würden. Wer Sozialgeschichte forderte, sprach zugleich der Kontingenz das Wort und lehnte einen ahistori-
schen Determinismus ab, wie man ihn im Historischen Materialismus verwirklicht sah. Zwar lag die frühe Sozialgeschichte der bundesdeutschen Historikerschaft wegen des strukturgeschichtlichen Ansatzes und eines ihrer wichtigsten Untersuchungsgegenstände, der Arbeiterschaft, lange Zeit gefährlich nahe am Sozialismus, doch gedruckt wurde diese Ansicht damals nie. Man erzählte sich lieber einen Witz: Als ein Franziskanermönch plante, eine Sozialgeschichte der Mönche zu schreiben, rief der Dekan einer Münchner Fakultät entsetzt aus: „Mein Gott, sind Sie auch schon rot?"52) In keinem Text aber wurde der Kreis um Conze mit einem solchen Determinismus in Verbindung gebracht, im Gegenteil, man berief sich gerade auf ihn, um die „richtige" Art, Sozialgeschichte zu schreiben, zu illustrieren. Was man abwehrte, wurde in dem nie definierten Negativbegriff „des geschichtswidrigen Soziologismus",53) dessen Anhänger selten beim Namen genannt wurden, gebündelt. Doch die Beschreibungen seines Inhaltes waren deutlich genug, auch seine Verortungen: in Frankreich in der Schule der „Annales", im Osten in der Sowjetischen Geschichtswissenschaft, in Amerika in der „New History" und in Deutschland in der Empirischen Sozialforschung, die nach amerikanischem Vorbild an theoriegeleiteten, nicht aber an historisch fundierten Untersuchungen interessiert sei (!).54) Inwieweit diese Ab-
51) Peter Rassow, Grundauffassungen vom Wesen der Geschichtswissenschaft, Ms. eines RIAS-Vortrages vom 29. 3. 1955, S. 7 (BAK N 1228/18). 52) Diese Geschichte hat mir Heinz Gollwitzer am 2. 12. 1997 erzählt. Daß es sich um einen Witz handelte, sah er freilich als Beleg dafür, daß Sozialgeschichte nicht mit Sozialismus in Verbindung gebracht worden sei. Aber wie entsteht so ein Witz, wenn er keinen wahren
Kern haben sollte? Wittram an Kurt von Raumer vom 2. 3. 1957 (ULBMs Nl von Raumer B 267). Dieses Muster hatte bis in die siebziger Jahre Bestand (und galt nicht nur für Historiker): Vgl. neben vielen weiteren Texten Abel. Rez. Lütge, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Ambros, Rez. Martin, Soziologie; Anderle, Theoretische Geschichte; Aydelotte, Geschichte und Sozialwissenschaften; Besson, Zur gegenwärtigen Krise der deutschen Geschichtswissenschaft; Ders., Rez. Evans-Pritchard, Anthropology and History; Beutin, Rez. Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Born, Rez. Croon/Utermann, Zeche und Gemeinde; Brunner, Rez. Ganshof, Le Moyen Age; Demm, Neue Wege
53) 54)
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neigungen selbst die zumeist konservativen bundesdeutschen Sozialhistoriker wissenschaftlich beeinträchtigten, läßt sich nicht ermitteln, auch die „Opfer" beschränken sich auf Andeutungen.55)
in der amerikanischen Geschichtswissenschaft; Denkschrift zur Lage der Soziologie und der politischen Wissenschaften, S. 34 f.; engelsing. Der Standpunkt der Sozialgeschichte; Ennen, Rez. von Einem u. a., Der Strukturbegriff in den Geisteswissenschaften; Franz, Rez. The Social Sciences in Historical Study; Fueter, Rez. Dovring, History as a Social Science; Grüner, Möglichkeiten des sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Unterrichts an Höheren Schulen; Hassinger, Rez. Hill, Reformation to Industrial Revolution; Hilger, Rez. Treue, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit; Keiter, Zwölf Regeln der Sozialgeschichte; Lütge, Geschichte, Wirtschaft, Wirtschaftsgeschichte; Ders., Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. VIII; Mangold, Rez. Homanns, Theorie der sozialen Gruppe; Mombauer, Rez. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur; Mühlmann, Artikel „Geschichts- und Kultursoziologie"; Nipperdey, Rez. Rammstedt, Sekte und soziale Bewegung; Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland; Ders., Dreißig Jahre Historiker; Raupach, Rez. Brinkmann, Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Sauer, Beiträge zur Theorie und Geschichte der Revolutionen; Schieder, Geschichte als Wissenschaft, S. 124, 144f.; Schinkel, Politik und Wirtschaft im Zeitalter des Imperialismus; Ders., Rez. Sulzbach, Imperialismus und Nationalbewußtsein; Schörken/ Menne: Der Beitrag der Geschichte zur politischen Bildung, S. 147f.; Seidel, Rez. Fischer, Handwerksrecht und Handwerkswirtschaft um 1800/Stadelmann/Fischer, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800; Teuteberg, Rez. Laslett, The World We Have Lost; Vogelsang, Rez. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik; Wagner, Begegnungen von Geschichte und Soziologie bei der Deutung der Gegenwart; Ders., Geschichte und Zeitgeschichte, Ders., Moderne Geschichtsschreibung; Ders., Gegenwärtige Weltgeschichte; Ders., Weltgeschichte und Gegenwart (auch die sehr kritische Dissertation von Jörg Schmidt über die Annales geht auf Wagner zurück: Schmidt, Der historiographische Ansatz Fernand Braudels und die gegenwärtige Krise der Geschichtswissenschaft [vgl. den Lebenslauf hinter S. 238]); Weippert, Zur Soziologie des Landvolks; Werner, Die Geschichtswissenschaft und ihre Methoden; Ders., Hauptströmungen der neueren französischen Mittelalterforschung; Ziegler, Rez. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur; Herbert Grundmann, Neue Forschungen und Probleme der Sozialgeschichte des Mittelalters, Ms. eines Vortrages vom 30. 4. 1952 (UAL Nl Grundmann 100/19); Peter Rassow, Grundauffassungen vom Wesen der Geschichtswissenschaft, Ms. eines RIAS-Vortrages vom 29. 3. 1955 (BAK N 1228/18); Wittram an Kurt von Raumer vom 2. 3. 1957 (ULBMs Nl von Raumer B 267); Gerd Wunder an Erich Maschke vom 12. 2. 1965 und Maschkes Antwort vom 18. 5. 1965 (HStAS J 40/10, Nr. 61); Protokolle der 1., 2., 4. und 9. Sitzung des wissenschaftlichen Beirates des MPI für Geschichte in Göttingen am 18. 12. 1956, S. 8f„ 14-19, 23-25, 20./21. 12. 1957, S. 3, 5f„ 18. 12. 1959, S. 17-22, 11. 3. 1968, S. 24 (BAK N 1213/25). Holtfrerich, Eine Bestandsaufnahme der deutschen wirtschaftshistorischen Forschung, S. 370f., 382-384, warf 1980 der bisherigen Sozialgeschichte bilanziert im Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte vor, daß es Theorie- und Methodenprobleme des Faches nicht thematisiere, sondern daß die „traditionelle Vorliebe der Historiker für detailliertes Faktenmaterial" überwiege (S. 370). 55) So Zorn, Arbeit im Fach zwischen den Fächern. Auch Wilhelm Treue sprach noch 1976 lieber von „Kulturgeschichte", weil „Sozialgeschichte" „zwischen Geschichte der Sozialpolitik und sozialistischer Geschichtsauffassung" stehe: Treue, Referat über die „Neue Deut-
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I Die Zäsur von 1945 und die „Auseinandersetzung" um die Sozialgeschichte
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Eine Auseinandersetzung oder Diskussion kann man das, was zur Sozialgeschichte von den Angehörigen der Zunft geschrieben wurde, nicht nennen. Zu Beginn der Republik hatten Gerhard Ritter und einige Kollegen eine Methodenrevision gefordert, aus Unsicherheit und um gewisse Lehren aus der Vergangenheit des Faches zu ziehen. Im Laufe des ersten Jahrzehnts wurde durch die Entwicklung der Gesellschaft, der wissenschaftlichen Nachbardisziplinen und der Historiographie der Nachbarländer immer deutlicher, daß eine Revision der Methoden notwendig sei, um fachlich nicht den Anschluß zu verlieren. Gegen Ende dieses Jahrzehnts wurde eine Krise der deutschen Geschichtswissenschaft konstatiert, das war ein Grund, weshalb nun gehäuft die reflektierenden Aufsätze Wittrams, Anderles, Pitz' oder Wagners erschienen. Außerdem begann die Geschichtswissenschaft in der DDR zunehmend herausfordernd zu wirken. Revisionsbewußtsein war also das ganze Jahrzehnt über vorhanden, aber eine fundierte Theorie- oder Methodendiskussion fand nicht statt. Die meisten Historiker waren für solch eine Diskussion nicht ausgebildet, sie entsprach nicht ihrem Wissenschaftsstil, und sie empfanden sie nicht als vordringlich. Es war nicht so, daß die Historiker in einer Zeit der Krise oder des Zweifels gemeinsam nach einer historischen Methodik suchten, die den neuen Umständen angemessen sei.56) Die meisten Historiker forschten vielmehr von jeder Krise unbeeindruckt weiter wie bisher, nur einige wenige versuchten, über die Grundlagen des Faches zu reflektieren. Keiner, das zeigt auch die private Korrespondenz, wollte eine Diskussion oder gar einen Streit provozieren, niemand wollte die Kollegen zur Kenntnisnahme oder zu Konsequenzen zwingen.57) Ihr Einverständnis mit den Texten teilten die Kollegen höchstens privat oder in Fußnoten mit. Sie vergewisserten sich untereinander auf eine äußerst zurückhaltende und höfliche Weise darüber, daß eine Annäherung an die Soziologie nicht mehr geahndet werde oder dem Fach „Wirtschafts- und Sozialgeschichte" vorbehalten bleibe. Den Kollegen, die vielleicht weiterhin die Soziologie ablehnen mochten, wurde ein Klimaumschwung angedeutet, so daß sie sich mit ihrer Ablehnung zurückhielten. Durch die ständige Wiederholung derselben Gedanken verfestigte sich in einer unkoordinierten, ungesteuerten Bewegung ein neues Denkmuster und schälten sich allmählich die Umrisse -
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sehe Biographie" auf der Sitzung der Historischen Kommission der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Februar 1976, Anlage 3, S. If. (BAK N 1354/16). Vgl. kurz vorher Pitz, Geschichtsschreibung im Wandel der Interessen und Methoden, Sp. 251. 56) Hier irrt Chun, Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit, S. 119-134, entscheidend. 57) Joachim Radkau hatte 1972 zu den geschichtstheoretischen Texten älterer Historiker ganz richtig festgestellt: Die „beharrliche Abneigung, grundsätzliche Fragen der Geschichtswissenschaft anders als in Gelegenheitsarbeiten abzuhandeln, kontrastiert seltsam zu den [...] oft sehr hohen Ambitionen solcher Werke. Sie werden in der Geschichtswissenschaft meist als ein erhabenes Genre empfunden, das nur arrivierten Wissenschaftlern zukommt und kein Raum für die Kärrner-Arbeit der Doktoranden ist." (Radkau, Geschichtswissenschaft heute, S. 141).
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dessen heraus, was unter Sozialgeschichte legitimerweise verstanden werden konnte und was nicht sein durfte.58) Conzes sozialgeschichtliches Projekt stand im Zentrum dieser Bewegung, es überschritt nicht die Grenze zum „Soziologismus", es war in den intellektuellen Kontext der Zeit eingeschrieben. Gleichzeitig aber wies es dieser Bewegung einen Weg, denn es artikulierte in seinen Texten am deutlichsten, in der Zunft am hörbarsten und in der Forschungspraxis am erfolgreichsten, wie Sozialgeschichte aussehen sollte oder könnte. Es stellte in der Zunft seit Ende der fünfziger Jahre einen markanten symbolischen Punkt dar, indem es das Feld besetzte, das durch das Ertasten neuer Grenzen eröffnet worden war, und indem es zugleich ein Modell bereitstellte, an das sich die übrigen Stellungnahmen zur Sozialgeschichte anlehnen konnten. Das sicherte den Fortgang der Sozialgeschichte ab.59) Die fragmenta-
58) Vgl.
nur Fischer, Die Soziologie der industriellen Gesellschaft; Ders., Rez. Brepohl, Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform; Ders., Rez. Lütge, Die mittelalterliche Grundherrschaft und ihre Auflösung [...]; Ders., Rez. Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte; Ders., Rez. Gollwitzer, Die Standesherren; GWU an Hermann Aubin vom 14. 5. 1957, mit der Anfrage, ob er nicht Brunners „Neue Wege" besprechen wolle. Wegen ihrer Bedeutung denke man an eine Einzelbesprechung von einer Länge bis zu einem halben Bogen (BAK N 1179/6); Beumann, Rez. Brunner, „Feudalismus"; Franz, Rez. Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte; Hubatsch, Rez. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist; Lütge, Rez. Brunner, Neue Wege der Sozialgeschichte; Vauavec, Rez. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist; Faber, Rez. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Restauration; Ders., Rez. Köllmann, Friedrich Harkort; Bodmer, Rez. Braun, Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet im 19. und 20. Jahrhundert; Schwabinger, Rez. Gollwitzer, Die Standesherren; Miller, Rez. Gollwitzer, Die Standesherren; Preradovich, Rez. Gollwitzer, Die Standesherren; Schmidt, Rez. Gollwitzer, Die Standesherren; Bosl, Der „aristokratische Charakter" europäischer Staats- und Sozialentwicklung; Ders., Der „soziologische Aspekt" in der Geschichte; Ders., Dynamische Rechtsgeschichte unter sozialgeschichtlichem Aspekt (von Bosls Selbstverständnis als „Vater der Gesellschaftsgeschichte" machte mir Heinz Gollwitzer, Gespräch am 2. 12. 1997, Mitteilung); Nipperdey, Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, historische Anthropologie; Sprandel, Historische Anthropologie; Ders., Mentalitäten und Systeme; Vittinghoff, Rez. Brockmeyer, Sozialgeschichte der Antike; Fuchs, Rez. Treue, Illustrierte Kulturgeschichte des Alltags; Witetschek, Rez. Schulz, Das Zeitalter der Gesellschaft („beachtliches Kompendium sozialhistorischer Fragen". Dagegen Schlangen, Rez. Schulz, Das Zeitalter der Gesellschaft: Schulz vermeide Konkretisierung seiner Auffassung von Sozialgeschichte. Das Etikett sei für seine Aufsatzsammlung problematisch); Gollwitzer, Rez. Fischer, Handwerksrecht und HandWerkswirtschaft um 1800. Zur Mittelaltergeschichte: Borgolte, Der mißlungene Aufbruch (S. 380-389 zu Bosl). 59) Man müßte prüfen, ob in den fünfziger Jahren Julius H. Schoeps' Projekt einer „Zeitgeistforschung" und das Projekt einer sozialwissenschaftlich orientierten Kulturgeschichte (vgl. Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte; Goetz/Grundmann/Wagner, Vorwort [zum Wiederaufleben der AfS 1951]) daran gescheitert sind, weil es ihnen an wissenschaftspolitisch durchsetzungsfähigen Köpfen fehlte, die diesen Projekten Raum hätten schaffen und eine Position des Sprechers hätten erobern können. Ist Conze dem Projekt einer sozialwissenschaftlichen Kulturgeschichte in die Quere gekommen und hat das Feld vor ihr besetzt, weil er und sein Umfeld die Durchsetzung ihres Ansatzes gezielter betrieben haben? Oder war der Begriff „Kulturgeschichte" ein noch schlechteres Aushängeschild als
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rische theoretische Vergewisserung der Historiker spielte erneut nur eine untergeordnete Rolle hinter der Praxis. Die tatsächliche Methodenrevision war auch hier eine Frage des konkreten Forschungsvollzuges, denn je mehr erfolgreiche sozialhistorische Arbeiten auf dem frei gegebenen Feld erschienen, desto stärker wurden die neuen Methoden akzeptiert. Das Neue der Situation in den fünfziger Jahren war, daß es keine wirkliche Kontroverse um die Sozialgeschichte gab, keine Grabenkämpfe, keinen zweiten Lamprecht-Streit. Historiker wie Gerhard Ritter förderten die Sozialgeschichte nicht aber sie behinderten sie auch nicht wirklich. Das war eine der notwendigen Voraussetzungen für ihre allmähliche Durchsetzung. -
gibt eine weitere Voraussetzung für den langsamen Erfolg der Sozialgeschichte. Sozialhistoriker waren keine Bilderstürmer. Es ging weder Werner Conze, Otto Brunner, Theodor Schieder noch anderen Kollegen um den Umsturz der wissenschaftlichen Ordnung. Sie lehnten weder die Politikgeschichte noch den Historismus ab. Sie griffen ihre politikhistorischen Kollegen für deren Arbeit nie an. Die Königsberger agierten in verschiedenen Arenen der Zunft, die Loyalitätsbindungen waren, wie erwähnt, nicht nur auf die eigene Gruppe fixiert, sondern liefen in mehrere andere Fraktionen der Geschichtswissenschaft hinaus; das stellte eine mehrfache Verzahnung der „Conze-Gruppe" mit der Zunft her.60) Conze selbst warnte vor zuviel Soziologie, vor „Programmierern und Modelltischlern",61) die sich nicht der aufwendigen Einlösung der Theorie Es
Struktur-, Verfassungs- oder Sozialgeschichte (weil doch nur mit einer „Kulturgeschichte der Schraube" oder des Gummis, Karl Lamprecht oder der Erinnerung an die lange Opposi-
tionsrolle gegen die Politikgeschichte in Verbindung gebracht), so daß er nicht genug Bündelungs- und Durchsetzungskraft liefern konnte? Schoeps' Zeitgeistforschung nahm an Fragestellungen und Quellen immerhin etwas von dem vorweg, was Sozial-, Alltags- oder Kulturgeschichte seit den achtziger Jahren aufgegriffen haben, auch versuchte er sein Projekt systematisch zu institutionalisieren, stieß bei seinen Kollegen jedoch auf teilweise scharfe Ablehnung: Joachim Ritter an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. Münster vom 9. 9. 1958; o.A. [HJ. Schoeps], Memorandum der Gesellschaft für Geistesgeschichte, o.D.; Kurt von
Raumer an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. Münster vom 9. 10. 1958; Dekan der Phil. Fak. der Univ. Münster an Schoeps vom 21. 10. 1958 (UAMs Phil. Fak., Dienst-Akt. Nr. 22); Reinhard Wittram an Schoeps vom 23. 1. 1967 (BAK N 1226/80). Wittram und von Raumer kritisierten, daß Geistesgeschichte losgelöst von ihrem sozialen Umfeld betrieben werden solle. Vgl. zu Schoeps' Projekt auch Angermann, Rez. Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte/Lebendiger Geist; Winterswyl, Rez. Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte. 60) Umgekehrt konnten bundesdeutsche Historiker sich deshalb so gut gegen den „marxistischen" Sozialhistoriker G.W.F. Hallgarten oder die Annales abgrenzen, weil man kaum etwas von ihnen wußte mangelnde Kenntnisse befördern die Feindbildkonstruktion und weil die kollegialen Verbindungen fehlten, so daß man keine Rücksichten zu nehmen hatte. Sie waren „die anderen". 61 ) Werner Conze, zitiert nach Wolgast, Die neuzeitliche Geschichte im 20. Jahrhundert, S. 152. -
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unterziehen wollten, und er teilte seinen Lesern mit, daß eine rein sozialgeschichtliche Betrachtung der Vergangenheit verkürzt sei. Er hielt den Historisein Begriff, den er nirgendwo genauer definierte für unaufgebbar, er mus ihn wollte durch die Einführung neuerer Fragestellungen und analytischer Methoden nicht vernichten, sondern durch Überwindung der individualistischen und etatistischen Verengung gerade bewahren. Seine Sozialgeschichte sollte die Rückkehr in die Zeit vor der unfruchtbaren Aufspaltung in Politik- und Sozialgeschichte (als Sektorwissenschaft) vollziehen. Immer wieder betonte er die Bedeutung der Politikgeschichte, der handelnden Menschen, und daß man die Individuen nicht gegen die Strukturen ausspielen dürfe: „Das Verhältnis von Determination und Freiheit [kann] jeweils nur [...] annäherungsweise gelöst werden"62) und man mußte genauer hinsehen, um zu erkennen, daß er den Strukturen und Prozessen vor dem Individuellen einen Vorrang gab.63) Otto Brunner warnte, wie wir gesehen haben, vor der Gefahr verfehlter Typenbildung und schrieb Gerhard Ritter vor seinem Bremer Auftritt 1953 ausdrücklich, daß er „nicht die Absicht [habe], einen Methodenstreit zu entfesseln, am wenigsten aber die ,Sozialgeschichte' gegen die politische' Geschichte auszuspielen, wie dies eben Proesler in seinen .Hauptproblemen der Sozialgeschichte' in einer, wie mir scheint, recht naiven Weise getan hat."64) Erich Maschke befielen noch 1966 Zweifel, ob er mit seinen sozialhistorischen Forschungen nicht eine recht einseitige Sicht entwickele, und betrachtete sie als Ergänzung zu den traditionellen Perspektiven. Auch er warnte davor, Moderichtungen zu erliegen, wie es zum Teil mit dem Strukturbegriff geschehen sei.65) Theodor Schieder blieb ein Politik- und Geisteshistoriker. Die Nation, den Dreh- und Angelpunkt der frühen Sozialgeschichte, untersuchte er nicht auf der Ebene des „Volkes", sondern er bewegte sich zeitlebens auf dem Parkett der Diplomaten, im Rahmen der Nationalstaaten und in der Welt der Ideen. Doch ihm war klar, daß man allein mit den Kategorien „Macht", „Staat", „Krieg", „Individuum" und „Idee" Geschichte im 20. Jahrhundert nicht länger angemessen schreiben konnte. Für ihn war das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum grundlegenden Problem der modernen Welt geworden, individuel-
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62) Conze, Artikel „Sozialgeschichte", Sp. 172. 63) Vgl. Conze, Nation und Gesellschaft, S. 353f.; Ders., Die bewahrte und die neugewon-
nene Krone, S. 365; Ders., Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, S. 21; Ders., Rez. Schieder. Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, S. 418; Ders., Die sozialgeschichtliche Bedeutung der deutschen Revolution von 1918/19, S. 71-73, 83; Ders., Artikel „Sozialgeschichte", Sp. 172; Wolgast, Die neuzeitliche Geschichte im 20. Jahrhundert, S. 152; W. Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte, S. 246f.; Conze an Wittram vom 18. 4. 1957 (BAK N 1226/58).