Geschichte als Ressource: Politische Dimensionen historischer Authentizität 9783112402856, 9783879977260


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Geschichte als Ressource: Politische Dimensionen historischer Authentizität
 9783112402856, 9783879977260

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Studien des Leibniz-Zentrum Moderner Orient Herausgegeben von Ulrike Freitag

^ Leibniz-Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V.

Barbara Christophe, Christoph Kohl, Heike Liebau (Hg.)

Geschichte als Ressource Politische Dimensionen historischer Authentizität Studien 36

IS

KLAUS SCHWARZ V E R L A G • BERLIN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Leibniz-Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V. Studien, herausgegeben von Ulrike Freitag

Kirchweg 33 14129 Berlin Tel. 030 / 80307 228 www.zmo.de

© BClaus Schwarz Verlag Berlin Alle Rechte vorbehalten Erstauflage 2017 Satz und Layout: ZMO Einbandgestaltung: Jörg Rückmann, Berlin Abbildung: Macau, 27. Februar 2011 (©Christoph Kohl)

Printed in Germany

ISBN:

978-3-87997-726-0

Der Band ist eine Publikation des Leibniz-Forschungsverbundes Historische Authentizität Verbundpartner des Leibniz-Forschungsverbundes Historische Authentizität: Deutsches Bergbaumuseum (DBM), Bochum • Deutsches Museum (DM), München • Deutsches Schiffahrtsmuseum (DSM), Bremerhaven • Georg-Eckert-Institut - Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI), Braunschweig • Germanisches Nationalmuseum (GNM), Nürnberg • HerderInstitut für historische Ostmitteleuropaforschung - Institut der Leibniz-Gemeinschaft (HI); Marburg • Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt • Institut für Deutsche Sprache (IDS), Mannheim • Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz • Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL), Leipzig • Institut für Zeitgeschichte (IfZ), München-Berlin • Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (1RS), Erkner • LeibnizInstitut für Wissensmedien (IWM), Tübingen • Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO), Berlin • Museum für Naturkunde Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung (MfN), Berlin • Römisch-Germanisches Zentralmuseum Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie (RGZM), Mainz • Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SGN), Frankfurt • Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam • Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig (ZFMK), Bonn

Inhalt Barbara Christophe, Christoph Kohl, Heike Liebau Politische Dimensionen historischer Authentizität: Lokale Geschichtein), (Macht-)Politik und die Suche nach Identität

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Barbara Christophe Was war der sowjetische Sozialismus? Konflikte um authentische Erinnerungen in Litauen

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Jeanine Elif Dagyeli Der erinnerte Aufstand: Der mehrfach gebrochene Blick auf ländlichen Widerstand in Usbekistan und Tadschikistan

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Sonja Hegasy Die Erfindung einer Monarchie. Zur Inszenierung von Wahrheit und Authentizität in Marokko

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Christoph Kohl >Authentische< Ansprüche? Machtlegitimierung >traditioneller< Autoritäten in Guinea-Bissau und Angola

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Katharina Lange Tribale Geschichtsschreibung in Syrien und die Behauptung historischer Authentizität im lokalen Kontext David Leupold Authentische Gewaltgeschichten oder verzerrte Spiegelbilder? Die türkische und armenische Geschichtsdeutung von 1915 im Lichte des Nationalmythos Heike Liebau Historische Ideale und Vorstellungen von Authentizität: Chempakaraman Pillai und die Geschichte der indischen Unabhängigkeitsbewegung Bernhard Moltmann Nordirland: Konflikte, kollektive Identitäten und die Suche nach Authentizität Zu den Autorinnen

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Politische Dimensionen historischer Authentizität: Lokale Geschichte(n), (Macht-)Politik und die Suche nach Identität

Barbara Christophe, Christoph Kohl, Heike Liebau

Annäherung an einen geläufigen und schwierigen Begriff

Authentizität hat Konjunktur. Der Begriff scheint jedoch wie einer dieser leeren Signifikanten zu sein, auf denen der Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zufolge der Erfolg von politischen Projekten beruht (Reckwitz 2006). Nur wer politische Identitäten und die aus ihnen abgeleiteten Interessen so deutungsoffen konstruieren kann, dass sie anschlussfähig sind an eine Vielzahl unterschiedlicher Belange, so die These, erlangt Hegemoniefähigkeit. Angesichts dessen verwundern die Mobilisierungserfolge, die populistische Bewegungen aktuell weltweit erzielen, kaum. Denn sie zeigen, dass hegemoniale Projekte auch von der schillernden Vieldeutigkeit des Authentizitätsbegriffes profitieren können. Politiker wie Donald Trump, Frauke Petry oder Marine Le Pen behaupten, authentisch zu sein und meinen damit Unterschiedliches und manchmal sogar Widersprüchliches. Sie beschreiben sich selbst als authentisch, weil sie sich nicht dem Diktat der politischen Korrektheit unterwerfen; weil sie die Interessen des Volkes vertreten, die die wahlweise als korrupt oder abgehoben porträtierten politischen und kulturellen Eliten angeblich schon lange aus den Augen verloren haben und weil es ihrer Ansicht nach, wie der Vorsitzende der Berliner Alternative für Deutschland (AfD) Georg Pazderski einmal erstaunlich unverblümt

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Politische Dimensionen historischer Authentizität

bekräftigte, nicht auf Fakten ankomme, sondern vielmehr auf Gefühle, die über die Realität - und damit die Authentizität - von Behauptungen entschieden (»perception is reality«) (Ehrich 2016). Diese Beobachtungen beschränken sich natürlich nicht auf Europa oder die >westliche Weltglobalen Nordens In diesem Buch setzten wir uns damit auseinander, wie Menschen in Osteuropa, Asien und Afrika Vergangenheit als Ressource für die Konstruktion von als authentisch inszenierten Identitäten nutzen. Dies geschieht oft im Zusammenhang mit Rückblicken auf historische Ereignisse oder in Prozessen gesellschaftlicher Transformation. Politisch sind diese Konstruktionen v.a. deshalb, weil sie - wie überall - das Ergebnis selektiver Entscheidungen sind. In der Regel wird genau die Vergangenheit bemüht, die sich als Argument für die Legitimation der eigenen Ambitionen nutzen lässt. Sichtbar wird der politische Charakter von Authentizitätsansprüchen immer dann, wenn Auswahlentscheidungen nicht als fraglose Selbstverständlichkeit akzeptiert werden, sondern Konflikte produzieren, weil konkurrierende Akteure ihre politischen Projekte im Rekurs auf alternative Vergangenheiten oder alternative Sinnzuschreibungen rechtfertigen. Das beobachten wir beispielsweise in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, in denen sich individuelle, lokale und neue nationale Vergangenheitsdiskurse aneinander reiben. Das sehen wir in Prozessen der Aufarbeitung von Unrecht und Gewalt in afrikanischen und asiatischen Staaten. Konflikte um die Zuschreibung von Authentizität können dabei auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein. In Ruanda z.B. geht es um die Legitimität von ethnischen Identitäten, die ein autoritärer Staat im Namen einer vermeintlich authentischen Nation aus dem Alltag zu verbannen versucht (Bentrovarto 2016). In Singapur wird über die authentische Genealogie der jungen Nation gestritten, deren Ursprünge manche in einer literarischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts, andere in Diskursen zur Wiederbelebung der konfuzianischen Ethik in den 1980er Jahren und dritte in der Romantisierung der Arbeiterklasse

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in der Populärkultur sehen (Chong 2011). Mitunter kreisen Authentizitätskonflikte auch um die Legitimität von als traditional inszenierten politischen Entscheidungsgremien wie der Loya Jirga in Afghanistan (Buchholz 2013). Politische Dimensionen historischer Authentisierungsbestrebungen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes. Die Beiträge konzentrieren sich auf Prozesse des Authentisierens in nationalen oder lokalen Krisensituationen und beleuchten divergierende Ansprüche auf und Zuschreibungen von Authentizität. Bevor wir näher auf die unmittelbare konzeptionelle Stoßrichtung des Bandes eingehen, möchten wir unser Verständnis von historischer Authentizität umreißen. Bisherige Versuche, den Terminus »Authentizität« »in den Griff zu bekommen«, zielen auf Differenzierung. Unterschieden wird z.B. zwischen Objekt- und Subjektauthentizität, also zwischen der Behauptung, ein Ding sei das, was es zu sein vorgibt, ein historisch bedeutsames Relikt etwa und keine Fälschung (Laube 2016; Potthast 2012), und der Aussage, eine Person sei authentisch, bringe unverfälscht ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck ohne sich zu verstellen oder an äußere Konventionen anzupassen (Taylor 2012). Auch die Gründe, die diejenigen geltend machen, die Ansprüche auf Authentizität erheben, können analytisch differenziert werden. Das Authentische kann das durch die Autorität der Tradition Verbürgte sein, der legitimierte Brauch etwa; es kann aber auch das Echte oder Unverfälschte meinen, wie es beispielsweise im Werk des nur seinem Talent und keiner Tradition verpflichteten Künstlers zum Ausdruck kommt; schließlich kann es sogar durch eine Inszenierung oder museale Simulation verkörpert werden, die im Betrachter den Anschein des authentischen Nacherlebens einer historischen Vergangenheit - wie z.B. einer Schlacht - erwecken kann (vgl. Gapps 2009). Die Forschung hat aber nicht nur herausgearbeitet, dass das Authentische Ergebnis historisch wandelbarer Zuschreibungen ist, die sich auf vieles beziehen und ganz unterschiedliche Geltungsansprüche hervorbringen können. Akzentuiert wurde auch, dass ihm eine paradoxale Grund-

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Authentizität

struktur eigen ist. Sybille Krämer (2013) weist z.B. darauf hin, dass das Bedürfnis nach dem Authentischen, nach einem unverstellten Zugang zur Wirklichkeit in Reaktion auf die Mediatisierung der Welt zunimmt, aber auch gerade deshalb unerfüllbar bleiben muss. Aleida Assmann (2012) gibt zu bedenken, dass Individuen im postmodernen und postkonventionellen Zeitalter nachgerade dazu gezwungen sind, sich als authentisch zu profilieren, um sozial anerkennungsfähig zu sein, gleichzeitig aber unweigerlich an dieser Aufgabe scheitern müssen, weil die in der Hoffnung auf Anerkennung inszenierte personale Authentizität sich automatisch als wenig authentisch diskreditieren muss. Wir lernen daraus, dass Ansprüche auf Authentizität scheitern können. Vor dem Hintergrund dieses immer möglichen Scheiterns ist man deshalb gut beraten, den Blick nicht nur auf die Konstruktion, sondern auch auf die immer prekäre Ratifikation und Rezeption solcher Ansprüche zu richten. Diese Aufgabe stellt sich der Leibniz-Forschungsverbund Historische Authentizität, der gezielt danach fragt, wie »historische Authentizität« verhandelt wird. Mit der Öffnung für die historische Dimension des Authentizitätsbegriffes präzisiert er sein Erkenntnisinteresse und fragt in Überschreitung der bislang gängigen Unterscheidungen ausdrücklich nach den Konvergenzen zwischen Subjektund Objektauthentizität (Saupe 2014:19). Die am 27. und 28. Februar 2015 am Zentrum Moderner Orient 1 (ZMO) in Berlin organisierte und vom Forschungsverbund finanzierte Konferenz »Lokale Geschichte(n), (Macht-)Politik und die Suche nach historischer Authentizität«, aus der die in diesem Band enthaltenen Beiträge hervorgegangen sind, greift diese konzeptionelle Neuausrichtung auf. Allerdings wurde das Erkenntnisinteresse in einem Aspekt noch einmal stärker zugespitzt. In allen Beiträgen geht es um politische Dimensionen historischer Authentizität. Ausgangspunkt ist

1 Seit 1. Januar 2017 ist das Institut als Leibniz-Zentrum Moderner Orient Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.

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ein weiter Politikbegriff, der sich nicht nur darauf bezieht, wie kollektiv bindende Entscheidungen oder die sie treffenden Institutionen legitimiert werden, sondern das Politische auch in Konstruktionen nationaler, lokaler oder personaler Identität und in den von ihnen gespeisten Geschichten über die Vergangenheit sucht. Diese Geschichten, so die Annahme in den Spuren eines von der Hegemonietheorie inspirierten Politikbegriffs, sind immer das Ergebnis von Selektionsentscheidungen, die auch anders ausfallen könnten und deshalb politisch sind (Sturken 1997; Reckwitz 2006). Grundsätzlich geht es uns Herausgeberinnen des Bandes Heike Liebau vom Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO), Barbara Christophe vom Georg-Eckert-Institut - Leibniz Institut für Internationale Schulbuchforschung (GEI) und Christoph Kohl vom GEI sowie Leibniz-Institut Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) - darum, erste Anläufe zur Überwindung dreier von uns identifizierter Forschungslücken in den laufenden wissenschaftlichen Debatten über Authentizität zu unternehmen. Weil sich die gegenwärtige internationale Debatte zur Konstruktion von Ansprüchen auf historische Authentizität mit wenigen Ausnahmen (z.B. Duara 1998; Chong 2011) bislang auf die Gesellschaften des >globalen Nordensglobalen Süden< vielfach mit Ansätzen wie jenen zu erfundenen Traditionen (Hobsbawm und Ranger 1983; Ranger 1993) oder zur Autochthonie (Geschiere 2009) geforscht worden.

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den nationalen Rahmen zu vernachlässigen; wir wollen vielmehr nach Wechselwirkungen zwischen den auf verschiedenen Ebenen stattfindenden Prozessen der Zuschreibung und Anerkennung von Authentizität fragen. Und weil in der Erinnerungsforschung in aller Regel zur Konstruktion von Ansprüchen auf Authentizität geforscht wird, weil es meist um die aus der Elite stammenden Produzenten solcher Ansprüche und um die Texte, Objekte oder Räume geht, in denen diese Ansprüche zum Ausdruck kommen (Beim 2007), nehmen wir auch Rezeptionsprozesse und damit die Frage in den Blick, wie wirkungsmächtig eigentlich die von politischen und kulturellen Eliten lancierten Projekte sind. Die Texte des vorliegenden Bandes untersuchen, ob, wie und mit welchem Erfolg politische Akteure in verschiedenen lokalen Kontexten Europas, Afrikas und Asiens Geschichte als Argument nutzen. Sie analysieren, welche Ansprüche auf Authentizität dabei konstruiert und ratifiziert werden. Die in Geschichts-, Politik- und Islamwissenschaft sowie in Pädagogik und Ethnologie verankerten Autorinnen richten ihr Augenmerk dabei ausdrücklich und in explorativer Absicht auf unterschiedliche Aspekte der vielfältigen Prozesse des Authentifizierens. Sichtbar wird damit, wie breit das Spektrum der Phänomene ist, die man im Rekurs auf das Konzept der historischen Authentizität in den Blick nehmen kann. Ein solches Vorgehen hat natürlich auch Nachteile. So ist es nur stellenweise möglich, Vergleiche zwischen ähnlich gelagerten Prozessen in unterschiedlichen nationalen und lokalen Kontexten anzustellen. In systematischer Absicht bleibt ein solches Unterfangen künftigen Projekten vorbehalten. An welchen Dimensionen, wo und wie ein solcher Vergleich ansetzen könnte, wird allerdings in den Beiträgen deutlich, in denen man unschwer eine Reihe von roten Fäden identifizieren kann, die im Folgenden vorgestellt und diskutiert werden.

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Krise und Umbruch als Ursachen von Authentizitätsbestrebungen

Am vielleicht prägnantesten haben Sibylle Krämer (2013: 25) und Aleida Assmann (2013) daraufhingewiesen, dass Authentizität als Bedürfnis und normative Forderung nur dort thematisiert wird, wo Krisen- und Umbrucherfahrungen die selbstverständliche Geltung von Traditionen in Frage gestellt und damit implizit das Bewusstsein dafür geschärft haben, dass alles, was ist, auch anders sein könnte und damit begründungspflichtig ist. Die hier zusammengefügten Studien greifen diese Anregungen auf, richten den Fokus aber gleichzeitig stärker auf das Historische in verschiedenen bisher diskutierten Formen von Authentizität. Sie zeigen, dass gesellschaftliche Veränderungen und die dadurch ausgelösten Verunsicherungen Debatten und Konflikte um das befördern, was unter den neuen Bedingungen als authentische Vergangenheit gelten und für den Entwurf von mitunter konkurrierenden Zukunftsprojekten nutzbar gemacht werden soll. Heike Liebau weist mit Blick auf Indien nicht nur auf den oft beschriebenen Zusammenhang zwischen einer im Zeichen des neoliberalen Paradigmas erfolgten wirtschaftlichen Öffnung einerseits und den Mobilisierungserfolgen hindunationalistischer Bewegungen andererseits hin. In einer Fallstudie zu einem südindischen Politiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt sie darüber hinaus auch, welches Echo die unter dem Slogan der Safranisierung gegenwärtig auf nationaler Ebene angestoßenen Projekte der Neuschreibung von Geschichte auf lokaler Ebene auslösen. Im konkreten Fall geht es darum, wie die Biographie Chempakaraman Pillais dazu genutzt wird, Südindien in die indische Nationalgeschichte einzuschreiben und wie sich damit wiederum Diskussionen darüber verbinden, wie nationale Heldengeschichten produziert und genutzt werden. In Auseinandersetzung mit Guinea-Bissau und Angola kommt Christoph Kohl zu ähnlichen Schlussfolgerungen, die er allerdings in einem entscheidenden Punkt stärker

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differenziert. In Guinea-Bissau, so sein Fazit, hat die durch Strukturanpassungsprogramme erzwungene wirtschaftliche Öffnung zunächst zu einer nachhaltigen Schwächung zentralstaatlicher Strukturen und dann an manchen Orten zur Revitalisierung von Formen lokaler Herrschaft geführt, die im Rekurs auf >Tradition< einen Anspruch auf Authentizität anmelden. Allerdings, so das Ergebnis der detaillierten Beschreibung der Legitimationsbemühungen einer solchen lokalen Autorität, gewannen solche von unten gestarteten Projekte erst dann an Dynamik, als es ihnen gelang, auf nationaler Ebene Unterstützung zu mobilisieren. Nahezu entgegengesetzt verläuft der Prozess der Revitalisierung traditionaler Herrschaft in Angola. Hier ergreift ein sich als stark inszenierender Zentralstaat nach dem Friedensschluss von 2002 die Initiative, traditionale Herrscher als Stütze des autoritären Regimes einzusetzen und aufzubauen. In Litauen, so beschreibt es Barbara Christophe in ihrem Beitrag, besteht die Krise, die einen von Anfang an stark politisierten Konflikt um die Konstruktion einer als authentisch anerkannten Vergangenheit auslöst, in der gleichzeitigen Implosion von UdSSR und Sozialismus. Obwohl sich die große Mehrheit der politischen Akteure in der Ablehnung des sowjetischen Sozialismus einig ist, entbrennt doch eine Kontroverse um die Deutung der sowjetlitauischen Geschichte, die v.a. um die Frage kreist, wer damals unter den Bedingungen von nationaler und politischer Unterdrückung das authentische Litauen verkörperte, wer Held und wer Schurke oder doch zumindest Feigling war: der unter Umständen auf verlorenem Posten kämpfende Regimegegner oder der angepasste, aber im Zweifelsfall politisch wirksamere Mitläufer wider Willen. Tadschikistan und Usbekistan, so lesen wir es bei Jeanine Dagyeli, erleben die Auflösung der Sowjetunion als eine besonders intensive Krise. Hier war es einst der sowjetische Vielvölkerstaat selbst, der die Anfang der 1990er Jahre in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten in ihrer jetzigen territorialen Gestalt geschaffen hatte. Versuche, an eine nun als authentisch konstruierte vorsowjetische und vorkoloniale

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Geschichte anzuknüpfen, sind hier schon allein deshalb mit einer besonderen Hypothek belastet, weil die damaligen Grenzen und Identitäten nicht mit denen der Gegenwart übereinstimmen. Auch das angespannte Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien erhielt mit der Auflösung der Sowjetunion eine neue Dynamik, wenngleich der eigentliche Konflikt, der mit dem Genozid an den Armeniern im Jahre 1915 seinen Höhepunkt erreichte, auf das späte 19. Jahrhundert zurückgeht. Damals entstanden zwei antagonistische nationalstaatliche Projekte, die auch heute noch Fluchtpunkt von als authentisch dargestellten Geschichtsnarrativen sind, wie David Leupold erläutert. Es handelt sich also um eine Krise, in der sich vergangene und gegenwärtige Deutungskonflikte gegenseitig verstärken. Der Ausbruch des offenen Nordirland-Konfliktes ab Ende der 1960er Jahre kann auch als Reaktion auf sozioökonomische Disparitäten und damit einhergehende innergesellschaftliche Umbrüche in den 1960er und 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts gelesen werden. Erst in späteren Jahren wurde der Konflikt v.a. populär als primär ethnischer bzw. religiöser Konflikt zwischen (katholischen) Iren und (protestantischen) Unionisten konnotiert - freilich ohne dabei sozialen Zerwürfnissen und Ursachen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Historische Authentizität, so Bernhard Moltmann in seinem Beitrag, wird als solche jedoch nicht - oder kaum - thematisiert, da die beiden separaten Narrationsgemeinschaften der Unionisten und Iren fest zu ihren jeweiligen Erinnerungsdiskursen und -praktiken stehen und diese bislang kaum verhandeln. Weil die beiden ethnischen Gemeinschaften stabile Identitäten aufweisen, weil auch die gegenwärtigen Konfliktlösungen die Existenz dieser Gemeinschaften anerkennen und stabil reproduzieren, weil mit anderen Worten keine Identitätskrise in Sicht ist, so eine These des Beitrags, artikuliert kaum jemand Ansprüche auf Authentizität. In Marokko, so die Studie von Sonja Hegasy, sind es zwei Krisenerfahrungen, die ein lebhaftes Interesse an Authentizität begründeten und begründen. Die militärische, poli-

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tische und ökonomische Dominanz Europas im arabischen Raum setzte seit dem 19. Jahrhundert eine Debatte um die Ursachen für die eigene Unterlegenheit in Gang und beförderte immer wieder Versuche, eine als authentisch markierte Synthese aus Tradition und Moderne, aus Eigenem und Fremden hervorzubringen. Das Ende des Kalten Krieges hatte in Marokko schon vor dem arabischen Frühling eine Legitimationskrise ausgelöst, die, wie Hegasy zeigt, ihren Niederschlag in einflussreichen Debatten über den postkolonialen Staat sowie authentische marokkanische Identität und Geschichte findet. Katharina Lange untersucht in ihrem Beitrag die Auseinandersetzung mit Geschichte unter den Weide, einer tribalen Gruppe in Nordsyrien, in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts. Während Fortschrittsdiskurse früherer politischer Systeme tribale Geschichte als primitiv und rückwärtsgewandt diskutierten, gewann sie als Reaktion auf wirtschaftliche, politische und soziale Transformationen neue Bedeutung. Parallel dazu verschob sich auch das Verständnis einer homogenisierenden Geschichtsschreibung unter nationalistisch-arabischen Vorzeichen hin zu einem wiedererstarkenden Stammesbewusstsein, nicht zuletzt durch und in lokal verankerter mündlicher Stammeserzählung und Geschichtsschreibung. Mit dem im Ergebnis dieser Entwicklungen kreierten und beförderten Begriff »Beduinismus«, den Lange übernimmt, ist auch eine neue Form der transnationalen Anschlussfähigkeit tribaler Erzählungen gegeben.

Prozesse des Authentifizierens

Alle Beiträge sind ausdrücklich empirisch ausgerichtet und untersuchen ganz konkrete Prozesse des Authentifizierens. Das hohe Maß an Komplexität solcher Prozesse ergibt sich aus dem Umstand, dass Inhalte ebenso von Bedeutung sind wie die Frage nach den Produzenten und Ressourcen historischer Authentizität. Weil das Augenmerk der hier vorlie-

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genden Aufsätze durchaus unterschiedlichen Themen und Phänomenen gilt, zeigen sie in ihrer Gesamtheit auch ein Spektrum dessen, was alles Gegenstand von letztlich immer politischen, weil selektiven und ggf. umstrittenen Bemühungen um Authentizität sein kann. Sie weisen darüber hinaus darauf hin, wie unterschiedlich die dabei mobilisierten diskursiven Ressourcen sind. In ihrer Fallstudie zu Indien fragt Heike Liebau, wie eine historische Persönlichkeit aus einer in der Historiographie zur Geschichte der indischen Nationalbewegung unterrepräsentierten Region des Landes in lebensgeschichtlichen Erzählungen als authentisches Vor- und Leitbild konstruiert wird. Im Rahmen einer diachronen Analyse zeigt sie, dass bestimmte Elemente der Erzählung, z.B. die emotionale Verbundenheit zur Heimatregion, im Zeitverlauf immer stabil bleiben, während andere sich unter dem Einfluss wechselnder diskursiver Konjunkturen verändern. In medial unterschiedlich vermittelten Erzählungen über Chempakaraman Pillai geht es um die Frage, wer im Rekurs auf welche Werte und Taten für sich in Anspruch nehmen kann, die indische Nation authentisch zu repräsentieren und wer somit junge Inder heute zur Identifikation einladen kann. Auch bei Christoph Kohl geht es mit Blick auf Angola und Guinea-Bissau zunächst um Personen, konkret um zwei Männer, die für sich den Status als >traditionale< Herrscher beanspruchen und Anerkennung als authentische lokale Autoritäten erhalten wollen. Sie greifen dabei nicht nur auf unterschiedliche Strategien zurück, sondern wählen für ihre Strategien auch unterschiedliche Adressaten. Allerdings sind sie selber gleichzeitig Subjekt und Objekt der Konstruktion von Ansprüchen auf Authentizität: einerseits streben sie nach Macht und Anerkennung; andererseits werden sie aber mitunter auch als Vehikel benutzt, um Macht- und Herrschaftsansprüche zu generieren. Auch sie wollen als moralisch anerkennungsfähige Personen, als ehrwürdige und einflussreiche Honoratioren qua Abstammung anerkannt werden.

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Ähnlich wie Kohl vergleicht Dagyeli mit ihrer Studie zu den Geschichten, die im 20. und 21. Jahrhundert in Tadschikistan und Usbekistan über zwei lokale Aufstände aus dem 19. Jahrhundert erzählt werden, zwei unterschiedliche nationale Kontexte. Sie stellt die Frage, wie sich als authentisch markierte Erzählungen über lokale Ereignisse im Wechselspiel mit unterschiedlichen diskursiven Konjunkturen verändern. Ihr Schwerpunkt liegt auf einem diachronen Vergleich. Indem sie nacheinander sorgsam ausleuchtet, wie dieselben Ereignisse im zaristischen Russland, in der Sowjetzeit und nach der Unabhängigkeit der beiden zentralasiatischen Länder in je unterschiedliche erzählerische Rahmen gestellt werden, macht sie auch deutlich, wie stark das, was als authentische Vergangenheit präsentiert werden soll, von den wechselnden Interessen unterschiedlicher politischer Gegenwarten sowie von Erwartungshaltungen und Reaktionen lokaler Akteure geprägt wird. In Barbara Christophes Studie zu Litauen stehen Personen und ihre autobiographischen Erzählungen im Vordergrund. Ihr geht es darum aufzuzeigen, wie im Medium der autobiographischen Erzählung und im Schatten erinnerungskultureller Konflikte Kontroversen darüber ausgetragen werden, was als authentisches Narrativ über die sozialistische Erfahrung gelten kann. Deutlich wird, dass es zwei Gütekriterien zur Unterstützung von stets prekären Ansprüchen auf Authentizität sind, die von den Autobiographinnen mobilisiert werden. Zum einen präsentieren sie sich selbst als authentische und deshalb glaubwürdige Personen, wenn auch im Rekurs auf unterschiedliche argumentative Strategien. Zum anderen produzieren sie Deutungen und Narrative, die ambivalent und deshalb aus ihrer Perspektive besonders gut geeignet sind, die komplexen und widersprüchliche Erfahrungen, die Menschen im Sozialismus gemacht haben, einzufangen und auf den erzählerischen Punkt zu bringen. Hier zeigt sich bereits eine wichtige Differenz zwischen der litauischen Fallstudie auf der einen und den Studien zu Indien, Angola und Guinea-Bissau auf der anderen Seite. In Litauen scheint es besonders erfolgversprechend zu sein,

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Authentizität durch Abgrenzung von hegemonialen Diskursen zu gewinnen, denen implizit unterstellt wird, der Widersprüchlichkeit des Lebens nicht gerecht zu werden. Das Fallbeispiel aus Indien hingegen analysiert das Behaupten von Authentizität eher als Bemühen, durch die Auswahl relevanter Ereignisse Anschlussfähigkeit an hegemoniale Diskurse herzustellen. In den dargestellten Fällen aus Angola und Guinea-Bissau scheinen nicht diskursive Strategien, sondern der Zugang zu zentralstaatlichen Ressourcen ausschlaggebend zu sein. Sonja Hegasy diskutiert in ihrem Beitrag politische Dimensionen von Authentifizierungsstrategien anhand zweier Fallbeispiele aus der jüngeren Geschichte Marokkos. Sie zeigt zum einen, wie die marokkanische Monarchie im 20. Jahrhundert trotz des Rückgriffs auf europäische Ideen über den Orient des 19. Jahrhunderts eine »Tradition erfinden« konnte, die ihre Legitimität bis heute zentral stützt. Mit Blick auf eine jährlich stattfindende Treueeid-Zeremonie macht sie deutlich, wie islamische Vorstellungen von einem Vertrag zwischen Volk und Herrscher mit Bausteinen aus dem zeremoniellen Repertoire europäischer Monarchien und Kolonialmächte und Verfahren moderner Nationalstaaten kombiniert wurden. Zum anderen arbeitet Sonja Hegasy am Beispiel einer 2004 eingesetzten Wahrheitskommission heraus, wie die Vergangenheit von staatlicher Seite umgewertet wird. Hegasy spricht hier von einer »Neuen Historiographie« und argumentiert, dass nicht nur die Monarchie in diesem Prozess Legitimität gewinnt, sondern auch Opfer und Zeugen staatlicher Gewalt gesellschaftlich sichtbar und damit aufgewertet werden. Zivilgesellschaftliche Initiativen und Akteure können zu wichtigen Konstrukteuren von Ansprüchen auf Authentizität werden. Um konfligierende offiziös-staatliche Geschichtsdeutungen und kollektive Viktimisierungsdiskurse geht es in David Leupolds Beitrag zur türkisch-armenischen Auseinandersetzung um die Bewertung der massenhaften, gezielten Tötung ethnischer Armenier im Ersten Weltkrieg. Leupold fragt, welche Bedeutung diese lokalen Erinnerungskämpfe

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Authentizität

für die Identitätsfindung der armenischen bzw. türkischen Nation haben. Die Strategien, auf die beide Seiten in dem Bemühen zurückgreifen, ihre Sicht auf die Vergangenheit als authentisch zu präsentieren, gleichen sich dabei insofern, als sie sich beide auf >authentischehistorische Wahrheit< gibt es ebenso wenig wie die > historische Authentizität^ Aber während man Wahrheit nicht als Prozess (und nicht als Verb bzw. Tätigkeit) denken kann, sprechen wir mit »authentifizieren« von einem Akt, der von Menschen für Menschen gemacht wird. Die zwingende Frage nach Prozessen und somit nach Akteuren, nach Profiteuren und Verlierern, die zugleich eine Machtfrage ist, stellt sich unmittelbar. Damit, so könnte man vermuten, hat der Begriff der Authentizität das Potenzial, den stärker essenzialistisch geprägten Begriff der Wahrheit herauszufordern. In den Zeiten der Postmoderne, in denen wir in einer Vielzahl von miteinander um Aufmerksamkeit konkurrierenden medialen Kanälen täglich beobachten können, dass alles, was gesagt wird, immer auch anders gesagt und kontextualisiert werden kann, wird die Behauptung von Authentizität zu einer wichtigen Ressource. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Begriffsverschiebung allmählich auch auf die gelebte soziale Praxis des alltäglichen Sprechens und Kommunizierens auswirken wird, in der beide Begriffe oft synonym verwendet werden. Zweitens - und das ergibt sich z.T. aus dem Prozesscharakter - zeigen die Beiträge, dass sich der Begriff der historischen Authentizität auf ein temporales relationales Konstrukt bezieht. Der Fokus wird darauf gelenkt, wer, wann und warum welche »Geschichte(n)« konstruiert. Die Verbindung der Begriffe »historisch« und »authentisch« macht deutlich, dass es stets um Verknüpfungen zwischen Vergangenheiten und Gegenwarten geht: Vergangenheiten werden unter bestimmten Vorzeichen miteinander in Bezug gesetzt, um Gegenwarten zu legitimieren. Im analytisch gebrauchten Begriff der historischen Authentizität, der einen Anspruch konstruiert, in dem immer schon das Wissen um seine krisenhafte Prekarität mitschwingt, wird damit ten-

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denziell auch erfahrbar und mitdenkbar, dass Vergangenheit und Gegenwart immer nur im Plural zu haben sind. Drittens setzt das Konzept der Historischen Authentizität mit Vergangenheit und Gegenwart nicht nur unterschiedliche Zeitebenen, sondern auch unterschiedliche gesellschaftliche Ebenen miteinander in Beziehung. Die Beiträge machen deutlich, dass wir in Prozessen des Authentifizierens regelmäßig Wechselwirkungen zwischen den Ebenen des Transnationalen, Nationalen, Lokalen und Personalen beobachten können. Veränderungen in den als authentisch anerkannten Repräsentationen der Vergangenheit, die auf einer dieser Ebenen angestoßen werden, lösen unweigerlich Anpassungsreaktionen auf den anderen Ebenen aus. Ansprüche können zurückgewiesen werden; sie können aber auch aufgegriffen und in kreativer Weise mit den Geschichten verwoben werden, die man selber über die Vergangenheit erzählt. Gleichwohl wollen wir als Herausgeberinnen nicht verhehlen, dass auch wir anfänglich mit dem sperrigen und mitunter quälend vagen Begriff der historischen Authentizität gehadert haben. Sofern man historische Authentizität nicht gleichsetzt mit einem zu Recht diskreditierten positivistisch verstandenen Wahrheitsbegriff, schien er auch uns zunächst alles und nichts zu bedeuten. Im Laufe unserer Arbeit überzeugte uns dann jedoch das Fokussierungspotenzial, das dem Begriff jenseits seiner Vagheit innewohnt, und das unseres Erachtens in den Beiträgen deutlich wird. Weil wir nicht nach der ganzen Geschichte oder Erinnerung fragen, sondern uns darauf konzentrieren, wie Authentizitätsansprüche verhandelt werden, können wir uns immer auf mehreren Ebenen zugleich bewegen und nach deren Relation zueinander fragen. Wir können die Beziehungen zwischen Produktion, Produkt und Rezeption von historischer Authentizität untersuchen und dabei die Verflochtenheit von personalen, lokalen, nationalen und manchmal auch transnationalen Ebenen miteinbeziehen. Wir denken, dass dieser Sammelband Anregungen für weitergehende, vertiefende und systematisierende Diskussionen bietet.

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Die Herausgeberinnen bedanken sich bei allen, die zur Entstehung dieses Sammelbandes beigetragen haben. Unser besonderer Dank gilt dem Leibniz-Forschungsverbund Historische Authentizität, der nicht nur den Anstoß für die Thematik gab, sondern auch die Tagung finanzierte, aus der der Band hervorging. Den Autorinnen danken wir für ihre Beiträge und die zügigen Überarbeitungen. Die beiden anonymen Gutachterinnen trugen mit ihrer anregenden und konstruktiven Kritik zum Gelingen des Bandes bei. Nicht zuletzt danken wir Jan Brauburger für die sorgfältige Bearbeitung der Anmerkungen und Literaturlisten und Svenja Becherer für die professionelle Drucklegung des Bandes.

Literatur

Assmann, Aleida: »Authentizität. Signatur des Abendländischen Sonderwegs«, in: Michael Rössner und Heidemarie Uhl (Hg.): Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld: transcript, 2002, S. 27-42. Beim, Aaron: »The Cognitive Aspects of Collective Memory«, in: Symbolic Interaction 30 (2007), S. 7-26. Bentrovato, Denise: Narrating and Teaching the Nation. The Politics of Education in Pre- and Post-Genocide Rwanda, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht unipress, 2016. Buchholz, Benjamin: Loya Jirga. Afghanischer Mythos, Ratsversammlung und Verfassungsorgan, Freiburg im Breisgau: Rombach, 2013. Chong, Terence: »Manufacturing Authenticity. The Cultural Production of National Identities in Singapore«, in: Modern Asian Studies 45 (2010), S. 877-897. Duara, Prasjenit: »The Regime of Authenticity. Timelessness, Gender and National History in Modern China«, in: History and Theory 37, 3 (1998), S. 287-308. Ehrich, Issio: »Die AfD präsentiert sich ganz unaufgeregt«, 7.9.2016, http ://www. n-tv. de/politik/Die-AfD-praesentiert-

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Politische Dimensionen historischer

Authentizität

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Laube, Stefan: »Authentizität - in Szene gesetzt und in Frage gestellt. Drei Fallbeispiele aus dem 13., 17. und 19. Jahrhundert«, in: Martin Sabrow und Achim Saupe (Hg.): Historische Authentizität, Göttingen: Wallstein, 2016, S. 62-79. Mann, Michael: Sinnvolle Geschichte. Historische Repräsentationen im neuzeitlichen Südasien, Heidelberg: Draupadi, 2009. Potthast, Barbara (Hg.): Das Spiel mit der Wahrheit. Fälschungen in Literatur, Film und Kunst, Münster: Lit, 2012.

Ranger, Terence: »The Invention of Tradition Revisited. The Case of Colonial Africa«, in: Terence Ranger und Olufemi Vaughan (Hg.): Legitimacy and the State in

Barbara Christophe

C h r i s t o p h Kohl

Heike Liebau

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Twentieth-Century Africa, Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan, 1993, S. 62-111. Reckwitz, Andreas: »Ernesto Laclau. Diskurse, Hegemonien, Antagonismen«, in: Stephan Moebius und Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, S. 339-349. Sabrow, Martin: »Die Aura des Authentischen in historischer Perspektive«, in: Martin Sabrow und Achim Saupe (Hg.): Historische Authentizität, Göttingen: Wallstein, 2016, S. 29-43. Saupe, Achim: »Empirische, materiale, personale und kollektive Authentizitätskonstruktionen und die Historizität des Authentischen«, in: Martin Fitzenreiter (Hg.): Authentizität. Artefakt und Versprechen in der Archäologie, London: Golden House Publications, 2014, S. 19-26. Saupe, Achim: »Authentizität, Version 3.0«, in: DocupediaZeitgeschichte, 2015, http://docupedia.de/zg/saupe_authentizitaet_v3_de_2015 (aufgerufen am 18.4.2017). Sturken, Marita: Tangled Memories. The Vietnam War, the AIDS Epidemie, and the Politics of Remembering, Berkeley: University of California Press, 1997. Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 82012. Wolfrum, Edgar: Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 32007.

Was war der sowjetische Sozialismus? Konflikte um authentische Erinnerungen in Litauen

Barbara Christophe

Authentizität, so brachte es die Philosophin Sybille Krämer (2012) kürzlich auf den Punkt, entsteht als Konzept auf dem Boden der Krise. Die Sehnsucht nach dem Wahren, Eigentlichen und Unmittelbaren, so ihre These, wird besonders dort laut, wo Unsicherheit herrscht, wo Tradition und Brauchtum keine unhinterfragten Horizonte des Selbstverständlichen mehr aufspannen. Der folgende Beitrag nimmt diese Erkenntnis zum Anlass, um aktuelle erinnerungskulturelle Diskurse über den Sozialismus in Litauen aus der Perspektive der Frage nach Strategien der Authentisierung zu untersuchen. In Litauen, so der Anfangsverdacht, verhindert ein ritualisierter Dauerkonflikt zwischen den dominanten politischen Akteuren der Gegenwart die Herausbildung von hegemonialen Narrativen. Wer ein bestimmtes Deutungsmuster durchsetzen will, ist deshalb in besonderer Weise gezwungen, seine Position und seine Person als authentisch darzustellen. Bei der Analyse stütze ich mich auf zwei Gattungen von bislang noch viel zu selten genutzten Erinnerungstexten. 1

1 Die Daten, auf die ich mich im Folgenden stütze, wurden zwischen 2008 und 2011 von mir und meinem Mitarbeiter Saulius Grybkauskas im Rahmen des von der VolkswagenStiftung finanzierten Projektes zur »Institutionalisierung von kulturellen Deutungsmustern des Sozialismus: Geschichtslehrerinnen als Schnittstelle zwischen kulturellem und kommunikativem

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Was war der sowjetische Sozialismus?

Mit Hilfe von Geschichtsschulbüchern, die zwischen 1990 und 2008 erschienen sind, rekonstruiere ich die Konfliktlinien in der litauischen Erinnerungskultur. Im Rückgriff auf die lebensgeschichtlichen Erinnerungen von Geschichtslehrerinnen frage ich danach, wie sich diese zu den in Schulbüchern vermittelten Erzählungen positionieren und welche Authentizitätssignale sie senden. Einerseits interessiere ich mich also im Sinne einer Spurensuche dafür, ob und wie Deutungsmuster aus dem Repertoire der in Schulbüchern objektivierten kulturellen Erinnerung das prägen und rahmen, was Lehrerinnen, die ja täglich mit diesem Medium umgehen, erzählen und erinnern, wenn sie an sich selbst als Privatperson denken. Andererseits untersuche ich, w e r welchen Deutungen mit Hilfe welcher Mittel Authentizität zuschreibt. Mein Fokus auf Schulbuchnarrative und biographische Erinnerungsnarrative von Lehrerinnen folgt systematischen Überlegungen. Beide begreife ich mit Alexandra Binnenkade (2015) als diskursive Knotenpunkte, in denen gesellschaftliche Debatten um Erinnerung zusammenlaufen. Beide sind in vielfältiger Weise mit ihrer sozialen Umwelt verbunden. Schulbücher sind den mitunter widersprüchlichen Standards von Politik, Wissenschaft und Pädagogik verpflichtete Massenmedien. In ihnen spiegeln sich aber auch regelmäßig gesellschaftliche Kontroversen um heikle Themen (Klerides 2010). Geschichtslehrerinnen sind Mitglieder einer staatlichen Basiselite, die auf die Verbreitung staatlich genehmigter Bilder von der Vergangenheit spezialisiert ist. Gleichzeitig lesen sie Bücher, schauen Filme, diskutieren mit Menschen aus ihrer sozialen Nahwelt und verfügen über eigene autobiographische Erinnerungen (Christophe 2012). Praktiken des Erinnerns, wie wir sie in der Schule beobach-

Gedächtnis in Georgien, Kirgisien und Litauen« erhoben. Für die litauische Fallstudie wurden alle Geschichtsschulbücher, die zwischen 1990 und 2011 erschienen sind, analysiert und 20 biographisch-narrative Interviews mit Geschichtslehrerinnen aufgezeichnet, transkribiert und ausgewertet.

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ten können, sind deshalb auch für den breiteren sozialen Kontext, in den sie eingebettet sind, relevant. Voranstellen möchte ich meiner Analyse einige Überlegungen zu dem in der Literatur breit diskutierten Konzept der Authentizität (Saupe 2014; Rössner/Uhl 2012). Dabei konzentriere ich mich darauf, Berührungspunkte mit theoretischen Trends in den für mein Vorhaben einschlägigen Feldern der Erinnerungs- und der Biographieforschung herauszuarbeiten.

Authentizität

Jenseits eines alltäglichen Sprachgebrauchs besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Authentizität eine Fiktion ist, die nur in Signalen oder Effekten des Authentischen zum Ausdruck kommt (Saupe 2012; Assmann 2012: 35). Das Begehren nach Authentizität als Begehren nach einem unmittelbaren, unverstellten Zugang zur Welt, zu uns selbst und zu anderen Menschen, muss auf Grund der »ubiquitären Medialität und Mittelbarkeit unseres Selbst- und Weltverhältnisses« (Krämer 2012: 19) unerfüllbar bleiben. Über das, was wir erleben und wahrnehmen, können wir nur im Medium der Sprache kommunizieren. Mit der Sprache übernehmen wir eine Vielzahl kultureller Setzungen, die sich dem Gesprochenen immer schon einschreiben. Das authentische Selbst, das sich immer treu bleibt, sich keinen gesellschaftlichen Konventionen unterwirft und sich in seinem Handeln nie von dem Bedürfnis nach Anerkennung durch andere leiten lässt, muss so ein unerreichbares Ideal bleiben. Denn zumindest den Konventionen der Sprache kann sich niemand entziehen. Authentizität weist zudem eine paradoxale Grundstruktur auf. Jeder laut angemeldete Anspruch darauf, authentisch zu sein, gleicht immer einer Inszenierung. Wer sich inszeniert, will gefallen. Die Inszenierung der eigenen Authentizität muss damit unweigerlich »zu einem performativen Widerspruch« (Assmann 2012: 35) führen.

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Was war der sowjetische Sozialismus?

Aus all dem f o l g t dass Authentizität nichts ist, was Personen oder Artefakten, also auch Texten und Geschichten selbstverständlich anhaftet. Sie muss in kommunikativen Prozessen der Zuschreibung hergestellt werden. Dass diese Zuschreibungsprozesse zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten je eigenen, kulturell geprägten Logiken folgen, hat die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl (2012) an einem eindringlichen Beispiel gezeigt. Noch in den 1950er Jahren, so ihre Beobachtung, kam in Österreich niemand auf die Idee, den Baracken des Konzentrationslagers Mauthausen eine Aura des Authentischen nachzusagen. Damals wurde ganz ungeniert über deren Abriss diskutiert, eine Debatte, die man sich heute vor dem Hintergrund ganz anderer diskursiver Regime so sicherlich nicht mehr vorstellen könnte. Ein in diesem Sinne diskursiv gewendeter Begriff von Authentizität ist unmittelbar anschlussfähig an die Erinnerungs- und Biographieforschung. Seit Maurice Halbwachs gehören drei Thesen zum theoretischen Grundgerüst der Erinnerungsforschung: (i) Erinnerung ist eine Konstruktion, weil sie das Vergangene nie abbildet, sondern orientiert an den Interessen der Gegenwart immer wieder neu konstruiert, (ii) Erinnerung ist sozial, weil Individuen sich bei der Vergegenwärtigung des Vergangenen immer von sozial geteilten Vorstellungen leiten lassen, (iii) Erinnerung ist historisch und kulturell wandelbar, weil auch die sozial geteilten Vorstellungen, unter deren Einfluss sie konstruiert werden, wandelbar sind. Vor dem Hintergrund dieses sozialkonstruktivistischen Credos hat sich die Erinnerungsforschung immer dafür interessiert, welche Ereignisse und Personen in unterschiedlichen Kontexten als erinnerungswürdig markiert wurden und welche Bedeutung ihnen in den über sie erzählten Geschichten zugeschrieben wurde. Unter dem Eindruck von Individualisierung und Pluralisierung geraten seit einiger Zeit zudem Konflikte um rivalisierende Erinnerungen in den Fokus. In der Biographieforschung beobachten wir Ähnliches. Forschende wollen nicht der biographischen Illusion aufsit-

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zen. Sie sind sich bewusst, dass Lebensgeschichten immer in den kulturell geprägten Sinnhorizont der Zuhörenden hineinerzählt werden. Sie wissen, dass die Erzählenden immer darum bemüht sein werden, dem Fragmentarischen, Zufälligen und Widersprüchlichen, das ihren Erfahrungen unweigerlich anhaftet, orientiert an den Werten und Konventionen ihrer Zeit nachträglich Kohärenz und Sinn zu verleihen (Linde 1992). Aus all diesen Gründen interessiert sich die Biographieforschung in aller Regel weniger für die biographische Wahrheit als vielmehr für die Wahrheit des biographischen Diskurses. Es geht nicht so sehr darum, was wirklich und eigentlich in einem erzählten Leben passiert ist. Sie fragt, welches Selbstdarstellungsinteresse in einem bestimmten sozialen und kulturellen Milieu als angemessen gilt und wie die erzählerischen Mittel beschaffen sein müssen, um einer Selbstdarstellung Plausibilität und Anerkennung zu sichern (Riemann 2003; Linde 1992; Heuer 2010). Nachdem sichtbar geworden ist, dass Erkenntnisinteressen der Erinnerungs- und Biographieforschung über weite Strecken mit denen der Authentizitätsforschung überlappen, bleibt zu fragen, worin ein möglicher Mehrwert einer Übertragung des Authentizitätskonzeptes auf erinnerungs- und biographietheoretische Fragestellungen besteht. Ich möchte auf drei eng miteinander verwobene Aspekte verweisen. Zunächst einmal können wir im Rekurs auf das Konzept der Authentizität vielleicht besser erkennen, wie schwierig, ja nachgerade prekär es ist, Erzählungen über Ereignisse, an denen man selber im Unterschied zu den Zuhörenden Anteil hatte, als glaubwürdig und wahrhaftig ratifizieren zu lassen. Sybille Krämer (2012) bringt die damit verbundenen Probleme anschaulich auf den Punkt, indem sie über die Figur des Boten nachdenkt. In dem Bemühen, die Botschaft mit einem glaubhaften Authentizitätsanspruch zu versehen, pendelt er beständig zwischen zwei gegensätzlichen Imperativen. Einerseits muss er, der v.a. das zu berichten hat, was andere ihm aufgetragen haben, als Person weitestgehend hinter dem Gesagten verschwinden. Er muss glaubhaft

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machen, dass die Botschaft nicht im Geringsten durch das beeinflusst ist, was er als Individuum denkt und fühlt. Er muss zu einem vermeintlich neutralen Medium werden, zu einer leeren Leinwand, auf der das, was wirklich gewesen ist oder tatsächlich gesagt wurde, sichtbar werden kann. Zum anderen und in unverkennbarem Widerspruch zu der Forderung, selbst unsichtbar zu werden, muss er sich als vertrauenswürdig präsentieren und seine Zuhörer davon überzeugen, dass er nicht von der immer bestehenden Möglichkeit Gebrauch macht, falsches Zeugnis abzulegen. Aus dieser Problemdiagnose - und darauf weist Sybille Krämer selbst hin - folgt noch etwas anderes. Der Einblick in die Dilemmata des Boten, der stets das eine Gebot zu verletzen droht, wenn er sich an das andere hält, macht auch deutlich, dass personale und materiale Authentizität, die Authentizität des Boten und die Authentizität der Botschaft immer eng miteinander verflochten sind. Authentizitätseffekte entstehen aus dem Zusammenspiel beider Aspekte, also durch das Ineinandergreifen dessen, was andere als Subjekt- und Objektauthentizität bezeichnet haben. In vielen Arbeiten wird beides oft nicht nur begrifflich voneinander geschieden. Materiale Authentizität oder Objektauthentizität wird als das historisch vorgängige betrachtet. Personale Authentizität oder Subjektauthentizität gilt als eine Entdeckung des 18. Jahrhunderts, in dem mit der Trennung des öffentlichen und privaten Raums und mit dem Bewusstsein für die Rollen, die wir in ersterem oft spielen, die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus Rollenzwängen entsteht. In den 1960ern erfährt das Konzept dann im Zuge der Forderung nach Selbstverwirklichung einen enormen Bedeutungszuwachs (Taylor 1991). Für denjenigen, der sich für Begriffsgeschichte interessiert, sind diese Einsichten zweifelsohne sehr instruktiv. Wer hingegen wie ich mit Blick auf konkrete Personen und in Auseinandersetzung mit konkreten Texten Strategien des Authentisierens untersuchen möchte, der kann von Sybille Krämer lernen, dass der besondere Reiz darin liegt, nach dem Wechselverhältnis zwischen personaler und materieller Authentizität, zwischen Subjekt- und Objekt-

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authentizität zu fragen. Bei der Analyse der biographischen Erinnerungen von litauischen Geschichtslehrerinnen ist mit Blick auf die Konstruktion von Authentizitätsansprüchen deshalb immer zweierlei zu analysieren. Wie muss die Geschichte des Sozialismus erzählt werden, damit ihr im litauischen Kontext materiale Authentizität zugeschrieben werden kann? Und wie muss sich ein Erzähler präsentieren, um personale Authentizität herzustellen und in Litauen als authentischer, der Wahrheit verpflichteter Bote angesehen zu werden? Auch diese Präzisierung meines auf Authentizität konzentrierten Erkenntnisinteresses wirft neue Fragestellungen auf. Worauf genau achten wir, wenn wir Strategien des Authentisierens unter die Lupe nehmen? Personale Identität, auch diese Erkenntnis findet sich bei Sybille Krämer, ist eine normative Idee. Normative Ideen, das wissen wir, sind historisch und kulturell wandelbar. Am deutlichsten hat vielleicht der Existentialismus ausbuchstabiert, woran man eine authentische Person erkennen kann (Pirker/Rüdiger 2010). Authentizität wird hier einer menschlichen Existenz zugeschrieben, die sich im Wissen um die Fähigkeit zur kritischen Selbstbefragung immer wieder neu entwirft und die eigene Freiheit nicht der Bequemlichkeit eines von Konventionen diktierten Lebens opfert. Jean-Paul Sartre hat dieses Ideal mit Hilfe der fiktiven Figur eines Franzosen beschrieben, der sich unter der deutschen Besatzung entscheiden muss, ob er sich den freien französischen Streitkräften in England anschließen oder seiner Mutter helfen will. Diese existenzielle Situation begreift Sartre dabei nicht nur als Dilemma, sondern auch als Chance für einen Durchbruch zu authentischem Für-sich-Sein. Dahinter steht die Vorstellung, dass personale Authentizität aufgrund gesellschaftlicher Zwänge und Selbstverständlichkeiten, in denen wir gefangen sind, ein knappes Gut ist, dessen wir eigentlich nur in schwierigen Entscheidungskrisen habhaft werden können. Nur da, wo Routinen nicht greifen, wo wir handeln müssen und nicht blind Verhaltensvorschriften folgen können, die uns in extremen Situationen keine Orientierung mehr bieten, können wir wahrhaft authentisch sein.

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Gegen die Verankerung der Authentizität im Pathos der Selbstbestimmung lassen sich jedoch auch Einwände formulieren. Auf der Ebene normativer Überlegungen, kann man kritisch fragen, ob das Prinzip des Sich-selber-treuBleibens unabhängig von den Werthaltungen, auf denen es gründet, tatsächlich immer ein positiv besetzter Wert sein muss (Bratu 2014). Auf einer grundsätzlichen Ebene kann man zudem darüber nachdenken, ob wirklich derjenige, der gegen Konventionen aufbegehrt, eine realistische Chance hat, als authentisch anerkannt zu werden. Wie wir gesehen haben, ist gerade Authentizität ein sehr flüchtiges Gut, das nur durch Zuschreibung von außen zustande kommt. Gerade der, der authentisch sein will, ist in besonderer Weise abhängig von der Bestätigung anderer, die, so könnte man in den Spuren Michel Foucaults fortfahren, v.a. das als wahr und richtig anerkennen, was anschlussfähig ist an die diskursiven Regime der Gegenwart. 2 Anerkennungsfähig, so könnte man vermuten, ist also nur die Fiktion, die sich an die Erwartungshorizonte und Konventionen derjenigen anpasst, an die sie adressiert ist (Pirker/Rüdiger 2010: 21). Freilich sagt die Erkenntnis, dass die Produzenten von Authentizitätsfiktionen nur dann Erfolg haben, wenn sie den Geschmack der Konsumenten treffen, noch nichts darüber aus, welche Ansprüche ratifiziert werden. Der kommerzielle Erfolg der Histo-Soap »The Tudors« kann als Beispiel dafür gelten, dass auch derjenige, der ausdrücklich nicht an Bekanntes und von allen Gewusstes anknüpft, Anerkennung finden kann. In bewusstem Bruch mit den Konventionen vieler historischer Darstellungen wird die Hauptfigur Heinrich VIII. hier als attraktiver junger Mann und nicht als der korpulente Herrscher porträtiert, der uns von vielen historischen Bildern vertraut ist (Takors 2010).

2 In Foucaults Ordnung der Dinge (Frankfurt 1991: 25) liest sich diese Erkenntnis so: »Aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven >Polizei< gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss.«

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Im Zweifelsfall wird das Erfolgsrezept in einer situativ auszuhandelnden Balance zwischen Anschlussfähigkeit und Eigenwilligkeit liegen. Diese Hypothese übersetze ich im Folgenden in eine Suchstrategie. Mit Blick auf die Lebensgeschichten zweier litauischer Geschichtslehrerinnen gehe ich der Frage nach, wie konventionell und angepasst an zirkulierende Narrationen, bzw. wie rebellisch und überraschend konkrete Erinnerungsnarrative und ihre Erzählerinnen im unabhängigen Litauen der Gegenwart sein müssen, um sich berechtigte Hoffnungen auf Anerkennung ihrer Person und ihrer Geschichte machen zu können. Zuvor werde ich aber im Rekurs auf Schulbücher zeigen, wie das Feld der denk- und sagbaren Positionen mit Blick auf die Deutung der sowjetischen Geschichte in Litauen aussieht.

Litauen - eine gespaltene Erinnerungskultur Litauen ist eine erinnerungskulturell zutiefst gespaltene Gesellschaft. Mit den Postkommunisten 3 und den aus dem rechten Flügel der nationalen Sammlungsbewegung Sajudis (übers.: Bewegung) hervorgegangenen Konservativen 4 stehen sich zwei annähernd gleich starke politische Kräfte gegenüber, die sich seit der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit im Jahre 1991 regelmäßig in der Regierungsverantwortung abgewechselt haben. In Fragen der Geschichtspolitik vertreten sie diametral entgegengesetzte Positionen (Cepaitiene 2004 und 2007; Safronovas 2011).

3 ich

M i t d e m e t w a s v a g e k l i n g e n d e n Etikett d e r P o s t k o m m u n i s t e n b e z e i c h n e die

litauischen

Wandlungsprozess

Reformkommunisten,

die

sich

in

einem

rasanten

1989 e r s t v o n d e r K P d S U a b g e s p a l t e n haben,

1990

in D e m o k r a t i s c h e A r b e i t s p a r t e i u m b e n a n n t e n und 2001 schließlich mit d e r w e s e n t l i c h k l e i n e r e n S o z i a l d e m o k r a t i s c h e n Partei f u s i o n i e r t e n , a b e r gleichwohl deren N a m e n übernahmen. 4

Die 1993 g e g r ü n d e t e P a r t e i heißt mit v o l l e m N a m e n

Vaterlandsunion«.

»Konservative/

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Gegenstand der Kontroverse ist ausdrücklich nicht die Gretchenfrage, wie die litauische Erinnerungskultur es grundsätzlich mit der Sowjetunion halten soll. Die UdSSR wird von fast allen als eine auf der Unterdrückung persönlicher und nationaler Freiheit beruhende staatliche Ordnung abgelehnt. Gestritten wird jedoch darüber, wie es aussehen könnte, ein gutes Leben im Schlechten, ein in moralischen Kategorien von heute anerkennungsfähiges Handeln in der ungerechten staatlichen Ordnung von damals. Im Kern geht es um das große moralische Ganze, um die Zuschreibung von Schuld und Verdienst, um die Identifikation von Helden und Feiglingen (Christophe 2010). Konservative Nationalisten würdigen als unumstrittene Vorbilder die antisowjetischen Partisanen der Nachkriegszeit, die Dissidenten der 1960er und 1970er Jahre und die katholische Kirche, also diejenigen, die sich der sowjetischen Ordnung in offenem Widerstand entgegengestellten. Sie, so heißt es immer wieder, seien die einzigen gewesen, die es geschafft hätten, sich nicht von der kommunistischen Zwangsmaschine zermalmen zu lassen. Nur ihnen habe man es zu verdanken, dass die Litauer als Nation überlebt hätten. Alle übrigen, vom kommunistischen Funktionär über den karriereorientierten Intellektuellen, der ungeniert die Privilegien genoss, die ihm der Unrechtsstaat gewährte, bis hin zum Durchschnittsbürger, der täglich tausend kleine Kompromisse mit einem Regime einging, an dessen Legitimität er niemals geglaubt hatte, sind die moralisch zweifelhaften Anderen. 5

5 Am deutlichsten wird diese Position von der litauischen Philosophin und ehemaligen Bildungsministerin Nerija Putinaite (2008) vertreten, die sich kritisch mit all denen auseinandersetzt, die behaupten, in den sowjetlitauischen Institutionen für das Wohl der litauischen Nation gearbeitet zu haben. Aus ihrer Perspektive glich das Leben in dem von ihr als totalitär bezeichneten Sowjetlitauen einem permanenten moralischen Dilemma, weil man stets entscheiden musste, was man sein wollte: ein guter Bürger oder ein guter Mensch. Man habe immer nur eines von

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Die postkommunistische Linke erzählt dieselbe Geschichte ganz anders. Hier werden die Dissidenten zur Zielscheibe von Kritik. In Kategorien eines verantwortungsethischen Diskurses wird ihnen dabei zwar nicht die noble Gesinnung, wohl aber jeder Rückhalt in der Bevölkerung abgesprochen. Zur respektablen und zur Nachahmung einladenden Figur wird am ehesten noch der national gesinnte staatliche Funktionär aufgebaut. Er, der in einem mitunter schmerzhaften inneren Aushandlungsprozess immer wieder bereit sein musste, sein wahres Gesicht, seine wahren Überzeugungen hinter einer Maske der Anpassung zu verbergen, er, der nur deshalb alles daran setzte, eine Karriere in den offiziellen Strukturen der Macht zu machen, um seine Position zum Wohle der litauischen Nation zu nutzen, erscheint als der eigentliche Held. Er hat nicht nur mehr erreicht für Volk und Nation, so die zwischen den Zeilen mitgeteilte Botschaft; er hat letztlich auch mehr gelitten als diejenigen, denen es zwar äußerlich schlechter gehen mochte, die sich dafür aber den Luxus bewahren konnten, sich selber treu zu bleiben. Viele Schulbücher lassen sich einem dieser beiden Lager zuordnen.6 Zur Scheidelinie wird dabei die Frage, wer als Identifikationsfigur taugt. Die einen würdigen auch den anpassungsbereiten Intellektuellen und sogar den sowjetlitauischen Funktionär als für die Gegenwart taugliches moralisches Vorbild. Die Haltung der litauischen Führung unter dem langjährigen Parteichef Antanas Snieckus, der von 1940 bis zu seinem Tod im Jahr 1974 im Amt war, wird so z.B. explizit in Kategorien von »Widerstand« beschrieben, der erst zur »Geburt von oppositionellen Stimmungen« (Vaga 2000: 441) und Jahrzehnte später schließlich folge-

beiden, niemals beides zugleich sein können in einem System, das auf der Verallgemeinerung der Lüge beruhte. 6

Grundsätzlich

zeichnet

sich

der

litauische

Schulbuchmarkt

durch

Pluralität aus. Es gibt mittlerweile sechs g r ö ß e r e Verlage, deren Schulbücher regelmäßig von einer Schulbuchkommission genehmigt werden. Schulen können selbständig entscheiden, mit welchen Büchern sie arbeiten wollen.

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Was war der sowjetische Sozialismus?

richtig zur Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit geführt habe (Vaga 2000: 443). Im Ergebnis entsteht im Schulbuch von heute das Bild einer national geeinten Gesellschaft von damals. Bis in die Führungsriegen von Partei und Staat hinein, so scheint es, leisteten in der Sowjetzeit alle Widerstand. Andere Schulbücher und Verlage rücken hingegen das Motiv der zutiefst gespaltenen Gesellschaft in den Vordergrund. Sie betonen die tiefen Gräben zwischen denen, die »die von der Macht erhaltenen Privilegien genossen« und denen, die »arm und elend blieben« (Briedis 2007: 182). Auffällig ist, dass auch hier Intellektuelle und Künstler auf der einen und Parteifunktionäre auf der anderen Seite einer Kategorie zugeordnet werden. Diesmal bilden sie allerdings keine verschworene nationale Kampfgemeinschaft, sondern eine Clique von Schurken, die bereit sind, für bessere Wohnungen und ein bisschen Luxus tausendfachen Verrat an der eigenen Nation zu begehen. Die litauischen Kommunisten, so lernen wir in einer Passage, die sich ausdrücklich auf die gesamte Zeit der Sowjetherrschaft in Litauen bezieht, »verwarfen das ganze kulturelle Erbe des Landes« (ebd.: 189). Die Nomenklatura und all diejenigen, »die der Macht nahe waren [...] beuteten die übrigen Einwohner des Landes aus« (ebd.: 198). Die Intellektuellen, die eigentlich kein Recht hatten zu schweigen, wurden zu »treuen Dienern der Okkupanten« und »impften mit ihren Werken der Gesellschaft die Ideologie des Kommunismus ein«. Selbst der Blick auf die Mehrheit der Gesellschaft fällt hier recht kritisch aus, wenn es etwa heißt, Widerstand sei zu einer »Sache der Minderheit« geworden, weil sich die meisten Menschen »an das System angepasst« und eine »Maske der Loyalität gegenüber der Sowjetmacht« aufgesetzt hätten. Das Resultat einer solchen Anpassung, so betonen die Autoren, sei eine Situation gewesen, in der die »Moral und das Denkens verstümmelt« worden seien, eine Situation, in der die »Menschen gezwungen waren, an nichts zu glauben, zu heucheln« (ebd.: 182), eine Situation schließlich, in der viele

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zu Denunzianten wurden, die »die kleinste Kleinigkeit dem KGB« berichteten (ebd.: 191). Diese Differenz führt auf einer Reihe von Ebenen zu weiteren, gegensätzlichen Akzentsetzungen. Schulbücher des ersten Typs, die den Marsch durch die sowjetischen Institutionen rechtfertigen, üben so z.B. auch verhaltene Kritik am antisowjetischen Widerstand. Den Partisanen, die bis in die 1950er Jahre die Sowjetmacht mit der Waffe in der Hand bekämpften, wird indirekt vorgeworfen, mit ihrem vermeintlichen Heldentum nur »unnötige Opfer« produziert zu haben (Vaga 2000: 450). Die Dissidenten der 1960er Jahre werden als »Grüppchen von Gleichgesinnten« (ebd.: 449) dargestellt, die eine letztlich nutzlose Sisyphusarbeit verrichteten, weil sie meist schon vom KGB zerschlagen wurden, bevor sie überhaupt die engen Grenzen persönlicher Freundeskreise überschreiten konnten. Ganz anders die Schulbücher des zweiten Typs. Die Partisanen sind hier diejenigen, die sich für das Richtige entschieden haben. Sichtbar wird das durch die Gegensatzpaare, die konstruiert werden. Der Mut der Partisanen hebt sich ab von der Furcht derjenigen, die vor der »Grausamkeit der Sowjets in den Westen« geflüchtet sind. Ihre moralische Standfestigkeit steht in Kontrast zu der Verworfenheit der »lokalen Verräter« (Briedis 2007). Wenn hier von zunehmender Isolation die Rede ist und es heißt, dass sie »ausgestoßen« waren und »wütender als wilde Tiere gejagt wurden« (ebd.), dann deutet sich dahinter auch Verachtung für all diejenigen an, die sie im Stich gelassen und den Weg der Anpassung gewählt haben. Andere Schulbücher konzentrieren sich eher darauf, die Sinnlosigkeit des Partisanenkampfes herauszuarbeiten und Anpassung als eine alternativlose, rationale Strategie zu rechtfertigen. Dort lesen wir dann eher davon, wie müde und erschöpft die Menschen von dem ewigen Anblick der zu Leichenbergen aufgeschichteten toten Partisanen auf den Plätzen der Dörfer und Landstädte waren (Kronta 1998: 203). Eine weitere wichtige Differenz wird da sichtbar, wo Schulbücher auch auf die ökonomischen, kulturellen und so-

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zialen Modernisierungserfolge des sowjetischen Sozialismus in Litauen verweisen und damit gleichzeitig eine kritische Distanz zum konservativen Litauen der Zwischenkriegszeit erkennen lassen. Da ist von dem rasanten Anstieg der Industrieproduktion und Urbanisierung die Rede, von einem »kulturellen Wandel«, der auch »das persönliche Leben berührte« und als »Befreiung aus Traditionen«, als »Stärkung der Unabhängigkeit des Einzelnen von der konservativen Gemeinschaft« spürbar wurde (Vaga 2000: 445). Deutlich klingt da ein Motiv an, das man aus der Memoirenliteratur im heutigen Litauen kennt. Manch ein Künstler oder Intellektueller erklärt seine Anpassung an das sowjetische System auch mit einer gewissen Dankbarkeit. Erst der Sozialismus, so erinnern sich nicht wenige, habe ihnen, den Söhnen von Tagelöhnern, den rasanten Bildungsaufstieg ermöglicht. Undenkbar sind solche Töne in den konservativer ausgerichteten Schulbüchern. Mit Blick auf Sowjetlitauen dominiert hier der Eindruck von Chaos, moralischer Degradierung, allgemeiner Verkommenheit. All das ist eingebaut in eine verschwörungstheoretische Erzählstruktur. Von Kolchosbauern liest man hier, die endlos trinken, rauchen und streiten, die zur Arbeit gehen und nicht wissen, was sie tun sollen; von Brigadiers die betrunken durch die Gegend taumeln (Briedis 2007: 187), von Soldaten, die wie Tiere gehalten werden (ebd.: 186) und von einem Regime (ebd.: 201), das die Menschen absichtsvoll mit allerlei nutzloser Arbeit und Herumstehen in Warteschlangen auf Trab hält - all das in der Absicht, sie vom selbständigen Denken abzuhalten (ebd.: 202). Was hier zweifelsohne durchschlägt ist der Diskurs der Dissidenten, der auch deshalb mit tiefer Verachtung vom sowjetischen Alltag spricht und gesprochen hat, um sich seine gesellschaftliche Marginalisierung und Isolation erträglicher zu machen (Christophe 1997). Wenn ich folgend untersuche, wie Geschichtslehrerinnen, die mit diesen Büchern unterrichten, aber gleichzeitig auch Zeitzeugen der dort verhandelten Ereignisse waren, über ihr Leben in der sowjetischen Zeit sprechen, dann interessiert mich dabei v.a., welche Spuren die gerade skizzierte

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erinnerungskulturelle Konstellation in ihren Geschichten hinterlässt. Wie erzählt man eine Vergangenheit, über die es keinen gesellschaftlichen Konsens gibt? Wie rahmt man seine persönlichen Erinnerungen, wenn man nicht auf eindeutige kulturelle Vorgaben zurückgreifen kann? Und wie inszeniert man seine Person und seine Erzählung unter solchen Bedingungen als authentisch? Vorstellen möchte ich die Erzählungen zweier Frauen, die mit diesen Herausforderungen sehr unterschiedlich umgehen und gerade aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit damit einen konzentrierten Einblick in das kulturell verfügbare Repertoire an Strategien geben.

Adele oder das Authentische als das narrativ nicht zu Bändigende Beginnen möchte ich mit Adele.7 1951 im Nordosten Litauens geboren, wächst sie als Tochter litauischer Kolchosbauern auf, die tief verwurzelt sind in der konservativen Kultur des litauischen Dorfes. Ihre Heimatregion wird sie nur einmal verlassen. Ende der 1960er Jahre geht sie fünf Jahre nach Vilnius, in die Hauptstadt, um dort Geschichte zu studieren. Zur Zeit des Interviews, das am 6. November 2009 stattfand, lebt sie in einer Kleinstadt, die nicht weit von ihrem Geburtsort entfernt ist. In ihrer Familie, so erzählt sie, ist man ganz selbstverständlich katholisch und genau so selbstverständlich begegnet man allem Sowjetischen mit einer uralten Skepsis. Im Schutze dieser dörflichen Sozialisation, erzogen im Geist bäuerlicher Werte wähnt Adele sich heute offenbar sicher vor der Anschuldigung, als sowjetische Lehrerin zu sehr mit dem Sozialismus paktiert zu haben. Selbstbewusst grenzt sie sich von dem konservativen Diskurs ab, den sie als hegemonial wahrnimmt.

7 Die Namen der beiden litauischen Geschichtslehrerinnen sind verändert worden, um ihre die Anonymität zu wahren.

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Dabei argumentiert sie wenig. Sie positioniert sich durch die Geschichten, die sie erzählt und mit denen sie immer wieder ein Lob auf die Amivalenz ausspricht. Allerdings entsteht Ambivalenz nicht in den Geschichten. Sie bildet sich eher in dem Raum heraus, der sich zwischen ihnen auftut. Adele entwirft einen sorgsam durchkomponierten Reigen von Erzählungen, in denen es auf beiden Seiten des ideologischen Grabens, aufseiten der Anhänger wie der Gegner des sowjetischen Systems gute und schlechte Menschen gibt. Zum Prototyp des guten Kommunisten wird ihr eigener Vater. Der lässt sich 1940 nur deshalb von den Sowjets zum Dorfvorsitzenden machen, weil er als ehemaliger Knecht und geschützt durch seine soziale Herkunft aus der vom neuen Regime ideologisch aufgewerteten Dorfarmut noch am ehesten darauf hoffen konnte, die neuen Machthaber zur Rücksichtnahme auf lokale Interessen bewegen zu können. Der Parteichef der Kleinstadt, in der Adele lange Jahre arbeitet, gehört zur selben Kategorie. Er treibt nicht nur faule Funktionäre an, sondern setzt sich auch erfolgreich für den Erhalt eines Denkmals für den mittelalterlichen Großfürsten Vytautas ein, der als Verkörperung der goldenen Zeiten des litauischen Mittelalters zu Sowjetzeiten nicht sonderlich wohl gelitten war. Adele ist aber keine Nostalgikerin. Sie erzählt auch von moralisch verwerflichen Kommunisten. Da ist z.B. der Kolchosvorsitzende aus der Zeit ihrer Kindheit, der sie fast um den Lohn geprellt hat, den sie sich als Schülerin durch das Hüten von Schafen verdient hat. Oder der Mann einer ihrer Dozentinnen, der als KG B-Offizier persönlich an der Erschießung von Litauern beteiligt war und den sie als einen furchterregenden Menschen schildert. Auch wenn sie von den Gegnern der Sowjetmacht erzählt, setzt sich Adele bewusst zwischen die Stühle. Als Gesamtpaket passen die Episoden, an die sie sich erinnert, w e d e r in das konservative noch in das postkommunistische Raster. Mit Konventionen und Erwartungen bricht schon die Geschichte, die sie uns von den klassischen Dorfhonoratioren aus der Zeit der bürgerlichen Republik der Zwischenkriegs-

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zeit anbietet. Im Jahr 1941, so berichtet sie, haben der Pfarrer, der Lehrer und der Vorsitzende des Schützenvereins in ihrem Heimatdorf, die wir mit Blick auf ihren sozialen Status eigentlich alle zu den Gegnern der Sowjetmacht zählen können, ihrem Vater das Leben gerettet. Litauische Nationalisten waren kurz davor, ihn nach dem Einmarsch der Deutschen im Sommer 1941 wegen Kollaboration mit den Sowjets zu erschießen. Vorbildfunktion, das lernen wir aus dieser Geschichte, haben für Adele Menschen, die sich ihr Handeln nicht von der Zugehörigkeit zu einem politischen Lager diktieren lassen. Dieses Kriterium erfüllt zweifellos auch der Pfarrer, der schon zu Sowjetzeiten ihre beiden Kinder getauft hat, dabei allerdings großzügig darauf verzichtete, diesen Akt ins Taufregister einzutragen. Damit ersparte er Adele Ärger mit den sowjetischen Behörden, die von einer Lehrerin erwarteten, dass sie die Kirchgänger unter ihren Schülern und Schülerinnen anzeigt und nicht etwa selber einem aus sowjetischer Perspektive überholten Glauben anhängt. Viele Menschen scheitern allerdings an Adeles moralischen Maßstäben. In Rage gerät sie, als sie an all die Menschen in ihrem Dorf zurückdenkt, die in den 1950er Jahren einem 15-jährigen Jungen das Leben zur Hölle gemacht haben, weil er als einer der ersten dem wachsenden Druck nachgegeben hatte und in den Komsomol, den kommunistischen Jugendverband, eingetreten war. Voller Empörung spricht sie über einen Pfarrer, der damals nicht einmal davor zurückschreckte, einem Lehrerkollegen von Adele, dessen Mutter gerade gestorben war, noch auf der Beerdigung vorzuwerfen, mit der antireligiösen Propaganda, die er in der Schule verbreite, die unschuldigen Seelen litauischer Kinder zu morden. Mit vielen Erzählungen über die Gegner der Sowjetmacht fällt Adele zudem den Helden- und Leidensgeschichten der Konservativen ins Wort. Bei ihr sind die Partisanen keine tapferen Heroen, die im Wissen um ihre sichere Niederlage einen mutigen Kampf gegen eine überlegene Macht führten. In ihren Augen sind sie vielmehr bis weit in die 1950er Jahre

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hinein die heimlichen Herren des litauischen Dorfes. Vor ihnen und ihrer Rache fürchtet sich die Dorfbevölkerung. Sie bestimmen, wer Dorfvorsteher werden kann und wer nicht. Aus Angst vor ihnen kann Adeles Schwester nicht in den Komsomol eintreten und darf deshalb kein Abitur machen. Ähnlich verfährt Adele mit den Rückkehrern aus den sibirischen Straflagern. Sie beschreibt sie nicht als bedauernswerte Opfer stalinistischer Repressionen, sondern fast schon als Privilegierte, die mit Pelzmänteln, Lederstiefeln und Taschen voller Geld in ihrem Dorf herumspazierten, während alle anderen vom Tausch lebten und nur Wattejacken und Filzstiefel besaßen. Die litauische Dissidentin Nijole Sadunaite, die heute von vielen wie eine Heilige verehrt wird und als junge Frau offenbar in derselben Kolchose gelebt hat wie eine Freundin von Adele, porträtiert sie nicht als duldsame Märtyrerin, sondern als verwöhnte und bequeme Nörglerin, die sich offenbar für etwas Besseres hielt und sich deshalb dauernd vor unangenehmen Arbeiten drückte. Betrachten wir nach diesem kurzen Einblick in ihre Lebensgeschichte nunmehr die Strategien, mit Hilfe derer sie Authentizität generiert ohne je dieses Wort zu benutzen. Dabei fällt zunächst ins Auge, wie viel Sorgfalt sie darauf verwendet, sich nicht nur als glaubwürdige Person, sondern auch als echte Litauerin einzuführen. Unter den zwanzig Lehrerinnen, die wir interviewt haben, ist sie die einzige, die mit detaillierten Erzählungen über ihre Familie in ihre Lebensgeschichte einsteigt. Adele arbeitet hart an ihrer personalen Authentizität. Sie präsentiert sich als Kind litauischer Bauern, die traditionell als diejenigen galten und gelten, die auch in Zeiten der Unterdrückung an den echten litauischen Traditionen festgehalten haben, die aber gleichzeitig auch in dem Ruf stehen, zu pragmatisch, zu bodenständig zu sein, um sich für versponnene Ideen zu interessieren. Mit allem, was Adele von sich erzählt, bedient sie beide Aspekte. Sie ist natürlich Kirchgängerin auch unter widrigen Umständen. Sie engagiert sich heute natürlich in einem Kreis von Heimatforschern. Genauso natürlich grenzt sie sich aber von Prinzipienreiterei und romantischem Über-

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schwang ab. Schon als junge Frau begegnete sie denen, die voller Ehrfurcht von Romas Kalanta sprachen, dem jungen litauischen Dissidenten, der sich 1972 aus Protest g e g e n die Sowjetmacht selber verbrannt hatte, vornehmlich mit Ablehnung und Misstrauen. Ihr schien das verlogen zu sein, wenn Menschen sich für einen Selbstmord aus patriotischen Motiven begeisterten, der sie entsetzt hätte, wäre es dabei um die eigenen Kinder gegangen. Im Ergebnis wird sie zu einer Person, die das echte, das ursprüngliche Litauen verkörpert und die gleichzeitig j e d e r Übertreibung mit Skepsis begegnet. Mit anderen Worten, vor dem Hintergrund konventioneller, ja sogar konservativer Werte, entwirft sie sich als Menschen, dem man vertrauen kann, weil er die richtige Herkunft hat und weil er zudem viel zu nüchtern für Lügen und Phantastereien ist. In dem Bemühen, das Bild von Sowjetlitauen, das sie mit ihrer Lebensgeschichte zeichnet, als authentisches Abbild der historischen Wirklichkeit erscheinen zu lassen, greift Adele zu anderen Strategien. Auffällig ist zunächst, wie kohärent und gut durchkomponiert ihre Gesamterzählung ist. Jedes Detail fügt sich harmonisch in den erzählerischen Bogen ein, den sie mit einem klaren Ziel vor Augen schlägt. All ihre Erzählungen lassen sich als Aufstand gegen die künstlich gebändigten und im Namen ideologischer Wahrheiten zurechtgestutzten Geschichten lesen, die man z.B. in Schulbüchern finden kann. Fast scheint es, als wolle Adele uns, ihre Zuhörer zwingen, all das zu sehen und zu entdecken, das niemals aufgehen wird, niemals einen Platz finden wird in den vorgestanzten erzählerischen Rahmen, die im öffentlichen Raum zirkulieren. Sie macht sich zum Fürsprecher, ja zum Anwalt des Ambivalenten, das sie immer wieder als das Echte, das dem Menschen Gemäße schildert. Sich selber inszeniert Adele als rebellischen Geist, der sich den Blick auf die historische Wirklichkeit von keinen Konventionen und Stereotypen verstellen lässt. Sie verkündet Wahrheiten, die auch deshalb plausibel wirken, weil sie allen widersprechen, den Postkommunisten ebenso wie den Konservativen. Sie zeigt sich als unabhängiger Querkopf, der authen-

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tisch ist, weil ihn Autonomie und Originalität des Denkens auszeichnet. Aber natürlich folgt auch Adele Konventionen. Natürlich hat auch sie keinen unmittelbaren Zugriff auf Erfahrung. Ihre Geschichten sind eingebettet in ein ganzes Set narrativer Rahmen, die dasselbe meinen, allerdings in unterschiedlichen diskursiven Traditionen verwurzelt sind. Wahrscheinlich eher unbewusst knüpft sie z.B. an die moraltheoretischen Überlegungen von Baruch de Spinoza an, der immer wieder darauf hingewiesen hat, dass es das universal Gute oder Böse nicht gibt, weil es immer von ganz konkreten situativen Kontexten abhängt, ob etwas gut oder böse ist. Sehr viel deutlicher sind ihre Anleihen bei literarischen und filmischen Vorlagen aus der Zeit des Tauwetters in den 1960er Jahren. In dieser künstlerisch enorm produktiven Zeit entstanden auch in Sowjetlitauen eine Reihe von Filmen und Romanen, die etwa den Krieg zwischen antisowjetischen Partisanen und der Sowjetmacht in der unmittelbaren Nachkriegszeit als eine klassische Tragödie darstellten. Am bekanntesten ist sicher der Film »Niemand wollte sterben«, der 1966 in die Kinos kam. Im Stil eines Westernfilms schildert der litauische Regisseur Vytautas Zalakevicius die Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit hier als einen von Fanatikern auf beiden Seiten in Gang gehaltenen Rachefeldzug. Ein ähnliches Bild entwirft der Roman »Die Himmelsleiter«, den Mikolas Sluckis im selben Jahr veröffentlichte. Zu Identifikationsfiguren werden in beiden Fällen die einfachen Menschen, die unter beiden Parteien gleichermaßen leiden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Adele an diese Diskurse anknüpft. Auch in ihrem Bemühen mit Konventionen zu brechen, folgt sie also Konventionen. Allerdings sind dies nicht die Konventionen ihrer Gegenwart.

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Dalia oder der Schmerz als Indiz für das Authentische In gewisser Weise scheint Dalia das genaue Gegenteil von Adele zu sein. Ihr mangelt es nicht nur an Selbstbewusstsein. Anders als Adeles kohärent strukturierte Biographie ist Dalias Geschichte bruchstückhaft und widersprüchlich. Sie wird 1959 in einer ländlichen Kleinstadt im Südosten des Landes geboren, in der sie auch 2010, zum Zeitpunkt des Interviews wieder lebt.8 Nach ihrem Geschichtsstudium in Vilnius zieht sie Anfang der 1980er Jahre erst in eine andere Gegend, kehrt aber Anfang 1993 in ihre Heimatstadt zurück. Ihre Mutter, die wie sie selbst Lehrerin war, verfügt dort über einigen Einfluss. Wohl auch deshalb sucht Dalia dort Zuflucht als die politische Wende sie und ihren Mann Anfang der 1990er Jahre in eine tiefe Krise stürzt. Genaues erzählt sie nicht. Vieles erfahren wir nur durch Andeutungen. Ihr Mann, der zu Sowjetzeiten Parteisekretär war, ist nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, so merkt sie einmal knapp an, offen angefeindet worden. Sie selber kann zwischen 1993 und 1996 nicht arbeiten. Fürchterlich erschöpft sei sie gewesen, erklärt sie. Die Ursachen für ihren Zusammenbruch können nie klar benannt werden. Unausgesprochen bietet sie uns mit einer Geschichte über eine tiefe Beschämung aber eine Erklärung an. Diese Episode, die sich 1987, also in der unmittelbaren Vorwendezeit zugetragen hat, bildet das Zentrum ihrer biographischen Erzählung. Immer wieder kommt sie darauf in abgehackten Sätzen zurück, die immer wieder abbrechen und mühsam neu ansetzen. Was war geschehen? 1987 war das Jahr, in dem die litauische Öffentlichkeit erstmals von den Demonstrationen erfährt, mit denen die litauischen Dissidenten an bislang tabuisierte Schlüsseldaten aus der litauischen Geschichte des 20. Jahrhunderts erinnern (Christophe 1997). Das Regime reagiert damals fast schon panisch. Hastig organisiert es öffentliche Gegenver-

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Das Interview fand am 22. Januar 2010 statt.

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anstaltungen, auf denen Prominente auftreten müssen, um in einem von manchen als demütigend empfundenen Ritual die offizielle Version einer Geschichte zu vertreten, an die damals, nach den kritischen Veröffentlichungen der Perestroika-Zeit, kaum einer mehr glaubte. Dies passiert offenbar auch an Dalias Schule. Sie selbst muss in der Aula vor die Schüler treten und gegen die Dissidenten wettern. In dem Versuch, die Erinnerung an dieses Ereignis, das ihr immer noch die Schamesröte ins Gesicht treibt, erzählerisch zu bewältigen, pendelt sie immer wieder zwischen zwei unterschiedlichen erzählerischen Rahmen. Mal beschwört sie wie die Postkommunisten den repressiven Zwang des Regimes, dem sich niemand entziehen konnte. Sie habe gar nicht anders handeln können, als sie es damals tat, erklärt sie und beruft sich damit auf Alternativlosigkeit als Entlastungsgrund für opportunistisches Verhalten. Die Beschwörung der schlimmen Folgen, die sie getroffen hätten, wenn sie sich damals widersetzt hätte, überlässt sie dabei den Kolleginnen von damals, die ihr in dieser für sie so schwierigen Situation offenbar Trost zusprachen und ihr versicherten, dass sie keine andere Chance hatte als bei der peinlichen Maskerade mitzumachen. Sie ruft sich und uns in Erinnerung, dass ihr angepasstes Verhalten damals nicht nur sozial akzeptabel war, sondern zudem auch keinen nachhaltigen Schaden angerichtet hat. Selbst ihre Schüler hätten den Inszenierungscharakter der Veranstaltung durchschaut. Außerdem hätten selbst sie damals verstanden, dass sie als Lehrerin gar nicht anders konnte als mitzumachen, weil »das so eine Politik, so eine Macht ist«. Und doch, die Stimme ihres eigenen Gewissens kann Dalia mit solchen Argumenten nicht zum Schweigen bringen. Immer wieder beschwört sie mit schmerzlicher Klarheit das Bild von der unerträglich schizophrenen Situation in der sie zu jener Zeit steckte. Sie, die doch schon damals von den unerträglichen Lügen der sowjetischen Historiographie wusste, sie, die schon damals die »wahre« Geschichte kannte, wie sie es ausdrückt, musste dort auf dieser Tribüne stehen, lächerlich anzusehen bei der Verkündung von längst

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demontierten »Wahrheiten«. Immer wenn ihr dieses Bild vor Augen steht, setzt sie zu einer kritischen Selbstbefragung an. Vielleicht war der Zwang damals gar nicht so übermächtig, fragt sie sich und uns. Vielleicht hätte sie mutiger sein können? Vielleicht wäre es doch gegangen, sich nicht demütigen zu lassen, den eigenen Überzeugungen treu zu bleiben und trotzdem weiter ein unbescholtenes Leben zu führen? Angetrieben werden solche Zweifel von dem Wissen, dass es damals auch in ihrem eigenen sozialen Umfeld schon den einen oder anderen Dissidenten gab, der sich geweigert hatte, in den Komsomol einzutreten und dennoch nicht daran gehindert wurde, ein Studium aufzunehmen. So unvorstellbar hoch wäre der Preis gar nicht gewesen, wenn sie damals mehr Rückgrat gezeigt hätte, suggeriert sie uns mit solchen Andeutungen. Eigentlich hätte sie sich nur ein Beispiel an ihrem Cousin nehmen müssen, deutet sie einmal zwischen den Zeilen an. Der trug die soziale Ächtung, die ihn als westlich-dekadenten Hippie mit den langen Haaren zu Sowjetzeiten traf, mit Gleichmut. In dem moralischen Zwiespalt, den sie mit diesen beiden gegensätzlichen Perspektiven auf ein und dasselbe existenziell beschämende Ereignis heraufbeschwört, bleibt Dalia bis zum Schluss gefangen. Mit Blick auf die Strategien, die Dalia anwendet, um sich als Erzählerin, aber auch ihre Erzählung als authentisch zu präsentieren, fällt zunächst auf, dass ihr Schwerpunkt eindeutig auf der Generierung personaler Authentizität liegt. Anders als Adele leitet sie diese allerdings nicht aus ihrer Herkunft ab. Nicht ihre familiären Wurzeln, nicht ihre Identität als Litauerin, ihre eigene Person steht im Zentrum ihrer Bemühung um Glaubwürdigkeit. Analytisch können wir zwischen drei Weisen der Authentisierung unterscheiden. Zunächst zeigt sie sich als Person, die zu unerbittlicher Selbstbefragung in der Lage ist. Selbst dort, wo sie etwas offenbaren muss, das gemessen an universalen Standards ein schlechtes Licht auf sie werfen muss, selbst dort, wo sie als willensschwacher Mensch in Erscheinung tritt, der sich aus Feigheit für eine Handlungsoption entscheidet um deren moralische Fragwürdigkeit er weiß, wendet sie den

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Blick nicht ab. Damit verkörpert sie eine Form der reflexiven Authentizität die Allessandro Ferrero (1993, 1998) als Fähigkeit beschreibt, auch die weniger erwünschten Aspekte seines Selbst nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu offenbaren. Fast ist es, als wolle sie uns sagen, jemand der sogar eine derart beschämende Geschichte erzählt, wird auch in anderer Hinsicht nicht lügen. Ein ähnlicher Effekt geht von ihrer Erzählweise aus. Dalia ringt hörbar mit ihren Worten und Sätzen. Ihre Sprache ist gehetzt, abgehakt. Kaum ein Satz gelingt beim ersten Ansatz. Immer wieder, so scheint es, muss sie einen neuen Anlauf nehmen, um die Geschichte, die sie noch heute quält, erzählen zu können. Beim Zuhören entsteht ein ähnlicher Eindruck, wie ihn die verwackelten, mit Handkamera aufgenommenen Bilder erzeugen, die in manchen Dokumentarfilmen als Authentizitätssignal eingesetzt werden. Am überzeugendsten wird Dalia aber vielleicht in dem Moment als authentische Person erfahrbar, in dem sie dem Schmerz Ausdruck verleiht, den ihre beschämenden Erinnerungen heute immer noch bei ihr auslösen. Genau dieser Schmerz wird zum untrüglichen Indikator für die Authentizität dessen, was sie unbedingt erzählen will, was sich der Narrativierung aber immer wieder entzieht. Im Ausdruck des Schmerzes, das beschreibt schon Helmut Lethen (1996), scheint der Mensch der Masken beraubt, die er anlegt, um gesellschaftsfähig und akzeptabel zu scheinen. Wer für sich und sein Selbstbild Schmerzhaftes erzählt, so könnte man vielleicht noch hinzufügen, scheint dem Vorwurf des interessegeleiteten Erzählens zu entgehen. Im Gegensatz zu der Sorgfalt, die sie entfaltet, um als authentische Person anerkannt zu werden, investiert Dalia nur wenig Mühe in die Authentisierung des von ihr Erzählten. Das braucht sie vielleicht auch nicht, weil sie mit ihrer eher konventionellen Geschichte eines repressiven Sowjetsystems, das zu Lüge und Verrat zwingt, sehr nah dran bleibt an den Wahrheiten des konservativen Diskurses, den fast alle der von uns interviewten Lehrer und Lehrerinnen als hegemonial wahrgenommen haben.

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Was bleibt? Vergleicht man abschließend die Lebensgeschichten der beiden Lehrerinnen, stößt man auf eine interessante Konstellation von Konvergenzen und Divergenzen. Sowohl Adele als auch Dalia vollziehen eine Doppelbewegung. Beide knüpfen nicht nur an Konventionen an, beide brechen diese auch. Zum einen suchen sie Anschluss an Deutungsmuster und Stereotypen aus den Diskursen ihrer Gegenwart. Zum anderen zeigen sie sich bemüht, ihre Glaubwürdigkeit durch den Ausbruch aus den Bahnen des Gewohnten und Gewöhnlichen unter Beweis zu stellen. In der darin zum Ausdruck kommenden Mischung aus Vertrautem und Neuem, aus Konventionellem und Eigenwilligem liegt vielleicht grundsätzlich der Schlüssel zu einer erfolgreichen Durchsetzung von Ansprüchen auf prekäre Authentizität. Auffällig ist jenseits dieser Gemeinsamkeit allerdings, dass Adele und Dalia personale und materielle Authentizität nicht nur unterschiedlich generieren, sondern auch jeweils unterschiedliche Akzente setzen. Während Adele sich als konventionelle Person konstruiert, die unkonventionelle Geschichten erzählt, entwirft sich Dalia als ein in ihrer Bereitschaft zur Selbstoffenbarung eher unkonventioneller Mensch, der eine an den Konventionen des konservativen Diskurses orientierte Geschichte anbietet. Zudem rufen beide recht unterschiedliche Werte auf. Adele inszeniert sich mit ihren quer zu allen öffentlichen Diskursen liegenden Geschichten und Porträts als undogmatische Pragmatikerin. Ähnlich wie die Denker der Aufklärung, die sich mit dem Absolutheitsanspruch der Kirche auseinandersetzen mussten, setzt sie wohl auch vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit Dogmatismus und Konformismus Authentizität mit Autonomie gleich. Dalia, die durch eine beschämende Erfahrung sichtbar Verwundete, die ihre Wunden nicht versteckt, sondern vorzeigt und zum Thema macht, folgt eher dem Ideal der kritischen Selbstbefragung. Überhaupt fällt auf, dass Dalia in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung vornehmlich auf sich selbst blickt. Um ihr eigenes Handeln geht es, wenn

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sie darüber nachdenkt, was richtig und was falsch ist. Bei Adele stellt sich das ganz anders dar. Sie bringt ihre eigenen Werthaltungen und Überzeugungen in der Auseinandersetzung mit anderen zum Ausdruck und erzählt dabei deutlich weniger über sich selbst. Abschließend möchte ich noch auf zwei aus meiner Sicht zentrale Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Erzählerinnen aufmerksam machen. Zum einen bieten beide, eingewoben in ihre Lebensgeschichten, Deutungen des Sozialismus an, die in keinen der beiden Typen von Schulbuchgeschichten hineinpassen, die ich eingangs skizziert habe. Adele spannt mit ihren Geschichten und Episoden geradezu eine Grauzone auf, die quer liegt zu linken und rechten Narrativen, die auch Eingang gefunden haben in Schulbücher. Dalia scheitert immer wieder in dem Versuch, ihre persönlichen Erlebnisse in eins der beiden etablierten Erzählschemata einzupassen. Mit ihrer kritischen Selbstbefragung fällt sie dem pauschalen Freispruch ins Wort, den die Linken allen ehemaligen Funktionären gewähren. Mit ihrem Werben um Verständnis für ihren damals aus Angst geborenen Opportunismus widerspricht sie dem nicht weniger pauschalen Urteil, das die Rechten über alle sprechen, die nicht im Widerstand waren. Zum anderen erzählen beide ambivalente Geschichten. Bei Adele ist Ambivalenz ein bewusst eingesetztes Strukturprinzip, mit dem sie zeigen will, dass eine komplizierte Wirklichkeit nie ganz in Eindeutigkeit suggerierenden Begriffen aufgeht. Bei Dalia ist Ambivalenz eher etwas, das ihr passiert, weil sie an der endgültigen narrativen Bändigung des Erlebten scheitert. Die Wirkung des Ambivalenten ist aber vielleicht in beiden Fällen recht ähnlich. Im therapeutischen Kontext gilt zu viel Ambivalenz oft als Indiz dafür, dass ein Mensch Schwierigkeiten hat, seine Vergangenheit in sein aktuelles Selbstbild zu integrieren. Von Adele und Dalia können wir lernen, dass Ambivalenz auch eine mächtige Ressource sein kann. Wenn man darauf verzichtet, verbindlich zu definieren, was geschehen ist, wenn man sich mit Blick auf die eigenen Handlungsabsichten nicht eindeu-

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tig festlegt, dann kann das auch einen produktiven Raum zwischen Vergangenheit und Gegenwart öffnen, der es erlaubt, die Frage nach moralischer Verantwortung und persönlichen Handlungsmöglichkeiten immer wieder neu zu stellen. Besonders Dalias Geschichte zeigt, die nicht gelingende Narrativierung hält die Wunde offen. Sie erzählt sich nicht aus ihrer Scham heraus. Ihre Geschichte ist authentisch, weil sie weiterhin schmerzt.

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Der erinnerte A u f s t a n d

Kurzman, Charles: »Uzbekistan: The Invention of Nationalism in an Invented Nation«, in: Critique 15 (1999), S. 77-98. Manz, Beatrice F.: »Central Asian Uprisings in the Nineteenth Century: Ferghana under the Russians«, in: Russian Review 46 (1987), S. 267-281. Ma'sumi, N.: »Stirisi Vose' va surudhoi ta'rixl. >Sarqi surxheritageFührer der Gläubigern an. Seit den 1970er Jahren fordert sie den (gewaltlosen) Umsturz. Offiziell ist die Bewegung verboten, ihre Aktivitäten werden jedoch toleriert. Schon Ende der 1970er Jahre wandte sich der Gründer, Scheich Abdessalam Yassine, in einem offenen Brief mit der ironischen Anrede: »Lieber Neffe des Propheten,« an den König. Yassine wurde aufgrund dieser bewussten Anzweifelung der Abstammung vom Propheten zunächst für zehn Jahre in die Psychiatrie eingewiesen und anschließend bis zum Jahr 2000 unter Hausarrest gestellt.

Die Umwertung des Treueeids

Der Begründer der heute herrschenden Alawidendynastie, Moulay Raschid, starb 1672. Unter ihm gelang erstmals die Konsolidierung des Herrschaftsgebiets mit Süd- und Nordmarokko. Sein Nachfolger, Moulay Ismail, baute die Idee eines Zentralstaates mit einem stehenden Sklavenheer aus. Ihm gelang 1684 die Eroberung des englisch besetzten Tangers an der Meerenge von Gibraltar sowie der spanisch besetzten Küstenstadt Larache. Marokko und die marokkanischen Stadtstaaten konnten sich über die Jahrhunderte Eroberungsversuchen des Osmanischen Reiches (ca. 12991922) widersetzen. Dieser Hintergrund und die Kontinuität der Alawidenherrschaft seit dem 17. Jahrhundert formten Marokko als Land mit einem relativ starken Staat und Machtzentrum. Die Geschichte des Landes wird von den Auseinandersetzungen zwischen dem biläd al-mahzan (wörtlich: Magazin/Ort, an dem die Steuern aufbewahrt werden, gemeint ist die Zentralregierung und -Verwaltung) und dem biläd as-siba (übers.: Land der S t ä m m e / d e r Abtrünnigen) bestimmt. Der Sultan positionierte sich als geschickter Vermittler und Schiedsrichter zwischen den Stämmen. Mitte des 19. Jahrhunderts geriet Marokko unter den Einfluss der

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Die E r f i n d u n g e i n e r M o n a r c h i e

europäischen Kolonialmächte. Das Sultanat bestand in der Zeit des französischen Protektorats ab 1912 weiter; die zentralen politischen Entscheidungen wurden jedoch von den französischen Generalresidenten und Beamten getroffen. 7 1953 setzten die Franzosen Mohammed V., den Großvater des heutigen Herrschers ab, sandten ihn ins Exil nach Korsika und Madagaskar und setzten einen entfernten Verwandten, Mohammed Ibn Arafa, als willfährigen Vertreter auf den Thron. Seine Einsetzung bedeutete den Anfang vom Ende der französischen Mandatsherrschaft in Marokko. Nach einer Reihe von landesweiten Protesten und Streiks kam Mohammed V. als nationaler Befreier 1955 aus dem Exil zurück. Während sich in den meisten arabischen Staaten nationalistisch gesinnte Offiziere mit sozialistischer Weltanschauung an die Macht putschten und dem europäischen Kolonialismus ein Ende setzten, war es in Marokko das Königshaus, das die Unabhängigkeit des Landes mitbegründete. Auf diesen historischen Entwicklungen aufbauend, gelingt es der Herrscherfamilie besonders überzeugend, ihren Sonderweg als authentisch zu begründen, denn in den Augen der Bevölkerung war Mohammed V. zum Urheber der nationalen Souveränität und zur Leitfigur des antikolonialen bzw. antieuropäischen Widerstandes geworden. 8 Diese Vorgeschichte sichert der monarchischen Institution auf Kosten der damaligen Unabhängigkeitsbewegung bis heute einen Großteil ihrer politischen Legitimität als progressive und spezifisch marokkanische Herrschaftsform. Die Erinnerung an den Großvater des heutigen Königs wird aktiv wachge-

7 Die bekanntesten sind Marschall Louis Hubert Lyautey (der die Besetzung des Landes seit 1907 anführte) und General Charles Noguès von 1936 bis 1943, ab 1940 als Repräsentant Vichy-Frankreichs zur Zeit des Nationalsozialismus in Europa. Zum Einfluss von Lyautey auf die Desakralisierung des marokkanischen Sultanats, vgl. Rachik/Janjar 2012. 8 Noch heute stehen Marokkos nördliche Gebiete Ceuta und Melilla als Relikte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter spanischer Verwaltung. Gleichzeitig hält Marokko weiterhin die Westsahara nach dem Abzug der ehemaligen Kolonialmacht Spanien 1976 besetzt.

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halten, um diese Elemente der Legitimation zu sichern und die sich durchsetzenden antikonstitutionellen Elemente seit den 1960er Jahren zu überspielen. Erst ab den 1960er Jahren baute Hassan II. jene Symbolik aus, die heute als >authentisch marokkanisch< gilt. Ursprünglich konstituierte der Treueschwur einen Vertrag zwischen Herrscher und Volk mit beidseitigen Rechten und Pflichten. Einer der bedeutendsten Intellektuellen des Landes, der Historiker und Schriftsteller Abdallah Laroui9 weist darauf hin, dass der ursprüngliche Begriff mubaya'a im Koran diese Reziprozität wiedergibt. Der Schwur besiegelte die Loyalität der ersten Muslime zum Propheten und wurde nach dessen Tod 623 n. Chr. von den Kalifen fortgeführt. Der Treueeid gehört zu den wichtigsten politischen Ritualen der islamischen Geschichte. Bettina Dennerlein (2001) hat die vorkoloniale Praxis des Treueeids und die Konstruktion eines politischen Gemeinwesens anhand der bay'a für Sultan Moulay al Hassan von 1873 untersucht. Ihr Beitrag gehört zu den wenigen Studien, die diesen Vorgang auf der Grundlage einer breiten Quellensammlung untersucht haben. Sie zeigt, wie der Treueschwur sukzessive in dem Moment abgenommen wurde, in dem die Nachricht über den Tod des Herrschers in den jeweiligen Städten und Regionen eintraf. Dabei handelte es sich de facto zwar nur noch um eine Akklamation einer bereits vollzogenen Machtübergabe, aber es gab durchaus politische Forderungen, die im Kontext der Unterzeichnung der baya geltend gemacht wurden, wie Dennerlein belegt. 10 Der Treueeid gewann auch dann seine Funktion über die reine Akklamation hinaus, wenn verschiedene Kontrahenten um die Macht und die Unterstützung der Eliten rangen.

9 Eine Monographie über Werk und Wirken Abdallah Larouis liegt bisher nicht vor. Die Dissertation von Nils Riecken »Abdallah Laroui and the Location of History. An Intellectual Biography« wird voraussichtlich 2018 erscheinen. Weitere relevante Sekundärliteratur zu Laroui findet sich in: Binder 1989; Kassab 2010; Roussillon 2000. 10 1873 gab es in der Stadt Fes z.B. Widerstand gegen nicht-islamische Steuern (Dennerlein 2001).

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Die Erfindung e i n e r

Monarchie

Für das zeitgenössische Marokko muss unterschieden w e r d e n zwischen d e m vertraglichen Text des Treueeids, der zeitnah nach d e m Tod des Königs zur Inthronisierung seines N a c h f o l g e r s unterzeichnet wird, dem Thronfest, das 1933 eingeführt wurde, und dem sogenannten » F e s t der Loyalität« ( h a f l a t al-walä'), einer Zeremonie, die erst in den 1970er Jahren von Hassan II. als vorgeblich traditionelles Element des Thronfestes hinzugefügt wurde. 1 1 Z w a r hat der Treueeid historische Vorläufer bis in die Zeit des Propheten und wurde im 16. Jahrhundert wiederbelebt. A b e r das weltliche Thronfest, das 1933 nach europäischem Vorbild von der Unabhängigkeitsbewegung als Symbol der nationalen Einheit g e g e n die französische Fremdherrschaft erfunden wurde, ist das erste Fest des modernen Nationalstaates Marokko. Zunächst w a r selbst die N a m e n s g e b u n g für diese Feierlichkeit unklar. 12 Nabil Mouline, ein Vertreter der j u n g e n marokkanischen Historikergeneration, betont, dass es so gut w i e kein autochthones, traditionelles Element in dieser Feierlichkeit gibt: From its recent creation in 1933, Coronation Day registered as what historians call the »invention of tradition«. That is to say, it was created to establish a set of rituals in order to create a fictitious continuity with the past and instill standards of behavior upon the population in the name of tradition. (Mouline 2013) Unter den marokkanischen Historikern vertritt Mouline (2016) die These eines paradoxen Transfers zwischen den Königreichen Großbritannien, Ä g y p t e n und Marokko: Das Ritual der britischen Krone zur Thronbesteigung im 16. Jahrhundert, w u r d e 1923 von der neuen ägyptischen Monarchie als » F e s t der T h r o n b e s t e i g u n g « g e f e i e r t , und dort von liberalen Nationalisten als Symbol der nationalen Einheit genutzt, um breite Bevölkerungsteile g e g e n die fortdauernde Protektoratsherrschaft der Engländer zu mobili-

11 12

Ich danke Nabil Mouline für diesen Hinweis. al-julüs, später cid al-°arsh.

cid

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sieren. Diese Praxis wurde nach Mouline wiederum von der marokkanischen Unabhängigkeitsbewegung übernommen. Im Gegensatz zu Ägypten profitierte in Marokko letztendlich jedoch die Monarchie von der Mobilisierung, nicht die Nationalisten. Was mit der bay'a ursprünglich nur zu Beginn einer Machtübergabe abgenommen wurde, wird im »Fest der Loyalität« zu einer jährlichen Demonstration der Unterwerfung als Teil eines importierten, europäisch inspirierten Zeremoniells. Was historisch sukzessive im Land verbreitet wurde (die Machtübergabe an einen neuen Sultan), wird heute über die Massenmedien zu einem Moment verdichtet: In einer pompösen Zeremonie reitet der König an diesem Tag vor dem Palast an tausenden Würdenträgern in weißen Kaftanen aus allen Landesteilen vorbei und lässt sich huldigen. Die weiße Kleidung nivelliert, so Mouline, die sozialen Hierarchien unter ihnen und lässt allein den omnipotenten König hervortreten. Der Kommentator der Fernsehübertragung 2013 betonte die vorgeblich islamischen Wurzeln der Zeremonie, um die Stabilität der umma (Gemeinschaft der Gläubigen) und die nationale Einheit zu gewährleisten.13 So perpetuieren die Massenmedien im 20. Jahrhundert jene >erfundenen< (Hobsbawm/Ranger 1992) bzw. importierten und adaptierten Traditionen. Am »Fest der Loyalität« nehmen inzwischen nur hohe Beamtete (darunter die Gouverneure) aus dem Innenministerium aus allen Landesteilen teil (siehe Mouline 2016: 698) und ersetzen damit das Militär. Auch die Vertreter der Religionsgelehrten wurden reduziert (sie). Heute sind nur der Minister für islamische Angelegenheiten und der Präsident des Rats der Rechts- und Religionsgelehrten Rabat-Salé anwesend. Ursprünglich unterzeichneten Familienmitglieder der Alawidendynastie, religiöse Würdenträger, hohe Militärs und Honoratioren aus den verschiedenen Regionen des

13 Die lokale Berichterstattung zum Thronfest 2013 findet sich unter: https:// www.youtube.com/watch?v=MghcLLIDs8g (aufgerufen am 16.12.2015).

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Die E r f i n d u n g e i n e r M o n a r c h i e

Landes den Vertragstext der baya. Tozy (2008) verweist darauf, dass der Text des Treueeids für Mohammed VI. zur Machtübergabe 1999 einigermaßen kurz und schlicht sowie ohne Schnörkel und stilistische Raffinesse geschrieben sei. 14 An zweiter Stelle nach der königlichen Familie unterschrieben damals die Mitglieder der ersten Mitte-LinksRegierung unter Premierminister Abderrahman Youssoufi. Damit unterzeichneten zum ersten Mal auch zwei Frauen, Nouzha Chekrouni, Staatsministerin für Frauen und Aicha Belarbi, Staatssekretärin für auswärtige Angelegenheiten, den Text. Nicht die Tatsache, dass Regierungsvertreter anwesend waren, sei interessant, so Mohamed Tozy, sondern dass der Text mehrheitlich von der marokkanischen Linken unterschrieben wurde, und sie sich somit zum Zeitpunkt der Machtübergabe im Zentrum des mahzan befand (vgl. Tozy 2008: 292). Die Zeremonie15 funktioniert aus meiner Sicht jedoch nicht ausschließlich als restaurative Disziplinarmaßnahme, sondern - und das ist wichtig - als reziproke Authentifizierung. Zwar unterwirft der König die Anwesenden symbolisch. Er wertet sie aber innerhalb der Authentizitätsdebatte auch auf (so wie diese den König für den Modernitätsdiskurs aufwerten). Auf der einen Seite vertritt der König demnach nicht nur eine historisch überkommene Regierungsform, sondern kann für sich auch die Unterstützung demokratisch gewählter Repräsentanten in Anspruch nehmen. Auf der anderen Seite agieren auch die Vertreter des modernen Staates nun offiziell in einem >historisch authentischen< Rahmen, werden also als Teil der >Marokkanität< (.magribiya) oder >marokkanischen Spezifizität< verstanden und nicht als Import aus Europa. Letzteres ist zentral im Kontext einer Debatte um Authentizität, denn es ist gerade der Bezug auf Europa und die ehemaligen Kolonialmächte, von denen sich

14 Der vollständige Text findet sich bei Tozy 2008: 288. 15 »La bay'a de Mohammed VI a permis de faire coïncider rédaction de l'acte et cérémonie d'allégeance« (Tozy 2008: 292).

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die postkolonialen Gesellschaften unterscheiden wollen. Darüber hinaus stellt die luxuriöse Veranstaltung, zu der die politisch relevante Elite des Landes aber auch neue, sozial aufsteigende Marokkanerinnen aus dem In- und Ausland zusammen mit wichtigen ausländischen Persönlichkeiten eingeladen werden, einen nicht zu unterschätzenden Teil der Elitenformierung dar. Die Einladung zum Thronfest markiert den Übertritt in einen neuen Elitenzirkel und bietet offenbar auch die Möglichkeit, Heiratsbeziehungen zu knüpfen. An der dynamischen Zusammensetzung der Geladenen zeigt die Monarchie, dass sie über gut ausgebildete inklusive Mechanismen verfügt und Möglichkeiten der vertikalen Mobilität und damit Erneuerung bietet. Auch hier wird der reziproke Charakter deutlich. In der Öffentlichkeit wird der Treueeid durchaus auch kritisiert. Abdallah Laroui charakterisiert die bay'a in Marokko als Synthese aus den Errungenschaften dreier zentraler historischer Erfahrungen: Kalifat, mystische Bruderschaft und tribale Führerschaft. 16 Aus diesen drei Wurzeln beziehe das Herrschaftsritual seine anhaltende Stärke. In seinen Erinnerungen an Hassan II. von 2005 beschreibt Abdallah Laroui, wie jener trotz Rückgriff auf europäische (!) Überlieferungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts den mahzan als vorgeblich authentisches Machtzentrum konsolidieren konnte (Laroui nennt es den »neo-mahzan«, bzw. eine scherifische Dynastie im Gewand einer absoluten Monarchie im Sinne Thomas Hobbes). Dafür ist wesentlich, dass »das Falsche oft authentischer wirkt als das Echte, weil es von vornherein auf die wichtigen Stereotypen hin geeicht und gestylt ist und deshalb einen unfehlbaren Wiedererkennungseffekt hat.« 17 Die Leichtigkeit dieser Übertragung von einem Idiom

16 »[...] celle du califat (Etat islamique idéal ou normatif), celle de la zaouia (association volontaire mystique e t missionnaire), celle de la qiyada (chefferie tribale)« (Laroui 2010: 105). 17 Christine Rosenthal in einem Brief (an Aleida Assmann?), zitiert nach A s s m a n n 2012: 42.

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Die Erfindung e i n e r M o n a r c h i e

zu einem anderen, sei für einen Mann w i e Hassan II. besonders bestechend gewesen, so Laroui (2010: 233, 234): Anstelle der lang erwarteten Modernisierung, ist es eine Traditionalisierung in bester Form, der wir beiwohnten. Die Reformen, häufig hochsymbolisch, induziert durch die Anwesenheit von Fremden, wurden eine nach der anderen getilgt. Der europäische Anzug wird unter dem Vorwand, das lokale Kunsthandwerk zu stärken, aus den offiziellen Zeremonien verbannt. Anstatt bei der nationalistischen Kleidung, die Mohammed V. populär gemacht hat, zu bleiben, kehrte man zum Kostüm des mahzan des 19. Jahrhunderts zurück, die die Abgesandten des Sultans zur großen Freude europäischer Maler und Modezeichner neben Napoléon III. oder der Königin Victoria zur Schau stellten. [...] Auch hier war die Botschaft eindeutig. Die Ära der Modernisierung des Geistes war beendet. Archivare und Geschichtsschreiber stürzten sich in die alten Dokumente, um das antiquierte Protokoll, im Detail von so manchem europäischen Botschafter und Reisenden beschrieben, wieder auferstehen zu lassen, und führten so eine Bewegung fort, die die Nationalisten selbst in Gang gesetzt hatten, jedoch mit entgegengesetztem Ziel. (Laroui 2010: 23, Übersetzung SH) Als Bruch mit seinem Vater M o h a m m e d V. lässt Hassan II. ein Zeremoniell festigen, das auf orientalisierenden Stereotypen des 19. Jahrhunderts basiert, um, so Laroui, den mit der Unabhängigkeit von Frankreich anstehenden Reformschub auch symbolisch auszusetzen. Es ist also teilweise eine Form des g e s p i e g e l t e n Orientalismus, die Hassan II. als authentisch oktroyieren konnte. Dennerlein verweist darauf, dass der Eid im postkolonialen Marokko mit der Annexion der Westsahara 1975/76 w i e d e r an Bedeutung gewann, um dortige Stämme an sich zu binden und den Anspruch auf die Herrschaft über dieses Territorium sichtbar zu machen (2010: 293, Fn. 28, siehe auch die bay'a der Delegation aus Dakhla am 17.8.1979). So wird die Teilnahme von Vertretern aus der Westsahara am jährlichen Thronfest explizit mediatisiert. Abdallah Laroui kritisiert diese Strategie als Authentizität von Couscous und Minztee,

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andalusischer Musik und Djellaba. Über sich selbst und die linke politische Klasse schreibt der Historiker Laroui, man habe sich so intensiv mit dem Treueeid auseinandergesetzt, um die eigenen Forderungen durchzusetzen, bis man ihn am Ende auf sich selbst anwandte, trotz des nicht eingelösten Versprechens, eine konstitutionelle, durch ein frei gewähltes Parlament kontrollierte Monarchie mit der Verfassung von 1962 einzuführen (Laroui 2010: 104). So befanden sich die Intellektuellen des Landes in dem Dilemma, auf der einen Seite die traditionelle Erzählung hinter sich lassen zu wollen, und auf der anderen Seite die Legitimität der Monarchie als Ergebnis einer historischen Entwicklung und als Gegenstück zur westlichen Expansion nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Es erscheint in der Rückschau zunächst erstaunlich, dass es der marokkanischen Monarchie mit der Setzung einer spezifischen eigenen Identität unter Rückgriff auf den vorkolonialen wie kolonialen Staat gelang, ihre Herrschaft zu festigen, und dies durchaus über ganz unterschiedliche Bevölkerungsteile hinweg, wie die Äußerungen von Abdallah Laroui zeigen. Auch dies ist angesprochen, wenn in Marokko vom »génie politique« Hassan II. gesprochen wird. Die Einbettung in die existenzielle Debatte um Authentizität und Souveränität in der arabischen Welt zeigt, warum Hassan II. erfolgreich sein konnte. Welche Strategie setzte sein Sohn, Mohammed VI. ein, um den Fortbestand dieser »imagined Community« (Anderson 1983) zwischen Monarch und Bürger im 21. Jahrhundert zu sichern? Im Folgenden soll dazu auf die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in der Ära Hassan II. und die Auswirkungen einer Wahrheitskommission von 2004 eingegangen werden. Da die Monarchie im Vergleich zu den meisten arabischen Staaten über relativ durchlässige Kommunikationskanäle verfügt, hat sie auf gesellschaftliche Forderungen nach >Wahrheit< (haqïqa) über die jüngere Geschichte des Landes mit der Einrichtung einer königlichen Wahrheitskommission im Jahr 2004 reagiert. Diese Kommission entwickelte Reformvorschläge, die u.a. forderten, das offizielle Geschichts-

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Die Erfindung einer Monarchie

bild zu revidieren. Dazu hat sie konkrete Empfehlungen für die Arbeit der verschiedenen Sozialisationsinstanzen (Schule, Universität, Medien, etc.) vorgelegt, die jedoch erst seit 2010 sukzessive umgesetzt werden. Die autobiographischen Auseinandersetzungen mit der postkolonialen Geschichte in Literatur und Film der 1990er Jahre sowie die Zeugenaussagen vor der Kommission 2004 und ihre Mediatisierung, führten dazu, dass heute von staatlichen (wie dem Conseil National des Droits de l'Homme, CNDH) wie nicht-staatlichen Akteuren (Journalisten, Wissenschaftler) diskutiert wird, wie man persönliche Erinnerungen in öffentlich erinnerte Geschichte übersetzen kann. Eine Revision der Geschichte, die erst an ihrem Anfang steht, hat v.a. aus zwei Gründen noch keine Revision des Machtanspruchs des Herrscherhauses nach sich gezogen: Zum einen spielt dabei die Fähigkeit der Monarchie eine Rolle, gesellschaftliche Forderungen zu erkennen und frühzeitig aufzunehmen. Zum anderen verleiht das grundsätzliche Dilemma der arabischen Welt, die sich zwischen der Übernahme fremder Einflüsse und der Behauptung von Authentizität aufreibt, der Behauptung der Monarchie hier einen spezifisch marokkanischen Weg gefunden zu haben, Glaubwürdigkeit in Teilen der Bevölkerung.

Authentische Geschichte?

Die Wahrheitskommission dient im Folgenden als modernes Beispiel für die politische Dimension von historischen Authentizitätsforderungen. Sie zeigt den Wandel gerade hegemonialer >Meistererzählungen< über die grob vereinfachende Vorstellung von Kooptation hinaus. Denn da es der Staat ist, der auf diametral entgegengesetzte Geschichtsbilder zurückgreift (der oberste Repräsentant des Staates wird der Lüge überführt), verleiht er ihnen (institutionelle) Wirkmächtigkeit, d.h. er stärkt ihre Rezeption in der Bürokratie, in den Medien oder in den staatlichen Sozialisationsinstanzen.

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Nach der innenpolitischen Öffnung Marokkos in den 1990er Jahren, die auch eine Reaktion auf das Ende der Ost-West-Konfrontation war, verschafften sich die Opfer staatlicher Gewalt zunehmend Gehör. Ehemalige politische Häftlinge und Familien von Verschwundenen traten an die Öffentlichkeit. 1999 wurde der erste unabhängige Opferverband, das Forum Marocaine Vérité et Justice (FMVJ) gegründet. Kurz vor seinem Tod im selben Jahr setzte Hassan II. noch eine Instance Indépendente d'Arbitrage et d'Indemnisation (HAI) ein, die sich zum ersten Mal von staatlicher Seite mit der Rehabilitation der Opfer behördlicher Willkür und mit Reparationszahlungen beschäftigte. Nach fünf Jahren Lobbyarbeit durch das FMVJ ließ Mohammed VI. 2004 die Einsetzung einer Gerechtigkeits- und Versöhnungskommission durch königliches Dekret verkünden (Instance Equité et Réconciliation - Commission Nationale pour la Vérité, l'Equité et Réconciliation, im Folgenden mit 1ER abgekürzt). Mehr als zwölf Monate lang führte die 1ER öffentliche Anhörungen im ganzen Land durch und beriet Opfer bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche. Marokko war das erste arabische Land, das eine unabhängige Wahrheitskommission unter Rekurs auf das südafrikanische Vorbild gründete.18 Im Gegensatz zur südafrikanischen Wahrheitskommission wurde in Marokko jedoch die Täterseite ausgeblendet. Es ging nicht darum, den Tätern im Austausch gegen ein Eingeständnis von Schuld, Vergebung zuzusichern, sondern um die gesellschaftliche Rehabilitation der Opfer und um individuelle Wiedergutmachung für das ihnen widerfahrene Unrecht. Allerdings gibt es im marokkanischen Fall keine Amnestie für die Täter. Dies bedeutet, dass Täter in Zukunft noch angeklagt werden können. Grundsätzlich hat sich die juristische Strafverfolgung von Tätern jedoch als

18 2014 folgte Tunesien mit der Gründung der Instanz für Wahrheit und Würde (IVD) zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen seit 1955. Zu Vorgeschichte und Funktionsweise der IER siehe Dennerlein und Hegasy 2007.

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Die E r f i n d u n g einer

Monarchie

extrem schwierig erwiesen, wie das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag oder auch die deutsche Strafverfolgung seit Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich machen. Es hat sich gezeigt, dass selbst das rechtsstaatliche Strafrecht den Anspruch auf Schuldfeststellung selten einlöst. Ziele der marokkanischen IER waren neben der Feststellung von Entschädigungs- bzw. Wiedergutmachungsansprüchen die Aufklärung schwerer Menschenrechtsverletzungen zwischen 1956 und 1999 sowie die Erarbeitung von Empfehlungen zur kollektiven Wiedergutmachung 19 und Verbesserung der Menschenrechtslage. Die 1970er und 1980er Jahre gelten als die >bleierne Zeitbleiernen Zeit< aufgebaut wurde: »The construction of the crime wave and new police was not the result of a top-down decision made by a few powerful individuals. Instead, it represented the intersection of mutual interests. [...], the state needed to begin the process of rehabilitating the image of the police, rein in the potential threat of the new non-elite public, and demonstrate that it could be responsive to public demands for change. Collaborating with the tabloids provided the state with a new outlet that could give a revived police visibility and credibility that could not be achieved through traditional state newspapers or old forms of propaganda. The tabloid publisher represented

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Enkel wollen nun wissen, was tatsächlich passiert ist. Kritische Sichtweisen auf die Zeit seit der Unabhängigkeit 1956 wurden bisher deutlich stärker in der medialen als in der akademischen Öffentlichkeit behandelt (Mohamed Kenbib, 2009: 82). Gleichzeitig besteht die offizielle Historiographie der Monarchie fort: 2010 wurde der renommierte Historiker und Schriftsteller Abdelhaq Lamrini (Jahrgang 1934, auch Lemrini oder El Merini geschrieben) zum neuen »Historiographe du Royaume« sowie zum Konservator des Mausoleums von Mohammed V. ernannt. Von 1998 bis 2010 war Lamrini Protokollchef des marokkanischen Hofs. Tatsächlich ist diese »Geschichtsschreibung« eine journalistische Hofberichterstattung, die z.T. parallel zu den Aktivitäten des Königs verfasst wird. So begleitete Abdelhaq Lamrini den König 2012 auf eine Reise in vier Golfstaaten und nach Jordanien, wo Mohammed VI. u.a. das Flüchtlingslager Zaatari besuchte.30 Ein Beispiel, welches dagegen den tiefgehenden Wandel in der akademischen Geschichtswissenschaft illustriert, sind die Arbeiten der Magisterstudenten für zeitgenössische Geschichte der Universität Rabat. Forschende des am Berliner Zentrum Moderner Orient angesiedelten Projekts »Transforming Memories - Cultural Production and Personal/Pu-

the g r o w i n g c o m m e r c i a l i z a t i o n of the media in the country and sought to capitalize on the expanding space f o r n e w r e a d e r s and m a r k e t s « (2013: 49). 30

Die V e r ö f f e n t l i c h u n g e n des H o f c h r o n i s t e n e r s c h e i n e n in den

du Palais Royal.

Editions

D i e A n k ü n d i g u n g zum Buch ü b e r diese S t a a t s b e s u c h e f ü h r t

dazu aus: » D ' a p r è s M . Lamrini, la visite r o y a l e a r é a l i s é tous les o b j e c t i f s e s c o m p t é s e t o u v e r t la v o i e à une n o u v e l l e è r e dans les relations stratég i q u e s et le p a r t e n a r i a t é c o n o m i q u e et d ' i n v e s t i s s e m e n t a v e c c e s pays, rapp e l a n t à c e p r o p o s les réunions tenues par les c o n s e i l l e r s de S M le Roi et les m e m b r e s du g o u v e r n e m e n t ayant fait partie d e la d é l é g a t i o n o f f i c i e l l e a v e c leurs h o m o l o g u e s des pays du G o l f e c o n c e r n é s . C e s réunions ont p o r t é sur la dynamisation d e s domaines d e c o o p é r a t i o n et d e s orientations g é n é r a l e s d e c e t t e c o o p é r a t i o n d i s t i n g u é e et les m é c a n i s m e s p r o p o s é s pour sa m i s e en œ u v r e « ,

http://www.diplomatie.ma/Culture/tabid/82/vw/l/ItemID/7605/

language/fr-FR/Default.aspx ( a u f g e r u f e n am 13.12.2015).

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Die Erfindung e i n e r M o n a r c h i e

blic Memory in Lebanon and Morocco« trafen die Studierenden 2013 während eines Workshops zu Trauma, Memory artd History: A Comparative Reflection between Morocco and Lebanon an der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität in Rabat. Einige von ihnen erhielten Zugang zum o.g. Archiv der 1ER und konnten bisher unbearbeitete Themen erforschen. Da das Archiv der Wahrheitskommission auch Forderungen auf Reparationszahlungen enthält, die nicht unter ihr Mandat fallen, gibt es eine Vielzahl von Dossiers, deren Nutzung nicht geklärt ist. Auf der Basis dieser Unterlagen arbeitete eine Studentin über einen Lebensmittelskandal von 1959.31 Über 9.000 Menschen, besonders aus ärmeren Vierteln, erkrankten damals mit gravierenden Dauerfolgen nach dem Verzehr von mit Motoröl verseuchtem Speiseöl.32 Dem damaligen Gesundheitsminister zufolge mussten 10.000 Menschen behandelt werden. Die Hersteller wurden zum Tode verurteilt und ein Fonds für die Opfer eingerichtet, dessen Einlagen jedoch, wie die Studentin recherchierte, nie ausgezahlt wurden. Themen wie diese werden im Nachgang der Instance Equité et Réconciliation sichtbar, und zwar nicht nur in dem begrenzten Raum einer Gerechtigkeitsinstanz in Bezug auf Reparationsmechanismen, sondern auch für Historikerinnen. Viele von ihnen setzen sich für die Popularisierung dieses Wissens ein. Jillali el-Adnani spricht von einem moralischen Pakt zwischen dem Historiker und dem Geschädigten, welcher für eine neue Geschichtsschreibung unabdingbar sei. Dieser Pakt sei umso wichtiger, fügt er hinzu, für solche Geschädigte, die bisher noch nicht ihre Stimme erhoben haben. Der Historiker könne hier einen Beitrag zur »Wahrheitsfindung« leisten. El-Adnani versteht Geschichtsschreibung als Feld mit eindeutiger Intention, nämlich Hilfe

31 Treffen mit Madiha Sebbioui, 19.4.2013. 32 Time Magazine: The Malady of Meknes. 30.11.1959, http://content. time.com/time/magazine/article/0,9171,825973,00.html (aufgerufen am 13.12.2015).

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für die Opfer zu leisten und eine traumatische Vergangenheit neuzuschreiben (histoire engagée).33 Diese »Neue Historiographie« hat ihre Vorläufer in dem zuvor schon erwähnten, breiten Interesse an historischen Themen. Gerade die Geschichtsseiten der Tages- und Wochenzeitungen haben in den letzten zehn Jahren die Aufmerksamkeit der Leser auf sich gezogen. Die Verkaufszahlen stiegen besonders an, wenn prominente historische Themen behandelt wurden.34 Die Geschichte der Monarchie und der Unabhängigkeitsbewegung, der ungeklärte Mord an dem sozialistischen Politiker Mehdi Ben Barka 1965, die Geschichte der Besetzung der Westsahara 1975 oder die Berichte der Zeitzeugen der >bleiernen Jahre< sind bis heute Themen großen medialen Interesses. Dies führte 2010 zur Neugründung der historischen Zeitschrift Zamane (Zeit). Zwar gibt sich die Zeitschrift einen populärwissenschaftlichen Anstrich, die Beiträge werden jedoch häufig von Fachleuten geschrieben und basieren auf langwierigen, teils wissenschaftlichen Recherchen. Im Gegensatz zu Deutschland ist der professionelle Wechsel zwischen beiden Feldern, Wissenschaft und Journalismus, in Marokko deutlich einfacher, wie man sowohl an den Doppelfunktionen beider Akteure sehen kann als auch auf wissenschaftlichen Konferenzen, an denen Journalisten wie selbstverständlich mit Vorträgen vertreten sind. Diese Doppelfunktion als Historikerin und Journalistin erscheint mir eine wichtige Ursache für den sich wandelnden öffentlichen Diskurs über den Umgang mit der Vergangenheit zu sein. Private Archive und unveröffentlichte Quellen werden in Zamane z.T. zum ersten Mal aufgearbeitet. Die Orientierungsbedürfnisse der jungen marokkanischen Gesellschaft über eine Zeit, über die sie willentlich im

33 18.4.2013. Eröffnung des Workshops Trauma, Memory and History in Rabat, April 2012. 34 »L' histoire, nouvelle passion marocaine«. Souleiman Bencheikh, 24.12.2012, http://www.jeuneafrique.com/Article/JA2710p084_085.xml0/ (aufgerufen am 28.2.2016).

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Die Erfindung einer

Monarchie

Unklaren gelassen und desinformiert wurden, werden heute artikuliert. Die Gründer der Zeitschrift Zamane haben früh das ungestillte Interesse der Leserschaft an Geschichtsthemen wahrgenommen: In den ersten Jahren gab es eine implizite Redaktionslinie, nach der auf jedem Titelblatt ein Bezug zu Hassan II. hergestellt werden sollte. 35 Das große Interesse an der Ära Hassan II. reflektiert den Wunsch der Leser nach Aufklärung, gerade über ihre eigene Lebensgeschichte, die bis 1 9 9 9 für einen Großteil der Bevölkerung nur von einem einzigen Herrscher geprägt war. A l'intérêt que témoignent de plus en plus de Marocains à une meilleure connaissance de leur histoire, et singulièrement le passé récent, ont certainement contribué, de manière spécifique, la couverture par les médias des activités, auditions et recommandations de l'Instance Equité et Réconciliation ainsi que la commémoration du Cinquantenaire de l'indépendance du Maroc [...]. (Typoskript zur Vorbereitung des ersten Workshops Maison de l'Histoire du Maroc unter Leitung des wissenschaftlichen Koordinators Mohamed Kenbib, Juni 2012)

Die Willkürherrschaft Hassan II. markiert diese Leerstelle besonders deutlich. Die Gesellschaft will sich darüber verständigen, wie sie die Gewalt dieser Zeit bewertet und reflektiert damit über den Stellenwert von Gewalt und Willkür heute. So wird von Akteuren dieser Debatte wie Driss Yazami (Präsident des CNDH) oder Jamaa Baida (Direktor des Archives du Maroc) gefordert, man müsse nun, zehn Jahre nach der Wahrheitskommission, von der persönlichen Erinnerung zur historischen Einordnung kommen, selbst wenn dies immer nur eine approximative Rekonstruktion bedeute, in der sich nicht alle Opfer wiederfinden.

3 5 Interview der Verfasserin mit dem ersten Chefredakteur von Zamane, Souleiman Bencheikh, 4.7.2013.

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Schlussfolgerungen: Historische Authentizität und Neuverhandlung der Zeitgeschichte Geschichte ist in Marokko eine wichtige Ressource in der Auseinandersetzung um das aktuelle gesellschaftliche Selbstverständnis geworden. Zwar sind historische Wahrheit und Authentizität relative Begriffe, die gesellschaftlichem Wandel unterliegen, aber es gibt ein großes Bedürfnis in der marokkanischen Gesellschaft nach einem Aufbrechen des Geschichtsmonopols unter Hassan II. und nach einer objektivierten Aufklärung. Noch können Zeitzeugen befragt werden, und dieser Umstand unterstützt den Wahrheitsanspruch der neueren Geschichtsschreibung. > Erfundene Traditionen< bzw. importierte und adaptierte Traditionen haben dagegen die offizielle Geschichtsschreibung des Staates gestärkt. Sie sollen ein Bindeglied zwischen der Zeit des Propheten, dem Beginn der Alawidendynastie und der 1956 in die Unabhängigkeit entlassenen Monarchie schaffen. Sie werden evoziert, um eine historische, islamische Kontinuität zu betonen (siehe Khalifa 1997) und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern. Das Beispiel Marokko zeigt, wie der Rekurs auf eine als authentisch inszenierte Kultur im Zusammenspiel mit dem modernen Erbe des 20. Jahrhunderts ein zeitgenössisches Regime autorisiert. Wie in diesem Beitrag ausgeführt, muss dieser Rückgriff kontinuierlich erneuert und begründet werden. Das Königshaus greift auf eine Synthese aus als authentisch konstruiertem historischem Erbe und Modernität zurück. Aus dieser Synthese heraus entwirft das Königshaus eine spezifisch marokkanische Identität des 20. Jahrhunderts, die durchaus auch generationsübergreifend von einem Großteil der Bevölkerung angenommen wird. Kritik an diesen hybriden Ritualen und Symbolen ist relativ gering. 36 Dass Hassan II. in seinen Bemühungen, sein Regime als

36 Selbst Abdallah Laroui gilt vielen Marokkanern trotz seiner deutlich kritischen Analysen als königstreuer Intellektueller und Monarchist.

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Die Erfindung e i n e r M o n a r c h i e

authentische Verkörperung marokkanischer Identität anerkennen zu lassen, so erfolgreich war, hängt damit zusammen, dass er an Diskurse der arabischen Renaissance über die Bewahrung des Eigenen anschließen konnte. Außerdem finden so gut wie alle Bürger eigene, existenzielle Erfahrungen in der Identitäts- und Authentizitätsdebatte wieder, weil sie sich ständig Fragen von Fremd- und Selbstbestimmung, Autonomie und Unfreiheit ausgesetzt sehen. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch der Gedanke, dass eine zunehmende Herabsetzung des islamischen Erbes außerhalb der muslimischen Welt zur Bestärkung einer von oben definierten (und damit hegemonialen) Spezifizität und Eigenheit führt. Denn der dramatische Wandel der arabischen Welt in den letzten 200 Jahren und die oben skizzierte Orientierungslosigkeit bieten der >Selbsterfindung< bzw. den als authentisch angenommenen Traditionen einen Rückhalt. Diese Überzeugungskraft gewinnt durch die Fähigkeit der Monarchie, Herausforderungen bzw. Herausforderer anzunehmen.37 Das Königshaus postuliert also als Selbstbeschreibung eine Synthese von Authentizität und Modernität, die ihre Stärke aus der oben dargestellten reziproken Authentifizierung der Akteure gewinnt. Mohammed VI. hat mit der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in der Ära seines Vaters ein selbstständiges Band zwischen sich und der Gesellschaft geknüpft.

37 Dies wird in der Sekundärliteratur häufig mit der historisch geübten Funktion des Sultans, oppositionelle Stämme einzuhegen, begründet, oder aber auch als Kooptation bezeichnet. Letztere Erklärung greift aus meiner Sicht zu kurz. Sicherlich gibt es immer wieder einzelne Oppositionelle, deren Kritik sich mit attraktiven Posten neutralisieren lässt. Deutlich häufiger sind aber (z.B. unter den ehemaligen politischen Häftlingen Marokkos) Aktivisten, die sich nach den radikalen Erfahrungen bis Ende der 1980er Jahre für einen Marsch durch die Institutionen entschieden haben und sich zum Ziel setzen, das System von innen zu reformieren. Es mag an vorherrschenden Typisierungen in der Wissenschaft über den arabischen Raum liegen, dass Motivationen wie diese in der Analyse Marokkos ausgeblendet werden.

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Die vorgestellte Gemeinschaft ist jene, die sich aus einer vergangenen Gewaltherrschaft lösen will. Ob dies einem machiavellistischen Machtinstinkt, einer psychologischen Notwendigkeit (»Mohammed VI. ist das erste Opfer seines Vaters«, so eine Marokkanerin im Gespräch mit mir) oder reinem Desinteresse an Politik (wie es viele Marokkaner sehen) geschuldet ist, vermag kaum jemand zu sagen. Die geschichtspolitische Öffnung kann die Herrschaft Mohammed VI. in Zukunft stabilisieren oder sich gegen ihn wenden, wenn die angekündigte Aufklärung und Suche nach Wahrheit nicht weit genug geht. Die Berichtigung einer Begnadigungsliste des Königs nach Protesten aus der Bevölkerung im Jahr 2013, auf der auch ein spanischer Pädophiler stand, gilt beispielsweise als Zeichen dafür, dass die Unfehlbarkeit des Herrscherhauses nicht mehr bedingungslos hingenommen wird (»Affaire Daniel Galvan Viña«). 38 In einem Beitrag der Zeitung al-Masa' (Der Abend) wurden diese Proteste explizit in eine Kontinuität mit der Aufklärung der >bleiernen Jahre< gestellt (Bahrawi 7.8.2015).39 Wie oben dargestellt, werden mit Verweis auf die Arbeit der (königlichen) IER unbekannte und neue Fälle von staatlicher Gewalt öffentlich gemacht. Es ist die Geschichte von Gewalt, Unterdrückung und Diktatur, die hier neu verhandelt wird (siehe auch Smolin 2013). In privaten Medien, an der Universität, durch die Verbesserung der wissenschaftlichen Infrastruktur, in lokalen Museen sowie möglicherweise auch im zukünftigen Maison de l'Histoire du Maroc wird das nationale Geschichtsbild sukzessive mit einer »Neuen Historiographie« konfrontiert. Die roten Linien wissenschaftlicher Beschäftigung zu überschreiten, fiel auf journalistischer und nicht-akademischer historischer Ebene zunächst leichter als an den Universitäten, insbesondere auch, weil der freie Zugang zu den benö-

38 Siehe das Einlenken und die Königliche Verlautbarung, verlesen in den Abendnachrichten des 3.8.2013, https://www.youtube.com/watch?v=BIYb37FS_9w (aufgerufen am 11.4.2017). 39 Ich danke Ahmed Sukker für diesen Hinweis.

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Die Erfindung einer

Monarchie

tigten Quellen für eine Revision der Geschichtsschreibung nur sukkzessive gewährt wird. Aus diesem Grund hat der Aufbau von Archiven einen hohen Stellenwert unter Bürgerrechtsaktivistinnen bekommen: Unter Slogans wie »Je pense, donc j'archive« wurde lange für eine Reform des Archivgesetzes von 1916 gekämpft die 2007 umgesetzt wurde. Mit dem Zerfall der postkolonialen arabischen Staaten seit 2011 und den anhaltenden Interventionen des Westens in der Region hat die Debatte um authentische Entwicklungswege an Aktualität gewonnen. Gesellschaftliche Visionen drehen sich v.a. darum, wie die eigene Identität aufrechterhalten und als >authentisch< definiert werden kann. Welche Teile des kulturellen Erbes sollen bewahrt werden, welche müssen überwunden werden, um menschenwürdige Verhältnisse einzuführen? Die gesellschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit ist in Marokko weniger eine nostalgische Suche nach dem Authentischen als vielmehr Ausdruck nach Aufklärung über die eigene - bisher explizit verborgene - Geschichte. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit beginnt häufig mit der Suche nach Aufklärung über die individuelle Biographie und stellt so das offiziell produzierte Wissen in Frage. In diesem Spannungsverhältnis zwischen individuellem Interesse an historisch abgesicherter Wahrheit und gesellschaftlichem Tabu wird die Historiographie zum Medium der politischen Auseinandersetzung. Die lange Zeit unterdrückten Stimmen der Zeitzeugen haben in diesem Prozess sowohl für die Öffentlichkeit wie für die Wissenschaft an Wichtigkeit gewonnen.

Literatur

Abaza, Mona: »'Ada/Custom in the Middle East and Southeast Asia«, in: Carol Gluck und Anna Lowenhaupt Tsing (Hg.): Words in Motion: Toward a Global Lexicon, Duke University Press, 2009, S. 67-82.

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Abdelmoumni, Fouad: »Le Maroc et le Printemps Arabe«, in: »Le Maroc«. Pouvoirs. Revue française d'études constitutionnelles et politiques, 145 (2013), S. 123-140. Al-Jabri, Mohammed Abed und Farid Abdel-Nour: »The Problematic of Authenticity and Contemporaneity in Modern and Contemporary Arab Thought«, in: Contemporary Arab Affairs 4, 2 (2011), S. 174-189 (translated excerpts from Problematics of Contemporary Arab thought - Class Struggle or Cultural Problem, Beirut: 1994) Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, New York: Verso, 1983. Assmann, Aleida: »Authentizität. Signatur des abendländischen Sonderwegs?«, in: Michael Rössner und Heidemarie Uhl (Hg.): Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld: transcript Verlag, 2012, S. 27-42. Bencheikh, Souleiman: »L'histoire, nouvelle passion marocaine«, in: Jeune Afrique, 24.12.2012. Berriane, Yasmine: »Inclure les >n'ayants pas droitAuthentische< Ansprüche? Machtlegitimierung >traditioneller< Autoritäten in Guinea-Bissau und Angola

Christoph Kohl

Traditionelle Autoritäten haben in den letzten beiden Jahrzehnten in vielen Ländern Afrikas eine bemerkenswerte Renaissance erfahren. Wenn vor diesem Hintergrund von > Häuptlingen die Rede ist, rekurrieren sowohl Diskurse vor Ort als auch wissenschaftliche Analysen und die mediale Berichterstattung häufig auf Topoi wie >Tradition< und > Authentizität^ In diesem Beitrag möchte ich an zwei Fallstudien aus Guinea-Bissau und Angola aufzeigen, wie und in welchem Ausmaß historische Authentizität als Legitimation für Machtansprüche angeführt wird und welche unterschiedlichen Rollen der Staat hierbei einnimmt. Zwar eint Angola und GuineaBissau der portugiesische Kolonialismus, der >traditionelle< Autoritäten als vermeintlich authentische Repräsentanten afrikanischer Kultur anerkannte bzw. einsetzte, doch gingen beide Länder nach der Unabhängigkeit getrennte Wege. Während >traditionelle< Autoritäten in Angola weiterhin offizielle Anerkennung durch den Staat und die Rebellenorganisation UNITA (Uniäo National para a Independencia Total de Angola bzw. Nationale Union für die völlige Unabhängigkeit Angolas) erfuhren, schaffte Guinea-Bissau diese Institution ab und verwehrt diesen bis heute eine rechtliche Anerkennung. Am Beispiel zweier >traditioneller< Autoritäten in Angola und Guinea-Bissau werde ich herausarbeiten, wie diese versuchen, historische Authentizität zu erzeugen, um

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>Authentische< A n s p r ü c h e ?

Machtansprüche zu legitimieren und welche Deutungskonflikte sich im Wechselspiel mit verschiedenen Rezipienten hieraus ergeben. Auf welche Motive und Deutungsmuster wird zurückgegriffen und in welchem Ausmaß wird an transnational zirkulierende Muster und Bilder traditionellen Autoritäten angeknüpft? Wer sind die Adressaten dieser Strategien? Wie wird der von den >Produzenten< erhobene Anspruch auf Authentizität rezipiert, sowohl von der betroffenen Bevölkerung (> Konsumenten) als auch durch relevante staatliche Institutionen? Inwiefern konfligieren lokale und zentralstaatliche Auffassungen von Authentizität >traditioneller< Autoritäten? Theoretisch orientiert sich der Beitrag implizit an konstruktivistischen Arbeiten zum Themenkomplex >erfundener Traditionen (Hobsbawm und Ranger 1983; Ranger 1983, 1993) sowie an Arbeiten, die sich mit Klientelstrukturen und Patronage in Afrika auseinandergesetzt haben (Lonsdale 1994; Daloz und Chabal 1999; Bayart 2012). Historische Authentizität wird in diesem Beitrag als analytisches Konzept benutzt, also nicht als emischer Begriff, den Akteure anführen, um Ansprüche geltend zu machen bzw. abzulehnen. Rezipienten und Produzenten beziehen sich zwar auf Authentizität (etwa, indem sie >traditionellen< Autoritäten unter Verweis auf ihre vermeintliche Neuheit historische Authentizität absprechen); jedoch ist der Terminus >Authentizität< nicht Teil ihres diskursiven Repertoires. (Erfundene) Tradition wird als normatives Konzept verstanden, das in positivistischer Manier konstatiert, was >erfunden< ist und was >echt< ist. Historische Authentizität berücksichtigt dieses Verhandeln verschiedener Akteure von vornherein, ohne eine Wertung zu implizieren. Historische Authentizität ist folglich kein Phänomen, das im luftleeren Raum besteht. Vielmehr ist es immer Resultat kommunikativer und damit sozialer Aushandlungsprozesse, in denen Akteure Personen, Dingen und / oder Handlungen Authentizität zu- oder absprechen. Insofern ist Authentizität nicht nur deskriptiv, sondern v.a. auch als normativer Begriff zu verstehen, wie die Philosophin Sybille Krämer (2013: 16, 24) jüngst ausführte. Ihr zufolge bezeichnet Authentizität

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als deskriptiver Terminus zum einen eine eindeutig identifizierbare Urheber- oder Autorenschaft und spielt damit auf die Eigenschaft eines materiellen oder immateriellen Produktes an. Zum anderen bezieht sich Authentizität aber in normativer Hinsicht aus der Perspektive einer Zuhörerschaft auch auf Glaubhaftigkeit und Aufrichtigkeit von Personen. In anderen Worten: die äußerliche Darstellung eines Authentizitätszeugen muss mit seiner inneren Verfasstheit übereinstimmen. Darüber hinaus ist der Authentizitätsbegriff gebunden »an etwas Krisenhaftes [...], als er situiert ist in problematischen Situationen von Unsicherheit und Unwissenheit, in denen durch Authentizität eine Evidenz zu schaffen ist, die es anders nicht gibt« (Krämer 2013: 25). Dort, wo Tradition fraglos ist, gibt es kein Bemühen, einen Nachweis von Authentizität zu erbringen bzw. einzufordern. Erst in Zeiten gesellschaftlicher Krisen, Konflikte und Umbrüche eröffnen die Vertreter verschiedener konträrer Deutungshorizonte und Interessen Debatten um Authentizität in normativer und deskriptiver Hinsicht. Das Konzept historischer Authentizität ist sehr hilfreich, um auch und gerade politische Legitimationsstrategien zu dekonstruieren. Ich begreife es gewissermaßen als Kehrseite des bekannten Theorieansatzes der >erfundenen Traditionerfundenen Traditionen< zum Ausdruck einer simplen, positivistisch verstandenen Wissenschaft zu werden, die deutlich zwischen >authentisch< und >inauthentisch< unterscheidet. Der Mehrwert des Authentizitätskonzeptes liegt jedoch in der Möglichkeit, die Frage, auf welche Art und Weise Ansprüche auf Authentizität rezipiert werden, von Vornherein mitzudenken, weil es sich explizit auf Kommunikationsprozesse bezieht. Im Folgenden beschäftige ich mich zunächst mit dem Komplex traditionellen Autoritäten und stelle dann die beiden Fallstudien zu Guinea-Bissau und Angola vor. Abschließend werden auf Grundlage dieser Beispiele die eingangs formulierten Fragen diskutiert und in einige theoretische Schlussfolgerungen kondensiert.

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>Authentische< A n s p r ü c h e ?

Wesentliche Ergebnisse des Beitrags beruhen auf ethnographischen Feldforschungen in Angola (2011, 2012) und Guinea-Bissau (2006-2007, 2013, 2014) sowie auf der Sekundärauswertung der Fachliteratur.

>Traditionelle< Autoritäten in Afrika und ihre Authentizität In weiten Teilen der Öffentlichkeit und in vielen Medien des >globalen Nordens< sind Benennungen wie >Häuptling< und >Stamm< nach wie vor gängige Symbole und Tropen für afrikanische Gesellschaften. Sie reihen sich ein in das Spektrum stereotyper Begriffe wie »Krise«, »Krieg« oder »Chaos«, mit denen Afrika geographisch wie gesellschaftlich verallgemeinernd definiert werden. Die Rede von >Häuptlingen< evoziert nicht nur Assoziationen des Exotischen unter weiten Teilen der europäischen Bevölkerung, sondern unterstreicht auch die vermeintliche radikale Andersartigkeit Afrikas, das allzu oft als wilder, unbegreiflicher »dunkler Kontinent« (Conrad 1902) imaginiert wird - ein dem Orientalismus ähnelnder Prozess (Said 1978). Mehr oder weniger implizit schwingt bei der Imagination >traditionellen Autoritäten auch die Sehnsucht nach einer vermeintlichen historischen Authentizität afrikanischer Gesellschaften mit: sie gelten als Ausdruck eines >ursprünglichenwahrhaftigen< Afrikas mit einer natürlich gewachsenen, gemeinschaftsbasierten Gesellschaftsordnung - so die romantische Vorstellung (vgl. Berman 1998: 317, 320).1 Die Forschung hat dieses Bild schon seit langem revidiert und sich >traditionellen< Autoritäten - so der Sammelbegriff, der lokale Bezeichnungen wie Chiefs, chefs, régulos,

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Z u r Problematik des B e g r i f f s d e r Tradition und d e r bedenklichen Dicho-

tomie >traditionell< und >modernerfunden< werden, ohne dass dies auf Rezipientenseite zu Zweifeln und Ablehnung gegenüber >erfundenen< Narrativen und damit letztlich zum Scheitern dieser Strategien führen würde: not anything goes - in Umkehrung des Diktums von Paul Feyerabend (1976). Stattdessen könne man immer wieder Aushandlungsprozesse beobachten, in denen divergierende Auffassungen artikuliert und an flexible, sich dynamisch verändernde Kontexte an-

2

Einen guten, wenn auch in Teilen überholten Überblick zu traditionel-

lem Autoritäten in Afrika im Länder- und kolonialstaatlichen Vergleich gewährt van Rouveroy van N i e u w a a l (1987).

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>Authentische< A n s p r ü c h e 7

gepasst werden. Dies berührt folglich auch fundamentale Fragen der Authentizität der von >traditionellen< Autoritäten angeführten Ansprüche, die verschiedentlich rezipiert, transformiert und adaptiert werden können. Auch die Frage, wer denn die Adressaten vermeintlich authentischer Machtansprüche sind, wird davon berührt. Gegen das eingangs geschilderte romantisierende Bild von >Häuptlingen< hat gerade die historische Forschung eine Vielzahl Fallstudien geliefert, die die partielle Diskreditierung >traditioneller< Autoritäten seit der Kolonialzeit unterstreichen. Sie werden oft als Handlanger kolonialer Strukturen identifiziert, die u.a. auch an der Einführung neuer Häuptlingstümer bzw. Umgestaltung bestehender Herrschaften mitwirkten (z.B. McGovern 2013: 95-98). Die Kolonialzeit beendete zuvor flexible und plurale Arrangements, indem sie Strukturen fixierte und festschrieb (Ranger 1993: 639). Diese Transformation geschah zumeist aus strategischen Gründen, um über Häuptlinge die lokale Bevölkerung kontrollieren zu können (Carvalho 2002: 93). Mitunter genossen diese neuen Autoritäten jedoch wenig bis keine Akzeptanz und Prestige bei der Bevölkerung (Carvalho 2008: 44; Havik 2010a: 175; van Rouveroy van Nieuwaal 1999: 39). Die Diskreditierung vieler traditioneller Autoritäten< fällt somit in die Kolonialzeit und wurde in der historischen und ethnologischen Forschung der vergangenen Jahrzehnte vielfach mithilfe des Konzeptes »erfundener Traditionen« analysiert (Ranger 1983, 1993). Die >Erfindung< von Traditionen war jedoch keine Einbahnstraße: sollten diese erfolgreich sein mussten sich die Kolonialherren mit lokalen Kollaborateuren zusammentun, um die Bedeutung von »Traditionen« in ihrem Sinne zu erweitern, also neue Praktiken »imaginieren« (Ranger 1993: 79-82). 3 Die Häuptlinge als >Intermediäre< kolonialer Herrschaft gerieten somit zusehends in Ab-

3 Diese Manipulationsversuche vonseiten des Kolonialstaates als nur einem Akteur in diesem Spiel haben teilweise bis in die Gegenwart anhaltende Auseinandersetzungen um die Rechtmäßigkeit >traditioneller
erfundene< Häuptlinge als >unauthentisch< ablehnte. Nichtsdestotrotz gelten Häuptlinge, zumal im globalen Norden, vielfach weiterhin als Repräsentanten genuiner afrikanischer Kultur und ihrer Gemeinschaften. Häuptlinge sorgten u.a. für Rechtsprechung und trieben im Auftrag der Kolonialverwaltung Steuern bei den Untertanen ein. Im Gegensatz zum ländlichen Raum waren in Urbanen Zentren, die sich kulturell, sozial, ökonomisch, rechtlich und politisch stark an den kolonialen Metropolen orientierten, Einrichtungen wie Gerichte und Polizei den Europäern sowie einer kleinen, >zivilisierten< Schicht afrikanischer Bürger vorbehalten. Mahmood Mamdani (1996) sprach im Kontext dieser dualen politischen und juristischen Parallelität von einem »bifurcated State«. Auch nach der Unabhängigkeit blieb die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Häuptlingen und Staat z.T. bestehen, ergänzt um einen gegenseitigen Wettbewerb um Macht und Zugang zu Ressourcen. Dies war z.B. der Fall in Togo, wo sich der autoritäre postkoloniale Staat der Häuptlinge als Unterstützer bediente, diesen aber zugleich Legitimation und damit materielle Vorteile und politische Einflussmöglichkeiten zuerkennen musste (vgl. van Rouveroy van Nieuwaal 1999: 24-28). Auch andere postkoloniale Staaten beschritten diesen Weg und banden die Häuptlinge in ihre politischen Systeme ein, mit jeweils unterschiedlichen Zugeständnissen an Macht und politischer Mitbestimmung, darunter Angola (z.B. Florencio 2010: 121-134), Südafrika (Oomen 2006), Sambia (z.B. Papstein 1989) und Botswana (Morapedi 2010). Andere unabhängig gewordene Länder, wie u.a. Guinea im Zuge seiner Politik der >demystification< (McGovern 2013),

Autoritäten und deren Nachfolge zwischen verschiedenen Fraktionen zur Folge.

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>Authentische< A n s p r ü c h e ?

Guinea-Bissau (Carvalho 2003) oder Tansania (van Rouveroy van Nieuwaal 1999: 29) unterbanden gesetzlich jegliche Möglichkeiten politischer Mitwirkung der Häuptlinge. Jedoch kam es seit Anfang der 1990er Jahre in zahlreichen Staaten Afrikas zu einer Revitalisierung »traditionellen Autoritäten, darunter in Benin und Niger (van Rouveroy van Nieuwaal 1999: 29-30). Lange Zeit gab es keine fundierten Erkenntnisse darüber, wie die Bevölkerungen afrikanischer Staaten zur Revitalisierung >traditioneller< Herrschaft stehen. Anfang des Jahrtausends erhobene empirische Daten (quantitative Fragebögen-Interviews) aus dem nördlichen Südafrika (Oomen 2006) zeigen, dass die Unterstützung für >traditionelle< Autoritäten begrenzt ist. Demnach hängt die Unterstützung der magosi von einer Vielzahl von Faktoren ab. Die Unterstützung leitet sich u.a. von der Art der Angelegenheit ab (u.a. Mediation in Familien- und Strafsachen, Landangelegenheiten, Hexerei, Initiation). Ein weiterer Faktor ist die Größe der Gemeinschaft und ihr (Nicht-)Zugang zu staatlichen Institutionen. Wichtig sind auch Charakter und Persönlichkeit des magosi. Aber auch individuelle Beweggründe der Bürgerinnen (z.B. Assoziierung >traditioneller< Autoritäten mit den >kulturellen< Wurzeln der Gemeinschaft, Art der Amtsführung des Führers, Anerkennung >traditioneller< Autoritäten durch den Staat, Mangel an Alternativen zum >traditionellen< Führer) spielen eine Rolle. Im Gegensatz zu den Älteren machte die Jugend ihre Entscheidung für oder gegen >traditionelle < Führer eher abhängig von deren Leistung, während Frauen in Siedlungen mit einer verbesserten materiellen und sozialen Infrastruktur und Personen mit höherer Bildung und besserem Einkommen den Häuptlingen gegenüber kritischer eingestellt waren (Oomen 2006). Die teilweise konnotierte Verbindung von >traditionellen< Autoritäten mit der Kultur impliziert die Wertschätzung, die den magosi als Hüter einer implizit als authentisch begriffenen Kultur entgegengebracht wird. Oomens primär quantitativer Erhebung setze ich im Folgenden qualitative Daten gegenüber. Es werden folgende Fragen analysiert: Wie wird in den Fallbeispielen aus

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Guinea-Bissau und Angola historische Authentizität von Produzenten generiert? Inwiefern rekurrieren sie dabei auf transnationale bzw. internationale Diskurse? Und wie und in welchen Ausmaß wird vor dem Hintergrund verschiedener politischer Staatssysteme und Kulturen die Authentizität der beschriebenen >traditionellem Autoritäten rezipiert und ggf. akzeptiert, kontestiert oder gar zurückgewiesen?

Der Juiz do Povo der Kriston de Geba in Guinea-Bissau Die

Begegnung

Das erste Mal begegnete ich dem Juiz do Povo (übers.: »Volksrichter«) der Kriston de Geba (in der bissau-guineischen Verkehrssprache Kriol wörtlich für »Christen aus Geba«, von Portugiesisch cristäos, »Christen«) Anfang Dezember 2006. Ich hatte in Bolama, rund 30 km südlich der Hauptstadt auf einer Insel gelegen, an einem Musik-Festival teilgenommen und befand mich an Bord eines Schiffes der bissauguineischen Marine auf der Rückfahrt nach Bissau, als mir Freunde Augusto Negado Fernandes vorstellten, einen unauffälligen Mann hagerer Statur, Mitte vierzig. Er trug gehobene Alltagskleidung und eine Brille. Im Gespräch wirkte er freundlich, charismatisch und offen. Symbolische Insignien, die ihn als >traditionellen< Führer der Kriston de Geba ausgezeichnet hätten, führte er nicht mit sich. Als ich Negado Fernandes im Februar 2007 im Verlauf einer einjährigen Feldforschung zuhause in Bafatä besuchte, bemerkte ich, dass sich sein Wohnhaus nicht von den umliegenden Lehmgebäuden unterschied. Auch besaß er scheinbar keine Insignien, die seinen Anspruch, ein >traditioneller< Führer zu sein, unterstrichen. Obwohl er als Christ geboren worden sei, erklärte er mir, sei er einige Jahre zuvor zum Islam konvertiert - der im Osten Guinea-Bissaus vorherrschenden Religion. Er behauptete von sich, sämtliche Kriston de Geba in Guinea-Bissau zu vertreten sowie die gesamte Bevölkerung Gebas, die nicht-kreolische eingeschlossen.

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>Authentische< A n s p r ü c h e ?

Er legitimierte dies u.a. mit dem Verweis auf die Art und Weiseseiner Amtseinführung: Rund 3000 Wahlberechtigte hätten rund 50 Wahlmänner bestimmt; in Bissau habe es wegen der Größe auch Wahlversammlungen gegeben. Am 15. Dezember 2002 sei er schließlich in Bafatä zum Juiz do Povo gewählt worden. Ein Foto, das er mir stolz präsentierte, zeigte ihn in panos, traditionellen gewebten Stoffen, die die dem Träger entgegengebrachte Ehrerbietung zum Ausdruck bringen sollen. Wie sich herausstellte, hatten er und einige wenige Freunde und Bekannte diesen Wahlprozess initiiert, der mit der kolonialen Praxis brach. Mindestens einer von ihnen hatte Erfahrung in der Arbeit mit Nichtregierungsorganisationen und war offenbar deshalb mit partizipativen Verfahren vertraut. Nach seinen Aufgaben und Zuständigkeiten gefragt sagte Fernandes, dass er u.a. als Vermittler in Konflikten agieren wolle - einer Aufgabe, der viele >traditionelle< Führer nachgehen und für die sie z.T. Gebühren verlangen. Er verzichte jedoch auf solche Zahlungen. Ich erfuhr zudem, dass Negado Fernandes auf einer Plantage (ponta) nicht weit entfernt von Bafatä aufwuchs und lebte. Dorthin waren seine Eltern, beide Kriston de Geba, gezogen. Dort unterhielt er auch 2006-07 einen kleinen Laden und baute Cashew an. Neben dem Wohnhaus in Bafatä besaß er in Bissau noch eine kleine Wohnung in einem eher benachteiligten Stadtteil. Als ich 2013 und 2014 für zwei kürzere Feldforschungsaufenthalte nach Guinea-Bissau zurückkehrte, kontaktierte ich ihn. Seine alte Mobiltelefonnummer funktionierte noch, und so trafen wir uns 2013 im Zentrum Bissaus in meiner Unterkunft. Anders als einige Jahre zuvor war er nun wohlgenährt und besuchte mich in einem von seinem Neffen gesteuerten weißen Mercedes A-Klasse-Modell und nicht mehr wie einst per Fahrrad. Zusammen mit seiner Frau lebte er nun in einem hübschen Stein-Gebäude am Rande Bissaus kein Vergleich zur vorherigen Bleibe. Er erzählte, dass er Berater des Staatspräsidenten Malam Bacai Sanhä (im Amt 2009-2012) für Angelegenheiten >traditioneller< Autoritäten gewesen sei und 2012 die (erfolglose) Präsidentschaftskam-

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pagne des Politikers Baciro Djä gemanagt habe. Zudem habe er 2012-2013 versucht, ein Sägewerk bei Bafatä zu erwerben, was jedoch an mangelnden finanziellen Ressourcen scheiterte. Negado Fernandes zeigte mir einige Fotos, auf denen er in einem vermeintlich traditionellen Kleidungsstück, Kopfbedeckung und >Zepter< am Amtssitz des Regionalpräsidenten in Bafatä zu sehen war. Die Fotos zeigten auch, wie ihm der Übergangspremierminister Rui de Barros (2012-14) einen Verdienstorden des Ministeriums für Territorial- und Lokalverwaltung mit der Angabe »Augusto Fernandes, Juiz do Povo« überreichte. 2014 traf ich ihn erneut, nun im kleinen »Büro für die Koordinierung der traditionellen Autoritäten« im Innenministerium, im neu erbauten Regierungspalast unweit des Flughafens gelegen. Er und ein Mitarbeiter, ein studierter Agronom, zeigten mir die zur Verteilung fertigen KunststoffAusweise für alle >anerkanntem, >traditionellen< Autoritäten in Guinea-Bissau, die sie in den vorangehenden Monaten verifiziert hatten. Bereits 2013 hatte mir Negado Fernandes den aus dem Jahr 2010 stammenden Entwurf für die Durchführung eines solchen »regulo-Zensus« gezeigt (Ministerio da Administragäo Territorial 2010). Anders als im Jahr zuvor zeigt er sich nun ziemlich verschwiegen. Dies schien mehreren Faktoren geschuldet zu sein. Zum einen war es zu einer Regierungsumbildung gekommen und die Zukunft seines Büros infolgedessen unklar. Zum anderen war dieses Mal auch ein Dritter, ein Geschäftsmann anwesend, der ein Förderer von Negado Fernandes zu sein schien. Historischer Kontext

Die Kriston de Geba sind eine kleine kreolische Bevölkerungsgruppe, die ihre Ursprünge auf den Ort Geba im Zentrum Guinea-Bissaus zurückführen. Einst war Geba ein von den Portugiesen im 16. Jahrhundert gegründeter blühender Handelsstützpunkt (praga), in dem Europäer, Afrikaner und Kapverdianer aufeinandertrafen. Neben dem Handel mit allerlei Gütern sowie Sklaven kam es auch zu einer kulturellen

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>Authentische< A n s p r ü c h e 7

Vermischung, die vor Ort in der Entstehung einer neuen, gemeinsamen Kultur und Identität mündete: den Kriston de Geba. Neben Geba etablierten sich auch Handelsposten wie Cacheu, Bissau, Farim oder Ziguinchor Kriston als kulturelle, wirtschaftliche und politische Mittler. Bereits das Ethnonym verweist darauf, dass das (nominelle) Bekenntnis zum Christentum ein wesentliches Abgrenzungskriterium gegenüber anderen ethnischen Gruppen war (Havik 2007; Kohl 2009). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte jedoch ein rapider Niedergang Gebas ein: nach und nach verlor es seine einstmals dominante Stellung und unterscheidet sich heute auf den ersten Blick kaum von anderen Dörfern (tabancas) der Umgebung. Dieser Verfall führte dazu, dass der Großteil jener, die sich als Kriston de Geba bezeichnen, heute außerhalb Gebas lebt, zumeist in der nahegelegenen Kleinstadt Bafatä oder in der rund 120 km entfernten Hauptstadt. Dies hat zur Folge, dass die wenigsten der heutigen Kriston de Geba jemals in Geba waren und dass sie in Geba selbst heute eine Minderheit sind; die Mehrheit sind dort aktuell Mandinka muslimischen Glaubens (Kohl 2009). Historische Quellen legen nahe, dass der Juiz do Povo zumindest im 19. Jahrhundert - die Kriston-Gemeinschaften in den pragas repräsentierte. Die Existenz eines Juiz do Povo ist gesichert für das frühe 19. Jahrhundert in Cacheu (Senna Barcellos 1905: 345-348) und bis mindestens um 1900 in Bissau (cf. Cabral 2002: 197) und Geba (Monteiro und Rocha 2004: 191). Der Juiz do Povo wurde von den Ältesten der Kreolen gewählt (bzw. akklamiert) und vom portugiesischen Gouverneur ernannt. Er vertrat die Kriston gegenüber dem Gouverneur und regelte u.a. das Marktgeschehen und die Verteilung von Arbeit. Dafür wurde er von der Bevölkerung und der Kolonialregierung entlohnt (Lopes de Lima 1844: I, 55-56; Sousa Monteiro 1853: 231; Teixeira da Silva 1889: 102; vgl. Soares 2000: 134-135). Ein Bericht über Geba bestätigt, dass er aus den Reihen der Kriston-Ältesten gewählt wurde (Marques Geraldes 1887: 474-475, 479-480) - eine Praxis, an die sich auch betagte Informanten in Bafatä zu

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erinnern glaubten. Damit beanspruchte der Juiz do Povo die Selbstverwaltung der Kriston. Die historische Schilderung aus dem Jahr 1887 legt nahe, dass der Juiz do Povo als Inbegriff kreolischen Widerstandes gegen das portugiesische Kolonialregime gedeutet werden konnte. Umgekehrt diente der Juiz do Povo seit Beginn des 20. Jahrhunderts zumeist jedoch wohl als Transmissionsriemen kolonialer Interessen auf die kreolischen Gemeinschaften. Mit dem Niedergang Gebas und der Abwanderung vieler Kriston de Geba wurde auch in Bafatá 1922 das Amt eines Juiz do Povo durch die Portugiesen geschaffen, so Informanten, der jedoch formal dem (muslimischen) régulo von Ganadu unterstellt, was den Bedeutungsverlust des Amtes und dessen Unterordnung unter koloniale Erwägungen unterstrich. Als jedoch der dritte Juiz do Povo nach der Unabhängigkeit starb, wurde kein neuer mehr ernannt, denn der postkoloniale Staat erkannte solche Autoritäten qua Verfassung nicht an. In Geba trat eine ähnliche Situation ein. Hier beansprucht zwar ein jüngerer Bruder des letzten Juiz do Povo das Amt; dieser wurde aber von den wenigen übrigen Kriston in Geba als nicht würdig und fähig befunden, das Amt zu bekleiden. Explizit beriefen sich Negado Fernandes und seine Mitstreiter auf ein Gesetz aus der Kolonialzeit. Seinerzeit kam den vom Kolonialstaat ernannten bzw. bestätigten traditionellem Autoritäten eine nicht unerhebliche Bedeutung zu auch wenn diese Ansprüche von Konkurrenten oder ganzen Bevölkerungsteilen zurückgewiesen wurden und die Beziehungen zwischen (ernannten) régulos und Kolonialverwaltern spannungsgeladen und von Abhängigkeit der traditionellem Autoritäten von Repräsentanten des Kolonialstaats geprägt waren (vgl. Havik 2010b). Dies verdeutlicht u.a. das Beispiel der Balanta in Guinea-Bissau, die seit jeher akephalgerontokratisch organisiert sind und eingesetzte traditio n e l l Autoritäten oftmals nicht anerkannten (Braga Dias 1974: 176-178). Aus diesem Grund wurden z.B. in Teilen des kolonialen Guinea-Bissaus lediglich Interimshäuptlinge eingesetzt bzw. Posten nicht mehr neu besetzt (Havik 2010a:

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178-180, 186). Die Verwaltungsordnung von 1928 - eine der zahlreichen kolonialen Gesetzestexte, die sich traditionellem Autoritäten und deren Einbindung in den Kolonialstaat widmen - definiert in Kapitel IV in 21 Paragraphen Aufgaben und Funktionen >traditionellem, gleichwohl vom Kolonialstaat ernannter oder bestätigter Autoritäten im damaligen Portugiesisch-Guinea. Dazu gehörten der Einzug von Steuern, die Mitteilung von Ereignissen an die Verwaltung sowie die polizeiliche und richterliche Verfügungsgewalt - alles gegen eine Aufwandsentschädigung durch den Staat (Regulamento das Intendencias 1928). Fernandes hatte zudem einen Gesetzentwurf eines régulos (Rodrigues 2010), der ebenfalls an koloniale Vorbilder anknüpfte. Reaktionen aus der

Bevölkerung

Der Anspruch von Negado Fernandes auf den Posten des Juiz de Povo kontrastierte jedoch mit seiner Wahrnehmung durch Teile der betroffenen Bevölkerung. Erstens wiesen die Ältesten der Kriston in Geba seine Ansprüche zurück, sie zu repräsentieren, da er sich nie in Geba habe blicken lassen und weit entfernt geboren worden sei. Zweitens kritisierten sie, dass seine Wahl in Bafatá und nicht in Geba stattgefunden habe. Drittens würden viele Kriston de Geba, die außerhalb von Bafatá lebten, weder Negado Fernandes selbst, noch sein Amt überhaupt kennen. In der Tat kannten einige Kriston de Geba in Bissau, mit denen ich sprach und die keinen oder kaum Kontakt zu Geba oder Bafatá unterhielten, Negado Fernandes und sein Amt nicht. Viertens bezweifelten sie, dass er für das Amt qualifiziert sei, da er eher der muslimischen Gemeinde statt seinen eigenen Leuten zugeneigt sei. Fünftens genösse Negado Fernandes landesweit wenig Zuspruch.

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Postkolonialer Kontext und machtpolitische Interessen Nach der Unabhängigkeit Guinea-Bissaus 1973-74 beseitigte der Staat de jure die Institution der >traditionellen< Autoritäten {régulos). Gewählte Gremien auf regionaler und sektoraler Ebene existieren seit der Unabhängigkeit nicht, lediglich von der Zentralverwaltung ernannte Regionalpräsidenten (bzw. Präsidenten des Staatskomitees), die wiederum Sektoren-Vertreter ernennen (Constituigäo da República da Guiné-Bissau 1984: §§105-118). In der aktuellen Verfassung erwähnte Wahlen zu Regionalräten fanden bislang nicht statt. Die régulos wurden in den Anfangsjahren des unabhängigen Staates Guinea-Bissau staatlich und politisch als Handlanger des Kolonialregimes verfolgt und in Einzelfällen sogar getötet. Mit der politischen Liberalisierung ab Ende der 1980er Jahre gelang es einigen ehemaligen Amtsinhabern zunächst, in staatliche Ämter aufzurücken, bevor eine weitgehende institutionelle Erneuerung von Häuptlingstümern einsetzte. Dies geschah, indem die régulos ihre zeremonielle Bedeutung betonten und sich als Mittler der Bevölkerung gegenüber dem Staat präsentierten (Carvalho 2003: 12-13, 19-20, 34-35). Auch wenn die aktuelle Verfassung des Landes >traditionelle< Autoritäten nicht erwähnt, so wurden doch seit Anfang der 1990er Jahre einige Gesetze erlassen, die >traditionelle< Autoritäten und Gewohnheitsrecht erwähnen (Loureiro Bastos o.J.: 12-15). Im August 2011 wurde das erste Treffen des Forum dos Régulos da Guiné-Bissau abgehalten; in dessen Selbstdarstellung wird die Signifikanz der >Könige< für die lokale Verwaltung und deren Rolle für die Konfliktlösung »unabhängig von politischen Erwägungen« hervorgehoben (Insight on Conflict O.J.). Die von Negado Fernandes verfolgte Strategie ist im Kontext der in Guinea-Bissau seit Anfang der 1990er Jahre zu beobachtenden Wiederbelebung >traditioneller< Autoritäten zu sehen, bei denen der Verweis auf eine vermeintliche historische Authentizität als Legitimationsbasis herangezogen wird. Und dies in zweierlei Hinsicht: zum einen gerichtet an die Masse der betroffenen Bevölkerung, zum anderen an

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die Vertreter von Staat und Politik. Seine Strategie beruhte überwiegend auf der Aneignung von partizipativen Mechanismen, die u.a. von im Land tätigen Nichtregierungsorganisationen hinlänglich bekannt sind. Allerdings scheinen die Aktivitäten rund um die Wiederbelebung des Amtes des Juiz do Povo, die Fernandes und sein Umfeld verfolgten, auch von ökonomischem Eigennutz geprägt. Tatsächlich verfolgte auch die nach einem Militärputsch Anfang 2012 gebildete Übergangsregierung, die bis Mitte 2014 im Amt blieb, eine Politik zugunsten traditioneller Autoritäten, wie die Einrichtung einer entsprechenden Adhoc-Kommission im Jahr 2012 (Ministério da Administragäo do Territorio e Poder Local 2012) sowie ein neuer Gesetzesentwurf mit offiziellem Charakter (República da Guiné-Bissau 2013) zeigen. Diese Aktivitäten zielten auf eine staatsrechtliche Anerkennung >traditioneller< Autoritäten ab, die bislang weder Verfassungs-, noch Gesetzesrang besitzen. Dem damaligen Minister warfen Kritiker vor, durch eine staatliche Anerkennung der régulos seine Machtbasis erweitern zu wollen, während es den régulos v.a. um offizielle Macht, Einkommen und staatliche Leistungen und Prestigesymbole wie Dienstwagen gehe. Doch auch internationale Organisationen wie das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) - in Zusammenarbeit mit der EU, der Bissauer Juristischen Fakultät sowie dem Nationalen Studien- und Forschungsinstitut (INEP) - haben sich in den vergangenen Jahren intensiv mit den Fragen >traditioneller< Autoritäten und Gewohnheitsrecht beschäftigt, um so eine Stärkung der lokalen Verwaltung im oft als schwach befundenen Staat zu bewirken. In einem im November 2014 vorgestellten Bericht werden auf Basis rechtswissenschaftlicher qualitativer Erhebungen im ländlichen Raum u.a. die >traditionelle< lokale Verwaltung von sechs ethnischen Gruppen thematisiert - ein in ethnologischer Hinsicht zweifelhaftes Unterfangen, scheinen die Autoren doch von in sich geschlossenen, homogenen Ethnien auszugehen und die bislang eher flexiblen lokalen Arrangements, auch in Bezug auf die Ernennung und Rolle

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>traditionellem Autoritäten, schriftlich und für alle Zeiten »zementieren« zu wollen (Faculdade de Direito o.J.), um somit indirekt politisch absichtsvollen Akteuren vor Ort in die Hände zu spielen. Historische Autorität wird in dieser Arena zu einem zentralen Argument, um Machtansprüche durchzusetzen. Vielfach ist die historische Tiefe jedoch nicht gegeben, denn die meisten Akteure beziehen sich auf die späte Kolonialzeit als Referenzrahmen und blenden alles Vorherige aus. So soll tatsächlich auf alten Fundamenten etwas Neues geschaffen werden, das sich diskursiv als historisch authentisch legitimiert und weniger durch demokratische Prinzipien. Der Anspruch, sich als authentische Repräsentanten der Bevölkerung bzw. der Kultur zu inszenieren, wird aber nur von einem Teil der Bevölkerung geteilt. Gerade in Urbanen Kontexten verweisen zahlreiche Gesprächspartner auf die Inkompetenz, mangelnde Bildung, Trunksucht und Machtorientierung von régulos, die sie für entsprechende Aufgaben disqualifizieren. Trotzdem kommen auch in Guinea-Bissau die relevanten Akteure nicht umhin, ihre vermeintlich historische authentische Legitimation um demokratische Elemente und Rechtfertigungen aus dem g l o balen Norden< zu ergänzen, wie das mutmaßlich demokratische Wahlverfahren Negado Fernandes' oder der Anspruch, als nicht-staatliche aber staatlich anerkannte und bezahlte régulos als Mediatoren auch offiziell Konflikte zu lösen - und sich entsprechende Einkommen zu erschließen. Doch auch auf einem anderen Niveau wird Authentizität inszeniert: Bezugnehmend auf die Bilder, die Negado Fernandes 2012 in >traditioneller< Kleidung zeigten, bestätigte er mir im Gespräch, dass er das Gewand sowie ein Zepter-ähnliches Objekt einem Foto aus Ghana entnommen habe, das ghanaische Chiefs in >traditioneller< Kleidung abbildete. Somit kann Negado Fernandes als politischer, kultureller und ökonomischer Akteur angesehen werden - wenn auch ein wenig prätentiöser - der auch mit (indirektem) Verweis auf andere afrikanische Länder Symbole einführte, die der Untermauerung seiner Ziele dienen sollen. Gleichzeitig nutzt er

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das historische Prestige, das viele, zumal gebildete BissauGuineer dem ehemaligen bedeutsamen Handelsstützpunkt Geba zuschreiben, für sein eigenes Projekt und das anderer régulos, um politische Allianzen zu schmieden. Dabei ist er auf einflussreiche Politiker angewiesen, die das Projekt einer Revitalisierung >traditioneller< Autorität unterstützen, um ihre eigene Basis, bedeutsam etwa in Wahlkämpfen, zu stärken. Dies ist auch vor dem Hintergrund jahrelanger Dezentralisierungsdiskussionen von Bedeutung: Ganz offensichtlich wollen sich die régulos in eine gute Ausgangsposition bringen, um sich als >authentische< Repräsentanten von Bevölkerung und >traditioneller< Kultur zu präsentieren, um so bei einer eventuellen lokalen Verwaltungsgesetzgebung mitbedacht zu werden. Sie und andere Politiker erhoffen sich dadurch politisches (Machtzuwachs), symbolisches (Prestigegewinn) und ökonomisches Kapital (Pfründe usw.) anzueignen. Interessant ist jedoch, dass im Falle des Juiz do Povo augenscheinlich eine Berufung auf historische Authentizität nicht ausreicht, sondern (scheinbar) um demokratische Legitimationsmechanismen (Volkswahl) ergänzt wird. Gänzlich andere politische und historische Konstellationen herrschen im zweiten Fallbeispiel Angola vor, das ich im Folgenden schildern und analysieren werde.

M w e n e Mbandu III der Mbunda

in Angola

Die Begegnung Ende August 2011 hielt ich mich mit meinem Assistenten Joaquim André Melo in Luena, der Hauptstadt der ostangolanischen Provinz Moxico auf. Wir befanden uns dort, um im Rahmen einer dreimonatigen Feldforschung einstige Flüchtlinge (darunter auch in Angola als sobas bezeichnete >traditionelle< Autoritäten) zu interviewen, die nach Ende des Jahrzehnte währenden Krieges im Jahr 2002 aus Flüchtlingslagern im benachbarten Sambia nach Angola zurück-

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gekehrt waren. 4 Wie sich noch zeigen wird, ist der Begriff »Rückkehrer« problematisch, da er außer Betracht lässt, dass viele angolanische Flüchtlinge in Sambia geboren wurden bzw. als Kinder dorthin geflohen waren und somit keine Erinnerung an ihr >Heimatland< haben. In Luena bekamen wir Kontakt zu einem Mitarbeiter des Lutherischen Weltbundes (Lutheran World Federation, LWF), der seinerzeit ein Projekt in Moxico durchführte, das die Mitbestimmung der Bevölkerung bei Entscheidungen von sobas verbessern wollte. Der LWF-Mitarbeiter war selbst ein ehemaliger Flüchtling, was durch seinen englischen Vornamen unterstrichen wurde. Er machte uns auf einen König in Lumbala Nguimbo aufmerksam, der ebenfalls aus Sambia stamme. Lumbala Nguimbo, in der Kolonialzeit nach dem portugiesischen Marine-Offizier und Flugpionier Gago Coutinho benannt (Portaria 10/77 1977; Rectificagäo 1977), liegt ungefähr 350 Kilometer südlich von Luena, rund 40 Kilometer entfernt von der sambischen Grenze. Bevor er beim LWF angefangen habe zu arbeiten, sei er Sekretär des Königs gewesen, so der LWF-Mitarbeiter. Würden wir uns für einen Besuch dort entscheiden, sollten wir den König bzw. dessen Assistenten vorab um eine Audienz bitten und ein Geschenk mitbringen. Am Abend des 31. August brachen wir an Bord eines Lastkraftwagens, der viele Menschen und deren Habseligkeiten transportierte, von Luena Richtung Lumbala Nguimbo auf. Die Fahrt war sehr anstrengend und sollte aufgrund schlechter Straßen sowie eines Kühlerschadens rund 14 Stunden dauern. In der Nacht wurde es sehr kalt. Lumbala Nguimbo, wo wir am Morgen eintrafen, ist ein kleiner Ort. Ruinen von

4 Das Projekt »Refugee Repatriation and Local Politics« in Angola war Teil des DFG Priority Programme 144 Adaptation and Creativity in Africa. Technologies and Significations in the Production of Order and Disorder und wurde von Katharina Inhetveen geleitet; die Feldforschungen wurden von mir, zeitweise maßgeblich in Zusammenarbeit mit Joaquim André Melo, durchgeführt.

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Wohnhäusern und der Kirche zeugen von Jahrzehnten des Krieges und von seinen einstigen portugiesischen Bewohnern. Am frühen Nachmittag wurden wir nach einem Telefonat mit dem Auto des Königs der Mbunda von unserem kleinen Hotel, dem einzigen am Ort, abgeholt. Vor unserer Audienz hatte André eine Ziege und ManiokWurzelknollen auf dem Markt als Gastgeschenk gekauft. Wir erreichten unser Ziel, etwas außerhalb des Ortes gelegen, nach kurzer Fahrt. Der König residierte in einem für lokale Verhältnisse gehobenen, Palast genannten Wohngebäude, das aus Stein gebaut war und über ein Wellblechdach sowie einen Stromgenerator verfügte. Auf einer kleinen Anhöhe über dem Fluss gelegen, breitete sich hinter ihm eine öde Fläche aus, die für Feierlichkeiten des Königs genutzt wurde, wie wir später erfuhren. Der Empfang war mit symbolischem Zeremoniell verbunden, so u.a. dem Knien vor dem König und der Übergabe der Geschenke. König Mwene Mbandu III empfing uns in ein Leopardenfell gekleidet, Ausdruck der von ihm beanspruchten Macht. Ich fühlte mich auf eine Sprachinsel versetzt, da wir ausschließlich Englisch sprachen. André kommunizierte in lokalen Sprachen mit dem Hofstaat, der u.a. einen »prime-minister«, einen ehemaligen Grundschullehrer sowie den Fahrer umfassten. Wir erfuhren, dass der König in Angola geboren wurde und noch im Babyalter mit seinem Vater 1948 nach Nordrhodesien emigrierte, wie viele andere Bewohner Ostangolas auch, da sie die Portugiesen nicht mochten. Eine Pressemeldung (ANGOP 2008) gab sein Alter mit 58 Jahren an, was mit dieser Darstellung konfligiert. In seinem FacebookProfil5, das bis Anfang 2015 auch ein Foto von ihm zeigte, gibt er als Herkunftsort Bulawayo an, nicht Angola. Dort, im heutigen Simbabwe, dem ehemaligen (Süd-)Rhodesien, besuchte er ab 1958 nach eigenen Angaben die Schule und betätigte sich beruflich. 1962 kehrte er nach Nordrhodesien

5 Mwene Mbandu Mbandu Lifuti, https://www.facebook.com/mwenembandu.mbandulifuti?fref=ts (aufgerufen am 9.9.2015)

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zurück, wo er bei seinem Vater, einem (ungekrönten) Sohn des Mwene Mbandu, in einem Dorf lebte. Er arbeitete als freiberuflicher Fotojournalist, nachdem er, laut einem Pressebericht (ANGOP 2008) Journalismus studiert hatte. Er unterhielt Kontakte zu Verwandten in Luanda, v.a. nach der Unabhängigkeit, blieb aber in Sambia, wo auch seine Kinder aufwuchsen. Als Journalist arbeitete er auch für die angolanische Botschaft in Lusaka, Sambia: »We opened a newsletter at the embassy called >Angola News< [...] [it] is now called >Mangolêtraditionellen< Autoritäten und der Mbunda ein und engagiert sich kulturell. Die Organisation unterhält zudem

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http://www.mbundakingdom.org (aufgerufen am 9.9.2015)

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eine Facebook-Seite7 sowie einen Twitter-Account8. Diese Organisation hat auch eine DVD der Krönungsfeierlichkeiten produziert, die wir uns nach dem Interview anschauten. Ich erhielt ein Übersichtsblatt mit den dem König untergeordneten Häuptlingen im Süden der Provinz Moxico und der angrenzenden südangolanischen Provinz Cuando-Cubango sowie die Statuten des Königreiches, die für alle Bewohner des Territoriums Gültigkeit besitzen. Sie etablieren den König zudem als Mediator in Konfliktsituationen, der auch Geldbußen bis AOA 5.000 (entsprach 2011 ca. 40 EUR) verhängen kann (Estatutos do Trono do Reinado Mbunda 2007: §§13, 19). Jedoch bleibt die tatsächliche Relevanz dieser Statuten unklar, ebenso ob sich daraus Konflikte mit dem staatlich-politischen und rechtlichen System ergeben. Für seine mangelnde Souveränität spricht, dass mich der König bei unserer Ankunft gebeten hatte, mich ordnungsgemäß bei der Migrationsbehörde zu registrieren, so wie dies in Angola allerorten erforderlich ist. Angesprochen auf seine Zusammenarbeit mit der MPLA-Regierung erklärte der König, dass sein Projekt gänzlich unparteiisch sei: »We are non partisan. [...] But I have to work with the government of that day.« Er ergänzte: »Just like a policeman should be non-partisan. A soldier should be non-partisan. A priest of the church should be non-partisan. So a king or a chief should also be non-partisan«. Dementsprechend rechtfertigte er auch das »traditionelle« Gewand (inklusive Insignien) eines Mbunda-Herrschers. Da er unabhängig sei, trage er keine soba-Uniform der angolanischen Regierung: »So we are not supposed to have [eine angolanische Uniform], My uniform is this.« Das kontrastierte mit dem, was mir andere sobas berichtet hatten, nämlich dass sie sowohl eine Uni-

7 The Mbunda Kingdom Research & Advisory Council, https://www.facebook.com/groups/271661846300543 (aufgerufen am 9.9.2015) 8 The Mbunda Kingdom, https://twitter.com/MbundaKingdom (aufgerufen am 9.9.2015)

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form, als auch (vermeintlich) 9 >traditionelle< repräsentative Bekleidung besäßen. Auch die Statuten erwähnen, dass die Regierung dem König eine Uniform und einen Hut stellt (Estatutos do Trono do Reinado Mbunda 2007: § 11). Die Darstellung Mwene Mbandus III bekam weitere Risse, als uns am Folgetag ein enger Mitarbeiter des Hofstaates des Königs erzählte, dass er und seine Kollegen nicht bezahlt würden. Später erfuhren wir, dass der König vom lokalen staatlichen Administrator, einem MPLA-Mann, monatlich einen Umschlag mit einer unbekannten Menge Bargeld erhalte, das er jedoch für sich verwende. So erschien der häufige Wechsel der Angestellten nicht verwunderlich. Auch der vorherige Premierminister betreibe nun ein Geschäft, erwähnte der Mitarbeiter. Reaktionen

aus

der

Bevölkerung

Wie beurteilen die Anwohner den König und dessen >Authentizität