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German Pages [426] Year 2016
Schriften zur politischen Kommunikation
Band 23
Herausgegeben von Angela De Benedictis, Gustavo Corni, Brigitte Mazohl, Daniela Rando und Luise Schorn-Schütte
Florian Huber
Grenzkatholizismen Religion, Raum und Nation in Tirol 1830–1848
Mit 8 Abbildungen
V& R unipress
Reihe des Internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der Antike bis in das 20. Jahrhundert«
®
MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
www.fsc.org
FSC® C083411
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6312 ISBN 978-3-8471-0574-9 ISBN 978-3-8470-0574-2 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0574-6 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. T 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Armani Basilio, Solenne Processione dalla Chiesa di S. Maria alla Cattedrale di Trento celebrata nel giorno 13 Dicembre 1845, in: Feste Secolari del Concilio di Trento con Solenne rito celebrate nei giorni 12, 13, e 14 dicembre 1845, descritte ed illustrate, Trento 1845. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigen Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung: Die Grenzkatholizismen Tirols . . . . . . . . . . 1.1. Die moderne »Heiligkeit« Tirols: Eine Einführung . . . . 1.2. Konzeptioneller Rahmen: Religion, Säkularisierung, Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Ansätze und Methoden: Selbstbeschreibungen, Medien, Medialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Historischer Kontext: Religion an Grenzen . . . . . . . . 1.5. Untersuchungsgegenstände: Nation, Konfession, Raum transnational beobachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Provinzialisierung und Deprovinzialisierung: Vormärzliche Paradoxien Trentino-Tirols . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Vom Land zur Provinz: Dimensionen der Provinzialisierung 2.1.1. Entmachtung und Vereinheitlichung: Die politische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Peripherisierung: Die wirtschaftliche Entwicklung . . 2.1.3. Die Domestizierung der Gesellschaft: Die kulturelle Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4. Das Staatskirchentum als religiös-kirchliche Provinzialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Entgrenzungen: Mediale Ausbrüche aus der Provinz . . . .
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Inhalt
3. »1837« als Tiroler »Normaljahr«: Die Zillertaler Ausweisung und die konfessionelle Publizistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Im Sog der konfessionellen Polemik: Verarbeitungen eines vormärzlichen Traumas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Am Rand der josephinischen Toleranz: Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft und das habsburgische Staatskirchensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. »Roher, als das Metall, das er bearbeitet«: Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft katholisch beschrieben . . . . . . . . . . 3.4. Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft als Medienereignis . . . . 3.5. Devianz und Medienereignis: Auswirkungen auf Tirol . . . . . 4. Religiöse Ethnographien: Semantik und Medien gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen im Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Das Unbehagen über die mediale Aufmerksamkeit . . . . . . 4.2. Zwei ungleiche Priester – Gioseffo Pinamonti und Beda Weber 4.3. Die Medialität der religiösen Ethnographien . . . . . . . . . . 4.4. Die Semantik der religiösen Ethnographien . . . . . . . . . . 4.5. Landesbeschreibung als gesellschaftliche Selbstbeschreibung .
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5. Mediale Aufbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Scheitern an den Grenzen des Staatskirchentums: Der »Raccoglitore Religioso« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Jenseits der Grenzen des Staatskirchentums: Die »Katholischen Blätter aus Tirol« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1. Formen der Medialisierung I: Die Konstruktion des »idealen Priesters« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Formen der Medialisierung II: Die Konfessionalisierung der Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3. Formen der Medialisierung III: Kirchliche Statistik als neue Beobachtungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Ersatzöffentlichkeiten: Religiöse Kommunikation im Trentino . . . 6.1. »Or chi dunque siam noi?« Gelehrter Austausch und neoguelfische Selbstfindung an der »Accademia degli Agiati« in Rovereto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. »Ozio«, Fortschritt und praktisches Christentum: Der »Giornale agrario« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
7. »Sängerkriege«: Die frühen Kulturkämpfe Tirols . . . . . . . . . . . 7.1. »Das oberste Gesetz des Ordens ist das, was ihm nützt.« Antijesuitismus in Tirol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Das Ende der Zensur : Die Medialität der »Sängerkriege« . . . . 7.3. Semantiken der »Sängerkriege« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1. Welcher Katholizismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2. Die doppelte Entzweiung Tirols: Liberal oder katholisch, deutsch oder italienisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8. »Glaubenseinheit« und »Pio IX« – Zwischen Vormärz und 1848 . . . .
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9. Grenzkatholizismen als öffentliche Religionen: Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1. Die »lange Revolution« in der Grenzregion . . . . . . . . . . . 9.2. Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3. Medialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4. Nationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5. Der »lange« Vormärz der Grenzkatholizismen Tirols . . . . .
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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . I. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . II. Gedruckte Quellen, Quelleneditionen III. Periodika . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verwendete Literatur . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Dieses Buch entstand in mehreren Etappen und in verschiedenen Lebens- und Arbeitsumständen zwischen 2009 und 2015. Dass es zu einem Abschluss geführt werden konnte, verdanke ich vielen Menschen, die zu entscheidenden Zeitpunkten drängten, diskutierten und kritisierten, motivierten und korrigierten. Allen voran bin ich Brigitte Mazohl zu Dank verpflichtet: Sie betreute diese Arbeit nicht nur, sondern glaubte stets an dieses Projekt, selbst dann, wenn ihr dessen Bearbeiter wenig Grund dazu gab. Die Grundlage dieses Buches durfte ich als Stipendiat des Internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation« erarbeiten. Ich danke der DFG für die großzügige Unterstützung, den Professorinnen und Professoren des Kollegs für ihre scharfe, aber auch konstruktive Kritik sowie für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Schriften zur Politischen Kommunikation«; den Mitstipendiatinnen und Mitstipendiaten aus Deutschland, Österreich und Italien danke ich für schöne Stunden auch jenseits des Dissertantenalltags. Fertiggestellt werden konnte das Projekt im angenehmen Klima des Brixener Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte: Dessen Leiter Oswald Überegger danke ich für seinen immensen Vertrauensvorschuss und dafür, mir den Rücken während der Finalisierungsphase freigehalten zu haben. Viele Bibliothekarinnen und Bibliothekare, Archivarinnen und Archivare haben in den vergangenen Jahren mit Geduld und Fachkompetenz meine Anfragen und Bestellungen bearbeitet. Insbesondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universitätsbibliothek in Innsbruck und der Südtiroler Landesbibliothek »Friedrich Tessmann« in Bozen, aber auch die Archivare der Diözesanarchive in Brixen und in Trient leisteten unverzichtbare Dienste und legten gleichsam das logistische Grundgerüst für diese Arbeit. Andrea Di Michele, Siglinde Clementi, Bruno Bassi, Laura und Liam Trott bewahrten mich vor peinlichen Übersetzungsfehlern und Carlo Romeo war ein verlässlicher Lotse durch die romantische Lyrik der Trentiner Neoguelfen, Magnus Ressel koordinierte die Drucklegung der Arbeit aus der Ferne und David Fliri war ein hervorragender archivalischer Ratgeber.
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Vorwort
Viele Menschen haben schließlich die Entstehung dieser Arbeit begleitet und diese erheblich geprägt, viele wohl, ohne es zu wissen. Tobias Daniels, Francesca Brunet, Pietro Ficarra und Michaela Oberhuber danke ich für die kollegiale Freundschaft und die Diskussionsbereitschaft auch jenseits der Historie, Tobias insbesondere auch für seine Couch. Die Bozener Freunde haben mich aus meinem Forscherdrang in die Gegenwart zurückgeholt, die Kollegen und Kolleginnen von »Geschichte und Region/Storia e regione« und »Studi Trentini« zeigten mir dagegen, dass man auch in Südtirol als Historiker leben und arbeiten kann, ja es insbesondere hier tun sollte. Hans Heiss hat mich als wissenschaftlicher Lehrer und Freund seit 2008 gefördert und meine Arbeit aus einer kritischen Distanz begleitet. Seine Begeisterung für die Geschichte, seine wissenschaftliche und menschliche Kompetenz, ungezählte Literaturhinweise, persönliche Leihgaben und Schenkungen waren stets Ansporn und Ermunterung zugleich. Ihm verdanke ich – und diese Arbeit – am meisten. Meiner Mutter und meinem Vater, Armin und Jan Paul, und vor allem Barbara möchte ich dafür danken, mir das Nächste und Natürlichste zu sein – ich weiß, dass das keine Selbstverständlichkeit ist.
1.
Einleitung: Die Grenzkatholizismen Tirols
1.1. Die moderne »Heiligkeit« Tirols: Eine Einführung »Jetzt ist kaum ein Ländchen in Europa, wo der Katholizismus und die patriarchalische Hierarchie noch so üppig, warm und fest gediehen, als Tirol«, hielt Heinrich Laube 1834 in seinen Reisenovellen fest.1 Nicht nur Laube und zahlreiche weitere Reisende, Schriftsteller und Theologen des 19. Jahrhunderts schrieben Tirol, dem mit Vorarlberg westlichsten Kronland der Habsburgermonarchie, eine besondere Katholizität zu – bis heute hält sich der Nimbus des streng religiösen Alpenlandes. Selbst- und Fremdbeschreibungen, affirmativ oder kritisch distanziert, versehen Tirol bis in die Gegenwart mit dem Attribut »Heiliges Land«, das als Wiege einer persistenten und gegen alle Neuerungen resistenten Katholizität imaginiert wird. Dass das Kronland Tirol, das die heutigen italienischen Provinzen Trient/Trento und Bozen/Bolzano-Südtirol sowie das österreichische Bundesland Tirol umfasste,2 von einer besonderen katholischen Tradition geprägt war, erscheint auf den ersten Blick trivial und nicht weiter überraschend. Heute noch kommt kein Tiroler Dorffest ohne religiöse Referenz aus und selbst der urbane Raum ist im geregelten Jahresrhythmus Bühne pompöser kirchlicher Prozessionen. Besonders eindrucksvolle Belege findet diese scheinbar unvergängliche Religiosität Tirols in zwei Medienereignissen im Sommer 2008. Eingeleitet wurde die öffentliche Dominanz des Religiösen im Frühsommer, als anlässlich der Eröffnung des Museums für Moderne Kunst in Bozen ein Werk des verstorbenen Künstlers Martin Kippenberger eine unerwartete Empörung entfachte. Das Exponat – ein gekreuzigter Frosch samt Bierkrug – versetzte Politik, Klerus und eine leserbriefwütige Laienschaft in Rage. Dieses kulturkämpferische Klima, getragen von symbolischen Aktionen 1 Laube, Reisenovellen I, S. 228. 2 Das Gebiet des gegenwärtigen österreichischen Bundeslandes Vorarlberg findet in dieser Arbeit keine Berücksichtigung. Obwohl Vorarlberg administrativ ab 1786 bzw. ab 1814/16 mit dem Kronland Tirol und kirchlich ab 1818 mit der Diözese Brixen verbunden war, behielt es seinen historischen Charakter eines »Landes« bei und erhielt 1816 eine eigene Verfassung.
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Einleitung: Die Grenzkatholizismen Tirols
für und wider das Kunstwerk, wurde im Spätsommer desselben Jahres weiter aufgeheizt: Der im August angesetzte Urlaub Benedikts XVI. in Brixen, einem der beiden (historischen) Bischofssitze Tirols, führte zu einem veritablen Papstkult; bestimmte Medien und das bischöfliche Ordinariat verstanden es geschickt, eine besondere Beziehung Brixens, seines Bischofs und der Katholiken Tirols zu Papst Benedikt XVI. zu konstruieren. Der wiederum kam freilich nicht umhin, sich in die lokale Frosch-Posse einzumischen und die Ausstellung des in den Augen Vieler blasphemischen Kunstwerks öffentlich zu rügen.3 Kulturkämpferische Endzeitstimmung und Papstkult am Beginn des 21. Jahrhunderts weisen nicht nur auf eine eigentümliche Weise in das Thema des Buches ein, sie demonstrieren – in Verbindung mit den mitunter stark religiös gefärbten Gedenkfeiern zum bicentenaire des Tiroler Aufstandes 1809–2009 – auch, welches Potential der öffentlichen Emotionalisierung, Empörung, und Identitätsstiftung Religion in der Region noch birgt.4 Besonders eklatant zeigte sich dies in der Bozener »Frosch-Affäre«, in der künstlerische Freiheit und Meinungsfreiheit der religiösen Empfindsamkeit eines Teiles der Bevölkerung und den Interessen einzelner Medienhäuser untergeordnet wurden. Ein ähnlicher Fall lässt sich aus dem nördlichen, österreichischen Bundesland Tirol anführen, wo 1985 die Filmaufführung Oskar Panizzas antikatholischer Satire »Das Liebeskonzil« (1894!) in einem Akt der Zensur untersagt wurde, da sie die religiösen Gefühle der Tiroler und Tirolerinnen »gröblichst« verletze – der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigte dieses Urteil.5 Prallte die Säkularisierung also an den Bergen Tirols ab? Während für Westeuropa bereits mit Anfang des 20. Jahrhunderts ein massiver Geltungsverlust des Religiösen und ein deutlicher Rückgang der individuellen religiösen Praxis, mithin die Erosion der sogenannten konfessionellen Milieus konstatiert wurde,6 formierten sich katholische Milieustrukturen auf dem Gebiet des ehemaligen Kronlandes Tirol nach 1945 mit aller Macht neu: Vereine, Parteien, 3 Keine vier Monate nach dem Besuch Benedikts XVI. in Brixen legte der Doyen der deutschsprachigen Tiroler Kirchengeschichte, Josef Gelmi, Papst Benedikt XVI. und Brixen. Geschichte einer Beziehung, Brixen 2008, vor; nachdem er im Sommer bereits Die Päpste mit dem Namen Benedikt, Brixen 2008, veröffentlicht hatte. Siehe auch die offizielle Webseite zum Papst-Besuch www.papst.brixen.it (31. 03. 2016) sowie die devote Berichterstattung in der Tageszeitung »Dolomiten« im August 2008. Mazarri, Froschbuch; Oberhollenzer, Kippenberger. 4 Heiss, Jahr. 5 Schima, Tiroler Glaubenseinheit, S. 118f. 6 Zu den nach wie vor sehr umstrittenen empirischen Säkularisierungsbefunden zuletzt die pointierte statistische Zusammenschau von Ziemann, Entwicklung, der einen Rückgang von Kirchenbindung und religiöser Praxis bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ansetzt, während der Mainstream der deutschsprachigen Katholizismusforschung bzw. Religionshistorie und -soziologie nach wie vor an einem »Religionsknick« nach 1945 und insbesondere in den späten 1960er Jahren festhält, etwa Damberg, Abschied.
Die moderne »Heiligkeit« Tirols: Eine Einführung
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Gewerkschaften und Medien begründeten nördlich wie südlich des Brenners stabile katholische Infrastrukturen, die bis in die jüngste Zeit in den Landtagen in Innsbruck, Bozen und Trient christdemokratischen Parteien komfortable absolute Mehrheiten garantierten und katholisch-konservative Deutungshoheiten begründeten.7 Obwohl lokale, statistisch fundierte Mikrostudien zu individuellen oder dörflichen Glaubenswelten im 20. Jahrhundert nach wie vor ausstehen und sich Schlüsse von der kollektiven, gesamtgesellschaftlichen Bedeutung religiöser Werte auf die individuelle, private religiöse Orientierung verbieten,8 lassen die Persistenz katholischer Strukturen und die öffentliche Dominanz katholischer Deutungsmuster die alpine Region zwischen Innsbruck und Trient in der Tat als einen homogenen Rückzugsraum katholischer Lebenswelten erscheinen. Säkularisierung und Modernisierung blieben hier offenbar zahnlos, was die Region deutlich von ihren Nachbarregionen unterscheidet.9 Das Attribut »Heiliges Land« scheint aus dieser strukturzentrierten, modernisierungstheoretischen Perspektive tatsächlich zutreffend – katholische Strukturen, Moralvorstellungen und Medien behaupteten in Tirol südlich und nördlich des Brenners bis in die jüngste Vergangenheit eine erhebliche gesellschaftliche Geltung. Der Wiener Kirchenhistoriker Rupert Klieber bezeichnete das habsburgische Kronland deshalb auch als »Kirchenstaat Österreichs«: Auf die Gesamtbevölkerung gerechnet, wirkten in keinem anderen Raum der Monarchie mehr Priester als in Tirol; Tirolerinnen und Tiroler spendeten bereitwilliger als andere Katholiken den sogenannten Peterspfennig für den im Kirchenstaat bedrängten Papst, das gesamte 19. Jahrhundert hindurch dominierten katholische Politiker bzw. katholische Priester im deutschen wie im italienischen Landesteil das politische Geschäft.10 Der Trentiner Historiker Sergio Benvenuti bezeichnete das deutschsprachige Tirol gar als »roccaforte del cattolicesimo austriaco.«11 So plausibel und unbestreitbar dieser strukturelle Befund der »Heiligkeit« Tirols erscheint, so unbekannt ist dessen historische Entwicklung, so verschleiert sind seine diskursiven Wurzeln, so ungewiss ist seine Prägekraft für die individuelle Religiosität. Es mag überraschen: Die vermeintlich exzeptionelle Katholizität Tirols wurde zwar seit gut 200 Jahren in mitunter heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen bewundert oder schroff abgelehnt, historiogra7 Pallaver, Volkspartei. 8 Zu den unterschiedlichen sozialen Ebenen der Säkularisierung Pollack, Analyse, S. 496f. 9 Die Gründe für die politische Persistenz des Katholischen sind in Tirol, Südtirol und im Trentino freilich sehr unterschiedlich und historisch kontingent. Goller, Richtungen; Carrara, I cattolici. 10 Klieber, Lebenswelten, S. 131; ders., Solidaraktionen. Tirol wurde in den vatikanischen Spendenlisten neben »Austria« separat geführt, ebenda, S. 675. 11 »Bastion des österreichischen Katholizismus«. Benvenuti, Principi vescovi, S. 32.
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Einleitung: Die Grenzkatholizismen Tirols
phisch blieb sie indes eine terra incognita. Obwohl einige wenige regionalgeschichtliche Studien, vor allem von Heinz Noflatscher oder Martin P. Schennach diese vermeintliche besondere Beziehung der Tirolerinnen und Tiroler zu Katholizismus und Kirche als genuin politischen Diskurs des 19. Jahrhunderts demaskierten und Nicole Priesching sie als religiös begründetes, weltanschauliches Konstrukt bezeichnete,12 schreiben selbst Texte mit wissenschaftlichem Anspruch erstaunliche Essentialisierungen fort und beharren gleichsam auf einem tirolischen Sonderweg in die Moderne, der entlang der historischen Marksteine 1809/1848/1914–1918/1945 der Religion nichts anhaben konnte, ja vielmehr in harmonischem Einklang mit dieser verlaufen sei. »Tirol« wird in diesen Studien entweder als uneinnehmbare Bastion traditioneller, katholischer Werte und Tugenden oder als dekadenter Hort des religiösen Fanatismus und antimodern-antiliberaler Politik inszeniert – je nach historiographischem Narrativ kommt »Religion« entweder eine konservierende, identitätsstiftende oder eine retardierende, machterhaltend-unterdrückende Funktion zu.13 Kurzum: Wir wissen noch relativ wenig darüber, wie Tirol zu einem katholischen Eldorado der Moderne wurde und weshalb es bis heute als solches gilt, welche Akteure, Institutionen und Diskurse dafür verantwortlich waren und ob diese »Heiligkeit« im ganzen Kronland gleichermaßen geteilt und verteilt war. Selbst die Geschichte des raumbezogenen Begriffes »Heiliges Land« liegt noch im Dunkeln. Die These Heinz Noflatschers, dass er bereits im 19. Jahrhunderts inflationär verwendet worden sei, kann jedenfalls nicht bestätigt werden – als »Heiliges Land« galt im 19. Jahrhundert selbst in Tirol noch Palästina.14 Explizite und regelmäßigere Bezugnahmen auf ein »heiliges« Tirol findet man erst um 1900, wie etwa die ironische Abrechnung Alcide De Gasperis aus dem Jahr 1910 zeigt, der süffisant darüber räsonierte, wie das deutschsprachige Tirol gleichermaßen »heilig« und national derart aggressiv sein könne.15 Jedenfalls dürfte der Begriff erstmals 1831 öffentlich verwendet worden sein, als der sächsische Liberale Julius Mosen im letzten Vers der zweiten Strophe seines »Andreas Hofer-Liedes« vom »Heil’gen Land Tirol« sprach – ohne damit freilich eine besondere Religiosität, schon gar nicht eine besondere Katholizität andeuten zu wollen.16 Insgesamt bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass diese 12 Noflatscher, Heilig; Cole, Nationale Identität; ders., Gott, Kaiser, Vaterland; Schennach, Revolte, S. 177–183, S. 285–295; Priesching, Mörl, S. 32–34. Priesching bezeichnet ein »intaktes« Verhältnis zwischen Gott, Welt und Mensch als Grundlage dieser Weltanschauung. 13 Als Auswahl jüngerer Texte: Forcher, Schützen; Oberhofer, Berg, S. 276f.; Reinalter, Demokratie, S. 294f., der von »verspäteter Säkularisierung« oder Lanzinger, Kirchliche Macht, S. 50–54, die von »verspäteter Modernisierung« spricht. 14 Noflatscher, Heilig, S. 372; Forcher, Schützen, S. 87. 15 De Gasperi, Santo Tirolo; allgemein Cole, Gott, Kaiser, Vaterland, S. 177. 16 Scheichl, Andreas-Hofer-Lied.
Die moderne »Heiligkeit« Tirols: Eine Einführung
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präsumtive »Heiligkeit« Tirols nicht vom Himmel fiel, sondern von unterschiedlichen Akteuren diskursiv hergestellt und fortgeschrieben wurde. Dieses Buch widmet sich den schwierigen Anfängen dieser Geschichte, gleichsam dem regionalgeschichtlichen catholic turn (M. Borutta). Diese katholische Wende Tirols setzte, wie in weiten Teilen Europas, im Vormärz ein. Thesenhaft vorgreifend, lassen sich drei Elemente dieser vormärzlichen Form- und Geltungsänderung des Religiösen festmachen. Zunächst dürfte auch für den Tiroler Raum das zutreffen, was Manuel Borutta als »Stilisierung einer unaufklärbaren Region« bezeichnet hat: Urbane bürgerliche Schichten haben im 19. Jahrhundert den Glauben insgesamt, vor allem aber die katholische Volksfrömmigkeit als »integralen Bestandteil des Volkscharakters« gedeutet und als Marker politisch-sozialer Differenz verwendet. Katholische Religiosität galt damit als Ausprägung primitiver, ländlicher Lebensformen, die für Moderne, Rationalität und Aufklärung nur schwer empfänglich seien. Dieser Diskurs wurde territorialisiert – so galten homogene katholische Regionen wie Bayern oder Schlesien als besonders »unaufgeklärt«, sie wurden in kolonialistischer Absicht zum »inneren Orient« Deutschlands, zum »Anderen« des modernen, männlichen und liberalen Staates.17 Diese diskursive Ausgrenzung lässt sich auch für Tirol, gleich in einer doppelten Form, beobachten. Sie setzte in Fremdbeschreibungen spätestens 1796 mit der Landesbeschreibung des josephinischen Beamten und Professors Joseph Rohrer ein, der insbesondere die deutschsprachigen Tiroler als sittsame und redliche Population charakterisierte, in gleichem Maße aber auch als einfältig und beschränkt und von einer abergläubischen, religiösen Empfindsamkeit geprägt.18 Kaum ein nachfolgender Autor oder Text über Tirol kam umhin, die außerordentliche Religiosität und Strengkirchlichkeit dieser Region und ihrer Bevölkerung zu konstatieren. Eine sich über das gesamte 19. Jahrhundert erstreckende Reihe von Reisebeschreibungen, Zeitungsartikel, politischen bzw. wissenschaftlichen Texten konstruierte Tirol als Hort des Katholizismus: Reiseschriftsteller wie Julius Max Schottky, Frederic Mercey, Heinrich Laube, Matthias Koch, August Lewald oder Eugen von Hartwig berichteten von überbordender Frömmigkeit und gestrenger Priesterherrschaft. Liberale Autoren, etwa Ludwig Steub, Franz Schuselka, Ferdinand Siegmund oder Johann Ludwig Schnell, politisierten diese von außen beschriebene Katholizität: Das Kronland galt ihnen als Beispiel katholischer Rückständigkeit, als Refugium der Gegenreformation19 oder »Pfaffenparadies«20, kurz als hoffnungsloser Anachronismus 17 Borutta, Antikatholizismus, S. 47–154, S. 357–363; ders., Genealogie; Werner/Harvard, European Anti-Catholicism. 18 Rohrer, Tyroler, S. 90–115. Zu Rohrer Robertson, Rohrer. 19 Nachrichten, in: EKZ 17 (1835) 102, Sp. 813. 20 Siegmund, Glaubenseinheit, S. 6.
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Einleitung: Die Grenzkatholizismen Tirols
der europäischen Geschichte. Tirol geriet damit zum Gegenstand der politisierten konfessionellen Auseinandersetzungen Europas. Noch 1890 galt der Bischofssitz Brixen als »deutsches Rom«.21 Dieser Diskurs wurde in Tirol übernommen und vor allem von deutschsprachigen liberalen Autoren fortgeschrieben: Wiewohl der Tiroler Liberalismus im Vormärz kaum entschieden antikatholische bzw. antiklerikale Züge annahm, grenzte er sich doch deutlich von einer hegemonial werdenden ultramontanen Auslegung des Katholizismus ab. Insbesondere im deutschen Landesteil beklagten Liberale seit 1840 einen übermächtigen Katholizismus, der alle gesellschaftlichen Bereiche kolonisiere und Tirol damit resistent gegen allen politischen, wirtschaftlichen und sprachlich-nationalen Fortschritt mache.22 Diese liberalen Selbst- und Fremdbeschreibungen Tirols waren selbstreferentiell: Sie übernahmen voneinander ihre Argumentationen, ihre Semantiken und Begriffe, ja mitunter ganze Textpassagen.23 Dieser abwertenden, liberal-protestantischen Tirol-Semantik trat in den 1830er Jahren eine katholische Deutung entgegen, die den liberalen Diskurs, ebenfalls in eine äußere und innere Erzählung gegliedert, positiv umdeutete.24 Katholische Autoren, Priester wie Laien, konstruierten – wiederum in historischen, topographischen oder statistischen Abhandlungen – ein devotes, frommes und eng an die Kirche gebundenes Land.25 Katholizität galt hier nicht mehr als Ursache – und Konsequenz – eines rückständigen, primitiven Gesellschaftszustandes, sondern vielmehr als Vorzug gegenüber anderen Regionen und als Bindeglied zur übergeordneten Kulturnation. Eine tirolisch-trentinische Gesellschaft, die sich in katholischer Religiosität vollzieht und identifiziert, wurde in diesen Erzählungen als positiv konnotierter Gegenentwurf zu einer unübersichtlichen, komplexen und latent revolutionären Moderne beschrieben – hier war das katholische Tirol das positive Andere der Moderne. Wobei zu differenzieren ist: Im Kronland selbst war die Verhältnisbestimmung zwischen Katholizismus, Gegenwarts-, Zukunfts- und Vergangenheitsentwürfen wesent21 So war Brixen dem späteren Straßburger Bürgermeister Jacques Peirotes, der sich um 1890 in der Kleinstadt aufhielt, bekannt, wenngleich ihm die katholische Kirche im Vergleich zu seiner Heimatstadt Straßburg weniger »fanatisch« erschien. Fisch, Peirotes, S. 213. 22 Hierzu vor allem die Arbeiten von Götz, etwa Bürgertum. Zum Antiklerikalismus im italienischen Landesteil Premi, L’anticlericalismo. Eine europäische Perspektive bieten nunmehr Dittrich, Antiklerikalismus; Borutta, Antikatholizismus, S. 218–265. 23 So übernimmt etwa [Streiter], Tirol, ganze Passagen von Steub, Sommer. 24 Oder in den Worten JosH Casanovas: »Catholicism always constructed itself discursively in dialectic relation with the anti-Catholic discourse of the time«: Casanova, Public Religions, S. 107f., Zitat S. 108. 25 Zu den wichtigsten zählen Joseph und Guido von Görres, Heinrich Bernhard von Andlaw, Antonio Bresciani, Franz Joseph Buß, Cesare CantF, Ida Hahn-Hahn, Gioseffo Pinamonti oder Beda Weber.
Die moderne »Heiligkeit« Tirols: Eine Einführung
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lich komlexer, als das von außen wahrgenommen wurde. Wie zu zeigen ist, kursierten durchaus auch Entwürfe, die katholische Selbstbeschreibungen nicht als das Andere, sondern vielmehr als Grundlage der liberalen Moderne selbst verstanden. Tirol wurde mithin – und darauf kommt es hier an – gleich mehrfach »katholisch« gemacht.26 Eine dichte Reihe von Ereignissen formte im Vormärz diese auf Einzelbeobachtungen beruhenden Zuschreibungen zu einem dominanten Diskurs mit hoher Empirieresistenz: Die stigmatisierten Jungfrauen Tirols, die Ausweisung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft 1837, die Rückberufung der Jesuiten 1838 und die kulturkämpferischen Konflikte um die Deutungshoheit über Tirol schienen die außergewöhnliche Katholizität dieser Region eindrücklich zu bestätigen. Dieses Buch befasst sich mit dieser doppelten, liberalen wie katholischen Zuschreibung einer exzeptionellen Katholizität und fragt danach, wie sich diese auf die Form und Semantik der Katholizismen Tirols selbst auswirkte. Drittens schließlich war das habsburgische Kronland Tirol nicht nur politisch, sprachlich und kulturell fragmentiert, sondern auch religiös äußerst heterogen. So wenig es jemals ein Tirol gab, so vergeblich ist die Suche nach einem einförmigen Katholizismus in diesem Kronland. Gerade im Vormärz drifteten die unterschiedlichen katholischen Traditionen, Bräuche und Sprachen weiter auseinander – trotz des erstmals das gesamte Territorium umspannenden zentralstaatlichen kirchenpolitischen Zugriffs. Zwei Beispiele können an dieser Stelle genügen: 1826 verwies der Trienter Fürstbischof Franz Xaver von Luschin in seinem Bericht über den Zustand seiner zweisprachigen Diözese deutlich auf bestimmte »nationale« Unterschiede in der Religiosität seiner Diözesanen hin: Bei den »Deutschen« sei »im allgemeinen Religion Prinzip, bei den Italienern aber mehr äußere Form und augenblicklicher Affekt.« Die deutschsprachigen Katholiken seiner Diözese seien für die josephinischen Reformen eher empfänglich; auch bei Prozessionen, Segnungen und Gottesdiensten bemerkte er »große Unterschiede« zwischen »Deutschen« und »Italienern«. Die »Deutschen«, so Luschin weiter, empfingen weitaus häufiger die Sakramente, während bei den »Italienern« die Predigten populärer seien.27 35 Jahre später sah sich Benedikt (Benedetto) von Riccabona, ebenfalls Fürstbischof Trients, gezwungen, zwei nicht nur sprachlich, sondern vor allem inhaltlich unterschiedliche Antrittshirtenbriefe zu erlassen.28 Hatten seine deutschsprachigen Diözesanen 26 Zu einem räumlich perspektivierten Religionsbegriff, der »die Sakralität des Ortes auf Zuschreibung, Wahrnehmung oder Anerkennung zurückführt«, Rau, Raum, S. 17. 27 Weinzierl, Visitationsberichte, S. 72. Zu Luschin, der von 1823 bis 1834 Fürstbischof von Trient war, Costa, Vescovi, S. 228–237. 28 Die Hirtenbriefe wurden in TS Nr. 88, 20. 07. 1861, S. 583f. und MT Nr. 90, 13. 07. 1861, S. 1f. veröffentlicht. Zu Riccabona Franch, Riccabona.
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andere religiöse Bedürfnisse und setzten sie andere Erwartungen an ihn als ihre italienischsprachigen Glaubensgenossen? Selbst während der nachfolgenden virulenten Phase des Kulturkampfes, in der man die größte Ausstrahlungs- und Kohäsionskraft des ultramontanen Katholizismus vermuten würde, war dieser in Tirol geprägt von tiefgreifenden inneren Diskrepanzen und heftigen Binnenkonflikten. Im 19. Jahrhundert, als sich der Diskurs der »Heiligkeit« Tirols ausbildete, war die Katholizität im westlichsten Kronland der Habsburgermonarchie alles andere als homogen und kompakt, vielmehr erscheint sie brüchig und fragmentiert. Mitunter war in Tirol nichts weniger definiert und stärker umstritten, als das Proprium des Katholischen selbst. Der katholische Glaube und das katholische Handeln wurden nach markant voneinander abweichenden Maßstäben bemessen – ebenso die Haltung, die Kirche, Katholizismus und Katholiken zu ihrer außerreligiösen Umwelt, zu Politik, Nation und Staat einnehmen sollten.29 Für diese grundlegend voneinander abweichenden Vorstellungen von Religion, Katholizismus und Kirche mögen unterschiedliche theologische bzw. kirchliche Traditionen in den beiden Bistümern Trient und Brixen mitverantwortlich gewesen sein. Entscheidend jedoch ist, dass innerkatholische Brüche nicht entlang der Bistumsgrenzen – die im 19. Jahrhundert ohnehin labil waren und ständig zur Disposition standen – sondern in erster Linie eben innerhalb der Diözesen verliefen. Bereits dieser erste Problemaufriss stellt die so persistente Vorstellung des homogenen katholischen Monolithen in Frage, der sich im Europa des 19. Jahrhunderts erbittert gegen Fortschritt, nationale Einigungen, ja insgesamt gegen die Moderne stemmte und sich in dichten Milieus einigelte. In Tirol bildete sich im 19. Jahrhundert nicht ein katholisches Milieu mit landesweiten Strukturen und einer einförmigen Subkultur aus, sondern mehrere katholische Kommunikationsgemeinschaften mit eigenen Normen, Strukturen und Vorstellungen vom Platz der Religion in der Moderne, die sich weder mit den Sprach-, noch mit den Diözesangrenzen Tirols deckten. Die Vermutung liegt also nahe, dass, wenn zusätzliche Komponenten in unterschiedlicher Konfiguration und Amalgamierung hinzutraten, auch binnenkatholische Grenzen gezogen wurden. Das habsburgische Kronland Tirol erscheint in dieser Perspektive geradezu als Laboratorium, trafen hier doch im 19. Jahrhundert Deutschland, Österreich und Italien zusammen und trennten sich hier gleichsam wieder, wie es Thomas Götz trefflich formulierte.30 Unterschiedliche katholische Traditionen und theologische Richtungen, mediale und kommunikative Strukturen des Religiösen ko-existierten hier auf engstem Raum. Wie sich diese komplexe, multiple Grenzlage auf den Katholizismus in Tirol auswirkte und in welchem 29 Als Problemaufrisse für die zweite Jahrhunderthälfte Huber, Intransigentismo; ders., Papst. 30 Götz, Gratwanderungen, S. 449.
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Maße dieser an der Ausbildung und Festigung bzw. Transzendierung dieser Grenzen beteiligt war, ist ebenfalls Gegenstand dieser Untersuchung. Der liberale, zuweilen antikatholische Diskurs über Tirol, die katholischen Selbstbeschreibungen und die multiple Grenzlage zwischen dem habsburgischen Zentralstaat und dem deutsch- und italienischsprachigen Kulturraum beeinflussten nicht nur in unterschiedlichem Maße die moderne Rede von der »Heiligkeit« Tirols, sie waren vor allem die Eckpfeiler der Genese der tirolischen Katholizismen. Diese drei Elemente waren verantwortlich für die Ausbildung öffentlicher Grenzkatholismen, die im vormärzlichen, spannungsgeladenen Koordinatensystem zwischen Staat, Politik und Nation ganz unterschiedliche Positionen einnahmen. Die folgende Studie handelt von diesen binnenkatholischen Ausbildungs- und Abgrenzungsprozessen zwischen 1830 und 1848, sie untersucht die kommunikativen, semantischen und medialen Bedingungen, unter denen sie ermöglicht wurden. Sie geht der Frage nach, wie bzw. in welcher Form es Religion gelang, unter grundlegend veränderten politisch-gesellschaftlichen Strukturen und neuen, multiplen Grenzregimes sich zu reproduzieren, mithin gesellschaftlich sichtbar und bedeutsam zu bleiben. Denn, wie Rudolf Schlögl für die Moderne pointiert festhält: »Religion konnte Transzendenz nicht mehr voraussetzen. Zu ihrer Hauptaufgabe wurde es, sie in einer säkularen Welt stets wiederherzustellen.«31 Dies galt insbesondere für den Katholizismus und die katholische Kirche: Sie verloren um 1800 in Mitteleuropa nicht nur ihre staatliche Qualität, sondern entdeckten sich gleichsam als »Konfession«. Wie Lucian Hölscher betont, wurden bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur die protestantischen Glaubensgemeinschaften als »Konfessionen« bezeichnet. Ab 1800 wurde dieser Begriff auf die Katholiken ausgedehnt – die damit zu einer religiösen Gruppe unter vielen wurden.32
1.2. Konzeptioneller Rahmen: Religion, Säkularisierung, Beobachtung Wie aber lassen sich diese komplexen medialen, räumlichen und kulturellen Lagen der Grenzkatholizismen regionalgeschichtlich beschreiben? Das in den vergangenen beiden Jahrzehnten im deutschen Sprachraum – Österreich ausgenommen – kirchen- bzw. katholizismusgeschichtlich dominante Theorem des »katholischen Milieus« scheint für die Problemstellung dieser Arbeit wenig hilfreich.33 Obwohl das Milieukonzept für viele katholizismusgeschichtliche 31 Schlögl, Alter Glaube, S. 453. 32 Hölscher, Konfessionspolitik, S. 17f.; ders., Begriffsgeschichte, S. 731. 33 Kösters/Kullmann/Liedhegener/Tischner, Milieu; Klöcker, Milieu; AKKZG, Katho-
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Fragestellungen »seems to fit as a well-made glove«,34 wie Helmut Walser Smith und Christopher Clark süffisant bilanzierten, erscheint insbesondere sein tautologischer und teleologischer Kern problematisch. Als »Kronzeuge«35 des Konzeptes gilt der deutsche Soziologe Rainer M. Lepsius, der 1966 vier homogen-kompakte »sozialmoralische Milieus« – ein katholisches, ein sozialdemokratisches, ein liberales und ein protestantisch-konservatives – ausmachte, die als gesellschaftliches Substrat für die erstaunlich stabile Parteienlandschaft in Deutschland bis 1933 wirkten.36 Mit der Hinwendung der Katholizismus- bzw. Kirchenforschung zu mentalitätsgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Fragestellungen wurde das Milieukonzept zunächst in der Schweiz von Urs Altermatt, der bereits 1980 »katholische Subkulturen« erforschte, und dann auch in der Bundesrepublik breit rezipiert und katholizismusgeschichtlich adaptiert.37 Seither hat die katholische Milieuforschung einen bemerkenswerten und diskussionsgesättigten Wandel vollzogen. Die zunächst in erster Linie struktur- und mentalitätsgeschichtlichen Zugänge wurden in den letzten Jahren durch kultur- und diskursgeschichtliche ersetzt, die inneren Kohäsionskräfte des Milieus, mithin Milieu-Strukturen, Vereine, Gewerkschaften, Zeitungen, sowie die Milieu-Kultur, also moralisch-religiöse, aber auch politisch-ideologische Standards, ausgiebig erforscht.38 Dennoch bleiben vier grundsätzliche Probleme bestehen. Zunächst bietet das Modell weder alternative Vergesellschaftungsformen noch historisch-genealogische Entwicklungsstufen an – entweder gab es ein Milieu oder eben keines. In der Regel gehen die einschlägigen Studien davon aus, dass das katholische Milieu 1848 in Abgrenzung zu einer religionsfeindlichen Gegenwart als gleichsam antimoderne Involution entstand und dann, je nach Sichtweise, bis in die 1960er Jahre Bestand hatte.39 Was vor dem Milieu war, auf
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liken; Blaschke/Kuhlemann, Religion; AKKZG, Konfession; Altermatt/Metzger, Milieu. Soweit ich sehe, arbeitete für die Geschichte der Habsburgermonarchie bislang nur Klieber, Katholizismus, konsequent mit dem Milieuansatz. Voegler, Religion, S. 78, Anm. 140, lehnt das Konzept dagegen als für die Habsburgermonarchie unbrauchbar ab. Walser Smith/Clark, Fate, S. 10. Zur Kritik an der Milieuforschung ebenda, S. 9–13; Zimmer, Nation, S. 648–655. Blaschke/Kuhlemann, Religion, S. 23. Lepsius, Parteiensystem. Lepsius definierte ein »sozialmoralisches Milieu« als »soziale Einheit, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen, gebildet« wird. Ebenda, S. 393. Altermatt, Subgesellschaft; in der Bundesrepublik löste insbesondere Loth, Katholiken, intensive Diskussionen aus. Altermatt/Metzger, Religion; Heilbronner, Ghetto. Altermatt, Katholizismus, S. 66–71. Für die Habsburgermonarchie Klieber, Riese, S. 11, der in der Revolution von 1848 den Ursprung einer »konfessionellen Dominanz« des Katholizismus sieht. Der AKKZG, Konfession, unterscheidet aufgrund sozial- bzw. vor allem kirchenstatistischer Datensätze zwischen Regionen, in denen sich Milieus ausbildeten, in
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welche Semantiken und Strukturen es gründete, welche Sozialformen Religion ohne Milieu annehmen konnte, blendet die Milieuforschung ganz aus. Für den deutschen Vormärz, in dem politische Parteien oder eine politische Integration breiter Bevölkerungsmassen durch Wahlen schlichtweg undenkbar waren, verspricht ein solches Modell somit kaum Erkenntnisse. Thomas Mergel verweist sodann darauf, dass die Milieuforschung regionale (räumliche) Faktoren nicht berücksichtigt: Man untersucht zwar Milieus in der Region, aber nicht die Region im Milieu.40 Zwar haben etwa Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann ein räumlich gegliedertes Mikro-Meso-Makro-Modell des Milieus vorgestellt – das allerdings der heuristischen Gliederung des Milieutheorems dient und räumliche Ordnungen gewissermaßen als gegeben voraussetzt.41 Inwiefern aber Interdependenzen zwischen Räumlichkeit/Regionalität und Religiosität bestanden und wie religiöse Semantiken mit der Ausbildung raumbezogener Identitäten zusammenhingen, kurz, welche Beziehung »Religion und Raum« eingingen, bleibt dagegen ungefragt. Auch aus dieser Perspektive greift der Milieuansatz somit für die Erforschung von Grenzkatholizismen – denen Räumlichkeit immanent war – zu kurz. Raum, Räumlichkeit und Raumvorstellungen sind hier nicht Explanans von Religionsgeschichte, sondern deren Explanandum. Dringt man drittens im Theoriegebäude zu dessen Ursprung, auf die genannte Studie von Lepsius, vor, auf dessen Milieukonzeption die katholische Milieuforschung weitgehend basiert, so häufen sich die Probleme weiter : Lepsius postulierte eine vertikale Kohäsionskraft der vier von ihm ausgemachten Milieus, von der Reichsebene bis zur Pfarre galten demnach ähnliche sozialmoralische Standards.42 Diese vertikale Strukturierung des Milieus sieht jedoch keine horizontalen Differenzierungen vor, deren Fehlen, wenn – wie in Tirol – unterschiedliche katholische Ausprägungen samt deren »Milieustrukturen« beobachtbar sind, zu erheblichen theoretischen Problemen führen muss. Winfried Loth und Wolfgang Schieder äußerten deshalb bereits früh ernsthafte Einwände gegen die Vorstellung eines monolithischen, ausschließlich ultradenen traditionelle katholische Lebenswelten dominant blieben und in denen nicht kirchliche Lebensweisen vorherrschten. 40 Mergel, Milieu; Ziemann, Katholizismus, S. 413, der in einer regionalgeschichtlichen Perspektivierung eine Stärke der Milieuforschung sieht, aber gerade hier eine »negative Forschungsbilanz« zieht. 41 Blaschke/Kuhlemann, Religion, S. 47–49; Metzger, Religion, S. 151–153, hier sowie in Heilbronner, Ghetto, S. 478–487, auch umfassende Angaben zur regional gegliederten Milieuforschung. Explizit mit der regionalen Prägung des katholischen Milieus setzt sich Weichlein, Konfession, auseinander, während Loth, Integration, S. 267, das katholische Milieu als Konglomerat von »regional und sozial unterschiedlich akzentuierten Sozialmilieus« beschreibt. Die Beiträge in Korupka [Hrsg.], Grenzen, widmen sich deutschen »Regionalmilieus« im frühen 20. Jahrhundert. 42 Lepsius, Parteiensystem.
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montanen Milieukatholizismus, den es als solchen wohl nie gab. Oliver Zimmer plädiert dagegen in seiner Studie über urbane Katholizismen dafür, den postulierten katholischen Monolithen als Utopie, als ultramontane Zielvorstellung zu verstehen.43 Im Schweizer Fribourg reagierte man auf diese theoretischen Einwände mit der Implementierung von »Teilmilieus«, die das übergeordnete Gesamtmilieu konstituierten. Dennoch bleibt auch hier unklar, ob sich das übergeordnete Makro-Milieu aufgrund bestimmter ideologisch-diskursiver oder sozialer Bedingungen in unterschiedliche Teil- oder Sub-Milieus aufspaltete oder ob sich diese vielmehr unabhängig voneinander ausbildeten und zum »großen« Milieu vermengten. Denn wenn in der Tat sozioökonomische und politisch-ideologische Faktoren die Bildung und Prägung von Teil-Milieus beeinflussten und man nicht umhin kommt, eine erhebliche binnenkatholische Heterogenität festzustellen, dann stellt sich die Frage, was denn dieses katholische Mosaik zu einem Milieu zusammenwachsen ließ. Der Erkenntnisgewinn milieutheoretischer Studien, die diese Diversität ernst nehmen, als transversales, die Teil-Milieus integrierendes Band aber lediglich einen diffusen und nicht näher definierten »weltanschaulich-ideologischen Grunddiskurs« bestimmen, ist daher eher gering – vor allem dann, wenn dieser Grunddiskurs weniger wog als die Differenzen zwischen konkurrierenden katholischen Einheiten.44 Gänzlich unbrauchbar wird das Modell, wenn sich dieser Grunddiskurs schlicht in der Katholizität des Milieus erschließt und auf weitgehend monokonfessionelle – katholische – Regionen und Kulturräume angewendet wird. Hierin zeigt sich, dass das Konzept in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland entstanden ist, in Räumen von einem bestimmten Grad an konfessioneller Diversität also, in denen sich Katholiken häufig in einer Minderheitenlage befanden. Bezeichnenderweise wurde dieses Milieukonzept außerhalb dieser Gebiete, etwa in Frankreich, Polen, Spanien oder Italien, kaum rezipiert, obwohl, wie mittlerweile zahlreiche Studien belegen, bestimmte katholische – wie auch antikatholische – Semantiken in ganz Europa verbreitet waren und insbesondere Katholiken in stetem transnationalen Kontakt standen.45 Auch dieser »metho-
43 Loth, Katholiken, S. 16–25; ders., Integration; Schieder, Erneuerung; Heilbronner, Ghetto, S. 459; für Tirol auch Götz, Gratwanderungen, S. 448. Zum Milieu als ultramontane Zielvorstellung Zimmer, Nation, S. 651. 44 Altermatt/Metzger, Milieu, S. 20–23; Altermatt/Metzger, Religion; Zimmer, Nation. 45 Bjork, Catholicism, S. 9–13. In katholisch geprägten Ländern spricht man dagegen in der Regel von einer politischen Differenzierung zwischen »Liberalen« und »Katholiken«: Leonhard, Italia; Altermatt/Metzger [Hrsg.], Religion. Eine stärkere Akzentuierung der transnationalen Dimension in der Katholizismusforschung forderten bereits Viaene, History oder Clark, Catholicism sowie Heilbronner, Ghetto, S. 468–470. Zur transnationalen Dimension antikatholischer Diskurse Borutta, Antikatholizismus; Dittrich, Anti-
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dologische Nationalismus« des Milieuansatzes erschwert dessen Anwendung in staatlich-kulturellen Grenzregionen.46 Am gravierendsten erscheinen jedoch die begrifflichen Mängel und essentialistischen Prämissen des Milieuansatzes. So unternahm die Milieuforschung lange Zeit überhaupt keine Anstrengung zur Bestimmung eines Religionsbegriffes: Religiosität und Kirchlichkeit wurden an der Zugehörigkeit zu katholischen Vereinen, der Wahl katholischer Parteien oder der Quantifizierung des Sakramentenempfangs bemessen. Andererseits wurde auch beschrieben, wie religiöse Akteure weltliche bzw. außerreligiöse Bereiche »kolonisierten«.47 Eine solcherart konzipierte Sozialgeschichte der Religion interessierte sich in erster Linie für die sozialstatistische Ausprägung und die sozialen Bedingungen von Religion – nicht aber dafür, wie sich Religion selbst beschrieb und gesellschaftlich reproduzierte. Sie war einfach da – die Warnung Josef Moosers, man dürfe die »Katholiken« nicht ohne den »Katholizismus« erforschen, schien vergeblich.48 Erst mit der vor allem von Franziska Metzger initiierten und an mehreren Stellen mit Nachdruck vorangetriebenen kommunikationstheoretischen Wende der Milieuforschung erfolgte auch eine stärkere Auseinandersetzung mit der Frage, was vergangene »Religion« ihren Zeitgenossen war und wie diese im retrospektiven Blick der Geschichtswissenschaft beschrieben werden kann. Metzger selbst definiert Religion als Ensemble von Codes und kommunikativen Handlungen, als »Deutungs- und Kommunikationssystem«, das sich in seiner modernen Form als »Kommunikationsgemeinschaft« manifestierte.49 Ein weiteres grundsätzliches begriffliches Problem der Milieuforschung ist der latente Antagonismus zwischen Moderne und Religion bzw. Säkularisierung und Milieu, mit dem sie operiert. Diese binäre Unterscheidung geht auf den kritischen Hintergrund des Milieuansatzes zurück, der sich vehement gegen das klassische modernisierungstheoretische Postulat der Sozialgeschichte wandte, Religion sei in der bürgerlichen Moderne bedeutungslos und vernachlässigbar geworden. Die Milieuforschung wollte dagegen dokumentieren, dass Religion unter den Bedingungen der Moderne nicht verschwunden sei, sondern dank Milieustrukturen wie Presse, Parteien, Verbände und Gewerkschaften, gleich-
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klerikalismus sowie die Beiträge in European Studies 31 (2013) zum Thema »European AntiCatholicism in a Comparative and Transnational Perspective.« Wimmer/Glick/Schiller, Nationalism. Blaschke, Kolonialisierung. Brown, Death; Ziemann, Sozialgeschichte, S. 21f.; Josef Mooser, Volk, Arbeiter und Bürger in der katholischen Öffentlichkeit des Kaiserreichs. Zur Sozial- und Funktionsgeschichte der deutschen Katholikentage (1871–1913), in Hans-Jürgen Puhle [Hrsg.], Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit, Göttingen 1991, S. 259–273, S. 260, zitiert in: Blaschke/Kuhlemann, Religion, S. 28. Altermatt/Metzger, Religion, S. 191–200; Metzger, Konstruktionsmechanismen; dies., Entangled discourses; dies., Religion, S. 130–161; Paul, Communities; ders., Styles.
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sam als moderne Offenbarung der Religion, spektakuläre revivals gefeiert habe. Diese notwendige Aufwertung der Religion und die Überwindung der sozialgeschichtlichen »Konfessionsblindheit« (D. Langewiesche) führten allerdings so weit, dass das 19. Jahrhundert gar zu einem »Zweiten Konfessionellen Zeitalter« deklariert wurde, eine These, die sich in den vergangenen Jahren nach heftigen Diskussionen letztlich nicht durchsetzen konnte.50 Dennoch: Eine Auseinandersetzung mit der Säkularisierung, unabhängig davon, ob sie als verwissenschaftlichte Meistererzählung der Moderne, als religiöser Prozessbegriff, als historische Entwicklung oder als heuristisches Instrument begriffen wird, bleibt unabdingbar und wurde von der Milieuforschung bislang kaum geleistet.51 Mehr noch: Einflussreiche Texte der Milieuforschung übernahmen paradoxerweise antikatholische Diskurse, die Religion und insbesondere den Katholizismus als das Andere der Moderne verstanden und konzipierten das katholische Milieu als antipodische Reaktion auf die Moderne, die sich in einem a- oder antinationalen, rückwärtsgewandten und unter klerikaler Kuratel stehendem Milieu, ja als »Kontrapunkt des 19. Jahrhunderts« geäußert habe.52 Treffend fiel mithin das Resümee Oded Heilbronners über die bundesdeutsche Katholizismusforschung der Jahre 1980 bis 2000 aus: Diese habe den Katholizismus historiographiegeschichtlich zwar aus dem konfessionellen Ghetto befreit, ihn historisch aber in ein Ghetto der Moderne verbannt.53 Stimmen, die Katholizismus – bzw. Religion insgesamt – und Moderne nicht in Opposition, sondern komplementär betrachteten, ja das katholische Milieu als Moderne, als Funktionswandel und Element einer säkularisierten Religion beschrieben, blieben bislang rar.54 Durchgesetzt hat sich in der Milieuforschung vielmehr die These der »ungeplanten Modernität«, in die der antimodern ausgerichtete Milieukatholizismus gleichsam zufällig geraten sei.55 Auf diesen Überlegungen aufbauend und von den beiden Problemfeldern »Religion« und »Säkularisierung« ausgehend, soll im Folgenden das theoretischbegriffliche Rückgrat näher bestimmt und das analytische Instrumentarium der 50 Die breite Diskussion, die Blaschke, Konfessionelles Zeitalter, losgetreten hat, fassten zuletzt Ziemann, Sozialgeschichte, S. 73–76 und Müller, Aufklärung, zusammen, zuletzt auch Einwände bei Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1201–1213. 51 Pollack, Säkularisierungstheorie; Ziemann, Sozialgeschichte, S. 32–56; Schlögl, Alter Glaube, S. 439–444. 52 Borutta, Antikatholizismus, S. 86–88; Walser Smith/Clark, Fate, S. 10. Das Zitat bei Blackbourn, Marpingen, S. 39. 53 Heilbronner, Ghetto, S. 457: »altough these scholars have succeeded in freeing the historiography of Catholic society from its traditional methodological ghetto, the picture that emerges from their studies is nevertheless that of a society which, until the end of the nineteenth century at least, lived in a mental and sociocultural ghetto.« 54 Steinhoff, Zeitalter; Graf, Wiederkehr. 55 Nipperdey, Religion, S. 27–31, Zitat S. 27; Altermatt, Antimodernismus.
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Untersuchung besprochen werden. Die Begriffe Religion und Säkularisierung stellen komplexe und kontroverse Felder der Religionsgeschichte und -soziologie dar, gerade deshalb sollte die historische Forschung sie nicht als vorempirisch gegeben voraus-, sondern sich eingehend mit ihnen auseinandersetzen. Die Begriffsbestimmungen sind nicht unproblematisch: Die Vorstellung von Religion – als heuristische bzw. als historische Kategorie – schwankt zwischen substantiellen und funktionalen Definitionen, die entweder das individuelle (religiöse) Bewusstsein oder die soziale Funktionalität von Religion wie Kontingenzbewältigung, Sinn- oder Identitätsstiftung in den Blick nehmen, sie mithin als »kommunikativ vereinbarte Externalisierung jener Erfahrungen […], in denen Menschen sich selbst existentiell zur Frage werden« problematisieren.56 Beide Begriffsbestimmungen führen zu historiographischen Schwierigkeiten: Subjektzentrierte Ansätze lassen sich zwar, wie vor allem die Frühneuzeitforschung eindrucksvoll dokumentiert hat, methodisch über Ego-Dokumente verfolgen, münden aber in das epistemologische Problem der Analyse und Darstellung von individuellen Glaubenswelten und Glaubensgewissheiten. Mit Friedrich Wilhelm Graf lässt sich berechtigterweise fragen: »Können Mentalitätshistoriker dem historischen Anderen ›ins Herz blicken‹?«57 Andererseits analysieren funktionale Ansätze Religion in Bezug auf ein gesellschaftliches Problem – Religion wird dadurch »beinahe zu einem anderen Ausdruck für Gesellschaft«, sie kann also alles sein.58 Übermäßig ausgeweitet wird der Religions-Begriff vor allem dann, wenn Sakralisierungen in anderen Kommunikationssystemen – etwa Ritualisierungen in Sport oder Politik – als »Ersatzreligionen« gedeutet oder weltlichen Phänomenen »quasireligiöse« Eigenschaften zugeschrieben werden und dabei übersehen wird, dass die Sinnbezüge von Religion, Sport oder Politik, bei allen augenscheinlichen Ähnlichkeiten, grundverschieden bleiben.59 Impraktikabel schließlich ist die Kombination funktionaler und substantieller Ansätze: Die analytische Außenperspektive und das religiöse Innenleben eines Individuums bleiben sich fremd und inkongruent: »Kein frommer Christ bekennt sich zur Heilsmittlerschaft Jesu Christi, weil er um die Integrationsfunktion der Religion weiß.«60 Wenn das Individuum also um die Funktionalität des eigenen Glaubens wüsste bzw. diese reflektierte, das Transzendente gleichsam bewusst immanent begründete, führte es den eigenen Glauben in eine Paradoxie. Einen zielführenden und methodisch gangbaren Ausweg aus diesem theo56 Gabriel/Reuter, Einleitung, S. 11–49; Tyrell, Religionssoziologie, S. 441–444; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 28, hier auch das Zitat. 57 Graf, Wiederkehr, S. 100f., Zitat S. 100, S. 103–110; Ziemann, Sozialgeschichte, S. 26–28. 58 Ziemann, Sozialgeschichte, S. 28. 59 Ebenda, S. 150–156. 60 Graf, Wiederkehr, S. 108–110, Zitat S. 109.
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retisch-begrifflichen Dilemma bietet womöglich der systemtheoretische Religionsbegriff, der vor allem auf Niklas Luhmann zurückgeht: Religion existiert demnach ausschließlich als Kommunikation und ist erst als solche beobachtbar. Diese Art der Kommunikation verleiht persönlichen Erfahrungen Sinn und macht sie damit gesellschaftlich vermittelbar – religiös also. Religiöse Kommunikation grenzt sich von anderen Kommunikationsformen durch spezifische Codierungen und besonders dadurch ab, dass sie das Transzendente immanent thematisiert, das Immanente auf das Transzendente bezieht, also das Unverfügbare verfügbar zu machen sucht und das Verfügbare auf unverfügbaren Sinn bezieht. Damit werden zwei Elemente sicht- und beschreibbar : Durch die Entkoppelung der Religion vom individuellen Bewusstsein werden soziale Zusammenhänge und der gesellschaftliche Ort, gleichsam die gesellschaftliche »Formengeschichte« (R. Schlögl) der Religion, sichtbar. Als kommunikative, gesellschaftliche Komponente ist Religion zweitens selbst historischem Wandel – der hier interessiert – ausgesetzt, gestaltet diesen aber gleichermaßen mit.61 Mit diesem Religionsbegriff lassen sich auch die Schwierigkeiten, die »Säkularisierung« empirisch und theoretisch mit sich bringt, problemorientierter angehen. Max Webers »Protestantische Ethik« und die darin postulierte »Entzauberung der Welt«, die er an der puritanischen bzw. calvinistischen Zuwendung zum innerweltlichen Heilserwerb im 16. und 17. Jahrhundert festmachte, wurde zu einem zentralen Bezugspunkt der soziologischen und historischen Diskussion über die Säkularisierung.62 Dabei ist nach wie vor umstritten, was unter »Säkularisierung« zu verstehen, wie etwa Dechristianisierung, Entkirchlichung, der Verfall religiöser Werte oder die Invisibilisierung der Religion zu bemessen und einzuordnen seien. Hier ist nicht der Ort, diese weitläufige Debatte zusammenzufassen – festzuhalten sind jedoch die drei dominanten Chiffren, um die sich diese Diskussion dreht: Differenzierung, Rationalisierung, Privatisierung.63 Zunächst: Religion, in ihrer institutionellen (und europäischen) Verfasstheit als Kirche, sei nach 1800 aus zentralen Gesellschaftssystemen – Politik, Bildung, 61 Luhmann, Religion, S. 7–52; ders., Kommunikation; Tyrell, Religionssoziologie, S. 435; Beyer, Religion; Graf, Wiederkehr, S. 111–113; Schlögl, Alter Glaube, S. 10–16; ders., Rationalisierung, S. 38–40; ders., Historiker; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 28f.; Hölscher, Begriffsgeschichte, S. 724. 62 Ziemann, Sozialgeschichte, S. 32–34; Tyrell, Religionssoziologie, S. 444; Gabriel/Reuter, Einleitung, S. 18f., Schlögl, Historiker ; Ziemann, Sozialgeschichte, S. 21f.; Becker [Hrsg.], Geschichte und Systemtheorie. 63 Tyrell, Religionssoziologie, S. 446; Lehmann, Säkularisierung, S. 57; Ziemann, Entwicklung, S. 100, schlägt vor, Entkirchlichung als Folge individueller Praxis und damit als Teilaspekt der Säkularisierung zu verstehen. Eine aktuelle Zusammenschau der Diskussion bei Gabriel/Gärtner/Pollack [Hrsg.], Umstrittene Säkularisierung; Pollack, Säkularisierungstheorie.
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Recht, Wirtschaft – hinausgedrängt worden, als die europäische Gesellschaft von einer ständischen Sozialordnung, die maßgeblich durch religiöse Bezüge stabilisiert war, auf eine funktionale Ordnung umschaltete.64 Verwissenschaftlichung, Aufklärung und Industrialisierung hätten sodann religiöse Sinnbezüge aufgehoben – Religion sei gleichsam zu Aberglauben verkommen, der durch neues, welt-immanentes, rational begründbares Wissen überholt und abgelöst worden sei. Das Menschenheil wurde nicht mehr im Himmel, sondern auf Erden gesucht.65 Auf Thomas Luckmann schließlich geht die These zurück, Religion habe in der Moderne Form und Funktion verändert und sich gleichsam in das private, individuelle Bewusstsein zurückgezogen. Transzendenz sei in einer rationalisierten, hoch differenzierten Moderne folglich nur noch subjektiv erfahrbar. Religion verschwand damit nicht – sie sei vielmehr »unsichtbar« geworden.66 So plausibel und empirisch beobachtbar die hier nur knapp gestreiften Facetten der Säkularisierung auch sein mögen – es lassen sich ebenso problemlos Einwände dagegen anführen und begründen: Religion ist selbst in Europa bis heute nicht verschwunden, alle Teleologie eines kontinuierlichen Niederganges der Religion, der religiösen Praxis und der gesellschaftlichen Geltung religiöser Normen hat sich als falsch erwiesen. Blickt man auf das europäische 19. Jahrhundert, dann zeigt sich, insbesondere in katholischen Regionen, vielmehr auch ein unbestreitbarer Aufschwung von Frömmigkeit, Kirchengebundenheit, ja insgesamt der öffentlichen Deutungsmacht von Religion.67 Wie vor allem Callum G. Brown für Großbritannien und Manuel Borutta für Deutschland gezeigt haben, ist in diesem Zusammenhang auch der sehr problematische religionspolitische bzw. politische Ursprung der Säkularisierungstheorie zu beachten. Dieser lag in der religionsstatistischen Plausibilisierung und dann in der soziologischen Verwissenschaftlichung einer religiösen Niedergangssemantik, die um 1800 entstanden war und von religiösen Akteuren selbst bedient wurde.68 Die Situation scheint vorderhand paradox: Säkularisierung und Sakralisierung, Entzauberung und Wiederverzauberung der Welt ko-existierten insbesondere im 19. Jahrhundert, die historische Analyse von Religion scheint sich damit allgemeinen, generalisierenden Prozessbegriffen zu entziehen. Oder in den Worten Callum G. Browns: »Secularization is happening, yet secularisation theory is wrong.«69 Wie jedoch Benjamin Ziemann betont, ist es wenig zielführend, Säkularisierung und religiösen Aufschwung gegeneinander auszu64 65 66 67 68 69
Pollack, Differenzierung; Schlögl, Alter Glaube, S. 444–448. Schlögl, Rationalisierung, S. 38–40. Gabriel/Reuter, Einleitung, S. 24f.; Brown, Death, S. 35–39. Nash, Religion. Brown, Death, S. 16–34; Borutta, Genealogie. Brown, Death, S. X.
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spielen, vielmehr waren beide Entwicklungen komplementär, zwei Seiten derselben Religionsgeschichte.70 In Anlehnung an die Luhmannsche Systemtheorie lässt sich Säkularisierung in einer Weise fassen, die Elemente beider Prozesse integriert. Auf der Grundlage der modernen Ausdifferenzierung der Gesellschaft wird Säkularisierung als Beobachtungsform gedacht, mit der Religion ihre – säkularisierte – Umwelt beobachtet und sich selbst in dieser wahrnimmt.71 Besonders Wilhelm Friedrich Graf hat in diesem Zusammenhang auf die »Krisendiagnostik« des deutschen Protestantismus um 1800 hingewiesen: Durch zahlreiche Traktate, theologische Abhandlungen, Zeitschriftenartikel oder Flugschriften wurde in der literarisch-gelehrten Öffentlichkeit die Rolle der Religion in der Gesellschaft reflektiert und dabei verstärkt auf Semantiken des Niedergangs und des Verfalls – wie »Entkirchlichung«, »Unkirchlichkeit« oder »Unglaube« – zurückgegriffen. Diskutiert wurden dabei nicht nur die – nach der Französischen Revolution auch politisierten – Konsequenzen dieses beobachteten Verfalls der Religion, sondern auch die Möglichkeiten, diese rückgängig zu machen oder zu beheben.72 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde der quantitative Bestand der Religionen bzw. Konfessionen und Denominationen zunehmend statistisch beobachtet, was, wie Callum G. Brown für England festhält, zu einem »ecclesiastical machismo« geriet: Statistiken dienten der Selbst- und Fremdbeschreibung der Religion, sie ordneten und plausibilisierten das religiöse Feld. Im Falle Großbritanniens – wo der Zensus staatlich durchgeführt wurde – dienten sie aber auch der Untermauerung und Legitimierung des Königreiches als christliche Nation und der zivilisatorischen Mission als Kolonialmacht.73 Diese Entwicklung – die kirchliche Beobachtung der Säkularisierung – lässt sich bis ins 20. Jahrhundert verfolgen, wo etwa die katholische Kirche sozialwissenschaftliche Instrumente anwandte, um sich und ihre Umwelt zu beschreiben. Benjamin Ziemann schreibt in diesem Zusammenhang von »Säkularisaten«, von zunächst nicht religiösen Elementen bzw. Beobachtungsfor-
70 Ziemann, Säkularisierung. Ziemann wendet sich dabei insbesondere gegen die These eines Zweiten Konfessionellen Zeitalters im 19. Jahrhundert. Zur Widersprüchlichkeit des 19. Jahrhunderts in dieser Hinsicht Gabriel, Jahrhundert; Blaschke, Säkularisierung; Lehmann, Säkularisierung, S. 57–69. 71 Luhmann, Religion, S. 278–319; ders., Ausdifferenzierung; Schlögl, Alter Glaube, S. 443, spricht, in Anlehnung an Luhmann, von einer »Beobachtungskategorie […] die den Sozialzusammenhang Religion in Differenz zu anderen setzt.« 72 Graf, Wiederkehr, S. 71–76; Schlögl, Alter Glaube, S. 442f.; Ulrich, Erwartungshorizont; Brown, Death, S. 38f. 73 Ziemann, Sozialgeschichte, S. 36–42; das Zitat in Callum G. Brown, The secularisation decade. What the 1960s have done to the study of religion, in: Hugh McLeod/Werner Ustorf [Hrsg.], The Decline of Christendom in Western Europe 1750–2000, Cambridge 2003, S. 29– 46, S. 42f., zitiert nach ebenda, S. 41; Ziemann, Religiosität; Kap. 5.2.3.
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men, die Religion im Prozess der Säkularisierung annahm, um sich der sich wandelnden Umwelt anzupassen.74 Es geht hier also nicht darum, vermeintliche Erfolgs- oder Niedergangsgeschichten des Religiösen zu schreiben, sondern darauf zu achten, wie Religion als System diese Prozesse selbst erlebte und auf diese reagierte. Wie im Detail zu zeigen sein wird, reagierten die Tiroler Grenzkatholizismen auf die Moderne keineswegs eindimensional und vorgezeichnet: Die Möglichkeiten der Beobachtung ihrer Umwelt variierten ebenso wie die darauf folgenden Reaktionen. Dieser Begriff der Säkularisierung ist beobachterrelational und ergebnisoffen gedacht und vermeidet, Teleologien implizit mitzuführen und fortzuschreiben.75 Ein Ergebnis der beobachteten Säkularisierung in Tirol, das sei hier vorweggenommen, war eine binnenkatholische Ausdifferenzierung, die im Vormärz ihren Anfang nahm. Diese Arbeit handelt also davon, wie unter den Bedingungen des Vormärz und jenen einer multiplen, bikulturellen Grenzregion der Habsburgermonarchie Religion sich und ihre Umwelt wahrgenommen hat, welche Form sie dabei annahm und wie sie sich nach außen und nach innen ausdifferenzierte. Dies erfordert weitere theoretische Vertiefung. Versteht man »Beobachtung« differenztheoretisch als »Gebrauch einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen und nicht der anderen Seite«,76 dann erlangen sprachliche, kommunikative und mediale Formen der Beobachtung, die immer auch Bezeichnung ist, zentrale Relevanz.77 An die Frage der religiösen Beobachtungs- und Kommunikationsformen reiht sich somit jene des semantischen Haushalts, mit dem die Umwelt beobachtet und beschrieben wurde.78 Obgleich der für die Theorie sozialer Systeme elementare Begriff der Semantik in Luhmanns Werk nicht eindeutig definiert wurde, lässt er sich am besten als Synthese begriffs- und diskursgeschichtlicher Ansätze beschreiben.79 Luhmann bezeichnete Semantik als »höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn«, als »Vorrat möglicher Themen« bzw. als »Vorrat an Unterscheidungen«, die für Kommunikation bereitstehen. Durch die Wiederholung bestimmter Referenzen, die durch weitere Sinnbezüge angereichert werden, kondensiert demnach Sinn
74 Ziemann, Sozialwissenschaften, S. 9–12; ders., Neuformierung. 75 Schlögl, Historiker, S. 40–42; Ziemann, Sozialwissenschaften, S. 11f. Umgekehrt konnte die katholische Kirche durchsetzen, dass in der italienischen Volkszählung von 1951 nicht nach kirchlich-konfessionellen Bindungen gefragt wurde und damit die Beobachtung der Säkularisierung verhindern: Saurer, Säkularisierung, S. 183. 76 Luhmann, Sinn, S. 170; ders., Soziale Systeme, S. 63, S. 406–411; ders., Gesellschaft, S. 536–539; Schlögl, Anwesende, S. 34f., S. 316–319. 77 Luhmann, Soziale Systeme, S. 230, S. 640–646; ders., Distinctions. 78 Luhmann, Gesellschaftsstruktur ; ders., Gesellschaft, S. 866–1148. 79 Stichweh, Semantik, S. 240; Stäheli, Sinnzusammenbrüche.
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zu Semantik.80 Wichtig ist, dass Semantiken, ähnlich wie Diskurse, Sinn – und damit Kommunikation – reglementieren und mit der Sozialstruktur des entsprechenden Systems korrespondieren.
1.3. Ansätze und Methoden: Selbstbeschreibungen, Medien, Medialität Semantiken ordnen also Beobachtungen und damit auch gesellschaftliche Selbstbeschreibungen. Diese besondere Form der Selbstbeobachtung ist für Kommunikationssysteme elementar : Sie tritt erst ab einem bestimmten Grad systemischer Komplexität ein und ermöglicht es dem System, sich als Einheit zu beobachten und sich dadurch im Weiteren von seiner Umwelt zu unterscheiden. Selbstbeschreibungen können aus einzelnen Begriffen oder Gegenbegriffen – Luhmann verweist hier auf Reinhart Kosellecks »asymmetrische Gegenbegriffe« – aber auch aus komplexen Sinnzusammenhängen bestehen. Wie jede differenztheoretisch verstandene Beobachtung sind auch Selbstbeschreibungen weniger aufgrund eines vermeintlichen Informationswertes von Bedeutung, vielmehr geben sie Aufschluss über die gesetzte Differenz und die eingenommene Perspektive des Beobachters, mithin über dessen Identität.81 Um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Säkularisierung kann also eine Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Religion wie auch eine Beschreibung ihrer Umwelt sein. Gegenstand dieser Untersuchung sind somit die Semantiken, die diese Erfahrungen verarbeiten, die Beobachtungen und die Begriffe, die Grenzen zu religiösen Umwelten ziehen und die Selbstbeschreibungen, die dies reflektieren, mithin die Form und Reproduktion der Grenzkatholizismen. Es wird Aufgabe dieser Arbeit sein, die kommunikativen Prozesse zu beschreiben, mit denen die Tiroler Katholizismen bestimmte Ereignisse, politische Diskurse, ihr Verhältnis zum Staat und zu anderen Konfessionsgemeinschaften beobachteten. Die Modi der Selbstbeschreibungen der Religion sind jedoch nicht einfach gegeben. Beobachtungen, Selbstbeschreibungen und Semantiken verweisen vielmehr auf die Medien der Kommunikation. Im systemtheoretischen Verständnis von Kommunikation sind Medien in Form der Mitteilung schon mitgedacht: Ob Kommunikation zustande kommt, also Anschluss findet, hängt wesentlich von den Medien der Kommunikation – der Mitteilung – ab.82 Medien 80 Luhmann, Gesellschaft, S. 107. 81 Luhmann, Gesellschaft, S. 866–893; Kieserling, Selbstbeschreibung, S. 49–68. 82 Die Systemtheorie versteht »Kommunikation« als zirkuläre Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen: Luhmann, Systeme, S. 193–212.
Ansätze und Methoden: Selbstbeschreibungen, Medien, Medialität
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ermöglichen also Beobachtungen und Unterscheidungen und begründen dadurch Selbstbeschreibungen. Erst mit der Erfindung von Schrift und Buchdruck, im 19. Jahrhundert dann zunehmend mit der Verbreitung der Presse, wird Kommunikation auch für während des kommunikativen Vollzugs nicht Anwesende beobachtbar und damit von Zeit und Raum unabhängig verfügbar. Für Politik und für Religion gilt, dass mit den durch Massen- und sonstigen Verbreitungsmedien hergestellten »Öffentlichkeiten« neuartige Instrumente zur Selbst- und Fremdbeobachtung bereit standen.83 Nicht nur die Selbst- und Fremdbeschreibungen der Katholizismen werden also untersucht, sondern auch deren Medien. Sie sind im Wesentlichen dafür verantwortlich, ob Kommunikation und damit, von der Gesellschaft her betrachtet, auch Religion zu Stande kommt. Deren Wahl war nicht zufällig, sondern lässt sich als Option vor dem Hintergrund der Säkularisierung deuten. Dabei ist stets zu beachten, wer in welchem medialen bzw. soziokulturellen Zusammenhang wie spricht oder schreibt – die mediale Konfiguration der Grenzkatholizismen, wie noch zu zeigen sein wird, war selbst im Vormärz äußerst kontingent.84 Neben der Medienwahl der religiösen Selbstbeschreibung ist schließlich deren physische, technische und kommunikative Verfasstheit, also deren Medialität von Bedeutung. Jedes Medium funktioniert nach bestimmten Eigenlogiken, womit der kommunikative Inhalt – die Information – gefiltert, geordnet und verändert wird. Medien – im 19. Jahrhundert im Wesentlichen gesprochene Sprache, Schrift, Bilder oder gedruckte Texte – übertragen somit nicht nur Sinn, sie ermöglichen ihn vielmehr.85 Die Wahl des Kommunikationsmittels führt also zu schwerwiegenden Konsequenzen: Religion unterwirft sich der inneren Ordnung eines Mediums und verändert sich dadurch selbst. Mit Nicolai Hannig ließe sich dieser Formenwandel als »Medialisierung der Religion« bezeichnen, der nicht nur auf die enge, ja konstitutive Bindung von Religion und ihren Medien verweist, sondern auch verdeutlicht, dass religiöser und medialer Wandel eine symbiotische Beziehung eingingen. Mit anderen Worten: Eine Geschichte der Religion in der Moderne, also der Säkularisierung, verstanden als religiöse Umweltbeobachtung und Formenwandel des Religiösen, bleibt ohne 83 Luhmann, Gesellschaft, S. 883f.; ders., Soziale Systeme, S. 193–201, S. 207–225; Werber, Medien, S. 323, S. 335; Frevert, Kommunikation; Schlögl, Anwesende, S. 29–47, S. 109– 136, S. 311–345. 84 Schlögl, Anwesende, S. 36–39. Schlögl unterscheidet vier Aspekte der medialen Konfiguration: Materiell-technische Voraussetzungen, die kommunikative Hervorbringung und Reproduktion von sozialer Ordnung, epistemische Konstellation und die Funktion von Medien in sozialer Kommunikation. 85 Jäger, Sprache; Schlögl, Anwesende, S. 36; Luhmann, Soziale Systeme, S. 223; Werber, Medien, S. 322f.
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eine angemessene Berücksichtigung der religiösen Mediengeschichte unvollständig.86 Eine Mediengeschichte des Katholischen muss zwei weitere Elemente berücksichtigen. Zunächst macht es einen entscheidenden Unterschied, ob religiöse Kommunikation unter Anwesenden oder Abwesenden stattfindet. Dies ist nicht nur eine Frage der medialen Reichweite bzw. der Dimension der Öffentlichkeit, sondern, wie Rudolf Schlögl in seiner kommunikationstheoretisch angelegten Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit eindrucksvoll darlegt, hatte dieser Kommunikationszusammenhang, mit all seinen performativ-repräsentativen Konsequenzen, erheblichen Einfluss auf den Gehalt der Kommunikation und damit den Vollzug der Gesellschaft selbst. Medien religiöser Kommunikation können im Vormärz somit vor einer Versammlung referierte Abhandlungen wie auch gedruckte Texte in Zeitschriften, Büchern oder Flugschriften sein.87 Es geht also auch darum zu beobachten, welche Personen am kommunikativen Vollzug beteiligt waren, welche ihn ermöglichten oder verhinderten. In diesem Sinne lassen sich die Grenzkatholizismen durchaus auch als Kommunikations- oder als Diskursgemeinschaften beschreiben, die sich über bestimmte Medien konstituierten, nach bestimmten inneren Logiken funktionierten, sich über bestimmte Selbstbeschreibungen von ihren Umwelten abgrenzten.88 Zweitens – unabhängig davon, ob unter Anwesenden oder Abwesenden kommuniziert wurde – führte Säkularisierung (und Säkularisation) dazu, dass die Katholizismen Tirols Formen einer öffentlichen Religion annahmen, die sich somit nicht erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts oder nach 1945, wie diverse Studien annehmen, sondern bereits im Vormärz ausbildeten. Die Grenzkatholizismen gewannen schon im Vormärz einen öffentlichen Charakter, da sie sich über öffentliche Kommunikation reproduzierten, die sich nicht mehr in klassischen kirchlichen Strukturen, also etwa in der Eucharistie oder in theologischinstitutionellen Abläufen, vollzog. Dies hatte zur Folge, dass die institutionalisierte Religion – die katholische Kirche – einer medial bedingten öffentlichen Religion – den Grenzkatholizismen – gegenüberstand, deren kommunikative Zusammenhänge, Semantiken und Selbstbeschreibungen sie nur noch begrenzt steuern konnte. Vielmehr bildete sich ein historisch kontingentes Wechselspiel zwischen der Kirche und ihrem medialisierten Alter Ego aus – der Einfluss der katholischen Kirche auf die öffentlichen Katholizismen variierte im 19. Jahrhundert stark. Auch ist anzunehmen, wie Frank Bösch betont, dass sich die 86 Hannig, Religion, S. 8–11; Bösch, Religion; Bösch, Mediengeschichte, S. 19; ders./Hölscher, Kirchen; Gabriel, Religion. 87 Schlögl, Anwesende; Bösch/Vowinkel, Mediengeschichte; Bösch, Mediengeschichte, S. 7–26; Kap. 1.6. zu den Quellen dieser Arbeit. 88 Anm. 49.
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öffentliche Religion deutlich schneller und dynamischer wandelte als ihr institutionalisierter, kirchlicher Konterpart.89 Öffentlich waren die Grenzkatholizismen aber auch deshalb, weil sie – durchaus im Sinne von JosH Casanova – politischen Einfluss auf die Zivilgesellschaft, aber auch auf den Staat zu nehmen suchten.90 Diese Feststellung mag gerade für den Vormärz überraschen: Einerseits war die Herrschaft der Kirche, die nominell spätestens nach 1803 ihrer staatlichen Funktion entledigt wurde, zunächst nur noch eine geistliche. In langen Phasen des 19. Jahrhunderts behielt sie in der Habsburgermonarchie dennoch ihre staatstragende und herrschaftslegitimierende Funktion bei, insbesondere im »monarchischen Prinzip« des Vormärz. Der erwähnte Dualismus zwischen institutionalisierter – staatskirchlicher – und öffentlicher Religion führte jedoch bereits im Vormärz dazu, dass Religion öffentlich ihre säkulare politische Umwelt reflektierte. Auch dies war im Grunde genommen eine Folge der Säkularisierung, die ermöglicht wurde im spezifischen historischen Kontext der Epoche. Schließlich stellt sich noch die Frage, wie die Grenzkatholizismen, verstanden als dynamische Formen öffentlicher Religion, die unter bestimmten, zeitbedingten medialen Konfigurationen entstanden sind und sich voneinander abgrenzten, in der Gesamtschau darstellbar sind. Diese Frage verweist auf das generelle Problem der regionalgeschichtlichen Erforschung von Grenzregionen bzw. Grenzräumen. Die historische Grenzraumforschung sowie das historiographische Thema der »Grenze« erlebten in der vergangenen Dekade eine Hochkonjunktur, die von einer bemerkenswerten Pluralität theoretischer wie methodischer Zugänge geprägt war. Dabei changierten die regionalgeschichtlichen Zugänge zwischen dem historischen Vergleich, transfer- und beziehungsgeschichtlichen Ansätzen sowie jenen der histoire croiseH.91 Entgegen der regionalgeschichtlichen Tradition Trentino-Tirols, die vornehmlich den Vergleich als Methode wählte, nutzt die vorliegende Arbeit eine beziehungsge89 Hannig, Religion; Bösch, Religion. 90 Casanova, Religion. Casanova beschreibt die paradoxe Entwicklung der Religion in der säkularen Moderne, die einerseits durch eine religiöse Privatisierung und andererseits durch einen öffentlichen Geltungsgewinn geprägt war. Siehe auch die partielle Reformulierung seiner Thesen in Casanova, Public Religions, die vor allem – unter dem Eindruck der Ereignisse nach dem 11. September 2001 – eine globalere Perspektive einnimmt. 91 Höhepunkte dieser Entwicklung waren 2010 der deutsche Historikertag in Berlin zum Thema »Über Grenzen« und die Schweizerischen Geschichtstage in Basel zum Thema »Grenzen«. Aus der umfangreichen Forschungsliteratur der vergangenen Jahre siehe nur Paulmann, Grenzräume; Duhamelle/Kossert/ Struck [Hrsg.], Grenzregionen; François [Hrsg.], Grenze; Spannenberger [Hrsg.], Raum; Hämäläinen/Truett, Borderlands; für Italien Salvatici [Hrsg.], Confini oder Di Fiore/Meriggi [Hrsg.], Spazi. Eine umsichtige Diskussion der diversen Ansätze der historischen Grenzraumforschung bieten Schlesier, Grenzregionen; Pernau, Geschichte, S. 36–66; Kaelble/Schriewer [Hrsg.], Vergleich, darin besonders Espagne, Transferanalyse.
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schichtliche und transnationale Perspektive, die fallweise vergleichende Elemente integriert. Zunächst legt dies der Forschungsgegenstand selbst nahe: Die Grenzkatholizismen waren keine präempirisch vorhandenen Entitäten, die man miteinander in Vergleich setzen könnte – sie müssten erst in retrospektiv-arbiträrer Weise als solche idealtypisch konstruiert werden.92 Damit würden nicht nur die Beziehungen zwischen den diversen Katholizismen ausgeblendet, sondern auch erheblich von der theoretischen Anlage der Arbeit abgewichen werden: Gerade durch die Beobachtung ihrer – auch religiösen – Umwelt grenzten sich die tirolischen Katholizismen voneinander ab. Sie standen also in einer Beziehung zueinander, sie beobachteten sich aufmerksam und verarbeiteten diese Informationen systemimmanent. Gioseffo Pinamonti etwa, der 1836 in einer Landesbeschreibung den liberalen, italienischen Katholizismus im südlichen Teil des Kronlandes und dessen gesellschaftliche Funktion beschrieb, betonte besonders dessen Toleranz – in bewusstem Gegensatz zum ultramontanen Katholizismus im deutschen Landesteil, der in jenen Jahren als besonders unduldsam galt und dem die rücksichtslose Verfolgung einer protestantischen Minderheit im Nordtiroler Zillertal zur Last gelegt wurde. Beda Weber, der umtriebige, publizistisch sehr aktive Benediktiner aus dem deutschen Landesteil, bewunderte dagegen die italienische Katholizität, die nie vom Protestantismus kontaminiert worden sei. In seinem schwülstigen Geschichtswerk »Tirol und die Reformation« (1841) deutete er die Katholizität der deutschsprachigen Tiroler eben aufgrund ihrer Nähe zum italienischsprachigen Katholizismus als besonders gefestigt, ja er verstieg sich sogar zur These, die Gegenreformation sei im deutschen Sprachraum von Tirol ausgegangen.93 Die Katholizismen Tirols beeinflussten sich gegenseitig, sie waren ko-konstituierend. Erst ein beziehungsgeschichtlicher Zugang zeigt diese semantischen Verflechtungen, Abhängigkeiten und Abgrenzungen.94 Damit sollen jedoch Elemente des Vergleichs nicht ausgeschlossen werden: Besonders strukturelle Aspekte der religiösen Kommunikation, etwa die technisch-praktische Ebene der gewählten Medien, lassen sich vergleichend durchaus sinnvoll erhellen.95 Zweitens erfordert die Untersuchungsregion selbst einen beziehungsge92 Judson, Borderlands; Espagne, Transferanalyse; Schlesier, Grenzregionen, S. 274–276; Pernau, Geschichte, S. 43–45, hält zurecht fest, dass auch die Transfergeschichte nicht ohne die vorempirische Konstruktion von Grenzen auskommt; ähnlich auch Schulze, Einleitung, S. 15f.; Bauerkämper, Wege zur europäischen Geschichte; Huber, Region, S. 185–192; Corsini, Questione, S. 593–595; Cole/Heiss, Unity. 93 Kap. 4. und Kap. 5.2.2. 94 Conrad/Randeria, Geteilte Geschichten. 95 Schlesier, Grenzregionen; Schulze, Einleitung, S. 14–22; Bauerkämper, Wege zur europäischen Geschichte, S. 45–51.
Ansätze und Methoden: Selbstbeschreibungen, Medien, Medialität
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schichtlichen Zugang. Tirol war kein klassischer Grenzraum, der durch zwei klar voneinander scheidbare Entitäten gebildet worden wäre. Vielmehr handelte es sich um einen Raum des fließenden Überganges, um einen »Grenzraum« im Sinne Johannes Paulmanns, eine »Übergangszone verdichteter Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Kulturen«.96 Denn in der Tat: Das Kronland wurde – und das ist zentral – von mehreren Grenzen staatlich-administrativer, kultureller, sprachlicher und religiöser Natur gebildet. Man müsste also Vergleiche auf ganz unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Deshalb erscheint es sinnvoll zu beschreiben, wie die Untersuchungsgegenstände selbst diese Grenzen beobachtet, transzendiert oder verstärkt haben und nicht zuletzt dadurch gegenseitig in Beziehung traten. Grenzen selbst werden deshalb als Konventionen verstanden, als Ergebnis von kommunikativen Prozessen, von Beobachtungen und Selbstbeschreibungen – an deren Ausbildung auch die Grenzkatholizismen maßgeblich beteiligt waren. Diese beziehungsgeschichtliche Perspektive nach innen ist mit einer transnationalen Perspektive nach außen zu kombinieren. Wie wenige europäische Räume konstituierte, ja definierte sich Tirol durch eine geradezu immanente Transnationalität: Es verband den deutschen mit dem italienischen Kulturraum, war Teil der Habsburgermonarchie und des Deutschen Bundes. Besonders in der katholizismusgeschichtlichen Betrachtung sind deshalb transnationale Bezüge unübersehbar. So wurden hier die »Kölner Wirren«, die neue konfessionelle Auseinandersetzung ab den 1840er Jahren oder gar die evangelische Generalsynode in Berlin im Sommer 1846 ebenso wie die neoguelfische Ikonisierung Pius’ IX. zum Einiger Italiens eingehend diskutiert. Es handelte sich gleichsam um ein religionsgeschichtliches Europa en miniature.97 Die Region TrentinoTirol ist also nicht als isolierte Einheit zu beschreiben, sondern stets in Relation zu ihrem transnationalen Umfeld. Diese Beziehungs- und Transferprozesse waren jedoch keinesfalls einseitig, sondern zirkulär. Tirol selbst war mehrfach umstrittener Gegenstand der emergierenden konfessionellen Öffentlichkeiten Europas, was sich wiederum auf Tirol selbst auswirkte.98
96 Paulmann, Grenzräume, S. 197. Omer Bartov und Eric D. Weitz sprechen von »spaces-inbetween« bzw. von »regions of transition and overlap«: Bartov/Weitz, Introduction, S. 1, S. 7; ähnlich auch Readmann/Radding/Bryant, Borderlands, S. 2f. 97 Kap. 5.2.2. und Kap. 8. 98 Meriggi, Storia; Paulmann, Regionen; Espagne, Transferanalyse, S. 436–438; Judson, Borderlands; Ther, Einleitung; Conrad, Marginalisierung, S. 148.
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1.4. Historischer Kontext: Religion an Grenzen Die Studie konzentriert sich regional-räumlich auf das habsburgische Kronland Tirol, zeitlich auf den Vormärz im engeren Sinn, also auf die Jahre zwischen 1830 und 1848. Diese durchaus gängige Periodisierung ist nicht unumstritten. Sie ist retrospektiv angelegt und entstammt der Literaturgeschichte, wurde dann aber von der Geschichtsschreibung übernommen, um den beschleunigten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel in Zentraleuropa zu beschreiben. Problematisch an diesem Epochenbegriff sind dessen implizite Teleologie, die auf die nachfolgende Revolution verweist, sowie die Tatsache, dass er sich im Grunde ausschließlich auf die deutschsprachigen Gebiete Europas bezieht. Da aber der benachbarte Epochenbegriff der »Restauration« weitaus problematischer ist, wird die hier in Betracht gezogene Zeitspanne weiterhin als »Vormärz« bezeichnet.99 Nur fallweise, wenn es der Argumentation dienlich ist, wird dieser zeitliche Rahmen überschritten. Für die Wahl dieser räumlich-zeitlichen Begrenzungen sind regional-, medien- und religionsgeschichtliche Konstellationen entscheidend. Im abschließenden Kapitel wird diese zeitliche Einteilung – auch in Anbetracht der Ergebnisse der Arbeit – relativiert und vielmehr dafür plädiert, »regionalzeitlich« und religionsgeschichtlich von einem »langen« Tiroler Vormärz zu sprechen, der nicht mit der Revolution 1848, sondern mit dem vollen Einsetzen der neoabsolutistischen Reaktion 1852 endete.100 Die Wahl dieses Untersuchungszeitraums will näher begründet werden. Zunächst: Tirol fiel nach der napoleonischen Periode nicht, wie in der regionalen Geschichtsschreibung noch immer überwiegend behauptet wird, einfach an das Kaisertum Österreich zurück, sondern wurde vielmehr neu begründet. Wiewohl die herrschenden Eliten weitgehend dieselben blieben, änderte sich das politisch-administrative Setting grundlegend – Tirol wurde von einem peripheren, mit zahlreichen Partikularismen und autonomen Rechten versehenen Erbland der Krone zu einer zentral verwalteten »Gränz-Provinz« im Westen der Monarchie.101 Wie im folgenden Abschnitt dargelegt wird, veränderte dieser Prozess der »Provinzialisierung« das Gesicht Tirols radikal: Das Land wurde – wie der Rest der habsburgischen Territorien – seiner Selbstverwaltung weitgehend beraubt und zentral verwaltet, aber auch deutlich vergrößert: Die Territorien der beiden Fürstbistümer Brixen und Trient wurden ganz an Tirol angeschlossen, 99 Fahrmeir, Europa, S. 1f., S. 103f.; Stauber, Wiener Kongress, S. 11–14; Hahn/Berding, Reformen, S. 41; Bellabarba/Luzzi, Territorio, S. 185. 100 Osterhammel, Verwandlung, S. 84–128, das Zitat auf S. 87 sowie Baud/Schendel, Comparative History, S. 236. 101 Heiss, Land; Kap. 2. Zu dem nur partiellen Wandel der Eliten in der Umbruchsphase um 1800 Bellabarba u. a. [Hrsg.], Eliten. Das Zitat aus dem Jahr 1824 in: [Rapp], Voglsanger, S. 21.
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auch die westlichsten Teile des ehemaligen Fürsterzbistums Salzburg fielen an das neue Kronland.102 Dieses neue Tirol wurde damit auch, und dies ist wohl eine der gravierendsten Folgen der napoleonischen Flurbereinigung, italienischer, ein binationales Land gleichsam. Verwendeten im ausgehenden 18. Jahrhundert gut 15 Prozent der Tirolerinnen und Tiroler Italienisch als Muttersprache, so stieg dieser Anteil im Laufe des Vormärz auf 40 Prozent an – wobei die Sprachgrenze fluide und Mehrsprachigkeit häufig war.103 Diese Grenzverschiebungen versetzten die Provinz im äußersten Westen der Monarchie in einen fragilen Zustand der äußeren und inneren Grenzlage: Tirol begrenzte die Habsburgermonarchie zu Bayern im Norden und zur Schweiz im Westen, den Deutschen Bund dagegen zum habsburgischen Königreich Lombardo-Venetien (ebenfalls eine postnapoleonische Erfindung) im Süden. Aufgrund dieser staatlichen Randlage geriet das Kronland in den nervösen und krisenbefallenen Jahren nach 1830 gleich zwischen mehrere Konfliktherde: Die Schweiz befand sich ab 1840 nahezu in einem permanenten Zustand der politischen Instabilität. Im Süden entfalteten die erheblich ansteigende politischsoziale Unzufriedenheit im Lombardo-Veneto und das revolutionäre Potential der Geheimgesellschaften – wie der carboneria oder Mazzinis giovine italia – ein bedrohliches Krisenszenario.104 Darüber hinaus lag das Kronland nunmehr nicht nur an der sprachlich-kulturellen Grenze zwischen dem deutschen und italienischen Sprachraum, sondern es inkorporierte diese Grenze gewissermaßen und war in zwei nahezu gleich große, relativ geschlossene Sprach- bzw. Nationalitätenblöcke aufgeteilt, zu denen neben der rätoromanischen Sprachgruppe der Ladiner noch weitere kulturelle Minderheiten hinzukamen. Das Kronland wurde damit zum multiplen Grenzraum, der an staatlichen wie kulturell-sprachlichen Grenzen lag. Regionalgeschichtlich gesprochen, konstituierten diese neuen inneren und äußeren Grenzen die historische Untersuchungsregion »Tirol«. Wenn auch »Tirol« wohl nie ein geteilter Bezugspunkt aller seiner Bewohner und Bewohnerinnen, also keine »Identitätsregion« wurde, 102 Bellabarba, Impero, S. 73–85. 103 Judson, Borderlands. Zahlen zur sprachlichen Zusammensetzung der Bevölkerung Tirols bei Stauber, Zentralstaat, S. 147 [1780]; Levy, Governance, S. 17, beziffert den Anteil italienischsprachiger Tiroler für das Jahr 1781 mit 16 Prozent; Mazohl, Autonomiebestrebungen, S. 2 [1848]; Götz, Bürgertum, S. 51 [1850]; Hain, Handbuch, der erstmals die Gesamtbevölkerung der Monarchie in vier nationale »Hauptstämme« (Deutsche, Romanen, Slawen und asiatische »Stämme«) gliedert, gibt für das Jahr 1846 die Stärke der Tiroler Sprachgruppen bzw. »Stämme« mit 61 Prozent Deutsche, 37 Prozent Italiener, einem Prozent Ladiner und 0,1 Prozent Juden an. Bellabarba/Luzzi, Territorio, S. 171, sprechen für die Zeit nach 1816 von einem Sprachenverhältnis zwischen Deutschen und Italienern von 55–57 Prozent zu 42–44 Prozent. Zur geringen Zuverlässigkeit dieser Daten und zu ihrer Erhebung Hösler, Krain, S. 66–71. 104 Hildebrand/Tanner [Hrsg.], Revolution; Meriggi, Regno, S. 263–325; Altgeld, Carbonari; Chvojka, Sedlnitzky, S. 42–70.
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so war es doch eine Grenzregion, deren Grenzlage und Grenzregimes, freilich in unterschiedlicher Ausprägung, alle Menschen im Kronland verspürten.105 Sodann: Diese Grenzverschiebungen wirkten sich auch religionsgeschichtlich erheblich aus. Die katholische Kirche musste nach 1816 mit vollkommen neuen politischen und religionsrechtlichen Voraussetzungen zurechtkommen: Sie verlor mit den Fürstbistümern Trient und Brixen ihre territoriale Herrschaft, gewann in der vormärzlich-antirevolutionären Habsburgermonarchie dafür eine neue staatstragende Funktion. Dies hatte einen hohen Preis: Stärker noch als im josephinischen Jahrzehnt griff der Staat reglementierend und repressiv in die innere Organisation der Kirche ein – die zeitgenössische Bezeichnung der Kirche als »Kanzleianstalt« bringt diese asymmetrische Beziehung auf den Punkt.106 Diese politisch-administrative Eingrenzung der institutionalisierten Kirche sowie der catholic turn Europas der 1830er Jahre zwangen die Katholizismen Tirols zu neuen sozialen bzw. kommunikativen Formen, sie schufen ihnen gleichsam neue Freiräume. Der Vormärz war in katholischen Teilen Europas vielfach eine Bühne gigantischer religiöser Massenveranstaltungen, wundersamer Erscheinungen und der Neubegründung von Kulten, vor allem der Verehrung Mariens und des Heiligen Herzen Jesu.107 Auch Tirol erlebte den Vormärz als Phase der intensivierten Frömmigkeit: Elemente barocker, regional spezifischer massenhafter Kultverehrung wurden in Phasen politischer und ökonomischer Krisen neu gedeutet und reaktiviert. Die »marianische Renaissance«, die Kunde von wunderbaren Erscheinungen, Volksmissionen oder kirchliche Jubiläen führten auch im vormärzlichen Tirol regelmäßig zu Massenveranstaltungen mit vielen tausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern.108 105 Kühne, Region; Bloetevogel, Region; Huber, Region, S. 190–192; Readman/Radding/ Bryant, Borderlands; Judson, Marking national space, S. 123, der festhält: »In the context of late Imperial Austria this term ›borderland‹ rarely referred to a border between sovereign states. Instead, borderlands usually referred to internal national or cultural frontiers that allegedly separated – or conjoined – imagined nations, cultures, or even civilisations, along shared peripheries.« Tirol ließe sich somit als typisches habsburgisches Grenzland bezeichnen. 106 Kap. 2.1.4.; das Zitat in Chowanetz, Mission, S. 11. 107 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 990–1003; Weiss, Ultramontanismus, S. 843–845; ders., Seherinnen; Blackbourn, Marpingen, S. 64f.; Busch, Frömmigkeit, S. 64–67; Gißibl, Frömmigkeit; Priesching, Mörl, S. 75–98; Cole, Gott, Kaiser, Vaterland, S. 139– 223; ders., Nationale Identität. 108 So soll die Stigmatisierte Maria von Mörl im südlichen Tirol allein im Sommer 1833 von 40.000 Gläubigen aufgesucht worden sein, Priesching, Mörl, S. 126f.; zum ersten Jahrestag der Marienerscheinung in La Salette/Frankreich im Jahr 1847 erschienen 50.000 Katholikinnen und Katholiken: Blackbourn, Marpingen, S. 67. Die alles überragende Massenveranstaltung war freilich die sogenannte Trierer Rockwallfahrt 1844, die, über Wochen verteilt, über 500.000 Menschen anzog: Schieder, Religion. Kirchliche Veranstaltungen lockten in Tirol alleine im Jahr 1845 60.000 Menschen in das Nordtiroler Stift Marienberg, 40.000 Menschen nach Bozen und 25.000 Menschen nach Trient: Kap. 7.3.1.
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Parallel zu dieser religiös-kultischen Wende von unten, die die Massen der Bevölkerung erreichte bzw. von diesen mitgetragen wurde,109 etablierte sich in Europa ein romantisch-restaurativer, in Italien aber auch liberal-progressiver Elitendiskurs, der dem Katholizismus eine neue politische und gesellschaftliche Bedeutung zuschrieb. Die emergierenden europäischen Öffentlichkeiten waren zudem äußerst sensibel für religiöse bzw. konfessionelle Fragen – kurzum: Religion erlangte im Vormärz insgesamt eine neue, gesamtgesellschaftlich spürbare Bedeutsamkeit.110 Dieser Widerspruch zwischen dem europaweiten catholic turn und den religionspolitischen Repressionen des vormärzlichen Staates wurde in der staatlich-kulturellen Grenzlage Tirols potenziert, was sich auf dessen religiöse Landschaft erheblich auswirkte, ja die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Grenzkatholizismen erst ermöglichte. Diese waren ihrer Grenzlage allerdings nicht nur passiv ausgesetzt, sondern konstruierten, konsolidierten oder schwächten selbst Grenzziehungen. Mediengeschichtlich schließlich gilt das 19. Jahrhundert als Jahrhundert der Öffentlichkeit, als Hre m8diatique, in der die europäischen Gesellschaften sich über überpersonale Medien vollzogen und reproduzierten. Technische Innovationen, verbesserte Post- und Straßenverbindungen bzw. die Eisenbahn sowie die zunehmende Alphabetisierung, ein verändertes Leseverhalten und neue Lesevereine sorgten für rasant wachsende Buch- und Zeitungsmärkte und damit auch dafür, dass immer mehr Menschen in Kontakt mit überpersonalen Medien kamen und Teil der europäischen Öffentlichkeiten wurden.111 Auch in Tirol war dieser mediale Aufschwung, wenngleich in abgeschwächter Form, spürbar. Besonders der Wagner-Verlag in Innsbruck sorgte durch technische Innovation – die erste Schnellpresse Österreichs wurde hier im Vormärz in Betrieb genommen – dafür, dass gedruckte Texte schneller und billiger denn je verfügbar waren.112 Das 19. Jahrhundert war aber gleichermaßen das Jahrhundert, in dem Religion öffentlich wurde und dadurch eine neue Sozialform annahm. Religiöskonfessionelle Texte, Erbauungsliteratur und sogenannte Kirchenblätter schu109 Erheblich beeinflusst durch den Aufsatz Wolfgang Schieders über die Trierer Rockwallfahrt (1844) aus dem Jahr 1974 (neu veröffentlicht als Schieder, Religion), dominierte in der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte die Vorstellung der willenlosen, der Kuratel des Klerus ausgelieferten katholischen Massen bis in die jüngste Zeit, etwa noch bei Blaschke, Kolonialisierung. Borutta, Antikatholizismus, S. 86–88, weist zurecht darauf hin, dass dadurch und durch den funktionalistischen Religionsbegriff dieser Sozialgeschichte vormärzliche antikatholische Positionen reproduziert und die religiöse Dimension dieser Massenbewegungen verkannt werden. 110 Schlögl, Alter Glaube, S. 157–226; Borutta, Antikatholizismus, S. 63–66; Lönne, Katholizismus, S. 51–105; Wolfzettel/Ihring, Katholizismus. 111 Requate [Hrsg.], Mediengesellschaft; das Zitat wurde dem Beitrag von Thérenty, Les debuts, entnommen; Wagner, Agenten; Bösch, Mediengeschichte, S. 85–104; Stöber, Pressegeschichte, S. 118–131. 112 Sila, Weg.
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fen konfessionalisierte Öffentlichkeiten, die transnational ausgerichtet waren und sich über ganz Europa erstreckten.113 Andererseits war insbesondere der österreichische Vormärz geprägt durch ein perfektioniertes und umfassendes System der Zensur, das nicht nur Öffentlichkeit verhindern bzw. kanalisieren wollte, sondern auf eine totale antirevolutionäre Domestizierung der Gesellschaft abzielte.114 Medial-technischer Aufschwung und Repression, konfessionelle Öffentlichkeiten und die Zensur schufen ein komplexes Spannungsfeld, das den Katholizismen Tirols Chancen bot und sie gleichermaßen vor schier unüberwindliche Hindernisse stellte. Wie die vorliegende Arbeit zeigen will, ergaben sich trotz der vormärzlichen Zensur immer wieder Möglichkeiten zum Aufbau überpersonaler Kommunikation. Dennoch prägte dieses eigentümliche, widersprüchliche Spannungsfeld von medialem Aufschwung und Repression die öffentliche Erscheinung von Religion massiv : Formen passiver und aktiver Öffentlichkeit wechselten sich im Vormärz ab, Ersatzmedien und Ersatz-Öffentlichkeiten boten relativ staatsferne Freiräume der Kommunikation. Der Vormärz war somit auch in medienhistorischer Hinsicht eine Zeit des Übergangs, in der sich Formen der Kommunikation unter Anwesenden und unter Abwesenden abwechselten. Man muss hier nicht unbedingt von einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« sprechen. Moderne und vormoderne Kommunikationsformen bestanden nicht unvermittelt nebeneinander, sondern beobachteten sich in der Regel gegenseitig und, wie etwa das Beispiel der Roveretaner »Accademia degli Agiati« zeigt, ergänzten sich vielmehr. Kommunikation vollzog sich hier zwar zunächst unter den anwesenden Akademikern, wurde dann allerdings in einem zweiten Schritt, wenn auch der Medialität des überpersonalen Kommunikationsmediums angepasst, in einer Zeitung veröffentlicht.115 Diese historisch-räumlichen Konstellationen machen das habsburgische Tirol zu einem besonders ergiebigen Untersuchungsgegenstand für das Forschungsvorhaben dieser Arbeit. Die Periode zwischen 1830 und 1848/1852 im Übergangsraum zwischen Italien, Deutschland und Österreich bietet ein ideales Erprobungsfeld für eine transnational ausgerichtete Regionalgeschichte, die nationale Engführungen nicht nur zu überwinden, sondern zu problematisieren und damit zu historisieren sucht.
113 Metzger, Religion, S. 149f.; Luginbühl u. a. [Hrsg.], Grenzziehungen; ders., Christenthum, S. 179–199; Metzger, Moral, S. 277–294; Kap. 3.4. 114 Siemann, Ideenschmuggel; Kap. 2.1.3. 115 Kap. 6.1.; Osele [Hrsg.], Atti.
Untersuchungsgegenstände
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1.5. Untersuchungsgegenstände: Nation, Konfession, Raum transnational beobachtet Die Analyse der katholischen Umweltbeobachtungen im Vormärz wird für die Untersuchung auf drei Themen begrenzt. Die Beobachtungen dieser drei Bereiche, so die These, waren grundlegend für die katholische Differenzierung nach außen und nach innen, sie waren die Bereiche, die für die Selbstbeschreibung der Grenzkatholizismen konstitutiv waren und die religiöse Kommunikation maßgeblich mitprägten. Zunächst widmet sich die Arbeit der Verhältnisbestimmung zwischen religiösen und nationalen Zuschreibungen. Die Beziehungen zwischen Religion und Nation gehören neben dem Säkularisierungstheorem nach wie vor zu den komplexesten und »unbewältigten« (M. Geyer) Problemfeldern der neueren Religionsgeschichte und Religionssoziologie, obwohl zu diesem Thema inzwischen eine stattliche Anzahl an einschlägigen Publikationen vorliegt.116 Religion und Nation galten lange Zeit als nicht kompatibel, ja besonders der Katholizismus wurde vom liberalen Antikatholizismus des 19. Jahrhunderts und noch von der jüngeren Geschichtswissenschaft als das »Andere der Moderne« (M. Borutta) beschrieben.117 Dieses Bild haben in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche Arbeiten erheblich korrigiert. Diese Kurskorrektur ging mitunter soweit, dass Religion und Nation als wesensähnliche Verbündete im Prozess der Säkularisierung gedeutet wurden. Michael Geyer beispielsweise subsumiert Religion und Nation »in dieselbe Klasse von Erscheinungen« und versteht die Nation als säkularisierte Religion und die Religion dagegen als sakralisierte Nation.118 Obwohl gegen derartige Ansätze schwerwiegende Einwände vorgebracht wurden, weisen sie doch auf die komplexen Interaktionen hin, die dieses Beziehungspaar der Moderne prägten. Als zentrales Ergebnis der bisherigen Forschungsanstrengungen lässt sich indes festhalten, dass kaum generalisierende Aussagen darüber möglich sind, welchen Anteil religiöse Semantiken an der Aus- und Abbildung der Nationen hatten bzw. wie Religionen die nationalen Semantiken beobachteten und beschrieben. Vielmehr sind diese Verhältnisse fallweise und im Detail zu bestimmen – regionale Konfigurationen und Machtverhältnisse dürften hier den Ausschlag gegeben haben.119 Wie Franziska Metzger betont hat, ist der Vormärz als Formierungsphase für 116 Krumeich/Lehmann, Nation; Haupt/Langewiesche [Hrsg.], Nation und Religion; dies. [Hrsg.], Nation und Religion in Europa; Geyer/Lehmann [Hrsg.], Religion; Schulze Wessel [Hrsg.], Nationalisierung oder Altermatt/Metzger [Hrsg.] Religion. 117 Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, S. 384–396; Borutta, Antikatholizismus, S. 47–49, Zitat S. 48. 118 Geyer, Religion, S. 20–26, Zitat S. 20; Ziemann, Sozialgeschichte, S. 152–156. 119 Schlögl, Alter Glaube, S. 208.
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die Verhältnisbestimmungen zwischen Nation und Religion zu verstehen – in den Jahren von 1830 bis 1848 wurden die Weichen gelegt, die die weitere Entwicklung nachhaltig prägten.120 Der gewählte Untersuchungsraum bietet hier reizvolle Perspektiven und Problemstellungen. Zunächst stellt sich die Frage, ob die Katholizismen nationale Bezüge überhaupt thematisierten und ob solche für religiöse Selbstbeschreibungen eine Rolle spielten. Wenn Religion also ein Element der nationalen Selbstvergewisserung, ein nationaler Identitätsmarker war, dann stellt sich auch das Problem, wie die Religion der »Anderen«, der nationalen Nachbarn in der Region, wahrgenommen wurde. Umgekehrt ist unklar, weshalb die gemeinsame katholische Konfession nationale Antagonismen nicht temperierte und überwölbte. Wenn etwa Urs Altermatt für den italienischsprachigen Schweizer Kanton Tessin/Ticino festhält, dass ein »politischer Katholizismus« eine Brücke zur mehrsprachigen und plurikonfessionellen Eidgenossenschaft dargestellt und damit die Ausbildung von sezessionistischen, nationalistischen Diskursen verhindert habe,121 dann ist auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar, weshalb dieser Mechanismus im mehrsprachigen Kronland Tirol nicht ebenfalls wirkte. Liberale wie konservative/ultramontane Katholiken bekannten sich hier zur italienischen Nation, in den 1870er Jahren bildete sich sogar ein ultramontaner cattolicesimo nazionale aus.122 Religion, soviel kann hier vorweggenommen werden, diente den deutschsprachigen wie auch den italienischsprachigen Katholiken Tirols vielmehr als semantisches Scharnier zur eigenen Kulturnation, deren Bedeutung sie verstärkte. Komplexer wird die Situation, wenn man das zweite gewählte Beobachtungsfeld hinzuzieht. Es stellt sich in der Tat die Frage, ob und wie andere Konfessionen beobachtet wurden und ob in ihnen ein konstituierendes Anderes gefunden wurde, oder ob man ihnen vielmehr mit Indifferenz begegnete – Kontakte zu anderen Konfessionen waren schließlich im nahezu monokonfessionellen Tirol äußerst selten. Die Religions- und Katholizismusforschung hat sich bislang kaum mit der Frage zwischenkonfessioneller Konflikte in monokonfessionellen Territorien auseinandergesetzt. Doch gerade der Tiroler Fall lässt vermuten, dass die konfessionalisierten Diskurse europäische Dimensionen einnahmen und, entgegen den Annahmen eines Großteils der einschlägigen 120 Metzger, Religion, S. 19. 121 Altermatt, Konfession, S. 79–108. Altermatt führt das klassische Argument an, die crosscleavage-Struktur der Schweiz habe eine Ethnisierung und Nationalisierung der helvetischen Innenpolitik verhindert – dies hätte auch für das Trentino im 19. Jahrhundert gelten können, auch hier deckten sich politische bzw. konfessionelle Gruppierungen nicht mit den Sprachgrenzen. Schwerer dürfte jedoch die Tatsache gewogen haben, dass das Tessin ein eigener Kanton mit erheblichen Selbstverwaltungsrechten war, während die italienischsprachigen Trentiner sich nach 1816 faktisch in einem mehrheitlich deutschsprachigen Verwaltungsraum befanden. 122 Huber, Intransigentismo; Corsini, Colloquio, S. 118–135.
Untersuchungsgegenstände
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Forschung, sich auch auf monokonfessionelle Territorien auswirkten. Der öffentliche Konflikt zwischen den europäischen Konfessionen nach 1830 war kein regionales oder nationales Problem, sondern eine Frage von europäischer Tragweite.123 Zweitens lässt sich am Tiroler Fallbeispiel verdeutlichen, wie problematisch es sein kann, binnenkonfessionelle Unterschiede in den zwischenkonfessionellen Beziehungen auszublenden: So definierte sich der deutschsprachige Katholizismus in Tirol im 19. Jahrhundert mehrheitlich als »NichtProtestantismus«, eine Selbstbeschreibung, die vor allem durch die Beobachtung der religiösen Konflikte Europas im Vormärz entstand.124 Dagegen verstand der im südlichen, italienischsprachigen Tirol verwurzelte liberale Katholizismus in der Tradition Antonio Rosminis gerade eine überkonfessionelle Einigung unter der Führung des Papstes als Grundlage für die Emanzipation der Völker und der Nationen; mehr als Differenzen wurden Gemeinsamkeiten mit dem Protestantismus betont.125 Ultramontan-intransigente Katholiken italienischer Sprache betonten nach 1848 dagegen weniger konfessionelle Unterschiede zum Protestantismus, sondern thematisierten vor allem nationale Differenzen: Während die italienische Nation eine katholische sei, sei der Protestantismus eine germanische Religion.126 »Konfession« war somit nicht nur ein zwischenkonfessionelles Unterscheidungsmerkmal, sondern führte auch zu nationalen Grenzen zwischen den Katholizismen Tirols, in deren Selbstbeschreibungen andere Konfessionen ganz unterschiedlich mitgedacht wurden. Die Kategorie »Raum« schließlich wurde von religionshistorischen Arbeiten bislang kaum berücksichtigt.127 Versteht man »Raum« jedoch als elementare semantische Form der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung,128 so gewinnt diese Kategorie auch für religionshistorisch interessierte Arbeiten erheblich an Bedeutung. So konnten räumliche Bezüge in religiösen Selbstbeschreibungen einfließen, wenn etwa der katholische Glaube in Tirol, alpinen Felsenformationen ähnlich, als unverrückbar und unzerstörbar beschrieben wurde.129 Umgekehrt konnten religiöse Bezüge die räumlichen Ordnungen einer Gesellschaft erheblich prägen. Wenn heute noch immer vom »Heiligen Land« Tirol die Rede ist, dann handelt es sich hier um eine Territorialisierung religiöser Semantiken. Im deutschsprachigen Tirol beispielsweise bildete sich bereits im Vormärz der Begriff der »Glaubenseinheit« aus, der die konfessionelle Differenzierung in 123 Blaschke, Inkubationszeit; Mergel, Grenzen, S. 81–85. 124 An die Leser, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 1–8. 125 AAA, 1063.1, Francesco Antonio Marsilli an »Altezza Imperiale« [Erzherzog Johann], 24. 10. 1848. 126 VC, Nr. 104, 09. 09. 1870. 127 De Rosa, Storia; Rau, Raum. 128 Redepenning, Überraschung; Pott, Identität; Jureit, Räume, S. 12–29. 129 VC, Nr. 101, 22. 08. 1871.
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Form einer raumbezogenen Semantik fasste: Der Begriff postulierte ein exklusiv katholisches »Tirol«, das sich vom Protestantismus bzw. vom »protestantischen Norden« nicht nur konfessionell, sondern auch räumlich abgrenzte.130 Diese religiös/konfessionelle raumbezogene Semantik hatte darüber hinaus einen eminenten nationalen Bezug: Indem die deutschsprachigen Ultramontanen Tirols das Kronland als monokonfessionelles Land definierten, verwiesen sie implizit nicht nur auf den Konflikt zwischen den Konfessionen im deutschsprachigen Raum, sondern stellten eine Bindung zur deutschen Kulturnation her. Nicht zuletzt deshalb fand die Semantik der »Glaubenseinheit« im italienischen Landesteil nie nennenswerten Anschluss. Wie diese Beispiele andeuten, waren die drei Felder semantisch eng miteinander verwoben, sie verwiesen aufeinander und wurden teilweise parallel beobachtet. Sie bilden den inhaltlichen Leitfaden, um die Selbst- und Fremdbeschreibung der Katholizismen, die Beobachtung und semantische Verarbeitung der Säkularisierung zu beschreiben. Die drei Themenfelder betonen schließlich die transnationale Perspektive der Arbeit: Die Katholizismen beobachteten nicht nur sich selbst, sondern ebenso ihre Umwelt im italienisch- und deutschsprachigen Raum, in der Habsburgermonarchie und im restlichen Europa. Deshalb macht es gerade für das habsburgische Tirol wenig Sinn, Religionsgeschichte in nationalen Käfigen zu betreiben – Einflüsse aus Nord wie Süd machten sich hier bemerkbar.
1.6. Quellen Der inhaltliche, theoretische, zeitliche und räumliche Zuschnitt der Arbeit erfordert ein sehr breites und inhomogenes Quellenkorpus. Auf den ersten Blick erscheint es wenig aussichtsreich, eine Kommunikationsgeschichte des Religiösen ausgerechnet im habsburgischen Vormärz, für eine ländlich geprägte Region wie Tirol zumal, schreiben zu wollen. Doch gerade diese vorderhand ungünstigen Bedingungen zwangen die sich ausdifferenzierten Katholizismen, auf ein buntes Ensemble von Medien zu bauen und sich als multimediale Kommunikationssysteme zu reproduzieren. Dabei – und dies ist entscheidend – fand religiöse Kommunikation keineswegs ausschließlich in gewohnten religiösen Kommunikationszusammenhängen, etwa im liturgischen Rahmen, sondern auch in anderen, durchaus überraschenden Bereichen statt. In erster Linie verwendet die Arbeit gedruckte Medien, offiziöse und regierungsnahe Zeitungen, religiöse Zeitschriften, Predigten, aber auch die Zeitungen agrarischer Sozietäten, theologische Texte und Erbauungsliteratur, Rezen130 Kath. Bl 4 (1846), S. 938–939; Kap. 5.2.2.; Kap. 9.
Quellen
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sionen, Flugblätter und Pamphlete sowie Reiseberichte und Landesbeschreibungen. Da der gestrenge Blick der vormärzlichen Zensoren gerade in staatspolitisch heiklen Angelegenheiten wie Religion kaum öffentliche Diskussionen duldete, wich die religiöse Kommunikation regelmäßig auf ausländische Medien aus. So bilden die deutschsprachige, außerösterreichische Kirchenblattbewegung oder die beiden großen Augsburger Zeitungen – die neben den Regierungsblättern überhaupt die wichtigsten deutschsprachigen politischen Medien des Tiroler Vormärz darstellten – das elementare Quellenrückgrat einiger Kapitel.131 Da Verbreitungsmedien wie Zeitungen oder Zeitschriften hier nicht nur als Quellen, sondern auch als Gegenstand der Analyse interessieren, ist deren historische Kontextualisierung notwendig. Wie für viele Printmedien des 19. Jahrhunderts trifft auch für die untersuchten Tiroler Zeitungen und Zeitschriften das bedauerliche Manko zu, dass kaum noch Redaktionsakten vorhanden sind, sodass häufig nur schwer nachvollziehbar ist, welche Personen die Redaktion lenkten oder einzelne Texte verfassten. Teilweise ließen sich diese gravierenden Quellenlücken durch Archivmaterial der staatlichen und kirchlichen Archive der Region beheben, wiewohl es auch hier mit der Überlieferung nicht immer zum Besten steht.132 Religiöse Kommunikation verlief im Vormärz freilich auch unter Anwesenden, ja teilweise eröffnete gerade Face-to-Face-Kommunikation zensurfreie Räume. Deshalb dienen private Briefe, ungedruckte, privat herumgereichte Manuskripte oder öffentlich vorgetragene Reden bzw. gelehrte Abhandlungen ebenfalls als wichtige Quellen. So wäre beispielsweise die Ausbildung der kulturellen Hegemonie des liberalen Katholizismus im südlichen Tirol ohne die Berücksichtigung der tornate an der »Accademia degli Agiati« in Rovereto, in denen regelmäßig theologische, historische oder politische Abhandlungen fernab vom Auge der Zensur vorgetragen wurden, nicht nachvollziehbar. Die Manuskripte dieser Texte sind zu einem großen Teil erhalten und wurden vorzüglich erschlossen.133 Wie die Katholizismen ihre Umwelt, aber auch das nationale oder konfessionelle Andere beobachteten und beschrieben, lässt sich aber auch durch Berichte, Statistiken und Korrespondenzen der Geistlichen vor Ort darstellen. Insgesamt besehen, handelte es sich trotz dieser medialen Pluralität um relativ geschlossene Kommunikationssysteme: Private Korrespondenzen oder der Rechenschaftsbericht des Ortsgeistlichen an die übergeordnete Kirchenbehörden enthielten sehr häufig Verweise auf gedruckte, überpersonale Kommunikation des In- und Auslandes; andererseits griffen vormärzliche Zeitschriften in der Regel auf Beiträge von Einzelpersonen, die häufig in Brief131 Kap. 3.4.; Kap. 7. 132 Bösch, Mediengeschichte, S. 24–26; Wolf, Zeitungen. 133 Bonazza [Hrsg.], Inventario.
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form mit den Redaktionen der Medien korrespondierten, zurück. Regelmäßig wurden mündliche Vorträge oder Predigten in Zeitungen und Zeitschriften eingerückt. Diese Arbeit handelt nicht nur davon, ob, sondern auch wie religiöse Kommunikation verlief – dementsprechend vielseitig ist das Tableau der verwendeten Quellen.
1.7. Forschungsstand Der Forschungsstand, mit dem die Arbeit auf nationaler und regionaler Ebene konfrontiert ist, ist – gelinde ausgedrückt – disparat. Die Religions- und Kirchengeschichtsschreibung hatte nördlich und südlich des Brenners einen völlig unterschiedlichen Stellenwert innerhalb der nationalen bzw. regionalen Wissenschaftsgemeinschaften, sie wurde mit anderen Methoden und anderen Erkenntnisinteressen betrieben. Für den deutschen und angelsächsischen Raum lässt sich mit Anthony Steinhoff ein markanter religious turn festmachen, der Anfang der 1980er Jahre einsetzte und seither ungebrochen fortwirkt.134 Diese Wende war aus zwei Gesichtspunkten von größter Bedeutsamkeit: Sie löste zunächst nicht nur die ältere, kirchen- bzw. konfessionszentrierte, heilsgeschichtlich orientierte Kirchengeschichtsschreibung ab, sondern beeinflusste diese selbst nachhaltig, sodass sich die Methoden und Darstellungsweisen von Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistorikern kaum mehr von denen ihrer »profanen« Kolleginnen und Kollegen unterscheiden. Diese erneuerte Sozialgeschichte der Religion trat aber auch an die Stelle einer modernisierungstheoretischen Sozialgeschichte, die für Religion und religiöse Akteure in ihrer Darstellung der Moderne keinen Platz hatte. Mittlerweile ist allgemein anerkannt, dass Kirche und Religion auch nach 1800 ein bedeutender gesellschaftlicher Stellenwert zukam, ja dass sie maßgeblich an der Ausbildung der Moderne beteiligt waren, was sich nicht nur an einer eindrucksvollen historiographischen Produktion, sondern auch an deren Institutionalisierung in Arbeitskreisen und einschlägigen, wohldotierten Forschungszentren ermessen lässt.135 Die Mehrzahl dieser Studien ist von einer auffallenden Nähe zur soziologischen Theorie geprägt: Wie bereits erwähnt, dominierte die zuweilen strukturgeschichtliche, auf Rainer M. Lepsius zurückgehende, katholische 134 Steinhoff, Zeitalter, S. 549. 135 Ziemann, Sozialgeschichte, S. 9–25; Wolf, Historiker. Zu nennen wären hier etwa der Exzellenzcluster »Religion und Politik« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der Schwerter Arbeitskreis für Katholizismusforschung oder das Münchener Internationale Graduiertenkolleg »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts«.
Forschungsstand
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Milieuforschung bis zuletzt das religionshistorische, vor allem katholizismusgeschichtliche Terrain. Seit einigen Jahren ist jedoch eine kommunikationstheoretische Wende zu beobachten, die sich vor allem in diskursanalytischen, aber auch medientheoretisch angelegten Arbeiten niederschlägt.136 Franziska Metzger, Benjamin Ziemann oder Tobias Dietrich legten darüber hinaus innovative, theoretisch sehr reflektierte Arbeiten zu ganz unterschiedlichen Bereichen der kirchlichen Historiographie- und Wissenschaftsgeschichte sowie der mikrogeschichtlichen Lokal- bzw. Dorfgeschichte vor und belegten damit eindrucksvoll, dass die Katholizismus- bzw. Kirchen- und Religionsgeschichte im deutschen und angelsächsischen Raum zur hochentwickelten, methodisch und theoretisch stark ausdifferenzierten Variante der Sozialgeschichte avancierte.137 Während in den 1990er und 2000er Jahren noch stark das 19. Jahrhundert als Untersuchungsgegenstand im Vordergrund stand, hat sich das Forschungsinteresse nunmehr auf zeit- und gegenwartsgeschichtliche Problemstellungen verlagert. Da die meisten Studien mit der Zäsur 1848 einsetzen, sind die Beiträge zum Vormärz prinzipiell eher rar, sieht man von den jüngsten, monumentalen Christentumsgeschichten von Andreas Holzem und Rudolf Schlögl ab.138 In Italien waren und sind die Akzente der Sozialgeschichte der Religion anders gelagert – vor allem kann die italienische Forschung auf eine wesentlich längere Tradition zurückblicken. Wiewohl hier nicht der konfessionelle Antagonismus, sondern die römische Frage und die Abfolge der risorgimentalen Einigung die Kirchengeschichte zunächst faktisch marginalisiert und aus dem nationalen historischen Kanon ausgeschlossen hatten, entwickelte sich nach 1945, verstärkt dann ab den 1960er Jahren eine vitale Religions- und Kirchengeschichtsschreibung, die sich nicht nur auf eine eng gefasste Institutionengeschichte beschränkte, sondern selbstbewusst den Platz der Religion in der modernen Geschichte Italiens einklagte. Historiker wie Fausto Fonzi, Angelo Gambasin oder Giorgio Candeloro und später dann Gabriele De Rosa, Giovanni Miccoli oder Daniele Menozzi entwickelten eine quellennahe Sozialgeschichte der Religion, die eigene Forschungszentren, systematische, großangelegte Editionsprojekte und Fachzeitschriften hervorbrachte.139 Die wichtigsten Arbeitsgebiete dieser storia sociale e religiosa umfassten auf einer mikrohistorischen 136 Eitler, Horkheimer ; Bösch/Hölscher [Hrsg.], Kirche; Luginbühl u. a. [Hrsg.], Grenzziehungen; Hannig, Religion; Gerster, Friedensdialoge. 137 Metzger, Religion; Ziemann, Sozialwissenschaften; Dietrich, Konfession. 138 Schlögl, Alter Glaube; Holzem, Christentum in Deutschland. 139 »Rivista di Storia della Chiesa in Italia« (1947); »Archivio italiano per la storia della piet/« (1951); »Istituto per le scienze religiose«, Bologna (1953); »Istituto per le Ricerche di Storia Sociale e Religiosa«, Vicenza (1975). Xeres, Storiografia; De Rosa, Geschichtsschreibung; Boesch Gajano/Caliò, Historiography.
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Ebene etwa das Sozialleben der Pfarre, die Sozialgeschichte des Klerus, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene unter anderem die modernen Vergesellschaftungsformen des »movimento cattolico« bzw. der »azione cattolica« nach 1850.140 Wichtig sind in Italien auch eher der konventionellen Ideengeschichte gewidmete Studien zu prominenten katholischen Politikern oder Intellektuellen, wie etwa die zahlreichen Arbeiten zu Antonio Rosmini, Vincenzo Gioberti oder Cesare Balbo zeigen.141 Das dominante Thema der italienischen Katholizismusgeschichte bleibt indes aber das problematische Verhältnis von Kirche und Katholizismus zu Staat und Nation, das von einer engen Symbiose bis zum erbitterten Antagonismus nach 1861, in allen denkbaren Schattierungen, reichte.142 Trotz dieser jahrzehntelangen Tradition der religionshistorischen Forschung, die auch Eingang in die großen Überblickswerke der Nationalgeschichte fand,143 setzte in den letzten beiden Jahrzehnten eine bestimmte methodische und theoretische Stagnation ein: Wiewohl regelmäßig Synthesen zur Religions- bzw. Katholizismusgeschichte Italiens erscheinen, fehlt heute die Innovationskraft der 1970er Jahre weitgehend. Vielfach reduzieren sich die Anstrengungen auf editorische Unternehmungen, auf regionaler Ebene scheint man zu einer eher orthodoxen Bischofsgeschichte zurückgekehrt zu sein.144 Impulse von außen werden kaum rezipiert – so sucht man, sieht man von vereinzelten soziologischen Studien ab, vergeblich nach medien- und kommunikationsgeschichtlichen Arbeiten zum modernen italienischen Katholizismus. Selbst die katholische Presse Italiens im 19. Jahrhundert ist nur sehr unzureichend erforscht.145 Die Geschichtsschreibung Österreichs bzw. der Habsburgermonarchie, sieht man von der transleithanischen Reichshälfte ab,146 hinkt ihren nördlichen und südlichen Nachbarn dagegen deutlich hinterher. Die religionshistorische Forschungslandschaft zeigt sich hier inhaltlich, theoretisch und methodisch wesentlich weniger ausdifferenziert, was sich nicht zuletzt in der regelmäßigen Abwesenheit von Beiträgen zur Habsburgermonarchie in internationalen Sammelbänden niederschlägt. Für die Geschichte des Katholizismus bzw. der katholischen Kirche in Österreich bzw. in der Habsburgermonarchie gilt, dass die institutionenzentrierte Kirchengeschichte, häufig von einem erheblichen methodischen Konservativismus geprägt, immer noch dominiert. Konventionelle Institutionengeschichte, nicht selten mit heilsgeschichtlichen Absichten 140 141 142 143 144 145 146
De Rosa, Movimento; Candeloro, Movimento; Traniello [Hrsg.], Dizionario 1–5. Traniello, Societ/; ders., Cattolicesimo; Spiri, Rosmini. Formigoni, Italia oder Battelli, Societ/. Francia, Clero; Menozzi, Gesuiti. Battelli, Storiografia. Pace, Raccontare Dio; Majo, Stampa. Schulze Wessel [Hrsg.], Nationalisierung; Gottsmann, Rom.
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versehen und uninteressiert am Anschluss an die »profane« Geschichte, prägt diese kirchengeschichtliche Produktion. Rupert Klieber, selbst katholischer Kirchenhistoriker, bringt die methodisch konservative Ausrichtung der österreichischen Kirchengeschichte prägnant auf den Punkt, wenn er schreibt, dass »Leopold Ranke […] hier immer noch« regiere.147 Andererseits entwickelte die »weltliche« Historie selbst auch kein sonderliches kirchengeschichtliches bzw. religionsgeschichtliches Interesse. Zwar legten Historikerinnen und Historiker wie Erika Weinzierl, Friedrich Engel-J#nosi, Gottfried Mayer und Eduard Winter, zu denen auch die beiden Ordensmitglieder Ferdinand Maaß und Eduard Hosp gezählt werden müssen, zahlreiche, auch unverzichtbare Studien und Akteneditionen vor, die jedoch kaum einen nachhaltigen Forschungsstrang zu etablieren vermochten und ihren gemeinsamen Referenzrahmen bestenfalls im kontroversen Verhältnis zwischen Staat und Kirche fanden.148 Dies gilt im Grunde auch für die evangelische Kirchengeschichtsschreibung Österreichs, die, über lange Zeit stark beeinflusst von ihrem Nestor Georg Loesche, nicht nur eine konfessionell begrenzte Perspektive einnahm, sondern die historische Selbstbeschreibung der konfessionellen Minderheitenlage politisierte bzw. mit politischen Forderungen unterlegte.149 Grundlegend sind deshalb die Arbeiten von Rupert Klieber, der seine religiöse Alltagsgeschichte zunächst für den Katholizismus, dann für alle Konfessionen der Habsburgermonarchie entfaltete und dadurch das Innovationspotential einer Religionsgeschichte, die sich eben nicht nur als Kirchengeschichte im engeren Sinn versteht, für den konfessionell so fragmentierten Raum der Habsburgermonarchie aufzeigt.150 Wichtige Beiträge zur habsburgischen Religionsgeschichte leisteten außerdem Studien angelsächsischer Provenienz: William D. Bowman und Max Voegler legten methodisch und inhaltlich anregende Studien zur Kultur- und Sozialgeschichte des niederösterreichischen, Wiener bzw. oberösterreichischen Klerus vor, John W. Boyer eine politik- bzw. ideengeschichtliche Genealogie der christlich-sozialen Bewegung Wiens.151 Weitgehend auf Wien begrenzt sind schließlich einige, teilweise unveröffentlichte Arbeiten zum katholischen Presse- oder Vereinswesen sowie die enzyklopädisch angelegte Studie von Hermann-Josef Schneidgen über die katholische Kirche Deutschlands im Revolutionsjahr 1848.152 Die Religionsgeschichte in der Habsburgermonarchie bleibt damit hauptsächlich institutionelle Kirchengeschichte, klar umgrenzte Forschungsansätze werden in 147 Klieber, Alltagsgeschichte, S. 15. 148 Weinzierl, Ecclesia; Engel-Jánosi, Korrespondenz; Mayer, Grossmacht; Maaß, Josephinismus; Hosp, Vormärz. 149 Leeb, Profil, S. 43–48. 150 Klieber, Pfarrer ; ders., Lebenswelten. 151 Bowman, Priest. 152 Ernegger, Zeitschriften; Sauer, Vereinswesen; Schneidgen, Katholizismus.
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der Regel als Einzelprojekte vorangetrieben, ohne programmatische Einbindung in größere Zusammenhänge.153 Die vielschichtigen religiösen Landschaften der Habsburgermonarchie müssen deshalb als terrae incognitae bezeichnet werden, einige wenige handbuchartige Gesamtdarstellungen mögen der ersten Orientierung dienen, kaum aber Abhilfe für diese weitläufigen Desiderate schaffen.154 Überblickt man diese forschungsgeschichtliche Skizze zur jüngeren Religionsgeschichtsschreibung in Deutschland, Italien und Österreich, dann werden äußerst disparate Forschungsstände sichtbar, die sich in ihren inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, vor allem aber in ihren theoretisch-methodischen Arbeitsweisen und Ergebnissen stark voneinander unterscheiden. Deutlich wird auch, wie sehr alle drei wissenschaftlichen Gemeinschaften einem »methodologischen Nationalismus« verfallen sind: Der heuristische Grundkonsens besteht darin, die »eigene« Religion oder Kirche aus einer »eigenen«, nationalen Perspektive zu erforschen. Transnationale Zugänge hingegen werden selbst in der Wahl des methodischen oder begrifflichen Instrumentariums, vor allem in der österreichischen Forschung, kaum eingenommen. Dabei haben rezentere Beiträge zur Missionsgeschichte oder zur internationalen Solidarisierung mit dem Papst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezeigt, dass die europäischen Religionen der Moderne als transnationale Phänomene zu begreifen sind.155 Kaum besser, aber wesentlich komplexer beschaffen ist der Forschungstand zum Tiroler Raum. Zunächst muss festgehalten werden, dass die nach 1919 errichtete Grenze zwischen Italien und Österreich die historische Forschung ganz erheblich prägte. Bis auf wenige Ausnahmen widmete sich die Geschichtswissenschaft südlich wie nördlich des Brenners nicht der gemeinsamen Geschichte in der Habsburgermonarchie. Die Staatsgrenze am Brennerpass (bzw. die Sprachgrenze bei Salurn) schrieb somit nicht nur die Grenze zwischen Österreich und Italien nach 1919 fest, sondern steuerte auch die Blicke in die Vergangenheit, sie umschrieb die räumlichen Grenzen der regionalen Geschichtsschreibung.156 Der »methodische Nationalismus« der nationalen Historiographien wird somit auf regionaler Ebene fortgeschrieben. Mit der größten Selbstverständlichkeit ignorierten sich die »italienischen« und »deutschen« Kirchengeschichten Tirols – lapidar wird auf mangelnde Literatur verwiesen 153 Weiss, Religiosit/, S. 397–401. 154 Wandruszka/Urbanitsch [Hrsg.], Konfessionen; Leeb u. a. [Hrsg.], Geschichte. 155 Juneja/Pernau [Hrsg.], Religion; Juneja, Mission; Habermas, Mission; Lamberts [Hrsg.], Black International; ders., Conservatives; Clark, Catholicism; Viaene, History ; Schulze [Hrsg.], Grenzüberschreitende Religion, darin explizit Schulze, Einleitung, S. 9– 25, S. 9; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 980. 156 Götz, Nutzen; Cole, Eigentümlichkeiten; Kap. 2.1.
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oder dem anderssprachigen Nachbarn in der Darstellung stillschweigend die Funktion eines unbedeutenden Anhangs zugeteilt.157 Einen ersten Schritt zur Überwindung dieser historiographischen Barriere im Bereich der Religionsund Kirchengeschichte hat zuletzt Emanuele Curzel getan, der eine Kirchengeschichte der gegenwärtigen italienischen Provinz Bozen-Südtirol vorgelegt hat und damit die Geschichte des italienischen und deutschen Teils des habsburgischen Tirols zusammenführt.158 Die Konsequenz dieser regionalhistorischen Entzweiung waren zwei getrennte Wissenschaftskulturen, die kaum miteinander kommunizierten und in ihren Inhalten und Methoden stark voneinander abwichen. Die deutschsprachige Tiroler Religions- und Kirchengeschichte blieb bis zuletzt, ähnlich wie jene Österreichs, stark personen- und institutionengeschichtlich geprägt und von einem erheblichen methodischen Konservativismus bestimmt. Gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge sind für eine Kirchengeschichtsschreibung derartigen Zuschnitts ohne weiteren Belang, ja sie stellen bestenfalls die historische Kulisse für die Geschichte der Kirche dar.159 Umgekehrt widmen sich »Profanhistorikerinnen und Profanhistoriker« kaum religions- oder kirchenhistorischen Fragestellungen, sieht man von den Arbeiten Josef Fontanas, Hans Heiss’ oder Mercedes Blaas’ zu den Konflikten zwischen Staat und Kirche oder den sozialstatistisch angelegten Arbeiten Helmut Alexanders zum Klerus der Diözese Brixen ab.160 Wichtige Impulse erhielt die deutschsprachige Regionalgeschichte Tirols in den letzten beiden Jahrzehnten indes von jüngeren Historikerinnen und Historikern aus Deutschland und England: Laurence Cole etwa arbeitete die politische und nationale Dimension der populären Frömmigkeit, insbesondere des Herz Jesu-Kultes, heraus; Nicole Priesching legte mit ihrer Dissertation über Maria von Mörl eine auch überregional sehr beachtete frömmigkeitsgeschichtliche Studie zum Tiroler Vormärz vor.161 Auch im Rahmen der jüngsten regionalhistorischen Konjunktur, die sich um das bicentenaire des Aufstandes von 1809 entspann, wurden zwar einige religionshistorische Reflexionen angestellt, die allerdings kaum weitere systematische Forschungen
157 Sparber, Kirchengeschichte, S. 5; Gelmi, Kirchengeschichte, führt zwar den Anspruch, ganz »Tirol« zu behandeln, beschränkt sich aber faktisch auf den deutschsprachigen Landesteil. Umgekehrt interessierten sich Trentiner Kirchenhistoriker bzw. Historiker kaum für den deutschsprachigen Teil der Diözese Trient – dessen Geschichte wurde gesondert und freilich in deutscher Sprache verfasst: Atz/Schatz [Hrsg.], Antheil. 158 Curzel, Storia. 159 Priesching, Mörl, S. 30. 160 Fontana, Kulturkampf; Heiss, Chronik; Blaas, Priesterverfolgung; Alexander, Herkunft. 161 Cole, Nationale Identität; Priesching, Mörl; GR/SR 12 (2003) 2, »Fromme Frauen – Devozione femminile«.
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anregten.162 Insgesamt kann festgehalten werden: Religion wird zwar von der regionalen Historiographie als integraler Bestandteil einer überzeitlich gedachten »Tirolizität« stets mitgedacht, jedoch kaum näher untersucht.163 Einen ganz anderen Stellenwert nehmen Katholizismus und Kirche in der regionalen Geschichtskultur des Trentino ein. Wie im übrigen Italien wurde Religion hier weit früher als im deutschen Sprachraum eine größere historische Bedeutung beigemessen, auch hier war das Verhältnis, das Katholizismus und Kirche zum Risorgimento eingingen, von besonderem Interesse. So bildete sich seit den 1860er Jahren eine liberale, antiklerikale Geschichtsdeutung aus, die den – intransigenten, pianischen – Katholizismus als das Andere der italienischen Nation brandmarkte, dessen innerkirchlichen Antagonisten, den liberalen Katholizismus neoguelfischer Prägung, dagegen weniger religionshistorisch, als vielmehr als Wegbereiter der ideellen und materiellen Anbindung des Trentino an die italienische Nation beschrieb.164 Im Gegensatz zum deutschsprachigen Tirol war die Geschichte der katholischen Kirche hier damit schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine exklusive Angelegenheit der institutionalisierten Kirchengeschichtsschreibung mehr, sondern wurde zu einem guten Teil von Laien betrieben. Bereits früh wurden neben den klassischen institutionen- und ideengeschichtlichen Fragestellungen auch Sonderaspekte behandelt, etwa die katholische Presse oder die politische, philosophische und literarische Tätigkeit einzelner Geistlicher – allen voran freilich Antonio Rosminis.165 Wiewohl im Vergleich zum kirchengeschichtlich geprägten deutschsprachigen Tirol damit für den Trentiner Katholizismus eine umfangreichere und differenziertere regionalgeschichtliche Literatur vorliegt, sind auch hier einige Grundprobleme festzuhalten. Neben der beinahe vollständigen Ausblendung des deutschsprachigen Tirol ist die häufig anzutreffende risorgimentale Note dieser Arbeiten problematisch. Selbst rezentere Studien, die dem nationalistischen Impetus der älteren Trentiner Historiographie kritisch gegenüberstehen, führen paradoxerweise dessen Diskurse fort: So wird der Trentiner Liberalismus häufig lediglich auf seinen nationalistischen Gehalt 162 Oberhofer, Selbstverständnis, der über eine Ansammlung von Hofer-Zitaten mit religiösen Bezügen leider nicht hinausgeht; theologische Reflexionen bei Siebenrock, Wehrhaftigkeit. Schennach, Revolte, S. 170–183, S. 285–305, setzt die religiöse Dimension von »1809« in einen breiteren Kontext und stellt die berechtigte Frage, inwieweit die häufigen religiösen Bezüge nicht auch der politischen Rechtfertigung des Aufstandes selbst dienten; ähnlich auch Noflatscher, Heilig, S. 371f. Erber, Lieder, S. 138–143, S. 148–154, deutet den permanenten öffentlichen Rekurs auf Religion bzw. die »Kriegstheologie« um 1800 als Medium der militärischen Mobilisierung. 163 Alexander, Anmerkungen, plädierte zuletzt für eine stärkere religionshistorische Sensibilisierung. 164 Huber, Intransigentismo, S. 66–71; Corsini, Questione, S. 612; Cavaletti, Prato. 165 Zieger, Stampa; Benvenuti, Chiesa; De Finis [Hrsg.], Rosmini.
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überprüft und dabei ausgeblendet, dass dessen liberale Konzeption der italienischen Nation vielfach auf einem liberalen Katholizismus gründete; ultramontane Katholiken werden dagegen als antinational und als »austriacanti« apostrophiert.166 Einen zentralen Beitrag zur regionalen, deutsch- wie auch italienischsprachigen Tiroler Historiographie, aber viel mehr noch zum österreichisch-habsburgischen Diskurs leistet die 2015 erschienene Habilitationsschrift von Margareth Lanzinger. Sie führt nicht nur die italienisch- und deutschsprachige Literatur zusammen und überwindet damit binnentirolische historiographische Grenzziehungen, sondern eröffnet auch ein für die habsburgische Geschichte neues Forschungsfeld, das zwischen kirchlich-staatlicher Verwaltungs- und Verfahrensgeschichte und Sozial- und Kulturgeschichte angesiedelt ist. Lanzinger problematisiert in ihrer quellengesättigten Studie die bürokratische Konstruktion von Verwandtschaft und inwiefern diese in staatlichen und kirchlichen Diskursen ein Verhinderungsgrund für eine – kirchliche – Ehe war. Die Studie zeigt, wie sehr Staat und Kirche als gesellschaftliche Institutionen auch die intimsten Bereiche der Menschen zu reglementieren suchten und im Untersuchungsraum zwischen 1780 und 1890 freilich ganz unterschiedliche Vorstellungen von Verwandtschaft, Ehe und Gesellschaft insgesamt verfolgten. Wenig überraschend ist freilich, dass Staat und Kirche dabei selten einer Meinung waren. Erstaunlicherweise – und hierin liegt ein zentraler Anknüpfungspunkt für die vorliegende Studie – war das Kräfteverhältnis zwischen Staat und Kirche keineswegs in allen Diözesen dasselbe: In Brixen etwa war ihre Beziehung überaus konfliktgeladen, weil die katholische Kirche hier erhebliche Deutungsund Regulierungsansprüche auf Verwandtenehen erhob, während in Trient die Bedeutung staatlicher Stellen deutlich überwog.167 In Anbetracht dieser zahlreichen Vorarbeiten erhebt die Arbeit den Anspruch, den ungleichen Stand der Forschungen und die unterschiedlichen Forschungsschwerpunkte auf regionaler wie nationaler Ebene regionalgeschichtlich zusammenzuführen. Dreier weiterer Desiderate nimmt sie sich an: Zunächst handelt sie von einer Zeitspanne, die in der nationalen wie auch in der regionalen historiographischen Produktion eine eher nachgeordnete Rolle einnimmt: Zwischen den ereignisgeschichtlichen Polen »Französische Revolution/Wiener Kongress« und »1848« eingebettet, galt das Interesse der historischen Zunft am Vormärz bisher vor allem der politisch-literarischen Opposition. Obwohl der religious turn des europäischen 19. Jahrhunderts im Vormärz verortet wird – deutlich ablesbar an religiösen Großereignissen wie etwa den
166 Deambrosi, Conciliatoristi; Camurri, Liberali. 167 Lanzinger, Verwaltete Verwandtschaft.
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»Kölner Wirren« (1838) oder der Trierer »Rockwallfahrt« (1844) – fehlen bislang insbesondere zum österreichischen Vormärz eingehende Studien.168 Wiewohl Thomas Götz und Manuel Borutta den Ertrag transnational-vergleichender Studien, die den italienischen und deutschen Raum in den Blick nehmen, eindrucksvoll demonstriert haben, blieben ähnlich konzipierte religions- bzw. katholizismusgeschichtliche Studien rar. Bislang ist ein Vergleich – oder besser : eine parallele Betrachtung – der Katholizismen in Italien, Deutschland und Österreich lediglich in einem Tagungsband aus dem Jahr 1977 angestrebt worden.169 Den Herausgebern ging es darin allerdings weniger um einen Vergleich und schon gar nicht um eine Beziehungsgeschichte, sondern, wie Konrad Repgen in seiner Einleitung festhielt, »di descrivere situazioni ed avvenimenti nei paesi coinvolti indipendenti tra di loro nella misura piF vasta« – um dann gleichsam dem Publikum die vergleichende Perspektive zu überlassen.170 Die Beiträge des Bandes blieben dann auch konsequent einer nationalen Perspektive verpflichtet und behandelten Einzelprobleme des politischen Katholizismus nach 1870 sauber getrennt in Fallstudien zu Deutschland, Österreich und Italien. Egon Lönne, der sich gut zehn Jahre später dem politischen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts in Deutschland, Italien und Frankreich widmete, verfuhr im Grunde sehr ähnlich.171 Diese Arbeit will dagegen zeigen, dass eine derartige nationale Engführung wichtige Erkenntnisse ausblendet und dass eine Katholizismusgeschichte Europas im 19. Jahrhundert vielmehr stets auch eine transnationale Geschichte ist. Dies lässt sich insbesondere am Beispiel von Grenzregionen darstellen, die für die deutschen Ostund Westgrenzen, aber auch in einigen östlichen Regionen der Habsburgermonarchie religionshistorisch durchaus gut erforscht sind. Die Betrachtung dieser Räume zeigt nicht nur die transnationale Dimension der Religionsgeschichte deutlich auf, sondern auch die Kontingenz des Verhältnisses von Religion und Nation, das sich je nach regionaler Konfiguration grundlegend anders gestalten konnte.172
168 Als Ausnahme für die Habsburgermonarchie: Hosp, Vormärz. 169 Passerin d’Entreves/Repgen [Hrsg.], Cattolicesimo. 170 »Auf breitester Basis die Zustände und Ereignisse in den untersuchten Ländern, die voneinander unabhängig waren, zu beschreiben.« Passerin d’Entreves/Repgen, Introduzione, S. 10. 171 Lönne, Katholizismus, S. 12f. 172 Bjork, Catholicism; Steinhoff, Gods; Schulze Wessel, Confessional Politics.
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1.8. Aufbau der Arbeit Das Ziel dieses Buches ist es also, den Formenwandel der Grenzkatholizismen Tirols hin zu öffentlichen Religionen nachzuzeichnen und zu erklären. Seine chronologisch angeordneten Abschnitte sollen analytische Tiefe ermöglichen, ohne dabei die übergeordnete Fragestellung aus dem Blick zu verlieren. Das zweite Kapitel zeichnet gleichsam den historischen Rahmen der Arbeit, der das Verständnis der folgenden Teile erleichtern soll. Im Zentrum stehen die epochenspezifischen Paradoxien des habsburgischen Vormärz und deren Auswirkungen auf den Katholizismus in Tirol. Der dritte Abschnitt wendet sich einer grundlegenden wie kontroversen regionalgeschichtlichen Zäsur zu, ohne deren eingehende Betrachtung die weitere Entwicklung nicht nachvollziehbar wäre. Die Ausweisung der gemeinhin als »Inklinanten« bezeichneten Zillertaler Glaubensgemeinschaft im September 1837 entwickelte sich nicht nur zu einem umstrittenen Erinnerungsort Tirols, sondern katapultierte das Kronland in die konfessionellen Öffentlichkeiten Europas und umhüllte es mit dem Nimbus eines strengkatholischen Landes. Dabei befanden sich die Katholizismen Tirols in einem Zustand der »passiven Öffentlichkeit«: Die mediale Konfiguration des Vormärz ermöglichte es ihnen zwar, die Fremdbeobachtungen in den konfessionellen Öffentlichkeiten Europas zu verfolgen, aber nicht darauf zu reagieren. Betrachtet man jedoch die katholischen Selbst- und Fremdbeschreibungen im deutschsprachigen Landesteil genauer, dann zeigt sich, dass die Ausweisung nicht aufgrund konfessioneller Überlegungen erfolgte, sondern vor allem der Gleichsetzung von Moral und Religion geschuldet war. Nicht konfessionelle, sondern politische Gründe in antirevolutionärer Absicht führten zur kruden Ausweisung der 427 Personen aus dem Zillertal. Der vierte Abschnitt geht der Frage nach, welche »Ersatzmedien« bereit standen, um die »passive Öffentlichkeit« im habsburgischen Orbrigkeitsstaat zu durchbrechen. Es war kaum dem Zufall geschuldet, dass zwischen 1836 und 1837, genau zum Zeitpunkt der größten europäischen Aufmerksamkeit für das Kronland, zwei von Priestern verfasste Landesbeschreibungen über Tirol bzw. das Trentino erschienen. Es handelte sich dabei um ein populäres und auf den ersten Blick unpolitisches Genre, das vor allem im deutschen Sprachraum verwendet wurde, um, an der Zensur vorbei, öffentlich politisch-religiöse Reflexionen anzustellen und dem beschriebenen Raum eine spezifische »Signatur« zu verleihen. Vergleicht man die beiden Texte, so wird nicht nur ersichtlich, dass sie implizit aufeinander verweisen, sondern erhebliche argumentative Mühe aufwenden, um den deutschen bzw. italienischen Landesteil der jeweiligen Kulturnation zuzuordnen. Dabei spielte die Katholizität eine elementare Rolle, sie begründete gleichsam die nationalen Zuordnungen. Das darauffolgende Kapitel erschließt die Folgen der Medialisierung der
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Religion in vergleichender Perspektive. Nahezu zeitgleich versuchten italienisch- und deutschsprachige Geistliche Zeitschriftenprojekte zu realisieren. Während jedoch die Trentiner Priester an der konservativ-ängstlichen Haltung ihres Bischofs scheiterten, konnte in Innsbruck ab 1843, relativ unbehelligt von der Zensur, die einzige deutschsprachige katholische Zeitschrift der Habsburgermonarchie erscheinen. Drei Fallstudien sollen Aspekte der Medialisierung der Religion, die diese Zeitschrift bewirkte, ausloten: Zunächst suchte sie den Klerus zu uniformieren, indem sie sich in zahlreichen Texten direkt an diesen wandte und dabei einen nachzuahmenden klerikalen Idealtyp, einen medialen Pastor bonus gleichsam, konstruierte. Die zweite Detailstudie will zeigen, wie sehr auch regionale Zeitschriften den Transfer gesamteuropäischer, konfessionalistischer Konflikte in monokonfessionelle Gebiete vorantrieben. Nicht die Ausweisung der Zillertaler führte dazu, dass sich der deutschsprachige, ultramontane Katholizismus als das historisch, politisch und religiöse Andere des Protestantismus definierte, sondern vielmehr die Beobachtung der zwischenkonfessionellen Konflikte in der Schweiz, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und vor allem in Preußen, die durch das neue Medium der Zeitschrift möglich wurde. Drittens schließlich begründete die Zeitschrift durch die Ansammlung und Veröffentlichung kirchenstatistischer Daten eine neue Form der religiösen Selbst- und Fremdbeobachtung. Die Beschreibung Tirols als eminent katholischen Raum wurde durch den statistischen Blick objektiviert und wissenschaftlich überprüfbar. Das sechste Kapitel dieses Buches legt den Fokus auf das italienische Tirol und beobachtet die Entwicklung, die dort der Katholizismus ohne eine lokale religiöse Zeitschrift nahm – das Innsbrucker Kirchenblatt wurde hier kaum rezipiert. Hier bildeten sich vielmehr »Ersatzöffentlichkeiten« aus, die ebenfalls die Zensur umgingen und religiöse wie politische Selbstbeschreibungen ermöglichten. Ein Spezifikum dieser liberalkatholischen Ersatzöffentlichkeiten an der Roveretaner Gelehrtenakademie und im »Giornale agrario« war die Kombination von Kommunikation unter Anwesenden und jener unter Abwesenden, die eine relativ freie Rede über Religion, Nation und Politik und vor allem eine stärkere diskursive Anbindung an den italienischen Kulturraum erlaubte. Dabei zeigt sich auch, dass gerade die unterschiedlichen medialen Konfigurationen in der Region die Ausdifferenzierung der Grenzkatholizismen vorantrieben. Im siebten Kapitel wird sodann eine weitere mediale Option problematisiert, die eng mit den Paradoxien des Vormärz verbunden war und die Katholizismen Tirols von der »passiven« in eine »aktive« Öffentlichkeit versetzte. Antikatholische, vor allem antijesuitische Diskurse entfachten im deutschsprachigen Landesteil einen vehementen Konflikt über die gesellschaftliche, politische und religiöse Deutungshoheit über »Tirol«, der in Augsburger Zeitungen ausgetragen wurde. Diskurse über Tirol wurden somit nicht nur rezipiert, sondern
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erstmals, durch den privilegierten Zugang zu den Redaktionen der Zeitungen, auch aktiv mitgestaltet. Unter dem Deckmantel vorderhand literarischer Fehden wurden dabei vor allem die Katholizität und die Nationalität Tirols kontrovers diskutiert, während im italienischsprachigen Landesteil zeitgleich ein ähnlicher Streit über die Italianit/ des Trentino ausgetragen wurde. In beiden Fällen hatte der Staat kaum mehr Zugriff auf die öffentliche Kommunikation, ihm blieb nichts anderes übrig, als sich den Mechanismen der medialen Öffentlichkeit zu fügen und als gleichberechtigter Akteur an den Debatten teilzunehmen. Der achte Abschnitt befasst sich schließlich mit den semantischen Folgen dieser Auseinandersetzungen. »Glaubenseinheit« und »Pio Nono« bildeten am Vorabend der Revolution von 1848 die mediale und semantische Entwicklung der Grenzkatholizismen Tirols ab, sie stellten eine Synthese zwischen Religion, Raum und Nation her und entzweiten das monokonfessionelle Kronland Tirol auch religiös. Somit lässt sich auch für Tirol in Hinblick auf »1848« von einer »langen Revolution« sprechen: Bereits vor dem März 1848 wurden die kommunikativen Strukturen des Vormärz aufgebrochen, die Semantiken, die die politische und religiöse Kommunikation der Revolution ordneten, existierten bereits seit Mitte der 1840er Jahre. Die Grenzkatholizismen waren im Vormärz zu öffentlichen Religionen geworden, auf die weder Staat noch Kirche entscheidenden Einfluss nehmen konnten. Nicht erst die Revolution von 1848 teilte Tirol in zwei »Subregionen« (H. Heiss/Th. Götz). Sie machte vielmehr bloß manifest, was sich im Vormärz bereits ausgebildet hatte.
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Einleitung: Die Grenzkatholizismen Tirols
Abb. 1: Karte von Tirol, mit Bistums-, Sprach- und Verwaltungsgrenzen, ca. 1860.
2.
Provinzialisierung und Deprovinzialisierung: Vormärzliche Paradoxien Trentino-Tirols
2.1. Vom Land zur Provinz: Dimensionen der Provinzialisierung Die klassische deutschsprachige Tiroler Landesgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts war geprägt von der Vorstellung eines seit dem Hochmittelalter organisch gewachsenen Landes, das nach den diversen Herrschaftswechseln der napoleonischen Kriegsjahre als geschlossen-kompakte Entität an die habsburgische Krone, ihrem als rechtmäßig erachteten Besitzer, zurückgefallen sei.173 Diese ostentativ wiederholte, die tiefgreifenden Umbrüche um 1800 gleichsam überbrückende Kontinuitätsthese bildete die elementare Grundlage für einen tirolischen Verlustdiskurs, der mit dem 19. Jahrhundert verbunden wurde. Zwischen den beiden extremen Polen »1809« und »1919« – dem Tiroler Aufstand als spektakulärste Versinnbildlichung tirolischer Grundtugenden und der Landesteilung als traumatische Urkatastrophe Tirols schlechthin – gelegen, galt und gilt das »lange« 19. Jahrhundert Tirols vor allem als Epoche des beständigen Niedergangs, dessen Telos in der »Landesteilung« des frühen 20. Jahrhunderts lag.174 Dieser linear verlaufenden deutschtirolischen Verlustgeschichte stellte die italienischsprachige, trentinische Geschichtskultur ein positiv aufgeladenes, risorgimental durchtränktes Bild des 19. Jahrhunderts entgegen, das die Geschichtswissenschaft wie auch das regionale Selbstverständnis bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dominierte. 1813/16 und der Beginn des österreichischen dominio leiteten als negativ konnotierte Ausgangspunkte jene risorgimentale Erfolgsgeschichte ein, die das südliche Tirol vom Hinterhof
173 Stolz, Werden; Fontana, Restauration. 174 So sieht etwa Richard Schober eine direkte Traditionslinie zwischen der frühen Trentiner Historiographie des 19. Jahrhunderts und dem nationalistisch imprägnierten und imperialistisch motivierten Oeuvre Ettore Tolomeis des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: Schober, Trentino, S. 95; als rezenteres Beispiel dieser Niedergangssemantik Gehler, Tirol, S. 15–36.
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Provinzialisierung und Deprovinzialisierung
der Habsburgermonarchie bzw. des Alten Reichs zum selbstbewussten und 1919 schließlich national erlösten Trentino machte.175 Diese beiden, nach 1850 parallel entwickelten, historiographischen Dramaturgien boten freilich wenig Freiraum für ganzheitliche Perspektiven auf eine Geteilte Geschichte des ganzen Kronlandes. Die aus Deutschtiroler Sicht unrechtmäßige Landesteilung und die nachfolgende Südtirolfrage, aber auch die nach 1890 verstärkt wirkmächtige, tendenziell antideutsche bzw. antiösterreichische trentinische Geschichtskultur, die sich im faschistischen ventennio darüber hinaus weitgehend in einen hermetisch abgeschotteten trentinismo zurückzog, erhärteten diese überkommenen mentalen Barrieren aus dem 19. Jahrhundert nur weiter. Kontroverse Erprobungsfelder dieser antagonistischen Historiographien waren die Geschichte der neuen Staatsgrenze am Brenner oder die Italianit/ bzw. das Deutschtum der neuen italienischen Provinz Südtirol-Alto Adige; eine ganze Reihe um 1920 gegründeter wissenschaftlicher Zeitschriften dienten (und dienen mitunter) als Arenen der historischen Selbstvergewisserung.176 Geschichtskultur und Geschichtswissenschaft blieben somit auch im 20. Jahrhundert zentrale Eckpfeiler nationalistischer Diskurse im Alpenraum zwischen Italien und Österreich, umgekehrt legitimierten sich diese durch direkte Bezugnahmen auf ihre Gegenwart und blieben einem »methodologischen Nationalismus« verpflichtet.177 So empörte sich beispielsweise Franz Huter 1963 in einem Zug über die italienische Südtirolpolitik der frühen 1960er Jahre und über einen Reisebericht August von Kotzebues, der Bozen bei seiner Durchreise im Jahr 1805 (!) als italienisch anmutende Stadt beschrieben hatte.178 Historiographische Grenzgänge wie jene Claus Gatterers, der sich stets um historio175 Corsini, Trentino, S. 200, kommentiert etwa die österreichische Eroberung des südlichen Tirol 1813: »Il periodo felice in cui il Trentino visse ricongiunto all’Italia era finito.« (»Die glückliche Zeit, in der das Trentino mit Italien wiedervereint war, war vorüber.«) (Meine Herv.). 176 Heiss, Identität; Stauber, Zentralstaat, S. 115–125; Götz, Bürgertum, S. 34–41; ders., Nutzen; Obermair, Rivista; Albertoni, Tirolo; Cole, Eigentümlichkeiten; Riedmann, Geschichtsschreibung; Varanini, Scuola storica; Romagnani, Storiografia; Garbari, Storia; Corsini, Trentino, S. 223f. 177 Metzger, Religion; Raphael, Geschichtswissenschaft. Besonders prägend war die Aktualität der Südtirolfrage in den 1960er Jahren, so etwa in Kramer, Österreich, S. 208f.: »Zahlreiche deutsche Südtiroler wären heute zufrieden, wenn sie gleich behandelt würden und leben könnten wie jene große Masse der Italiener im damaligen Lombardo-Venetien, die sich eben nicht mit Politik beschäftigten. Mögen die Italiener manchen Egoismus (Unterbringung von möglichst vielen Italienern in Südtirol) fallen lassen und mögen sie doch endlich in der Behandlung Südtirols ein Einsehen haben! Dann erst können die vielen Anknüpfungspunkte zwischen Österreichern, Reichsdeutschen und Italienern sozusagen mit Leben erfüllt und vertieft werden.« 178 Huter, Kotzebue; ders., Bevölkerungsgeschichte; Cole, Eigentümlichkeiten, S. 208–210; Wedekind, Huter.
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graphische Annäherungen zwischen Österreichern und Italienern bemühte und nationalistisch so aufgeladene Figuren wie etwa Guglielmo Oberdan, Giovanni (Battista) a Prato oder Cesare Battisti ihrer nationalen Aura entkleidete und in einen europäischen Referenzrahmen einbettete, blieben lange Zeit nur aus einer distanzierten Position, fernab vom historiographischen Mainstream, möglich.179 Die Trentiner-Tiroler regionalgeschichtliche Entzweiung lässt sich somit als elementaren Bestandteil der gegenseitigen, österreichisch-italienischen historiographischen Ignorierung deuten. Zwar gab es durchaus bemerkenswerte Versuche, die Ausblendung des national Anderen zu überwinden, etwa die österreichisch-italienischen »Historikertreffen« der frühen 1970er Jahre oder die wichtigen Arbeiten Marco Meriggis und Brigitte Mazohls in den 1980er und 1990er Jahren – zum Standard wurde die empathische historische Betrachtung des anderssprachigen Nachbarn auch auf staatlich-nationaler, österreichischitalienischer Ebene nicht, wiewohl zuletzt einige beachtenswerte Schritte in diese Richtung unternommen wurden.180 Zwar fehlten vereinzelte engagierte Versuche zur Überwindung dieser historiographischen Barriere keineswegs,181 eine systematische und methodisch reflektierte Kritik der beiden selbstreferentiellen und stark introvertierten regionalen Historiographien wurde, parallel zur österreichisch-italienischen historiographischen Entspannung, erst in den 1990er Jahren durch Thomas Götz, Reinhard Stauber, Laurence Cole und Hans Heiss vorangetrieben und im Umfeld der Arbeitsgruppe für Regionalgeschichte »Geschichte und Region« institutionalisiert.182 Diese mit großer Verve vorgetragene Neuperspektivierung historisierte die historiographische Entkoppelung entlang der Sprachgrenze und ermöglichte dadurch einen schärferen und umfassenderen Blick auf die Geschichte Tirols des 19. Jahrhunderts.183 Jenseits aller Verlust- oder Erfolgsdeutungen zeigte sich dabei, dass die napoleonische Flurbereinigung, die Rückgliederung an den habsburgischen Herrschaftsbereich zwischen 1813 und 1814 und die definitive Neugestaltung und Integration Tirols in das europäische Herrschaftssystem des Wiener Kongresses zunächst vor allem als Elemente einer »dritten Landwerdung« Tirols zu verstehen sind, wie es Hans Heiss trefflich formulierte. In der Tat blendeten 179 Gatterer, Erbfeindschaft; Hanifle, Gatterer, S. 159–165; Berghold, Erbfeindschaft. 180 Mazohl, Autonomiebestrebungen; dies., Österreichischer Verwaltungsstaat; dies./Meriggi [Hrsg.], Österreichisches Italien; Bellabarba, Impero; Polenghi [Hrsg.], La scuola; allgemein Heiss, Rücken an Rücken; Berghold, Erbfeindschaft, S. 23–25. Die Aufarbeitung der historiographiegeschichtlich belastenden Bedeutung der »SüdtirolFrage« für das österreichisch-italienische Verhältnis bleibt indes ein Forschungsdesiderat. 181 Corsini/Emert/Kramer, Trentino e Alto Adige; Ferrandi/Pallaver [Hrsg.], Regione; Leonardi [Hrsg.], Region. 182 Götz, Bürgertum; Heiss/Götz, Revolution; Cole/Heiss, Unity ; Cole, Gott, Kaiser, Vaterland; Stauber, Zentralstaat; Nequirito, Identit/ culturale. 183 Heiss, Geschichte.
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beide Geschichtsschreibungen aus, dass im Westen der Monarchie nach 1816 ein politisch, administrativ und kirchlich völlig neuförmiges Territorium entstand: Erst die rechtlich-politische Nivellierung der zahlreichen kleinen semiautonomen Herrschaften und vor allem die Säkularisation der beiden geistlichen Fürstentümer Brixen und Trient sowie leichte Arrondierungen im Osten und Westen schufen »Tirol« als rechtlich homogene und administrativ geschlossene Provinz.184 Die nachfolgende national imprägnierte, deutschtirolische Historiographie bzw. Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts schrieb in der retrospektiven Optik diese neue provinzielle Einheit als »Tirol« überzeitlich fest und prägte damit bis heute die Vorstellung vom »historischen« Alt-Tirol.185 Diese vormärzliche Genese des modernen Tirol lässt sich als Provinzialisierung beschreiben. Dieser Prozessbegriff macht Entwicklungen greifbar, die in diversen gesellschaftlichen Systemen nach 1800 einsetzten und in unterschiedlicher Intensität zahlreiche Regionen Europas prägten. Diese europäischen Sattelzeiten oder »Laboratorien der Moderne«, mithin tiefgreifende, häufig »verstörende« (W. K. Blessing) Umbrüche, lassen sich aus mehreren Perspektiven betrachten.186
2.1.1. Entmachtung und Vereinheitlichung: Die politische Dimension Politisch-administrativ ist damit zunächst die gesamtstaatliche Nivellierung der regionalen und lokalen Privilegien und Rechtstraditionen angesprochen, die zu erheblichen Widerständen der altständischen Eliten, vor allem des etschländischen Adels, führte. Adam von Müller brachte diesen zentralstaatlichen Integrationsschub – den er nicht unwesentlich mitgestaltete – drastisch auf den Punkt, als er 1814 an Friedrich Gentz schrieb, man müsse das »wilde Fleisch von Tyrol […] in den großen Körper hinein kuriren.«187 In der Tat wurde Tirol, das bis ins 17. Jahrhundert als weitgehend selbstständige Grafschaft von einer habsburgischen Nebenlinie regiert worden war, nach 1816 definitiv in die zen184 Heiss, Land, Zitat S. 33; ders./Götz, Revolution, S. 22–24; Schennach, Rechtseinheit, S. 268–276. 185 Stauber, Zentralstaat, S. 120f.; Cole, Eigentümlichkeiten, S. 204. 186 Blessing, Umbruchkrise; Wüst, Provinzialisierung; Frie, Adel; Götz, Bürgertum, S. 51; Heiss/Götz, Revolution, S. 14f.; Zang, Provinz; Brunner, Staat. 187 Adam von Müller an Friedrich von Gentz, 30. 09. 1814, zitiert in: Fontana, Restauration, S. 588. Adam von Müller wirkte zwischen Juli 1813 und April 1815 als Sektretär des Tiroler Landeskommissärs Anton von Roschmann, als Regierungsrat sowie als Redakteur des »Boten von Tirol« bzw. von »Südtyrol«. Zu klären, inwieweit Müllers politische Theorie auf die provisorische Verwaltung Tirols und vor allem auf deren Darstellung im »Boten« einwirkte, bleibt ein regionalgeschichtliches Desiderat. Zu Müllers Tätigkeit in Tirol und seinem Einfluss auf Roschmann Schmitt, Romantik, S. 40–45.
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tralstaatliche Instanzenhierarchie eingefügt und damit vom »Land« zur österreichischen »Provinz« degradiert.188 Entgegen der klassischen Periodisierung, die von »Restauration« (1816/19– 1830) und von »Vormärz« (1831–1848) spricht, wird hier für die gesamte erste Jahrhunderthälfte »Vormärz« als einheitliche, »regionalzeitliche« Signatur verwendet. »Tirol« wurde nach 1816 nicht restauriert, sondern schlichtweg neu geschaffen. Und wenngleich sich die europäischen Revolutionen von 1830 – wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen ist – auch auf das Kronland auswirkten, so waren hier die Veränderungen im Vergleich zu anderen Regionen deutlich geringer und unbedeutender – zumal die politischen und presserechtlichen Rahmenbedingungen bis 1848 unverändert bestehen blieben.189 »1816« bildete also aus mehreren Perspektiven ein zentrales Wendejahr in der trentinisch-tirolischen Geschichte, das die postulierten Zäsuren um 1800, für Tirol besonders 1806 und 1809, deutlich relativiert. Es stellte einen Kulminationspunkt unterschiedlicher und gegensätzlicher Prozesse dar, die sich besonders scharf am zwischen 1813/14 und 1816 ausgetragenen Konflikt um die administrative Ausgestaltung des Landes – späterhin als »Verfassungskampf« bezeichnet – herauskristallisieren.190 Dieser Konflikt lässt sich als erste moderne Manifestation der Bruchlinie zwischen dem konservativ-föderalistischen tirolischen Partikularismus und dem habsburgischen Zentralismus lesen, die der nachfolgenden politischen Geschichte Tirols des 19. und 20. Jahrhundert eine markante Signatur verpassen sollte. Freilich war diese Frage nach dem politischen System, der Rolle der sich ausbildenden bürgerlichen Zivilgesellschaft, ihrer Presse und ihrer Religion kein genuin tirolischer Sonderfall, sondern eher typisch für das postrevolutionäre Europa.191 Zunächst vor allem wirtschaftlichen Partikularinteressen verpflichtet, forderte im deutschsprachigen Tirol eine eigentümliche Allianz aus etschländischen Bauern, Adeligen und Stadtbürgern eine starke Eingrenzung des zentralstaatlichen Zugriffs und die Aufwertung autonomistischer Grundrechte im Zoll- und Steuerwesen sowie in der Ausgestaltung der Handelspolitik ein. Der Rahmen und die Form dieses Konfliktes blieben andererseits noch stark dem 18. Jahrhundert verhaftet, ja es handelte sich, zugespitzt formuliert, um einen letzten Nachhall des frühneuzeitlichen Antagonismus zwischen landständischen und landesfürstlichen Interessensphären, der »moderne« Probleme des 19. Jahrhunderts mit der Sprache des
188 Heiss/Götz, Revolution, S. 13–46; Fontana, Restauration, S. 595; Hamm, Integrationspolitik, S. 345; Corsini, Trentino, S. 216, Anm. 25; Köfler, Land; Friedrich, Verfassung. 189 Anm. 99. 190 Hirn, Geschichte, S. 559–612; Krones, Tirol und Jäger, Rückkehr, S. 108–186. 191 Nipperdey, Bürgerwelt, S. 272–285; Meriggi, Amministrazione, S. 29–86; Schober, Geschichte.
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Ancien R8gime umhüllte.192 So forderten die Tiroler »Separatisten« oder »Provinzialisten«, wie sie in Wien genannt wurden,193 als romantisch idealisierte Letztinstanz die Wiederherstellung der schon im 18. Jahrhundert sukzessive zurückgestutzten und 1808 unter der bayerischen Regierung endgültig aufgehobenen ständischen Verfassung. Diese »alte« Verfassung wurde in diesen Jahren weitgehend mit »Tirol« gleichgesetzt: Sie sei »dem Tiroler eine conditio sine qua non zu seinem Glücke«, wie es ein Grundsatzpapier aus Tirol formulierte, und wurde vom Kaiser als Pfand für die zukünftige dynastische Loyalität der Tiroler verlangt.194 Diese »ständische« Sprache war indes kein Selbstzweck, sondern verfolgte die Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Interessen.195 Die Wirkmächtigkeit dieses Diskurses verdeutlicht die Tatsache, dass sich auch das österreichische state-building dessen Sprache und Symbolik bediente, um seine Interessen zu verfolgen: Tirol erhielt im März 1816 tatsächlich eine – freilich nur noch nominelle und institutionell unbedeutende – ständische Verfassung. Darüber hinaus nahm im Mai dieses Jahres mit Franz I. seit 1711 erstmals ein Kaiser persönlich die Huldigung der Tiroler Stände entgegen.196 Einem Vexierbild gleich verband dieser Konflikt somit das Alte und das Neue und leitete, mit Jürgen Osterhammel gesprochen, »regionalzeitlich« das in Tirol etwas verspätete »lange« 19. Jahrhundert ein. Zwischen den neu zusammengelegten Landesteilen zeichnete sich indessen von Beginn an ein latenter Interessensgegensatz ab, der sich ebenfalls, indirekt zumindest, am »Verfassungskampf« ablesen lässt: Die italienischsprachigen Bewohner der Provinz zeigten kein Interesse an der politischen Ausgestaltung der neuen Provinz.197 Diese noch unterschwellige Brechung zwischen deutschen und italienischen Tirolern wurde weiter verstärkt durch den Umstand, dass nach 1813 im südlichen Tirol die italienisch-napoleonischen Verwaltungsstrukturen auf unabsehbare Zeit weiter bestanden und der Sitz der habsburgischen provisorischen Verwaltung sich in Trient befand. Deutschsprachige Südtiroler empfanden dies 192 Gsteu, Geschichte, S. 96. 193 Hirn, Geschichte, S. 579; Gsteu, Geschichte, S. 81–86. 194 Schennach, Revolte, S. 170–174; wenig überzeugend der Versuch, die »Verfassung« als allgemeinen Erinnerungsort um 1800 darzustellen bei Schlachta, Verfassung. Vielmehr dürfte es sich hier um einen Elitendiskurs gehandelt haben, da insbesondere Vertreter des Bauernstandes die Aufhebung der Verfassung 1808 kaum bedauerten, ja vielmehr geradezu begrüßten: Schennach, Revolte, S. 204f.; Gsteu, Landtag, S. 79f. Das Zitat in Promemoria Joseph von Giovanellis an Franz von Hager, 20. 10. 1813, zitiert in: Giovanelli, Familiengeschichte, S. 4515–4520, S. 4520. 195 Schennach, Revolte, S. 176; ders., Rechtseinheit, S. 268; Huber, Eliten, S. 263f. 196 Mayr, Huldigung; Weissenbach, Huldigungstage. Zur 1816 verliehenen Verfassung Gsteu, Landtag, S. 84–93, der Text derselben auf S. 164–167. 197 Corsini, Trentino, S. 207f.
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als demütigende Fortsetzung der Fremdbeherrschung. Joseph von Giovanelli, eine zentrale Figur des Tiroler Vormärz, brachte den Unmut über die Abhängigkeit von den »italienischen« Verwaltungsstrukturen deutlich zur Sprache: »Weh thut es uns aber, daß wir lediglich von italienischen Tyrolern beherrscht werden, deren Grundsätze entweder von Geburt aus an das Italienische hängen, oder aber deren Interesse ganz verschieden von dem unseren ist.«198 Diese Äußerung lässt sich freilich nicht mit den späteren nationalen Verwerfungen in Tirol in Verbindung setzen, sie zeigt allerdings, dass bereits 1814 eine wie auch immer geartete einheitliche Tiroler Identität bestenfalls in der Retrospektive geschaffen wurde und dass man von mehreren, getrennten und sich voneinander abgrenzenden tirolischen Aufbrüchen ins 19. Jahrhundert sprechen muss. Erschwert wurde die ständische Integration der »neuen« Tiroler aus dem 1803 säkularisierten Hochstift Trient bereits 1805, als ein Aufnahmegesuch der Stadt Trient in den Tiroler Ständeverband abgelehnt worden war.199 Während die deutschsprachigen Tiroler mit der Forderung nach der »alten« ständischen Verfassung dem neuen Verwaltungskomplex zumindest bis 1816 semantisch den Anschein von Kontinuität geben konnten, blieb den späteren »Trentinern« eine derartige Möglichkeit verwehrt: Die Forderung nach der Wiedererrichtung des säkularisierten Hochstifts Trient hätte zwischen 1814 und 1816 nicht nur utopisch angemutet, sondern etwaige Autonomiewünsche sogar weit überschritten und wäre einer faktischen Sezessionsforderung gleichgekommen. Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass auch die kulturellen Eliten jener italienischsprachigen Gebiete um Rovereto, die sich seit 300 Jahren in landesfürstlichem Besitz befanden und der Grafschaft einverleibt waren, ohnehin seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Modelle nationaler und kultureller Eigenständigkeit entwickelt hatten, die sich von »Tirol« und seiner ständischen Tradition deutlich abgrenzten.200 Der Kampf um alte Strukturen und Privilegien bot also wenig Ansatzpunkte für geteilte Identitäten. Paradoxerweise erleichterten gerade die bayerischen, illyrischen und italienisch-französischen Regierungen, die den Tiroler Raum zwischen 1806 und 1813 mit zentralisierenden Verwaltungsreformen nachgerade überschwemmten und damit die verfassungsrechtlichen und administrativen Partikularismen Tirols weitgehend beseitigten, diesen Prozess der politisch-administrativen Provinzialisierung ganz erheblich.201 Die Ordnung bestimmter Verwaltungsbereiche, wie etwa die Kommunalverfassungen, wurde vorerst samt Amtsbezeichnungen von den Vorgängerregierungen direkt übernommen und erst all198 TLMF, Bibl. Tir. 2075; Nr. 121, Denkschrift Giovanellis, 1814; Huber, Giovanelli; Gritsch, Familie Giovanelli. 199 Gsteu, Landtag, S. 154; Bonazza, Ständewesen. 200 Corsini, Trentino, S. 202–206; Stauber, Natur ; ders., Diskurs. 201 Stauber, Zentralstaat, S. 131–385; Hamm, Integrationspolitik, S. 345–349.
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mählich in die, mitunter nur in Nuancen abweichende, österreichische Normierung überführt. In Bozen etwa blieb die napoleonische Kommunalverfassung bis 1817 in Kraft, der Bürgermeister trug bis dahin den Amtstitel eines »Podest/«, die Mitglieder der fünf- bis sechsköpfigen Munizipalität wurden als »Savio« bezeichnet.202 Nach 1813 wurde im Grunde die Aushöhlung der ständischen Strukturen fortgeführt, wobei die Regierung nach Außen hin den entgegengesetzten Kurs einzuschlagen schien. Tirol erhielt am 24. März 1816 eine ständische Landesverfassung, der ebenfalls 1816 installierte Tiroler Kongress erinnerte in seiner äußeren Form tatsächlich an die alten, vormodernen Tiroler Landtage, er war ständisch gegliedert und bestand aus Vertretern des Klerus und des Adels, der Städte und der Landgerichte. Er blieb aber politisch zahnlos, da er wichtiger ständischer Institutionen entledigt und in seinem Kompetenzradius weitgehend auf ein Petitionsrecht begrenzt war. Darüber hinaus verdeutlicht schon die personelle Zusammensetzung des Landtages dessen zentralstaatliche Durchdringung: So ordneten die Städte in der Regel die vom Staat eingesetzten Bürgermeister oder Magistratsräte zur Ständeversammlung ab, auch die auf der Prälatenbank sitzenden Bischöfe von Trient und Brixen wurden vom Kaiser ernannt. Zentrale, vormalige Pfeiler des frühneuzeitlichen ständischen Systems verkamen zum Anachronismus, wie ein zeitgenössischer Kommentator süffisant bilanzierte: So degradierte die im März 1816 gewährte Landesverfassung das ehemals stolz ausgeübte Recht der ständischen Steuerbewilligung auf eine bloße Kompetenz der Steuereinhebung. Auch die alte, auf das sogenannte »Landlibell von 1511« zurückgehende Wehrverfassung Tirols, ein Kernelement der ständischen Identität, wurde durch die Konskription faktisch obsolet.203 Vor dem Hintergrund dieser konsequenten Fortsetzung der reformabsolutistischen Zentralisierungspolitik bildeten die ständische Verfassung und die kaiserliche Entgegennahme der Huldigung der Stände, aber auch das pompöse Zeremoniell zur Eröffnung der Landtage Momentaufnahmen einer sorgfältig inszenierten symbolischen Akkomodierungspolitik des habsburgischen Zentralstaats. In Wien waren die Erinnerungen an das Jahr 1809 durchaus noch lebendig: Die Fehler der überstürzt durchgreifenden und gegenüber der Stimmungslage der Bevölkerung weitgehend indifferenten bayerischen Regierung sollten tunlichst vermieden werden und eine versinnbildlichte Wertschätzung durch den Monarchen die Kosten der zentralstaatlichen Integration zumindest abfedern.204 202 Bundsmann, Entwicklung, S. 155f., S. 183; Koler, Wiedereinrichtung, S. 39–50; Corsini, Trentino, S. 206f. 203 Gsteu, Landtag, S. 84–87; Schober, Landtag, S. 22–32; Fontana, Restauration, S. 590– 608; Götz, Bürgertum, S. 56, Anm. 59; Steub, Sommer, S. 608–631; Schennach, Landlibell; Schlachta, Verfassung. 204 Hamm, Integrationspolitik, S. 349–351; Jäger, Rückkehr, S. 177–186; Fontana, Restau-
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Diese symbolische Großoffensive verschuf dem nüchtern-kühlen vormärzlichen Beamtenstaat indes kaum nachhaltige Akzeptanz oder gar Sympathie. Wie in anderen deutschen Staaten vereinte auch in Tirol die Kritik an der überbordenden Reglementierungswut des Staates Vertreter unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Ausrichtung. Deutschtiroler Liberale wie Konservative klagten – freilich nicht öffentlich und aus unterschiedlichen Motiven – gleichermaßen über den autonomistischen Statusverlust Tirols und den dirigistischen »Bureaukratismus« Wiens. Ein Beispiel für diese Stimmungslage bietet wieder Joseph von Giovanelli: »Nach meiner geringen Einsicht schreibt sich alles Unheil von jenem unseligen Moment her, in welchem bald nach dem Pariser Friede, der Ausspruch gethan ward, daß Tirol den übrigen Provinzen assimilirt, und nach dem Grundsatze der Uniformität behandelt werden soll.«205
Ähnlich verbittert vertraute sich ein liberaler Innsbrucker seinem Tagebuch an: »Der Beamte ist alles, der Bürger nichts oder doch nur Bedingung für die Existenz des erstern. Das muß man ihn auch fühlen lassen, man muß ihm seine Nichtigkeit zum Bewußtsein bringen.«206 Und den weit verbreiteten Unmut über die schleppenden Entschädigungen der Kriegsschäden von 1809 und 1813, die zahlreiche Tiroler in existentielle Notlagen führte, vermochte eine halbherzige symbolische Integrationspolitik ohnehin nicht zu besänftigen.207 Problematisch war darüber hinaus der regelrechte Ausschluss der italienischen Tiroler aus diesem regionalen politischen System. Vertreter aus dem südlichen Tirol blieben den ganzen Vormärz hindurch in der ständischen Vertretung des Landes frappant unterrepräsentiert und der italienischsprachige Süden insgesamt, so ein das ganze 19. Jahrhundert wirksamer und von der nachfolgenden Historiographie fortgeführter Diskurs, mehr oder weniger systematisch benachteiligt. Vergeblich versuchten die wenigen ständischen Vertreter der italienischen Landesteile etwa noch 1838, eine angemessenere, proportionalere Vertretung im Landtag zu erlangen. Die politischen Eliten des italienischen Tirol fanden somit von vorneherein wenig Anlass bzw. Raum zum
ration, S. 592–594 (der auf S. 592 von einem »zwitterhaften Unding« spricht); Schober, Landtag, S. 28–30; Gsteu, Landtag, S. 90f.; De Rachewiltz, Huldigungs-Reise. 205 TLMF, F.B. 2082, Nr. 21, Joseph von Giovanelli an Erzherzog Johann, 07. 07. 1831. Den Begriff »Bureaukratismus« verwendete Giovanelli in einem Brief an Görres am 15. 09. 1841, ediert in Binder [Hrsg.], Freundesbriefe, S. 582–584, Zitat S. 584 und Fink-Lang [Hrsg.], Briefe, S. 548. 206 TLMF, W. 5024/9, Josef Daum, Tagebuch-Fragmente a. d. J. 1846, 1847, 1856 u. 1859, S. 14, 03. 01. 1847; Nipperdey, Bürgerwelt, S. 326; Mozzarelli, Sovrano. 207 Mertelseder, Kriegsfolgenbewältigung.
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verstärkten Engagement in den Innsbrucker ständischen Organen und schon gar nicht zur Identifikation mit der provinziellen Rumpfautonomie.208 Das Organ der zentralstaatlichen Verwaltung der Provinz war das direkt den Wiener Hofstellen untergeordnete Innsbrucker Gubernium, dem wiederum sieben auf das Tiroler Territorium verteilte Kreisämter unterstellt waren.209 Die unterste, unmittelbarste Stufe der zentralstaatlichen Durchdringung bildeten die verstaatlichten Gemeinden. Während etwa Preußen oder Bayern im Zuge der »Restauration« die Selbstverwaltung der Gemeinden wieder erweiterten, ging Österreich einen entgegengesetzten Weg und schuf, wie es in der Literatur bisweilen etwas überspitzt bezeichnet wurde, geradezu »bürgerfeindliche« politische Verhältnisse in den Städten, die nunmehr faktisch als staatliche Verwaltungssprengel dienten. Auch die vier größeren tirolischen Städte Innsbruck, Bozen, Trient und Rovereto wurden nach der Tiroler »Gemeinderegulirung« von 1819 weitgehend von staatlich geprüften und bestellten Beamten verwaltet und dabei der Freiraum bürgerlicher Selbstverwaltung auf ein Minimum reduziert.210 Der Marginalisierung der ständischen Autonomie entsprach auf einer untersten Ebene also die Entkommunalisierung der Gemeinden. Überblickt man dieses Verwaltungsgefüge in seiner Gesamtheit, so ist es kaum nationalistischer Engstirnigkeit oder gar vermeintlichen Germanisierungsbestrebungen des vormärzlichen Staates anzulasten, dass dem südlichen, italienischen Tirol keine politische Selbstverwaltung konzediert wurde, wie die spätere risorgimentale Publizistik häufig behauptete.211 Der vormärzliche »bürokratische Obrigkeitsstaat« (Th. Nipperdey) kannte prinzipiell keine politische Selbstverwaltung, insofern war er auch gegenüber nationalen Diskursen – auch dem deutschen – weitgehend indifferent bzw. begegnete allen mit Skepsis.212 Auch Thomas Götz weist darauf hin, dass das nummerische Missverhältnis der Sprachgruppen im Tiroler Landtag keinesfalls als Akt der nationalen Unter208 Lediglich sieben der 52 Sitze des »Congresses« waren für die Vertreter des italienischsprachigen Tirol vorgesehen. Besonders deutlich zeigte sich dieses Missverhältnis auf der Bauernbank: Ein Deputierter aus dem deutschsprachigen Tirol vertrat ca. 34.700 Bauern, sein italienischer Kollege aber 152.600. Götz, Bürgertum, S. 56, Anm. 62, Zitat ebenda; Corsini, Trentino, S. 221, S. 226–232; Fontana, Restauration, S. 632; Gsteu, Landtag, S. 153f. 209 Koler, Wiedereinrichtung; Bundsmann, Entwicklung, S. 159–194; Corsini, Trentino, S. 216–219; Dörrer, Verwaltungs-Kreise, S. 59–64. 210 Götz, Bürgertum, S. 59–62; Klabouch, Gemeindeselbstverwaltung, S. 13–15; Bundsmann, Entwicklung, S. 211–223; Siemann, Staatenbund, S. 107f.; Schäfer, Geschichte, S. 55–57. 211 [Giovanni a Prato], Una parola sui bisogni del nostro paese, MT Nr. 27, 01. 04. 1848; [ders.], A necessaria difesa, S. 10–13. 212 Nipperdey, Bürgerwelt, S. 320–354, S. 337–344, Zitat S. 320; Rumpler, Mitteleuropa, S. 200–214; Heiss/Götz, Revolution, S. 17f.; Winter, Romantismus, S. 193–196; Garbari, Aspetti, S. 36; Clark, Preußen, S. 445–447.
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drückung zu deuten, sondern vielmehr auf eine Art »Benachteiligung des Spätergekommenen«213 zurückzuführen ist. Die nach 1813/14 in die gefürstete Grafschaft Tirol integrierten Gebiete des vormaligen Trienter Hochstifts waren zwar am Landtag vertreten, erhielten jedoch nicht das nummerische Gewicht zugesprochen, das deutschtirolische Ständevertreter seit Jahrhunderten innehatten. So war selbst die Kleinststadt Glurns mit ca. 750 Einwohnern und Einwohnerinnen mit Sitz und Stimme im Landtag vertreten, während das trentinische Ala mit über 3.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ohne ständische Vertretung blieb.214 Ein Grund für die im Laufe des 19. Jahrhunderts weitgehend gescheiterte Integration der italienischen Tiroler in den neuen Territorialverband muss also auch in der fehlenden gemeinsamen politischen Plattform gesucht werden, die weder der zentralistische Staat, noch der ethnisch und sozial asymmetrisch zusammengesetzte Landtag bieten konnten.215
2.1.2. Peripherisierung: Die wirtschaftliche Entwicklung Diese politisch-staatsrechtlich nachhaltig wirksamen Geburtsfehler der neuen Provinz wurden von einer wirtschaftlichen »Peripherisierung« begleitet.216 Das noch im 16. und 17. Jahrhundert prosperierende Tirol sank nach den napoleonischen Kriegen endgültig zur wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit ab und geriet, von der deutschen Zollunion wie vom sich ausbildenden Eisenbahnnetz ausgeschlossen, zunehmend in eine Randlage, fern von den Regionen wirtschaftlicher Innovation und vom internationalen Handelsverkehr nur als Transitachse tangiert.217 Einträgliche Wirtschaftssektoren wie der Bergbau oder der Transithandel, von dem besonders Kaufleute in den größeren Städten – allen voran in der Messestadt Bozen – aber auch Gastwirte und Handwerker profitierten, verfielen und vermochten bestenfalls noch Konturen ihrer vergangenen Bedeutung zu vermitteln. Zusätzlich erschwert wurde der beinahe brach liegende Handel durch die Zollpolitik Wiens, die selbst die Ein- und Ausfuhr in Länder der Krone wie Lombardo-Venetien erheblich behinderte – was sich auf Grenzregionen wie Tirol besonders gravierend auswirkte.218 213 Götz, Bürgertum, S. 56, Anm. 62. 214 Corsini, Trentino, S. 220, Anm. 34; eine Auflistung der vormärzlichen Deputierten aus dem italienischen Tirol bietet Bidermann, Italiäner, S. 191–198. 215 Garbari, Strutture amministrative, S. 535; Corsini, Problemi, S. 231f.; Heiss/Götz, Revolution, S. 18f.; Langewiesche, Nation, S. 179f. 216 Fontana, Restauration, S. 627–656; Götz, Bürgertum, S. 51–55; Leonardi, Economia, S. 65–107. 217 Riedmann, Geschichte, S. 123–132; Fontana, Restauration, S. 639–645; Gsteu, Landtag, S. 139–143. 218 Denzel, Zahlungsverkehr, S. 149–185; Bonoldi, Fiera.
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Die Landwirtschaft wiederum litt unter Missernten, unproduktiven Anbaumethoden und überaus ungünstigen Zöllen. Wiewohl in allen Landesteilen erhebliche Anstrengungen zur Rationalisierung und Hebung der Agrarkultur unternommen wurden und agrarische Sozietäten durch ihre Zeitschriften und den Klerus einen enormen agrarisch-pädadogischen Aufwand entfalteten, blieben die Wachstumsraten der Tiroler Landwirtschaft deutlich hinter jenen der übrigen Habsburgermonarchie zurück, was sich nicht zuletzt in einer deutlich negativen Handelsbilanz Tirols niederschlug.219 Periodisch wütende Epidemien, vor allem Cholera und Typhus, die Nachwirkungen der Kriegsjahre, aber auch die drückende Steuerlast, die jene der wenig beliebten Regierungen Bayerns und Italiens sogar deutlich überstieg, rundeten das in vieler Hinsicht deprimierende Bild der wirtschaftlichen Lage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab.220 Neue wirtschaftliche Antriebsfaktoren – wie ein industrieller Aufschwung oder gar eine touristische Erschließung – waren noch nicht in Sichtweite.221 Dennoch entwickelten sich vereinzelt Inseln wirtschaftlicher Innovation: Trotz der prinzipiellen Skepsis konservativer Akteure und der Stände, die, wie Hans Heiss betont, die Entfaltung von Innovation bereits im Keim erstickten, konzentrierten sich die Textilverarbeitung im Norden und die Seidenverarbeitung im Süden, besonders um Rovereto, zu Manufakturen und protoindustriellen Produktionsstätten und ermöglichten auf lokaler Ebene Profit und Arbeitsplätze.222 Die vormärzliche Tiroler Wirtschaft war somit insgesamt gesehen zwar nicht statisch, sie kompensierte jedoch kaum die weggefallenen bzw. stark eingebrochenen Sektoren. Dies machte sich besonders im Süden des Landes bemerkbar, wo die deutlich stärker wachsende Bevölkerung von der schwächelnden Wirtschaft kaum ernährt werden konnte. So stieg die Bevölkerungszahl des gesamten Kronlandes zwischen 1816 und 1848 von 725.600 auf 871.800 an, wobei das Wachstum im südlichen, italienischsprachigen Tirol wesentlich dynamischer war und von 230.224 Einwohnerinnen und Einwohnern im Jahr 1810 auf 314.770 im Jahr 1847, also um 37 Prozent, anstieg.223 Die schleppende wirtschaftliche Entwicklung – Andrea Leonardi spricht von einer »relativen Rückständigkeit« – und die rigide Heiratskontrolle nach 1820 verhinderten jedoch andererseits tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaftsstruktur und damit auch nach219 Leonardi, Economia, S. 65–84, S. 103. 220 Fontana, Restauration, S. 627–634; Mertelseder, Kriegsfolgenbewältigung, S. 231–234; Rosani, Choleraepidemie. 221 Heiss, Unternehmerschaft. 222 Alexander, Geschichte; Leonardi, Economia, 84–96; ders., Declino, S 597–613; Heiss, Schattenregierung, S. 82–87. 223 Götz, Bürgertum, S. 51, Anm. 31; Dietrich, Bevölkerungsentwicklung; Leonardi, Economia, 74–76.
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haltig wirksame soziale Konflikte.224 Die Provinz blieb somit insgesamt besehen auch nach 1800 – ein weiteres Element einer Geteilten Geschichte Tirols – stark agrarisch geprägt, was für die nachfolgenden semantischen Entwürfe »Tirols« ganz entscheidend sein wird.
2.1.3. Die Domestizierung der Gesellschaft: Die kulturelle Dimension Das kulturelle und religiöse Leben der neuen Provinz Tirol war schließlich von einer eigentümlichen Kombination von Aufschwung und staatlicher Repression geprägt. Omnipräsente Polizeispitzel und vor allem eine pedantische, im Zweifel misstrauische Vorzensur für in- und ausländische Druckwerke hemmten allen künstlerischen und kulturellen Ausdruck erheblich, ohne diesen jedoch ganz zu unterbinden. Während vorderhand rein literarische, agrarische oder chirurgische Gesellschaften in Innsbruck, Trient und Rovereto von der staatlichen Bürokratie in einem kontrollierten Rahmen geduldet wurden, blieben politische Vereine oder gar Burschenschaften im österreichischen Vormärz undenkbar. Religiosität und Moralität, aber auch die politische Gesinnung der Gymnasiasten und Studenten waren zentrale Objekte der polizeilichen Überwachung, die besonders im italienischsprachigen Tirol nach den italienischen Aufständen der 1820er und 1830er Jahre die befürchtete Ausbreitung politischer Geheimgesellschaften an den Gymnasien verhindern sollte.225 Selbst bürgerlichen Geselligkeitsvereinen, wie etwa einer »Harmonie« in Bozen, blieb nach 1815 die staatliche Anerkennung versagt.226 »Es herrschte der Verdacht«, bilanzierte Thomas Nipperdey den Vormärz Österreichs lapidar ; Edith Saurer bezeichnete den Verdacht gar als »das politische Prinzip des vormärzlichen Österreich«.227 Besonders die Zensur hat der Epoche zwischen 1816 und 1848 ihre Signatur verliehen. Sie galt Zeitgenossen und nachfolgenden Historikern als Kern der repressiven restaurativen Politik, als »Inbegriff des Metternichschen Systems«; sie war zugleich Schutzmechanismus und Konsequenz eines allumfassenden Staates, der sich permanent bedroht fühlte.228 Gerade im Bereich der Zensur fand auch der Prozess der Provinzialisierung seine wohl markanteste Ausprägung: 224 Leonardi, Economia, S. 97–101; Mantl, Heirat; Lanzinger, Kirchliche Macht; dies., Verwaltete Verwandtschaft. 225 Forcher, Staatspolizei, S. 234–253 (Überwachung der Studenten), S. 269–288 (geduldete Vereine); Schwaighofer, Literarische Gruppen, S. 11–92; Wackernell, Beda Weber, S. 23–25; Corsini, Trentino, S. 240f., S. 253. 226 StABz, Magistratsakten 1815, K. 313, Nr. 401, Kreisamt Bozen an Podest/ von Botzen, 07. 06. 1815. 227 Nipperdey, Bürgerwelt, S. 340; Saurer, Verfolgungen, S. 118. 228 Siemann, Metternich, S. 62–70; Reinhard, Staatsgewalt, S. 390–395.
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Bis zur definitiven Säkularisation der fürstbischöflichen Territorien Brixens und Trients 1802/03 oblag die Zensur der in diesen Gebieten gedruckten Schriften den beiden Hochstiften. Besonders Trient war ein beliebter Druckort, an dem italienischsprachige Texte relativ frei erscheinen konnten. Erst 1792, nachdem die österreichischen Behörden erheblichen Druck auf den Trienter Fürstbischof Pietro Vigilio Thun ausgeübt hatten, erließ dieser eine Zensurverordnung. Bis dahin konnte der in Trient erscheinende »Foglietto dei Ristretti Universali« relativ unbehelligt Sympathien für die Französische Revolution zum Ausdruck bringen. Als auch weiterhin auf fürstbischöflichem Gebiet revolutionäre Texte zirkulierten, blieb der österreichischen Regierung bloß der Weg des – im Grunde wirkungslosen – Protests.229 Ab August 1818 änderte sich dies fundamental: Die österreichischen Zensurvorschriften wurden auch in Tirol implementiert. In Innsbruck wurde die »Censur- und Bücherrevisionsbehörde« eingerichtet, die die Zensurgeschäfte von den Kreisämtern übernahm, die sie bislang dezentral ausgeführt hatten.230 Die Zentralbehörden in Wien und in Innsbruck reglementierten nunmehr die Bedingungen überpersonaler Kommunikation im gesamten Kronland. Das vormärzliche Zensursystem umfasste zunächst vor allem die politische, religiöse aber auch ästhetische Reglementierung der überpersonalen Kommunikation. Es implementierte eine in einem bislang unbekannten Aufwand betriebene Kontrolle der Gesellschaft, die sich seit 1800 zunehmend als »Mediengesellschaft« konstituierte und als solche identifizierte.231 Die vormärzliche Zensur war also, mehr denn je zuvor, auch repressive Domestizierung der Gesellschaft. Dies galt gerade auch für die Tiroler Provinz, die als politisch sensibler, geostrategisch bedeutsamer Grenzraum von politisch instabilen Nachbarn in Norditalien, der Schweiz und Süddeutschland umgeben war. »Zensur« umschrieb eine komplexe Abfolge von Operationen, an denen diverse, mitunter konkurrierende Akteure beteiligt waren. Sie war prinzipiell darauf ausgelegt, die Zirkulation bzw. den Druck von Texten zu verhindern, die für Staat, Religion und »Sitten« bedenkliche Inhalte vermittelten, nahm jedoch, wie besonders Wolfram Siemann mehrfach und nachdrücklich betonte, eine ganze Reihe weiterer Funktionen wahr, etwa gewerbepolitische oder erzieherisch-ästhetische. Ein zweites grundlegendes Charakteristikum der Zensur war also ihr aktiver, gestalterischer Charakter : Sie zielte darauf ab, freie Kommunikation zu verhindern, unterband sie jedoch nicht ganz, sondern kanalisierte
229 Zieger, Giornalismo, S. 17–20. 230 Gubernial-Circulare, 01. 07. 1818, »Eintritt der Wirksamkeit des k.k. Censur- und BücherRevisions-Amts, und der k.k. österreichischen Censur-Gesetze«, Provinzial-Gesetzsammlung 1818, S. 607–610; Koler, Wiedereinrichtung, S. 275f. 231 Faulstich, Mediengesellschaft; Requate [Hrsg.], Mediengesellschaft.
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sie in bestimmte Bahnen.232 Das vormärzliche Zensurwesen erhielt mit den berüchtigten Karlsbader Beschlüssen im August 1819 einen bundeseinheitlichen Rahmen, der den Bundesmitgliedern verbindliche Mindeststandards der Zensur auferlegte. Diese »Provisorischen Bestimmungen hinsichtlich der Freiheit der Presse« sahen eine prinzipielle Vorzensur für Druckschriften unter 20 Bögen (320 Druckseiten) sowie gegenseitige Verpflichtungen der Mitgliedstaaten vor, insbesondere Zeitungen auf kritische Aussagen über andere Bundesmitglieder bzw. den Bund selbst hin zu kontrollieren. Die Umsetzung dieser Beschlüsse blieb indes den einzelnen Bundesmitgliedern überlassen, 1834 setzte der Deutsche Bund allerdings weitere verschärfende Maßnahmen, die erst kurz vor 1848 neu verhandelt, dann freilich von der Revolution überholt wurden.233 Als die Karlsbader Beschlüsse ausgearbeitet wurden, blickte das habsburgische Zensurwesen bereits auf eine lange Tradition zurück. Wie in anderen, auch geistlichen Territorien des Alten Reiches setzte in den habsburgischen Gebieten im ausgehenden 18. Jahrhundert eine verstärkte Zentralisierung der Zensurinstanzen ein, die der 1793 eingerichteten und bis 1848 bestehenden »Obersten Polizei- und Zensurhofstelle« untergeordnet wurden. Als rechtliche Grundlage des österreichischen Zensurwesens diente neben den Karlsbader Beschlüssen eine 1810 erlassene Zensurvorschrift, die deutlich über die spätere Karlsbader »20-Bögen-Freiheit« hinausging und vielmehr eine prinzipielle präventive Vorzensur für alle gedruckten Texte bestimmte.234 Wie Julius Marx zu Recht betont, hätte eine konsequente Übernahme der Karlsbader Beschlüsse in Österreich sogar eine Zensurerleichterung bedeutet; sie wurden auf österreichischen Druck hin ausformuliert, blieben jedoch in den habsburgischen Gebieten faktisch bedeutungslos.235 Die restriktivere österreichische Norm blieb indes bei vagen Grundsatzerklärungen stehen und stellte bestenfalls diffuse Richtwerte für die zensierenden Akteure bereit. Die Zensur war – um ein drittes Charakteristikum zu nennen – ein weitgehend unpräzise definiertes Kontrollund Lenkungssystem, das besonders für die Autoren, aber auch für die prüfenden Zensoren zu erheblicher Rechtsunsicherheit führte, zumal der Staat ausgerechnet im Zensurfach sich gleichsam selbst zensierte und die österreichischen Normen erst 1848 öffentlich zugänglich machte. Die österreichische Zensur begründete ihre Entscheidungen darüber hinaus nicht, d. h. dass ein Autor zumindest theoretisch die Parameter der Zensurierung nicht kennen konnte. Die Forschung geht deshalb von einer weitreichenden Selbstzensur aus, 232 Siemann; Ideenschmuggel; ders., Normenwandel; ders., Staatenbund, S. 220–222; ders., Zensur ; Kleinheyer, Überlegungen. 233 Blumenauer, Journalismus, S. 18–41; Müller, Schmuggel, S. 173–198. 234 Olechowski, Entwicklung, S. 117–119. Auch die preußische Pressepolitik überschritt die Karlsbader Beschlüsse: Müller, Schmuggel, S. 218f. 235 Marx, Zensur, S. 15; Papenheim, Zensur, S. 88–98; Falkner, Befugnisse.
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die sich Autoren auferlegten, um der unsicheren Rechtslage sowie den massiven und teilweise schikanösen Sanktionen der Zensurstellen zu entgehen.236 Die »Oberste Polizei- und Zensurhofstelle« besorgte die eigentliche Zensur, sie legte präventiv inhaltliche wie stilistische Korrekturen, Streichungen und im Extremfall auch ein Druckverbot fest. Ein wesentlicher Teil der vorgelegten Manuskripte wurde bereits in den einzelnen Ländern von den zuständigen Gubernialreferenten zensiert, besonders wichtige und heikle Texte wurden aber von der Wiener Zentralstelle selbst bearbeitet.237 Neben diese Organe reihten sich, ebenfalls im Instanzenzug hierarchisch angeordnet, die Revisionsämter der einzelnen Kronländer, denen in Wien ein »Central-Bücher-Revisionsamt« vorstand. Diese traten der schreibenden Zunft als materielle Verkörperung der Zensur entgegen: Hier waren die Manuskripte zu hinterlegen und wieder abzuholen, hier konnte man sich über den Beschluss der Zensurstellen informieren, wodurch die »volle Last des Grolles« der Schriftsteller dieses Amt traf.238 Die Revisionsämter zensierten vornehmlich bereits gedruckte Werke, besonders jene, die aus dem Ausland importiert worden waren. Während die eigentlichen Zensurstellen also die literarisch-publizistische Produktion kontrollierten, kümmerten sich die Revisionsämter um deren Konsum. Unübersichtlicher wird dieses Organigramm der Repression dadurch, dass zu den genannten Ämtern noch weitere Akteure hinzutraten: So waren die Polizeistellen für die Zensur der Presse zuständig, für wissenschaftliche oder religiöse Texte zog man darüber hinaus thematisch besonders ausgewiesene Institutionen oder Personen hinzu.239 Für das Zensurwesen war zwar prinzipiell die Polizei- und Zensurhofstelle zuständig, die sich allerdings in einem latenten Konkurrenzverhältnis zu Metternichs Staatskanzlei befand. Diese beschäftigte sich in untergeordneten Referaten ebenfalls mit der Pressepolitik und zensurierte vor allem die politischen Zeitungen, die im In- und Ausland erschienen waren. Überschneidungen, Doppelungen und Rivalitäten waren in diesem unübersichtlichen Setting vorprogrammiert, wiewohl diese durch die ideologische Nähe zwischen Sedlnitzky und Metternich zumindet abgemildert wurden.240 In Tirol wurden die österreichischen Zensurbestimmungen 1818 eingeführt und eigene Zensurbehörden geschaffen. Der oberste Zensor war zwar der 236 Olechowski, Entwicklung, S. 159–183; Siemann, Normenwandel, S. 64f., 67f.; Obermaier, Zensur; Marx, Zensur, hier auf S. 73–75 die »Zensurvorschrift vom 14. September 1810«. 237 Olechowski, Entwicklung, S. 165–174; Marx, Zensur, S. 17f. 238 Adolph Wiesner, Denkwürdigkeiten der Oesterreichischen Zensur vom Zeitalter der Reformazion bis auf die Gegenwart, Wien 1847, S. 393, zitiert in: Olechowski, Entwicklung, S. 163. 239 Olechowski, Entwicklung, S. 159–165; Marx, Zensur, S. 17–24; Müller, Schmuggel, S. 258–261. 240 Chvojka, Sedlnitzky, S. 152; Müller, Schmuggel, S. 221.
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Gouverneur, die praktische Umsetzung der Zensur oblag jedoch dem Gubernialrat für »Geistliche und Studienangelegenheiten«, der von geistlichen und weltlichen Gymnasial- bzw. Hochschulprofessoren unterstützt wurde. Das regionale Bücherrevisionsamt dagegen kontrollierte anhand der Zustellungslisten der Postämter die Zirkulation und den Konsum publizistischer Güter, wobei es besonders die Einfuhr ausländischer Zeitungen, Zeitschriften und sonstiger Druckwerke penibel kontrollierte. Es sollte festhalten, wer was und wann las. Typisch für den vormärzlichen Instanzenpluralismus war, dass diese Stelle damit regelmäßig in Kompetenzstreitigkeiten mit der Innsbrucker Polizeistelle geriet, deren Aufgabenbereich sich ebenfalls auf die Zensur von Zeitungen erstreckte.241 Für Außenstehende mitunter nicht mehr nachvollziehbar wurde die vormärzliche Zensur durch die vielfach situativ bestimmte politische Funktion, die ihr zentrale Akteure wie Staatskanzler Metternich erteilten. Je nach europäischer politischer Großwetterlage diente die Zensur eher erzieherischen oder stärker repressiven Absichten; während der Kölner Wirren nach 1838 waren Schriften mit katholischem Hintergrund beispielsweise prinzipiell geduldet, protestantische und später insbesondere deutschkatholische Texte sollten dagegen von Österreich ferngehalten werden.242 Die dünne rechtliche Basis der Zensur eignete sich hervorragend als politisches Instrument und lieferte die Texte vielfach den Launen der Zensoren aus, die der Autorin oder dem Autor gegenüber auch nicht begründet werden mussten.243 Kaum Zweifel herrschten dagegen über die Objekte der Zensur : »Von der Grabinschrift bis zum Lexikon wurde alles Geschriebene oder Gedruckte, vom Manschettenknopf bis zum Kupferstich jede Abbildung geprüft«, bilanziert Julius Marx. Aber auch Vorlesungstexte, Predigten, Hirtenbriefe, Rechnungen, Theater- oder Musikstücke entgingen der Zensur nicht.244 Selbst »Stoffe, Manufakturen und Fabrikate«, die mit Emblemen oder Zeichnungen versehen waren, unterlagen der Zensur.245 Es gab somit kaum Bereiche der zwischen241 Wackernell, Beda Weber, S. 26–29; Wolf, Zeitungen, S. 5–23; Maneschg, Chotek, S. 43; Schwaighofer, Literarische Gruppen, S. 8–10; Corsini, Controllo; Grass, HistorikerBiographien, S. 50–52; Falkner, Befugnisse. 242 Marx, Zensur, S. 16, S. 62; Schima, Deutschkatholiken; DAB, KA 1845, Fs. 55, Nr. 2, Präsidium des Guberniums an das f.b. Ordinariat Brixen, 14. 06. 1845. Siemann, Staatenbund, S. 220f., ortet idealtypisch sechs Funktionen der vormärzlichen Zensur: eine politische, eine religionspolitisch mildernde, eine ästhetische, eine erzieherische, eine soziale und eine gewerbliche. Zu den »Kölner Wirren« Hürten, Geschichte, S. 62–78; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1007–1012. 243 Olechowski, Entwicklung, S. 167–171. 244 Marx, Zensur, S. 55; Obermaier, Zensur, S. 7; Olechowski, Entwicklung, S. 166. 245 Hofdekret vom 25. 12. 1821, »Censur der Stoffe oder Fabrikate mit Emblemen und Zeichnungen«, Provinzial-Gesetzsammlung 1821, S. 871f.
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menschlichen Kommunikation, für die sich die Zensoren nicht interessierten. Dies verdeutlicht jedoch, dass die Zensur keinesfalls nur die »Intelligenz«, also die Produzenten und Konsumenten anspruchsvoller Texte, sondern die gesamte Gesellschaft traf und somit, auf Tirol zugespitzt, ein weiteres prägnantes Beispiel für eine Geteilte Geschichte der Provinzialisierung darstellt. Ebenso wenig sollte man den Adressatenkreis der Zensur auf die freisinnige oder liberale Intelligenz beschränken, wenngleich deren prominente Exponenten wie Anastasius Grün, Franz Grillparzer oder Franz Schuselka zu den lautesten Kritikern des österreichischen Zensursystems gehörten.246 Liberale wie konservative, laikale wie geistliche Autoren stöhnten gleichermaßen im engen Korsett der Zensur, die sich für religiöse, politische und schöngeistige Literatur, im Grunde für alles Gedruckte interessierte. Autoren, die sich mit religiösen Themen auseinandersetzten, waren sogar mit einer zweifachen Zensur konfrontiert, da die bischöflichen Ordinariate neben der ordentlichen noch eine Fachzensur durchführten.247 So musste der Benediktiner Beda Weber, der geistliche wie weltliche Zensoren gleichermaßen verachtete, mehrfach beim Trienter Ordinariat auf eine schnellere Abwicklung der Zensur seines Werkes »Tirol und die Reformation« drängen, da er erst nach diesem Zensurdurchgang das Manuskript den weltlichen Behörden in Innsbruck zur Prüfung vorlegen wollte.248 Nachdem das Manuskript Ende 1841 auch von der weltlichen Zensur überprüft worden war und an zahlreichen Stellen abgeändert werden musste, profitierte Weber jedoch von der rechtlich unklaren Lage der Zensurmechanismen: Da die obersten regionalen Zensoren, der Gouverneur Clemens Graf von Brandis und sein Vertreter Robert von Benz, das Werk Webers und seine Person besonders schätzten, erteilten sie dem Text, offenbar ungeachtet der Skepsis des geistlichen Fachzensors, wohlwollend das »imprimatur« und ließen es erscheinen, ohne es den zentralen Zensurstellen in Wien vorgelegt zu haben oder diese näher zu informieren. Diese lockere Praxis der Zensur erregte erheblichen Unmut in den Wiener Hofstellen, zumal, wie es in vormärzlichem Amtsdeutsch formuliert wurde, das Werk Webers »mit Hinblick auf bestimmte Zeitverhältnisse und Inhalt erlangten höheren Wichtigkeit wegen« eine besondere Aufmerksamkeit verdient hätte.249 Beda Webers Erfahrungen mit der vormärzlichen Zensur zeigen nicht nur deren konfuse und aufwändige Abläufe, sondern vor allem deren Kontingenz: Geschriebene Texte mussten mehrere Etappen passieren, wurden 246 Obermair, Zensur, S. 13–18; Wackernell, Beda Weber, S. 29. 247 Olechowski, Entwicklung, S. 168f. 248 ADT, Atti presidiali 1840/9, Beda Weber an f.b. Ordinariat Trient, 19. 08. 1840, 02. 09. 1840; Wackernell, Beda Weber, S. 149. 249 TLA, Geheime Präsidiale, S. I, Sig. XXIV/4, f. 236–246 (Anstände gegen die erfolgte Zensurirung d. Werkes »Tirol und die Reformation« von Pr. Beda Weber), Zitat f. 244; Angerer, Beda Weber, S. 61f.; Wackernell, Beda Weber, S. 190; Kap. 4.2.
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von unterschiedlichen, oft persönliche Interessen verfolgenden und rechtlich kaum gebundenen Akteuren geprüft und bewertet. Es bestand also für Autoren wenig Grund zur Hoffnung, dass ihre Texte auch tatsächlich in ihrer ursprünglichen Form publiziert würden, zumal wenn, wie im Falle Webers, noch der Neid geistlicher Kollegen hinzukam, die als Zensoren dem umtriebigen Benediktiner häufig mit Missgunst begegneten.250 Andererseits verweisen Webers Erfahrungen aber auch darauf, dass man gewissermaßen von einer bürokratisch überformten Provinzialisierung der sich ausbildenden Öffentlichkeiten sprechen muss: Öffentlicher Meinungsaustausch, so zumindest das Modell, sollte dem Zentralstaat untergeordnet, von diesem kontrolliert und gelenkt werden. Die Wiener Zentrale – selbst wenn sie wie in Webers Fall übergangen wurde – wirkte auf die Öffentlichkeit einerseits mittelbar ein, indem sie bestimmte, was öffentlich wurde und was nicht; andererseits aber suchte sie propagandistisch, durch die in jeder Provinz herausgegebenen offiziösen Regierungsblätter auch unmittelbar die öffentliche Meinung zu dirigieren. Wie zuletzt Francesca Brunet zeigen konnte, diente die staatsnahe Presse gerade in politisch hochgradig sensiblen Provinzen, wie etwa dem lombardisch-venetianischen Königreich in den Jahren der Prozesse gegen die carbonari, als Mittel der politischen Stabilisierung und Pazifizierung. Die staatliche Zensur blieb spätestens seit der Französischen Revolution also nicht mehr auf die klassische »Diskurskontrolle« beschränkt, sondern war auch darauf angewiesen, den zu unterdrückenden Diskursen ein positiv besetztes Bild entgegenzustellen. In besonders heiklen Fällen, wie am Beispiel der »Gazzetta di Milano« gut dokumentierbar ist, legte Staatskanzler Metternich sogar selbst Hand an und redigierte besonders bedeutsame Artikel.251 Es war mithin auch in Tirol äußerst schwierig, öffentlich über aktuelle Fragen, wie etwa über nationale Selbstverständnisse in einer mehrsprachigen Region, aber auch über die Rolle, die Religion für solche Selbstbeschreibungen einnehmen konnte, zu räsonieren. Paradigmatisch für die vormärzliche Öffentlichkeitspolitik blieb indes, dass sie Öffentlichkeit nicht unterband, sondern kanalisierte. Man konnte im Grunde genommen über alles schreiben, entscheidend war die Wahl der Medien, der Kommunikationsräume und der Verbreitungsorte, die Ideenschmuggel auch im Vormärz ermöglichten.252 Insofern sind die theoretischen Neuperspektivierungen der »new censorship theory« durchaus ernst zunehmen, die zur Überwindung des klassischen Zensur-Verständnisses erheblich beiträgt. Zensur habe demnach auch eine produktive 250 Beda Weber an Joseph Streiter, 19. 02. 1832, zitiert in: Steub, Sängerkrieg, S. 237–239. 251 Brunet, Begnadigungen; Hoefer, Pressepolitik; Chvojka, Sedlnitzky, S. 153–178; Siemann, Zensur, S. 363–373; Daniel/Siemann [Hrsg.], Propaganda; dies., Dimensionen; Piereth, Propaganda, S. 23–26; Abram, Geschichte, S. 282–294. 252 Siemann, Ideenschmuggel, S. 93; Müller, Schmuggel, S. 269f.
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Kraft, da sie gesellschaftliche Strukturen und Diskurse widerspiegle und dadurch Kommunikation bzw. bestimmte Kommunikationsformen generiere. Insofern ist es wichtig, »Zensur« nicht als einen der Gesellschaft vorgelagerten staatlichen Apparat zu verstehen, sondern als ein Element des kommunikativen Vollzugs der Gesellschaft selbst.253
2.1.4. Das Staatskirchentum als religiös-kirchliche Provinzialisierung Als vierter Provinzialisierungsprozess ist schließlich die Integration der kirchlichen Strukturen Tirols in das vormärzliche Staatskirchentum Österreichs zu umreißen. Die kirchlichen Reformen, die der habsburgische Staat in seiner neuen Provinz Tirol bereits ab 1814 einleitete, müssen im Gesamtkontext der restlichen zentralstaatlichen Integrationsprozesse betrachtet werden: Parallel zur administrativen Provinzbildung zielte auch die kirchenpolitische Reform auf eine einheitliche Normierung der kirchlich-religiösen Landschaft ab – beide Vereinheitlichungen ergänzten sich, ja sie waren eng aufeinander abgestimmt. Dabei handelte es sich keineswegs um eine genuin habsburgische Entwicklung, vielmehr standen alle deutschen Staaten nach 1803/1816 vor dem Problem neuer Grenzziehungen, die nicht zuletzt auch die kirchliche Reorganisation massiv bedingten: Zahlreiche Bistümer wurden aufgehoben bzw. nicht wieder errichtet, andere dagegen neu gegründet, Grenzen der Diözesen verschoben und – das ist für die weitere Entwicklung entscheidend – vormalige, kirchlich-autonomistische Rechte, besonders jene der Domkapitel, als Konkursmasse der ehemaligen Reichskirche zwischen der römischen Kurie und den neuen staatlichen Gebilden aufgeteilt. Konkordate waren, insgesamt betrachtet, zugleich Schlüssel und Signatur dieser parallel laufenden staatlichen und kirchlichen Umstrukturierungen im frühen 19. Jahrhundert. Wiewohl für Deutschland zu differenzieren gilt: Lediglich Bayern schloss 1817 ein Konkordat ab, in den restlichen nachnapoleonischen deutschen Staaten wurden die kirchenpolitischen Verhältnisse nach mehr oder minder intensiven Verhandlungen mit der römischen Kurie per Staatsgesetz geregelt und durch päpstliche Bullen sanktioniert.254 Generell galt jedoch nicht nur im deutschsprachigen Raum, dass sich das kirchenpolitische Machtverhältnis zugunsten des Staates verschob. Die europäischen Staatskirchentümer haben, wie Wolfgang Reinhard in seiner großen Studie zur Geschichte der Staatsgewalt schreibt, ihre eigentliche, vollkommene Ausprägung
253 Brunn, Repression. 254 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 921–929.
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erst im ausgehenden 18. Jahrhundert und ihren Höhepunkt im Vormärz erreicht.255 Diese kirchenpolitische Reform, die Tirol nach 1814/15 erfasste und bis 1848 ganz erheblich auf Kirche und religiöse Kommunikation einwirkte, wurde bislang gleich doppelt begrenzt betrachtet: Einerseits beschrieb die einschlägige Kirchengeschichte diesen Prozess – mitunter bitter klagend – scharf gesondert von der »profanen« Geschichte, andererseits dienten Diözesan- bzw. Sprachgrenzen augenscheinlich als schier unüberwindliche räumliche Grenzen der historischen Darstellung, womit eine weitere Facette einer Geteilten Geschichte des Kronlandes ausgeblendet wurde. Denn der Reformeifer des habsburgischen Staatskirchensystems kannte in der Tat keine Sprach- oder Diözesangrenzen.256 Auch dieser Integrationsprozess schien Zeitgenossen von epochaler Tiefe – ein zeitgenössischer Trienter Kommentator fragte sich gar, ob die neuen österreichischen Machthaber nach dem geistlichen Fürstentum nun auch das Bistum Trient säkularisieren wollten.257 In der Tat wurde nach 1813/1814 bald offensichtlich, dass das habsburgische Staatskirchentum nur wenig von der Kirchenpolitik der Vorgängerregierungen bzw. vom reformabsolutistischen Josephinismus abweichen würde: Die Kirchenstrukturen sollten wie alle anderen Korporationen dem Staat untergeordnet und staatsweit vereinheitlicht werden.258 Bereits 1814 eskalierte der Konflikt mit dem Churer Bischof BuolSchauenstein, dessen Diözese schon 1808 ein hot spot des bayerischen Kirchenkonfliktes in Tirol gewesen war. Wie vormals die bayerische Regierung, beschnitt nun auch die – noch provisorische – Verwaltung Österreichs die Jurisdiktion des Churer Hirten auf österreichischem Boden, wenngleich die österreichischen Motive andere als jene Montgelas-Bayerns waren und die österreichische Regierung wesentlich behutsamer agierte. Dennoch: Die in kirchlichen Kreisen aller Tiroler Diözesen verbreitete Hoffnung auf eine weitgehende Wiedererlangung früherer Rechte musste bald schwinden.259 Trotz dieser Momente der Kontinuität unterschied sich der vormärzliche 255 Schlögl, Alter Glaube, S. 103–226; Plongeron [Hrsg.], Aufklärung, S. 621–719; Hausberger, Reichskirche, S. 121–205; Reinhard, Staatsgewalt, S. 259–281. 256 So widmet der Kirchenhistoriker Joseph Gelmi in seiner Kirchengeschichte »Tirols« dem Vormärz ganze elf Seiten, die Diözese Trient wird auf einer knappen halben Seite abgehandelt: Gelmi, Kirchengeschichte, S. 292, in der erweiteren Neufassung ders., Geschichte, S. 286–307 sind es, mit zahlreichem Bildmaterial versehen, 22 Seiten. Die Trentiner Kirchengeschichte hat indes überhaupt keine über »ihre« Diözese hinausreichende Darstellung angestrengt: Kap. 1.7. Bemerkenswerte Ausnahmen stellen die zuletzt erschienenen Studien Curzel, Storia sowie Lanzinger, Verwaltete Verwandtschaft dar. 257 Girolamo Graziadei, Cronaca di Trento, BCT, ms. 73, S. 1038, zitiert in: Corsini, Politica, S. 60. 258 Hamm, Integrationspolitik, S. 261–311; Gelmi, Geschichte, S. 162–164; Garbari, Potere. 259 Hamm, Integrationspolitik, S. 346f.; Blaas, Priesterverfolgung, S. 341–364; Corsini, Politica, S. 59f.; Benvenuti, Potere.
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»Spätjosephinismus« grundlegend von seinen Vorläufern: Verfolgten die josephinischen Reformen des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen das aufklärerische Ziel, durch kirchliche Reformen Religion und Gesellschaft im Sinne eines aufklärerischen Staatsutilitarismus zu verändern, so bezweckte die vormärzliche Kirchenpolitik vor allem eine antirevolutionäre Stabilisierung des Staatswesens.260 Diese konservative Involution des österreichischen Staatskirchentums kombinierte eine intentionale Neuausrichtung der Kirchenpolitik mit einer gleichzeitigen inhaltlichen Kontinuität zum 18. Jahrhundert und schuf damit gravierende, insgesamt für den vormärzlichen Staat jedoch typische Paradoxien. Sie grenzte Kirche und Katholizismus in deren Bewegungsradius zunächst deutlich ein und wies ihnen eine spezifische gesellschaftliche Funktion zu, um ihnen in bestimmten Feldern wiederum privilegierte Freiräume zu eröffnen. So wurden beispielsweise bereits 1805 – nach der Niederlage gegen Frankreich – das Volksschulwesen und die religiöse Betreuung der Schülerinnen und Schüler wieder ganz der katholischen Kirche übertragen.261 Religion und Kirche dienten somit dem vormärzlichen Staat als innenpolitische Instrumente, deren Einsatz stark von außenpolitischen Entwicklungen bedingt war. So gewann diese Arbeitsteilung zwischen dem bürokratischen Obrigkeitsstaat und der katholischen Kirche besonders nach 1830 weiter an Tiefe und formte sich zu jenem Verhältnis, das gemeinhin mit dem etwas unglücklichen, da ein symmetrisches Verhältnis suggerierenden Schlagwort der »Allianz zwischen Thron und Altar« beschrieben wurde.262 Ähnlich wie im administrativen Bereich legten die Jahre des Umbruchs um 1800 auch für die kirchlichen Neuadjustierungen des vormärzlichen Staates günstigste Voraussetzungen, sodass ein österreichisches Staatskirchentum in Tirol nach 1816 nicht nur fortgeführt werden konnte, sondern prinzipiell erst jetzt – in seiner »neuen« Form – voll ausgeprägt zur Geltung kam. Denn neben den Ständen, die regelmäßig und besonders am offenen Landtag von 1790 lautstark gegen die kirchlichen Reformen protestierten, hatte der Zentralstaat des 18. Jahrhunderts noch den Widerstand der geistlichen Fürstentümer zu überwinden, die sich mitunter vehement gegen weltliche Ingerenzen im geistlichen Bereich – nicht so in anderen Bereichen! – stemmten. Der Staat konnte 260 Maaß, Josephinismus IV, S. 1–143, S. XXI–XXIV. Dagegen betont Winter, Romantismus, S. 19–43, die Momente der Diskontinuität und spricht vielmehr von einer österreichischkatholischen Restauration, die das Staatskirchentum – auf josephinischer Basis – nach 1790 neu begründet habe. 261 Engelbrecht, Geschichte, S. 226–229; Rumpler, Mitteleuropa, S. 112–114. 262 Insofern spricht Remond, Religion, S. 120, treffender von einer »ungleichen Allianz zwischen den Staaten, die aus der Krise der Revolution gestärkt hervorgingen und den durch die erlittenen Prüfungen geschwächten Kirchen«; Maaß, Josephinismus V, S. 1–170.
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zwar auf die beiden Hochstifte Brixen und Trient Druck ausüben, letztlich diesen aber die Umsetzung der eigenen Kirchenpolitik nicht aufdrängen.263 Nach 1816 existierten beide Quellen des Widerstandes nicht mehr. Diese spätjosephinische Provinzialisierung der kirchlichen Strukturen Tirols vollzog sich im Wesentlichen im Dezennium zwischen 1815 und 1825 auf unterschiedlichen Ebenen. Der erste massive und sichtbarste Eingriff des österreichischen Staatskirchentums in die regionalen kirchlichen Strukturen stellte eine radikale Umformung der Diözesangrenzen dar, die sich fortan mit den ebenfalls neuen staatlichen Verwaltungsgrenzen Tirols decken sollten. Ein weiterer zentraler Aspekt dieser bereits im 18. Jahrhundert verfolgten josephinischen kirchlichen Grenzberichtigungspraxis war die »Entrechtung« ausländischer Bischöfe auf österreichischem Boden. Die entlang dieser Kriterien entwickelten Reformprojekte waren durchaus beachtlich. Wie bereits nach der Säkularisation von 1802/1803 kursierte auch nach 1814 der Plan, für das ganze Kronland ein einziges »Landesbistum« zu schaffen und damit die beiden traditionsreichen Diözesen Brixen und Trient ganz aufzuheben; eine andere Variante sah dagegen vor, die räumlichen Kompetenzen der beiden Diözesen zu beschneiden und dafür eine dritte mit Sitz in Innsbruck zu errichten. Letztlich entschied sich der Staat für die billigste Variante und schlug die zu verteilenden Gebiete – immerhin besaßen im 18. Jahrhundert noch mit Chur, Konstanz, Augsburg, Freising, Chiemsee, Salzburg, Aquileja, Feltre, Padua und Verona zehn »ausländische« Diözesen Rechte auf tirolischem Boden – den beiden bestehenden Bistümern Trient und Brixen zu. Mit der päpstlichen Zirkumskriptionsbulle vom 2. Mai 1818 als – nachträglicher – Bestätigung der staatlichen Gebietsaufteilung wurde die Brixener Diözese um ganz Vorarlberg, Osttirol und Teile Nordtirols erweitert, sie musste dafür allerdings Gebiete südlich des Brenners und – für Fürstbischof Karl Franz von Lodron besonders schmerzhaft – den historischen Bischofssitz Säben bei Klausen an Trient abtreten. In absoluten Zahlen vergrößerte sich das Territorium der Diözese um ca. 4.500 km2 und 135.000 Seelen.264 Der bikulturelle Charakter der Diözese Trient hingegen wurde weiter verstärkt, nachdem ihr die ehemaligen Churer Gebiete im Vinschgau und um Meran, aber auch das Dekanat Sarntal und das Eisacktal bis knapp unterhalb von Brixen zugeteilt wurden. Damit schuf das vormärzliche Staatskirchensystem ein 263 Maaß, Josephinismus IV, S. 77; Rainer, Vormärz, S. 23f.; Hosp, Vormärz, S. 18–20; Mühlberger, Absolutismus, S. 399–403; Reinalter, Aufklärung, S. 96–137; Friedrich, Länder-Eigensinn; Rogger, Storia, S. 156f.; Nequirito, Tramonto, S. 70–77; Kögl, Sovranit/, S. 289–338. 264 Bastgen, Neuerrichtung, S. 301–327; Putzer, Rechtsgrundlagen, die Edition von »ex imposito« auf S. 235–286; Rainer, Poker; ders., Vormärz, S. 21–60; Corsini, Politica, S. 62– 67.
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latent konfliktgeladenes Szenario, das sein Spannungspotential freilich erst 50 Jahre später, im zunehmend national erhitzten Klima rund um die italienischen Einigungskriege, voll entfalten sollte.265 Wichtig und bezeichnend war indes, dass die Verhandlungen über die neuen Umgrenzungen der Diözesen direkt zwischen Wien und Rom geführt und die beiden Bistümer letztlich vor vollendete Tatsachen gestellt wurden, denen sie nur noch zustimmen konnten. 1825 schließlich bestimmte die päpstliche Bulle »Ubi primum« die Eingliederung der beiden Tiroler Bistümer in den Salzburger Metropolitanverband, erneut ohne vorherige Zustimmung der betroffenen Diözesen. Damit waren die kirchlichen Strukturen in Tirol erstmals Teil einer gemeinsamen Kirchenprovinz, einheitlich geordnet nach dem österreichischen Staatskirchenrecht. Besonders in Trient, das bislang Aquileja bzw. direkt der römischen Kurie untergeordnet gewesen war, wurde dies als empfindlicher Einschnitt in die vormalige kirchliche Autonomie wahrgenommen: Nicht nur staatlich, sondern auch kirchenrechtlich war das ehemalige Hochstift nun Teil einer österreichischen Provinz.266 Neben der räumlichen Gliederung der kirchlichen Provinz Tirol ordnete das österreichische Staatskirchentum nunmehr auch die personelle Zusammensetzung und die finanzielle Dotierung der Bistümer. Die Bischöfe, die geistlichen Dignitäten an den bischöflichen Kurien sowie ein Großteil des Klerus waren den staatlichen Beamten damit faktisch gleichgestellt. Zunächst bemächtigte sich der Staat in beiden Diözesen des Kollationierungsrechtes, also der rechtlichen Grundlage, bestimmte Pfarren zu besetzen. Politisch weitreichender war das Nominationsrecht der beiden Bischöfe von Trient und Brixen, das Papst Pius VIII. 1822, auf erheblichen Druck der österreichischen Regierung hin, dem Kaiser und seinen Nachfolgern übertrug. Die dadurch in ihren Rechten arg beschnittenen Domkapitel – diese hatten bislang die Bischöfe gewählt – wurden 1824–1826 selbst, weitgehend den Wünschen der Wiener Regierung entsprechend, auf der Basis einer päpstlichen Bulle neu organisiert, wobei das Ernennungsrecht wiederum dem Kaiser zufiel.267 So wie die Gemeinden fielen auch die kirchlichen Verwaltungsstrukturen 265 Huber, Papst. 266 Bereits im 18. Jahrhundert hatte es mehrere politisch motivierte Versuche gegeben, das Bistum Trient dem Salzburger Metropoliten unterzuordnen: Stadler, Trento, S. 3–15; Rogger, Storia, S. 151–158; Corsini, Politica, S. 75f. Besonders die ältere RisorgimentoHistoriographie sah hierin einen bewussten Akt der Entnationalisierung: Marchetti, Trentino, S. 51: »Perfino il vescovado di Trento fu menomato, e posto sotto la tutela del Metropolita di Salisburgo.« (»Sogar das Bistum Trient wurde verstümmelt und unter die Vormundschaft des Salzburger Metropoliten gestellt.«) Der edierte Text der Bulle bei Putzer, Rechtsgrundlagen, S. 286–300. 267 Bastgen, Neuerrichtung, S. 327–343; Corsini, Politica, S. 71–76; Sparber, Kirchengeschichte, S. 80f.
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weitgehend unter die zentralstaatliche Kuratel. Der vormärzliche bürokratische Absolutismus blieb allerdings nicht bei dieser strukturellen Verstaatlichung stehen, sondern zielte vielmehr auf eine umfassende Kontrolle der gesamten religiösen Kommunikation ab. Gleichzeitig griff er jedoch der kirchlichen Restrukturierung bereitwillig unter die Arme. Tirol wurde nach 1816 von Klosterbzw. Ordensniederlassungen geradezu überzogen: 1821 wurden die Barmherzigen Schwestern wieder zugelassen, die im Laufe des Jahrhunderts ein kapillares Netz von Niederlassungen in ganz Tirol errichteten. 1826 erlaubte man rein kontemplative Orden wieder, 1827 ließen sich in Innsbruck die Redemptoristen nieder und 1838, politisch am folgenschwersten, die Jesuiten.268 Diese eindrucksvolle Reihe von Ordensgründungen und Ordensneugründungen ist jedoch keineswegs als bedingungslose Hingabe der vormärzlichen Monarchie an die Kirche, gleichsam als obrigkeitlich installierte pietas austriaca zu verstehen, sondern vielmehr als antirevolutionäre Sturkturmaßnahme. Für dieses funktionalistische Argument spricht nicht zuletzt, dass diese Orden an nicht unbedeutende Auflagen gebunden waren und unter strenger staatlicher Aufsicht blieben.269 Das prominenteste Beispiel für diese selektive und willkürliche staatskirchliche Haltung gegenüber Orden war wohl die rosminianische »Congregazione di Carit/«: Wiewohl von einflussreichen Klerikern und auch vom Trienter Fürstbischof Franz Luschin zunächst begrüßt, sah sich die 1831 in Trient errichtete Priesterkongregation mit großem Misstrauen der Regierung konfrontiert, die in der neuen Priestergemeinschaft wahlweise eine verkappte Zelle der Jesuiten oder der »Giovine Italia« mutmaßte. Den wesentlichsten Problempunkt stellte der Hauptsitz der rosminianischen »Congregazione« dar, der im piemontesischen Domodossola lag – im vormärzlichen Staatskirchensystem ein unüberwindliches Hindernis für eine endgültige Anerkennung der Gemeinschaft, zumal die Organisation dadurch der staatlichen wie kirchlichen Jurisdiktion weitgehend entzogen gewesen wäre. Entnervt und in seiner Aversion gegen jede Form des staatlich-politischen Eingriffs in geistliche Angelegenheiten nachhaltig geprägt, verließ der berühmte Reformtheologe und Philosoph 1835 seine trentinische Heimat, um sich im Piemont niederzulassen.270 Zahlreiche, seit den 1780er Jahren verbotene Bruderschaften wurden wieder erlaubt, andere neu gegründet. Diese – bislang weitgehend unerforschte – staatlich begünstigte Frömmigkeit gelangte jedoch an ihre Grenzen, sobald sie in den Augen des Staates politisch potentiell destabilisierend zu werden drohte, wie etwa die überaus skeptische Haltung der staatlichen Behörden gegenüber den 268 Gelmi, Geschichte, S. 287–289; Vareschi, Organizzazione, S. 319–333; Kap. 7.1. 269 Hartungen, Sozialgeschichte, S. 335–341; Hirn, Geschichte, S. 574–576. 270 Benvenuti, Istituzioni, S. 291–294; Marangon, Risorgimento, S. 95–113; Zovatto, Rigler.
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unorganisierten Wallfahrten zu den populären stigmatisierten Jungfrauen Anfang der 1830er Jahre zeigt.271 Dieser schmale Grat zwischen Konzession und Skepsis, Förderung und Verbot, der das Verhältnis des vormärzlichen Staates zur institutionalisierten Religion prägte, zeigt sich besonders deutlich an den im späteren Vormärz stark verbreiteten Volksmissionen, die in Tirol meist »Volksexerzitien« oder »geistliche Volksübungen« genannt wurden. Diese Form der vornehmlich im deutschsprachigen Tirol von Jesuiten und Redemptoristen gehaltenen, intensivierten Massenpastoral wurde ab 1840 von den staatlichen Behörden als Instrument zur Festigung bestimmter Sittlichkeits- und Moralvorstellungen geduldet, obwohl die Gottesdienstordnung von 1791 diese nicht vorsah.272 Einen eifrigen Förderer fand diese pastorale Praxis im Tiroler Gouverneur Clemens Graf von Brandis der sich 1862, mittlerweile als politischer Publizist zur festen Größe der gesamtdeutschen katholischen Vereinsbewegung aufgestiegen, damit brüstete, dass es während seiner Amtszeit (1841–1848) kaum ein Tiroler Dorf gegeben habe, das nicht zumindest einmal missioniert worden sei.273 In der Tat war die innere Mission der Redemptoristen und der Jesuiten im deutschsprachigen Tirol nahezu flächendeckend,274 die von Brandis retrospektiv gerühmte staatliche Unterstützung allerdings keinesfalls unkonditioniert und insbesondere nicht ausschließlich von religiösen Zielsetzungen geleitet. Die kirchliche Abspaltung im Nordtiroler Zillertal beispielsweise, die staatliche wie kirchliche Behörden auf eine moralische und sittliche Dekadenz zurückführten und als bedrohliche Vorstufe einer revolutionären und womöglich staatsgefährdenden Bewegung gegolten hatte, diente als warnendes Beispiel, das in Zukunft durch die Volksmissionen verhindert werden sollte.275 Andererseits aber waren besonders josephinische Beamte überaus skeptisch gegenüber dieser vormärzlichen Form der intensivierten Predigt und öffentlichen Buße, die sich auch über zehn Tage hinziehen konnte und in der Bevölkerung überaus beliebt war. Mitunter nahmen an diesen geistlichen Übungen über 5.000 Personen teil.276 Freilich, wie Christoph von Hartungen zu Recht betont, gründete diese 271 Priesching, Frömmigkeitskultur ; dies., Mörl, S. 75–97; dies., Grundzüge, S. 80. Gelmi, Geschichte, geht auf die Formen der Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht ein, dafür bieten von Hartungen, Sozialgeschichte, S. 225–272 und Grass, Bauernfeiertage, wichtige Anhaltspunkte. Analytisch arm die Darstellung von Hochenegg, Bruderschaften; allgemein für Salzburg, wo sich kein vormärzlicher Aufschwung des Bruderschaftswesens beobachten lässt, Klieber, Bruderschaften, S. 517–547. 272 Hartungen, Sozialgeschichte, S. 237–248; Maaß, Jesuiten, S. 200–211; Rainer, Vormärz, S. 220–223; Hosp, Jahrhundertfeier, S. 33–64. 273 Brandis, Sendschreiben, S. 7; Tinkhauser, Blätter, S. 36; Geiger, Volksmission. 274 Hosp, Redemporisten, S. 99–109. 275 Kap. 3.5. 276 DAB, KA 1841, Fs. 61, Nr. 5, Schnitzer/Kathrein/Griesser an f.b. Ordinariat Brixen, 13. 05.
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Popularität keinesfalls nur in der Festigung der Religiosität oder in einer überbordenden Frömmigkeit. Auch die Aussicht, dem drückenden Arbeitsleben am Land einige Tage zu entfliehen und einem außergewöhnlichen Ereignis beizuwohnen, stellte ein wichtiges Motiv der Teilnahme an den geistlichen Volksübungen dar.277 Neugier, Unterhaltung und Religiosität waren mithin zentrale Elemente der breiten Resonanz der Volksmissionen, was freilich das Misstrauen der Behörden, die in jeder Form größerer Menschenansammlungen und der Abweichung von gewohnten Abläufen ein subversives Potential verorteten, erheblich nährte. In der Tat wurde in den kirchlichen Berichten an die staatlichen Behörden immer wieder darauf hingewiesen, dass die geistlichen Übungen ohne politisch bedenkliche Folgen vollzogen wurden und dass sie keinesfalls als »geheime Träger und Werkzeuge staatsgefährlicher Verbindungen […]« zu verdächtigen seien.278 Aber auch in den Anfragen um die politische Erlaubnis zur Abhaltung dieser Massenpastoral mussten Geistliche wiederholt beschwichtigend betonen, es handle sich bei einer Volksmission um eine »kirchliche Übung […], die einzig darauf berechnet ist, gute Christen, u. somit auch gute Staatsbürger zu bilden«.279 Der Wunsch nach Volksmissionen wurde in der Regel von den einzelnen Gemeinden bzw. den Gemeindegeistlichen formuliert und ein entsprechender Antrag an die bischöflichen Ordinariate gestellt, die dann mit den staatlichen Behörden situativ die soziale und religiöse Sinnhaftigkeit von Volksmissionen bestimmten und dabei regelmäßig zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen fanden. Die endgültige Entscheidung traf letztlich der Staat, der den Nutzen dieser religiösen Übungen anhand eigener – nicht religiöser – Parameter bemaß.280 Auch hier zeigt sich: Provinzialisierung als staatliche Kontrolle religiöser Kommunikation war grundsätzlich ambivalent – diese diente in den Augen der Bürokratie systemstabilisierenden Zwecken, musste aufgrund ihres eigendynamischen Potentials aber stark eingeschränkt werden. Öffentlich, und
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1842; Kirchliche Nachrichten – Brixen, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 293f.; Hosp, Redemptoristen, S. 40f. Hartungen, Sozialgeschichte, S. 243–245; DAB, KA, FS 61; Die geistlichen Übungen zu Mölten im südlichen Tirol, in: Hist. Pol. Bl. 9 (1842), S. 109–124; Koch, Reise, S. 186; Steub, Sommer, S. 654–657. Die geistlichen Übungen zu Mölten im südlichen Tirol, in: Hist. Pol. Bl. 9 (1842), S. 109–124, S. 122f. DAB, KA 1842, Fs. 61, Nr. 10, Zl. 2677, Johann Rappold, Dekan von Fügen, an f.b. Ordinariat Brixen, 05. 05. 1842. DAB, KA 1843, Fs. 61, Nr. 4, Zl. 640, Gouverneur Brandis an f.b. Ordinariat Brixen, 10. 02. 1843; ebenda, KA 1845, Fs. 61, Nr. 4, Zl. 568, Gouverneur Brandis an f.b. Ordinariat Brixen, 21. 02. 1845; Rainer, Vormärz, S. 221f.; Hosp, Redemptoristen, S. 42–56.
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darauf legte die vormärzliche Bürokratie besonderen Wert, sollte hingegen jeder Anschein von Dissens zwischen Staat und Kirche vermieden werden.281 Die wichtigste und mit Blick auf das weitere Jahrhundert entscheidendste Konzession des vormärzlichen Obrigkeitsstaates war in der Diözese Brixen indessen die Wiedereröffnung des Priesterseminars und die Rückübertragung der Priesterausbildung von der aufgehobenen theologischen Fakultät der – staatlichen – Innsbrucker Universität an den Bischofssitz am Eisack, die nach eindringlichen Forderungen des Brixener Fürstbischofs Lodron 1822 gewährt wurde. Brixen entwickelte sich darauf eindrucksvoll schnell zu einem überregional anerkannten theologischen Zentrum, zu einem »Bollwerk gegen den Josephinismus«, wie es Eduard Hosp etwas überschwänglich umschrieb, das sich stark an einer romantisch aufgeladenen, ultramontanen Theologie Mainzer bzw. Tübinger Schule aber auch am Vorbild des Wiener Hofbauerkreises orientierte.282 Der Aufschwung war auch quantitativ beeindruckend: Besuchten 1816 gerade mal 41 Priesteramtskandidaten die staatliche Ausbildungsstätte in Innsbruck, so konnte das Brixener Seminar bereits ein Jahr nach der Wiedereröffnung 174 Seminaristen zählen. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts gingen aus dem Priesterseminar am Eisack zentrale Figuren des österreichischen bzw. deutschsprachigen Katholizismus hervor.283 Doch auch hier gab der Staat die Zügel nicht ganz aus der Hand: Er finanzierte einerseits – dies galt auch für Trient – die Priesterausbildung, schrieb aber verbindlich die zu unterrichtenden Fächer sowie die hierfür erlaubten Unterrichtsmaterialien vor. Besonders die Seminaristen, wie etwa 1830 der spätere Brixener Fürstbischof Vinzenz Gasser, führten bittere Klage über die »fühlbare Leere, Seichtigkeit, Trockenheit und Dürre«, mit der die Theologie aus den vorgeschriebenen Lehrbüchern nachgerade »geistlos« vorgetragen werde.284 Dem durchaus antirationalistisch und antijosephinisch eingestellten Lehrkörper blieb in Anbetracht der strikten staatlichen Vorgaben nichts anderes übrig, als gegen die verhassten Lehrbücher, besonders jene der aufgeklärten Theologen Matthias Dannenmayer und Augustin Rechberger, während der Vorlesungen heftig zu polemisieren.285 Ähnliches galt für den Schulunterricht: Die katholische Kirche erhielt zwar wie erwähnt bereits 1805 die schulische Oberaufsicht übertragen, musste sich 281 DAB, KA 1842, Fs. 61, Nr. 10, Zl. 1191, Gouverneur Brandis an f.b. Ordinariat Brixen, 27. 04. 1842. 282 Gelmi, Priesterseminar, S. 152–192; Priesching, Mörl, S. 74f.; Hosp, Kirche, S. 12; Weiss, Religiosit/, S. 402–412; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 976–984. 283 Maaß, Jesuiten, S. 8; Gelmi, Priesterseminar, S. 178–190; Mayer, Grossmacht. 284 Zobl, Gasser, S. 37; Vareschi, Organizzazione, S. 322f. 285 Ebenda, S. 33–37; Alexander, Priesterausbildung. Allerdings wurden die beiden, bereits 1820 in Rom auf den Index der verbotenen Bücher gesetzten Lehrbücher 1832/33 dann tatsächlich aus den vorgeschriebenen Lehrmaterialien ausgeschieden: Grisar, Tschiderer, S. 142–144; Hosp, Kirche, S. 242–245.
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aber neben den auch hier klar festgelegten inhaltlichen Curricula in der Unterweisung religiöser Grundlagen an einen zensurierten »k.k. Katechismus«, wie er noch nach 1848 despektierlich genannt wurde, halten.286 Das Trienter Priesterseminar wurde indessen nie geschlossen, da das Innsbrucker Generalseminar offenbar nur für deutschsprachige Priesteramtskandidaten vorgesehen war. Zwar wurde der ordentliche Lehrbetrieb zwischen 1792 und 1815 mehrfach und massiv behindert und war, insbesondere unter bayerischer und italienischer Herrschaft, tiefgreifenden staatlichen Eingriffen ausgesetzt, die Ausbildung unter bischöflicher Aufsicht setzte hier jedoch früher ein als in Brixen. 1818/19 studierten bereits 54 Theologen im Trienter Priesterseminar, das ebenfalls in den 1820er und 1830er Jahren eine Blütezeit erlebte und zur zentralen Ausbildungsstätte des liberalen, italienischsprachigen Klerus im Kronland wurde.287 Wie sehr die »Allianz zwischen Staat und Kirche« eine asymmetrische, ja eigentlich paradoxe Verbindung war, verdeutlicht schließlich die rigorose staatliche Überwachung kircheninterner und kirchenexterner religiöser Kommunikation. Seit dem Hofkanzleidekret vom 21. Juli 1814 war die katholische Kirche in Österreich zunächst selbst ein Organ der Zensur, indem sie die Fachzensur für religiöse Schriften übernahm.288 Wie in den Zeiten der Gegenreformation achteten die kirchlichen Zensoren auch im vormärzlichen Österreich darauf, dass in ihren Diözesen nur rechtgläubige, den Lehrmeinungen der katholischen Kirche entsprechende Schriften zirkulierten. Neben dieser geistlichen Fachzensur standen nach der Schließung der staatlichen theologischen Fakultät in Innsbruck 1823 jedoch auch zahlreiche Geistliche im Dienst der »weltlichen« Zensur und waren hier ebenfalls für Werke religiösen Inhaltes zuständig.289 Diese doppelte geistliche Zensur garantierte jedoch keineswegs die völlige Unterbindung von Texten, die von der offiziellen Lehrmeinung abwichen, sondern verlangsamte und behinderte die religiöse Kommunikation insgesamt, auch jene, die, wie bei Beda Weber, weitgehend im Sinne der katholischen Kirche formuliert worden war. Paradox war auch die Stellung der geistlichen Zensoren: Vielfach – so auch in Tirol – beauftragten die Zensurämter ausgerechnet jene Priester – wie beispielsweise Anton Günther – mit dem Geschäft der Zensur, die als Philosophen und Theologen regelmäßig und durchaus kontrovers publizierten und somit selbst der Zensur ausgesetzt waren. Ein weiteres Beispiel für diese »Ironien des Vormärzes«, wie Eduard Winter es nannte, war etwa die 286 287 288 289
Chowanetz, Mission, S. 12; Engelbrecht, Bildungswesen, S. 240. Niglutsch, Clericalseminar ; Flabbi, Seminario, S. 60–77. Marx, Zensur, S. 14. Olechowsky, Entwicklung, S. 162, S. 168f; Papenheim, Zensur, S. 88–98. So besorgten in Tirol der Abt des Wiltener Prämonstratenserstiftes Alois Röggl und David Moritz, der später als – sehr wohlwollender – Zensor der ersten katholischen Zeitschrift Tirols fungierte, die geistliche Zensur. Bacher, Röggl, S. 149; Angerer, Beda Weber, S. 61; Kap. 5.2.
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besondere Überwachung Bernard Bolzanos und seiner Publikationstätigkeit, die ausgerechnet Vinzenz Fiebrich, einem begeisterten Schüler des Prager Religionsphilosophen und Reformtheologen, aufgetragen wurde.290 Während sich hier die diversen Katholizismen gleichsam selbst überwachten, kontrollierte der Staat einen erheblichen Teil der religiösen Kommunikation selbst. So unterlagen Predigten vielfach, Hirtenbriefe und Mitteilungen der Ordinariate an den Klerus prinzipiell der weltlichen Zensur.291 Eine freie Kommunikation zwischen den Bischöfen bzw. den Katholiken allgemein und der römischen Zentrale war im österreichischen Staatskirchensystem ebenso undenkbar. Seit 1767 musste jede Mitteilung aus Rom staatliche Kontrollen passieren, bevor sie das kaiserliche »Placet« erlangte und ihre Adressaten erreichen konnte. Dies galt auch für Personen, die in privaten Anliegen – etwa um eine Ehedispens zu erlangen – mit der römischen Kurie kommunizierten. Selbst die Bulle »ex imposito« vom 2. Mai 1818, die der vom Staat modellierten neuen Diözesaneinteilung die kanonische Sanktion verlieh, erhielt aufgrund einiger kontroverser Punkte nur ein beschränktes kaiserliches Placet.292 Es ist Rudolf Schlögl durchaus zuzustimmen, wenn er den Grundcharakter der vormärzlichen Staatskirchentümer in einem »intrikaten, paradoxen Verhältnis« zwischen den christlichen Kirchen und den europäischen Monarchien ausmacht. Der postrevolutionäre europäische Staat legitimierte seine Herrschaft mit einem äußerst fragilen »monarchischen Prinzip«, das im Grunde genommen eine Rationalisierung der Monarchie bedeutete und selbst in der revolutionären Phase um 1800 entstanden war. Der Monarch war nach dem Wiener Kongress nicht mehr Kern und Quelle, sondern Träger und Ausdruck der Souveränität, die auf den Staat überging. Infolge seiner politisch-ideologischen Schwäche fand dieses Prinzip seine Legitimation in religiösen Sinnzusammenhängen, in einem modernisierten Gottesgnadentum, machte sich aber gleichzeitig – und hierin liegt die Kontinuität zum napoleonischen Kaisertum – Kirche und Religion zum Untertan. Nicht mehr das Jenseits also, sondern der diesseitige Staat selbst wurde zum Letztwert der staatlichen Legitimation.293 Dies galt auch für die Katholizismen der Habsburgermonarchie: Sie versahen den vormärzlichen Staat mit transzendentaler Legitimität, wurden von ihm aber zugleich in all ihren 290 Winter, Romantismus, S. 142, S. 154f., Zitat S. 154; Johnston, Kulturgeschichte, S. 280f. 291 Marx, Zensur, S. 14; das Innsbrucker Gubernium ermahnte die Ordinariate explizit, alle gedruckte und ungedruckte Kommunikation mit dem Klerus den Zensurstellen zur Genehmigung vorzulegen: DAB, KA 1837, Fs. 32, Nr. 18, 10. 02. 1837. 292 Bastgen, Neuerrichtung, S. 325–327; zum placetum regium allgemein (für Tirol) Mühlberger, Absolutismus, S. 381–384; Lanzinger, Verwaltete Verwandtschaft, S. 102–108. 293 Schlögl, Alter Glaube, S. 184–208, Zitat S. 194; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 902f.; Kirsch, Trasformazione. Brunner, Gottesgnadentum, stellt beide diskursiven Figuren in ein genealogisches Verhältnis und bezeichnet das »monarchische Prinzip« als »Endstadium des Gottesgnadentums« (S. 186).
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strukturellen und kommunikativen Zusammenhängen kontrolliert und begrenzt – und dienten ihm darüber hinaus als antirevolutionäres Herrschaftsinstrument. So waren die Bischöfe der Habsburgermonarchie seit 1804 – kurz nach der Errichtung des Kaisertums – angehalten, dem Kaiser regelmäßig Berichte aus ihren Diözesen zu unterbreiten. Auch die Bischöfe Österreichs waren damit gewissermaßen »Diener zweier Herren«: Nicht nur der Papst musste durch sogenannte »Visitationsberichte« über den geistlichen, sittlichen und moralischen Zustand der Diözesen unterrichtet werden, sondern nun auch der Kaiser – der sich darüber hinaus vor allem für die Umsetzung staatskirchlicher Normen sowie für wirtschaftliche und politische Zustände interessierte.294 »Provinzialisierung« bedeutete im Tiroler Fall mithin eine mehrdimensionale, umfassende, und, erstmals in der Geschichte der Region, auch beständige Einbindung in ein zentralistisches Verwaltungs- und Regierungssystem. Ähnlich verbittert wie die Urteile der Zeitgenossen über das bevormundende, reglementierwütige und prinzipiell misstrauische Beamtensystem war innerhalb des Katholizismus der Unmut über das enge Korsett, in das der vormärzliche Staat die christlichen Kirchen in ganz Europa presste.295 Parallel zum Übergang Tirols vom Land zur Provinz degradierte das vormärzliche Staatskirchensystem die beiden ehemals politisch und vor allem kirchlich gegenüber Österreich weitgehend autonomen Bistümer Trient und Brixen zu provinziellen »Kanzleianstalten«,296 die im vormärzlichen System einen wichtigen aktiven Part einnahmen, diesem System jedoch zugleich selbst ausgesetzt waren. Ein wortgewaltiges Zeugnis dieser vormärzlichen Grundparadoxien bietet die berühmte Reformschrift Rosminis »Delle cinque piaghe della Santa Chiesa«, worin der Roveretaner Philosoph die prägenden Erfahrungen mit der österreichischen Staatskirche und der vormärzlichen Bürokratie geradezu autobiographisch verarbeitete. Wenn er sich nostalgisch der Urkirche zuwandte und eine befreite, politisch und staatlich weitgehend unabhängige, aber auch arme und bescheidene Kirche forderte, dann formulierte er in großen Zügen als Gegenmodell zum vormärzlichen Staatskirchenstystem jene liberalkatholische Variante der »Kirchenfreiheit«, die er 1848 öffentlich zur Diskussion stellte.297 Die vormärzliche Provinzialisierung von Kirche und Religion hatte drastische Folgen: Religion 294 Weinzierl, Visitationsberichte. 295 Grisar, Tschiderer, S. 187–194, stellt dagegen den Vormärz als Epoche der harmonischen und gegenseitig vorteilhaften Koexistenz zwischen Kirche und Staat dar. Allerdings projiziert Grisar das gute Verhältnis seines Protagonisten zum bürokratischen Staat auf den gesamten Katholizismus. 296 Chowanetz, Mission, S. 11. 297 Rosmini hatte zur Zeit der ersten Niederschrift der »Cinque Piaghe«, zwischen 1830–1832, nicht nur das österreichische, sondern auch das piemontesische Staatskirchensystem vor Augen: Marchetti, Trentino, S. 95–118; Zovatto, Rigler, S. 13, S. 21, S. 29f., S. 51.
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wurde politisiert und bürokratisiert, monarchische und staatliche Herrschaft sakralisiert. Indem Religion zum administrativen Pfeiler des bürokratischen Obrigkeitsstaates und des »monarchischen Prinzips« wurde, geriet sie zur politischen Option. Über Herrschaft und Staat zu diskutieren, bedeutete unweigerlich auch über Religion zu sprechen – oder umgekehrt: »Über Theologie und Kirchenverfassung ließ sich nicht mehr ohne Rücksicht auf politische Parteinahmen streiten.«298 Wohl kaum jemand brachte die katholische Erbitterung über diesen Zustand so drastisch auf den Punkt wie der mit dem Deutschkatholizismus sympathisierende, österreichische Schriftsteller Joseph Chowanetz, der 1850 im Blick zurück auf den Vormärz klagte: »Der Mensch wie ihn Gott schuf, die Kirche erzieht und der Staat braucht, war ausgestorben in Oesterreich, statt seiner gab es nur Staatspuppen, verschiedenen Ranges und verschiedener Klasse, vom Mechanismus getrieben, am Schnürchen gelenkt. Mit diesem Schutz ging der Katholizismus sicherer zu Grunde, als unter der ärgsten Befeindung. Nie sah man eine Staatskirche, welche mehr eine ecclesia pressa war, als die österreichische seit Joseph.«299
Wie viele andere Zeitgenossen erklärte sich auch Chowanetz die Revolution 1848 durch eine weit verbreitete Entsittlichung und einen allgemeinen Abfall vom Glauben, den das österreichische Staatskirchensystem hervorgebracht habe. Dabei blendete er allerdings aus, dass die europäischen Katholizismen durch ihre eigene vormärzliche Politisierung einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Ausbruch der Revolution leisteten und im Revolutionsjahr selbst zu den tragenden Säulen der neuen politischen Öffentlichkeit gehörten.
2.2. Entgrenzungen: Mediale Ausbrüche aus der Provinz Denn so umfassend-umständlich der bürokratische Absolutismus die vormärzliche Gesellschaft auch zu überformen suchte, so war er dennoch keinesfalls perfekt oder gar total, wie die Klagen seiner zeitgenössischen Kritiker suggerieren.300 Löst man sich von der Vorstellung des gemeinhin für die Geschichte der Habsburgermonarchie als dominant beschriebenen »langen Schatten des Staates« (E. Hanisch),301 der insbesondere den Vormärz in einen trostlosen 298 Schlögl, Alter Glaube, S. 157–183. 299 Chowanetz, Mission, S. 12. Zu Chowanetz Chowanetz, Joseph Johann (Julian Feodor), in: DBE 2, S. 329. 300 Nipperdey, Bürgerwelt, S. 285, S. 341f. 301 Hanisch, Schatten.
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Zustand des politischen »Stillstandes«302 versetzt habe, und wechselt von der Perspektive der Wiener Zentrale, die der Prozessbegriff der Provinzialisierung zunächst impliziert, auf die regionale Ebene und nimmt die regionalen Selbstbeschreibungen und Handlungsspielräume in den Blick, so öffnet sich ein spannungsreiches Szenario, das in hoher Auflösung die Grenzen der Provinzialisierung und des vormärzlichen Staates sichtbar werden lässt.303 Dabei sind besonders auch die klassischen Narrative einer statischen, apathischen vormärzlichen Gesellschaft, die sich eine biedere Häuslichkeit als apolitisches Refugium schuf, wie auch jene des schier undurchdringlichen Kordons, mit dem ein allmächtiger Staatskanzler Metternich die Habsburgermonarchie umzäunt und von der Teilnahme an der deutschen Reform- und Nationalbewegung abgehalten habe, zu relativieren. Besonders Dieter Langewiesche beschrieb für die 1840er Jahre ein Ausscheiden »Österreichs« aus der deutschen Nationsbildung, da nationalisierende Instanzen, die er vor allem in den nationalen Bewegungen der Sänger und Turner, aber auch in den freireligiösen Gemeinden festmacht, in den habsburgischen Gebieten kaum Fuß fassen konnten.304 Diese Argumentation blendet jedoch die konstitutive Medialität dieser Bewegungen aus, die, aller »metternichschen Zensur« zum Trotz, auch »Österreich« erreichte und sich auch hier auswirkte.305 Der historiographische Diskurs des »Modernitätsgefälles« zwischen »Österreich« und »Deutschland« reproduziert vielmehr den politischen Gehalt des liberalen Projektes der Moderne, als es zu beschreiben. Er wird der Komplexität des Vormärz jedenfalls nicht gerecht: Österreich und besonders Tirol waren von keiner »chinesischen Mauer« umgeben, die eine retardierte österreichische Gesellschaft vom modernen 19. Jahrhundert hermetisch abgeriegelt hätte.306 Dies war nicht zuletzt den vormärzlichen k.k. Beamten, wie etwa dem Innsbrucker Bücherrevisor Professor von Mersi, selbst bewusst: »Zweitens ist Tirol eine Gränzprovinz [meine Hervorh.], und steht daher mit den in literärer Beziehung fruchtbarsten Staaten des Südens und Nordens Deutschlands in
302 Brunner, Staat, der allerdings auch betont, dass unterhalb der staatlich-bürokratischen Ebene im Vormärz durchaus ein »tiefgreifender […] sozialer Umbildungsprozess im Gange« gewesen sei (S. 48). 303 Langewiesche, Nation, S. 174–176; Sheehan, History. 304 Langewiesche, Nation, S. 181f. 305 Holzem, Kirchenreform, S. 128–177. 306 Hanisch, Marx, S. 33f.; Stern, Klischee; Götz, Bürgertum, S. 45–50, Zitat S. 45; Saurer, Grenzkontrolle. Dagegen behauptet Hartungen, Sozialgeschichte, S. VI: »In Tirol spürte man freilich wenig von diesen bevorstehenden weitreichenden Veränderungen und dem manchmal bedrohlichen Grollen in Italien, Frankreich und Deutschland«, oder S. VII, dass das vormärzliche Tirol »noch weitgehend unbeeinflusst vom umgebenden Ausland« gewesen sei.
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Provinzialisierung und Deprovinzialisierung
einem Bücherverkehr, der den Geist des Lebens nährt, und uns die ausländischen Werke weit früher zuführt, als die Zensursnoten darüber von Wien ankommen.«307
Im Folgenden wird vielmehr die These vertreten, dass Tirol als multiples Grenzland gerade im Vormärz in ein neues Naheverhältnis zu seiner nördlichen und südlichen Nachbarschaft trat, aktiven und passiven Anteil an der religiösen und politischen Entwicklung im Norden wie im Süden nahm und bisweilen als politisches Laboratorium der Monarchie wirkte. Dabei diente besonders der transnationale catholic turn der 1840er Jahre als medialer Treibriemen, der den Zugriff des Zentralstaates brüchig werden ließ und die »unruhigen 1840er Jahre«308 in Tirol einleitete. Dass die vormärzliche Provinzialisierung dabei die Rahmenbedingungen ihrer eigenen Durchbrechung bereitstellte, ja diese sogar beförderte, ist nur ein weiterer Aspekt der eigentümlichen Paradoxien des österreichischen Vormärz.309 So produzierten zunächst die neue staatliche Situation nach 1815/16 und der Wegfall alter, scheinbar überzeitlicher Institutionen und Ordnungsvorstellungen eine bestimmte semantische Leere, ein Sinnvakuum, das erst in den 1830er Jahren durch neue Gesellschaftsbeschreibungen gefüllt wurde, die dann allerdings eine nachhaltige politische Wirkungskraft entfalteten.310 Gerade die restriktive Religionspolitik des vormärzlichen Staatskirchentums sodann, die Langewiesche als einen Indikator für »Österreichs Selbstausschluss« aus der deutschen Nationsbildung bewertet, versah Tirol mit einer neuen und verstärkten Aufmerksamkeit des deutschen Sprachraums und machte es zu einem zentralen Gegenstand der frühen konfessionellen Öffentlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Die romantische Faszination für die alpine Bergwelt und die erstaunliche Vielfalt an ekstatischen und stigmatisierten Jungfrauen, die im südlichen Tirol nach 1830 in Erscheinung traten, ließen Tirol in Europa neben der Schweiz als Prototypen einer exotisch-rückständigen, mystisch aufgeladenen Bergidylle erscheinen und nährten die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeiten für den tirolisch-trentinischen Grenzraum.311 Das Bild dieser Alpenregion und ihrer Menschen war vielfach vage und unbestimmt, sodass etwa »Der Katholik«, das führende deutschsprachige katholische Blatt der 307 Bericht über das Zensurwesen in Innsbruck vom 17. 11. 1824, zitiert in: [Rapp], Voglsanger, S. 21. Wolf, Zeitungen, S. 4. Ähnlich bereits die Argumentation des provisorischen Landeschefs Anton von Roschmann, der in einem Bericht an die Zentral-Organisierungs-HofKommission aufgrund der starken Verbindungen Tirols nach Nord und Süd besondere Zensurmaßnahmen zu ergreifen empfahl. Der Bericht vom 15. 02. 1815 ist in ebenda, S. 5f., auszugsweise wiedergegeben. 308 Langewiesche, Europa, S. 68. 309 Kap. 7. 310 Mergel, Bürgertum, S. 95; Heiss, Land; Nequirito, Tirolo. 311 Stannek, Frömmigkeit.
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1830er Jahre, sich veranlasst sah, nähere statistische Angaben über dieses merkwürdige Alpenland zu liefern, das besonders durch die »Zillertaler Frage« zu »trauriger Berühmtheit« gelangt sei.312 Dieser intensivierte, aber vielfach unscharfe Blick von außen begünstigte und verstärkte auch eine immer selbstbewusstere Haltung der Führungsschichten Tirols, die innovative Wege des »Ideenschmuggels«, der öffentlichen Debatte über nationale, religiöse und räumliche Aspekte des jungen habsburgischen Kronlandes Tirol suchten und fanden. In der Tat erwuchs im Norden wie im Süden der Region, in weltlichen wie in kirchlichen Institutionen, immer häufiger das Bedürfnis, selbst zu bestimmen, was unter »Tirol«, der eigenen greifbaren, räumlichen wie auch religiösen Umwelt, zu verstehen sei. Ein Ergebnis dieses verstärkten Bedürfnisses der Selbstbeschreibung war schließlich die Etablierung neuer Medien. Besonders die in Innsbruck ab 1843 erscheinende Zeitschrift »Katholische Blätter aus Tirol« nahm eine zentrale Funktion als überregionale Kommunikationsplattform ein, während im südlichen, italienischsprachigen Tirol weiterhin Kommunikationsformen unter Anwesenden dominierten. Der entmachtete Innsbrucker Landtag – eigentlich: Kongress – begleitete und reflektierte schließlich dieses neue Selbstbewusstsein und entwickelte sich zum konservativen politischen Erprobungsfeld, sodass Hans Heiss die Versammlung sogar als »Ort einer konservativen Neubegründung des Landes« bezeichnete.313 Tatsächlich konnte das ständische Gremium, obwohl ohne unmittelbare politische Kompetenz und vor allem weitgehend von der Öffentlichkeit abgeschnitten, in bestimmten Sachfragen große politische Gestaltungskraft entfalten und sich als Gesprächspartner der Wiener Zentralregierung etablieren.314 Entlang dieser umrissenen Themenfelder soll im Folgenden nachgezeichnet werden, wie die entscheidende Phase des Übergangs von 1830 bis 1848 zu tiefgreifenden semantischen Neukonfigurationen führte und wie räumliche bzw. nationale Selbstbeschreibungen grundlegend mit der religiösen Wende des »neuen Katholizismus« der 1840er Jahre verflochten waren.315 Entgegen den klassischen Annahmen zur überpersonalen Kommunikation in Zeiten der Zensur, stellten gerade die Medialität und die Transnationalität der öffentlichen Diskussion ein Vehikel der vormärzlichen De-Provinzialisierung Tirols dar ; konsequenterweise dienen sie auch als zentrale Analysesonden und Tragwerk der folgenden Abschnitte.
312 Kirchlich-statistische Notizen über Tyrol (Beilage VI), in: Der Katholik 18 (1838), S. CVIII– CXV, S. CVIII. 313 Heiss, Land, S. 37. 314 Kap. 3.2.; Kap. 7.1.; Schober, Landtag, S. 73–75. 315 Clark, Catholicism.
3.
»1837« als Tiroler »Normaljahr«: Die Zillertaler Ausweisung und die konfessionelle Publizistik
3.1. Im Sog der konfessionellen Polemik: Verarbeitungen eines vormärzlichen Traumas Eine Geschichte der Katholizismen Tirols ist kaum denkbar, ohne die im Spätsommer 1837 erfolgte Ausweisung der 427, sich als Protestanten Augsburger Konfession bezeichnenden Zillertaler, zu berücksichtigen. Dieses weithin aufsehenerregende Ereignis, seine Vor- und Nachgeschichte prägten nicht nur das Bild Tirols, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts besonders im deutschen Sprachraum mit einer spezifischen politisch-religiösen Signatur versehen, festigte. Ebenso entscheidend wirkte es auf die öffentlichen Diskussionen über das Katholische in Tirol selbst ein. »1837«, das Jahr der Ausweisung, wurde gleichsam zu einem »tirolischen Normaljahr«, zu einer – nicht nur für die dünne Schicht der Liberalen Tirols – traumatischen Grunderfahrung, die die nachfolgenden politischen Bruchlinien deutlich vorzeichnete.316 Die klassische Landesgeschichte mied das Thema sorgsam und widmete ihm neben vereinzelten Aufsätzen lediglich zwei einschlägige, wissenschaftliche Seriosität beanspruchende Monographien; auch in den breiter angelegten landesgeschichtlichen Überblickswerken wurde das Thema zwar angepeilt, insgesamt aber lediglich en passant behandelt.317 Dieses geringe wissenschaftliche Interesse sollte jedoch nicht auf eine ähnlich dürftige öffentliche Aufmerksamkeit schließen lassen, vielmehr verfestigte sich das traurige Schicksal der Zillertaler Glaubensgemeinschaft zu einem prägenden Tiroler Erinnerungssediment, das bis in die jüngste Vergangenheit – regelmäßig neu inszeniert – zur
316 Götz, Bürgertum, S. 108. 317 Gasteiger, Protestanten; Sauser, Inklinanten. Fontana, Restauration, S. 625f., widmet dem Thema zwei Seiten, ebenso Gelmi, Geschichte, S. 305–307. Breiter wird das Thema in – ungedruckten – Dissertationen behandelt: Nagl, Auseinandersetzung, S. 45–70; Maneschg, Chotek, S. 261–276; Rainer, Vormärz, S. 276–286.
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»1837« als Tiroler »Normaljahr«
öffentlichen Debatte gelangte.318 Im Vormärz war in Österreich bzw. in Tirol eine eingehende öffentliche Reflexion über die Ausgrenzung und anschließende Ausweisung der Zillertaler noch unmöglich, obwohl dieses eklatante Ereignis im literarischen Untergrund durchaus verarbeitet wurde. So findet sich das Schicksal der Zillertaler Glaubensgemeinschaft immer wieder in der antijesuitischen Lyrik der politischen Schriftsteller Hermann von Gilm oder Adolf Pichler. Bezeichnend für diese frühe Rezeption ist die handschriftliche Verbreitung ihrer Texte, die erst Jahrzehnte später gedruckt wurden, sowie die Anklage gegen die vormärzlich-konservative Gegenwart, die in der Verknüpfung der Ausweisung (1837) mit der Berufung der Jesuiten nach Tirol (1838) ihren Ausdruck fand: »Schon sind sie fern und es beginnt zu dämmern Da hört man leise einen Finger hämmern Am andern Tor des Landes und ›herein!‹ ruft drinnen eine Stimme lispelnd fein. ›Gelobt sei Jesus Christus!‹ Paar an Paar Ziehn Jesuiten ein in voller Schaar : Aufs neu beginnt der Kampf, bis hell dein Kranz, Tiroleradler! Flammt im Morgenglanz.«319
Öffentlich spitzte sich die Diskussion um die Ausweisung in Tirol erst in den folgenden Jahrzehnten, dann aber regelmäßig und sehr polemisch zu, wobei kontingente politische Diskurse die Akzente der öffentlichen Erinnerung immer wieder neu setzten. Besonders während des Kulturkampfes der 1860er und 1870er Jahre diente das Ereignis als Hintergrundfolie für das zerrüttete Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Antikatholischen Positionen bot die Ausweisung einen eindrucksvollen Beleg für die unheilvollen Konsequenzen der vormärzlichen Verbindung zwischen Staat und Kirche; die Erinnerung an die Ausweisung diente hier gleichsam als geschichtsmächtiges Plädoyer für das liberale Projekt des Ausschlusses von Kirche und Religion aus dem öffentlichstaatlichen Raum.320 Ultramontane Katholiken versuchten dagegen, in umständlichen rechtshistorischen Abhandlungen die Ausweisung als einen zwar bedauernswerten, insgesamt aber legitimen Akt zu rechtfertigen: Entgegen den noch im Vormärz dominanten katholischen Fremdbeschreibungen, die den Zillertalern jede Konfession absprachen, lehnte der ultramontane Katholizismus 318 Es ist insofern bezeichnend, dass auch die neuere Forschung zu Tiroler Erinnerungskulturen das Thema ausblendet: Ertl [Hrsg.], Bausteine; jetzt aber Mazohl, Ausweisung. 319 »Die Vertreibung der Jesuiten« (1846), in: Pichler, Marksteine, S. 182–185, Zitat S. 185; »Die Liedertafel und die Jesuiten«, in: Gilm, Gedichte, S. 87–89; Kap. 7.1. 320 Borutta, Antikatholizismus, S. 267–351; Vocelka, Verfassung; Götz, Bürgertum, S. 446– 454; Inn-Zeitung Nr. 88, 18. 04. 1865; Nr. 262, 263, 264, 15., 16., 17. 09. 1865; Streiter, Blätter, S. 127–139; BTV Nr. 253, 04. 11. 1876; Innsbrucker Tagblatt Nr. 106, 09. 05. 1877.
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1848, insbesondere aber nach dem Erlass des Protestantenpatentes von 1861 generell das Niederlassungsrecht für Protestanten in Tirol ab. Diese neue Semantik der räumlich-konfessionellen Ausgrenzung beschrieb die Zillertaler nunmehr als Protestanten. Nicht mehr die Konfession der Zillertaler wurde mithin negiert, sondern prinzipiell die Gültigkeit der josephinischen Toleranz in Tirol; der ultramontanen Version der kulturkämpferischen Rezeption diente »1837« mithin als warnendes Argument zugunsten einer juristisch untermauerten Monokonfessionalität Tirols. Paradoxerweise bestritten dem gegenüber nun die regierungsnahen Liberalen die Augsburger Konfession der Zillertaler, um die historische Wirksamkeit des Toleranzpatentes und des im politischen Tagesgeschäft zwischen 1861 und 1863 in Tirol besonders umkämpften »Protestantenpatentes« zu legitimieren.321 Die religiöse Beschreibung der Zillertaler Ausgewiesenen verkam innerhalb der kulturkämpferischen Öffentlichkeit zum politisch opportunen und damit auch beliebigen Argument.322 Im Kontext dieser erhöhten medialen Aufmerksamkeit erfuhr die Ausweisung durch den Tiroler Historien- und Genremaler Mathias Schmid auch ihre nachhaltige Visualisierung. Der in München wirkende und 1871 zu den Gründungsmitgliedern der Münchener altkatholischen Gemeinde zählende Künstler verbildlichte durch eine ganze Reihe von Gemälden liberale, antikatholische Diskurse und wählte als Bühne für seine antiklerikale Genremalerei das ihm bestens vertraute Tiroler Landleben. Seine Werke präsentierten eine rückständig-düstere, »unaufklärbare« ländliche Szenerie, durchtränkt von einer allmächtigen klerikalen Herrschaft, die die häufig gebeugt oder kniend dargestellten, verarmten Tiroler Bauern in ihrem Elend erbarmungslos knechtet. Mit »Gefesselte Tyrolia« (1870) brachte Schmid diese liberale Grundhaltung des Kulturkampfes allegorisch auf die Leinwand: Ein Geistlicher fesselt eine wehrlose Jungfrau, die »Tirol« versinnbildlicht, an ein Kreuz: Hier befanden sich nicht mehr wie in anderen seiner Bilder die Bauern, sondern gleich die gesamte Region »Tirol« unter klerikaler Kuratel. Schmids Bilder, die besonders durch Reproduktionen in der illustrierten Zeitschrift »Die Gartenlaube« im deutschen Sprachraum weithin Verbreitung fanden und, wie ein zeitgenössischer Kommentator bemerkte, zum »Gemeingut aller Gebildeten« zählten, verliehen somit dem Tiroler Kulturkampf eine neue mediale Dimension, die über dessen Leitmedien – das gedruckte Wort und die Karikatur –
321 Tinkhauser, Glaubenseinheit, S. 10–18; Waren die Inclinanten Zillerthals wirklich Protestanten ausgsburgischer Confession?, BTV Nr. 40, 19. 02. 1863; Gehörten die Zillerthaler Inklinanten zur Augsburger Confession?, TirStim, Nr. 74, 75, 76, 02., 04., 05. 04. 1863; Fontana, Kulturkampf, S. 44–57; Ospelt, Protestantenpatent. Zu 1848 mit zahlreichen Belegen Gschließer, Einheitsbewegung, S. 75f. 322 Giovanelli, Familiengeschichte, S. 6333.
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Abb. 2: Mathias Schmid, Die Karrenzieher, 1872.
deutlich hinausreichte und dadurch selbst zum Gegenstand der Tiroler Kulturkämpfe wurde.323 Sein 1877 fertiggestelltes Gemälde »Der Auszug der Zillerthaler« inszenierte das historische Sujet der Ausweisung somit aus einer pointiert antikatholischen, religiös-politisch motivierten Perspektive des Kulturkampfes. Im Vordergrund des Gemäldes steht, in eine stumme und bedrückende Stimmung getaucht, die dramatische Szene der Auswanderung. Schwer beladene, versteinert blickende Männer, gebeugte, mit Medaillen aus den Freiheitskriegen versehene Greise, Frauen und Kleinkinder ziehen einer unsicheren Zukunft entgegen, während sich der zweite Teil des Trecks, unter dem unduldsam-ungeduldigen Blick eines Polizeidieners, ein letztes Mal gegen die Tiroler Heimat zurückwendet, die Schmid durch einen markant konturierten Kirchturm allegorisierte.324 Schmids 323 Wildmeister, Gartenlaube, S. 53–75; Luger, Schmid, S. 28–72; Borutta, Antikatholizismus, S. 183–191, das Zitat stammt aus Ludwig Ganghofer, Mathias Schmidt, in: Die Gartenlaube 1884, Nr. 37, S. 606–608, S. 608, zitiert in: Wildmeister, Gartenlaube, S. 278. 324 Ammann, Schmid; Moser-Ernst, Wirklichkeit, die allerdings auf S. 289 betont, das Gemälde (1877) habe die literarische Tradition der Rezeptionsgeschichte »vor der textlichen Erinnerung« gleichsam mitbegründet, eine These, die in Hinblick auf die textliche Verarbeitung der Ereignisse 1848 und nach 1860 nur schwer haltbar ist. Darüber hinaus florierte
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Abb. 3: Mathias Schmid, Die Vertreibung der Zillertaler Protestanten im Jahre 1837. Der letzte Blick in die Heimat, 1877.
auf antikatholischen Diskursen basierende Abrechnung mit dem »katholischen« Tirol verdrängte ältere, zeitnähere Darstellungen und etablierte sich zum visuellen Referenzpunkt der Zillertaler Ausweisung. Bis zuletzt griffen Publikationen und Medien aller Art auf dieses Bild des Kulturkampfes zurück, um die Zillertaler Ausweisung zu visualisieren; eine liberale Perspektive aus der zweiten Jahrhunderthälfte wurde somit gleichsam zur bildlichen Signatur des Tiroler bzw. österreichischen Vormärz. Nach 1900 verlor die öffentliche Erinnerung an das Ereignis ihre kulturkämpferische Funktion, sie wurde aber, wie bereits zwischen den Fronten des Kulturkampfes, in Form von Erbauungsliteratur, Erinnerungsschriften und romanhaften, fiktionalen Erzählungen weiterhin öffentlich tradiert.325 In den 1930er Jahren rückte besonders Viktor Bibl die Geschichte der Zillertaler in einen nationalistischen Deutungsrahmen und beklagte an mehreren Stellen – wie bereits Heinrich von Treitschke 40 Jahre vor ihm – die Ausweisung als nationale Untat Metternichs, die die staatliche Entzweiung Deutschlands im
bereits seit den 1830er Jahren außerhalb Tirols eine vornehmlich protestantische ZillertalPublizistik: Kap. 3.4; Borutta, Antikatholizismus, S. 183f.; Jäger, Sprache. 325 Praxmarer, Auswanderer ; Federer, Auswanderer ; Peter Moser, Vaterliebe. Eine Begebenheit aus den Tagen der Zillerthaler-Auswanderung, Die Dorflinde 1866, Nr. 7, S. 56; Egger, Bischof.
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19. Jahrhundert entscheidend beschleunigt habe.326 Ein erneuter Rezeptionskomplex setzte zum 150. Jahrestag der Ausweisung in den 1980er Jahren ein, der erstmals nach langen Jahrzehnten der politischen und konfessionellen Kontroversen einen versöhnlich-ökumenischen Tenor einführte. Felix Mitterers 1987 im Zillertal, gleichsam am historischen Originalschauplatz, uraufgeführtes Drama »Verlorene Heimat« stellte schließlich als bitter-tragische Verarbeitung der Ausweisung einen vorläufigen Abschluss der breitenwirksamen Rezeptionsgeschichte dar.327 Helga und Horst Bast, Nachfahren ausgewiesener Zillertaler, legten 2012 schließlich eine in ihrer Dichte und Illustration eindrucksvolle Familien- und Häusergeschichte der Zillertaler Glaubensgemeinschaft vor, die vor allem durch ihre objektive und erstaunlich nüchterne Darstellung besticht.328 Vor dem Hintergrund dieser multimedialen und politisierten Erinnerung an die Zillertaler Ausweisung wird nachvollziehbar, dass eine (politisch-konfessionell) zweckfreie wissenschaftliche Annäherung nur in Ausnahmefällen angestrebt wurde, wogegen das mangelnde historische Wissen einseitigen politischen Interpretationen der Zillertaler-Frage günstige Voraussetzungen bot. Wie emotional aufgeladen und erhitzt die Diskussionen noch zu Beginn der 1960er Jahre verliefen, zeigt die breite Resonanz, die die 1959 erschienene Dissertation Ekkart Sausers erfuhr. Sauser bediente sich in seiner, von ihm selbst als »apologetisch« bezeichneten kirchengeschichtlichen Arbeit weitgehend der zeitgenössischen ultramontanen Sprache, definierte die Ausgewiesenen als »typische Irrgläubige bzw. Sektierer« und rechtfertigte damit die Ausweisung als legitime Maßnahme.329 Diese apodiktische, höchst selektiv argumentierende Position erntete bisweilen empörte Reaktionen, die weit über eine nüchterne wissenschaftliche Kritik hinausgingen. Kurz vor dem II. Vatikanum löste Sausers Dissertation einen Kulturkampf en miniature aus, in renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften wie auch in der Tiroler Tagespresse diskutierten Historiker und Theologen vor dem Hintergrund der Zillertaler Ausweisung die religiös-politischen Grundwerte der Toleranz und der Ökumene.330 Auch für die nachfolgende Geschichtswissenschaft blieb Sausers Dissertation ein negativer Referenzpunkt, der zwar im Detail stets zitiert wird, dessen konfessionell sehr 326 Bibl, Emigration, S. 98; ders., Metternich, S. 314–318; ders., Österreich, S. 29; Treitschke, Geschichte, S. 568. 327 Mitterer, Heimat. 328 Bast/Bast, Familien. 329 Sauser, Inklinanten, S. 54–88, Zitat S. 55; allgemein Weichlein, Geschichtsschreibung. 330 Huter, Besprechung; Dörrer, Die Zillertaler Inklinanten; Lentze, Besprechung; Maaß, Besprechung; Kühnert, Besprechung. Darüber hinaus erschienen zwischen 1959 und 1960 Rezensionen von Hans Kramer, Fritz Steinegger, Karl Paulin und Anton Dörrer im »Tiroler Volksbote«, der »Tiroler Tageszeitung«, den »Tiroler Nachrichten« sowie den »Dolomiten«.
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gebundener Zugang und dessen Ergebnisse aber entschlossen abgelehnt werden. Werner Maleczek attestiert der Arbeit gar einen »eigentümlichen gegenreformatorischen Geist«.331 Der »Fall Sauser« ist indes gleich auf mehreren Ebenen instruktiv für die vielschichtig verflochtene Rezeption der Zillertaler Ausweisung in Wissenschaft und politisch-konfessioneller Öffentlichkeit. Zunächst: Das Interesse der Historiographie wie auch der öffentlichen Auseinandersetzung kreiste im Wesentlichen um die »Schuldfrage« der Ausweisung, wobei sich drei Positionen herauskristallisierten: eine ultramontan-katholische, die den Ausgewiesenen selbst die Schuld für die eigene Expulsion anlastete, eine liberal-protestantischnationalistische, die eine staatlich-kirchliche Intoleranz anklagte und schließlich eine intermediäre, die die Ausweisung in den politisch-sozialen Kontext des Vormärz stellte und alle beteiligten Akteure gleichermaßen belastete.332 Hiermit eng verbunden war zweitens ein weiterer Fragenkomplex, der die umstrittene Konfessionszugehörigkeit der Zillertaler fokussierte. Auch hier drifteten die Positionen freilich geradezu diametral auseinander, wie in den allermeisten Fällen bereits an den Titeln der einzelnen Beiträge ersichtlich wird, die bis zuletzt entweder von »Inklinanten«, »Evangelisch-Gesinnten« oder entschieden von »Protestanten« sprachen. Hier wurden mitunter unreflektiert zeitgenössische Begriffe übernommen, die mit einem beträchtlichen Ballast an politisch-religiöser Semantik »kontaminiert« sind (R. Schlögl) und dadurch erhebliche inhaltliche Vorentscheidungen treffen, die sich mit den eigentlichen Thesen und Argumentationen der Texte freilich häufig nicht decken.333 Im Folgenden wird zur Benennung der Zillertaler diese politisch-religiös vorbelastete Terminologie vermieden und dagegen in Anlehnung an eine der wenigen überlieferten Selbstbeschreibungen der Gruppe von »religiöser Gemeinschaft« oder allgemeiner, von »Glaubensgemeinschaft« gesprochen.334 Über diese eng bemessenen Erkenntnisinteressen hinaus war die historiographische Bearbeitung der Ausweisung erheblich von konfessionellen Grenzen 331 Maleczek, Glaube, S. 4158; Hölzl, Zillertaler, nennt Sauser einen »orthodoxen Kleriker« (S. 171, Anm. 3), entgegen dessen Thesen er die »wahren Hintergründe« (S. 149) freilegen wolle. 332 Zur katholischen Position Sauser, Inklinanten; Rainer, Vormärz, S. 276, der die Ausweisung gar als »glückliche Endlösung« bezeichnet. Zur zweiten Position, neben den Angaben in Anm. 341 Bibl, Emigration; Hartungen, Sozialgeschichte, S. 369–394. Die ausgewogenere, dritte Position findet sich am ausführlichsten bei Gasteiger, Protestanten. 333 Schlögl, Alter Glaube, S. 253. Beispiele bei Maleczek, Glaube, der den diffamatorischen Gehalt des Begriffs durchaus reflektiert, ihn aber dennoch verwendet, oder Völker, Inklinanten. 334 Drei Abgeordnete der Gruppe bezeichneten sich in einer Petition an Kaiser Franz I. vom 30. Juni 1832 als Vertreter einer »religiösen Gemeinheit«. Die Bittschrift ist ediert in Sauser, Inklinanten, S. 91f.
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bedingt, ja man könnte von einem Paradebeispiel einer von »blinden Konfessionsflecken« durchzogenen »Konfessionshistorie« sprechen.335 Während katholische Texte prinzipiell seltener waren, etablierte sich eine veritable protestantische Geschichtskultur zur Zillertaler Ausweisung, die in einschlägigen Monographien, vor allem aber im »Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich« wichtige Einsichten in das Thema eröffnete. Neben dem Geheimprotestantismus, den Massenausweisungen des 17. und 18. Jahrhunderts und dem Toleranzpatent Josephs II. entwickelte sich die Ausweisung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft zu einem zentralen Element der konfessionellen Selbstvergewisserung des deutschsprachigen Protestantismus in Österreich.336 Verhinderten Konfessionsgrenzen eine eingehende gegenseitige Wahrnehmung der katholischen und protestantischen Geschichtsdiskurse, so war ihnen jedoch – viertens – eine starke Verflechtung mit außerwissenschaftlichen Diskursen gemein: Geschichte diente hier in erster Linie keinem wissenschaftlichen Selbstzweck, sondern vielmehr der konfessionellen Selbstbeschreibung.337 Diese historiographische bzw. öffentlich-publizistische Gesamtkomposition führte zur paradoxen Situation, dass, abgesehen von der penibel dokumentierten Ereignisgeschichte, die bereits seit 1900 als weitgehend erforscht gelten kann, das historische Wissen um die Zillertaler Ausweisung eigentümlich karg geblieben ist. So sind etwa ausgerechnet die so intensiv diskutierten Glaubensvorstellungen und die religiösen Praktiken der Zillertaler nahezu unbekannt und methodisch wohl kaum erschließbar. Sie haben kaum Zeugnisse ihres Glaubens hinterlassen, Tagebücher, Briefe, Memoiren oder sonstige Selbstreflexionen, die eingehendere Beschreibungen ermöglichten, sind äußerst rar. Auf der Basis des vorhandenen Quellenmaterials, vorwiegend Fremdbeschreibungen des katholischen Klerus und protestantischer Geistlicher bzw. Besucher des Tals, mithin von stark interessengeleiteten Akteuren, lassen sich nur wenig verlässliche Informationen gewinnen.338 Überblickt man abschließend die gesamte Historiographiegeschichte zur 335 Ziemann, Sozialgeschichte, S. 9–16; Klieber, Lebenswelten, S. 18; Metzger, Religion, S. 220–279; Graf, Wiederkehr, S. 38, hier auch das erste Zitat; das zweite bei Schieder, Sozialgeschichte, S. 11, Anm. 4. 336 Leeb, Profil; Barton, Loesche; Reingrabner, Protestanten, S. 233; Gottas, Protestantismus, S. 569–572; Die Entstehung der Gesellschaft, in: JGPÖ 1 (1880), S. 1–10; Obermeir, Protestanten, S. 29f. Als zentrale Texte dieses Diskurses: Scheichl, Glaubensflüchtlinge; Loesche, Zillertaler-Nachlese; ders., Duldung; ders., Geschichte; ders., Beiträge; Passler ; Bewegung; Bibl, Schlossruine; Völker, Protestantenpatent; ders., Inklinanten; Bibl, Emigration. 337 Klug, Rückwendung, S. 398–405; Laube, Fest; Weichlein, Apostel; ders., Peitsche; Metzger, Transformationen; dies., Religion, S. 146–160. 338 Bahlcke, Glaubenscolonie, S. 180, S. 186; Leeb, Protestantismus, S. 43; Rheinwald, Zillerthaler, S. 55–60.
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Zillertalerfrage, so ist dem bereits 1937 von Karl Völker gefällten Verdikt einer wenig ertragreichen, in ihren Ergebnissen statischen, ja repetitiven und sich letztlich selbst umkreisenden Historiographie, nichts hinzuzufügen.339 Andererseits wurde das spärliche Wissen um die Zillertaler in den letzten 170 Jahren öffentlich weit verbreitet, in Romanen, Zeitungsartikeln, Schauspielen und zuletzt auch im Internet bildete sich ein weithin bekannter, bildlich eindeutig greifund zuordenbarer, von dominanten Narrativen geprägter Diskurs aus. Die Ausweisung gilt gemeinhin als eklatanter Abschluss der katholischen Gegenreformation, als anachronistischer Akt katholischer Intoleranz und das »Tirol« des 19. Jahrhunderts seither als ein »letzter Hort der Unduldsamkeit«.340 Bereits die führenden Persönlichkeiten der Zillertaler Gruppe stellten sich in die Tradition der Glaubensflüchtlinge des 17. und 18. Jahrhunderts, um ihren Status als konfessionelle Sondergruppe zu legitimieren und um interne Kohäsion zu schaffen. Diese Selbstbeschreibung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft wurde von zeitgenössischen Publikationen aufgegriffen und später von wissenschaftlichen Arbeiten kanonisiert – noch jüngste Publikationen sprechen von einer »konfessionellen Säuberung«.341 Diese Kontinuitätslinie, die die Zillertaler in die Ahnenreihe der verfolgten Protestanten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts stellte, verdeckte jedoch auch die Sicht darauf, wie der Katholizismus selbst auf die religiöse Devianz reagierte, wie er das »Andere« beschrieb. Mit anderen Worten: Dieses in der Geschichtsschreibung und im öffentlichen Diskurs dominante Narrativ setzte religiöse Grenzsetzungen gleichsam vorempirisch voraus, ohne jedoch zu fragen, wie diese Grenzen beschaffen waren und wie sie sich ausbildeten. Darüber hinaus rückten die Zuspitzung auf die »Schuldfrage« sowie die für die bundesrepublikanische und die österreichische Geschichtswissenschaft 339 Völker, Inklinanten, S. 109–124, zur Geschichtsforschung auf S. 122 lapidar : »Die Geschichtsforschung bewegt sich, wie wir sehen, im Kreise.« 340 Bahlcke, Glaubenscolonie, S. 182f.; Gsteu, Landtag, S. 151; das Zitat in: Innsbrucker Tagblatt Nr. 106, 09. 05. 1877. 341 So in einem Bittgesuch an Kaiser Franz vom 30. Juni 1832, abgedruckt in Sauser, Inklinanten, S. 91, oder in der Bittschrift der »Tyroler aus dem Zillerthale durch ihren Wortführer Johann Fleidl aus Zillerthal« an den preußischen König vom 27. Mai 1837, abgedruckt in Gasteiger, Protestanten, S. 104f.: »In unserem Vaterland wiederholt sich nach etwas mehr als hundert Jahren abermals ein Act der Verfolgung und Vertreibung.« Diese Verbindung wurde, neben der dichten konfessionellen Publizistik, erstmals von Schulze, Auswanderung, S. 204–229, in einer Monographie und mit Nachdruck in einen ursächlichen Zusammenhang gestellt. Vor allem Viktor Bibl bezeichnete die Ausweisung geradezu versessen als »ein Stück Gegenreformation«: Emigration, S. 98; ders., Schlossruine, S. 735; ders., Metternich, S. 314; Beheim-Schwarzbach, Zillerthaler, S. 4f. Diese Einschätzung setzte sich auch in Überblicksdarstellungen fest, zuletzt in Geisthövel, Restauration, S. 205; Liebmann, Dominanz, S. 364. Eduard Winter führt die Ausweisung gar auf den neuerstarkten Einfluss der Jesuiten zurück – eine allein schon von der Logik der Chronologie her schwer haltbare These: Winter, Josefinismus, S. 287. Das Zitat bei Klieber, Lebenswelten, S. 101.
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des 20. Jahrhunderts so prägende heuristische Verabsolutierung nationalstaatlicher Denkmuster auch die transnationale Dimension der Zillertaler-Frage in den Hintergrund: Zwar verarbeiteten die einschlägigen Beiträge minutiös die Aktenberge der staatlichen Kanzleien in Wien und in Innsbruck, sie ignorierten aber weitgehend die lebhaften europäischen Diskussionen, die ab 1830 einsetzten und die Entwicklung hin zur Ausweisung maßgeblich beeinflussten. Die Reduktion der historischen Aufmerksamkeit auf einen rein »österreichischen« Kontext verdunkelte somit größere, transnationale Zusammenhänge. Dagegen soll im Folgenden gezeigt werden, dass erst durch die Einbettung in den allgemeinen europäischen religious turn der 1830er Jahre die Konstruktion der Zillertaler Devianz und die Ausweisung der Glaubensgemeinschaft aus Tirol nachvollziehbar werden. Es handelte sich hierbei um ein transnationales mediales Großereignis, das erst von späteren Beobachtern gleichsam austrifiziert und aus der Sphäre der Öffentlichkeit in die Arkanbereiche der habsburgischen Bürokratie und Diplomatie eingerückt wurde.342 Diese beiden Aspekte, die katholische Fremdbeschreibung und die Medialität des Konflikts im Zillertal zwischen 1830 und 1837, werden im Folgenden stärker konturiert. Denn, so die These, ist es zunächst fraglich, ob man die Ausweisung als Symptom einer einsetzenden »Rekonfessionalisierung« Tirols fassen sollte,343 ohne die katholischen Beschreibungen der Zillertaler Devianz ernst zu nehmen. Darüber hinaus gewann die Zillertaler-Frage auf unterschiedlichen Ebenen mediale Relevanz: Während in Tirol das Ereignis nur unter Anwesenden reflektiert wurde, stieg es zu einem zentralen Thema der außerösterreichischdeutschen, aber auch europäischen konfessionellen Publizistik auf. Zwar versuchten Akteure aus Tirol regelmäßig in die Diskussionen einzugreifen, insgesamt blieb ihnen aber nichts anderes übrig, als diese zu beobachten und bisweilen aus norddeutschen Blättern zu erfahren, was sich in der nächsten Umgebung zutrug. Diese Grunderfahrung einer passiven Öffentlichkeit, mitunter einer medialen Ohnmacht in den Zeiten der Zensur, beschleunigte die Medialisierung des Religiösen nach 1837 entscheidend.
342 So schließt Völker, Geschichtsschreibung, S. 122, einen großen Teil der außerösterreichischen Literatur aus, da diese »nicht mehr in den Umkreis der Geschichte des österreichischen Protestantismus gehört«; ähnlich auch Maleczek, Glaube. Bahlcke, Glaubenscolonie, stellt nun allerdings wieder einen breiteren Kontext her. Kritisch zur Historiographie über die deutsch-österreichischen Beziehungen Sheehan, History ; Langewiesche, Nation, S. 172–175; Cole, Construction, S. 19–21. 343 Leeb, Protestanten, S. 49.
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3.2. Am Rand der josephinischen Toleranz: Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft und das habsburgische Staatskirchensystem Die sechs Männer, die am 26. Dezember 1829 bei Vikar Schulla im Zillertaler Dorf Mayrhofen vorsprachen, sich von der katholischen Kirche lossagten und um die seit Joseph II. für eine Konversion obligatorische Erteilung eines sechswöchigen – katholischen – Religionsunterrichtes ansuchten, ahnten wohl kaum, welche gravierenden Prozesse sie damit auf regionaler, staatlicher und europäischer Ebene auslösen würden.344 Die sechs Austrittswilligen stellten eine Art Vorhut einer größeren Gruppe von Personen dar, die sich in unterschiedlichem Maß von den Lehren und vor allem von den Kultpraktiken der katholischen Kirche distanzierten. Protestantische Autoren des 19. Jahrhunderts bezeichneten die Zillertaler Gemeinschaft noch als »unsichtbare Kirche«,345 religionssoziologisch betrachtet, wies die deviante Gemeinschaft im Zillertal dagegen deutliche Züge einer Sekte bzw. neutraler formuliert, einer sozialen Bewegung auf: Sie war dezentral und prinzipiell gering organisiert und kannte praktisch keine religiösen professionals, also nur eine schwach ausgebildete bzw. gar keine religiöse Rollendifferenzierung. Ihre interne Kohäsion gründete darüber hinaus nicht auf inklusive Normierung, sondern vielmehr auf »dramatisierte« Freiwilligkeit und zwischenmenschliche Interaktion, sie war somit weitgehend religiöse Kommunikation unter Anwesenden.346 Über die Kultpraktiken und Glaubensvorstellungen der Glaubensgemeinschaft ist insgesamt nur sehr wenig bekannt. Überliefert ist zumindest, dass im Zillertal eine beträchtliche Menge an evangelischen Bibeln und eine Fülle an polemischer, teilweise explizit antikatholischer protestantischer Erbauungsliteratur, die mitunter noch aus dem 16. Jahrhundert stammte, zirkulierte. Die katholische Geistlichkeit klagte in ihren Berichten regelmäßig über »KatholikenVerachtung und Haß gegen Priester predigende Bücher«.347 Besonders verbreitet war der »Sendbrief« Joseph Schaitbergers, einem Salzburger Exulanten der 344 Gasteiger, Protestanten, 26f.; Bibl, Emigration, S. 66; Hölzl, Zillertaler, S. 154f.; Loesche, Duldung, 35f. 345 Beheim-Schwarzbach, Glaubenscolonie, S. 8. Bereits die Salzburger Geheimprotestanten, etwa die »Defregger«, wurden von zeitgenössischen Beobachtern als »unsichtbare Kirche« bezeichnet: Schlachta, Emigration, S. 64. 346 Ziemann, Sozialgeschichte, S. 76–82, S. 96–112; Schlögl, Alter Glaube, S. 253–256. Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft weist im Vergleich zu den Salzburger Geheimprotestanten des 17. und 18. Jahrhunderts einen deutlich geringeren Grad religiöser Organisation auf: Schlachta, Emigration, S. 66, S. 77, S. 87f. 347 Gutachten des Fürsterzbischöflichen Konsistoriums in Salzburg an das Innsbrucker Gubernium, 14. 03. 1836, eine Abschrift davon liegt in DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 3, Copien zweier Aufsätze über die Sektirer im Zillerthal, Nr. 451, f. 3’.
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1730er Jahre, der seinen in Salzburg verbliebenen Glaubensgenossen Mut und Trost zusprach. Aber auch die älteren »Postillen« von Johann Arndt oder Johann Spangenberg zirkulierten im Zillertal.348 Es handelte sich dabei meist um gesammelte und gedruckte Predigten, gleichsam um reformatorische Kampfmedien, die, wie das Beispiel der Zillertaler zeigt, nicht nur wichtige Medien der Reformation – und später auch der katholischen Reform – darstellten, sondern auch einen religiösen Transfer über die Jahrhunderte hinweg ermöglichten.349 Deren tatsächliche Wirkung ist freilich schwer einzuschätzen, zumal es sich bei der Zillertaler Gemeinschaft um eine weitgehend illiterate Bewegung handelte, worauf auch die fehlenden schriftlichen Glaubens- und Lebenszeugnisse hindeuten. Eine entscheidende Rolle spielten daher die wenigen des Lesens Mächtigen der Gruppe, die in häuslichen, gottesdienstähnlichen Versammlungen den Anwesenden aus der Bibel oder aus anderen Schriften vorlasen.350 Die wenigen überlieferten Glaubensinhalte, die »äußeren Kennzeichen ihrer Verbrüderung«, wie ein ob ihres Fehlens nachgerade verzweifelter katholischer Geistlicher 1835 festhielt,351 reduzierten sich indes auf das Bekenntnis zur »unveränderten« Augsburger Konfession, zum Abendmahl unter beiden Gestalten und vor allem, was auf die Lektüre bzw. die orale Rezeption von Werken aus dem 16. und 17. Jahrhundert zurückführbar ist, auf einen ostentativen Widerstand gegen katholische Lehr- und Kultelemente. So lehnten die Mitglieder der Gemeinschaft den Besuch des katholischen Gottesdienstes, den Sakramentenempfang, das Fegefeuer, die kirchliche Unfehlbarkeit, die Anbetung der Heiligen und insbesondere die Ohrenbeichte vehement ab.352 Bartholomäus Heim, eine der führenden Persönlichkeiten der Glaubensgemeinschaft, gab 1833 in einem Brief an, »daß einige von uns das Abendmahl der römischen Parthei mehrere Jahre nicht genommen haben, ich selbst 4 Jahre nicht, weil es unter Einer Gestalt wider den Befehl Christi ist.«353 Die Grenze zwischen religiösen und 348 Dem Zillertaler Bauern Josef Kröll wurden am Grenzzollamt in Kufstein folgende Bücher abgenommen: Das neue Testament Martin Luthers, dritte Auflage, Stuttgart 1829, Martin Luthers Kirchenpostille, I. Band, Stuttgart 1836, Christliche Kirchengeschichte für Schulen und Familien, Calw 1836, sowie einen aktuellen Katalog einer Buchhandlung in Nürnberg. TLA, Jüng. Gub, Fasz. 3729, Zl. 3120 ex 1837, Bericht der k.k. Polizeidirektion, 16. 12. 1836. Gasteiger, Protestanten, S. 18–23; Loesche, Duldung, S. 59; Zillertal in Tirol, EKZ 17 (1835) 103, Sp. 822; [Rappold] Gebirgen, S. 15. Zur Bedeutung und Medialität dieser Literaturgattung für den sogenannten habsburgischen Geheimprotestantismus Weikl, Geheimprotestantismus, S. 255–264; zu Schaitberger knapp Schlachta, Emigration, S. 69f. 349 Holtz, Predigt. 350 Bahlcke, Glaubenscolonie, S. 188; Hölzl, Zillertaler, S. 154, S. 165, S. 168; zu den »Winkelgottesdiensten« knapp Gasteiger, Protestanten, S. 43. 351 TLA, Landschaftliches Archiv, A/II/1, Fasz. 1, Nr. 1042/76, Schreiben des Dekans Sander in Zell über die Umtriebe der Sektirer im Zillerthal, 21. 05. 1835, f. 2. 352 Gasteiger, Protestanten, S. 26, S. 40–43; Loesche, Duldung, S. 36f. 353 Rheinwald, Zillerthaler, S. 56.
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anderen – etwa wirtschaftlich-sozialen – Motiven des Widerstandes gegen die besonders noch im Vormärz drückende Sozialkontrolle der katholischen Kirche ist hier freilich nur schwer bestimmbar.354 Hier stellt sich auch die Frage, inwiefern die Religiosität der Glaubensgemeinschaft nicht auch als »situational religiosity« beschrieben werden könnte. Denn in der Tat ließe sich, wie im Fall osteuropäischer devianter Gruppierungen, mitunter auch für den vormärzlichen religiösen Nonkonformismus Tirols festhalten, dass »people appropriate religious idioms as they need them, in response to particular circumstances.«355 Indes blieb die Religiosität der Glaubensgemeinschaft auch nach der Ausweisung 1837 ein Rätsel. So gelangte der lokale Klerus immer wieder an Briefe, die die Ausgewiesenen ihren Verwandten und Bekannten im Zillertal aus Schlesien zusandten. Bis auf den markant ausgeprägten Antikatholizismus gewährten jedoch auch diese kaum Einsichten in die religiöse Praxis der Zillertaler Gemeinschaft.356 Mit gebotener Vorsicht lässt sich zumindest eine strukturelle Ähnlichkeit mit neupietistischen Gruppierungen und der Erweckungsbewegung festhalten: Der permamente Rekurs auf protestantische Streitschriften und Glaubenszeugnisse aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die heilsgeschichtliche Selbstdarstellung, die Ablehnung aller modernen Interpretationen religiöser Texte, private, konventikelartige religiöse Vergemeinschaftung und Praxis sowie eine grundsätzliche Aversion gegen staatliche bzw. kirchliche Bevormundung lassen die Zillertaler tatsächlich als pietistische Gruppierung erscheinen – wiewohl fraglich ist, ob in einem Tiroler Tal mit nur begrenzten bzw. gar keinen theologischen Verbindungen nach außen eine autochtone Erweckungsbewegung entstehen konnte. Außerdem sind die neupietistischen Elemente der Glaubensgemeinschaft wohl eher den restriktiven Bedingungen ihrer Existenz im Zillertal denn einer bewussten theologisch motivierten Entscheidung zuzuschreiben. Diese zumindest äußerliche Nähe zum Neupietismus dürfte jedoch das erhöhte Engagement und Interesse vor allem der deutschen Erweckungsbewegung für die Zillertaler Glaubensgemeinschaft erklären.357 Auch über den personellen Umfang der Gruppe lassen sich nur wenige Aussagen treffen, selbst dem omnipräsenten staatskirchlichen System blieb er lange Zeit verborgen. 1837 bekannten sich 427 Personen als Protestanten und 354 Ortner, Verwirrung, S. 165f. Zur sozialen Kontrolle des vormärzlichen Staatskirchensystems Mantl, Heirat, S. 136–191. 355 Robert Orsi, Everyday Miracles: The Study of Lived Religion, in: David D. Hall [Hrsg.], Lived Religion in America. Toward a History of Practice, Princeton 1997, S. 3–21, zitiert nach Emeliantseva, Non-Conformism, S. 191, die das für die Beschreibung der gegenwärtigen religiösen Hybridität der USA entwickelte Konzept mit Gewinn auf non-konforme Gruppierungen Osteuropas im 18. und 19. Jahrhundert anwendet. 356 Etwa DAB, KA 1839, Fs. 55, Nr. 55. 357 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1044–1057.
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erklärten sich damit zur Auswanderung bereit, für die vorangehenden Jahre ist eine seriöse Angabe kaum möglich. Viele Personen bekannten sich erst im letzten Moment, also kurz vor der Ausweisung, als Mitglieder der Glaubensgemeinschaft, andere unterwarfen sich unter dem staatlich-kirchlichen Druck wieder der kirchlich-katholischen Disziplin, ja mitunter wurde eine situativopportunistische Gratwanderung zwischen den religiösen Gemeinschaften betrieben – was die These der »situationsbedingten Religiosität« erhärten würde.358 Fest dürfte jedoch stehen, dass nach 1830 die Zahl jener, die sich offen als Protestanten erklärten, permanent anstieg: 1817 habe die Gemeinschaft lediglich aus zehn bis 80 Personen bestanden, zu Ostern 1832, laut einem Bericht des örtlichen Klerus, umfasste sie bereits 128 Individuen. Im August 1836, mithin am Höhepunkt der staatlich-kirchlichen Repression, wurden schließlich 225 Personen gezählt, die sich bis zur Ausweisung im September 1837 nahezu verdoppelten. Das fürsterzbischöfliche Ordinariat Salzburg zählte für das Jahr 1834 210 Mitglieder, die 1835 auf 218 und 1836 auf 231 anwuchsen. In Briefen schrieben die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft selbst für das Jahr 1831 dagegen bereits von 236, 1833 von 150 und 1834 wiederum von 250 Glaubensgenossen.359 Die ältere und jüngere Forschung sind sich weitgehend einig über die Entstehung der Zillertaler Gemeinschaft, deren Wurzeln man bereits im 16. Jahrhundert verortet. Dafür spricht die in der Tat vielfach aus dieser Zeit stammende religiöse Literatur der Zillertaler, zudem sei das aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammende religiöse Wissen mündlich von Generation zu Generation tradiert worden. Das Zillertal war darüber hinaus bereits zur Zeit der radikalsten Verfolgung des Protestantismus in Salzburg bzw. in den habsburgischen Territorien ein kirchenrechtliches »Condominium«360 zwischen Salzburg und Brixen, was eine verstärkte katholische Konfessionalisierung und Disziplinierung hier erheblich erschwerte und das Tal gleichsam zu einem geheimprotestantischen Refugium machte. Indes bleibt es fraglich, ob man für das Zillertaler Beispiel den Begriff des »Geheimprotestantismus« anwenden sollte: Das ganze 18. Jahrhundert hindurch beobachtete die lokale Geistlichkeit besorgt die religiöse Devianz in den Gemeinden des Tals, die durch Seelenbeschreibungen, Verhöre 358 Gasteiger, Protestanten, S. 49f. 359 Die Zahlenangabe für 1817 bei Schulze, Auswanderung, S. 209; Gasteiger, Protestanten, S. 67; für 1832 und 1836 bei Sauser, Inklinanten, S. 37, S. 42. Die Zahlen aus Salzburg stammen aus dem Visitationsbericht des Salzburger Fürsterzbischofs Schwarzenberg, eine Abschrift davon liegt in DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 3, Zl. 495, Abschrift des Berichtes über die kanonische Visitation im Salzburgischen Zillertal 1836, S. 8. Der Bericht ist ediert in Ortner, Verwirrung, S. 191–215, S. 194f. Die Briefe sind abgedruckt in Rheinwald, Zillerthaler, S. 56f. 360 Schrödl, »Zillertal«, in: Wetzer/Welte [Hrsg.], Kirchen-Lexikon XI, S. 1284–1286, S. 1284.
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und Bücheruntersuchungen regelmäßig eindrucksvoll belegt werden konnte. 1769 etwa meldete der Kurat von Hippach resigniert nach Salzburg, dass ein Großteil seiner Pfarrmitglieder die Lehren der katholischen Kirche ablehne.361 Das Wissen um die Devianz im Zillertal war auch keinesfalls den kirchlichen Kanzleien vorbehalten. Auf dem offenen Landtag Tirols 1790 etwa forderte der Brixener Fürstbischofs Joseph von Spaur in einer Beschwerdeschrift die »Aufrechterhaltung der in Tyrol allgemein herrschenden katholischen Religion, von welcher nur ein kleiner Theil des Ahrner- und Zillerthales abweichet«.362 1796 berichtete der Salzburger Landestopograph Lorenz Hübner seinen Lesern freimütig, dass sich im Zillertal einige Bauern ein »Hausreligiönchen« schmiedeten, »das natürlich weder lutherisch noch katholisch« sei.363 Auch in den 1820er Jahren war in den Konsistorien in Brixen und in Salzburg die Situation im Zillertal durchaus bekannt.364 Die kirchlich-religiöse Abweichung im Zillertal war somit bereits vor dem ostentativen Bruch mit der katholischen Kirche, also der Aufgabe des religiösen Doppellebens der sechs Bauern aus Mayrhofen, weder neu noch unbekannt, ja insgeheim vom Salzburger Fürsterzbistum toleriert. Der Salzburger Fürsterzbischof Hieronymus von Colloredo lehnte nach 1781 eine umfassende Implementierung der josephinischen Toleranz in seinem Territorium entschieden ab, wies aber im gleichen Zug seinen subalternen Klerus an, den Zillertaler Abweichenden »duldsam« entgegen zu treten.365 Darüber hinaus stellte die Zillertaler Devianz keinen isolierten Fall dar, sondern reihte sich an weitere Beispiele religiöser Nonkonformität, die sich nach 1816 in Tirol wie in zahlreichen anderen Regionen der Monarchie beträchtlich intensivierte. Typisch für diese devianten Gruppierungen, die zahlenmäßig unbedeutend blieben, war eine relativ hohe innere Kohäsion, die Ablehnung institutionalisierter, staatskirchlich normierter Religiosität und eine pietistische, chiliastische Ausrichtung.366 Auch im benachbarten Ahrntal sagten sich bereits im 18. Jahrhundert einige Familien von der katholischen Kirche los. Obwohl sie – ungeachtet des Toleranzpatentes – 361 Hölzl, Zillertaler, S. 151–153; Sauser, Inklinanten, S. 21–24; Gasteiger, Protestanten, S. 7–18; Schlachta, Emigration. 362 [Goldegg], Journal, S. 31. 363 Hübner, Beschreibung, S. 723. 364 Nagl, Auseinandersetzung, S. 48. 365 Hofer, Toleranzpatent, S. 524f.; die Erläuterungen Colloredos zu seinem Toleranzverständnis in DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 2, Hieronymus von Colloredo an Karl Franz von Lodron, 26. 03. 1798: »Überhaupt bin ich weit entfernt, die Toleranz in jener Ausdehnung einzuführen, wie solche dermalen in den k.k. Staaten bestehet. Ich bin aber auch eben so weit entfernt, eine solche Intoleranz mir eigen zu machen, welche für Kirche und Staat gleich schädliche Folgen haben kann.« 366 Weinzierl, Visitationsberichte, S. 83–91; Ortner, Verwirrung; Fontana, Restauration, S. 623–626; Hartungen, Sozialgeschichte, S. 369–433.
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einem erheblichen Druck der lokalen Staatsbehörden und des Klerus ausgesetzt waren, blieben sie insgesamt toleriert.367 In den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bildeten sich nahezu zeitgleich abgelegene Zellen religiöser Devianz aus: Im Nordtiroler Brixental die sogenannten »Manharter« und im Südtiroler Vinschgau die »Wibmer-Lutherischen.« In beiden Fällen handelte es sich um relativ überschaubare Personenkreise, die, unzufrieden mit den kirchlichen bzw. staatskirchlichen Verhältnissen, das Heilsangebot der katholischen Kirche ablehnten und abseits der kirchlichen Disziplin eine eigene Kultpraxis entwickelten. In beiden Fällen übten die Amtskirche und der Staat verstärkten Druck auf die religiösen Bewegungen aus und konfinierten deren Anführer, womit allerdings freilich nur die innere Kohäsion der Gruppen bestärkt wurde. Selbst eine Audienz bei Papst Leo XII. Ende 1825 reichte nicht aus, um alle »Manharter«, die im Wesentlichen das österreichische Staatskirchentum als »unkatholisch« ablehnten, zurück in den Schoß der katholischen Kirche zu führen. Das österreichische Staatskirchensystem begnügte sich schließlich in beiden Fällen mit der Isolation der vom Katholizismus abweichenden religiösen Ideen, ohne jedoch die wenigen verbliebenen Anhänger weiterer Repression auszusetzen.368 Der Bruch der sechs Zillertaler mit der katholischen Kirche im Dezember 1829 verlieh dem Verhältnis zwischen Staatskirchensystem und religiöser Abweichung jedoch eine neue Qualität, die sich ganz auf das Zillertal zuspitzte. Die Zillertaler Gemeinschaft geriet bald schon in den turbulenten Sog einer neuartigen, ganz Europa erfassenden Politisierung der Religion, die aus einem zunächst abgelegenen Konflikt in einem Alpental ein europäisches Medienereignis machte. »Zillertal« wurde mithin zur Projektionsfläche für die politisch-religiösen Konflikte Europas nach 1830.369 Die Reaktion des Staatskirchensystems auf dieses von der österreichischen Rechtslage durchaus gedeckte, für den lokalen Klerus insgesamt aber »überraschende« Gesuch der sechs Zillertaler, war zunächst bemerkenswert konfus.370 Staatliche Stellen vor Ort und in Innsbruck wurden unverzüglich informiert, es blieb aber unklar, auf welcher rechtlichen Basis man dem Kirchenaustritt im Zillertal begegnen sollte. Ein Teil des Zillertales war erst 1816 aus Salzburger bzw. bayerischer unter landesfürstlichhabsburgische Herrschaft gelangt und somit zunächst nicht klar ersichtlich, ob 367 Rainer, Vormärz, S. 286–288; Hofer, Toleranzpatent, S. 519–525. 368 Hartungen, Sozialgeschichte, S. 395–432; Rainer, Vormärz, S. 147–151; Hosp, Vormärz, S. 31–36. Besonders den »Manhartern« galt eine erhöhte Aufmerksamkeit: Flir, Manharter ; Felderer, Manharter. 369 Clark, Catholicism, S. 23–25. 370 Gasteiger, Protestanten, S. 26f., Anm. 16; Schima, Glaubenswechsel, S. 79–84; TLA, Jüng. Gub, Fasz. 3729, Zl. 141 ex 1830, Bericht des feb. Konsistoriums Salzburg an das Gubernium, 08. 01. 1830.
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die vom Salzburger Hochstift nicht übernommenen josephinischen Toleranzgesetze hier Rechtskraft besäßen. Aber auch im restlichen habsburgischen Teil Tirols war nach der napoleonischen Umbruchphase unklar, welche Gesetze anzuwenden seien. Mitunter wurde argumentiert, dass die bayerische Verfassung von 1808 das bis dahin bestehende österreichische Gesetzeskorpus abgelöst habe und deshalb die josephinische Toleranzgesetzgebung in Tirol erneut publiziert werden müsse, um Anwendung auf die Zillertaler Gemeinschaft finden zu können.371 Der vormärzliche Staat stand diesem Präzedenzfall – seit der Implementierung der josephinischen Toleranz 1781 hatte es in Tirol nur eine Handvoll rechtlich vollzogener Kirchenaustritte gegeben,372 nach 1816 überhaupt keinen – ratlos gegenüber und bat die kirchlichen Behörden in Brixen und Salzburg um Unterstützung. Beide Bischöfe plädierten in ihren voluminösen Gutachten für eine intensivierte pastorale Betreuung, um die Abtrünnigen zurückzugewinnen, sprachen sich jedoch auch vehement gegen die Erteilung des sechswöchigen Religionsunterrichtes aus, den sie als unzulässige Konzession an die Devianten betrachteten, zumal ja die Frage der Gültigkeit des Toleranzpatentes im Zillertal keinesfalls geklärt war. Insgesamt zeigten sich Staat und Kirche zunächst zwar beunruhigt, blieben aber weitgehend untätig.373 Dieses nachgerade operettenhafte staatskirchliche Netzwerk zwischen Brixen, Innsbruck, Salzburg und Wien dauerte die folgenden Jahre weiter an. Am 10. Jänner 1832 machte die Wiener Hofkanzlei jedoch unmissverständlich klar, dass die josephinischen Toleranzgesetze in Tirol auch ohne jede Neuproklamation volle Gültigkeit hätten.374 Damit war die Richtung der staatskirchlichen Aktion jedoch keineswegs geklärt oder widerspruchsfrei. Vielmehr wurde den Mitgliedern der Zillertaler Gemeinschaft, der es indes gelungen war, eine Deputation samt Bittschrift an den im Juni 1832 in Innsbruck weilenden Kaiser Franz I. abzusenden, der sechs371 Die Gültigkeit des Toleranzpatentes Josephs II. in Tirol beschäftigte die politische Öffentlichkeit des – deutschsprachigen – Landesteils in unterschiedlicher Intensität das ganze 19. Jahrhundert hindurch. Zu den Diskussionen um 1830 Hofer, Toleranzpatent; Sauser, Inklinanten, S. 35; Bibl, Emigration, S. 70f.; Maneschg, Chotek, S. 267f.; Ortner, Verwirrung, S. 169f.; Gasteiger, Protestanten, S. 27–30; TLA, Landschaftliches Archiv, B/I/3, Schuber 3, Congress-Protokoll vom Jahre 1830, f. 46’. Jenseits der Diskussion, ob das Toleranzpatent in Tirol gültig war oder nicht, wäre hier weiter zu fragen, ob ein geschlossener Übertritt der Zillertaler Glaubensgemeinschaft nach dem Toleranzpatent prinzipiell möglich gewesen wäre, da, wie Schima, Glaubenswechsel, S. 81, betont, dieses korporative Übertritte explizit ausschloss. 372 Hofer, Toleranzpatent, S. 501, S. 523f.; Gasteiger, Protestanten, S. 28. 373 Hölzl, Zillertaler, S. 154f.; Gasteiger, Protestanten, S. 28f.; Bibl, Emigration, S. 67f.; Nagl, Auseinandersetzung, S. 50f. 374 Gasteiger, Protestanten, S. 30. Das Brixener Konsistorium teilte den Erlass seinem subalternen Klerus lediglich »im strengsten geheim zur Einsicht« mit. DAB, KA 1832, Fs. 55, Zl. 485, f.b. Ordinariat Brixen an f.b. Dekanat Fügen, 13. 02. 1832.
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wöchige Religionsunterricht auch in den folgenden Jahren untersagt, gleichzeitig jedoch, ganz im Sinne des Toleranzpatentes, der Realitätenerwerb nur gegen einen sogenannten obrigkeitlichen Dispens – der freilich regelmäßig ausblieb – gewährt. Kurzum: Rechtlich verweigerte man den Austritt aus der katholischen Kirche, praktisch verortete man die Mitglieder der Zillertaler Gemeinschaft bereits außerhalb der katholischen Kirche.375 Selbst Mitglieder der kaiserlichen Familie stifteten weitere Verwirrung: Der seit den »Freiheitskriegen« aus Tirol verbannte Erzherzog Johann bereiste 1835, nach dem Tode seines Bruders Kaiser Franz I., bei seinem ersten Besuch in Tirol gleich das Zillertal und gewährte einigen Vertretern der devianten Glaubensgemeinschaft eine Audienz. Dabei lehnte er deren Bitte um Duldung mit der Bemerkung ab, in Tirol hätte das Toleranzpatent nie Gültigkeit erlangt und eröffnete damit eine Diskussion, die bereits drei Jahre vorher eindeutig entschieden worden war.376 Der Weg hin zur Ausweisung, die im Oktober 1836 im Wiener Staatsrat beschlossen und im Januar 1837 von Kaiser Ferdinand sanktioniert wurde, war deshalb keinesfalls linear und kohärent. Die staatlichen Behörden in Tirol und insbesondere im Zillertal verfolgten zunächst das Ziel, die von der katholischen Kirche abweichende Bewegung einzudämmen, indem sie grundlegende Bürgerrechte, wie die Erteilung von Pässen, den Realitätenerwerb oder die Ausübung von Gewerben erheblich erschwerten. Insgesamt, so bilanzierte Gustav von Gasteiger, habe das Innsbrucker Gubernium bereits 1833 in einem umfangreichen abschließenden Bericht an die Wiener Hofstellen die Formel gewählt, der devianten Zillertaler Glaubensgemeinschaft auf individueller Ebene Duldung zu gewähren, sie jedoch als Kollektiv nicht anzuerkennen. In der Substanz führte man damit die ambivalente Toleranzpolitik des Hochstifts Salzburg aus dem 18. Jahrhundert fort und manövrierte die Zillertaler Glaubensgemeinschaft, ungeachtet der bestätigten Gültigkeit des Toleranzpatentes, in eine rechtliche Grauzone.377 Dies war letztlich auch die Strategie, die in Wien gewählt wurde: Der einflussreiche Staatsrat für geistliche Angelegenheiten, Propst Josef Alois Jüstel, ein josephinischer Modellbürokrat, erkannte die Mitglieder der Zillertaler Gemeinschaft durchaus als Protestanten der Augsburger Konfession an, sprach sich aber im gleichen Zug aus politischen Gründen gegen eine Anwendung einer »vollen« Toleranz aus. Diese widersprüchlich-unbestimmte Position schlug sich auch in der kaiserlichen Entschließung vom 375 Gasteiger, Protestanten, S. 33–37 und Loesche, Oesterreich-Ungarn, Sp. 886: »die Landesbehörde wagte nicht, daraus die Folgerungen zu ziehen und wußte sich schließlich aus dem Gewirr der eigenen Widersprüche nur durch Gewaltthätigkeit zu retten«; Nagl, Auseinandersetzung, S. 57f. 376 Hölzl, Zillertaler, S. 162f.; Sauser, Inklinanten, S. 40f.; [Rappold] Gebirgen, S. 152. 377 Gasteiger, Protestanten, S. 33; Hölzl, Zillertaler, S. 157f.; Bibl, Emigration, S. 72, S. 77; Nagl, Auseinandersetzung, S. 60.
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2. April 1834 – der ersten Entscheidung nach dem Ansuchen um Austritt aus der katholischen Kirche im Dezember 1829 – nieder. Der Kaiser folgte in dieser dem Votum des Staatsrates und versagte den Zillertalern faktisch den Austritt aus der katholischen Kirche in Tirol, er stellte es ihnen aber frei, in andere Provinzen zu übersiedeln und sich »akatholischen« Gemeinden anzuschließen.378 Diese »Entschließung« besagte eigentlich nur, dass in Tirol das Toleranzpatent zwar in Kraft sei, aber nicht angewendet werde. Eine »akatholische« Gemeinde durfte in Tirol somit nicht gegründet werden, die Individuen jedoch könnten, offenbar auch außerhalb der katholischen Kirche lebend, weiterhin im Zillertal bleiben. In den folgenden Monaten verkomplizierte sich die Situation und steigerte sich besonders im Zillertal zu einem offenen Konflikt: Die abweichende Glaubensgemeinschaft wuchs weiter an und lehnte das Heilsangebot der katholischen Kirche immer ostentativer ab, der katholische Klerus klagte verbittert über den religiösen Verfall des ganzen Tales und die staatlichen Behörden schnürten das Korsett der Repression enger. Der Abschluss von Ehen, der Realitätenerwerb bzw. die Ausübung von Gewerben, die Ausstellung von Pässen und schließlich auch das Begräbnis in geweihter Erde wurde den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft versagt. War die staatliche Toleranz bis 1834/35 eine außerrechtlich-ambivalente gewesen, so schlug die Haltung des Staates nunmehr um in Repression, die auf eine gewaltsame Bekehrung der Abtrünnigen abzielte.379 Überdies traten weitere wirkungsmächtige Akteure hinzu: Der Tiroler Landtag bzw. in seiner vormärzlichen Bezeichnung, der »Ständische Kongress«, wiewohl formell weitgehend kompetenzlos, erkannte die Chance zur eigenen Aufwertung. Er diskutierte den Zillertaler Konflikt ab 1830 mehrfach und eingehend und erhob ihn dadurch zur »Landesangelegenheit«.380 Wenngleich das ständische Gremium den staatlichen und kirchlichen Behörden deutlich nach378 Der Text der ah. Entschließung vom 12. April 1834 ist bei Gasteiger, Protestanten, S. 52, abgedruckt; Bibl, Emigration, S. 71–80. Zu Josef Alois von Jüstel siehe Hosp, Kirche, S. 238–245. 379 Gasteiger, Protestanten, S. 80–86; Sauser, Inklinanten, S. 75–86; Nagl, Auseinandersetzung, S. 54. Sausers Urteil (S. 71) einer »wohlwollend-behutsamen Grundeinstellung der Geistlichkeit und weltlichen Behörden« der Zillertaler Glaubensgemeinschaft gegenüber ist bezeichnend für die apologetische Tendenz der Schrift. Der staatlich-kirchlichen Repression wurde in der protestantischen Publizistik breiter Raum gewidmet, siehe etwa die Veröffentlichung eines verzweifelten Briefes eines »Tiroler Protestanten«: Die Protestanten in Tirol, Allgemeine Kirchenzeitung Nr. 193, 05. 12. 1835. 380 TLA, Landschaftliches Archiv, B/I/3, Schuber 3, Congress-Protokoll 1830, 15. 05. 1830, f. 46f.; ebenda, Schuber 4, Congress-Protokoll 1833, 25. 04. 1833, f. 23–25r’; 14. 05. 1833, f. 69r’–71r’; ebenda, Congress-Protokoll 1834, 14. 05. 1834, f. 84f.; ebenda, A/II/1, CongressProtokoll vom Jahre 1835, 29. 05. 1835, f. 84–86’; TLMF, Dip. 1280, Ständisches CongressProtokoll 1836, 14. 05. 1836, f. 80–82; Schober, Landtag, S. 94–99; Gsteu, Landtag, S. 147– 150.
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geordnet war und insgesamt kaum substantielle Beiträge in diesem Konflikt leisten konnte, sammelte es dennoch zentrale Aussagen unterschiedlicher Akteure und übermittelte sie in der gebündelten Form landschaftlicher Suppliken direkt an den Kaiser. Der Kongress übte damit gleichsam eine staatskirchliche Scharnier- und Beglaubigungsfunktion aus: Auf seinen Bänken begegneten sich Vertreter des Staates in der Person des Landeshauptmannes, der in Personalunion auch als höchster lokaler Vertreter des Zentralstaates fungierte, und die kirchlichen Behörden, vertreten durch mehrere Prälaten und besonders durch die Bischöfe von Salzburg, Brixen und Trient. Liest man die – freilich sorgsam redigierten – Sitzungsprotokolle,381 so erhärtet sich der Eindruck einer rein legitimatorischen Funktion des Landtages für Diskurse, die von anderen Stellen geprägt wurden. Nur selten, wie etwa am 14. Mai 1835, als der Innsbrucker Bürgermeister Valentin Maurer die erhitzte Versammlung zu Besonnenheit ermahnte und eine rechtsstaatliche Behandlung der Zillertaler einklagte, entstanden in Ansätzen eingehende und kontroverse Diskussionen.382 Die meisten Redner schlossen sich den Voten der Bischöfe an und wichen voneinander bestenfalls in der Form, nicht jedoch in der allgemeinen Verurteilung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft ab. Selbst der als liberal geltende Innsbrucker Bürgermeister Maurer trat letztlich nicht für eine Tolerierung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft ein.383 Darüber hinaus gelang es besonders Joseph von Giovanelli, einer zentralen Figur des frühen süddeutschen Ultramontanismus, unter anderem durch die Abfassung von Voten für andere Deputierte oder durch direkte Interventionen bei Staatskanzler Metternich, den Landtag als wirksames Organ der strengkirchlichen Interessenpolitik zu instrumentalisieren.384 Insofern überrascht es kaum, dass die Innsbrucker Ständevertretung gegenüber der Zillertaler Devianz eine Politik der äußersten Härte einforderte und dass diese Forderungen in den Wiener Zentralstellen bereitwillig aufgenommen wurden. Schließlich reflek381 Giovanelli, Familiengeschichte, S. 6273, erwähnt eine »kassierte« Fassung des Sitzungsprotokolls vom 14. Mai 1836, in der sich die Stände Tirols offenbar entschiedener als in der offiziell überlieferten Fassung für eine Ausweisung ausgesprochen hätten. Da das Giovanellische Familienarchiv als verschollen gilt, kann diese Aussage des ansonsten sehr zuverlässigen Familienhistorikers nicht weiter verifiziert werden. 382 TLA, Landschaftliches Archiv, A/II/1, Fasz. 1, Congressprotokoll 1835, 29. 05 1835f. 86f.; ähnlich auch Maurers Stellungnahme in der Kongress-Session 1836, TLMF, F. B. 2076, Nr. 162d, Votum des Vertreters der Stadt Innsbruck abgegeben bey dem grossen AusschussCongresse am 14. May 1836 über den Antrag einer Deputation aus Zillerthal um die Landesverweisung der Sektierer zu erwirken, 14. 05. 1836. 383 Giovanelli, Familiengeschichte, S. 6247. Schober spricht von einer gemäßigten und von einer schärferen Linie im Kongress, die sich lediglich in den vorgeschlagenen Methoden, die gegen die Zillertaler Glaubensgemeinschaft anzuwenden seien, unterschieden: Schober, Landtag, S. 97. 384 Giovanelli, Familiengeschichte, S. 6227, S. 6253f.
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tierten bzw. beglaubigten sie die Berichte und Gutachten der staatlichen und kirchlichen Behörden, die für den Wiener Staatsrat und damit auch für den Kaiser die Entscheidungsgrundlage bildeten. Dies war 1833 der Fall, als der Landtag den Gutachten der Bischöfe wörtlich folgte und den Kaiser um ein Verbot der Errichtung eines »akatholischen Tempels« ersuchte. Der Landtag folgte der Maxime des Staatskirchensystems, das die »Akatholiken« zwar individuell tolerierte, der Bildung einer »akatholischen« Gemeinschaft jedoch energisch entgegentrat.385 Drei Jahre später wiederholte sich dieser Ablauf: Der Landtag folgte »einstimmig u.[nd] ohne Ausnahme« einer Petition von Zillertaler Katholiken, die den Vollzug der allerhöchsten Entschließung des mittlerweile verstorbenen Kaisers Franz I. aus dem Jahr 1834 in ihrer radikalsten Auslegung, also die Ausweisung der Zillertaler, einforderten.386 Der Landtag sanktionierte somit erneut bereits formulierte Entscheidungen des Staatskirchensystems: Vor allem der neue Fürsterzbischof von Salzburg, der gerade 27jährige Friedrich Fürst Schwarzenberg, plädierte nun in einem umfangreichen Gutachten eindringlich für eine Ausweisung der Glaubensgemeinschaft. Aber auch das Innsbrucker Gubernium, das zahlreiche Berichte seiner subalternen Behörden wie auch der bischöflichen Kurien sammelte und am 18. April 1836 in einem Hauptbericht an die Wiener Stellen übersandte – also noch bevor der ständische Kongress zu diesem Thema tagte – stellte den Wiener Hofstellen vorsichtig die Frage, ob es nicht tunlicher sei, die kaiserliche Entschließung von 1834 zurückzunehmen und entweder die volle Toleranz auszusprechen oder andernfalls die Glaubensgemeinschaft auszuweisen. Die Innsbrucker Regierungsstelle optierte dabei deutlich für den zweiten Lösungsansatz, riet der Zentralregierung jedoch mit Blick auf die immer breitere publizistische Resonanz des Konflikts, für möglichst schonende Auswanderungsmodalitäten zu sorgen.387 Die Wiener Behörden, die die kaiserlichen Entschließungen maßgeblich vorbereiteten, hatten zunächst offenkundige Schwierigkeiten, die Aktenberge, die im Frühjahr 1836 aus Tirol in die Hauptstadt eintrafen, zu verarbeiten. Wie besonders Viktor Bibl in seinen Arbeiten zeigen konnte, changierten die Meinungen der Staatsräte zwischen einer bedingungslosen Anwendung des Tole-
385 Jene Zillertaler, die offensiv neue Mitglieder für ihre Gemeinschaft suchten, also »Proselyten machten«, sollten darüber hinaus des Landes verwiesen und ihnen der Güterankauf außerhalb ihrer Wohngemeinde versagt werden. Congress-Protokoll 1833, 25. 04. 1833, f. 23–25; 14. 05. 1833, f. 69–71; Gasteiger, Protestanten, S. 38–42. 386 Ständisches Congress-Protokoll 1836, f. 80–82, Zitat f. 81v.; TLMF, F. B., W. 2162, Nr. 26, Bittschrift der Zillertaler Gemeinden; Schober, Landtag, S. 97; Gasteiger, Protestanten, S. 82f. 387 Gasteiger, Protestanten, S. 71–79; Bibl, Emigration, S. 82f.
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ranzpatentes und einer resoluten Ausweisung der Glaubensgemeinschaft.388 Letztlich setzte sich Staatskanzler Metternichs Radikallösung der Ausweisung durch, die sich weitgehend mit jener der strengkirchlichen Hardliner innerhalb des österreichischen Staatskirchensystems deckte. Bereits im Sommer 1835 versicherte der Staatskanzler dem Tiroler Joseph von Giovanelli, der zur Huldigung des neuen Kaisers nach Wien gefahren war, »daß das Handbillet des sel. Kaisers die nötige Ergänzung erhalte, damit der von ihm ausgesprochene Wille auch eine Folge habe«.389 Metternich interpretierte die eher noch vage gehaltene Entschließung des eben verstorbenen Kaisers Franz I. im Sinne der Ausweisung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft, eine Interpretation, die schließlich mit der kaiserlichen Entschließung Ferdinands vom 12. Jänner 1837 auch verwirklicht wurde. Diese zwang die offenen oder verborgenen Mitglieder der Gemeinschaft – die Adressaten sind im Text nur vage mit »Sectirer« angesprochen –, entweder binnen 14 Tagen aus der katholischen Kirche auszutreten und in eine andere Provinz Österreichs oder in das Ausland auszuwandern oder andernfalls aber als Katholiken sich dem Staatskirchensystem bedingungslos zu fügen. 427 Zillertaler bekannten sich nun offen als Protestanten, 416 wanderten nach Preußisch-Schlesien aus und nur elf zogen es vor, weiterhin als Untertanen Habsburgs in anderen Provinzen des Kaiserreichs zu leben.390 In den letzten August- und den ersten Septembertagen 1837 verließen die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft das Zillertal, womit ein unrühmliches, im Europa des 19. Jahrhunderts singuläres Ereignis seinen ersten Abschluss fand. Überblickt man diese Bestandsaufnahme der Ausweisungsgeschichte, dann zeigt sich zunächst vor allem, dass der Staat und die katholische Kirche vor dem Hintergrund der Welle europäischer Revolutionen um 1830 vom Kirchenaustritt der sechs Zillertaler und dem darauf einsetzenden, zunächst noch lokalen Konflikt überrascht und deutlich überfordert waren. Die repressive antirevolutionäre Politik, die Metternich in der Habsburgermonarchie und im Deutschen Bund ab 1819 durchsetzte, blieb offensichtlich zahnlos – verfehlte sie doch ihr Hauptziel, erneute Revolutionen zu verhindern. Anstatt jedoch die Sinnhaftigkeit der autoritär-dirigistischen Revolutionsprophylaxe ernsthaft zu überdenken, zog Metternich in Österreich wie im Bund die Schraube der staatlichen Repression erst recht weiter an.391 Erst die Berücksichtigung der habsburgischen Revolutionsfurcht liefert mithin eine plausible Begründung für 388 Bibl, Emigration, S. 84–90; Sauser, Inklinanten, S. 93–102. 389 Joseph von Giovanelli an Johann Duille, undatiert [1835], in: Giovanelli, Familiengeschichte, S. 6252f., Zitat S. 6253; Deputazion der Stände Tirols an das allerhöchste Hoflager, bei Gelegenheit des höchstbetrübten Hinscheidens Sr. Majestät des Kaisers Franz I., und der hierauf erfolgten Thronbesteigung Sr. Majestät Ferdinand I., in: NZF 2 (1836), S. 1–16. 390 Beheim-Schwarzbach, Glaubenscolonie, S. 85–100; Bast/Bast, Familien, S. 653–659. 391 Koselleck, Julirevolution; Chvojka, Sedlnitzky, S. 289–306; Fillafer, Bewertung.
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den deutlichen Qualitätssprung der Ereignisse im Zillertal nach 1830. Die religiöse Devianz im Zillertal war bereits vorher weithin bekannt gewesen, ohne besondere Interventionen von Staat und Kirche hervorzurufen. Auch die katholischen Sekten der 1820er Jahre vermochten die misstrauische Aufmerksamkeit des Staatskirchensystems nicht im selben Grad zu erregen. Selbst als 1826 einige Zillertaler ihr religiöses Doppelleben ostentativ beendeten und aus der katholischen Kirche austreten wollten, reagierten Staat und Kirche zunächst noch relativ gelassen. Der sechswöchige Religionsunterricht wurde erteilt und, nachdem einige der Austretenden wieder das katholische Glaubensbekenntnis abgelegt hatten, die Angelegenheit schlicht archiviert.392 Erst nach den europäischen Revolutionen von 1830 setzten jene staatskirchlichen Praktiken der Ausgrenzung und Unterdrückung ein, die sieben Jahre später zur Ausweisung führten. Politisch handlungsleitend wurden dabei jene im gesamten katholischen Europa dominierenden Diskurse, die in der Reformation die »Mutter aller Revolutionen«, die »Urrevolution« schlechthin sahen und jede konfessionelle Spaltung als potentiell politisch destabilisierend betrachteten.393 Besonders Metternich, aber auch weitere führende Staatsfunktionäre in Wien und in Tirol erblickten in der religiösen Devianz im Zillertal das Substrat einer revolutionären Bewegung, die im strategisch wichtigen Tirol eine fruchtbare Grundlage für revolutionäre Ideen aus dem nahen protestantischen Ausland, vor allem der Schweiz und Süddeutschland, vorbereiten würde.394 Aber auch der rudimentäre Status quo, den die Entschließung Kaiser Franz’ aus dem Jahr 1834 herstellte, war den alarmierten Wächtern der staatskirchlichen Stabilität zu riskant. Besonders der treue Josephiner Jüstel brachte die Ängste Wiens auf den Punkt, wenn er im Zillertal, wo die deviante Glaubensgemeinschaft außerhalb der kirchlichen Disziplin und vor allem ohne professionelle Aufsicht – ein Pastor wurde 1834 explizit versagt – Glaubenspraktiken vollzog, die Ausbreitung von »kirchlicher Anarchie« befürchtete, die möglicherweise auf die politische Ordnung übergreifen werde.395 Aber auch Vertreter 392 Gasteiger, Protestanten, S. 26; Bibl, Emigration, S. 69f.; Sauser, Inklinanten, S. 31f.; Ortner, Verwirrung, S. 164–169; Maleczek, Glaube, S. 4154. 393 Gerber, Die Mutter aller Revolutionen, besonders S. 409; Schneider, Barrikaden; Klug, Rückwendung, S. 246–248, S. 274–277, das Zitat auf S. 110; Foa, Intransigenti, S. 15–45; DAB, KA 1836, Fs. 55 Nr. 3, Zl. 513, Bericht von Anton Sander, Dekan zu Zell, 23. 01. 1836, f. 7: »Glaubensspaltungen und Sekten waren von jeher die Vorläufer bürgerliche Unruhen, oft Vorläufer großer polit. Revolutionen.« 394 Viktor Bibl spricht sogar davon, dass der Wiener Staatsrat »vom Schreckensgespenst der allgemeinen Revolutionierung getrieben« gewesen sei: Bibl, Emigration, S. 84f., Zitat S. 85; Srbik, Metternich II, S. 41f. 395 So in seinem Votum in der Staatsratskonferenz am 9. August 1836, zitiert in: Sauser, Inklinanten, S. 97–101, hier S. 97; ähnlich äußerten sich Geistliche über private protestantische Gottesdienste in Vorarlberg, in denen »ohne weitere Einsicht und Oeffentlichkeit«
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der katholischen Kirche im engeren Sinn argumentierten ähnlich: Das staatskirchliche System ideologisch aufladend, beschrieben sie Staat und Kirche als nachgerade idente und vor allem gleichberechtigte Säulen der Monarchie. Eine Schwächung der katholischen Kirche falle deshalb notgedrungen auch auf die staatliche Macht negativ zurück.396 Wie sehr religiöse und politische Devianz parallelisiert, ja gleichgesetzt wurden, lässt sich nicht zuletzt von der sprachlichen Ebene ablesen: Religiös und politisch vom Staatskirchentum abweichende Gruppen wurden von den österreichischen Behörden in der Regel als »Sekte« bezeichnet. So arbeitete die Polizeihofstelle in ihrem Kampf gegen die italienischen Geheimgesellschaften mit Begriffen wie »Sekte«, »Sektirerei« oder »Sektenhäuptling«.397 Es handelte sich hierbei um eine andere Art der Politisierung der Religion: Nicht eine Trennung von Staat und Kirche öffnete hier der Religion öffentlich-politischen Raum, den JosH Casanova für moderne Gesellschaften als »public religions« beschrieben hat, sondern vielmehr ihre enge, in den Augen mancher Akteure bis zur Deckungsgleichheit reichende staatskirchliche Symbiose.398 Neben diesen internen Grundvoraussetzungen förderten außerösterreichische Entwicklungen die Ausweisung entscheidend. Besonders die Aufmerksamkeit, die die europäische Presse nach 1830 der Religion widmete und der veritable Boom der konfessionellen Publizistik lenkten die Reflektoren der europäischen Öffentlichkeit auch auf den Konflikt im Zillertal und ließen Österreich als Inbegriff eines intoleranten und rückständigen Staates erscheinen.399 Gerade auch deshalb suchten die Staatspitzen eine schnelle Lösung der Zillertaler-Frage und bemühten sich dabei gleichzeitig, das öffentliche Bild Österreichs sorgsam zu korrigieren. Metternich selbst erläuterte in Depeschen an auswärtige k.k. Vertretungen oder in Schreiben an hochrangige Politiker die Ausweisung, indem er sie als notwendigen politischen Akt beschrieb, von dem in religiöser Beziehung die Ausgewiesenen selbst am stärksten profitierten. Auch in der Frankfurter Bundesversammlung suchte Metternich das Odium der Intoleranz vom Habsburgerstaat fernzuhalten.400 Die konsequente Haltung des Innsbrucker Landtags ermöglichte es der Regierung schließlich auch, den peinlichen und insgesamt politisch kompromittierenden Akt der erzwungenen Ausweisung auf die Tiroler Stände abzuschieben: Kaiser Ferdinand begründete
396 397 398 399 400
»Naturalismus, Böshianismus, Attheismus, Carbonarismus« vermutet wurden. DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 7, Ad. Zl. 3182, Äußerung d. Dekans zu Schwarzach, 09. 12. 1835. Ortner, Verwirrung, S. 204–207; DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 187, f.b. Ordinariat Brixen an Gubernium, 29. 01. 1836; ebenda, Nr. 1, Zl. 148, Bericht des Kuraten von Fügen, Dezember 1835; Gasteiger, Protestanten, S. 74; Leeb, Protestantismus, S. 55. Chvojka, Sedlnitzky, S. 42–80. Casanova, Religion, S. 27. Kap. 3.4.; Schneider, Barrikaden, S. 44–54, tabellarische Aufstellungen auf S. 46f. Bibl, Emigration, S. 93f.; Loesche, Duldung, S. 60; Ortner, Verwirrung, S. 186; Anm. 543.
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in seiner Entschließung vom 12. Jänner 1837 die Ausweisung der Zillertaler und nachträglich auch die Entschließung seines Vaters aus dem Jahr 1834 mit den »inständigen« und wiederholten Bitten der Tiroler Stände – eine für den zentralistischen »bürokratischen Obrigkeitsstaat« wohl singuläre Begründung eines kaiserlichen Beschlusses.401 Diese Konstellation von staatskirchlicher Revolutionsfurcht, strengkirchlichultramontanen Semantiken und einer allgemein religiös sensibilisierten politischen Öffentlichkeit Europas drängte die Zillertaler Glaubensgemeinschaft zunehmend an den Rand der josephinischen Toleranz und in eine rechtliche Zwischenzone, in der letztlich nicht mehr die josephinische oder die Toleranzgesetzgebung des Deutschen Bundes (Artikel XVI. der Bundesakte von 1815) die entscheidenden Referenzkriterien bildeten, sondern politisch-religiöse, antirevolutionäre Grundmotive handlungsleitend wurden.402 Die besondere Tragik dieses Schicksals, und dies wurde in den meisten polemischen und wissenschaftlichen Darstellungen bislang übersehen, bestand darin, dass die Glaubensgemeinschaft in ihrem preußischen Exil auf ähnliche konfessionelle und staatskirchliche Exklusionsmechanismen traf. Während ein Teil der Gemeinschaft bereits wenige Wochen nach der Ankunft im Riesengebirge weiterzog, wandte sich ein Teil den sogenannten »Altlutheranern« zu, die die preußische Unionskirche ablehnten. Damit zogen sich die Tiroler Emigranten den Zorn der örtlichen Geistlichen zu, die, ähnlich wie der katholischer Klerus im Zillertal, von »Sektenwesen« und von »religiöser Krankheit« sprachen, die ausgetrieben werden müssten.403 Trotz aller markanten Parallelen404 zu den Massenausweisungen des Konfessionellen Zeitalters sollte man sich allein schon aufgrund dieser genuin 401 In der Tat fehlt in der kaiserlichen Entschließung vom 2. April 1834 jeder Verweis auf die Tiroler Stände. Gsteu, Landtag, S. 149f.; Hölzl, Protestanten, S. 158f.; Schober, Landtag, S. 98. 402 Grisar, Tschiderer, S. 139–141; Streiter, Blätter, S. 130. 403 Bahlcke, Glaubenscolonie, S. 198–201. 404 Die Zillertaler und die »Geheimprotestanten« dürften besonders in der privaten religiösen Praxis deutliche Ähnlichkeiten aufweisen, wenngleich der Organisationsgrad der Salzburger Emigranten deutlich höher als jener der Zillertaler Glaubensgemeinschaft war und zumindest teilweise religiöse Kommunikation von physischer Anwesenheit entkoppelte. Weitere diskursive Ähnlichkeiten finden sich in den Fremdbeschreibungen der religiösen Minderheiten, denen in beiden Fällen ein konfessioneller Status aberkannt wurde, sowie in einer Politisierung ihrer Religiosität, die in der frühneuzeitlichen Variante als »Rebellion« gegen die Obrigkeit interpretiert wurde. Als Parallele lassen sich auch jene rechtlichen Normen deuten, die in beiden Beispielen als Referenzwerte das Zusammenleben der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften regeln sollten: Im 17. und im 18. Jahrhundert der Westfälische Frieden, für die Zillertaler-Frage die Deutsche Bundesakte und das josephinische Toleranzpatent. In beiden Fällen schließlich konnte Preußen öffentlichkeitswirksam die Rolle der protestantischen Schutzmacht einnehmen und die Ausweisungen politisch verwerten. Schlachta, Emigration; Leeb, Konfessionen.
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»modernen« Komponenten davor hüten, Verbindungen oder gar kausale Zusammenhänge zwischen diesen und dem Zillertaler Konflikt herzustellen.405 Ebenso bleibt es fraglich, ob man die Ausweisung und ihre Vorgeschichte als Symptome jenes »Zweiten Konfessionellen Zeitalters« betrachten sollte, das Olaf Blaschke mehrfach und mit Nachdruck als heuristisches Modell zur Erklärung der konfessionellen Entzweiung des 19. Jahrhunderts präsentierte.406 Damit werden liberale bzw. protestantische Diskurse aus dem 19. Jahrhundert historiographisch reproduziert, für den Zillertaler Konflikt ein konfessioneller Charakter präempirisch vorausgesetzt und der Katholizismus in Tirol als überzeitlich antiprotestantisch-intolerant präfiguriert, ohne jedoch dessen Beobachtungsform zu berücksichtigen. Die Frage, wie der Katholizismus auf die religiöse Devianz reagierte, wie er sie definierte, Grenzen zu ihr zog und damit sich selbst umschrieb, bleibt, von der Wirkmächtigkeit bestimmter Geschichtsdeutungen verdeckt, unbeantwortet.407
3.3. »Roher, als das Metall, das er bearbeitet«408 : Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft katholisch beschrieben Denn religiöse Abweichung, mithin also die Definition religiöser Grenzen, ist nicht einfach gegeben, sondern vielmehr ein soziales Konstrukt.409 Religiöse Grenzziehungen sind somit nicht statisch, sondern ergeben ein hybrides, dynamisches Muster, das sich kontingenten Wandlungen anpassen muss, oder in den Worten Friedrich Wilhelm Grafs: zu »permanenter Identitätsarbeit« auffordert.410 Auch Willibald Steinmetz brachte diesen Prozess prägnant auf den Punkt: »Diejenigen, die eingeschlossen und ausgegrenzt werden sollen, müssen bezeichnet werden, man muss einen Namen für sie haben.«411 Gerade deshalb sollte man die katholischen Beschreibungen der Zillertaler Glaubensgemeinschaft nicht als kalkulierte Diffamierung oder als politisches Manöver, das den konfessionellen Schutzschirm des Toleranzpatentes auszuhebeln suchte, aburteilen, sondern sie eher als Einblicke in die Welt lesen, wie sie 405 Anm. 341. 406 Bahlcke, Glaubenscolonie, S. 183; Leeb, Protestantismus, S. 49; Hölzl, Protestanten, S. 159. 407 Huber, Antiprotestantismus. 408 DAB, KA 1834, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 3043, Verzeichnis der Oster-Beicht-Renitenten pro 1834, Pfarre Zell am Ziller, Nr. 33. 409 Lipp, Außenseiter. 410 Graf, Wiederkehr, S. 19; Corti, Devianz. 411 Steinmetz, Nation, S. 217.
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sich dem Katholizismus Tirols in den 1830er Jahren präsentiert hat.412 Jedenfalls forderte der Brixener Bischof Bernhard Galura seinen subalternen Klerus im Zillertal mit Nachdruck auf, die »Charakteristika« der einzelnen Mitglieder der devianten Glaubensgemeinschaft »mit aller Gewissenshaftigkeit« zu erfassen und sich dabei »bloß auf Thatsachen« zu beziehen.413 Diese Fremdbeschreibungen markierten die Grenzen der katholischen Selbstbeobachtungen und bilden damit einen zentralen Zugang zu Selbstverständnis und Selbstreflexion des Katholizismus im deutschsprachigen Tirol. Die semantische Bezeichnung des »Anderen« und die Codierung der katholischen Beobachtung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft rekurrierten dabei auf die Differenz zwischen Selbstund Fremdreferenz des Katholizismus, kurzum: Die Beschreibungen der Zillertaler sagen uns mehr über die Beschreibenden, als über das Beschriebene.414 Zu beachten ist ferner auch die Medialität dieser Fremdbeschreibungen. Sie waren zwar zweifelsfrei von gesamtkatholischen Semantiken und von der auch im Zillertal rezipierten europäischen »Zillertal-Publizistik« stark beeinflusst, entstanden jedoch in Kommunikationssituationen unter Anwesenden, die über das Medium Brief/Bericht hergestellt wurden. Sie bieten somit tiefe Einblicke in eine historisch eigentümliche Form katholischer Beobachtung unter Anwesenden, die ab den 1840er Jahren auch in Tirol zunehmend und nachhaltig medialisiert, mithin von den Anwesenden entkoppelt wurde. Die katholischen Beobachter wussten, dass ihre Beschreibungen nur von Anwesenden – den Adressaten der brieflichen Korrespondenzen – gelesen wurden, und auch diese Beobachtungen waren – wiederum brieflich oder mündlich vermittelt – nur Anwesenden zugänglich. Dagegen waren allen an diesem kommunikativen Austausch als Beobachter zweiter Ordnung Beteiligten andere Beschreibungen der Zillertaler Glaubensgemeinschaft in der außerösterreichischen Presse relativ problemlos zugänglich. Man wusste somit von den Meinungen und Beobachtungen anderer, nahm sie zur Kenntnis, konnte diesen aber nur selten mit eigenen Texten antworten.415 Jenseits aller »Schuld-« und »Wahrheitsfragen«, die jede Form der historischen Erinnerung an die Zillertaler Ausweisung bislang dominierten, steht hier also nicht der Gegenstand der Beobachtung selbst im Vordergrund, sondern die Codierung und semantische Ausformulierung der Beobachtung. Dabei bieten 412 Bibl, Emigration, S. 75f.; Hölzl, Protestanten, S. 150, S. 154; Maleczek, Glaube, S. 4153. 413 DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 4, Zl. 587 et 628, Vereinte Ordinariats-Amts-Instruction an die Seelsorgs-Geistlichkeit im Zillerthale, die Durchführung der a.h. Entschließung über die dortigen Sektirer betreffend, 07. 03. 1837. 414 Luhmann, Gesellschaft, S. 867–893; ders., Religion, S. 320–356; Nassehi, Identitäten, S. 226–232; Koselleck, Gegenbegriffe; ähnlich auch der diskurstheoretische Ansatz bei Landwehr, Diskurs, S. 109f. 415 Schlögl, Politik; ders., Anwesende; Kieserling, Kommunikation, S. 213–256.
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sich – quellen- und überlieferungsbedingt – zwei Zugänge auf einer kollektiven und einer individuellen Ebene der Fremdbeschreibung an. Ein bereits oberflächlicher Blick auf die katholischen Fremdbeschreibungen der Zillertaler Glaubensgemeinschaft lässt erkennen, dass der Katholizismus – wie auch der Staat – mit der ostentativen Abweichung im Zillertal überfordert war und sie insbesondere sprachlich nicht einordnen konnte. Man fand schlicht keine einheitlichen semantischen Konzepte zur Konstruktion eines möglichen konfessionellen »Anderen«.416 Die offene Abkehr der sechs Zillertaler von der katholischen Kirche löste vielmehr ein bemerkenswertes Spiel der Worte aus, das die spätere Geschichtswissenschaft zuweilen fortsetzte. Gleich im Anschluss an dieses Ereignis entstand jener Begriff, der zur prägenden Etikette der Glaubensgemeinschaft avancierte und bis heute unverwechselbar mit ihr bzw. ihrer Geschichte verknüpft wird: »Inklinanten«, mit deutlich negativer Konnotation versehen, drückte als katholische Zuschreibung aus, dass die abweichende Gruppe bloß zum Protestantismus hinneige. Ihre Abwendung von der katholischen Kirche sei somit irdischen und triebhaften Motiven geschuldet, ohne wirklich in den Protestantismus zu münden.417 Bereits der Begriff stellte somit, ohne sich dabei auf eine tiefere theologische Reflexion zu stützen, die Religiosität der Glaubensgemeinschaft in Frage und unterstellte ihr vielmehr eine vornehmlich irdische, diesseitige Grundlage von zweifelhafter moralischer Legitimation.418 Wie das Beispiel des kleinen Ortes Brandberg im hinteren Zillertal, einer Hochburg der abweichenden Glaubensgemeinschaft, zeigt, wurde der Begriff bereits in den 1820er Jahren verwendet. 1826 beklagte der Vikar Michael Tiefenthaler eine »Hinneigung zum Protestantismus«, ab 1829 verwendete auch 416 Die folgende semantische Analyse folgt methodisch dem Vorschlag, für die begriffsgeschichtliche Untersuchung semantischer Felder – die also über die klassische Fixierung auf einzelne »Schlüsselbegriffe« hinausreicht – zeitgenössische Lexika als Quellengrundlage heranzuziehen: Steinmetz, Nation. 417 Die negativen Zuschreibungen, die »neigen« oder »inclinare« mitführten, finden sich deutlich in den zeitgenössischen Lexika ausformuliert, etwa in Neigung (Inclinanz), in: Pierer’s Universal-Lexikon 11, S. 772f.; S. 773: »Willensbestimmung aus innerem Tribe, ohne daß Reflexion des Verstandes, od. Vernunftgründe, sich dabei vorwaltend geltend machen, namentlich insofern sie dem Begehren eine beharrlich Richtung gibt« oder Trieb, in: Binder [Hrsg.], Realenzyklopädie XVI, S. 236: »Man unterscheidet einen blinden T., hervorgehend aus der sinnlichen Natur, der, wenn er dauernd ist, Neigung heißt […].« 418 TLMF, F.B. 2076, Nr. 162, Hofrath Robert Ritter von Benz, Uiber den Protestantismus im Zillerthale in Tirol, 1835, f. 6r. sowie ein Begleitschreiben desselben an Erzherzog Johann vom 20. 12. 1835, ebenda, f. 1: »daß diese Religions-Spaltung auf einer sehr oberflächlichen Grundlage beruht, daß sie sich selbst keine Rechenschaft über sich abgeben kann, weder den Katholizismus noch Protestantismus genau kennt, und blos aus dem Bestreben hervorgegangen [zu sein] scheint, größere Ungebundenheit in der Lebensweise zu gewinnen«; Bibl, Emigration, S. 76.
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sein Nachfolger, Michael Witzany, die latinisierte Form und sprach nunmehr konsequent von einer »Inklinanz zum Protestantismus«, die er bei einigen seiner Gemeindemitglieder beobachtete. Witzany übertrug den Begriff in seinen Berichten an die Salzburger Bistumsverwaltung auch erstmals auf die Gruppe selbst, die er nun als »Inklinanten«, also »Hinneigende« oder »Neigende« bezeichnete.419 Der Begriff bzw. dessen semantisches Feld verbreiteten sich erstaunlich rasch, weltliche Behörden wie auch Geistliche in den Diözesen Salzburg und Brixen übernahmen ihn. Zunächst umschrieb man die Gruppe freilich noch diffus als »inclinisierende Sektierer« oder auch als »Glaubens-Inklinanten«, in wenigen Jahren setzte sich jedoch die heute noch verwendete prägnante Kurzform »Inklinanten« oder bestenfalls topisch ergänzt: »Zillertaler Inklinanten« durch.420 Die langlebige Etikettierung »Inklinanten« dürfte somit in einem geistlich-kirchlichen Umfeld entstanden sein, wurde allerdings bald und vornehmlich von staatlichen Behörden verwendet.421 1834 fand sie schließlich Eingang in die kaiserliche Entschließung und wurde nachgerade zur offiziösen Bezeichnung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft.422 Selbst die preußischen Behörden übernahmen den Begriff, als sie ein »Comit8 für die Angelegenheiten der Zillertaler Inklinanten« einrichteten, das sich um die religiösen und materiellen Belange der Neuankömmlinge in Schlesien kümmern sollte.423 Der Katholizismus bildete – ohne diesen theologisch wenig fundierten Begriff selbst abzulegen – dagegen bald schon ein reiches und durchaus auch reflektierteres semantisches Reservoir aus, um der Irritation im Zillertal zu begegnen und sie als »deviant« zu konstruieren.424 Der Klerus bezeichnete die Gruppe in seinen Beobachtungen als »Apostaten«, »Irreligiöse«, »Häretiker«, »Fanatiker«, »Abgefallene«, »Schwärmer«, »Renegaten«, »Renitente« oder, und diese Bezeichnungen dürften insgesamt dominiert haben, als »Sekte« bzw. als »Sektierer«.425 Aus dieser auf den ersten Blick willkürlich gewählten und im Vergleich zu 419 TLA, Pfarrarchiv Brandberg, Rep. 619, Nr. 9, 18. 01. 1826; Nr. 10, Nr. 29. 05. 1829; Nr. 11, [1829]; Nr. 15, 14. 05. 1830. Die Arbeit von Hölzl, Protestanten, ist die bislang einzige, die mit diesen Quellen arbeitet und mikrohistorische Perspektiven eröffnet. Bibl, Emigration, S. 76, vermutet dagegen, dass der Begriff erstmals 1833 in einem Gutachten des Salzburger Fürsterzbischofes verwendet worden sei, der ihn allerdings von seinem subalternen Klerus übernommen haben dürfte. 420 Die Belegstellen folgen der Nennungsreihenfolge im Text: TLA, Pfarrarchiv Brandberg (Rep. 619), Nr. 58, Nr. 69. 421 TLA, Geheime Präsidiale, S. I, Schachtel XVII, Sig. XVIII, 4, Nr. 144, Bericht d. Landgerichts Zell am Ziller, 19. 09. 1830. 422 Sauser, Inklinanten, S. 37f. 423 Bahlcke, Glaubenscolonie, S. 189. 424 Corti, Devianz. 425 Anstatt auf Einzelbelege wird hier auf die dichte Aktenüberlieferung in DAB, KA, Fs. 55 (1830–1837) verwiesen. Zumindest die Verwaltungspraxis innerhalb der Brixener Kurie legte sich begrifflich fest: Der Faszikel »55« der Konsistorialakten erhielt 1830 den Titel
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den katholischen Fremdbeschreibungen des 17., 18. und selbst des 19. Jahrhunderts nachgerade diffusen begrifflichen Vielfalt lassen sich vorab einige Schlüsse ziehen und semantische Gemeinsamkeiten ableiten.426 Zunächst zeigen alle Bezeichnungen, dass die vom Katholizismus abweichende Gruppe, wenngleich ihre tatsächliche personelle Größe im Verborgenen lag, als Gemeinschaft wahrgenommen wurde, die sich durch bestimmte typologische Kennzeichen vom Katholizismus bzw. der katholischen Kirche unterschied.427 Obwohl ihre Mitglieder im Sinne des Staatskirchenrechts formell noch Mitglieder der katholischen Kirche geblieben waren – der für einen Kirchenaustritt notwendige sechswöchige Religionsunterricht wurde ihnen versagt – schlossen die meisten katholischen Beobachter die Zillertaler Glaubensgemeinschaft semantisch bereits von der Kirche aus. Eine zweite Grundkomponente des begrifflichen Ensembles, mit dem die katholischen Beobachter die Zillertaler Glaubensgemeinschaft beobachteten, war eine erhebliche Verstärkung negativer, moralisch diskreditierender Zuschreibungen. So führte etwa »Apostasie«, wie ein zeitgenössischer Lexikonartikel festhielt, »immer einen beschimpfenden Nebenbegriff an sich.«428 Ähnlich wie »Inklinanten« unterstellten auch diese theologisch reflektierteren Begriffe der Glaubensgemeinschaft lediglich niedere, moralisch verwerfliche und keinesfalls religiöse Motive für den Kirchenaustritt.429 Drittens wurden die Zuschreibungen synonym und kumulativ verwendet: In seinem »Häresie-Bericht« strengte der Kurat von Finkenberg, Anton Traut, en
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»Sektirer im Zillertal«, und führte diesen Namen bis zur Reorganisation und Neufaszikulierung der Aktenablagen im Jahr 1861, wobei er bald schon nach 1837, dem Jahr der Ausweisung, als Sammelablage für alle Akten, die andere Konfessionen betrafen, diente. So finden sich hierin Akten zum Deutschkatholizismus wie auch zu protestantischen Industriearbeitern in Vorarlberg. Die »Geheimprotestanten« des 17. und 18. Jahrhunderts wurden vornehmlich als »Ketzer«, und, politisch gewendet, als »Rebellen« bezeichnet: Schlachta, Emigration, S. 79–86. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts markierten die kirchlichen Behörden Brixens die religiöse Devianz im Zillertal mit dem Begriff »Ketzer«: DAB, Consistorialprotokoll 1803, S. 221–223, 05. 04. 1804. Sekte, in: Binder [Hrsg.], Realenzyklopädie IX, S. 418: »Sekte nennt man eine religiöse Gesellschaft, welche sich von der allgemeinen Kirche trennt und ausscheidet, um eine bestimmte Ansicht oder Meinung zu bekennen und im Leben geltend zu machen.« Schwärmerei und schwärmerische Sekten der neuesten Zeit, in: Wetzer/Welte [Hrsg.], Kirchen-Lexikon IX, S. 819–840, S. 819–821, zählt als »überwiegende Charakteristika« abweichender Gemeinschaften auf: »häufige Selbstmorde«, »Askese und Selbstpeinigung«, »unnatürliche Ausschweifungen«, »Empörung gegen weltliche und geistliche Obrigkeit«, »Gabe der Prophezeyung«, die Bestrebung, ein »vollendetes Reich Gottes auf Erden zu gründen«. Apostasie, in: Binder [Hrsg.], Realenzyklopädie I, S. 583f., S. 584. Ebenda, S. 584: »Höchstens ließe sich das Prädikat Apostat […] auf Solche – aber auch nur diese formell – anwenden, deren Confessionswechsel erwiesener Maßen niedrige Motive zu Grunde liegen.«; Häresie, in: Binder [Hrsg.], Realenzyklopädie V, S. 22; Aberglaube, in: Wetzer/Welte [Hrsg.], Kirchen-Lexikon I, S. 24f.; Irreligiosität, in: ebenda V, S. 837.
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suite die Begriffe »Apostaten«, »Inklinanten« und »Ketzer« an.430 Dieser nachgerade beliebige Einsatz der Bezeichnungen stellte eher die Regel als eine Ausnahme dar, abgesehen von den Leitbegriffen »Inklinanten« und »Sectierer« waren die begrifflichen Variationen weder an eine zeitliche Dynamik noch an eine inhaltliche Hierarchie gebunden. Den katholischen Beobachtern waren andere Beschreibungen der Zillertaler Glaubensgemeinschaft nur schwer zugänglich, Informationen wurden meist nur in direkter Interaktion ausgetauscht. So entstanden wohl individuelle Muster der Fremdbeschreibung, die allerdings ein bestimmtes semantisches Feld nicht überschritten. So sprach der Kurat von Hippach, Johann Rappold, der sich durch einen energischen pastoralen Aktionismus hervortat, in seinen zahlreichen Berichten nach Brixen stets und ausschließlich von einer »Sekte« und auf individueller Ebene von »Sektirern«.431 Diese variablen semantischen Kombinationsmöglichkeiten überraschen: Während etwa auch theologische Lexika Begriffe wie »Schwärmer«, »Ketzer« und »Sektierer« als weitgehend deckungsgleich beschrieben,432 wiesen andere Bezeichnungen für die Zillertaler Gemeinschaft unterschiedliche, ja geradezu gegensätzliche Sinngehalte auf. So stellten die zeitgenössischen theologischen Lexika die im Zillertal verwendeten Begriffe in eine zeitliche Abfolge und definierten damit gleichsam eine Evolution der Devianz: Häresie bzw. Ketzerei gingen in diesen Definitionen dem endgültige Abfall von der Kirche voraus.433 Gerade diesen beiden Begriffen wurden unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen: Der »Häretiker« lehne demnach die kirchlichen Lehren und Praktiken ab, sei aber nach wie vor Teil der Kirche, »Apostasie« bezeichnete dagegen den definitiven, bereits vollzogenen Abfall von der Kirche. »Sekte« schließlich wies auf eine geringe religiöse Organisationsbildung außerhalb des Kirchenverbandes hin.434 Kurzum: Diese vielschichtige, mitunter widersprüchliche und in unterschiedlichem Grad theologisch begründete Semantik zeigt zunächst vor allem, dass das religiöse bzw. konfessionelle Substrat der Zillertaler Glaubensge430 DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 6, Zl. 1005, 06. 04. 1837. 431 DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 1, Zl. 148, Dezember 1835, 16. 01. 1836; ebenda, KA 1837, Fs. 55, Nr. 6, Zl. 453, 14. 02. 1837; Nr. 913, 30. 03. 1837; Zl. 1038, 15. 04. 1837. 432 Schwärmerei und schwärmerische Sekten der neuesten Zeit, in: Wetzer/Welte [Hrsg.], Kirchen-Lexikon IX, S. 819–840. 433 Ernst Moy de Sons, Inquisitio haereticae pravitatis, in: Wetzer/Welte [Hrsg.], KirchenLexikon V, S. 648–650. 434 [Mack], Abfall, in: Wetze/Welte [Hrsg.], Kirchen-Lexikon I, S. 26; Apostasie, in: Binder [Hrsg.], Realenzyklopädie I, S. 583f.; Häresie, in: Wetzer/Welte [Hrsg.], Kirchen-Lexikon IV, S. 869–873, hier : S. 871; »Sekte«, in: Binder [Hrsg.], Realenzyklopädie IX, S. 418. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sprach die katholische Kirche im deutschen Sprachraum Angehörige anderer Konfessionen noch vielfach als »Häretiker« an: Hölscher, Konfessionspolitik, S. 27.
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meinschaft für den Katholizismus in Tirol ungewiss und letztlich auch undefinierbar blieb. Man registrierte zwar das Bekenntnis einiger Mitglieder der Glaubensgemeinschaft zur Augsburger Konfession, schenkte diesem aber wenig Glauben und bezweifelte, ob eine solche Aussage allein schon ausreiche, um die Gruppe als protestantisch anzuerkennen. Zahlreiche katholische Kommentare verdeutlichen diese skeptische Unsicherheit: In kirchlichen bzw. in kirchennahen Berichten überwog deutlich die Ansicht, man habe es nicht mit Protestanten, sondern vielmehr mit einem hybriden, irdisch begründeten, sich zwischen den Konfessionen bewegenden und wenig systematisierten Glaubenskomplex zu tun, dessen einheitliche Grundlage lediglich ein aggressiver Antikatholizismus bilde.435 Diffamierende Bezeichnungen wie »amphibalisches Ungeziefer« brachten diese Semantiken prägnant auf den Punkt.436 Der Brixener Fürstbischof Bernhard Galura vertraute diese definitorische Unsicherheit auch seinem Tagebuch an, wo er von »sogenannte[n] Inclinanten, von denen die katholische Religion nicht sicher sey«, schrieb.437 Genau besehen, verblasst auch die vielfach vorgetragene These der gezielten konfessionellen Diskreditierung, derzufolge Staat und Kirche die Zillertaler Glaubensgemeinschaft jenseits der Grenzen der Toleranz rücken wollten. Zwar sandte Metternich in der Tat im Sommer 1836 den k.k. Rat Carl Ernst Jarcke auf die Suche nach Indizien, die gegen einen möglichen protestantischen Charakter der Glaubensgemeinschaft sprächen, in das Zillertal.438 Die Regierung dürfte jedoch nach Argumenten gesucht haben, um die mögliche Ausweisung vor der europäischen Öffentlichkeit zu legitimieren, vor allem aber um in Deutschland nicht als vertragsbrüchig zu erscheinen und den Kölner Kirchenstreit, der gerade im Biennium 1836–1837 seinem aufsehenerregenden Höhepunkt zusteuerte, nicht zu Ungunsten der katholischen Kirche zu beeinflussen.439 435 DAB, KA 1835, Fs. 55, Nr. 3, Zl. 2178, Bericht über die Zahl der Osterbeichtrenitenten Hippach, 17. 08. 1835. Von einer Vermischung der »Cryptoprotestanten mit den wirklich Katholischen des Thales« spricht auch Schrödl, Zillertal, in: Wetzer/Welte [Hrsg.], Kirchen-Lexikon XI, S. 1284–1286; TLA, Pfarrarchiv Brandberg, Rep 619, Nr. 27, Bericht des Vikars an das Landgericht Zell, 1832. 436 Bericht des Landgerichts Zell, 11. 06. 1837, zitiert in: Bibl, Emigration, S. 96; Nagl, Auseinandersetzung, S. 71. 437 DAB, Tagebuch Galura, f. 62, Nr. 1962, 09. 05. 1836. Zu Galuras Tagebuch Laubenberger, Anmerkungen. 438 DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 6, Zl. 1582, Bericht des Dekanalamtes Fügen über den darmalig. Stand. d. Sectirer im Oberzillerthal, 21. 06. 1837. Jarckes Reise in das Tal wurde vom örtlichen Klerus misstrauisch beobachtet: ebenda, KA 1837, Fs. 55, Nr. 6, Zl. 1582, Bericht d. Dekanalamtes Fügen über den Stand d. Sectirer im Oberzillerthal, 21. 06. 1837. Zu Jarcke, konvertierter Publizist, Jurist und Diplomat im Dienste der Habsburgermonarchie, Kraus, Jarcke. 439 Metternich brachte die beiden Konflikte immer wieder in Verbindung: Loesche, Duldung, S. 60; DAB, Tagebuch Galura, f. 72, Nr. 2420, 11. 08. 1838.
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Gegen diese These spräche außerdem die Tatsache, dass die Schwierigkeiten der katholischen Beobachter, die religiöse Grundlage der Zillertaler Glaubensgemeinschaft zu definieren, bereits bestanden hatten, bevor die Gültigkeit des Toleranzpatentes in Tirol, zu Beginn des Jahres 1832, obrigkeitlich fixiert wurde. Augustin Gruber, der Salzburger Erzbischof, der nach dem Gesuch um Austritt aus der katholischen Kirche prompt das Zillertal visitierte, kam in seinem Bericht an das Gubernium zum Schluss: »Es sind nicht Menschen, denen es um eine, ihrer Einsicht nach, reine Anbethung Gottes, um eine reine Moralität, um eine sichere Befolgung des göttlichen Willens zu thun ist, wie dieses in der Vorzeit bey manchem Irrlehrer, dem außer Hartnäckigkeit aus Stolze, der im Hintergrunde des Herzens lag, nichts vorgeworfen werden konnte.«440
Schärft man den Fokus und schenkt der katholischen Beobachtung der einzelnen devianten Individuen Aufmerksamkeit, so verliert die These der politisch motivierten konfessionellen Diskreditierung weiter an Substanz. Vielmehr wird dann ersichtlich, dass die kollektiven Bezeichnungen der Glaubensgemeinschaft Aggregationen der Beschreibungen ihrer einzelnen Mitglieder darstellten. Diese individuellen Beobachtungen waren gewissermaßen Derivate der staatskirchlichen Notwendigkeit, genauere und verlässlichere Informationen über den quantitativen Umfang der Glaubensgemeinschaft zu erhalten. Das Wissen der Behörden wie auch der Kirche über die Zillertaler Glaubensgemeinschaft war zunächst erstaunlich gering: Die Behörden rätselten beispielsweise 1830, ob die Glaubensgemeinschaft durch »Vererbung« oder »Proselytenmacherei« entstanden sei; 1832 begründete das Kreisamt Schwaz seinen Standpunkt, weder für noch gegen die Glaubensgemeinschaft eintreten zu können, damit, dass man »deren Glaubenslehre noch nicht kenne«; selbst kirchliche Vertreter mussten sich 1833 an staatliche Instanzen wenden, um genauere Aufschlüsse über die Größe der Glaubensgemeinschaft zu erhalten.441 Erst im Herbst 1833 organisierten die kirchlichen Behörden in Brixen und Salzburg eine konzertierte und systematische Beobachtung der Zillertaler Gemeinschaft und leisteten damit einen wesentlichen Beitrag zur Konstruktion der Zillertaler Devianz. Das pragmatische Kennzeichen für die Identifizierung der Abweichenden bildete die Ablehnung der Osterbeichte – ab Ostern 1834 sollte der Zillertaler Klerus akkurat gehaltene, sogenannte »Renitentenlisten« erstellen, die gleichsam als 440 TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale, Fasz. 3729, Zl. 1015 ex 1830, Feb Augustin, Bericht über das Zillertal, 06. 04. 1830, f. 5v ; zur Visitation knapp Gasteiger, Protestanten, S. 28. 441 Hölzl, Protestanten, S. 155; DAB, KA 1833, Fs. 55, Nr. 1, Bericht des feb Konsistoriums Salzburg, 01. 05. 1833, Zitat f. 8; ebenda, Nr. 3, Zl. 24, f.b. Ordinariat Brixen an k.k. Gubernium, 21. 01. 1833; TLA, Pfarrarchiv Brandberg (Rep 619), Nr. 19, Landgericht Zell an Vikariat Brandberg, 22. 06. 1831.
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statistische Grunddaten über die Situation im Zillertal Aufschluss geben sollten.442 Allerdings fügten die Kleriker diesen »Läster- und Lasterlisten«, wie Georg Loesche sie nannte,443 mitunter auch äußerst detaillierte Beschreibungen der einzelnen beobachteten Personen hinzu. Diese Praxis der verstärkten kirchlichen Observierung bietet somit einen sehr unmittelbaren Zugang zur katholischen Beobachtung der »Anderen«. Es handelte sich dabei nicht nur um Momentaufnahmen, bisweilen schilderten katholische Geistliche weit zurückreichende Begebenheiten und analysierten die Entwicklung in ihren Pfarren über längere Zeiträume hinweg. Wichtig ist ferner, dass diese Beobachtungen des Klerus nicht nur das semantische Gerüst für die Begriffsbildung auf kollektiver Ebene bereitstellten, sondern auch als argumentative Basis für staatliche und kirchliche Gutachten dienten, die immer wieder explizit auf sie verwiesen.444 Damit lassen sich diese Listen als Zeugnisse der diskursiven Konstruktion der Glaubensgemeinschaft verstehen: Sie individualisierten die Ausgrenzung der Glaubensgemeinschaft aus dem religiösen Feld des Katholizismus und objektivierten diese dadurch. Wie in der diskursiven Schaffung der »unheiligen Stadt« im England des frühen 19. Jahrhunderts waren es gerade die Beobachtung und Beschreibung einzelner Individuen, die, statistisch summiert, religiöse Diskurse mit hoher Evidenz und Empirieresistenz ausstatteten.445 Die Zillertaler Priester beschrieben in ihren Berichten zunächst die gegenwärtige Verfassung der Glaubensgemeinschaft auf individueller Ebene und leiteten davon dann deren Entstehungsgeschichte ab. Zunächst ist bemerkenswert, dass die Kleriker nicht nach religiösen oder konfessionellen Unterschieden Ausschau hielten, sondern ihre Beobachtungen vielmehr moralisch begründeten. In den Augen der Priesterschaft wich die Glaubensgemeinschaft vor allem durch das moralische Verhalten ihrer Mitglieder vom Katholizismus ab, was sich in den »Renitenten-Berichten« in einem beeindruckenden Ensemble an moralisch verwerflichen Zuschreibungen niederschlug: Die »Beicht-Renitenten« 442 DAB, KA 1833, Fs. 55, Nr. 3, Zl. 2612, feb. Konsistorium Salzburg an f.b. Ordinariat Brixen, 02. 10. 1833. Um die Erhebungen möglichst einheitlich zu gestalten, übersandten die Ordinariate den Seelsorgern im Zillertal standardisierte Formulare. 443 Loesche, Duldung, S. 46. 444 TLA, Geheime Präsidiale, Schachtel XVII, Sign. XVIII, 4 (Fasz. 3889), Nr. 85, Bericht des k.k. Landgerichtsadjunkten Gerstgrasser, 24. 06. 1836; Gasteiger, Protestanten, S. 72f. Der von Ortner, Verwirrung, S. 191–215, edierte Visitationsbericht des Salzburger Fürsterzbischofs von Schwarzenberg vom 22. November 1836 basierte weitgehend auf den Beobachtungen seines subalternen Klerus. Bereits 1830 hatte sein Vorgänger Augustin Gruber dessen Meinung zur Zillertaler Glaubensgemeinschaft mit den Betrachtungen des lokalen Klerus beglaubigt: TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale, Fasz. 3729, Zl. 1015 ex 1830, Feb. Augustin, Bericht über das Zillertal, 06. 04. 1830, f. 6. 445 Brown, Death, S. 32f.
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seien »verdorben«, »unkeusch«, »unschamhaft«, »liederlich«, »roh«, »leidenschaftlich«, »heuchlerisch«, »verschmitzt«, »verschlagen«, dem Alkohol und sexuellen Trieben verfallen sowie prinzipiell »bösartig«, »gewalttätig« und »prahlerisch«.446 Die begriffliche Vielfalt dieser Bestandsaufnahme sittlicher Verfehlungen kannte kaum Grenzen, ein Kleriker bezeichnete den abweichenden Zillertaler gar pauschal als »homo luridus«.447 Paradigmatisch für diese vielmehr moralische denn konfessionelle Grenzziehung im Zillertal ist schließlich, dass der örtliche Klerus in seinen Vorschlägen zur Behebung und Pazifizierung des Konflikts neben einer verstärkten Pastoral vor allem den Einsatz moralisch-erzieherischer Mittel forderte.448 Der sechswöchige Religionsunterricht, der 1837 als letzte Instanz die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft zum Katholizismus zurückführen sollte, berührte ebenfalls vornehmlich moralische Fragen, insbesondere die katholische Pflicht des Gehorsams gegen staatliche und kirchliche Obrigkeiten wurde verstärkt betont.449 Nur wenige Beobachtungen hoben neben moralischen auch religiöse Elemente der Zillertaler Bewegung hervor. Auf individueller Ebene notierten die Zillertaler Priester vor allem einen markanten Antikatholizismus, der als grundlegende Gemeinsamkeit der devianten Individuen immer wieder betont wurde. Darüber hinaus beklagte der Klerus »Proselytenmacherei« und »fanatische Schwärmerei«, ohne jedoch weitere theologische Analysen anzustellen.450 Stärker in den Fokus rückten die Priester dagegen die intellektuellen Grundlagen der Gemeinschaft. Mit nachgerade beißender Häme dokumentierten sie in ihren Berichten den hohen Grad – gut zwei Drittel – an Analphabeten in der Gruppe, der in vielen Fällen eine individuelle Bibelinterpretation ausschließe. Einen Großteil der Gemeinschaft apostrophierten die katholischen Beobachter schlicht als 446 Die Berichte der Geistlichkeit der Diözese Brixen liegen in DAB, KA 1834, Fs. 55, Nr. 2; KA 1835, Fs. 55, Nr. 3; KA 1836, Fs. 55, Nr. 9; KA 1837, Fs. 55, Nr. 7. Die Beobachtungen des Salzburger Klerus operierten im Grunde mit den selben Unterscheidungen und Begriffen: TLA, Pfarrarchiv Brandberg, (Rep. 619), Nr. 43, 44; DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 6; KA 1837, Fs. 55, Nr. 1. 447 DAB, KA 1832, Fs. 55, Zl. 3359, Bericht von Johann Rappold, Kurat von Hippach, 09. 11. 1832. 448 DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 10, Präsidial-Äußerung in Betreff des im Zillerthal künftig zu beobachtenden Verfahrens zum Zwecke religiöser und sittlicher Bildung, 30. 10. 1837; TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale, Fasz. 3729, Zl. 1015 ex 1830, Feb. Augustin, Bericht über das Zillertal, 06. 04. 1830, f. 7v.; DAB, KA 1832, Fs. 55, Bericht des k.k. Landgerichts Zell am Ziller, 15. 11. 1832. 449 DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 4, Ad. Zl. 1738, Skizze zur Erteilung des sechswöchentlichen Unterrichtes im Zillerthale, undatiert. 450 DAB, KA 1835, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 1397, Dekanalamt Innsbruck an f.b. Ordinariat Brixen, 03. 06. 1835; KA 1834, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 3043, Copia Verzeichnis d. Osterbeicht-Renitenten Brandberg 1834, undatiert oder ebenda, Zl. 1086, Beichtrenitenten im Dekanat Fügen, 10. 05. 1834: »Wie bei allen übrigen ist eine Hauptingredienz seiner Religion, ein sehr bitterer Antikatholizismus.«
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»dumm«, »unwissend«, »ignorant« oder als »Idiot«, in manchen Fällen gesteigert gar als »Erz-Idiot« oder »Total-Ignorant«.451 »Moralische Verdorbenheit«, ein religiös unmotivierter, diffuser Antikatholizismus und schließlich eine drastische intellektuelle Minderwertigkeit waren also die Grundeigenschaften der Zillertaler Devianten, wie sie sich dem katholischen Klerus darstellten. Sie bildeten aber auch den Ausgangspunkt einer historischen Reflexion, die die Entwicklung der Glaubensgemeinschaft zum Gegenstand hatte. Zunächst, und das ist zentral, bestritt der katholische Klerus vehement die von den Zillertaler Devianten selbst betonte Kontinuitätslinie zum Salzburger Geheimprotestantismus. Zwar wurde ein denkbarer ferner Ursprung im Geheimprotestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts nicht von allen katholischen Beobachtern verworfen, allerdings habe das moralische Verhalten der Zillertaler eine neue, moderne Gemeinschaft geschaffen und den ursprünglichen Protestantismus in ein undefinierbares Gemenge mutiert.452 Gerade die unterstellte moralische Dekadenz bildete für viele Kleriker die zentrale Unterscheidung zu früheren protestantischen Gruppen und gleichermaßen, so waren sich die Beobachter einig, die treibende Kraft der Devianz. Die beobachtete Unmoralität entstelle zunächst jede Religiosität und habe im Zillertal zum abweichenden Verhalten geführt. Zweitens verleite diese primordial gedachte, nicht weiter hinterfragte Moralität viele Zillertaler zum religiös unmotivierten Abfall von der katholischen Kirche, um von deren Sozialkontrolle und sittlichen Standards befreit zu sein. Insgesamt, so fasste ein staatlicher Beamter zusammen, scheint im Zillertal ein »Zerrbild des Protestantismus […] als Ergebnis vorherrschender Sinnlichkeit« entstanden zu sein.453 Die Zillertaler Bevölkerung biete somit einen fruchtbaren Grund für religiöse/moralische Abweichung, die, wie die katholischen Beobachter nahezu einstimmig überzeugt waren, vom Ausland ideell, theologisch und finanziell gestützt werde. Viele Berichte schufen eine nachgerade apokalyptische Drohkulisse eines »revolutionären« protestantischen Auslandes, das durch eine im Zillertal erzwungene religiöse Entzweiung Eingang in Tirol erhalte, womit ein zentrales antirevolutionäres Bollwerk der Monarchie fiele.454 Besonders Ge-
451 DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 6, Verzeichnis der Osterbeicht-Renitenten im Vikariate Brandberg 1835, 06. 05. 1835. 452 DAB, KA 1836, Nr. 3, Zl. 513, Bericht von Anton Sander, Dekan zu Zell, 23. 01. 1836, f. 6. Ähnlich auch DAB, KA 1832, Bericht d. k.k. Landgerichts Zell, 15. 11. 1832. 453 DAB, KA 1832, Fs. 55, Bericht des k.k. Landgerichts Zell am Ziller, 15. 11. 1832, hier das Zitat; TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale, Fasz. 3729, Zl. 1015 ex 1830, Feb. Augustin, Bericht über das Zillertal, 06. 04. 1830, f. 12v.; DAB, KA 1835, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 1397, Aufsatz d. Herrn Rappold, 03. 06. 1835; ebenda, KA 1833, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 1265, Kongress-Votum Galura, 11. 05. 1833, f. 4. 454 Ebenda, f. 4; DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 3, Bericht des feb. Konsistoriums Salzburg, 17. 02.
Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft katholisch beschrieben
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rüchte über umtriebige Schweizer protestantische Bibelgesellschaften und die Zirkulation mehr oder weniger explizit antikatholischer, mitunter aus pietistischen Kreisen stammender Schriften beunruhigten den Klerus, staatliche Behörden wie ultramontane Politiker gleichermaßen. In der Tat wurde derartige Literatur bisweilen akkurat auf Tirol zugeschnitten und hier unter populären Titeln verbreitet, wie beispielsweise »Max, der Tyroler« (1831). Ultramontane wie Joseph von Giovanelli erblickten in dieser »erbärmlichen« Erbauungsliteratur den Beleg für den Einfluss des protestantischen Auslandes auf die Entstehung und Ausbreitung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft, sie galten als gefährlichste Instrumente einer gleichsam medial betriebenen »Proselytenmacherei«.455 Darüber hinaus bot eine als übermächtig wahrgenommene protestantische Publizistik den beunruhigten katholischen Beobachtern im Zillertal einen weiteren Beweis für die Interferenz diffuser ausländischer Mächte, indem das mediale Interesse und der hohe Nachrichtenwert eines religiösen Konflikts in Österreich bzw. Tirol mit politischen bzw. religiösen Interessen gleichgesetzt wurden. Mit anderen Worten: Wer über die Zillertaler Glaubensgemeinschaft berichte, müsse einerseits auf Verbindungen ins Tal zurückgreifen können und andererseits auf eine solidarische, protestantische Öffentlichkeit abzielen.456 Eine dritte Entstehungsthese ließe sich als »Pathologisierung« der Glaubensgemeinschaft bezeichnen. Es handelte sich dabei um eine diskursive Strategie der Ab- bzw. Ausgrenzung, die gleichzeitig auch die Ausweisung der von ihr konstruierten devianten Gruppe legitimierte. Das abweichende moralischreligiöse Verhalten wurde von den katholischen Beobachtern, aber auch in den Kongresssitzungen oder in Berichten staatlicher Behörden als Krankheit beschrieben, die durch ein »Gift der Irreligiosität« oder ein »Sektengift« von außen – unter anderem durch protestantische Schriften – nach Tirol importiert worden sei. Dieser »Krebs« wurde dabei vom gesunden, katholischen Körper Tirols unterschieden, eine religiöse Entzweiung als tiefe Wunde und unheilbare Krankheit versinnbildlicht. Für das fürsterzbischöfliche Konsistorium in Salzburg bestanden deshalb kaum Zweifel, dass das »Heilsinstrument« nur darin liegen könne, »den Krebsschaden selbst heraus zuschneiden, zur Rettung und Verwahrung der gesunden Theile.«457 Dieses Krankheitsbild wurde auch auf die 1836, f. 3–5; BPB, Neuere Handschriften, A.5, Tinkhauser, 1. Zeitgeschichtliches Tagebuch, unfoliert. 455 Müller, Max, der Tyroler ; Giovanelli, Familiengeschichte, S. 6255f. DAB, KA 1835, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 1397, Aufsatz d. Herrn Rappold, 03. 06. 1835. Zu den »protestantischen Missionairs« ebenda, KA 1832, Nr. 3, Zl. 24, 2417, 2411; TLA, Geheime Präsidiale, Schachtel XVII, Sig. XVIII, 6, Bibelgesellschaften u. Missionsanstalten (1833–1840); Mehnert, Evangelische Presse, S. 115–124; Mack, Menschenbilder. 456 DAB, KA 1836, Nr. 3, Zl. 513, Bericht von Anton Sander, Dekan zu Zell, 23. 01. 1836, f. 8f. 457 DAB, KA 1833, Fs. 55, Nr. 1, Bericht des feb. Konsistoriums Salzburg, 01. 05. 1833, hier das Zitat; ebenda, KA 1836, Fs. 55, Nr. 1, Zl. 148, Bericht des Kuraten von Hippach über die
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Individuen übertragen. Die »Renitenten-Berichte«, teilweise sprach man auch vom »status morbi«, erklärten sich das rasche Wachstum der Gemeinschaft als Epidemie: Die neuen Beichtverweigerer seien demnach von bereits Kranken »angesteckt« worden.458 Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die beobachtenden Kleriker vielfach in ihren Beschreibungen der Individuen auch deren äußere Erscheinung als von der Norm abweichend und als krankhaft schilderten. So fiel dem Kuraten von Hippach, Johann Rappold, ein »ungemein verzerrtes-verstörtes Gesicht« auf, das er als »ein[en] treue[n] Abdruck seiner verstörten Seele« deutete. Andere berichteten von »sehr abschreckenden Äußeren«, ein Priester schrieb gar von einer »unheiligen und abspenstigen Physiognomie«.459 Die Pathologisierung der Abweichenden verstärkte die Grenzziehung zwischen dem Katholizismus und der Glaubensgemeinschaft indem sie die Komplexität der Differenz auf »gesund/rein« und »krank« reduzierte und die Abweichenden als schädlichen Fremdkörper markierte. Die Ausweisung war hier bereits legitimiert, bevor sie politisch überhaupt in Betracht kam. Die drei parallel formulierten Erklärungsstränge – Moralität, der Einfluss des protestantischen Auslandes und die Pathologisierung – führten in den Augen des katholischen Klerus unvermeidlich zu Irreligiosität und religiösem Indifferentismus, der den meisten beschriebenen Individuen als »religiöse Kälte« attestiert wurde. Nur in raren Ausnahmefällen konnten die Geistlichen einzelnen Personen positive Eigenschaften wie etwa »Gutmütigkeit« oder »Bildung« abgewinnen, die allerdings mit dem Abfall von der katholischen Kirche verloren gegangen seien.460 Überblickt man die diversen Ebenen der Fremdbeobachtung, der Begriffe und diskursiven Strategien, die im Zillertal die Grenze zwischen dem Katholizismus und den »Anderen« zogen, so zeigt sich deutlich, dass ein konfessioneller Code, der zwischen katholisch und protestantisch unterschieden hätte, bestenfalls von nachgeordneter Bedeutung war. Wenngleich, wie spätere Autoren zu
Sektierer, 16. 01. 1836; TLA, Landschaftliches Archiv B/I/3, Congress-Protokoll 1833, f. 23v’; ebenda, A/II/1, Landtagsakten, Fasz. 71, Zl. 1042/67, Schreiben des Dekans Sander in Zell über die Umtriebe der Sektirer im Zillerthal, 21. 05. 1835, f. 6; ebenda, A/II/1, Fasz. 1, Congressprotokoll 1835, 29. 05. 1835, f. 84’; Ortner, Verwirrung, S. 194; Sarasin, Körper, S. 223–230; Scheutz, Seelenfänger, S. 325. 458 DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 1, Zl. 148, Bericht des Kuraten von Hippach über die Sektierer, 16. 01. 1836, hier das Zitat; ebenda, KA 1834, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 1086, Beichtrenitenten im Dekanat Fügen, 10. 05. 1834. 459 DAB, KA 1834, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 1086, Verzeichnis d. Osterbeicht-Renitenten der Kuratie Finkenberg 1834; 01. 05. 1834, Nr. 1; ebenda, Zl. 3043, Verzeichnis der Oster-Beicht-Renitenten pro 1834, Pfarre Zell am Ziller, Nr. 25 und Nr. 3. 460 DAB, KA 1834, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 1086, Osterbeicht-Renitentenbericht Hippach, 01. 05. 1834; ebenda, KA 1837, Fs. 55, Nr. 6, Zl. 453, Bericht des Dekanalamtes Fügen über den Geist der Sektirer, 14. 02. 1837.
Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft katholisch beschrieben
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Recht anklagten,461 die Beschreibungen des Zillertaler Klerus durchaus diffamierend und wohl kaum in einer nüchternen Analyse entstanden waren, so waren sie doch für die semantische Konstruktion des »Anderen« von elementarer Bedeutung. Die Beobachtung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft orientierte sich an moralischen Codierungen, sie unterschied gutes und schlechtes Verhalten der einzelnen Individuen und setzte dabei Religion/Katholizismus mit moralisch gutem Verhalten gleich.462 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verschob sich das Verhältnis von Moral und Religion erheblich – sie wurden komplementär, ja deckungsgleich gedacht. Um 1800 beispielsweise schrieb Friedrich Schlegel: »Trennt die Religion ganz von der Moral, so habt ihr die eigentliche Energie des Bösen im Menschen, das furchtbare, grausame, wüthende und unmenschliche Prinzip, was ursprünglich in seinem Geiste liegt.« Wie Franziska Metzger zeigen konnte, war Moral im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts eine zentrale Zweitcodierung von Religion, die es ihr erlaubte, öffentlich zu werden und öffentliche Geltung bzw. politische Deutungsmacht zu beanspruchen.463 Das als unmoralisch beschriebene Verhalten der Zillertaler Gemeinschaft bedingte somit deren Irreligiosität und vor allem die Grenze, die zum Katholizismus gezogen wurde. Bemerkenswert ist ferner, dass auch der Protestantismus auf die positive Seite der moralischen Unterscheidung gesetzt wurde, ja die Moralität der Zillertaler Devianten als nicht nur mit dem Katholizismus, sondern auch als mit dem Protestantismus unvereinbar gedacht wurde. Dies betonten katholische Beobachter immer wieder : In den Augen des Salzburger Fürsterzbischofs Augustin Gruber etwa, stehe »die Lehre der Bibel, an die sich die lutherische Konfession zu halten vorgibt, ihrer [der Zillertaler, F.H.] Sittenlosigkeit ganz entgegen.« Ähnlich argumentierte ein weiterer katholischer Geistlicher in einem Bericht: »Wären diese Inklinanten wahre und wirkliche Protestanten, hätten sie irgend eine gründliche, wenn auch irrige Überzeugung, lebten sie still und ruhig ohne Gefährdung und Verführung der katholischen Bevölkerung, so würde sich die Sache anders darstellen.«464
461 Loesche, Duldung, S. 34; Leeb, Protestantismus, S. 45; Gasteiger, Protestanten, S. 40. 462 Luhmann, Ausdifferenzierung; Nassehi, Geschlossenheit, S. 268–273. 463 Friedrich Schlegel, Ideen, in: Athanaeum 3, (1800), 1, S. 4–33, S. 28, zitiert in: Ulrich, Erwartungshorizont, S. 119; Hölscher, Semantic structures, S. 190f.; Metzger, Religion und Moral. 464 TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale, Fasz. 3729, Zl. 1015 ex 1830, Bericht über das Zillertal, 06. 04. 1830, f. 12v.; DAB, KA 1836, Nr. 3, Zl. 513, Bericht von Anton Sander, Dekan zu Zell, 23. 01. 1836; TLA, Landschaftliches Archiv, B/I/3, Congressprotokoll 1833, f. 84’ oder DAB, KA 1832, Fs. 55, Bericht des k. k. Landgerichtes Zell, 15. 11. 1832; ebenda, Zl. 3359, Bericht des Kuraten von Hippach, 09. 11. 1832.
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3.4. Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft als Medienereignis 1831 erschien in Leipzig eine an Kinder gerichtete Erbauungsschrift, die zunächst keine unmittelbare Verbindung mit der Zillertaler Glaubensgemeinschaft erkennen lässt, und doch auf eigentümliche Weise deren Schicksal literarisch präfigurierte – sie zeichnete gleichsam den Plot vor, der in den folgenden Jahren im Zillertal vollzogen wurde.465 Das illustrierte Buch erzählt die Geschichte von Max, einem Tiroler Jungen, der einer bitterarmen, streng katholischen Bergbauernfamilie entstammt, trotz der kargen und einfältigen Bergwelt aber äußerst glückliche Jugendjahre verbringt. Nach einem in den Bergen verbrachten Tag kehrt er nicht mehr nach Hause zurück und wird von einem durchreisenden, kinderlosen und sehr wohlhabenden Ehepaar nach Italien entführt, wo es ihn einem eigenen Sohn gleich erziehen will. Der zehnjährige, von bitterem Heimweh geplagte Max aber zieht seine Tiroler Heimat und seine Eltern einem Leben in Reichtum und Müßiggang vor. Später gelingt es ihm schließlich, nach Tirol in sein elterliches Dorf zurückzukehren. Dies alles wäre soweit nicht ungewöhnlich, waren doch Geschichten aus Tirol seit dem 18. Jahrhundert beliebte Sujets für populäre Schriften und Lustspiele.466 Bedeutsam sind jedoch Elemente, die außerhalb der Erzählung stehen: So wird Maxens Vater als prototypischer Tiroler dargestellt, schlicht, derb und redlich, vor allem aber streng katholisch, unduldsam und gegen Protestanten geradezu feindlich eingestellt. Tirol wird als »Kerker«467 beschrieben, in dem Andersgläubige ausgegrenzt und verfolgt werden. Diese konfessionalisierten Stereotype werden durch kolorierte Illustrationen visualisiert, die, den klassischen zeitgenössischen Vorstellungen von Tirol entsprechend, die Protagonisten der Erzählung in ein ländliches Ambiente situieren und mit typischen Erkennungszeichen wie dem grünen Tirolerhut suggestiv darstellen.468 Frau von Marinelli, jene gebürtige Innsbruckerin, die Max nach Italien verschleppt hat und nach dem Tode ihres Ehegatten in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist, entpuppt sich als gutmütige, vornehme und äußerst charmante Frau, vor allem aber als fromme Protestantin, die der Berliner Erweckungsbewegung nahe steht. Diese Wendung tritt erst gegen Ende des Buches ein, als der eigentliche Erzählstrang bereits abgeschlossen ist.469 Die Schwester von Max, er selbst und seine Mutter werden durch Frau von Marinelli in die Grundzüge des Protestantismus eingeführt, sie lesen gemeinsam die Bibel und distanzieren sich schrittweise von der katholischen Kirche:
465 466 467 468 469
Müller, Max, der Tyroler. Cole, Echos, S. 297–310; Ammerer, Stereotypisierung, S. 203–220. Müller, Max, der Tyroler, S. 271. Rohrer, Zimmer, S. 39–43. Müller, Max, der Tyroler, S. 250–274.
Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft als Medienereignis
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»Aber denke dir, Therese liest in der Bibel. Sie sagt, daß sie nur das für Gottes Wort achtet, was in der heiligen Schrift steht. Von der Anbetung der Heiligen, vom Fegefeuer, von den sieben Sacramenten, da Jesus dern nur zwei angeordnet hat, vom Ablaß, von der Gewalt des Papstes in Glaubenssachen, etc., will sie nichts mehr wissen. Sie ist auf dem Wege, eine Protestantin zu werden, und betheuerte, daß sie ihn nie wieder verließe. Dabei ist auch kein Unglück, wenn dies Alles nur dazu dient, sie besser und frömmer, Gott und Menschen wohlgefälliger zu machen«470,
äußert sich Maxens Mutter gegenüber ihrem Sohn. Als ein Priester von diesen Konversionsabsichten erfährt, entspinnen sich jene Formen der Repression und Ausgrenzung, die die Zillertaler Gemeinschaft einige Jahre später trafen: Frau von Marinelli wird vom Klerus und den staatlichen Behörden bedrängt, auch die Familie von Max fürchtet um ihren kargen Besitz und um ihr Leben – »es könne ein Unglück passieren«, wenn die Obrigkeiten und die Nachbarschaft von den Sympathien für den Protestantismus erführen.471 Wie auch im Zillertal, bestärkt diese Angst die innere Kohäsion der Dissidenten nur. Max fasst gar den Entschluss, nicht mehr als »Scheinkatholik« leben zu wollen und aus der katholischen Kirche auszutreten. Damit war allerdings auch klar, dass ein weiterer Verbleib in seiner innig geliebten Heimat unmöglich wurde: Gemeinsam mit Frau von Marinelli beschließt die Familie von Max – dessen Vater bereits verstorben ist – auszuwandern. Bezeichnend ist schließlich, wie Frau von Marinelli das Ziel der angehenden Exulanten beschreibt: »Ich kenne ein Land, wo ein gerechter, frommer, christlicher König mit wahrhaft väterlicher Huld sein Land regiert. […] Er ist die Stütze der protestantischen Religion und ihr mächtiger Beschützer. Der Katholik darf nicht Verfolgung in seinem Reiche fürchten, ruhig und unangetastet kann er zur Messe gehn und mit Weihwasser sich besprengen. […] Glückliches Volk, geachtete Nation, den edelsten Herrscher gab dir Gott, aber du bist auch seiner würdig.«472
Noch am selben Tag wandern Max, seine Mutter und seine Schwester mit Frau von Marinelli nach Preußen aus und führen dort ein behagliches, freies Leben. Inwieweit diese Form der Erbauungsliteratur und der Dreischritt – Konversion – Repression – Emigration – der Zillertaler Gemeinschaft zum Vorbild diente und womöglich ein Identifikations- und Handlungsmuster bereitstellte, lässt sich kaum abschätzen. Jedenfalls zirkulierten derartige Werke in Tirol und insbesondere im Zillertal und galten dem staatskirchlichen Establishment als besorgniserregende Belege für den wirkmächtigen Einfluss diffus wahrgenommener, ausländischer protestantischer Mächte.473 Müllers »Max, der Tyroler« ist 470 471 472 473
Ebenda, S. 262. Ebenda, S. 264. Ebenda, S. 272. TLA, Jüngeres Gubernium, Geheime Präsidiale, S. I, Schachtel XVII, Sig. XVIII – Bibelge-
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vor allem aber ein frühes Zeugnis für eine in den 1830er Jahren immer breitere, sich transnational ausweitende Aufmerksamkeit für die religiösen Verhältnisse in Tirol, die sich ab 1833 ganz auf das Schicksal der Zillertaler Gemeinschaft zuspitzte. Bereits einen Monat nach dem Ansuchen um Austritt aus der katholischen Kirche der sechs Zillertaler veröffentlichten drei bayerische Zeitungen in rascher Abfolge die Nachricht, dass in Tirol 300 Menschen zur »evangelischen Kirche« übergetreten seien.474 Während das österreichische Staatskirchentum noch in einer unschlüssigen Schockstarre verharrte, bildeten sich bereits erste Konturen eines transnationalen Medienereignisses aus, das nicht nur massiv auf die Entwicklung in Tirol einwirkte, sondern auch für die entstehende konfessionelle Öffentlichkeit in Europa, insbesondere im deutschsprachigen Raum, eine zentrale Referenz darstellte. Zwischen 1830 und 1838 berichteten mindestens 31 Zeitungen und Zeitschriften in über 100 Beiträgen über die Zillertaler.475 Die hohe Aufmerksamkeit für das Zillertal im deutschen Sprachraum baute auf stereotypisierte Tirol-Diskurse aus dem 18. Jahrhundert, wonach der »Zillertaler« als »Inbegriff des ›Alpenbewohners‹« und gleichsam als Verkörperung des »Tyrolers« galt.476 Dieses vor allem durch Lustspiele und Romane wach gehaltene Interesse für den exotischen Bergmenschen bot der konfessionellen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts ein fertiles Substrat und eine ideale Bühne für den religiösen Konflikt. Die zeitliche Verteilung der Medienaufmerksamkeit war nicht symmetrisch, sondern spitzte sich zu bestimmten Anlässen zu: 1830 berichteten nur drei Zeitungen, 1833 lediglich zwei, 1834 folgten dann sechs eingehende Artikel, 1835 wiederum nur vier und 1836 erneut sechs, 1837 setzte dann schließlich ein veritabler Medienboom mit über 80 Artikeln ein. Österreichische Medien hatten freilich den geringsten Anteil an der Konstruktion des Medienereignisses, lesellschaften und Missionsanstalten; DAB, Konsistorialakten 1833, Fs. 55, Nr. 3, Protestantische Missionare. 474 Bayer’sche Landbotte Nr. 11, 26. 01. 1830; Augsburger Ordinari-Postzeitung Nr. 23, 27. 01. 1830; Münchner Conversations-Blatt Nr. 30, 30. 01. 1830. 475 Neben den drei oben genannten: Allgemeine Kirchenzeitung, Allgemeine Kirchenzeitung für Deutschland und die Schweiz, Allgemeiner Religions- und Kirchenfreund und Kirchenkorrespondent, Allgemeines Repertorium für die theologische Literatur und kirchliche Statistik, Allgemeine Preußische Staatszeitung, Archives du Christianisme au XIX siHcle, Augsburger Allgemeine Zeitung, Der Christen-Bote, Der Erzähler, Der Katholik, Deutsche Nationalzeitung für Braunschweig und Hannover, Evangelische Kirchenzeitung, Herold des Glaubens, Katholische Kirchenzeitung, Kirchenzeitung für die schweizerische evangelische Kirche; Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und Gelehrtensachen, Leipziger Allgemeine Zeitung, Neue Würzburger Zeitung, Schlesische Provinzialblätter, Schweizerische Kirchen-Zeitung, Sion, Theophilus, Theologische Predigerbibliothek, The Quarterly Review, The Times, Wiener Zeitung, Volkszeitung (Basel), Zeitschrift für Philosophie und katholische Theologie. 476 Ammerer, Stereotypisierung, S. 212–219.
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diglich die offiziöse »Wiener Zeitung« äußerte sich 1837 dazu. Die größte Aufmerksamkeit genossen die Zillertaler hingegen wenig überraschend im nahen Bayern, das im Vormärz zu den bedeutendsten Regionen der deutschsprachigen katholischen Kirchenpresse gehörte,477 sowie in Preußen, das als größter protestantischer Bundestaat, als wichtiges Zentrum protestantischer Erweckungsbewegungen sowie als Exil der Ausgewiesenen direkt in die Ereigniskette im Zillertal involviert war. Die anderen deutschen Bundesstaaten beteiligten sich mehr oder minder gleichmäßig an der öffentlichen Diskussion, hervorzuheben sind darüber hinaus mehrere Beiträge aus der Schweiz, Frankreich und England.
Abb. 4 und 5: Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft als Gegenstand der konfessionellen Publizistik.
Auch in ihrer Medialität unterschieden sich die beteiligten Medien stark: Inhaltlich entscheidend und nummerisch überwiegend waren zweifelsfrei die katholischen und protestantischen Kirchenblätter, dazu gesellten sich theolo477 Pesch, Presse, S. 140–195; Schneider, Barrikaden, S. 48f.
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gische Fachzeitschriften und konfessionell ungebundene Tageszeitungen wie »The Times« in London oder die »Allgemeine Zeitung« in Augsburg. Staatsnahe und offiziöse Blätter wie die »Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und Gelehrtensachen« oder die »Wiener Zeitung« versuchten schließlich, die öffentliche Debatte zu zähmen. Daneben wurden vereinzelt Broschüren und monographische Abhandlungen veröffentlicht, die den Stand der Diskussion zusammenfassten, Impressionen von Reisen in das Zillertal wiedergaben oder in einem sonstigen Zusammenhang zum Medienereignis standen. Diese Broschürenliteratur lieferte auch die ersten Visualisierungen der Zillertaler Glaubensgemeinschaft.478
Abb. 6: »Einführung der Tyroler aus dem Zillerthale in die evangelische Kirche zu Schmiedeberg, am 8ten N. 1837«.
Wenn man davon ausgeht, dass allein die katholischen Kirchenblätter in den 1830er Jahren insgesamt über 200.000 Menschen erreichten und auflagenstarke Blätter wie die Augsburger »Allgemeine Zeitung« regelmäßig über die Zillertaler Glaubensgemeinschaft berichteten, so ist deren Schicksal nicht nur als konfessionelles, sondern als allgemeines Medienphänomen zu deuten.479 Das Zillertaler
478 Müller, Max, der Tyroler ; Rheinwald, S. 113–122; ders., Evangelischgesinnten; Kurze Geschichte der Auswanderung der Zillerthaler Protestanten und ihres Durchzugs durch Oberösterreichs evangelische Gemeinden, Nürnberg, 1838; Blicke in die Christenwelt. Die Tyroler aus dem Zillerthale bey ihrem Eintritt in die Provinz Schlesien, [Berlin 1838]; Schulze, Auswanderung. 479 Schlögl, Alter Glaube, S. 286; Schneider, Barrikaden, S. 83–85. Die Augsburger »Allgemeine Zeitung« erreichte im Vormärz eine Auflage von 10.000 Exemplaren, jene der »Berlinischen königlichen privilegierten Zeitung« lag bei 20.000: Engelsing, Analphabetentum, S. 94f. Wichtig für die Ausbildung einer Kommunikationsgemeinschaft waren in ihrer Funktion als Multiplikatoren auch priesterliche Lesegesellschaften: Schneider, Lesegesellschaften.
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Abb. 7: »The Protestant Exiles of Zillerthal«.
Medienereignis wurde – und das ist entscheidend – somit nicht erst durch die spektakuläre Ausweisung im September 1837 ausgelöst, sondern bereits durch die potentielle Existenz einer konfessionellen Devianz im Zillertal. Das Ereignis dauerte somit mehrere Jahre an und unterlag Konjunkturen der Aufmerksamkeit, die 1837, im Jahr der Ausweisung, ihren Höhepunkt erreichte. Will man die Konstruktion dieses Medienereignisses beschreiben, so sind drei Elemente zu beachten. Der hohe Nachrichtenwert von Konversionsabsichten, der möglichen Etablierung einer evangelischen Gemeinde im Zillertal und der Ausweisung nährte sich zunächst ganz entscheidend von den sich konfessionalisierenden Öffentlichkeiten Europas. Über drei Viertel der ausgewerteten Artikel führten eine deutliche konfessionelle Signatur, wobei hier wiederum evangelische Beiträge deutlich dominierten. Erst die mediale Struktur der konfessionellen Öffentlichkeit des Vormärz machte die Zillertaler Glaubensgemeinschaft zum Medienereignis.480 Andererseits förderte die Berichterstattung über das Zillertal die Politisierung und Konfessionalisierung der religiösen Kommunikation eminent. Kaum ein Artikel blieb ohne Reaktion, die sich 480 Wilke, Nachrichtenauswahl. Knapp 51 Prozent der ausgewerteten Artikel lassen sich evangelischen Richtungen zuordnen, 27 Prozent nahmen katholische und 22 Prozent überkonfessionelle, distanziertere Positionen ein.
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von einer bloßen Wiedergabe in einem anderen Medium bis zur heftigen polemischen Antwort erstrecken konnte.481 Katholische und evangelische Blätter aller Richtungen beeinflussten sich gegenseitig, sie schrieben voneinander ab, polemisierten gegeneinander und nahmen mitunter häufiger aufeinander Bezug als auf die »eigene« Konfessionspresse. Die »Zillertaler« waren mithin ein transnationales und ein transkonfessionelles Medienphänomen, vor allem aber auch ein eindringliches Beispiel dafür, dass die konfessionelle Publizistik des Vormärz erst in einer »konfessionell geteilten« Gesamtschau beschreibbar wird. Die bislang vorliegenden, eingehenden Untersuchungen zum medialen Wandel im Vormärz, der vor allem von Zeitschriften bzw. »Kirchenblättern« getragen wurde, blieben konfessionell verhaftet, so dass, in den Worten Friedrich Wilhelm Grafs, der Blick auf überkonfessionelle Diskurse, zwischenkonfessionelle Abhängigkeiten oder Parallelen von »blinden Konfessionsflecken« verdeckt blieb.482 Zweitens impliziert der Begriff »Medienereignis«, also die »besonders intensive, meist grenzüberschreitende Verdichtung der Kommunikation auf ein Thema«, die gegenseitige Abhängigkeit und Interaktion zwischen der medialen und materiellen, »realen« Dimension des Ereignisses. Dies lässt sich auf mehreren Ebenen beschreiben: So wirkte die mediale Ebene als »Prämediation«, sie nahm, wie am Beispiel von »Max, der Tyroler« angesprochen, bestimmte Abläufe und Handlungsmuster vorweg. Medien gestalteten zweitens das materielle Ereignis mit, wenn sie die Akteure, die sich medial beobachtet fühlten und ihre Entscheidungen vor dem Hintergrund von deren Medienwirkungen trafen, beeinflussten; drittens ist darauf zu achten, wie die Kommunikation über das Medienereignis selbst zum Teil des Medienereignisses wurde.483 Schließlich ist die transnationale Dimension des Medienereignisses zu betonen. Die Zillertaler Glaubensgemeinschaft war ein europäisches Thema, sie wurde nicht nur im Deutschen Bund diskutiert, sondern fand auch in der Schweiz, Frankreich, England und in den Niederlanden Aufmerksamkeit. Träger dieser transnationalen Kommunikationsgemeinschaften waren in der Regel gedruckte Medien, die Inhalte übersetzten, kommentierten und somit als nationale, aber auch transnationale Multiplikatoren wirkten.484 Folgendes Beispiel 481 Schlögl, Alter Glaube, S. 157–183. 482 Graf, Wiederkehr, S. 30–38, Zitat S. 38. Dies gilt vor allem für die ältere Literatur: Valerius, Katholizismus; Schmolke, Presse; Pesch, Presse; Mehnert, Evangelische Presse; ders., Programme. Neuere Arbeiten versuchen zumindest en passant den Blick über den konfessionellen Tellerrand: Schneider, Barrikaden, S. 54, S. 68, Anm. 170; zur nach wie vor unzureichend erforschten protestantischen Medienlandschaft des 18. und 19. Jahrhunderts Mack, Menschenbilder, S. 27–29. Was eine gesamtheitliche Perspektive vermag, zeigen die knappen Ausführungen bei Schlögl, Alter Glaube, S. 284–291. 483 Bösch, Ereignisse, S. 9; ders., Europäische Medienereignisse. 484 Requate/Schulze Wessel, Europäische Öffentlichkeit; D’Aprile, Erfindung, S. 51–80;
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zeigt, wie derartige kommunikative Netzwerke funktionierten und wie der transnationale Charakter des Medienereignisses ausgebildet wurde. Ein Artikel der Berliner »Evangelischen Kirchen-Zeitung« aus dem Jahr 1834 wurde von der Zürcher »Kirchenzeitung für die schweizerische evangelische Kirche« übernommen. Diese wiederum diente als Grundlage für die Pariser »Archives du Christianisme au XIX siHcle«, die sich mehrfach und ausführlich mit dem Schicksal der Tiroler Glaubensgemeinschaft auseinandersetzten. Der Londoner Theologe und Prediger Thomas Hartwell Horne rezipierte diese Artikel und hielt einige Jahre später, am 29. September 1837, kurz nach der Ausweisung der Zillertaler, eine Predigt in London, in der er die religiösen und politischen Vorzüge Englands gegenüber dem Kontinent pries. Als schlagkräftigsten Beleg für seine patriotischen Überlegenheitsthesen nannte er die kürzlich vollzogene Ausweisung der Zillertaler und führte somit das noch kontinentale Medienereignis in die englische Öffentlichkeit ein, in der es über Jahre hinweg behandelt wurde.485 Texte über die Zillertaler Glaubensgemeinschaft zirkulierten so jahrelang durch Europa, wurden stets aktualisiert und in neue diskursive Zusammenhänge eingebettet. Die »Evangelische Kirchen-Zeitung« deutete die Vorgänge in Tirol als Element der zunehmenden Konfessionalisierung im deutschsprachigen Raum, die »Archives du Christianisme au XIX siHcle« parallelisierten sie mit den konfessionellen Verfolgungen im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts, für englische Kommentatoren war sie Beweis der anglikanischen konfessionellen, zivilen und politischen Superiorität – der englische König sei überhaupt der erste protestantische Herrscher gewesen, der sich für die Zillertaler eingesetzt habe. Von einer »chinesischen Mauer« zwischen Österreich und dem Rest Europas kann angesichts dieser multiplen europäischen medialen und diskursiven Verbindungen nach Tirol jedenfalls kaum die Rede sein. Blickt man nun auf die inhaltlich-semantische Ebene des Medienereignisses, so lassen sich zwei eng miteinander verwobene Stränge unterscheiden. Zunächst bildete sich eine protestantische Diskursgemeinschaft aus, die sich am inten-
Altermatt, Katholizismus, S. 70. Müller, Aufklärung, S. 232, bezeichnet dagegen »Konfessionsdifferenz und Konfessionkonkurrenz« als »Binnenprobleme« und die »Abschiebung Anderskonfessioneller« im 19. Jahrhundert als »undenkbar«. 485 Tyrol. Verfolgung der Evangelischen von Seite der Katholiken, EKZ 16 (1834) 44, Sp. 347– 349; Archives du Christianisme au XIXe siHcle Nr. 28, 29. 09. 1834, S. 147; Nr. 19, 11. 10. 1834, S. 164; Nr. 14, 25. 07. 1835, S. 111; Horne, Patriotism, S. 27, S. 38f.; Die evangelischen Zillerthaler in Schlesien. Von Dr. Rheinwald. Vierte Auflage, Berlin 1838, in: The Quarterly Review LXIV (1839), S. 120–144; Popery Unchanged; Rheinwald, Exiles, S. v–viii. Zum Engagement Wilhelms IV.: The Quarterly Review, S. 132f.; Rheinwald, Exiles, S. 72f., Anm. 4.
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sivsten mit der Zillertaler Glaubensgemeinschaft auseinandersetzte.486 Während man in Tirol über die konfessionelle Zugehörigkeit der Zillertaler nur vage Vermutungen anstellte, so stand in Paris, in Berlin oder in London zweifelsfrei fest: Die Zillertaler galten als protestantische »Glaubensgenossen«, sie wurden als »mouvement religioux, dans le sens de l’Evangile« beschrieben, als eine protestantische Gruppierung mithin, die sich durch eine besonders profunde Kenntnis der Bibel auszeichne.487 Berichte von Reisenden, Pastoren oder Studenten, die mit den Zillertalern zusammengetroffen waren, bestätigten diese Einschätzungen. Ein Pastor eines sächsischen Dorfes, durch das die Zillertaler nach ihrer Ausweisung 1837 gezogen waren, glaubte Menschen von geradezu »biblischer Sprache« zu begegnen. Besucher des Zillertales berichteten von theologischen Disputen der Anführer der Glaubensgemeinschaft mit katholischen Geistlichen, in denen letztere deutlich unterlegen waren. Sie beherrschten demnach die Unterscheidungslehre äußerst genau und seien zweifellos der Augsburger Konfession zuzuordnen.488 Kurzum: Die Mitglieder der Zillertaler Glaubensgemeinschaft wurden medial zu nachahmungswürdigen Protestanten, zu »gesunden Kindern aus dem kräftigen Zeitalter der Reformation«489 stilisiert und mit klassischen Tirol-Stereotypen belegt: So wurden sie als fromm, einfältig aber redlich, als körperlich robuste Naturmenschen beschrieben, die stark an den »Sandwirth« Andreas Hofer erinnerten.490 Die Frage der Entstehung der Glaubensgemeinschaft war für die evangelische Presse von eher nachgeordneter Bedeutung. Im Sinne der Erweckungsbewegung – die Zillertaler wurden häufig als »Erweckte« bezeichnet – wurde zwar eine lose Verbindung mit dem Geheimprotestantismus früherer Jahrhunderte vermutet, besonders aber die persönliche Bekehrung durch den Kontakt mit der Bibel und Erbauungsliteratur betont.491 Ein wesentliches Element dieses Medienereignisses war die Personalisierung der Glaubensgemeinschaft. Exemplarisch wurde die außerordentliche Religio486 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1043–1069; Graf, Spaltung; Mehnert, Evangelische Presse, S. 122–130. 487 EKZ 17 (1835) 102, Sp. 813–815; Archives du Christianisme au XIXe siHcle Nr. 14, 25. 07. 1835, S. 111, hier das Zitat. 488 Rheinwald, Zillertaler, S. 18–20; ders., Wanderungen, S. 117; Der Christen-Bote Nr. 27, 02. 07. 1837, Sp. 268; Nr. 31, 30. 07. 1837, Sp. 302; Theophilus Nr. 33, 14. 08. 1836, Sp. 263; Bellmann, Tyroler, S. 429; Schlesische Provinzial-Blätter 106 (1837), S. 166f.; Blicke in die Christenwelt, S. 18. (Zitat). 489 Zitiert in: Rheinwald, Zillertaler, S. 53. 490 Deutsche Nationalzeitung aus Braunschweig und Hannover Nr. 183, 04. 08. 1837; ebenda Nr. 242, 12. 10. 1837; Der Christen-Bote Nr. 40, 01. 10. 1837, Sp. 392; Bellmann, Tyroler, S. 430f. (Zitat S. 431); Blicke in die Christenwelt, S. 11; Rheinwald, Wanderungen, S. 118; Oberhofer/Schneider, Generale Barbone. 491 EKZ 17 (1835) 102, Dezember 1835, Sp. 813; Rheinwald, Zillertaler, S. 8f.; Deutsche Nationalzeitung aus Braunschweig und Hannover Nr. 183, 04. 08. 1837.
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sität der Zillertaler an ihren prominentesten Vertretern Johann Fleidl und Bartholomäus Heim demonstriert. Sie fanden in den meisten Texten über die Zillertaler Erwähnung und vereinten auf sich alle Eigenschaften, die der Gruppe zugeschrieben wurden. So schilderte eine Broschüre die Erweckung Heims: Als Kind habe er auf einem fremden Bauernhof eine Bibel Martin Luthers gefunden und begonnen, darin zu lesen. Später dann beschäftigte er sich mit dem Sendbrief Schaitbergers, las Luthers Katechismen und weitere Erbauungsschriften und bildete sich so zu »seltener Belesenheit« – von allen Zillertalern, so der beobachtende Theologe, sei er »am meisten in das Wesen des Evangeliums eingedrungen.«492
Abb. 8: Johann Fleidl, aus Pichel im Landgericht Zell, Deputirter der evangelischen Zillerthaler. Gemalt et. lithographirt von E. W. Knippel.
Diese personalisierten, »heilsbiographisch ausgestalteten« Erweckungserlebnisse493 gaben der amorphen Masse der Glaubensgemeinschaft ein Gesicht, sie ermöglichten in Verbindung mit den gängigen Tirol-Stereotypen eine Popularisierung und Narrativierung der Glaubensgemeinschaft und weckten so beim lesenden Publikum bestimmte Erwartungen. Reisende, die mit Johann Fleidl zusammentrafen, bestätigten die zahlreichen Berichte über ihn und die daraus 492 Johann Fleidl, 1792 in Bühel/Ramsau geboren und 1853 in Mittel-Zillerthal in Schlesien verstorben, war eine der zentralen Figuren der Gemeinschaft. Er reiste im Mai 1837 nach Berlin, um König Friedrich Wilhelm III. zu ersuchen, die Glaubensgemeinschaft in Preußen aufzunehmen: Gasteiger, Protestanten, S. 104f. Bartholomäus Heims Hinwendung zum Protestantismus ist beschrieben in Rheinwald, Zillertaler, S. 25–27, Zitat S. 25; zu Fleidl ebenda S. 27; Bast/Bast, Familien, S. 48–50; Der Christen-Bote Nr. 27, 02. 07. 1837, Sp. 270; Nr. 30, 23. 07. 1837, Sp. 294f.; Nr. 38, 17. 09. 1837, Sp. 371–376; Deutsche Nationalzeitung aus Braunschweig und Hannover Nr. 242, 12. Oktober 1837. 493 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1047.
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erwachsenen Erwartungen: Er sei in der Tat eine »kräftige Tyroler-Natur mit Schnurrbart«, verständig, beredt und mit der Bibel bestens vertraut.494 Ähnlich einmütig wie in der religiösen Beschreibung der Zillertaler und ihrer Zuordnung zum Protestantismus war die transnationale protestantische Kommunikationsgemeinschaft in der Verurteilung der politischen und religiösen Ausgrenzung, die diese im Zillertal erfahren mussten. Die gemäßigteren Urteile sprachen noch von »Bedrängnis« oder von »Verfolgung«, während die Pariser Zeitschrift »Archives du Christianisme« gar »la plus horrible opression« beklagte und englische Kommentatoren eine »unchristian tyranny« beobachteten. Häufig war auch der Vergleich mit der Inquisition und allgemein der Gegenreformation, der katholische Klerus verfolge die Zillertaler geradezu mit »Feuer und Schwerdt«. Dem Londoner Prediger Thomas Hartwell Horne galt die Ausweisung der Glaubensgemeinschaft als klarer Beleg dafür, »that popery, wherever it is dominant, is now as inveterate against the Gospel, as it was at the aera of the Reformation.«495 Die Gründe und Motive der staatskirchlichen Repression wurden ganz auf das Bekennntnis der Glaubensgemeinschaft zugespitzt – sie sei allein der »Progression des retrograden Ganges des religiösen Verfolgungseifers« in Tirol geschuldet.496 Die protestantische Empörung über die Zustände im Zillertal färbte auch auf die Beschreibung Tirols, Österreichs und des Katholizismus allgemein ab. Besonders Tirol wurde als Land beschrieben, das an Bigotterie und Fanatismus die übrige Habsburgermonarchie deutlich übertreffe. Im Zuge der Ausweisung der Zillertaler, über die für die medialen Verhältnisse der Zeit nachgerade in Echtzeit berichtet wurde, wurden diese Urteile weiter verschärft. Die Schuld an dieser eklatanten Maßnahme sei ganz dem Land Tirol und den katholischen Tirolern zuzuschreiben, die in ihrer katholisch begründeten Intoleranz gegen jede Form der Abweichung gewaltsam vorgingen. Die josephinische Toleranz verkomme hier »zur tauben Nuß«, wenn man den Zillertalern die Ehe, ein standesgemäßes Begräbnis, den Realitätenerwerb und vor allem jenen sechswöchigen Unterricht verweigere, der für den Austritt aus der katholischen Kirche vorgeschrieben war. Scharfer Kritik war auch der örtliche Klerus ausgesetzt, der die Repression orchestriere und insbesondere den Kindern der Glaubensgemeinschaft den »Romanismus mit allem Eifer« aufdränge.497 Tirol und der Katholizismus all494 Der Christen-Bote Nr. 40, 01. 10. 1837, Sp. 391; Bösch, Europäische Medienereignisse, Abs. 6; Wilke, Nachrichtenauswahl, S. 139–147. 495 Tyrol. Verfolgung der Evangelischen von Seite der Katholiken, EKZ 16 (1834) 44, Sp. 347– 349; Archives du Christianisme au XIX siHcle Nr. 14, 25. 07. 1835, S. 111; The Quarterly Review LXIV (1839), S. 127; Horne, Patriotism, S. 39. 496 Tyrol. Verfolgung der Evangelischen von Seite der Katholiken, EKZ 16 (1834) 44, Sp. 347– 349, Sp. 349; ebenda Nr. 102, 20. 12. 1835, Sp. 813. 497 EKZ 17 (1835) 102, Sp. 813–815, beide Zitate Sp. 814; Theophilus Nr. 7, 14. 02. 1836, Der
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gemein hätten sich durch den anachronistischen Akt der Intoleranz, der weder durch religiöse, rechtliche noch politische Überlegungen begründbar gewesen sei, selbst aus der christlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Die »Quarterly Review« bringt diese Diskurse in aller Prägnanz auf den Punkt: »The history of the Zillerdale exiles comes to testify that even in the present age of supposed illumination the system of Rome remains unchanged: as intolerant, as tyrannical, as faithless«.498 Seinen Höhepunkt erreichte das Medienereignis in der zweiten Jahreshälfte 1837. Zahlreiche Augenzeugen berichteten über die Vorbereitung und Durchführung der Ausweisung sowie über den Zug der Glaubensgemeinschaft von Tirol nach Schmiedeberg im Riesengebirge in Schlesien (dem heutigen polnischen Kowary). In vielen dieser Berichte wurde der Auszug der Zillertaler dem biblischen Exodus gleichgesetzt: Preußen wurde als gelobtes Land der Zillertaler bezeichnet und die Zillertaler selbst als auserwähltes Volk beschrieben, denen Gott die Kraft und den Glauben geschenkt habe, um die Prüfungen im Tiroler »Gefängnis« zu bestehen. Diese biblische Referenz wurde mitunter von den Zillertalern selbst gefördert. Sie wünschten sich, einem der wenigen erhaltenen öffentlichen Selbstzeugnissen zufolge, einen »Moses«, der sie von ihren »Bedrückungen« befreie.499 Die Geschichte der Zillertaler wurde dadurch selbst zum erbaulichen Narrativ, zum religiösen Exempel für die von inneren Zerwürfnissen zerrüttete evangelische Kirche. In zahlreichen Erzählungen wurde die tiefgründige Religiosität, die schlichte aber aufrichtige Frömmigkeit der Zillertaler beschrieben, die ihren Glauben über alle irdische Bezüge stellten. Ein Augenzeuge schilderte den Einzug der Zillertaler in Schmiedeberg mit bewegten Worten: »Wie viel haben sie schon ihres Glaubens wegen erdulden müssen! […] Möchten wir, dachte ich, indem ich bewegt und beschämt auf sie von meinem Platze herabblickte, Erzähler Nr. 14, 16. 02. 1836; Die Sache der protestantischen Zillerthaler im Verhältnis zum österreichischen Toleranzedicte, Theologische Predigerbibliothek 18 (1837), S. 733–763, S. 733f. 498 Die Vertreibung der Evangelischen aus Tirol im Jahre 1837 von dem Standpuncte der Religion, des Staatsrechtes und der Staatsklugheit betrachtet, Allgemeine Kirchenzeitung Nr. 187, 23. 11. 1837, S. 1537–1544 und Nr. 188, 25. 11. 1837, Sp. 1546–1549; The Quarterly Review LXIV (1839), S. 140. Ähnlich auch das Vorwort des Übersetzers John B. Saunder in Rheinwald, Exiles, S. viif.: »With respect to the moral of the story, the lessons it teaches, seem to be manifold. May we not hereby learn the still unchanged spirit of intolerance and persecution of the Romish Church? […] it appears scarcely possible, after having read the history with impartial attention, to doubt that the persecuting acts of the secular power were instigated by the ecclesiastical – that in fact what the State did in this respect arose from its connection with the Church.« 499 Tyrol. Verfolgung der Evangelischen von Seiten der Katholiken, EKZ 16 (1834) 44, Sp. 347f., Zitat 348; der Brief ist abgedruckt in Rheinwald, Zillertaler, S. 57; Blicke in die Christenwelt, S. 10f.
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möchten wir, die von Kindheit an allen Segnungen der evang. Kirche theilhaftig gewesen sind, und dieses Glück oft so wenig erkannt haben – möchten wir ihnen nur kein böses Beispiel geben, und ihnen in Wort und That gleich zu werden suchen!«500
Das Zillertaler Medienereignis war für die protestantische Presse somit nicht nur ein Mittel der konfessionellen Polemik, sondern ebenso eines der binnenkonfessionellen Kohäsion – es wirkte nach außen abgrenzend und nach innen gemeinschaftsbildend. Schon die ersten Artikel in den frühen 1830er Jahren riefen die Protestanten aus aller Welt dazu auf, die verfolgten Glaubensgenossen materiell zu unterstützen, sich aber auch »in ernstlichem und anhaltendem Gebete« ihrer anzunehmen. Württembergische Geistliche forderten nach einer Reise in das Zillertal bereits 1834 die gesamte evangelische Presse auf, ihre Berichte über das Zillertal abzudrucken und die Glaubensgemeinschaft zu unterstützen.501 Die einflussreiche Berliner »Evangelische Kirchen-Zeitung« nahm das Schicksal der Zillertaler als Exempel, um den »englischen Brüdern« und den »Nordamerikanern« die katholische Unduldsamkeit gegen Protestanten zu beweisen. Aber auch die französischen Protestanten wurden aufgerufen, die »freres du Tyrol« nicht zu vergessen – ähnliche Appelle finden sich auch in der englischen Presse.502 Die protestantische Publizistik nutzte also die in konfessionellen Konflikten leicht reizbare öffentliche Empörung, indem sie bewusst die »Erregung eines allgemeinen Mitgefühls der Protestanten« suchte. Diese emotionale Aufladung der öffentlichen Darstellung – die »Evangelische Kirchen-Zeitung« bezeichnete es gar eine »Sünde«, nicht von den Zillertalern zu berichten – war eine weitere Grundvoraussetzung für die Etablierung des Zillertaler Medienereignisses.503 Es mag nun wenig überraschen, dass dieses europäische Medienereignis durch katholische Gegenerzählungen ergänzt wurde, die sich den protestantischen Narrativen entgegenstellten. Obwohl die führenden Vertreter der katholischen Kirchenblattpresse, darunter der »Katholik«, die »Sion«, die »Schweizerische Kirchen-Zeitung«, der »Allgemeine Religions- und Kirchenfreund« oder die »Katholische Kirchenzeitung« am Zillertaler Medienereignis teilnahmen und somit ein Großteil der vormärzlichen katholischen Kommunika500 Blicke in die Christenwelt, S. 18, hier das Zitat, S. 20, S. 23–26; Deutsche Nationalzeitung aus Braunschweig und Hannover Nr. 242, 12. 10. 1837; Bellmann, Tyroler. 501 Allgemeines Repertorium für die theologische Literatur und kirchliche Statistik, Nr. 3, 11. 04. 1834; Dringende Aufforderung zur Fürbitte, Der Christen-Bote Nr. 13, 30. 03. 1834, S. 128; Tyrol. Verfolgung der Evangelischen von Seite der Katholiken, EKZ 16 (1834) 44, Sp. 349. 502 Archives du Christianisme au XIX siHcle Nr. 14, 25. 07. 1835, S. 111; The Quarterly Review LXIV (1839), S. 120. 503 EKZ 17 (1835) 102, Sp. 813; ebenda 16 (1834) 44, Sp. 349; Bösch, Europäische Medienereignisse, Abs. 6.
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tionsgemeinschaft im deutschen Sprachraum involviert war,504 blieb der katholische Beitrag vor allem defensiv und reaktiv. Er zielte in erster Linie darauf ab, die wortgewaltigen protestantischen Anklagen gegen den Katholizismus, Österreich und Tirol zu widerlegen und eine katholische Gegenerzählung zu etablieren, den »mannigfachen Versionen, [die] dem Publikum aufgetischt worden« waren, die »wahre Version« entgegenzuhalten.505 Ähnlich wie für die protestantische Presse gilt indes auch hier, dass sich alle medialen Formate und alle kirchenpolitischen bzw. theologischen Richtungen an der öffentlichen Auseinandersetzung um die Zillertaler beteiligten, wobei, der allgemeinen Entwicklung der katholischen Presselandschaft entsprechend, kirchenpolitische und strengkirchlich-ultramontane Blätter den größten Eifer zeigten.506 Insgesamt betrachtet, setzte sich die katholische mediale Beschreibung der Zillertaler aus zwei Komponenten zusammen. Ein erster, gleichsam autochthoner Diskurs, verdoppelte im Wesentlichen die katholischen Beschreibungen des örtlichen Tiroler Klerus und bestätigte diese dadurch. Bei der religiösen »Verirrung«507 im Zillertal handle es sich demnach um einen vom protestantischen Ausland provozierten, niederen Motiven geschuldeten Aufstand, der das staatliche und kirchliche Gefüge Tirols und Österreichs ernsthaft bedrohe.508 Betont wurde darüber hinaus, dass eine religiöse Verfolgung oder Repression keinesfalls stattfinde, diese sei entweder eine böswillige protestantische Unterstellung oder, wenn sie denn tatsächlich stattfinde, durchaus berechtigt und notwendig, da die Zillertaler Glaubensgemeinschaft durch Proselytismus, Sittenlosigkeit und sonstige kleinere Delikte das Tal und ganz Tirol destabilisiere. Auch über den konfessionellen Gehalt der Zillertaler Gemeinschaft hatten die katholischen Blätter kaum Zweifel: Die Zillertaler »Erweckten«, wie sie hier abfällig bezeichnet wurden, wüssten selbst nicht, welcher Konfession sie sich zuordnen sollten, protestantisch seien sie jedenfalls nicht. Es sei denn, wie ein katholischer Kommentator spitzfindig festhielt, »soweit protestantisch nichts anderes sagen will, als gegen die katholische Kirche protestierend.«509 504 Pesch, Presse, S. 140–195; Schneider, Barrikaden, S. 44–54; Luginbühl, Konstruktion. 505 Neue Würzburger Zeitung Nr. 201, 22. 07. 1837; [Benz], Erweckten, S. 172; Schweizerische Kirchen-Zeitung Nr. 50, 16. 12. 1837, Sp. 789–795, Sp. 789; Der Katholik 17 (1837), Beylage zum Katholiken XI, S. XLVf. 506 Schneider, Barrikaden, S. 28f., S. 58–73; Valerius, Katholizismus, S. 25–50. 507 [Rappold], Gebirgen, S. 16. 508 [Rappold], Gebirgen, S. 152; [Benz], Erweckten, S. 176; Schweizerische Kirchen-Zeitung Nr. 25, 24. 06. 1837, Sp. 399; Allgemeiner Religions- und Kirchenfreund und Kirchenkorrespondent 6 (1833), Kirchenhistorischer Bemerker Nr. 46, Sp. 666f. 509 [Benz], Erweckten; Sion Nr. 124, 15. 10. 1837, Beylage Nr. 18, Sp. 142–144, Sp. 142; Schweizerische Kirchen-Zeitung Nr. 50, 16. 12. 1837, Sp. 789–795; Neue Würzburger Zeitung Nr. 171, 22. 06. 1837; Sion Nr. 124, 15. 10. 1837, Beylage Nr. 18, Sp. 142–144, Sp. 143; [Rapppold], Gebirgen, S. 2 (hier das Zitat), S. 20–22, S. 141–148.
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Neben diesen, weitgehend mit den katholischen Beobachtungen im Zillertal deckungsgleichen Argumentationen, setzten katholische Blätter die Zillertaler Glaubensgemeinschaft in einen breiteren, europäischen Referenzrahmen. Von einer europaweiten, antikatholischen Koalition war die Rede, die durch eine gleichsam artifizielle Konstruktion der Zillertaler Glaubensgemeinschaft und ihrer medialen Darstellung den Katholizismus insgesamt schwächen wolle, ja es handle sich um einen Angriff auf Rom, auf den Sitz der »größten wissenschaftlichen Cultur Europas.«510 Besonders in den letzten Jahren des Medienereignisses wurde die zwischenkonfessionelle, internationale Dimension der Vorgänge im Zillertal zunehmend mit anderen konfessionellen Großereignissen, vor allem mit dem preußischen Mischehenkonflikt, in Verbindung gesetzt. Wenn Preußen sich erkühne, sich in eine innerösterreichische Angelegenheit einzumischen und seinen »Zillerthaler Schutzbefohlenen« beizustehen, so seien auch die »Hauptschutzmächte des Katholicismus« dem bedrängten Kölner Erzbischof Droste-Vischering und den preußischen Katholiken Schutz und Hilfe schuldig.511 Überhaupt bilde die preußische Intervention in der Zillertaler Angelegenheit einen konfessionell-völkerrechtlichen Präzedenzfall, der, wie die »Schweizerische Kirchen-Zeitung« spekulierte, auch eine »äußere Rechtssicherung« für bedrängte Katholiken in ganz Europa begründen werde.512 Das Zillertaler Medienereignis wurde somit auch für den deutschsprachigen Katholizismus zu einem politischen Argument in konfessionalistischer Absicht. Mediale Innovation, binnenkonfessionelle Kohäsion und zwischenkonfessionelle Abgrenzung, Empörung, Emotionalisierung und Personalisierung waren mithin die strukturellen Voraussetzungen bzw. die dynamisierenden Triebkräfte dieses Medienphänomens. Richtet man den Fokus auf die zentralen Akteure, so lässt sich die Struktur dieses konfessionellen Medienereignisses des Vormärz beschreiben. Im Gegensatz zu den Protagonisten der konfessionellen Medienereignisse im 18. Jahrhundert, hat die Zillertaler Glaubensgemeinschaft selbst wenig zur Ausbildung einer öffentlichen Aufmerksamkeit für ihr eigenes Schicksal beigetragen und war bestenfalls passiv an der medialen Erregung beteiligt.513 Die wichtigsten Akteure – auf katholischer wie auf protestantischer Seite – waren zweifelsfrei die großen Flaggschiffe der vormärzlichen Publizistik. Das wohl bedeutsamste evangelische Medium im Vormärz, die konservative, staatsnahe 510 Schweizerische Kirchen-Zeitung Nr. 44, 04. 11. 1837, Sp. 701–704, Sp. 705. 511 Neue Würzburger Zeitung Nr. 171, 22. 06. 1837, hier das erste Zitat; Nr. 201, 22. 07. 1837, hier das zweite Zitat. 512 Schweizerische Kirchen-Zeitung Nr. 44, 04. 11. 1837, Sp. 701–704, Artikel aus »Sion« und »Der Katholik« zusammenfassend. 513 Zur gezielten Aktivierung kommunikativer Netzwerke durch konfessionelle Minderheiten dagegen Schulze Wessel, Religiöse Intoleranz.
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»Evangelische Kirchen-Zeitung« Ernst Wilhelm Hengstenbergs machte die frühen, noch vage und unbestimmt formulierten Meldungen über die Zillertaler 1834 durch entschiedene Anklagen an das österreichische Staatskirchentum zum Medienereignis.514 Sie verwies erstmals auf die Repressionen im Zillertal und begründete damit den protestantischen Diskurs der kruden katholischen Verfolgung der Glaubensgemeinschaft. Der Einfluss der Zeitschrift lässt allein schon daran ermessen, dass ihre Artikel von zahlreichen Blättern zum Teil wörtlich übernommen wurden, für katholische Blätter wurde die »Evangelische Kirchen-Zeitung« zum Signum der protestantischen Propaganda schlechthin.515 Indem einzelne Artikel mehrfach wiedergegeben und damit erheblich verbreitet worden waren, entstanden rasch dominante Erzählungen über die Zillertaler. Stimmen, die diese emotionalen Diskurse relativierten, hatten, selbst wenn sie aus einer ähnlichen konfessionellen Perspektive formuliert wurden, kaum Aussicht auf größere Aufmerksamkeit.516 Das Zillertaler Medienereignis wurde so von wenigen breitenwirksamen Medien geprägt, die die semantischen Grundstrukturen vorgaben. Für die katholische Gegenerzählung waren etwa, freilich in geringerem Ausmaße, Artikel des »Katholik« entscheidend, dessen Aufsätze über Monate hinweg in anderen Medien veröffentlicht wurden.517 Die Mehrzahl der Blätter, die am Medienereignis beteiligt waren, beschränkte sich indes darauf, die zentralen Artikel wortgetreu, übersetzt oder zumindest in Auszügen wiederzugeben – die mediale Grundstruktur war mithin in hohem Maße rekursiv und selbstreferentiell. Die »Schweizerische Kirchen-Zeitung« beispielsweise fasste im November 1837 gleich mehrere Artikel über die Zillertaler aus dem »Sion«, dem »Katholik« und der »Neuen Würzburger Zeitung« zusammen und deckte damit beinahe das gesamte Spektrum des katholischen Beitrags zum Medienereignis ab.518 Diese inhaltlichen Bezugnahmen blieben nicht an den konfessionellen Grenzen stehen und es war keinesfalls ausge514 Zur Evangelischen Kirchen-Zeitung, die ab 1827 von Ernst Wilhelm Hengstenberg herausgegeben wurde: Mehnert, Evangelische Presse, S. 127f.; Wulfmeyer, Hengstenberg, S. 240–271; Graf, Spaltung; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1043–1069, S. 1056. 515 Auf den Artikel Tyrol. Verfolgung der Evangelischen von Seite der Katholiken, EKZ 16 (1834) 44, Sp. 347–349 wurde Bezug genommen in: Theophilus Nr. 40, 1834; Archives du Christianisme ou XIXe siHcle Nr. 18, 27. 09. 1834, S. 147; [Rappold], Gebirgen; [Benz], Erweckten; Aus dem Tagebuch eines Reisenden durch Nord-Tyrol, Der Christen-Bote Nr. 3, 17. 01. 1836, Sp. 32; Theophilus Nr. 7, 14. 02. 1836, Sp. 55f.; Nr. 33, 14. 08. 1836; Der Erzähler Nr. 14, 16. 02. 1836; Allgemeines Repertorium für die theologische Literattur und kirchliche Statistik Nr. 17, Juni 1837, S. 260–288. 516 Aus dem Tagebuch eines Reisenden durch Nord-Tyrol, Der Christen-Bote Nr. 3, 17. 01. 1836, Sp. 32. 517 [Rappold], Gebirgen, wurde beispielsweise in der Katholischen Kirchenzeitung, zwischen Mai und Juni, in sieben Artikeln wieder abgedruckt. Zum »Der Katholik« und seiner Bedeutung für die katholische Publizistik Pesch, Presse, S. 140–143. 518 Schweizerische Kirchen-Zeitung Nr. 44, 04. 11. 1837, Sp. 701–704.
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schlossen, dass ganze Passagen von Texten der konfessionell »anderen« Seite wiedergegeben wurden.519 Das Medienereignis war aber auch aus einem zweiten Grund rekursiv und gleichsam autopoietisch, sich selbst erzeugend. Die ersten Artikel in den Jahren 1833 und 1834 lösten geradezu einen konfessionellen Tourismus in das Zillertal aus: Reisende, Missionare, Theologen und Naturwissenschaftler besuchten, angeregt von den bisherigen Berichten, die »Naturmenschen« im Zillertal und veröffentlichten selbst wiederum ihre Eindrücke und Einsichten.520 Der Braunschweiger Theologe und Prediger Karl Theodor Appelius kann hierfür als typisches Beispiel gelten: Die ersten Berichte über das Zillertal erregten seine »lebhafteste Theilnahme für die im Zillerthal entstehende evangelische Gemeinde« und weckten sein Interesse für die »höchst merkwürdige Geistesrichtung, als bei ungelehrten, einsam wohnenden Naturmenschen, mitten in einem katholischen Lande«. Im August 1836 bereiste er dann das Zillertal, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen, das er wenig später in einem ausführlichen und häufig zitierten Bericht veröffentlichte.521 Diese Berichte aus dem Zillertal waren regelmäßig mit eingehenden Charakterskizzen einzelner Talbewohner angereichert, gerne wurden auch Dialoge und markante Aussagen wörtlich zitiert. Die persönlichen Reiseeindrücke wirkten einerseits beglaubigend – »Was ich indeß hier mittheile, gründet sich auf strenge subjective Wahrheit, es ist das, was ich selbst an Ort und Stelle sah und hörte«, betonte etwa Appelius – sie ermöglichten und beförderten andererseits die Personalisierung des Medienereignisses.522 Der einflussreichste und produktivste Vertreter dieser konfessionellen Touristik war zweifelsfrei der Publizist, Theologe und Hochschullehrer Georg Friedrich Heinrich Rheinwald, der, aufgrund einer Affäre mit einer verheirateten Frau seiner Stellung an der Bonner Universität enthoben, zwischen 1835 und 1836 mehrere Länder bereiste und deren religiöse Verhält519 Herold des Glaubens Nr. 9, 21. 11. 1837; Nr. 10, 23. 11. 1837; Nr. 13, 30. 11. 1837; Nr. 14, 02. 12. 1837; Pesch, Presse, S. 164. 520 Allgemeines Repertorium für die theologische Litteratur und kirchliche Statistik, Nr. 3, 11. 04. 1834; Aus dem Tagebuch eines Reisenden durch Nord-Tyrol, Der Christen-Bote Nr. 3, 17. 01. 1836, Sp. 32; AZ Nr. 193, Beilage, 12. 07. 1837, S. 1543f.; Der Christen-Bote Nr. 40, 01. 10. 1837, Sp. 391–392; Theophilus Nr. 33, 14. 08. 1836. 521 [Karl Theodor Appelius], Die evangelischen Zillerthaler in Tyrol, Deutsche Nationalzeitung aus Braunschweig und Hannover Nr. 183, 04. 08. 1837; Nr. 184, 05. 08. 1837; Nr. 185, 06. 08. 1837; Nr. 186, 07. 08. 1837. Auf Appelius stützen sich: Die Sache, in: Theologische Predigerbibliothek 18 (1837); Allgemeine Kirchenzeitung 1837, Nr. 146–148; Herold des Glaubens Nr. 9, 21. 11. 1837; Nr. 10, 23. 11. 1837; Nr. 13, 30. 11. 1837; Nr. 14, 02. 12. 1837; Rheinwald, Schlesien. Siehe auch die umfangreiche Gegenschrift Aus den norischen Alpen, Sion Nr. 58, 16. 05. 1838, Sp. 457–462; Nr. 59, 18. 05. 1838, Sp. 465–471; Nr. 60, 20. 05. 1838, 473–477; Nr. 61, 23. 05. 1838, Sp. 481–486; Nr. 62, 25. 05. 1838, Sp. 489–493. 522 [Karl Theodor Appelius], Die evangelischen Zillerthaler in Tyrol, Deutsche Nationalzeitung aus Braunschweig und Hannover Nr. 183, 04. 08. 1837.
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nisse beobachtete.523 Er kam nicht umhin, auch das Zillertal zu besuchen und den Zustand der Glaubensgemeinschaft zu beschreiben. In seinem 1835 und 1836 erschienenen, zweibändigen Reisebericht widmete er dem Zillertal 13 Seiten, 1837 veröffentlichte er in der von ihm herausgegebenen theologischen Zeitschrift den bis dahin vollständigsten und ausgewogensten Überblick über die Entstehung und den Stand der Glaubensgemeinschaft, der gleichzeitig als Separatdruck erschien. Im Gegensatz zu den meisten Veröffentlichungen über die Zillertaler Gemeinschaft war Rheinwald um Objektivität und Vollständigkeit bemüht, worauf wohl der Erfolg seiner Schriften beruhte – denn neue Erkenntnisse lieferten sie nicht.524 Wie groß 1837 die öffentliche Beachtung des Medienereignisses war, zeigt sich allein schon an der Tatsache, dass Rheinwalds Büchlein im September in der zweiten und im Dezember in der dritten Auflage erschien. 1838 legte er dann eine überarbeitete und erweiterte vierte Ausgabe nach, die wenig später ins Niederländische und Englische übersetzt wurde und damit ein wichtiges Element der Internationalisierung des Medienereignisses bildete.525 Während im außerösterreichischen deutschsprachigen Raum die Zillertaler Gemeinschaft zum Medienereignis aufrückte, blieb es in ihrem nächsten Umfeld eigentümlich ruhig. In Tirol wusste man relativ wenig vom religiösen Zwist im Zillertal, man war weiterhin auf Face-to-Face-Kommunikation angewiesen, die vage blieb und von schleierhaften Gerüchten geprägt war.526 Die weit verbreitete Kunde beispielsweise, dass es in Zell am Ziller zu wundersamen Erscheinungen gekommen sei, lockte hunderte Gläubige an und wurde freilich in einen Zusammenhang mit dem eigentümlichen Konflikt im Tal gesetzt.527 Aber auch politische oder religiöse Eliten tappten lange im Dunkeln. Andreas Di Pauli, der Präsident des Innsbrucker Appellationsgerichtshofes etwa, erfuhr im Februar 1830 in einem Brief aus Bayern von den sich anbahnenden Ereignissen im Zillertal und bemerkte lapidar, die Zeitungsberichte der »bayerischen Skribler« würden schon ihre »Berichtigung« erhalten.528 Selbst Joseph von Giovanelli, eine 523 Schulte, Rheinwald. 524 Rheinwald, Wanderungen, S. 113–125; Der Christen-Bote Nr. 27, 02. 07. 1837, Sp. 266– 270; ders., Nordtyrol, in: Allgemeines Repertorium für theologische Literatur und kirchliche Statistik 17 (1837), S. 260–288; ders., Die Evangelischgesinnten; ders., Zillerthaler. Diese Schrift bildete die Grundlage für Texte in Schlesische Provinzialblätter Nr. 106, August 1837, S. 166f.; Der Christen-Bote Nr. 38, 17. 09. 1837; Die Sache, in: Theologische Predigerbibliothek Nr. 18 (1837). Rheinwald sandte seine Texte auch dem preußischen König: Bahlcke, Glaubenscolonie, S. 198, Anm. 73. 525 Rheinwald, Exiles; ders., Verhaal. 526 Wackernell, Sängerkrieg, S. 42f. 527 Giovanelli, Familiengeschichte, S. 5774–5778; Simeoner, Bozen, S. 900f. 528 Andreas Di Pauli an Joseph von Ahorner, 07. 02. 1830, TLMF, F. B. 2606, Nr. 90. Zu Di Pauli Di Pauli, Lebensbild, S. 11–14.
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der zentralen Figuren auf dem Weg hin zur Ausweisung, nahm bis 1833 von der Sache kaum Notiz. Der Bischof von Verona, Joseph Grasser, behauptete noch 1834, bei den Zillertalern handle es sich, den »Manhartern« ähnlich, um eine katholische Splittergruppe, die das Staatskirchentum ablehne.529 Der Grund für diese paradoxe Situation – Tirol befand sich im Fokus der konfessionellen europäischen Öffentlichkeit, ohne wirklich davon zu wissen – lag im österreichischen Zensurwesen. Zahlreiche, vor allem protestantische Zeitschriften und Broschüren, die sich am Medienereignis beteiligten, waren in Österreich überhaupt nicht bzw. nur »erga schedam«, also mit einer begründeten obrigkeitlichen Erlaubnis, erhältlich.530 Artikel über die Zillertaler Glaubensgemeinschaft waren mitunter nur sehr mühsam und über dritte Personen zugänglich, häufig auch nur als Abschriften. Die Familie Giovanelli beispielsweise bezog Abschriften von Artikeln über die Zillertaler vom späteren Trienter Fürstbischof Benedetto de Riccabona, der in München als Sekretär des Apostolischen Nuntius wirkte.531 Die staatlich reglementierte Öffentlichkeit Tirols erfuhr überhaupt nur in aller Beiläufigkeit von der Zillertaler Glaubensgemeinschaft. Die Verhandlungen des Innsbrucker Kongresses fanden prinzipiell unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, die Bevölkerung erfuhr wohl nur mündlich von ihren Vertretern von den behandelten Gegenständen.532 In einer 1831 im offiziösen »Bothen« erschienenen Rezension der Biographie eines Geistlichen, der in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im Zillertal gewirkt hatte, fiel die Rede auch auf den »leidigen Sektizismus« im Tal und auf die offenbar sehr nachsichtige Einwirkung des gewürdigten Priesters auf diesen. Obwohl die Devianz mit den klassischen Erklärungsmustern begründet wurde – lokal überkommene Glaubenstraditionen, die ins 17. Jahrhundert zurückreichten, von Hand zu Hand gereichte religiöse Literatur aus dieser Zeit und wohl, wie der Rezensent vermutet, auch eine gewisse »Influenz« von außen – fehlte in diesem öffentlich-offiziösen Text über die Zillertaler Glaubensgemeinschaft jeglicher Verweis auf jene polemische Sprache, mit der die Gruppe in den folgenden Jahren belegt werden sollte, überhaupt wurde die Sache nicht weiter dramatisiert.533 Sieht man von dieser unscheinbaren, in eine Fußnote verpackten Stelle dieser Rezension ab, berichtete der »Bothe von Tirol und 529 Giovanelli, Familiengeschichte, S. 6226, S. 6241. 530 http://www.univie.ac.at/censorship [01. 04. 2016]; Bachleitner, Zensur ; Wackernell, Beda Weber, S. 27; Schneider, Barrikaden, S. 87f.; Chvojka, Sedlnitzky, S. 162–178. 531 Giovanelli, Familiengeschichte, S. 6235; Wackernell, Beda Weber, S. 32. 532 Gsteu, Landtag, S. 93. 533 S.K., Litteratur. Das Leben und Wirken des Johann Sebastian Streitberger, fürsterzbischöf. Geistl. Rathes, Distrikts-Schulen-Inspektors, Dechants und Pfarrers zu Zell am Ziller im Erzbistum Salzburg. […], Herausgegeben vom Weltpriester J. Hochmuth, Salzburg 1831, BTV Nr. 80, 06. 10. 1831, S. 320; Nr. 81, 10. 10. 1831; S. 324, hier die Meldung und das Zitat, sowie Nr. 83, 17. 10. 1831, S. 332.
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Vorarlberg«, die einzige deutschsprachige Zeitung des vormärzlichen Tirol, überhaupt nicht über die Glaubensgemeinschaft: Weder deren Ausbreitung, Ausgrenzung, Kriminalisierung oder Ausweisung noch die Verhandlungen des Kongresses oder die kaiserlichen Entschließungen fanden in seinen Zeilen Erwähnung. Medial existierten die »Zillertaler« in Tirol nicht, was hier zu einer zeitlich verzögerten, passiven Öffentlichkeit führte. Für Tiroler und Tirolerinnen war es gleichermaßen schwierig, die öffentlichen Debatten zu verfolgen wie aktiv an ihnen teilzunehmen.534 Dies soll nun nicht bedeuten, dass man in Tirol überhaupt keinen Einfluss auf das Medienereignis nehmen konnte. Vielmehr gelang es vereinzelt sogar, Artikel in außerösterreichischen Zeitungen zu veröffentlichen und so die protestantische Mediendominanz zumindest punktuell zu relativieren. Die beiden wichtigsten Tiroler Beiträge, und dies ist bezeichnend, stammen von Vertretern des Staatskirchentums. Johann Rappold, einer der umtriebigsten Geistlichen des Zillertals und somit aus erster Hand informiert, veröffentlichte 1835 im bedeutenden »Der Katholik« einen ausführlichen Artikel über die Glaubensgemeinschaft, worin er jene »autochthonen«, also kircheninternen, die Glaubensgemeinschaft betreffenden Semantiken erstmals einem breiten Publikum zugänglich machte und, soweit es die zensurbedingt beschränkte Verfügbarkeit erlaubte, auch in Tirol verfestigte.535 Noch im selben Jahr veröffentlichte Robert von Benz, der sich selbst als fromm und kirchennah charakterisierende Vizegouverneur Tirols, ebenfalls einen sehr umfassenden Bericht für eine katholische Zeitschrift. Beide Autoren aus Tirol reagierten – offenbar voneinander unabhängig – auf den mehrfach genannten Artikel der »Evangelischen KirchenZeitung« aus Berlin und suchten diesem eine staatskirchliche Position entgegenzuhalten.536 Den protestantischen Zillertal-Reisenden ähnlich, versuchten auch die beiden Vertreter des Staatskirchentums ihren Texten durch eine »aktenmäßige« Darstellung und ihre besondere Nähe zur Glaubensgemeinschaft Autorität und Authentizität zu verleihen. Dies dürfte ihnen auch gelungen sein, da sich die staatskirchlichen Diskurse Tirols in der katholischen Kommunikationsgemeinschaft weitgehend durchsetzten. Entgegen der Hoffnung Johann Rappolds allerdings, »daß dieser Separatisten wegen kein unnöthiger Federkrieg 534 Ralf Dahrendorf versteht unter »passiver Öffentlichkeit« dagegen die nur sporadische, weitgehend passive Teilnahme großer Bevölkerungsteile am politischen Prozess: Dahrendorf, Öffentlichkeit. 535 [Rappold], Gebirgen. Zu Rappold Passler, Geschichte I, S. 116. 536 [Benz], Erweckten. Zu Robert von Benz Schober, Landtag, S. 521f. Das Manuskript des Aufsatzes liegt in TLMF, F.B. 2076, Nr. 162; die Motivation Benz’, diesen Text zu verfassen, geht aus einem Schreiben an Erzherzog Johann vom 20. 12. 1835, das dem Manuskript beigelegt ist, hervor. Zur Selbstbeschreibung von Benz TLA, Hs. 5131, Bemerkungen des Hofrathes v. Benz über dessen Dienst Leistung in Tirol und im Land Ob der Enns, 30. 5. 1835.
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entstehe«, leistete sein Text und jener des Vizegouverneurs dem Medienereignis nur weiteren Auftrieb.537 Diese publizistischen Interventionen der beiden Vertreter des Staatskirchentums sind schließlich sehr instruktiv dafür, wie sehr das Spannungsverhältnis zwischen dem Medienereignis und der passiven Öffentlichkeit in Tirol bzw. Österreich das Handeln der Akteure selbst beeinflusste. Kirchlichen wie staatlichen Behörden, aber auch führenden Politikern war die mediale Beobachtbarkeit der eigenen Handlungen durchaus bewusst – so sehr, dass der Priester Rappold und der Spitzenbeamte von Benz anonyme Rechtfertigungsschreiben für die staatskirchliche Haltung den Zillertalern gegenüber veröffentlichten – und damit implizit den Einfluss des »Richterstuhls der öffentlichen Meinung« voll anerkannten.538 Generell scheute das österreichische Staatskirchentum die Beobachtung der eigenen Handlungen und der Entwicklung der Glaubensgemeinschaft: Sogenannte »Konfidenten«, ausländische Gesandte oder Vertraute der österreichischen Behörden sandten alarmiert ausländische Zeitungsartikel über das Zillertal nach Innsbruck oder Wien und lösten damit in den Amtsstuben Besorgnis über das Bild Österreichs im Ausland aus. Dies ging so weit, dass die staatlichen Behörden selbst in der internen Kommunikation die mediale Darstellbarkeit und die öffentliche Wirkung ihrer Handlungen abwogen.539 Aber auch kirchliche Vertreter waren beunruhigt über die zunehmende Aufmerksamkeit für die Glaubensgemeinschaft. Der Brixener Bischof Bernhard Galura etwa war davon überzeugt, dass die massive öffentliche Aufmerksamkeit einen weiteren Verbleib der Gemeinschaft in Tirol unmöglich mache, aber auch, dass eine Ausweisung in das Ausland zu vermeiden sei, denn zu groß sei die zu erwartende Empörung und das »Zettergeschrei« im »protestantischen Ausland.«540 Die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde, bedingte somit das Schicksal der Glaubensgemeinschaft selbst. Besonders die zahlreichen Reiseberichte von Theologen, Missionaren, Pastoren, Botanikern und sonstigen Forschern dürfte die Entscheidung zum Ultimatum vom 12. Januar 1837, das die 537 [Benz], Erweckten, S. 174; [Rappold], Gebirgen, S. 160. Besonders der Artikel von Rappold wurde über Jahre hinweg zitiert oder ganz wiedergegeben. Weitere Beispiele für Artikel über die Zillertaler aus Tiroler Hand: Sion Nr. 124, 15. 10. 1837, Beylage Nr. 18, Sp. 142–144; Der Katholik, Oktober 1837, Beylage XI, S. XLVf. 538 [Appelius], Zillerthaler, Deutsche Nationalzeitung aus Braunschweig und Hannover Nr. 186, 07. 08. 1837. 539 TLA, Jüngeres Gubernium, Geheime Präsidiale, S. I, Schachtel XVII, Sig. XVIII 4 – Zillertaler Protestanten (in Fasz. 3889), Nr. 18, Graf Gustav Spieg[e]l an Friedrich Graf Wilczek, 30. 01. 1830, 02. 02. 1830; Nr. 41, k.k. Polizeidirektion an k.k. Landespräsidium Innsbruck, 20. 02. 1836, 24. 03. 1836; ebenda, Jüngeres Gubernium, Geistlich, Geist. Sep. Fasz. 38, Zl. 8281, Präsidialerinnerung, undatiert [1830]; Hoefer, Pressepolitik, S. 53f. 540 DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 3, Zl. 326, f.b. Ordinariat Brixen an feb. Konsistorium Salzburg, 13. 02. 1836; ähnlich auch ebenda, Zl. 587f., feb. Konsistorium Salzburg an f.b. Ordinariat Brixen, 25. 02. 1837.
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Ausweisung faktisch bedingte, erheblich bestärkt haben. Deren Texte und die medialen Solidaritätsaufrufe an die Protestanten aller Welt bestätigten in Tirol, aber auch in Wien die Meinung, dass die Glaubensgemeinschaft von protestantischen Mächten des Auslandes geschaffen und erhalten werde, um Tirol und Österreich religiös und politisch zu schwächen.541 Für das fürsterzbischöfliche Ordinariat in Salzburg lag es auf der Hand, dass, »wenn auch der Einfluss der den Umsturtz der Staaten bezweckenden Propaganda auf den offenen Ausbruch d. Sectenwesens im Zillerthale nicht nachgewiesen werden kann, […] [ist] doch jedenfalls gewiß, daß selbe allenthalben jeden Umstand zu benützen suchte, der ihr geeignet schien, das Band der Einigkeit zu lockern und Unzufriedenheit und Zwietracht zu verbreiten.«542
Metternich selbst erklärte in einem vertraulichen Rundschreiben an die auswärtigen Vertretungen Österreichs, in der er die bevorstehende Ausweisung rechtfertigte, dass »der im Zillerthale bei einigen Individuen stattgefundene Abfall vom Cattolicismus offenbar – bei der großen Mehrzahl wenigstens – lediglich das Werk fremder – und auf politische Aufregung gerichtete – Einwirkung ist.«543 Die österreichische Regierung suchte auf das Medienereignis Einfluss zu nehmen, indem sie Artikel veröffentlichen ließ, in denen diese Ansicht vertreten und ihre Handlungen legitimiert wurden.544 Aber auch andere Akteure beeinflusste das Medienereignis. Besonders England und Preußen sahen sich durch die wiederholten öffentlichen Appelle geradezu verpflichtet, als protestantische Schutzmächte zu intervenieren und Druck auf die Wiener Regierung auszuüben. Als Druckmittel diente mitunter das Medienereignis selbst: So sandte der Hofprediger Friedrich Wilhelms III., Friedrich Strauß, Metternich persönlich die polemischen Artikel der »Evangelischen Kirchen-Zeitung« zu, freilich nicht ohne Hinweis auf die Empörung, die sie in Preußen auslösen würden.545 Auf der regionalen Ebene konnte Joachim Bahlcke zeigen, wie sehr die unterschiedlichen protestantischen Richtungen 541 DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. Nr. 3, Zl. 587ff., f.b. Ordinariat Brixen an k.k. Gubernium, 04. 03. 1837; KA 1833, Fs. 55, Nr. 1, Bericht d. feb. Konsistoriums Salzburg an die h. Landesstelle; Nr. 2, Zl. 1435, Nr. 3, Protestantische Missionare; Loesche, Duldung, S. 40–43. 542 DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 3, Zl. 513, feb. Konsistorium Salzburg an k.k. Landespräsidium, 17. 02. 1836, f. 4v. 543 HHStA, Staatskanzlei ad. Polizei, 56 alt 75, 1812–1837, Fasz. 75, 43b., Circulare an die k.k. Gesandtschaften in Deutschland, dann Copenhagen und Haag, 17. 03. 1837, f. 27–32, hier f. 30r ; Bibl, Emigration, S. 93; Srbik, Metternich II, S. 41. 544 Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen Nr. 144, 23. 06. 1837; AZ, Ao. Beilage Nr. 308, 28. 06. 1837, S. 1232. 545 Rheinwald, Exiles, S. 72f., Anm. 4; The Quarterly Review, S. 132–135, S. 132: »To the eternal honour of William IV. be it recordet that he was the first who moved in the matter. Again and again, in February and March 1837, he called upon the King of Prussia to interfere«; Hölzl, Zillertaler, S. 158, S. 163; Bibl, Emigration, S. 83.
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bestimmte, medial konstruierte Erwartungen an die Zillertaler Gemeinschaft richteten. So erhoffte sich Friederike Gräfin von Reden, die die Ansiedlung der Zillertaler in Schlesien wesentlich gestaltete, mit den schlichten Tiroler »Naturmenschen« eine vollkommene, ganz neuförmige religiöse Gemeinschaft im Sinne der Erweckungsbewegung zu verwirklichen. Diese diffusen, den innerkonfessionellen Pluralismus des Protestantismus spiegelnde Erwartungshaltungen blieben letztlich unerfüllt, da es den bislang außerkirchlich lebenden Zillertalern kaum gelang, sich starren kirchlichen Strukturen unterzuordnen, ja mitunter wandten sie sich, enttäuscht von der protestantischen Zersplitterung, von diesen ab. Es waren mithin diese vom Medienereignis hervorgerufenen Erwartungshaltungen, die zur erneuten – dieses Mal rein innerprotestantischen – religiösen Ausgrenzung der Zillertaler führten. Bereits im November 1837 zogen 21 Zillertaler weiter, wohl aus Protest gegen die obrigkeitlich angeordnete Eingliederung der Glaubensgemeinschaft in die preußische – ebenfalls staatskirchliche – Evangelische Union. Als sich in den nächsten Jahren einige Familien der schlesischen Zillertaler von der Unionskirche abwandten und in die altlutherische Kirche eintraten, waren es nunmehr Pastoren der Unionskirche, die den Zillertalern »kranke Absonderungs-Sucht« und »Proselytenmacherei« vorwarfen.546 Die staatskirchliche Sprache der religiös-konfessionellen Ausgrenzung kannte im Vormärz keine konfessionellen Grenzen.
3.5. Devianz und Medienereignis: Auswirkungen auf Tirol Mit der Ausweisung der Glaubensgemeinschaft wurden wichtige Vorentscheidungen getroffen, die die Geschichte der Katholizismen Tirols für die nächsten Jahrzehnte maßgeblich prägten. »1837« geriet gleichsam zum tirolischen Normaljahr, zur nachhaltigen Zäsur. Mit den zahlreichen stigmatisierten Jungfrauen, die in den 1830er Jahren auftraten, bewirkte das Medienereignis zunächst eine mehrere Jahre anhaltende, erhöhte europäische Aufmerksamkeit für die religiösen und politischen Zustände Tirols. Wie kein anderes Kronland der Habsburgermonarchie erhielt die Provinz die Signatur einer besonderen Katholizität, was im katholischen Deutschland Bewunderung, bei protestantischen Beobachtern dagegen empörte Ablehnung auslöste, für Liberale aller Konfessionen zählte das Land fortan zu den »unaufklärbaren« Regionen Europas.547 Die semantische Geschichte des Labels »Heiliges Land« in seinen positiven wie 546 Bahlcke, Glaubenscolonie, S. 189–202. Die Zitate in: Johann Gottlieb Roth an Christian von Rother, 30. 08. 1838, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. Hauptabteilung, Rep 89, Nr. 15697, fol. 14r.–15v., zitiert in: ebenda, S. 199; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1028–1041. 547 Borutta, Antikatholizismus, S. 358–360; Priesching, Mörl, S. 57.
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pejorativen Konnotationen ist jedenfalls mit dem Jahr 1837 anzusetzen. Parallel zur touristischen »Entdeckung« Tirols in den 1830er Jahren erfolgte mithin die religiöse.548 Aber auch nach innen gerichtet hatte »1837« Konsequenzen, die zum Zeitpunkt der Ausweisung noch nicht absehbar waren, sich jedoch über Jahrzehnte hinweg auswirkten. Die in den 1830er Jahren noch unbestimmte Differenzierung zwischen kirchennahen und liberalen Katholiken im deutschsprachigen Tirol wurde beschleunigt und festgeschrieben, ja für viele Liberale waren die Ausweisung und die Zuschreibungen, die diese im deutschsprachigen Raum bewirkte, Gründe für eine endgültige politische Abwendung von der katholischen Kirche – die Politisierung von Katholizismus und Antikatholizismus setzte in Tirol nach 1837 ein.549 Die Ausweisung der Glaubensgemeinschaft zog eine weitere binnentirolische bzw. binnenkatholische Grenze, sie wurde zum Fanal der Unterscheidung zwischen den deutschen und den italienischen Katholiken Tirols. Das italienischsprachige Tirol beteiligte sich überhaupt nicht an den religiösen Wirren im Zillertal, es blieb von der Devianz unberührt. Die Grenze der Anteilnahme deckte sich indes nicht mit den Diözesan-, sondern mit den Sprachgrenzen: deutschsprachige Kleriker des Trienter Bistums verfolgten die Zillertaler Angelegenheit von Beginn an.550 Der liberale Katholizismus im südlichen Tirol beobachtete die Ausweisung bestenfalls aus einer skeptischen Distanz und gründete darauf, wie wir noch sehen werden, fortan seine Abgrenzung vom deutschsprachigen ultramontanen Katholizismus. In einer Phase der beginnenden nationalen Selbstbeschreibung bot sich die Opposition ultramontane Intoleranz/liberale Toleranz als Code nationaler und religiöser Differenzierung geradezu von selbst an. Darüber hinaus lehnte insbesondere der sich in diesen Jahren ausbildende liberale Katholizismus rosminianischer Prägung die staatskirchliche Symbiose, die in der Ausweisung der Glaubensgemeinschaft einen aufsehenerregenden Höhepunkt erreichte, entschieden ab.551 Drittens schließlich ist mit Wolfgang Lipp zu fragen, welche Auswirkung die Zillertaler Devianz und ihre Etablierung als Medienereignis auf den Katholizismus im deutschsprachigen Tirol hatten.552 Wie in den nächsten Abschnitten gezeigt werden soll, reagierte der Katholizismus mit einer kommunikativen und einer pastoralen Verdichtung. Die Grunderfahrung der passiven Öffentlichkeit bewirkte zunächst eine tiefgreifende Veränderung der kommunikativen Strukturen des Deutschtiroler Katholizismus, der sich ab 1843 mit der Gründung einer Zeitschrift selbst zu einer öffentlichen Kommunikationsgemeinschaft 548 549 550 551 552
Noflatscher, Heilig, S. 371–374; Stannek, Patriotismus, S. 112. Götz, Bürgertum, S. 108; Mayer, Grossmacht, S. 44. Nagl, Auseinandersetzung, S. 46. Kap. 4.; Kap. 6. Lipp, Außenseiter, S. 14; Corti, Devianz.
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»1837« als Tiroler »Normaljahr«
entwickelte. Damit war es in Tirol erstmals möglich, öffentlich über Religion zu kommunizieren und den Anschluss an überregionale Diskurse zu suchen.553 Wesentlich komplexer gestaltete sich die zukünftige Vermeidung von religiöser Devianz: Für den örtlichen Klerus, aber auch für die höheren staatlichen und kirchlichen Stellen war mit der physischen Ausweisung der Glaubensgemeinschaft die Gefahr der Abweichung noch keinesfalls gebannt.554 Vielmehr blieb über das Zillertal bis 1848 ein religiöser bzw. politischer Ausnahmezustand verhängt, der die bereits vor 1837 angewandte polizeiliche Repression bzw. intensivierte religiöse Betreuung aufrechterhielt. Bereits im Herbst 1837 erstellten die Ordinariate in Salzburg und in Brixen einen Maßnahmenkatalog zur Vermeidung von religiöser bzw. kirchlicher Abweichung, der auf drei Säulen fußte: Zunächst sollten – die bisherige religiöse Unterscheidung zwischen Religion und Moral konsequent fortführend – die Moralität und die bedenkliche »Sittlichkeit« im Zillertal angehoben werden. Zweitens zielten die vorgeschlagenen Maßnahmen darauf ab, die pastorale Betreuung im Zillertal durch Hilfspriester, Lehrpersonal und die Errichtung neuer Seelsorgestationen deutlich zu verbessern. Drittens schließlich sollte die Lektüre »guter« Erbauungsliteratur gefördert werden. Zu diesem Zweck forderten die Ordinariate, dass alle noch im Tal vorhandene protestantische Literatur von den Besitzern erworben, notfalls auch mit Gewalt konfisziert, jedenfalls mit katholischen Werken ersetzt werde.555 Der geistliche Personalstand im Tal wurde aufgestockt und vor allem verjüngt. 1831 waren auf der Brixener Seite des Zillertals 17 Priester stationiert, von denen allerdings zwei kränklich waren und einer bereits über neunzig Jahre zählte. 1837 dienten dann bereits 17 voll einsatzfähige Priester, die bis 1840 auf 18 und mit einer zusätzlichen, von zwei Redemptoristen geführten, Expositur aufgestockt wurden.556 Die Tatsache, dass die staatlichen Stellen in nahezu allen Punkten den Vorschlägen der Kirchenvertreter folgten, zeigt schließlich, wie sehr sich im deutschsprachigen Tirol in den 1830er Jahren das Kräfteverhältnis innerhalb des Staatskirchentums zugunsten der Kirche verschob, die nunmehr die Deutungshoheit in religiösen Fragen hatte.557 So wurden etwa Genehmi553 Kap. 5.2. 554 DAB, KA 1842, Fs. 55, Nr. 1, Bericht d. Pfarrers Joh. Niklas zu Gastdorf über dessen Unterrednung mit einem Zillerthaler wegen d. Ursache d. Abfalles d. ausgewanderten Zillerthaler, 20. 05. 1842. 555 DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 10 (»Die künftigen Maaßregeln zur Befestigung eines sittl. relig. Wandels«). Rheinwald, Zillerthaler, S. 14, Anm., spricht von einer »wohlthätigen« Wirkung der Glaubensgemeinschaft auf den Katholizismus, da durch diese der pastorale Einsatz erheblich gesteigert worden sei. 556 Catalogus Personarum ecclesiasticarum dioecesis Brixinensis 1831, S. 145f.; 1837, S. 117f.; 1840, S. 84f. 557 DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 10, Zl. 3241, Präsidial-Äußerung in Betreff des im Zillerthal künftig zu beobachtenden Verfahrens zum Zwecke religiöser und sittlicher besserer Bildung,
Devianz und Medienereignis: Auswirkungen auf Tirol
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gungen für öffentliche Tanzveranstaltungen sehr restriktiv konzediert und ausgewanderten Zillertalern der Besuch im Tal erheblich erschwert. Außerdem genehmigte das Gubernium den von den Tiroler Ständen organisierten und finanzierten Unterricht unehelicher Kinder, besonders jener, die von den Ausgewanderten zurückgelassen worden waren.558 Ein weiteres Instrument der Moralisierung der Religion waren die Volksmissionen, die im deutschsprachigen Tirol nach 1841 von den Redemptoristen beinahe flächendeckend durchgeführt wurden. Auch hier war die Mitwirkung der staatlichen Behörden entscheidend: Insbesondere der ab 1841 amtierende Gouverneur, also der höchste Vertreter des Zentralstaates in Tirol, Clemens Graf Brandis, stand diesem Instrument der pastoralen Massenunterweisung sehr wohlwollend gegenüber.559 Während in der Frühen Neuzeit die Volksmissionen im gegenreformatorischen Dienst standen und insbesondere in den habsburgischen Erblanden massiv gegen den Geheimprotestantismus eingesetzt wurden, sollten sie im vormärzlichen Tirol explizit der Erneuerung des »religiössittlichen Leben[s] im Volke« dienen.560 Wenngleich der Missions-Freund Brandis eine Missionierung des Zillertals aufgrund der heiklen Verhältnisse im Tal dort vorerst untersagte und erst 1845 erlaubte, so ist die umfassende Einführung der Volksmissionen im deutschsprachigen Tirol als pastorale Materialisierung der im Zillertal beschriebenen Gleichsetzung von Religion und Moral zu deuten.561 Ein weiterer wesentlicher Aspekt der pastoralen Verdichtung im Zillertal war die Verbreitung katholischer Schriften, insbesondere populärer Erbauungsliteratur. Eine zentrale Rolle nahm in diesem Zusammenhang der in der Zillertalfrage omnipräsente Geistliche Johann Rappold ein. Er veröffentlichte bereits 1832 eine umfangreiche Erbauungsschrift, in der er seine persönlichen pastoralen Erfahrungen mit den Mitgliedern der devianten Glaubensgemeinschaft
558 559
560 561
30. 10. 1837; Rainer, Vormärz, S. 194; Nipperdey, Bürgerwelt, S. 418; Winter, Romantismus, 217–221. Giovanelli äußerte sich am 24. 07. 1840 in einem Brief an Joseph Görres enthusiastisch über die merkliche Lockerung staatskirchlicher Zugriffe: Binder [Hrsg.], Freundesbriefe, S. 548–551, Fink-Lang [Hrsg.], Briefe, S. 542f. DAB, KA 1839, Fs. 55, Nr. 1, Zl. 498, Ah. Entschließung im Falle des Wunsches einer Rückkehr; ebenda, Nr. 7, Zl. 2214, Kreisamt Schwaz an f.b. Ordinariat Brixen, 06. 08. 1839; ebenda, Nr. 8, Zl. 3365, k.k. Gubernium an f.b. Ordinariat, 16. 11. 1839. Hartungen, Sozialgeschichte, S. 237–248; Rainer, Vormärz, S. 220–223; Hosp, Jahrhundertfeier, S. 33–80, eine Statistik der Redemptoristenmissionen auf S. 99–109; Die geistlichen Uebungen zu Mölten im südlichen Tirol, in: Hist. Pl. Bl. 9 (1842), S. 109–124; Geiger, Volksmission; Brandis, Sendschreiben, S. 7. Geistesübungen, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 1844, hier das Zitat; Die Volksmissionen als Mittel zur Belebung des Glaubens und zur Besserung der Sittlichkeit, Wien 1850; Schuster, Volksmissionen; Scheutz, Seelenjäger. DAB, KA 1842, Fs. 61, Nr. 10, Zl. 2291, k.k. Gubernium an f.b. Ordinariat, 27. 04. 1842; DAB, KA 1845, Fs. 61, Nr. 7.
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reflektierte.562 In seinen »Abend-Unterhaltungen«, die auch nach 1837 in zahlreichen Auflagen erschienen,563 geht der 1836 zum Dekan beförderte Rappold strukturell, aber auch inhaltlich auf die pastoralen Herausforderungen ein, vor die die Zillertaler Devianz den örtlichen Klerus stellte: Das Buch ist in 30 kürzere Abschnitte gegliedert, die der Hausvorstand seiner Familie abendlich vorlesen soll. Damit berücksichtigte Rappold die ihm gut vertraute religiöse Praxis der Glaubensgemeinschaft, die sich zu einem Großteil in der privaten Lektüre der Bibel oder protestantischer Erbauungsliteratur vollzog.564 Besonders aber inhaltlich nimmt das voluminöse Werk Bezug auf die Zillertaler Devianzerfahrung. Bereits zu Beginn der Schrift werden aus den Briefen des Apostels Paulus an Thimotheus einschlägige Bibelstellen zitiert, die unverkennbar an die Bevölkerung des Zillertales gerichtet waren: »Meide geistloses und eitles Geschwätz, denn das verleitet gar sehr zur Gottlosigkeit, und ihr Gerede frißt wie der Krebs um sich.«565 Auch der Inhalt und der Plot des Werkes verweisen klar auf die Zillertaler Erfahrungen Rappolds: Ein katholischer Priester trifft sich jeden Abend in einem Bauernhause mit einem religiös Indifferenten, einem Zweifelnden und einem »Fremden«, um über die katholische Glaubenslehre zu diskutieren. Die Themen der einzelnen »Abendunterhaltungen« beziehen sich weniger auf die katholischen Glaubensinhalte, als vielmehr auf die dogmatischen Differenzen zum Protestantismus: Einschlägige Passagen sind dem »Fegfeuer«, Martin Luther und Calvin, der Kommunion »unter einer Gestalt«, der Verehrung der Heiligen oder der Beichte gewidmet.566 Rappolds Buch zeigt, wie eng die mediale mit der materiellen Ebene der Abweichung verzahnt war und dass die religiöse Devianz im Zillertal den deutschsprachigen Katholizismus Tirols – hier durch eine die Differenz zwischen katholischer und protestantischer Glaubenslehre betonende Erbauungsschrift – durchaus beeinflusste. Als der Innsbrucker Dekan Johann Duille in Vertretung seines greisen Fürstbischofs Galura das Zillertal 1845 visitierte, schien dieses umfangreiche Maßnahmenpaket seine Wirkung nicht verfehlt zu haben. In den Augen des Visitators war der Glauben im Zillertal deutlich im Aufschwung begriffen, der »kirchliche Sinn in früher religiös völlig erstorbenen Orten seit kurzer Zeit neu belebt worden« und »ungemein Vieles sowohl für die Zierde des Hauses Gottes und zur Verherrlichung des Gottesdienstes, als auch für die Erziehung der Ju562 »Es hatte blos die lokale Absicht, eine Gegenschrift gegen die vielen häretischen Bücher im Zillerthal, und ein Verwahrungsmittel gegen die so eifrig betriebene Verführung zum Abfall zu sein.« Aus den norischen Alpen, Sion Nr. 59, 18. 05. 1838, Sp. 465–471, Sp. 468. 563 NZF 8 (1842), S. 163. 564 [Rappold], Abendunterhaltungen. Fürstbischof Galura bezeichnete das Werk »höchst nützlich und berühmt«: DAB, Tagebuch Galura, S. 127, Nr. 4083, 03. 04. 1846. 565 II. Timoth. II. 16, 17. 566 [Rappold], Abendunterhaltungen, S. 1–4, S. 98–160, S. 180–427.
Devianz und Medienereignis: Auswirkungen auf Tirol
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gend geschehen.« Allein vom katholischen Klerus seien mindestens 24.000 Gulden hierfür aufgebracht worden, so Duille. Vom Zentrum der religiösen und moralischen Devianz entwickelte sich das Zillertal nachgerade zur kirchlichen Modelllandschaft, wozu, wie auch Duille festhielt, die massiven Investitionen in kirchliche Infrastrukturen beigetragen haben dürften. Die »hier eingerissene religiöse Verirrung« war für die katholische Kirche Tirols 1845 überwunden – das Bedürfnis der konfessionellen Abgrenzung indes sollte in den folgenden Jahren erst recht aufleben.567
567 Zobl, Duille, S. 49–53, alle Zitate auf S. 53.
4.
Religiöse Ethnographien: Semantik und Medien gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen im Vormärz
4.1. Das Unbehagen über die mediale Aufmerksamkeit »Wir sind so ziemlich in ›Mode‹ gekommen«, schrieb ein anonymer Autor, wahrscheinlich der in Meran wohnende bayerische Schriftsteller und Maler Johann Friedrich Lentner, 1844 in einer kritischen Revue der jüngsten topographischen und historischen Werke Tirols, die in der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« veröffentlicht wurde.568 Mit seiner Beobachtung brachte Lentner die Hochkonjunktur der europäischen Tirol-Publizistik, die seit den 1830er Jahren anhielt, auf den Punkt. Während der repressive und chronisch misstrauische Polizeistaat im Kronland auch die harmloseste politische Reflexion unterband und die Bevölkerung über die »neue« staatsrechtliche und wirtschaftliche Situation allenfalls privat Unmut äußerte, blühte außerhalb Tirols eine romantisch aufgeladene Tirol-Publizistik, die im vermeintlich ländlich-wehrhaften, einfältig-katholischen Bergvolk in seinem alpinen Reservat einen gegenaufklärerischen bzw. unaufgeklärten gesellschaftlichen Idealzustand wähnte. In der Tat war bis zu diesem Zeitpunkt wohl noch nie so viel, so differenziert und in so vielen unterschiedlichen Sprachen über Tirol geschrieben worden. Die breite Aufmerksamkeit zehrte dabei nicht ausschließlich vom Medienereignis der Zillertaler Glaubensgemeinschaft, sondern hatte einen wesentlich komplexeren Hintergrund. Wie vor allem Nicole Priesching herausgearbeitet hat, erweckten die sieben ekstatischen und stigmatisierten Jungfrauen Tirols in den 1830er Jahren europaweit Aufsehen und neugieriges Interesse. Besonders auf die religiös sensibilisierten Romantiker übten diese Erscheinungen eine enorme Anziehungskraft aus; allein zur bekanntesten dieser Jungfrauen, Maria von Mörl, sollen im Sommer 1833 in einer unorganisierten Massenwallfahrt 40.000 Menschen gepilgert sein. Obwohl staatliche und kirchliche Behörden diesen unge568 [Johann Friedrich Lentner], Ueber tirolische Geschichte und Landeskunde, AZ Nr. 42, 11. 02. 1844, S. 229f. (Beilage). Zur Autorschaft Steub, Sängerkrieg, S. 178; Wackernell, Beda Weber, S. 228. Zu Lentner Mayr/Vigl, Lentner.
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Religiöse Ethnographien
ahnten Andrang bald drosselten, blieb Kaltern im südlichen Tirol eine zentrale Destination für die katholischen Eliten aus ganz Europa, die sich persönlich von der religiösen Ausstrahlungskraft dieses verzückten Mädchens vergewissern wollten. Viele Besucher hielten ihre Eindrücke in viel beachteten Publikationen fest. Joseph von Görres als Mystikexperte etwa, der nach seinem Bozener Freund Joseph von Giovanelli wohl den größten Anteil an der Etablierung des Kultes um Maria von Mörl hatte, widmete der Kalterer Stigmatisierten im zweiten Band seiner »Christlichen Mystik« über dreißig Seiten.569 Bernhard Gißibl hat überdies darauf hingewiesen, dass Maria von Mörl und andere Tiroler Ekstatische nicht nur als religiös-mystische Attraktionen tausende Neugierige nach Tirol anzogen, sondern, wie etwa im Falle des bayerischen Landortes Waakirchen, auch zur Nachahmung anregten.570 Während also Protestanten, angelockt von den exotischen Tiroler Bergprotestanten, in das Zillertal pilgerten, zog es Katholiken aus aller Welt nach Kaltern – an konfessionellen Attraktionen ermangelte es dem vormärzlichen Tirol nicht. Der europaweit hohe Bekanntheitsgrad Tirols lässt sich zweitens auf die Erinnerung an den Aufstand von 1809 und an Andreas Hofer zurückführen, die besonders in den 1830er Jahren durch Romane, Hofer-Dramen, Opern- und Theaterinszenierungen im deutschen Sprachraum, vor allem aber auch in England erste Höhepunkte feierte. Diese erste Hofer-Konjunktur profitierte stark von der romantischen Konzeption des einfachen, natur- und volksnahen Helden und verpasste den »Tirolern« den Nimbus eines wilden, freiheitsliebenden Volkes. Kaum ein vormärzlicher Text über Tirol, ja selbst nicht die protestantischen Beschreibungen der Zillertaler Ausgewiesenen, kamen umhin, alles Tirolische vor dem Hintergrund des Aufstandes von 1809 zu beschreiben. Wie Manfred Schwarz argumentiert, verschuf die Einweihung des Innsbrucker Andreas Hofer-Denkmals im Jahr 1834 der Rebellion von 1809 und ihrem prominenten Anführer auch in Tirol bzw. in der Habsburgermonarchie insgesamt, wo ihnen bis dahin bestenfalls nachgeordnete Bedeutung zugekommen war, neue, öffentliche Aufmerksamkeit.571 Dieser Tirol-Diskurs war drittens eng verzahnt mit der romantischen Begeisterung für eine unberührte, exotische Bergwelt. Die Europäer entdeckten in den 1830er Jahren mehr denn je die Alpen, die nicht mehr die schroffe, angsteinflößende Barriere auf den Weg in den Süden darstellten, sondern selbst zum 569 Priesching, Mörl, S. 92–96, S. 126–136, S. 278–406; Vareschi, Curiosit/. Wie es zu dieser Massenwahlfahrt kam, bleibt indes in den meisten Publikationen ungeklärt, selbst über die Teilnehmerzahl liegen unterschiedliche Angaben vor: Antonio Rosmini etwa schrieb in mehreren Briefen von 30.000 Besucherinnen und Besuchern: ebenda, S. 56. 570 Gißibl, Frömmigkeit, S. 52–58. 571 Cole, Echos, S. 296–313; ders., Nationale Identität, S. 235–246; Nutzenberger, Bild, S. 159–199; Mazohl/Schwarz/Werner, Erhebung; Schwarz, Insurgenten, S. 185–189.
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touristischen Ziel avancierten.572 Von der Moderne offenbar unberührt, stieg Tirol in diesen Jahren neben der Schweiz zum Prototyp der romantisch imaginierten Bergidylle, ja »zur Schweiz des grossen österreichischen Kaiserreiches« auf, in der zivilisationsflüchtige Städter Zentral- und Nordeuropas Ruhe und Ursprünglichkeit suchten. Damit wurden aufgeklärte Diskurse des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie sie etwa in Reisebeschreibungen Johann Friedrich Nicolais dominant waren und die den katholischen Süden Deutschlands als hoffnungslos rückständiges, unaufgeklärtes und unaufklärbares Gebiet beschrieben hatten, umgedeutet und in Abgrenzung gegen die unübersichtliche, zersetzende Moderne in ein positives Licht gerückt. War »Rückständigkeit« im ausgehenden 18. Jahrhundert noch ein nationaler Makel, so stellte sie im Vormärz ein Objekt romantischer Sehnsucht dar.573 Tirol wurde damit als Gegenbild zur »unholy city«, zur unheiligen, rationalisierten und säkularisierten Industriestadt der Moderne, imaginiert.574 Dieses von der Romantik wesentlich gesteigerte religiöse, alpinistisch-touristische sowie politische Interesse an Tirol erhielt mit der im Vormärz boomenden Reiseliteratur ein passgenaues Medium.575 Bis ins beginnende 19. Jahrhundert war Tirol noch ein klassisches Transitland, das bei Durchreisenden kein sonderliches Interesse weckte. Noch 1806 beklagte ein bayerischer Beamter dieses Desinteresse: »Nur im Fluge erwähnt hier und da ein nach Italien eilender Reisender der schönen Umgebungen, die sich in Tyrol seinem überraschten Auge darbieten.«576 Dies änderte sich in den folgenden Jahrzehnten grundlegend. Tirol wurde nicht nur aufmerksamer wahrgenommen und beschrieben, sondern selbst zum Reiseziel. In den 1830er Jahren steigerte sich diese Entwicklung zu einem ersten Höhepunkt, als nunmehr jährlich zumindest ein Reiseführer bzw. Reisebericht erschien, der das Gebiet und die Menschen des habsburgischen Kronlandes ausführlich würdigte.577 »Tirol« war in der Tat »in
572 Mathieu, Alpenwahrnehmung. 573 Heiss, Grenzen, S. 167f.; Stannek, Patriotismus; Borutta, Antikatholizismus, S. 49–62; Altgeld, Italienbild, S. 266; Rohrer, Tyroler ; Seidl, Wanderungen, S. 15, hier das Zitat; Mathieu, Alpenperzeption; Heiss, Gastgewerbe, S. 411f.; Rohrer, Zimmer, S. 22–51; Grupp, Berg, S. 48–58; Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S. 59–62; Oberhofer, Berg. 574 Brown, Death, S. 18–30. 575 Kutter, Reisen, S. 25. 576 Bay. HStAM, MA 6914, Bereisung von Tirol und Vorarlberg zur Herausgabe eines geographisch-statistischen Werkes, Promemoria vom 29. 06. 1806, zitiert in: Heiss, Gastgewerbe, S. 412; Stannek, Patriotismus, S. 111f. 577 »Die frühere Klage, daß so wenig Gedrucktes über Tirol erschienen sey, dürfte, wenn es so fortgeht, bald in ihr Gegentheil umschlagen, seit ein paar Jahren sind mehr Schriften über Tirol erschienen als seit langer Zeit.« – so ein »herzlich gelangweilter Leser«: Kritischer Streifzug, BTV Nr. 1, 02. 01. 1837, S. 4; Rohrer, Zimmer, S. 61–67; Nequirito, Identit/ culturale, S. 57–65; Hochenegg, Volkskundliches; Obermair, Bibliographie; Marche-
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Religiöse Ethnographien
Mode gekommen«: War die »Tirolomanie« des 18. Jahrhunderts noch auf den »Tyroler« und die »Tyrolerin« als exotische Originale aus den Alpen zugeschnitten – manche deutsche Fürstenhöfe hielten gar »Hoftiroler« – so rückte nun deren alpines Habitat mit in den Fokus.578 Blieb die »passive Öffentlichkeit« im Schatten des Zillertaler Medienereignisses indes noch eine genuin deutschtirolische Grunderfahrung, so etablierte sich das Bewusstsein, in ganz Europa auf gesteigertes Interesse treffen, von ausländischen Reisenden beobachtet und beschrieben, ja beurteilt zu werden, zu einer Kategorie der Geteilten Geschichte Tirols. In Innsbruck, Bozen oder Trient wurden die Beschreibungen Tirols sehr genau gelesen und gleichermaßen Unmut über diese literarische Form der Fremdbeschreibung durch Reisende geäußert. Doch blieb diese Kritik wirkungslos und vor allem nach innen gerichtet: In Zeiten der Zensur boten nur die beiden offiziösen Blätter, der »Bothe für Tirol und Vorarlberg« in Innsbruck und der »Messaggiere Tirolese« in Rovereto Raum für öffentliche Kritik, Entgegnungen oder allgemeine Reflexionen über die Reiseliteratur. Diese mitunter sehr ausführlichen Rezensionen dokumentierten selbst kleinste Fehler in den Reisebeschreibungen, stellten weit ausholende Interpretationen über die politischen Absichten der Autoren und umständliche Berichtigungen an.579 Teilweise gelang es auch, auf sehr komplizierte Weise und über mehrere Vermittlungskanäle, Entgegnungen auf Reiseberichte in ausländischen Medien zu platzieren. In der privaten Korrespondenz schließlich kam der Unmut über die Flut an Reiseliteratur am deutlichsten zum Ausdruck, der Benediktiner Beda Weber etwa klagte bitter über das »jammervolle Geschwätz«, mit dem Reiseschriftsteller Tirol überhäuften.580 soni, Valsugana, S. 181–213; Cole, Echos, S. 310–313; Wackernell, Beda Weber, S. 162f.; Zieger, Giornalismo, S. 44. 578 Ammerer, Stereotypisierung, S. 219; Pizzinini, Tiroler Nation, S. 53; Brandstätter, Tyrol, S. 25. 579 Letteratura patria, MT Nr. 83, 17. 10. 1834, S. 4; Nr. 84, 21. 10. 1834, S. 4; Nr. 85, 24. 10. 1834, S. 4; F[rancesco] F[iorio], Appendice – Sulle relazioni dei viaggi e sulle opere di statistica, Osservazioni, MT Nr. 11, 05. 02. 1836; Reise-Literatur, BTV Nr. 27, 04. 04. 1836; Kritischer Streifzug, ebenda Nr. 1, 02. 01. 1837, S. 4; Nr. 2, 05. 01. 1837, S. 8; Nr. 3, 09. 01. 1837, S. 12; Nr. 4, 12. 01. 1837, S. 16; Nr. 5, 16. 01. 1837, S. 20; Nr. 6, 19. 01. 1837, S. 24; Nr. 7, 23. 01. 1837; Nr. 8, 26. 01. 1837; [Joseph Streiter], Reise-Literatur, ebenda Nr. 21, 13. 03. 1837, S. 84; Nr. 22, 16. 03. 1837, S. 88; Nr. 23, 20. 03. 1837, S. 92; Nr. 24, 23. 03. 1837, S. 96; Nr. 25, 27. 03. 1837, S. 100; Nr. 26, 30. 03. 1837, S. 104; Literatur, ebenda Nr. 32, 20. 04. 1837, S. 128; Chrysanth Freund, Literatur, ebenda Nr. 42, 25. 05. 1837, S. 168; Zieger, Giornalismo, S. 43–46. 580 [Andreas Di Pauli], Ueber des gewesenen französischen Ministers Haussez’ Reise durch Tirol, Der Herold Nr. 28, 28. 01. 1836, S. 223f.; Nr. 29, 29. 01. 1836, S. 231; Nr. 30, 30. 01. 1836, S. 240. Die Veröffentlichung besorgte Joseph von Görres, der den Text von Giovanellis Sohn Ferdinand erhielt: Joseph von Görres an Ferdinand von Giovanelli, 06. 01. 1836 sowie 11. 02. 1836, ediert in: Fink-Lang [Hrsg.], Briefe, S. 206f. und S. 211f. Das Zitat in Beda Weber an Joseph Streiter, 10. 10. 1833, zitiert in: Steub, Sängerkrieg, S. 257f., S. 257.
Das Unbehagen über die mediale Aufmerksamkeit
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Diese diffuse Kritik an den zahlreichen Reiseberichten hatte zwei Folgen. Zunächst bewirkte sie eine Kohäsion nach innen. In den Entgegnungen setzten sich die Differenzen hier/dort bzw. wir/sie fest, sie wirkten mithin gemeinschaftsbildend, da sie »Tirol« definierten und nach außen abgrenzten. Den berichtenden Reisenden wurde allein schon ob ihrer Eigenschaft als »Ausländer« bzw. »stranieri«, denen tiefere Einsichten nicht zugänglich seien, die Kompetenz zur Beschreibung Tirols abgesprochen. »Tutti questi stranieri, che tanto a sproposito parlarono delle patrie nostre contrade«, klagte etwa der Roveretaner »Messaggiere« und wünschte sich, dass »Dio ci guardi da tali visitatori, da tali grafomanici!«581 Ganz ähnlich war der Duktus des Innsbrucker »Bothen« in der Ablehnung »fremder Verläumdungen«: »Lange genug haben wir das Recht über Tirol zu schreiben Ausländern überlassen, denen oft der Wille, noch öfter die Kenntniss fehlte, allgemein anerkannte Wahrheiten zu verbreiten.«582 Die im Ausland stark angewachsene Reiseliteratur über Tirol zwang die vom Staat geduldeten vormärzlichen Rumpf-Öffentlichkeiten Tirols also, sich verstärkt mit der eigenen räumlichen und gesellschaftlichen Umgebung auseinanderzusetzen. Die Rezensionen der ausländischen Reiseliteratur über Tirol wurden in den 1830er Jahren mehr oder minder als offene Plädoyers zur historischen und geographischen Beschäftigung mit »Tirol« formuliert, die im begrenzten Raum der offiziösen Blätter freilich kaum Tiefe gewinnen konnte. Auch in diesem Punkt waren sich die Kommentatoren in Innsbruck und in Trient einig – derartige Landesbeschreibungen könnten nur als Selbstbeschreibungen geschrieben werden und müssten demnach der Feder eines Tirolers entstammen, denn die »wahre und einzig gültige Landeskunde«, wie sie der »Bothe« einforderte, könne nur auf dem Boden von Patriotismus und Landeskenntnis entstehen. Der »Messaggiere« forderte insbesondere die jüngeren Gelehrten auf, sich stärker mit der »patria bella per mille rapporti« auseinanderzusetzen, ihre »vecchie tradizioni« und »questa popolazione energica e valerosa« zu erforschen.583 Andreas Di Pauli, der bereits das mediale Interesse für die Vorgänge im Zillertal bitter beklagt hatte, hob in seiner heftigen Entgegnung auf den Reisebericht eines Franzosen die gesamtgesellschaftliche Bedeutung und das integrative Potential von solchen Texten hervor: Sind sie »sorgfältig« und »unbefangen« geschrieben, dann können sie für die »Einge581 »Diese ganzen Fremden, die so unangebracht über unsere heimischen Gegenden sprachen«; »Gott bewahre uns vor derartigen Besuchern, vor solchen Schreiberlingen!«; Letteratura Patria – Rivista critica, MT Nr. 84, 21. 10. 1834, S. 4. 582 Literatur, BTV Nr. 32, 20. 04. 1837, S. 128; DAB, KA 1839, Fs. 32, Nr. 12, Nr. 1823. 583 »unter vielen Gesichtspunkten schönes Vaterland«; »alte Traditionen«; »diese tatkräftige und tapfere Bevölkerung«; Kritischer Streifzug, BTV Nr. 6, 19. 01. 1837, S. 24; Literatur, ebenda Nr. 32, 20. 04. 1837, S. 128; T. G., Letteratura Patria – Rivista Critica, MT Nr. 85, 24. 10. 1834, S. 4; Knopper, Öffentlichkeit, S. 222.
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borenen«, denen oft der Sinn fehle, ihre »Heimath« in einen größeren Zusammenhang zu setzen und ihre Vorzüge und Probleme zu erkennen, von größtem Nutzen sein.584 War die Abneigung gegen die von außen herangetragenen Fremdbilder ein geteilter Diskurs und in Innsbruck und wie Trento einmütig – so drifteten die Reaktionen auf diese Reiseliteratur jedoch deutlich auseinander. Deutsch- wie italienischsprachige Tiroler waren in erster Linie darauf bedacht, den »eigenen« Landesteil zu verteidigen. Zwar wurde mitreflektiert, dass sich die anderssprachigen Nachbarn in derselben Lage befanden, für deren Landesteil betrachtete man sich jedoch als nicht zuständig bzw. kompetent.585 Gelehrte Gesprächsangebote einer sprachgrenzenübergreifenden, gemeinsamen historischen, geographischen und literarischen Reflexion blieben schlicht unbeantwortet, lediglich auf privatem Weg dürfte ein Austausch stattgefunden haben.586 Die verstärkte Beobachtung von außen führte also zu einer verdichteten Selbstbeschreibung innerhalb zweier verbundener, aber voneinander relativ unabhängiger Kommunikationsgemeinschaften. Die Forderungen nach genuinen Tiroler Selbstbeschreibungen, die in der Lage gewesen wären, ein allgemein geteiltes und längerfristig gültiges Bild der Tiroler Landesteile nach innen und außen zu etablieren, erfüllten sich indes gegen Ende der 1830er Jahre, als zwei Priester ein relativ neuartiges Medium aufgriffen und die noch losen, diffusen Diskurse der Selbstbeschreibung bündelten und nachhaltig fixierten. Zwischen 1836 und 1838 veröffentlichten Beda Weber und Gioseffo Pinamonti nahezu gleichzeitig zwei literarische Landesbeschreibungen, die die räumlichen, politischen und religiösen Vorstellungen von »Tirol« und »Trentino« für Jahrzehnte prägen sollten. Es handelte sich um die ersten öffentlich vorgetragenen Selbstreflexionen unter den Bedingungen des Vormärz – die neue Provinz »Tirol« rückte in ihnen ein gutes Stück weiter zusammen, wurde aber gleichermaßen von neuen Differenzen durchzogen. Will man verstehen, weshalb sich die Tiroler Landesteile nicht nur politisch und national, sondern auch religiös entzweiten, so muss man den Beginn dieses Entkoppelungsprozesses in den Blick rücken, an dessen Ursprung auch die beiden Landesbeschreibungen standen. Die folgenden Abschnitte widmen sich zunächst den Biogrammen der beiden geistlichen Autoren, bevor in zwei weiteren Schritten die Medialität und die Semantik dieser Texte als religiöse Ethnographien beschrieben werden.587 584 Di Pauli, Haussez’ Reise, Der Herold Nr. 28, 28. 01. 1836, S. 223. 585 Letteratura Patria – Rivista Critica, MT Nr. 85, 24. 10. 1834, S. 4. 586 Beda Weber, Bücherschau aus dem italienischen Tirol, BTV Nr. 51, 26. 06. 1845, S. 204; TLMF, Dip. 974, III, Nr. 112, Benedetto Giovanelli an Andreas Di Pauli, 29. 08. 1829. 587 Eine Zusammenfassung des folgenden Abschnitts ist bereits erschienen als Huber, Religiöse Ethnographien.
Zwei ungleiche Priester – Gioseffo Pinamonti und Beda Weber
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4.2. Zwei ungleiche Priester – Gioseffo Pinamonti und Beda Weber Es war kein Zufall, dass zwei der einflussreichsten, ja subversivsten Texte des Tiroler Vormärz, die gleichsam zu religiösen Signaturen des Kronlandes wurden, von Geistlichen verfasst wurden. Als solche hatten Gioseffo Pinamonti und Beda Weber einen begünstigten Zugang zu Bildung, waren aber wie ihre intellektuellen Zeitgenossen weltlichen Standes nicht vollständig vom vormärzlichen Staat abhängig – im latenten staatskirchlichen Widerspruch wurde eine bestimmte distanzierte Haltung zu diesem durchaus toleriert. Kirchliche Ämter bzw. der private wie öffentliche Bildungsbereich boten Geistlichen darüber hinaus eine existentielle Grundsicherung, die dem staatlichen Zugriff zumindest teilweise entzogen war und die vor allem reichlich Raum für das private Studium ermöglichte. Im nördlichen wie auch im südlichen Tirol gehörte der Klerus deshalb im Vormärz zweifelsfrei zur intellektuellen Elite.588 Die Biographien der beiden Autoren bieten auf den ersten Blick, abgesehen von ihrer Zugehörigkeit zum geistlichen Stand und ihrer überragenden intellektuellen Leistung, nur wenig Anlass zum Vergleich.589 Giuseppe Pinamonti, der stets als Gioseffo signierte, wurde 1783 im Nonstal in eine Notarsfamilie geboren und erhielt, wie seine Brüder, vor Ort bereits eine relativ solide Schulbildung. Nach dem Abschluss seiner theologischen Studien in Trient wurde er 1804 zum Priester geweiht und wirkte einige Jahre lang als Benefiziat in der »Basilica dei Santi Martiri della Naunia« in Sanzeno.590 Bereits 1806 trat der junge Priester aus dem Seelsorgedienst aus und widmete sich der Erziehung junger Adeliger : Zunächst wirkte Pinamonti im Hause Buffa in Telve, dann bei den Scari in Mezzolombardo, um schließlich um 1822 in das gräfliche Haus Thun in Trient einzutreten, wo er als Präzeptor für den 1812 geborenen und späterhin führenden Vertreter des Trentiner Risorgimento, Matteo Thun, diente. 1840 schließlich – nachdem er vergeblich um eine Lehrstelle am Trienter Gymnasium angesucht hatte – wechselte Pinamonti seinen Wirkungsort und widmete sich den Zöglingen der Familie Galasso in Trient.591 Den Großteil seines Lebens 588 In den einschlägigen Analysen zur Formierung der vormärzlichen Eliten blieb der Klerus im deutsch- wie auch italienischsprachigen Tirol bislang schlicht ignoriert: Götz, Bürgertum, S. 90–106; Corsini, Trentino, S. 285–335. Eine Sozialstatistik des Klerus, gleichwohl ohne tiefergehende gesamtgesellschaftliche Bezüge erstellt Alexander, Elitenwandel. 589 Als weitere Gemeinsamkeit ließe sich die dürftige biographische Erschließung hinzufügen: Wackernell, Beda Weber ; Angerer, Beda Weber; Schatz, Geschichte, S. 145–147; Moldenhauer, Petitionen; Bertagnolli, Poesie, S. 26–40; Menapace, Pinamonti; ders., Scrittori Trentini, S. 20–32; Zanin, Pinamonti, S. 39–83. 590 Menapace, Pinamonti, S. 181; Bertagnolli, Poesie, S. 29. 591 APT, Archivio Thun, D. 33.3 (18), Konzept, 06. 02. 1840; Bertagnolli, Poesie, S. 26; Zanin,
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verbrachte Pinamonti in der abgeschotteten Häuslichkeit adeliger Familien, fernab von der literarischen oder politischen Öffentlichkeit und widmete sich ganz der Erziehung seiner Zöglinge und dem autodidaktischen Privatstudium. Entsprechend spät begann Pinamontis publizistische Karriere: Erst 1829, im Alter von bereits 46 Jahren, veröffentlichte er sein erstes Werk, entwickelte aber fortan, in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens, eine für das italienischsprachige Tirol einzigartige publizistische Aktivität mit über 20 monographischen Publikationen und unselbstständigen Beiträgen in weit größerer Zahl.592 Diese späte Publikationstätigkeit war auch den politisch-publizistischen Bedingungen, der Zensur mithin, geschuldet: Pinamonti hatte vor 1829 mehrfach versucht, seine Manuskripte in Druck zu bringen. Dieses Vorhaben vereitelten entweder Selbstzensur oder die ängstliche Haltung des Trienter Fürstbischofs Franz Xaver Luschin, der etwa 1826 eine theologische Abhandlung Pinamontis euphorisch lobte, im gleichen Zug aber von ihrer Publikation abriet, was einem Publikationsverbot gleichkam.593 Trotz seiner langen Jahre fernab der Öffentlichkeit lebte Pinamonti keinesfalls als isolierter Sonderling, sondern war vielmehr, wohl auch dank der guten Kontakte, die ihm seine Dienstfamilien ermöglichten, im italienischsprachigen Tirol bestens vernetzt und seine zahlreichen unveröffentlichten Manuskripte weit verbreitet.594 Bereits um 1811 trat Pinamonti in eine gelehrte Gesellschaft in Telve (»Accademia degli Spassionati«) ein,595 ab 1840 war er eine tragende Säule der Redaktion des »Giornale agrario dei distretti trentini e roveretani« – allein 1841 steuerte er der Zeitschrift 24 Artikel bei. Er darf als Vordenker des Trentiner Agrarvereins gelten, da er diesen bereits 1829, gut zehn Jahre vor dessen tat-
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Pinamonti, S. 41; APT, Archivio Thun, D. 31.2, (11), Francesco Tecini an Gioseffo Pinamonti, 26. 08. 1806; Nequirito, Identit/ culturale, S. 41f. Die politische und religiöse Nähe zwischen Pinamonti und seinem adeligen Zögling geht auch hervor aus der Widmung für Thuns Mutter Violante in Pinamonti, Ragionamenti, S. 3: »Codesto che avete in mano, H tra i miei scritti uno che piace molto al Vostro Figliuolo e mio allievo conte Matteo.« – »Diese nun, die Sie in den Händen halten, ist eine jener meiner Schriften, die Ihrem Sohn une meinem Zögling Matteo besonders zusagt.« Comitato Storico [Hrsg.], Pinamonti; Zanin, Pinamonti, S. 79f.; APT, Archivio Thun, D 33.1 (2), Inventario post mortem degli scritti e degli opuscoli, completi e incompleti, lasciati da Gioseffo Pinamonti, [1848]. APT, Archivio Thun, D 30.3 (18), Gioseffo Pinamonti an Monsignor Vicario, 29. 04. 1825; ebenda, 31.2 (6), Franz Xaver Luschin an Gioseffo Pinamonti, 20. 04. 1826: »Wir leben in einer sowohl was politische als auch was theologische Meinungen betrifft, vielfach bewegten Zeit, die mir für die Herausgabe dieses Aufsatzes nicht die günstigste zu seyn scheint.« BCT, Ms. 2070, [Gioseffo Pinamonti], Nota de’libri, che ho dato, o ricevuto in prestanza; APT, Archivio Thun, D 30.3 (18), Gioseffo Pinamonti an Carlo Devigli, 20. 05. 1828; ebenda, D 30.1 (1) Girolamo Baroni an Gioseffo Pinamonti, 07. 05. 1832. Carlini/Saltori, Brenta, S. 93–95; APT, Archivio Thun, D 33.1 (1), Francesco Sartorelli an Gioseffo Pinamonti, 26. 12. 1811.
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sächlicher Gründung, auf Anraten seines Förderers Carlo Giusto Torresani, »sull esempio di tante altre [citt/] d’Italia«, öffentlich propagierte.596 Für das weitere Vereinsleben spielte Pinamonti, wenn auch nach außen hin kaum wahrnehmbar, eine zentrale Rolle: Er war nicht nur seit 1839, dem Gründungsjahr des Vereines, »deputato«, also Mitglied des Ausschusses der italienischen Vereinssektion, sondern wurde 1845 auch zum »censore dei socj onorarj e corrispondenti« ernannt. Pinamonti hatte somit erheblichen Einfluss auf die Ernennung der Ehrenmitglieder des Vereins und nahm eine wichtige Position in der Organisation und Redaktion der Zeitschrift ein.597 Am 18. April 1845 schließlich erfolgte mit der Ernennung zum Mitglied der »Accademia degli Agiati« in Rovereto die Nobilitierung für einen Trentiner Gelehrten.598 Zum Zeitpunkt seines Todes 1848 nahm Pinamonti in der revolutionären Autonomiebewegung im südlichen Tirol nur noch eine marginale Rolle ein, obwohl ein Großteil der Diskurse, die während der Revolution im Trentino dominant wurden, bereits Jahrzehnte vorher die Schriften des Priesters aus der Valle di Non prägten.599 Pinamonti war ein geradezu idealtypischer Vertreter des liberalen Klerus im Trentino: überdurchschnittlich gebildet, als Erzieher im Gymnasium oder in einflussreichen, adeligen oder bürgerlichen Familien tätig, Mitglied der Roveretaner Gelehrtenakademie, publizistisch umtriebig. Parallel zu Antonio Rosmini erarbeitete er liberal-katholische Gesellschaftsentwürfe, die sich stark an neoguelfische Konzepte anlehnten und diese weiterentwickelten. Obwohl in den einschlägigen Untersuchungen in der Regel übersehen, gehörte Pinamonti somit zu den wichtigsten liberal-katholischen Vordenkern des Trentino, konnte allerdings nie aus den Schatten der theoretisch-wissenschaftlich bzw. praktischpolitisch weit einflussreicheren Antonio Rosmini oder Giovanni a Prato hervortreten. Im Gegensatz zu diesen legte Pinamonti, noch ganz in volksaufklärerischer Absicht, seine gesamte Energie in die Aufklärung der Landbevölkerung und die politisch-religiöse Erziehung der Jugend. Hier dürfte sich der Einfluss seiner frühen Mentoren bemerkbar machen: Don Bartolomeo Tom596 »Nach dem Vorbild vieler anderer [Städte] Italiens.« Pinamonti, Naunia, S. 93; APT, Archivio Thun, D 30.3 (16), Carlo Giusto Torresani an Gioseffo Pinamonti, 16. 06. 1829; Zieger, Giornalismo, S. 64; Zanin, Pinamonti, S. 41; Leonardi, Economia, S. 70–73, der auch schreibt, dass Pinamonti im für den Verein besonders schwierigen Biennium 1848–1850 eine tragende Rolle gespielt habe – allerdings war Pinamonti bereits im Spätsommer 1848 verstorben. 597 APT, Giovanelli an Gioseffo Pinamonti, 26. 07. 1839. 598 AAA, Nr. 663 (sc. 107), Catalogo dei Soci Accademici, S. 144, Nr. 844. Als Begründung für die Aufnahme wurden »alcuni opuscoli noti, e interessanti specialmente per i TirolesiItaliani« – »einige bekannte und vor allem für die italienischen Tiroler interessante Broschüren« genannt; APT, Archivio Thun, D 30.1 (1), Documenti relativi all’aggregazione di Gioseffo Pinamonti all’Accademia roveretana degli Agiati. 599 Nequirito, Identit/ culturale, S. 41; Götz, Bürgertum, S. 113–115; Zieger, Stampa, S. 11.
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mazzoli, Seelsorger in seinem Heimatdorf Rallo und sein erster Erzieher, vermittelte Pinamonti das Problembewusstsein, dass jeder politisch-religiöse Aufschwung am Land beginnen müsse. Insofern sei besonders auf die Belehrung der Landbevölkerung und die Hebung der Infrastruktur am Lande das größte Gewicht zu legen. Dies erklärt das große Engagement Pinamontis in der »Societ/ agraria« und in deren Zeitschrift, die er als vorzügliche Medien zur Belehrung der Landbevölkerung nutzte.600 Einfluss auf das politische und religiöse Denken Pinamontis dürfte auch Carlantonio Pilati genommen haben – jener bekannte Trentiner Aufklärer, der demselben Tal wie Pinamonti entstammte. Somit ließe sich zumindest Pinamontis liberalkatholische und antijesuitische Grundhaltung erklären, die Tommazzoli oder dem Trienter Seminar um 1800 eher fremd war.601 Pinamontis politisches Projekt und seine Schriften sind jedenfalls erst vor dem Hintergrund dieser pädagogisch-aufklärerischen Grundintention voll nachvollziehbar. Ganz anders liest sich der Lebenslauf Beda Webers, über den wir wesentlich besser informiert sind – hierfür hat der Benediktiner selbst in autobiographischen Texten gesorgt: Die meisten biographischen Abrisse bauen auf seine autobiographische Abhandlung auf, die er für den Limburger Bischof, kurz vor seinem Antritt als Frankfurter Stadtpfarrer, verfasst hatte.602 Weber wurde 1798 mit dem Taufnahmen Johannes in Lienz im heutigen Osttirol in eine kleinbäuerliche Familie geboren. Anders als Pinamonti absolvierte er zunächst eine handwerkliche Ausbildung zum Schuster, eine weitere Schulbildung schien aufgrund der ungünstigen »Kriegszeiten«, von denen seine Familie hart getroffen wurde, vorerst undenkbar. Offenbar erlebte der junge Weber »vom Feinde [die] totale Plünderung« des elterlichen Hofes, was seine spätere Aversion gegen alles Revolutionäre erklären mag.603 Erst durch die Vermittlung eines Franziskaners, der ihn privat unterrichtet hatte, konnte Weber 1814, mittlerweile sechzehnjährig, in Bozen die Gymnasialstudien aufnehmen. Nun folgte eine rasche und erfolgreiche schulische bzw. akademische Karriere, die Weber über 600 Menapace, Pinamonti, S. 182f., S. 185–188; Bertagnolli, Poesie, S. 26, S. 32; Gioseffo Pinamonti, Il sacerdote Bartolommeo Tomazzoli, GADTR Nr. 35, 26. 08. 1845, S. 142; ders., Naunia, S. 25f.; Zanin, Pinamonti, S. 51–54; Leonardi, Societ/ agrarie, S. 14. 601 Bertagnolli, Poesie, S. 26f.; Pinamonti, Naunia, S. 30f.; APT, Archivio Thun, D. 32.1 (1), I Nauni o Storia degli Abitatori della Naunia, Fascicolo quarto, S. 41; Agostino Perini, Cenni Necrologici, GADTR Nr. 32, 10. 08. 1848, S. 249f.; Niglutsch, Clericalseminar, S. 679–686; Flabbi, Seminario, S. 59–78; Janes, Correnti, S. 8f. 602 DAL, FF3, 10, 4, Beda Weber, Curriculum Vitae, 29. 04. 1849; Weber, Charakterbilder ; ders., Predigten, S. III–VII. 603 Angerer, Beda Weber, S. 5f., die Zitate in DAL, FF3, 10, 4, Beda Weber, Curriculum Vitae, 29. 04. 1849; Akten der philosophischen Fakultät in Innsbruck, Universitätsarchiv Innsbruck, Faszikel 3, 1816–1821/22, zitiert in: Angerer, Beda Weber, S. 5f., Anm. 5; Wackernell, Beda Weber, S. 5–8.
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Bozen nach Innsbruck zum philosophischen und theologischen Studium, 1823 dann, als das Innsbrucker Generalseminar aufgehoben und die theologischen Studien wieder an den Bischofssitz verlegt worden waren, nach Brixen führte. Dort erhielt er von Fürstbischof Lodron 1824 die Weihen zum Priester, um schließlich im selben Jahr noch nach Trient an das dortige Priesterseminar zu wechseln und Pastoral zu studieren.604 In der Zwischenzeit war Weber im Benediktinerstift in Marienberg aufgenommen worden, wo er den Ordensnamen »Beda«, unter dem er später bekannt wurde, annahm. Die Gründe für den Eintritt in den Orden verschwieg Weber in seiner Autobiographie, Angaben zu späteren Lebensabschnitten lassen jedoch darauf schließen, dass diese schlicht in der Existenzsicherung lagen, die eine Ordensmitgliedschaft garantierte. Zumindest begründete er damit während der Verhandlungen, die zur Bestellung zum Stadtpfarrer Frankfurts führten, seinen Wunsch, trotz seiner neuen Stelle auch weiterhin im Stiftsverband Marienberg zu verbleiben.605 Zwei biographische Elemente sind hier besonders zu betonen: Weber hatte durch seinen Bildungsweg das gesamte Kronland und vor allem alle maßgeblichen Ausbildungsstätten kennengelernt. Dadurch kam er in persönlichen Kontakt mit zahlreichen, später führenden Persönlichkeiten seiner Generation: in Bozen mit der konservativen Familie Giovanelli, aber auch mit dem liberalen Joseph Streiter, in Innsbruck mit Johann Schuler und dem späteren Rektor der »Anima« in Rom, Alois Flir, in Marienberg mit Albert Jäger und Pius Zingerle – es gab wohl wenige Tiroler Zeitgenossen, die besser vernetzt waren als Beda Weber.606 Diese weitläufigen Beziehungen ermöglichten es dem talentierten Kleriker, seine autodidaktisch angeeigneten Kenntnisse vielseitig einzusetzen: 1826–1830 war er Mitglied des literarischen Zirkels »Alpenblumen«, der den Anschluss an die Weimarer Klassik suchte und in Tirol mitunter heftige Empörung auslöste.607 Mit diesem Engagement begann Weber seine fulminante schriftstellerische Karriere, die neben poetischen Versuchen ein umfangreiches germanistisches und historisches Werk hervorbrachte und ihn zum bekanntesten und schillerndsten vormärzlichen Autor Tirols machte, der nicht nur die Tiroler, sondern auch die süddeutsche Öffentlichkeit polarisierte. Weber edierte Gedichte Oswald von Wolkensteins, verfasste voluminöse Abhandlungen zur Reformations- und Kirchengeschichte, gab Gedichtbände heraus, verfasste unzählige Artikel für katholische Zeitschriften und Zeitungen und produzierte ein topo604 Ebenda, S. 6–11; Wackernell, Beda Weber, S. 10–23; Weber, Charakterbilder, S. 123–144; Mayer, Grossmacht, S. 22–34. 605 Angerer, Beda Weber, S. 8, S. 26–30. 606 DAL, FF3, 10, 4, Beda Weber, Curriculum Vitae, 29. 04. 1849; Wackernell, Beda Weber, S. 20–25; Mayer, Grossmacht, S. 28; Priesching, Mörl, S. 305f.; Fontana, Restauration, S. 677f. 607 Wackernell, Beda Weber, S. 101–142.
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graphisches Werk, dessen Dichte und Umfang seine Zeitgenossen in ungläubiges Staunen versetzte.608 Gekrönt wurde sein wissenschaftliches Oeuvre durch die Aufnahme in die österreichische und bayerische Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1846 und 1848, nachdem er bereits 1841 zum Mitglied der Roveretaner Gelehrtenakademie ernannt worden war.609 Zugleich war er ein begnadeter Vermittler : Als Gymnasiallehrer hoch geschätzt, wurde er als Prediger geradezu gefeiert: Wenn er im Vinschgau oder in der Meraner Gegend predigte, strömte die Landbevölkerung aus den umliegenden Gemeinden in Hundertschaften heran, um den Benediktiner zu hören.610 Dieses breite schriftstellerische, wissenschaftliche, pädagogische und pastorale Tätigkeitsspektrum verschaffte Weber erhebliche Reputation quer durch alle Bevölkerungsschichten, die es ihm ermöglichte, sich im Frühjahr 1848 in der Wahl zur Frankfurter Paulskirche gegen liberale Kandidaten problemlos durchzusetzen.611 Obwohl sich liberale und radikale Abgeordnete in der Frankfurter Nationalversammlung über den streitbaren Mönch lustig machten und wie Friedrich Christoph Dahlmann über den zweiten »Abraham a Santa Clara« lästerten, konnte Weber sein bis dahin bereits sehr engmaschiges Netzwerk im katholischen Deutschland weiter verdichten. Vor allem durch seine publizistische Tätigkeit war Weber im katholischen Deutschland bereits bestens bekannt, so befand sich sein Werk über die Reformation in Tirol beispielsweise unter den ersten, das der »Religiöse Lesezirkel« in Mainz bei seiner Gründung 1846 angekauft hatte.612 1849 wurde er schließlich zum Frankfurter Stadtpfarrer bestellt, da er, wie der Limburger Bischof mehrfach betonte, eine Person war, die den »Protestanten« in jeder Hinsicht Respekt einflößen könne.613 In seinem letzten Lebensjahrzehnt stieg Weber endgültig zu einer der bedeutendsten Figuren der deutschen Katholiken auf: In Frankfurt verhalf er der katholischen Gemeinde durch zahlreiche Vereinsgründungen und eine intensive pastorale und karitative Tätigkeit zu einem erheblichen Aufschwung. Vor allem aber stieg die Stadt am Main durch die vom 608 Angerer, Beda Weber, S. 57–69; Wackernell, Beda Weber ; Brühl, Beda Weber; Kinzl, Beda Weber; Steub, Sängerkrieg, S. 285. 609 Wackernell, Beda Weber, S. 324f.; Angerer, Beda Weber, S. 18–20; AAA, Nr. 663 (sc. 107), Catalogo dei Soci Accademici, Nr. 796, S. 134. Diese wissenschaftlichen Ehrungen lösten bei einigen Zeitgenossen bitteren Neid aus, etwa bei Ludwig Steub noch vierzig Jahre später : Steub, Sängerkrieg, S. 478. 610 Steub, Sängerkrieg, S. 17–19; Angerer, Beda Weber, S. 14f.; Wackernell, Beda Weber, S. 91–94. 611 Heiss/Götz, Revolution, S. 80–86; Götz, Bürgertum, S. 144–150; Mayer, Grossmacht, S. 67–72; Gschliesser, Einheitsbewegung, S. 33–46; Angerer, Beda Weber, S. 20–22 sowie Kap. 9.1. 612 Mayer, Grossmacht, S. 72–85; Heiss/Götz, Revolution, S. 114; Hürten, Katholikentage, S. 34–60; Weber, Charakterbilder, S. 398–403; Wackernell, Beda Weber, S. 325–374; Pesch, Presse, S. 317f. 613 Angerer, Beda Weber, S. 26.
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erfahrenen katholischen Publizisten Weber mit initiierten Presseprojekte »Frankfurter Kirchenblatt« und »Deutschland« zu einem Zentrum der katholischen Medienlandschaft auf.614 So dynamisch die kirchliche, publizistische und politische Karriere Webers verlief, so schwer fiel es Zeitgenossen und nachfolgenden Beobachtern, ihn politisch und theologisch einzuordnen. Gemeinhin wurde er in seinen jungen Jahren als »liberal« eingestuft, seine Freundschaft zu späteren Galionsfiguren des Tiroler Liberalismus, die frühen, für den Tiroler Vormärz mitunter kühnen literarischen Versuche, aber auch abfällige Äußerungen über finstere »Pfaffen« schienen dies zu rechtfertigen.615 Spätere Biographen rätselten deshalb über den Zeitpunkt und die Motivation Webers konservativer Metamorphose, ab Mitte der 1840er Jahre und spätestens 1848 muss er in der Tat als strengkirchlichkonservativ eingeordnet werden, er selbst bezeichnete sich nicht ohne Stolz als »Ultramontane«.616 Überblickt man jedoch Webers schriftliche Hinterlassenschaft, so trifft die für die 1820er und 1830er Jahre ohnehin vage Etikettierung »liberal« kaum zu, zumal nicht, wenn man Gioseffo Pinamonti zum Vergleich heranzieht. Weber klagte in der Tat über »Pfaffen« und kirchlichen Immobilismus, sprach damit aber weniger bestimmte theologische oder politische Standpunkte an, sondern schlicht das bildungs- bzw. literaturskeptische Vorurteil, das ein Teil des konservativen Establishments Tirols seiner literarischen Tätigkeit entgegenbrachte.617 Auch die Enge und der Drill des Klosterlebens, die ihm bereits in den 1830er Jahren mehrfach Karrieresprünge vereitelt hatten, dürften diese Abneigung gefördert haben.618 Webers Kritik an den religiösen Strukturen des Vormärz erscheint vielmehr als frühe ultramontane Opposition gegen eine verstaatlichte, wenig volksnahe und vor allem intellektuell ausgetrocknete Kirche, die er mit vielen, späterhin führenden ultramontan-konservativen Katholiken und Kirchenmännern teilte und die insbesondere 1848 in Tirol zu einer semantischen Ambivalenz zwischen Freiheit der Kirche und Religionsfreiheit führte. Im Rückblick, wohl noch bestärkt durch die Eindrücke der Revolution, fasste Weber sein Bild der vormärzlichen kirchlichen Verhältnisse drastisch zusammen: »Gestehen wir nur redlich ein, die alte Zeit der katholischen Kirche gab uns allerdings einen gewissen Frieden, dessen zweideutige Vortheile aber weit überwogen wurden von der Feigheit und Unthätigkeit der Geister, die sich um dieses Friedens willen alle 614 Angerer, Beda Weber, S. 32–56; Schatz, Geschichte, S. 145–147; Wackernell, Beda Weber, S. 375–423; Pesch, Presse, S. 82–88; Riedl, Beda Weber. 615 Wackernell, Beda Weber, S. 73, S. 79, S. 83; Angerer, Beda Weber, S. 58, Anm. 7. 616 Steub, Sängerkrieg, S. 85, S. 289; Wackernell, Beda Weber, S. 87; Priesching, Mörl, S. 56. 617 Wackernell, Beda Weber, S. 120; Angerer, Beda Weber, S. 58, Anm. 7. 618 Steub, Sängerkrieg, S. 251; Angerer, Beda Weber, S. 12–18.
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Uebergriffe gefallen ließen, und bemüht waren, selbst die Bischöfe zu Vollstreckern der Kirchenknechtung zu machen.«619
Zwar wies dieser frühe Ultramontanismus durchaus einige Parallelen zu liberalkatholischen Strömungen auf – in der Lombardei gründete diese konservativliberale Symbiose auf die geteilte Ablehnung des österreichischen Staatskirchentums620 – Webers Verständnis von Religion und Gesellschaft war jedoch durchweg konservativ, statisch und ständisch geprägt. Ein liberales und progressives, auf gesellschaftliche Reformen abzielendes Projekt, wie es Pinamonti verfolgte, sucht man in Webers Schriften vergeblich. Wenn Weber also in den frühen 1840er Jahren öffentlich für ultramontane Positionen stritt, dann steckte dahinter keine konservative Involution, sondern vielmehr eine konsequente, wiewohl auch schärfere Fortführung seiner früheren Standpunkte. Überblickt man die Viten dieser beiden Geistlichen, so erscheinen die Flächen biographischer Schnittmengen äußerst klein zu sein – als prototypische Vertreter unterschiedlicher politischer und katholischer Entwicklungen scheinen sie die nationale Entzweiung Tirols der späteren Jahrzehnte nachgerade zu verkörpern. Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass vieles die beiden verband. Pinamonti wie Weber waren in breitere katholische Kommunikationsgemeinschaften eingebunden, die ab den 1830er Jahren zunehmend um öffentliche Aufmerksamkeit und gesellschaftliche Deutungshoheit fochten. Sie erkannten beide die Bedeutung der Presse für die Etablierung politischer und religiöser Positionen, waren in den 1840er Jahren in öffentliche Auseinandersetzungen involviert, in denen nur vordergründig um Literatur, eigentlich aber um die Politisierung regionaler Selbstbeschreibungen gestritten wurde.621 Und beide sahen sich und ihre regionale gesellschaftliche Umgebung als integralen Bestandteil einer größeren Kulturnation. Um dies zu belegen und – als katholische Priester – zu rechtfertigen, suchten sie auf ganz unterschiedliche Weise katholische und nationale Bekenntnisse in Verbindung zu setzen. Sie sind Kronzeugen einer Geteilten Geschichte des vormärzlichen Tirol, die sich gegenseitig rezipierten und beeinflussten – weshalb sich ihre Schriften erst in einer beziehungsgeschichtlichen Perspektive erschließen lassen.622
619 Weber, Charakterbilder, S. 402; Wackernell, Beda Weber, S. 83; Steub, Sängerkrieg, S. 240; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 930–932, S. 970–984; Weiss, Ultramontanismus, S. 858–860; Raab, Geschichte; Winter, Romantismus, S. 100f., S. 125–132, S. 217–227; Otruba, Klerus, S. 267; Verucci, Cattolicesimo intransigente, S. 260f.; Mayer, Grossmacht, S. 69–106; Kap. 9. 620 Traniello, Cattolicesimo Conciliatorista, S. 84–90; Fontana, Controrivoluzione Cattolica, S. 323–344; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 973f. 621 Kap. 7. 622 [Weber], Tirol I, S. 153.
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4.3. Die Medialität der religiösen Ethnographien Doch nicht nur die Lebensläufe der beiden Priester, sondern auch deren nahezu zeitgleich veröffentlichten Reisehandbücher über den trentinisch-tirolischen Raum scheinen vordergründig wenig gemein zu haben.623 Schon die äußeren, materiellen Eigenschaften lassen auf eine erhebliche Distanz zwischen den Texten schließen. Pinamonti widmete sein Augenmerk ganz und ausschließlich der Stadt Trient und ihren Umgebungen und benötigte hierfür gerade mal 158 Seiten, während sich in Webers monumentalem, dreibändigem und über 2.000 Seiten starkem »Handbuch« »Das Land Tirol« allein die Einleitung auf knapp 200 Seiten erstreckte.624 Dennoch ähnelt sich die Medialität der beiden Texte stark. »Trento e le sue vicinanze« (1836) und »Das Land Tirol« (1837/38) sind als spezifische Formen gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen zu lesen, die religiöse, räumliche und nationale Zielvorstellungen amalgamierten und als mehrdimensionale Identitätsentwürfe präsentierten. Sie lassen sich als religiöse Ethnographien beschreiben, die nicht nur ideale religiöse und nationale Gemeinschaften entwarfen, sondern auch den Raum, in denen diese eingebettet waren, semantisch neu definierten und mit neuem Sinn versahen, kurzum: imaginierten. Denn, wie Peter Haslinger betont, eignete sich Raum »in besonderer Weise dazu, Kollektivbedeutungen an sich zu binden und damit Gruppenkonzepten zuzuordnen.«625 Der nahezu parallele Erscheinungszeitpunkt der Texte war nicht zufällig, sondern von zwei eng miteinander verzahnten Grundvoraussetzungen bedingt, die die Medialität der Texte entscheidend prägten. Das Unbehagen an den von den zahlreichen vormärzlichen Beschreibungen Tirols von außen herangetragenen Fremdbeschreibungen, die in der Regel durch die politisch-religiösen Positionen der einzelnen Autoren geprägt waren,626 stellte zunächst das zentrale Motiv für die Entstehung der beiden Texte dar. Während die angeführten Entgegnungen in der offiziösen Presse nicht nur dem gestrengen Auge der Zensur unterlagen, sondern zudem allenfalls defensiv wirkten, entwickelten die religiösen Ethnographien auch offensive Gegensemantiken, die den von den Reiseberichten kanonisierten Diskursen über »Tirol« entgegentraten und die als arg verzerrt wahrgenommenen Darstellungen zu korrigieren suchten. Beide Autoren führten diese Grundintention ausdrücklich an: »Fare manifeste, esponendo pure verit/ senza ornamenti, le molte inesattezze e menzogne scritte sopra 623 Pinamonti, Trento; [Weber], Tirol I–III; zur Autorschaft Wackernell, Beda Weber, S. 166. 624 [Weber], Tirol I, S. 1–198. 625 Haslinger, Nation, S. 30–33. 626 Stannek, Patriotismus; Brenner, Erfahrung.
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Trento e il Trentino da geografici ed istorici, e segnatamente da viaggiatori« – so die Begründung Pinamontis für das Erscheinen seines Buches.627 Die gewählten Mittel der Entgegnung unterschieden indes durchaus: Während Weber seiner Schrift schon durch seine opulente und detailversessene Darstellung, der selbst die entlegensten Täler und Siedlungen Tirols nicht entgingen, zur Widerlegung anderer Beschreibungen ausreichend Autorität verlieh, suchte Pinamonti den Weg der direkten Konfrontation und Diskreditierung, indem er zahlreiche, in seinen Augen willkürliche und verleumderische Entstellungen anderer Autoren auflistete, die er zudem noch durchwegs mit Attributen wie »maligno«, »noioso« oder »malizioso« apostrophierte.628 Entgegnungen auf Reiseberichte konnten im Vormärz insbesondere im süddeutschen Raum auf eine längere Tradition zurückblicken. Bereits im 18. Jahrhundert waren sie ein gängiges Mittel der politischen Konfrontation, dessen mediale Grundlagen in der Regel Rezensionen in Zeitschriften bzw. Zeitungen und Broschüren bildeten. Die Kritik der Reiseliteratur entwickelte sich zu einem literarischen Genre, das, patriotisch motiviert, politisches Räsonnement anstellte, bisweilen offene Gesellschaftskritik übte und damit seinen Leserinnen und Lesern oft eine Gegen-Landesbeschreibung anbot.629 In diesen prosperierenden literarischen Betrieb um das »Strukturprinzip der Reise« (Wolfgang Behschnitt), der von einer erstaunlichen Gattungsvielfalt geprägt war, sind auch die Texte Pinamontis und Webers einzubetten – denn, wie FranÅois Knopper hervorhebt, waren Reisetexte in hohem Maße von Transtextualität geprägt.630 Die beiden Tiroler Geistlichen wählten als Medium ihrer Entgegnung eine moderne Literaturgattung, die gerade in den 1830er Jahren einen enormen Aufschwung erfuhr und als »literarische Landesbeschreibung« bzw. als »landesbeschreibende Literatur« bezeichnet wurde. Ihre Ausdifferenzierung spiegelte gesellschaftliche und literarische Entwicklungen wider : So erfuhr der aufgeklärte, »gelehrte« Reisebericht des 18. Jahrhunderts, der durch geradezu wissenschaftliche Stilführung und eine trockene Ansammlung von Daten geprägt war, in der Romantik seine Literarisierung und Narrativierung. Im ausgehenden 18. Jahrhundert waren die klassischen Reiserouten bzw. Reiselandschaften Europas – auch Tirol – topographisch erschlossen und der literarische Markt für derartige statistische Beschreibungen schlicht gesättigt; die zunehmende Aus627 »Die vielen Ungenauigkeiten und Verläumdungen offenzulegen, die von Geographen und Historikern, insbesondere von Reisenden über Trient und das Trentino verfasst wurden, und dabei nur reine Wahrheiten, ohne jede Zierde, darzulegen.« Pinamonti, Trento, S. 5; [Weber], Tirol I, Vorrede. 628 »böse«; »langweilig«; »arglistig«; Pinamonti, Trento, S. 10, S. 20, S. 35, S. 55, S. 134, S. 146. 629 Knopper, Reisebeschreibungen; Kutter, Reisen, S. 19f. 630 Behschnitt, Landesbeschreibungen, S. 57, hier das Zitat; Knopper, Reisebeschreibungen, S. 219f.
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differenzierung der Wissenschaften machte die oftmals unübersehbar dilettantischen, pseudowissenschaftlichen Schriften ohnehin überflüssig. Durch die zunehmende Etablierung und Verbreitung der Presse, vor allem der wissenschaftlichen Zeitschriften, erhielt der gelehrte Reisebericht zudem auch mediale Konkurrenz, gegen deren Aktualität und Periodizität er zunehmend zahnlos erschien. Die romantische Narrativierung des wissenschaftlich-enzyklopädischen Reiseberichts reagierte somit auf eine veränderte Marktlage und neue Lesebedürfnisse, indem er die statistische Darstellung durch Erzählungen, literarischen Bildern der Landschaft, individuellen Erfahrungen und Empfindungen ersetzte.631 Die »literarische Landesbeschreibung« steht am Ende dieser Gattungsgenealogie und platzierte sich, stark beeinflusst durch gesellschaftliche Veränderungen, in die Mitte dieses hoch ausdifferenzierten Gattungsgefüges. Während seine Vorläufer der Selbstfindung, Aufklärung oder wissenschaftlichen Erkenntnis dienten, entwickelten literarische Landesbeschreibungen nationale und regionale Identitätsentwürfe und zielten auf deren Verbreitung ab. Es handelte sich dabei um ein relativ offenes literarisches Genre, das sich im Spannungsfeld zwischen regionaler und nationaler Identität ansiedelte. Es kombinierte die Stilmittel der statistisch-wissenschaftlichen Beschreibung mit narrativen Elementen und integrierte dabei Dialoge, Gedichte, Lieder oder Sagen. Gattungstypologisch lassen sich »literarische Landesbeschreibungen«, wie Wolfgang Behschnitt betont, deshalb weniger durch ihre literarische Form, als durch ihre gesellschaftliche Funktion definieren.632 Auch die Werke »Trento« und das »Land Tirol« changierten gekonnt zwischen Sachprosa und narrativer Fiktionalität. Topographisch-statistisches Material sollte Faktizität und eine detaillierte Reproduktion der Beobachtungen der Autoren suggerieren, während religiöse Beschreibungen oder politische Kritik durch Beglaubigungsmittel wie historische Erzählungen, Dialoge oder persönliche Erfahrungen umschrieben wurden. Pinamonti etwa vermied mithilfe des Stilmittels des Dialoges in besonders heiklen argumentativen Passagen die persönliche politische bzw. religiöse Exponierung. Seine persönliche Meinung über die religiöse Entwicklung des Trentino oder dessen Zugehörigkeit zur italienischen Kulturnation kleidete er ebenfalls regelmäßig in unscheinbare Dialoge.633 Weber dagegen überschüttete seine Leser mit einer umfassenden Sozialstatistik von erstaunlicher Detailliertheit, die bis zur Aufschlüsselung der »Unglücksfälle« des Jahres 1834
631 Hentschel, Reiseliteratur, S. 15–41; Bauerkämper/Bödeker/Struck, Einleitung; Wülfing, Reiseberichte, S. 333f.; Wolfzettel, Reisebericht, S. 25–30; Brenner, Reisebericht, S. 275–277, S. 320–344. 632 Behschnitt, Landesbeschreibungen; ders., Wanderungen, S. 31f., S. 90–100; Hentschel, Studien, S. 30. 633 Pinamonti, Trento, S. 109–118, S. 126–129.
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reichte.634 Gerade dieses stilistische Arrangement, vorgetragen aus der Perspektive des die beschriebenen Räume durchwandernden Beobachters, eignete sich vorzüglich, um »Identifikationsräume« glaubwürdig zu schaffen und symbolisch aufzuladen.635 Richtet man den Blick auf die appellativen Instanzen der Texte, so zeigt sich, dass beide Autoren – und dies war für Reiseberichte-Repliken typisch – ein doppeltes Zielpublikum anzusprechen suchten.636 Die anhaltende europaweite Aufmerksamkeit für Tirol, gegen die sich beide Texte wandten, diente paradoxerweise als Vehikel, um das korrigierte, »wahre« Bild der eigenen Region besonders innerhalb der eigenen Kulturnation bekannt zu machen.637 Pinamonti forderte seine Leser explizit auf: »Lo straniero, il quale cogli occhi proprj ha veduto essere vero tutto quello che noi gli dicemmo delle vicinanze di Trento, potr/, tornato alla patria fare persuasi i suoi, che male istruiti o mentitori furono tutti color i quali ne scrisser altramente.«638
Der Trentiner Agostino Perini bezeichnete Pinamontis Büchlein in einer Rezension in den Mailänder »Annali universali di Statistica« als Beleg für den wissenschaftlichen-literarischen Fortschritt Italiens – nicht nur die beschriebene Region, sondern auch der beschreibende Text wurde somit als Teil der italienischen Nation gedeutet.639 Die »religiösen Ethnographien« reflektierten mithin das Verhältnis zwischen der räumlich-gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung der Autoren und der Fremdwahrnehmung durch Reiseschriftsteller, indem sie deren Erwartungshaltungen und Vorstellungen bestätigten oder zu widerlegen suchten. Sie beobachteten und beschrieben das »Eigene« vor dem Erwartungshintergrund des »Fremden« – die Begegnung mit dem »Fremden« lag also nicht im beschriebenen Objekt, sondern in der Semantik der Beschreibung, die an das »Andere« adressiert war.640 Andererseits strebten beide Autoren die Belehrung und Erziehung ihrer Landsleute an, wobei besonders Pinamontis Werk als religiösnationales Propädeutikum für die Jugend intendiert war und damit als Ergän634 635 636 637 638
[Weber], Tirol I, S. 75–79; Behschnitt, Wanderungen, S. 96f. Behschnitt, Landesbeschreibungen, S. 55. Wülfing, Reiseberichte, S. 336; Knopper, Reisebeschreibungen, S. 226f. Götz, Bürgertum, S. 114; Behschnitt, Landesbeschreibungen, S. 59–63. »Der Fremde, der mit den eigenen Augen die Zuverlässigkeit meiner Ausführungen über die Umgebungen Trients geprüft hat, wird seine Landsleute überzeugen können, dass all jene Autoren, die von meiner Darstellung abweichen, falsch informiert waren oder Lügner sind.« Pinamonti, Trento, S. 83, hier das Zitat, S. 5; [Weber], Tirol I, Vorrede. 639 APT, Archivio Thun, D 31.1 (3), Estratto dal Giornale: Annali universali di Statistica Milano Settembre 1837, Vol. 53, Nr. 151. 640 Brenner, Erfahrung, S. 15; Wolfzettel, Reisebericht; Beschnitt, Wanderungen, S. 160– 166.
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zung der zahlreichen anderen pädagogischen Schriften des Nonstaler Priesters zu verstehen ist. Pinamonti verdeutlicht dies gleich zu Beginn seiner Landesbeschreibung, wenn er betont, dass es die Grundintention seines Buches sei, »animare la gioventF a procurar di conoscere sempre meglio la patria regione e la sua istoria.« Aber auch Weber verstand sein »Handbuch« als »Einleitung in die Landeskunde« für die »Einheimischen«.641 Die zweite konstitutive Grundvoraussetzung der »religiösen Ethnographien« war von den vormärzlichen Paradoxien Tirols bedingt. Das vormärzliche Projekt der politisch-administrativen Zentralisierung und der gesellschaftlichen Domestizierung war keinesfalls perfekt, vielmehr blieben mehrere Wege des »Ideenschmuggels«, wie es Wolfram Siemann bezeichnete, offen, um an übernationaler Kommunikation aktiv oder passiv teilzunehmen: Neben der publizistischen Emigration oder Face-to-Face-Kommunikation unter Anwesenden in einem größeren Rahmen war auch die klandestine Weitergabe von Büchern eine Möglichkeit, zumindest situative Öffentlichkeiten zu schaffen. So bestand zwischen dem Münchener Görres-Kreis und dem Giovanelli-Kreis in Bozen ein beständiger Schmuggelkanal.642 Insgesamt gilt: Für die Entstehung von überpersonaler Kommunikation, also Öffentlichkeit, waren weniger die Inhalte, denn die gewählten Medien entscheidend. Bestimmte Kommunikationsmittel, wie die religiösen Ethnographien, wurden von der Zensur als unbedenklich betrachtet und konnten relativ unbeanstandet erscheinen. So passierte Beda Webers »Das Land Tirol« – zu seinem eigenen Erstaunen – die Zensurinstanzen problemlos, obwohl sich darin religionshistorische Ansichten und kaum verhehlte gesellschaftliche bzw. politische Kritik befanden, die seinen späteren Schriften erhebliche Schwierigkeiten bereiteten. Dies lag auch daran, dass literarische Landesbeschreibungen nicht in das Kompetenzfeld der bischöflichen Zensurbehörden fielen und somit ein relativ freies Medium für religiöse Semantiken darstellten.643 Literarische Landesbeschreibungen wurden vom vormärzlichen Staat nicht nur geduldet, sondern mitunter sogar gefördert: So finanzierte der Mailänder Polizeidirektor Carlo Giusto de Torresani – der ebenfalls aus dem Nonstal stammte – die Drucklegung und korrigierte stilistische Missgriffe in der Erstfassung von Pinamontis »Naunia«, einer literarischen Beschreibung des 641 [Weber], Tirol I, Vorrede; Pinamonti, Trento, S. 5f: »die Jugend dazu anzuregen, das eigene Vaterland und dessen Geschichte immer besser kennen zu lernen.« BCT, Ms. 2064, ders., Dei doveri verso la patria; Nequirito, Identit/ culturale, S. 130; Menapace, Pinamonti, S. 26–29; Götz, Citt/, S. 106f. 642 Siemann, Ideenschmuggel; Clemens, Zensur, S. 19f.; Lengauer, Ästhetik, S. 59–92; Nequirito, Identit/ culturale, S. 51; Wackernell, Beda Weber, S. 27–32; Joseph Görres an Joseph von Giovanelli, 15. 07. 1830, ediert in: Fink-Lang [Hrsg.], Briefe, S. 79f. 643 Wackernell, Beda Weber, S. 164; Angerer, Beda Weber, S. 60–62. Besonders Weber, Reformation, wurde von den staatlichen Zensurstellen in Innsbruck und der kirchlichen in Trient stark beanstandet, hierzu S. 76f.
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Nonstals, die zahlreiche religiöse und nationale Grundzüge des sieben Jahre später erschienen »Trento« offen vorwegnahm.644 Die Landesbeschreibungen Pinamontis und Webers sind außerdem – und auch hier begegnet uns ein typisch vormärzliches Problem – als Motoren der Sinnstiftung zu verstehen. Wie vor allem Werner Blessing eindrücklich aufgezeigt hat, wirkten die epochalen politischen, gesellschaftlichen und religiösen Umbrüche um 1800 auf viele Zeitgenossen schlicht verstörend.645 Dies galt für den Tiroler-Trentiner Raum in erhöhtem Maße: Staatliche, rechtliche und politische Grenzen veränderten sich zwischen 1796 und 1814 geradezu im Jahresrhythmus, der staatliche Zugriff auf den Alltag der Menschen steigerte sich dessen ungeachtet permanent, der Aufstand von 1809 brachte patriotische Ekstase, Chaos, Plünderung und Anarchie, die »Rückkehr« unter Habsburg Ernüchterung und Enttäuschung, die Folgejahre materielle Entbehrungen und Hunger.646 »Tirol« war in den beiden revolutionären Jahrzehnten ein anderes geworden, seiner rechtlichen Privilegien weitgehend entledigt, ärmer, italienischer und abhängiger von Wien – kurzum: Der Tiroler Raum musste »neu semantisiert« werden.647 Beide Texte reflektierten diese neue Situation, versuchten ihr einen Sinn zu verleihen und das neue »Tirol« zu einem Identifikationsraum werden zu lassen, indem sie diverse religiös-politische Identitätsangebote zur Verfügung stellten.648 Mithin ordneten und produzierten sie neue Räume, mit den Worten von Susanne Rau könnte man sie als Medien der »Verräumlichung sozialer Prozesse« beschreiben.649 Insofern ist die Frage müßig, ob diese Texte wirklichkeitsgetreu verfasst wurden. Wie die Reisebeschreibungen – und dies setzt ein beobachtungstheoretischer Zugang ohnehin voraus – weisen auch die literarischen Landesbeschreibungen einen konstruk-
644 Pinamonti, Naunia, S. 3–5. Wie sehr sich Torresani bis ins letzte Detail und vor allem um stilistische Aspekte kümmerte, geht aus TLMF, Dip. 974, III, Nr. 112, Benedetto Giovanelli an Andreas Di Pauli, 29. 08. 1829 und vor allem aus der Korrespondenz zwischen Torresani und Pinamonti hervor, etwa APT, Archivio Thun, Serie D, D 30.3 (16), Carlo Giusto Torresani an Gioseffo Pinamonti, o. D.: »Non pensiamo alla spesa, che sostengo volentieri, purchH la cosa riesca bene e ne derivi un vantaggio alla nostra Patria.« – »Denken wir nicht an die Ausgaben, die ich gerne übernehme, wenn die Sache gut gelingt und unser Vaterland davon profitiert.« Torresani bezahlte für die Drucklegung bei einer Auflage von 1000 Stück 600 Gulden. 645 Blessing, Umbruchkrise. 646 Kap. 2.; Schennach, Revolte, S. 452–518, S. 614–617; Mertelseder, Kriegsfolgenbewältigung; Fischer, Hungerjahr; Kasper, Hungerkrise. 647 Behschnitt, Wanderungen, S. 12f., Zitat S. 13. 648 Nequirito, Tirolo; Heiss, Land. 649 Rau, Räume, S. 170.
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tivistischen Grundcharakter auf: Sie bildeten keine vorhandene Wirklichkeit ab, sondern schufen und plausibilisierten eine neue.650 Diese vormärzlich bedingte, unterschiedliche Gattungen und Stilformen kombinierende Medialität der religiösen Ethnographien, die eine nach innen gerichtete identitäre Homogenisierung, gleichsam eine »narrative Inszenierung«651 des Selbst, virtuos mit einer abgrenzenden Stoßrichtung nach außen verband, dürfte entscheidend zu ihrem Erfolg beigetragen haben. Beda Webers »Das Land Tirol« soll trotz seines Umfangs über 1.000 Abnehmer gefunden haben und wurde in seiner etwas handlicheren Kurzfassung gleich mehrfach aufgelegt und übersetzt.652 Beide Texte dienten den nachfolgenden Reiseschriftstellern als unentbehrliche Grundlage, womit ihre inszenierten Räumlichkeiten nachhaltig kanonisiert wurden. Sie boten in Zeiten der Zensur eine Überbrückung der Kommunikation unter Anwesenden, festigten von Raum und Zeit unabhängig verfügbare Semantiken, sie dienten dadurch den regionalen Öffentlichkeiten und den nachfolgenden Reise- und Landesbeschreibungen als unentbehrliche Informations- und Identitätsspeicher.653 Sie fügten sich darüber hinaus nahtlos in das vormärzliche Mediensystem und wurden in deutsch- und italienischsprachigen Zeitschriften äußerst wohlwollend besprochen.654 »Trento« und »Das Land Tirol« setzten als Selbstbeobachtungen neue Differenzen, sie ordneten räumliche Arrangements und gesellschaftliche Selbstbeschreibungen neu an. »Trentino« und »Tirol« erfuhren somit als antonymisches Begriffspaar eine entscheidende Konturierung, die freilich erst 1848 politisch manifest wurde.655 Indem das in den religiösen Ethnographien konstruierte »Selbst« jedoch erst in der Abgrenzung zum »Anderen« seinen Sinn erhielt und damit gleichsam deren gegenseitige Verflechtung verdeckt wurde, sind die Texte nicht nur in ihrer medialen, sondern auch in ihrer semantischen Dimension als Elemente einer Geteilten Geschichte zu betrachten.656
650 Müller, Baedeker, S. 16–19; Bauerkämper/Bödeker/Struck, Einleitung, S. 15; Hentschel, Studien, S. 37f.; Wolfzettel, Reisebericht. 651 Wolfzettel, Reisebericht, S. 4. 652 Weber, Handbuch. 653 Wackernell, Beda Weber, S. 167f.; ders., Sängerkrieg, S. 8f.; Steub, Sängerkrieg, S. 309; Behschnitt, Landesbeschreibungen; Nequirito, Identit/ culturale, S. 40f.; Heiss, Land, S. 34f. 654 Biblioteca italiana o sia Giornale di Letteratura, scienze ed arti compilato da varj Letterati 22 (1837), S. 232–245; Angerer, Beda Weber, S. 59f.; Steub, Sängerkrieg, S. 126f. 655 Koselleck, Gegenbegriffe, S. 211–259; Luhmann, Gesellschaft, S. 880. 656 Conrad/Randeria, Geteilte Geschichten, S. 20.
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4.4. Die Semantik der religiösen Ethnographien »Das eigentliche Tirol ist ihm Deutschtirol, Trient eine wälsche Stadt!«657 Ungläubig und irritiert kommentierte der Rezensent des offiziösen »Tiroler Bothen« Pinamontis raumbezogene Semantiken: Das »Tirolo propriamente detto« setzte Pinamonti in der Tat durchweg mit dem deutschen Sprachgebiet Tirols gleich, das er im gleichen Zug noch weit, deutlich über die Sprachgrenze hinweg, nach Norden versetzte.658 Pinamontis wie Webers Beobachtungen zogen neue Grenzen, sie operierten mit Codes, die religiöse, nationale und räumliche Zuschreibungen verflochten und neu anordneten. Vergleicht man die Semantiken der religiösen Ethnographien mit dem Textkorpus, den Wolfgang Behschnitt als »literarische Landesbeschreibungen« analysierte, so treten markante Parallelen, aber auch deutliche Unterschiede hervor. Konstitutiv für sämtliche dieser Texte ist die grundlegende Funktion, die regionale Koppelung zur eigenen Kulturnation zu begründen und zu belegen. Diese nationalen Verflechtungen waren von den Kategorien »Landschaft« und »Geschichte« getragen, die sich gegenseitig bedingten – Behschnitt bezeichnet die beschriebenen Landschaften treffend als »materialisierte Geschichte«.659 Pinamonti führte dieses konzeptionelle Design in einer unveröffentlichten geschichtstheoretischen Abhandlung, die sich als allgemeine Anleitung zum historischen Arbeiten und Denken lesen lässt, explizit aus: Die historischen Grundkategorien seien demnach Zeit und Raum, die historischen Hilfswissenschaften Chronologie und Geographie. Ein historischer Text müsse mithin »descrivere i luoghi, narrare le origini dei popoli senza mescolanze di favole, esporre le rivoluzoni che produssero le differenti forme de governi […], il bene o il male che produssero come tali, colle leggi ed ordinanze utili e perniziose, e segnatamente colla scienza e colla Religione.«660
Gemein war den Texten auch das epistemologische Problem der Koppelung von Geschichte und Gegenwart – die historische Darstellung diente nicht dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, sondern der Begründung der Nation. Sie nahm somit eine spezifische Funktion ein, die nicht offen erklärt werden konnte, sondern literarisch kaschiert werden musste. Dieses Problem lösten Pinamonti 657 Literatur. Trento sue vicinanze, industria, commercio e costumi de’ Trentini, BTV Nr. 32, 20. 04. 1837; S. 128; Nr. 33, 24. 04. 1837; S. 132, (hier das Zitat), Nr. 34, 27. 04. 1837, S. 136. 658 »das eigentliche Tirol«; Pinamonti, Trento, S. 149f., Zitat, S. 51. 659 Behschnitt, Wanderungen, S. 61–75, Zitat S. 68. 660 »die Orte beschreiben, die Ursprünge der Völker wahrheitsgetreu nacherzählen, die Revolutionen, die zu unterschiedlichen Regierungsformen führten, darstellen und dabei auch das Gute und das Schlechte berücksichtigen, das diese durch nützliche und unheilvolle Gesetze, insbesondere aber durch die Wissenschaft und die Religion hervorgebracht haben.« BCT, Ms. 2075, Gioseffo Pinamonti, Che sia l’istoria, f. 109–112, Zitat 109.
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wie Weber durch eine doppelte literarische Strategie: Zunächst diente das »Denkmal« als Scharnier zwischen Vergangenheit und Gegenwart. »Denkmäler« konnten geradezu beliebige Ausdrucksformen annehmen – Landschaften, Personen, Städte, Gebäude oder in Stein gemeißelte Figuren fungierten gleichermaßen als »Denkmäler«. Als »materialisierte Geschichte« evozierten sie nicht nur Erinnerung an vergangene Ereignisse, sondern eigneten sich auch dazu, die Gegenwart zu einer Geschichtslandschaft zerinnen zu lassen.661 Um dem Problem der Vergegenwärtigung nationaler Vergangenheit zu begegnen, setzten beide Autoren geschichtsphilosophische Basisnarrative ein, die ihre Darstellungen strukturierten und die historischen Beobachtungen selektierten. Diese dominanten Erzählmuster waren in beiden Fällen elementar mit spezifischen, theologisch jedoch nicht weiter begründeten, Vorstellungen von Religion und ihrer gesellschaftlichen Verortung verwoben. In diesem Punkt unterscheiden sich die Texte der beiden Tiroler Priester wohl von den gattungsverwandten literarischen Landesbeschreibungen. Während die literarischen Landesbeschreibungen die gesellschaftliche Gegenwart des beschriebenen Raumes bestenfalls streiften, so sprachen Weber und Pinamonti durchaus, aus der Perspektive ihres historisch-religiösen Erzählmusters, soziale und politische Probleme Tirols an.662 Eine weitere Abweichung der Tiroler Texte liegt in ihrer grenzziehenden Funktion: Während literarische Landesbeschreibungen, wie etwa jene über Tirol aus der Feder des Wieners Johann Gabriel Seidl, sich kaum für staatliche oder sprachliche Grenzen interessierten,663 ist die Suche nach Grenzen, deren Begründung und Festschreibung geradezu der konstitutive Grundzug der Texte Webers und Pinamontis. Wollte man nun die semantische Grundstruktur von »Trento« und »Das Land Tirol« offenlegen, so gelangte man zunächst also zu geschichtsphilosophischen Basisnarrativen, auf denen die weiteren Argumentationen aufbauten. Pinamonti entwickelte in »Trento« und in zahlreichen anderen Schriften ein linear progressives Geschichtsbild, das gleichsam eine Sattelzeit zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert postulierte und das er an einer Zäsur um 1800 entfaltete: »Le guerre fattesi negli ultimi anni del passato secolo, e ne primi del corrente, la venuta de Francesi, i cangiamenti del Governo di vescovile in austriaco, poi in bavarese, indi in italiano, e finalmente in austriaco ancora, mutarono faccia alla citt/ e a tutto il paese.«664 661 662 663 664
Behschnitt, Wanderungen, S. 122–134. Ebenda, S. 152–154. Seidl, Wanderungen; Behschnitt, Wanderungen, S. 135f. »Die Kriege der letzten Jahre des vergangenen Jahrhunderts und in den ersten des laufenden, die Ankunft der Franzosen, die Regierungswechsel von der bischöflichen zur österreichischen, von der bayerischen zur italienischen und dann erneut zur österreichischen Herrschaft, haben das Gesicht der Stadt und des ganzen Landes verändert.« Pinamonti, Trento, S. 89.
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Das Ancien R8gime galt ihm als Periode des trostlosen Stillstandes, die zwar ein gemächliches, selbstgenügsames Leben garantierte, aber kaum Ansätze von Fortschritt und Veränderung duldete. Dieser Epoche setzte Pinamonti seine Gegenwart als positive Kontrastfolie entgegen: Nach 1800 habe ein religiöser, politischer und wirtschaftlicher – insbesondere landwirtschaftlicher – Aufschwung eingesetzt, der sich organisch und einheitlich ausgestaltete. Pinamontis gleichsam holistische Konzeption von Gesellschaft ist entscheidend: Das »Trentino«, seine Gesellschaft und seine Wirtschaft hätten sich nur deshalb positiv entwickeln können, weil sich Religion und Sitten der Trentiner ebenfalls modernisierten.665 Dieses dynamische Grundnarrativ durchzieht das gesamte Werk Pinamontis, besonders bemüht war er jedoch, eine fortschrittliche, liberale und insgesamt tolerante Katholizität des Trentino darzustellen: »Il popolo trentino non chiede ad alcuno di qual nazione egli sia, e qual religione professi, quando cik non avvenga per mera curiosit/. Esso ama tutti, e in questo senso H tollerante.«666 Dieser tolerante Grundzug der Trentiner war in Pinamontis Beschreibung jedoch keine natürlich gegebene Eigenschaft, sondern ein Ergebnis der historischen Entwicklung. So sei die Vergangenheit von einem »misero fanatismo«667, von Unduldsamkeit, Aberglauben und Werksreligiosität geprägt gewesen – erst die Entwicklungen während Pinamontis Sattelzeit hätten den kritischen, aufgeklärten und duldsamen Katholizismus des Trentino hervorgebracht. Wohl aufgrund der Aktualität seiner religionspolitischen Beschreibungen – zum Erscheinungszeitpunkt von »Trento« steuerte die Zillertaler-Frage ihrem Höhepunkt entgegen – kleidete er diese häufig in fiktive Dialoge. So ließ er in »Trento« zwei Priester gegeneinander antreten, wobei ihm der eine als Versinnbildlichung des barocken Katholizismus des 18. Jahrhunderts diente, während dessen Gegenredner, ein junger Kleriker, einen aufgeklärten, von jedem Aberglauben befreiten und zuweilen auch individualisierten Katholizismus repräsentierte.668 Pinamonti suchte sein Projekt der fortschrittlichen Trias aus Religion, Landwirtschaft und Gesellschaft, das er in »Trento« entfaltet und beschrieben hatte, in weiteren Schriften und Reden politisch zu realisieren. Die Belehrung der Jugend in Religion, Geschichte und Landwirtschaft erschien ihm dabei als das zentrale Medium der politischen und nationalen Emanzipation von den »do665 Ebenda, S. 84–94; ders., Strade; ders., Cangiamenti seguiti nel Trentino, GADTR Nr. 15, 08. 04. 1845, S. 60; ders., Progresso in bene ed in male, ebenda Nr. 27, 06. 07. 1847, S. 105. 666 »Das Trentiner Volk fragt niemanden, welcher Nation er angehöre und welche Religion er praktiziere, und wenn, dann bloß aus schlichter Neugierde. Es liebt alle und ist in diesem Sinne tolerant.« Pinamonti, Trento, S. 145. 667 »jämmerlichen Fanatismus«. 668 Pinamonti, Trento, S. 108–118; Zitat S. 18; ders., Strade; ders., Vita, S. 57–59; ders., Naunia, S. 78f.
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minatori«.669 »Ignoranza« galt ihm in allen drei Bereichen als das gesellschaftliche Grundübel schlechthin: »La qual cosa debba tornare non a vergogna di tutti noi, ma ben anche gravissimo danno che un popolo ignorante della patria istoria viene facilmente ingannato e oppresso.«670 Pinamonti grenzte sein Gesellschaftsprojekt von einer radikalen, antiklerikalen Aufklärung wie auch vom konservativen habsburgischen Staatskirchensystem ab: Implizit propagierte er einen dritten Weg, der sich stark an den sich in jenen Jahren in Norditalien entwickelnden neoguelfischen Konzepten orientierte. Eine fortschrittliche, entschieden antijesujitische Katholizität galt in seinen Texten als Basiskomponente der trentinischen Italianität, beide seien einem »papa popolare«, wie er einige Jahre später einforderte, zu unterstellen.671 Beda Webers Blick auf die Zeit um 1800 war dagegen ambivalent. Einerseits stellte er den Tiroler Aufstand von 1809 als letzte Manifestation tirolischer Grundtugenden dar, penibel zeichnete er hierfür dessen heroische Ereignisgeschichte auch im entlegensten Ort nach.672 Zugleich betrachtete er die Zeit um 1800 – wie jede andere Revolution auch – als Ursprung beständigen Niedergangs. Insbesondere die Reformation interpretierte er, wie viele seiner ultramontanen Zeitgenossen, als »Urrevolution« schlechthin und als Grund für die Zersplitterung der mittelalterlichen deutschen Einheit.673 Webers Revolutionsanalyse reduzierte sich dabei auf simple Formeln: Religiöse Entsittlichung, hervorgerufen durch die staatliche Behinderung des kirchlichen Heilsauftrages, führe unvermeidlich in einen religiösen wie gesellschaftlichen Umsturz. Seine bereits angesprochene Kritik am vormärzlichen Staatskirchentum, die er später als »josephinische Jämmerlichkeit zur Knechtung des freyen kirchlichen Lebens« bezeichnete, tritt hier unumwunden hervor: Am Beginn des 16. Jahrhunderts habe der Klerus vornehmlich dem Staat gedient, was zu einer allgemeinen Entsittlichung, der Ausbreitung des Protestantismus und dadurch direkt in den – von ihm als Revolution beschriebenen – Bauernaufstand von 1525 geführt habe.674 Die Blütezeit, oder in seinen Worten, »die schöne Ritterzeit« 669 »den Beherrschern«. So in Pinamonti, Trento, S. 130–133. 670 »Diese Sache sollte uns nicht nur beschämen, sondern fügt uns ernsthaften Schaden zu – denn ein Volk, das die eigene Geschichte nicht kennt, lässt sich mühelos täuschen und beherrschen.« BCT, Ms. 2036, Gioseffo Pinamonti, Dizionario Geografico ed Istorico della Diocesi e del Principato di Trento, f. 2; BCT, Ms. 2064, ders., Dei doveri verso la patria, f. 11f. 671 Pinamonti, Ragionamenti; BCT, Ms. 2060; ders., Costituzione della cristiana cattolica chiesa, e sua dottrina intorno agli obblighi e diritti de’cittadini, e dei loro Reggitori; ebenda, Ms. 2075, f. 78; ders., Trento, S. 88. 672 [Weber], Tirol II, S. 106. 673 [Weber], Tirol I, S. 31f.; Klug, Rückwendung, S. 110. 674 Weber, Curriculum Vitae (Zitat); [ders.], Tirol I, S. 386f.; ders., Bozen, S. 72–111; Schneider, Barrikaden, S. 112–121, S. 353–368; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 973.
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Tirols, lag demnach im Mittelalter, in dem Gesellschaft, Kirche und Religion eine organische, statische Einheit gebildet hätten.675 Während also Pinamonti die Religion als dynamisches Element darstellte, ist diese bei Weber, der auch hier seinem antirevolutionären, statischen Geschichtsbild verpflichtet bleibt, als ein überzeitlich fixierter Faktor der Konservativität gedacht. Dem Christentum schrieb Weber eine gesellschaftlich und national konstitutive Funktion zu: Erst die Christianisierung habe Bajuwaren, Rhäter und Alemannen im frühen Mittelalter zu Tirolern zusammengefügt und damit die Tiroler Nation geschaffen.676 Diese gesellschaftliche Integrationskraft der Religion verband in Webers Beschreibung die Gegenwart mit dem Mittelalter und prägte die Gesellschaft Tirols tiefgreifend: »Das religiöse Element der Tiroler ist strenger Katholizismus. Neuerungen in Bezug auf religiöse Gegenstände sind dem Volke verhasst.« Diesen religiösen Grundzug attestierte Weber jeden einzelnen der »Tiroler Stämme«, so etwa den Sterzingern, deren »Unwandelbarkeit des religiösen Lebens« er lobend hervorhob.677 Überraschend ist in dieser Hinsicht, dass die Konflikte um die Zillertaler Glaubensgemeinschaft in Webers 2.000 Seiten nur an einer Stelle angedeutet werden, wenn von einem »Sektenwesen, geschürt von aussen, und von aussen unterhalten, in Vintschgau, im Zillerthale und in Ahrn einige Funken geweckt [hat]«, die Rede ist, die aber »grössthentheils bereits wieder erloschen« seien.678 Die Bewohner des Zillertales beschrieb er dagegen als höchst lebensfrohes und heiteres Volk, das die tiefe Religiosität der Tiroler mit einer bestimmten weltzugewandten Genialität verbinde und wohl deshalb »religiös verleumdet« worden sei.679 Die Glaubensspaltung im Tal erwähnte Weber dagegen mit keinem Wort – diese hätte seinem historischen Grundnarrativ einer harmonischen, statischen Gesellschaft eklatant widersprochen. Den konstatierten tirolischen »Charakterphysiognomien« und »religiösen Formwesen« ordnete Weber unvermittelt nationale Zuschreibungen zu.680 Als zentrale, »deutsche« Eigenheit der Tiroler und Tirolerinnen beobachtete er eine gesellschaftliche Einheit, die auf einem freien Bauernstand gründe. Dieser ständisch-integrative Gesellschaftsentwurf setzte sich stark von der sozialen Konfiguration des Trentino und Italiens ab: Hier beschrieb Weber eine tiefe und konfliktgeladene soziale Differenz zwischen den »signori« und den Bauern, die
675 676 677 678 679 680
[Weber], Tirol I, S. 26–41, Zitat S. 41. Ebenda, S. 18. Ebenda, S. 120, das erste Zitat; [Weber], Tirol II, S. 28, das zweite Zitat. [Weber], Tirol I, S. 120. [Weber], Tirol III, S. 492–530, Zitat S. 530. [Weber], Tirol II, S. 259, das erste Zitat; ebenda, S. 499, das zweite Zitat.
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er auf einen unfreien und verarmten Bauernstand zurückführte.681 Weber grenzte sein »Tirol« somit, nach Norden blickend, vom konfessionell gespaltenen Deutschland ab, gegen Süden gerichtet dagegen von einem zwar katholischen, dafür aber sozial fragmentierten Italien. Hier äußerte sich der frühe Ultramontanismus Webers in aller Deutlichkeit: Gegen die zersetzende, unübersichtliche und geschichtslose Moderne entfaltete er ein einheitliches, historisch gewachsenes gesellschaftliches Szenario, das auf einem freien Bauernstand gründet und keine sozialen, religiösen oder politische Differenzierungen – und eben deshalb auch keine Zillertaler Devianz – kennt.682 Denkt man diese ultramontane Gesellschaftstheorie weiter, gelangt man, wie Bernhard Schneider am Beispiel der katholischen Presse des Vormärz zeigen konnte, zur binären Codierung von »Wahrheit« und »Irrtum«. Nur das historisch Gewachsene könne Wahrheit und Recht für sich beanspruchen, jede Revolution, ja selbst jede gesellschaftliche – politische, wirtschaftliche oder religiöse – Innovation, die sich nicht am Bestehenden orientiere, sei geschichtslos und damit ohne jegliche natürliche oder rechtliche Legitimation.683 Diese gegen die Moderne gerichtete Grundhaltung vermittelte Webers Text durch eine literarische Strategie, die besonders in romantischen Vorlagen häufig vorkam. Weber inszenierte sich als wandernden Beobachter, der die beschriebenen Gebiete Tirols selbst beging und die Berghöhen selbst erklomm. »Wandern« war die romantische Reiseform der Entschleunigung, weniger ein Mittel der Fortbewegung als eines der Selbsterkenntnis, verbunden mit einem antimodernen, patriotischen Reflex. Dieses patriotisch inszenierte Wandern dürfte, wie Wolfgang Behschnitt betont, tatsächlich ein deutschsprachiges Phänomen sein: Es strukturiert Webers Werk, während es bei Pinamonti nur zu erahnen ist.684 Auf der Basis dieser Grundnarrative zogen Pinamonti und Weber weitere innere und äußere Grenzen. Besonders »Denkmäler« dienten als vorzügliches Mittel dazu, die Bindung zur Kulturnation zu belegen und die beschriebenen Landschaften nach außen hin abzugrenzen. Pinamonti widmete sich dabei, in Anlehnung an die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen oberitalienischen 681 [Weber], Tirol I, S. 27, S. 466–468; [ders.], Tirol II, S. 499; [ders.], Aus Italien, in: Hist. Pol. Bl. 20 (1847), S. 525–559. 682 Weiss, Ultramontanismus, S. 827f.; Priesching, Mörl, S. 405. 683 Schneider, Barrikaden, S. 330–352. 684 [Weber], Tirol I, S. 190: »Am besten ist in Tirol der Fussreisende daran, um Land und Leute kennen zu lernen. Kräftig und stark gebaut für alle Beschwerden des Weges, für jede Entbehrung im Gebirge, bei Tag und Nacht ein wanderfester Geselle, wagt er sich durch Thal, über Joch- und Gemsensteige.« Ebenda, S. 276; [ders.], Tirol II, S. 276; [ders.], Tirol III, S. 10, S. 63, S. 119. Pinamonti gab lediglich Wanderanleitungen, »wandert« als erzählender Autor jedoch nicht: Pinamonti, Trento, S. 57; Brenner, Reisebericht, S. 330f.; Kutter, Reisen, S. 25; Knopper, Reisebeschreibungen, S. 234; Behschnitt, Wanderungen, S. 75–81; König, Zu Fuß, S. 155–174.
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Stadtstaaten, vor allem der Urbanität Trients, die er als das Herz des Trentino beschrieb.685 Die Konzilsstadt sei demnach durchweg von italienischer Architektur geprägt, die »palazzi« der Stadt böten wie in Italien besonders in den Sommermonaten Schutz vor Hitze, deren Baumaterialien gehörten zu den edelsten Italiens. Das wichtigste Gebäude der Stadt sei zweifelsfrei der »palazzo vescovile«, »oggetto di storiche reminiscenze e decoro nazionale«686, der in seiner Grandezza die staatsrechtliche Unabhängigkeit des Trienter Hochstifts vergegenwärtigte. Das gesellige Leben der Trienter spiele sich, »come nelle altre italiche province«, in den Caf8s ab.687 Durch die Inszenierung des italienischen urbanen Raumes zum nationalen »Denkmal« »peripherisierte« Pinamonti das Umland der Stadt, zu dem er nicht nur die Gebiete des ehemaligen Hochstiftes zählte, sondern etwa auch die seit dem 16. Jahrhundert zu den habsburgischen Territorien gehörende Stadt Rovereto. Die Geschichte Trients als ehemalige Residenzstadt des Hochstiftes erhob die Stadt somit zum Hauptort und Zentrum der raumbezogenen Semantik »Trentino«, sie begründete gleichermaßen dessen Zugehörigkeit zur italienischen Nation.688 Als zweites nationales »Denkmal« führte Pinamonti die Sprache bzw. den Trienter Dialekt an, den er als »uno che di piF si approssimano alla lingua nobile d’Italia« erklärte. Um dies zu belegen, führte Pinamonti einen umständlichen Dialog zwischen einem Handwerker und dessen Frau an.689 Wie die als genuin italienisch beschriebene urbane Lebensform galt Pinamonti also auch der Trentiner Dialekt als stichhaltiger Beleg für die Italianit/ des Trentino. Auch Beda Webers »Denkmäler« setzten Grenzen, wenngleich sie anderer Art waren als jene Pinamontis. Weber operierte mit biologischen, gleichsam primordialen und körperlichen Codes und definierte den Körper des Tiroler Bauern selbst als »Denkmal«, das Geschichte und Gegenwart vereint.690 Der Tiroler Bauer wurde als zentrales Element »eines der stärksten Völker, das die Geschichte kennt«, als »deutsche« und »kolossale« Gestalt dargestellt, die sich aufgrund körperlich-ästhetischer Kriterien scharf von den italienischsprachigen Bewohnern des südlichen Tirol scheiden lasse: »Die Fleimser sind ein aufgewecktes, geistreiches, religiös inniges Volk, starken rüstigen Körperbaus mit unitalienischen Gesichtszügen, mit deutscher Kraft, und deutschem Rechts- und Freiheitsgefühl.«691 Diese national aufgeladene Körperlichkeit diente Weber als 685 686 687 688 689
Pinamonti, Trento, S. 8–54. »Gegenstand historischer Reminiszenzen und nationaler Würde«; ebenda, S. 12. »Wie in den anderen italischen Provinzen«; ebenda, S. 123f. Ebenda, S. 130–134; Götz, Citt/, S. 107. »einen, der sich am stärksten der vornehmen Sprache Italiens annähert.« Pinamonti, Trento, Zitat S. 105, S. 126–129. 690 Giesen, Intellektuellen, S. 48–54. 691 [Weber], Tirol II, S. 410, hier das Zitat, S. 533; [Weber], Tirol III, S. 25, S. 99f.
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Projektionsfläche für Zuschreibungen, die er sprachgruppenübergreifend zuordnete. Der italienischsprachige Südtiroler, das national, weil »körperlich« Andere des deutschen Bauern, wurde als inferiores und verarmtes, in trostlosen Hütten wohnendes Wesen dargestellt.692 Die »deutsche« Körperlichkeit des Tiroler Bauern, dessen »unwandelbare« Katholizität und unbändiger Freiheitswille waren in Webers Augen auch die Grundlagen für den Aufstand von 1809, der in seinem Werk allgegenwärtig ist. Die Tiroler, besonders aber die Bewohner des Passeiertales, seien »dem feindlichen Kugelregen, wie dem heiligen Abendmahle« entgegengestürmt und »wie Jesus Christus für Recht und Wahrheit gestorben.«693 Der Aufstand von 1809 und der nationale Körper der Tiroler Bauern wurden hier eschatologisch gedeutet: Religiosität, Körperlichkeit und die Geschichte der Tiroler verschmolzen zur Einheit, zu einem »Denkmal« mithin. Die Bevölkerung des südlichen, italienischen Tirol beschrieb Weber dagegen als »soldatenscheu« und als unkriegerisch, da sie an den vergangenen Kämpfen Tirols unbeteiligt geblieben war.694 Die Amalgamierung der Tiroler Körperlichkeit, Religiosität und kriegserprobten Geschichte zum nationalen »Denkmal« ermöglichte es Weber, die Nations- von der Sprachgrenze zu lösen und große Teile des italienischen Tirol, wo er »deutsche« Körper anzutreffen glaubte, als ursprünglich deutsche, nunmehr italianisierte Gebiete zu beschreiben.695 Aber auch Gioseffo Pinamonti argumentierte mit primordialen, naturalisierten Sinnzuschreibungen, die seine »Denkmäler« der Italianit/, die sich auch in einer nicht näher begründeten kulturellen Überlegenheit der Trentiner äußerte,696 semantisch ergänzten. Schlagkräftige Belege für die Zugehörigkeit des südlichen Tirol zu Italien fand der Nonstaler Priester in räumlichen Bezügen, besonders in Flora und Klima. Das »Trentino« blühe demnach unter einem italischen Himmel, Trient und dessen Umland seien von »italici pioppi« geziert, das Klima insgesamt südländisch mild und die Trentiner von den »orrori dell’inverno« verschont.697 Geradezu versessen suchte Pinamonti zu belegen, dass in Trient von den vorangegangenen 15 Wintern nur vier Schneefall gebracht hätten und das Umland der Stadt sowie die höheren Gebirge beinahe ganzjährig grün und überwiegend schneefrei geblieben waren.698 Pinamonti entwarf in 692 [Weber], Tirol II, S. 481; [ders.], Aus Italien, S. 531: »sein tiefgefurchtes, sonnenverbranntes Gesicht war in schauderhafte Falten eingegangen, die mir in deutschen Gegenden nie begegnet sind.« Altgeld, Italienbild, S. 248, S. 301. 693 [Weber], Tirol III, S. 298. 694 [Weber], Tirol II, S. 502f., Zitat S. 502. 695 [Weber], Tirol III, S. 99f., S. 243f. 696 Pinamonti, Trento, S. 100–105. 697 »Italischen Pappeln«, »den Gräueln des Winters.« Ebenda, S. 23; S. 58f., S. 74, hier das erste Zitat, S. 80–82, S. 120, S. 125f., hier das zweite Zitat. 698 Ebenda, S. 144.
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»Trento« eine italienische Landschaft und deutete deren Klima in nationaler Absicht. Diese Naturalisierung nationaler Grenzen ermöglichte es ihm, das italienische »Trentino« über die Sprachgrenze hinweg bis nach Meran und Bozen auszuweiten, da dort ähnliche klimatische Bedingungen beobachtbar seien: »Questo bel tratto di paese, come e per clima, prodotti e geografica posizione, cos' fu lungamente, anche per lingua, italiano«.699 Diesem Modell folgend, widersprach er auch energisch der wenig später von Giuseppe Frapporti und Agostino Perini postulierten Grenze am Brennerpass als Demarkationslinie zwischen »Deutschland« und »Italien«, da sie eben die von »indole«, »lingua« und »geografia« bedingten Nationalitätenverteilung eklatant missachte.700
4.5. Landesbeschreibung als gesellschaftliche Selbstbeschreibung Pinamonti und Weber präsentierten in ihren Landesbeschreibungen mehrdimensionale, scharf voneinander geschiedene Entwürfe von »Trentino« und »Tirol«, die zwar an eine seit Jahrhunderten geführte Diskussion über die Grenze zwischen Italia und Germania anknüpften, die aber auch, und das ist zentral, erst unter den Bedingungen des Homogenisierungs- und Nivellierungsprozesses nach 1816 in ihrer medialen Form als moderne Selbstbeschreibungen entstanden. Das neue, administrativ konstruierte binnentirolische Näheverhältnis rief das Bedürfnis der verstärkten Abgrenzung hervor.701 Beide Autoren ordneten ihre Region unmissverständlich einer Kulturnation zu, dachten den damit national ausgeschlossenen Teil des Kronlandes jedoch immer als das »Andere« im Hintergrund mit.702 Pinamonti und Weber operierten dabei mit unterschiedlichen Grenzmarkern, die weit über das eigentlich naheliegende Kriterium der Sprache hinausreichten, die wohl erst nach 1880 zur »primary measure of the nation’s territory spread« wurde.703 Geschichte, Religion, räumlich-klimatische Eigenschaften und Körperlichkeiten dienten dazu, das »Eigene« zu beschreiben und das »Andere« auszugrenzen. Für beide Autoren war »Natur« eine nationale Kategorie, die die Sprach699 »Dieses schöne Stück Land war aufgrund seines Klimas, seiner Produkte, seiner geographischen Position wie auch seiner Sprache lange Zeit italienisch.« Ebenda, S. 149. 700 »Wesensart«, »Sprache«, »Geographie«. Letteratura patria, MT Nr. 85, 23. 10. 1841; Corsini, Trentino, S. 309, Anm. 39; ders., La questione nazionale, S. 605; Kap. 7.; Judson, Borderlands S. 19; Haslinger, Nation. 701 Conrad/Randeria, Geteilte Geschichten, S. 19, Stauber, Zentralstaat, S. 49–129. 702 Corsini, Trentino, S. 308, behauptet dagegen, in der ersten Jahrhunderthälfte hätten alle Landesbeschreibungen des Trentino dessen »diritti nazionali« verkannt. 703 Judson, Marking national space, S. 123f.
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grenzen überwölbte: Beda Webers »deutsches« Tirol griff weit in den Süden aus, während Pinamonti sein »Trentino« bis nach Meran verlegte. Die »naturalisierte« Grenze wurde allerdings nur bei Pinamonti räumlich festgesetzt. Wie im übrigen deutschen Sprachraum spielten bei Weber »natürliche Grenzen« eine nur nachgeordnete Rolle: Zwar finden sich bei ihm durchaus stereotypisierte, romantische Landschaftsbeschreibungen, allerdings kam diesen keine grenzmarkierende Qualität zu.704 Da er die Einheit Tirols postulierte, konnten räumliche und klimatische Unterschiede keine Grenzen festsetzen. Deshalb konzentrierte sich Weber auf körperliche Unterschiede, die es ihm erlaubten, auch in italienischsprachigen Gebieten »deutsche« Bauernkörper festzumachen. Dennoch musste Weber die Unterschiede zwischen deutschen und italienischen Tirolern akzeptieren, ja seine Definition von »Tirol« und den »Tirolern« war nachgerade so ausgelegt, diese noch zu akzentuieren.705 Neben den räumlichen/natürlichen Kriterien der Unterscheidung sticht in beiden Texten die religiöse Codierung von Raumbeschreibungen hervor. Weber und Pinamonti entwickelten spezifische Semantiken des Katholischen, die sie mit historischen Grundnarrativen und weiteren nationalen Zuschreibungen abstimmten und ihren Raumentwürfen zuordneten. Ein progressiver, liberaler und zuweilen neoguelfischer Katholizismus prägte in den Augen Pinamontis das Trentino und trug zum allgemeinen Fortschritt der Trentiner maßgeblich bei, während Weber einen »strengen«, überzeitlich statischen Katholizismus der Tiroler beobachtete. Religion wurde hier territorialisiert und für die räumlichnationale Grenzziehung semantisch operationalisiert. Für beide Autoren war »Religion« also eine nationale Kategorie, die allerdings nur bei Pinamonti räumlich festgesetzt wurde. Indem Pinamonti den Trentinern pauschal eine tolerante Grundhaltung attestierte, grenzte er diese implizit vom deutschsprachigen Tirol ab, das in jenen Jahren in der europäischen Öffentlichkeit als Hort einer nachgerade gegenreformatorischen Unduldsamkeit galt.706 Die religiösen Ethnographien sind demnach als Surrogate einer ungehinderten gesellschaftlichen Selbstbeschreibung in Zeiten der Zensur zu verstehen. Sie waren Medien subtiler Gesellschaftsentwürfe und füllten damit das nach 1816 aufgetretene Sinnvakuum, wehrten von »außen« herangetragene Beschreibungen ab, boten für den neuen – provinzialisierten – Zustand der tren704 »Langt man des Abends hier an, so schwimmen die nordwestlichen Berge in einem Gluthmeere vor den Blicken des entzückten Wanderers, und die hinter die äussersten Salzberge von Hall absinkende Sonne biethet ein Riesenbild der furchtbarsten und erhabensten Schönheit der Bergwelt, werth vom Pinsel eines Rubens oder Salvador Rosa verewigt zu werden.« [Weber], Tirol III, S. 53; Behschnitt, Wanderungen, S. 138–142; Medick, Grenzziehungen, S. 201. 705 Nequirito, Tirolo, S. 58. 706 Kap. 3.4.
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tinisch-tirolischen Region historische, religiöse und politische Deutungsmuster und verliehen damit den beschriebenen Räumen und Menschen ein neues Gesicht, schufen gleichsam »Räumlichkeiten des kulturellen Seins.«707 Sie setzten gesellschaftliche Selbstbeschreibungen nachhaltig fest: So wird sich der Trentiner liberale Katholizismus im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts mehrfach mit dem Rekurs auf die eigene konfessionelle Toleranz vom deutschsprachigen Katholizismus Tirols abgrenzen, deutschsprachige Ultramontane werden dagegen im »unkriegerischen« und körperlich unterlegenen »Trentiner« das Andere des »wehrhaften Tirolers« finden.708
707 Behschnitt, Landesbeschreibungen, S. 55. 708 Huber, Papst, S. 378–380.
5.
Mediale Aufbrüche
Um 1840 kreuzte sich die Evolution der religiösen Kommunikation im nördlichen, deutschsprachigen und im südlichen, italienischsprachigen Tirol erneut. Binnen weniger Monate entstanden zwei voneinander unabhängige, in ihrer Zielsetzung und Methode aber frappant ähnliche Projekte zur Gründung einer katholischen Zeitschrift und damit zur Stabilisierung der noch fragilen, situativen und von der Zensur permanent bedrohten außerkirchlichen religiösen Kommunikationsstrukturen, mithin zur Umschaltung von der passiven zu einer aktiven religiösen Öffentlichkeit. Die Bedingungen und die Aktualität der religiösen Kommunikation klafften in Tirol um 1840 weit auseinander. Im deutschen wie im italienischen Sprachraum etablierte sich Religion endgültig zu einem zentralen Faktor der emergierenden modernen Öffentlichkeiten. Die europaweite öffentliche Auseinandersetzung um den Kölner Mischehenstreit, in dem stellvertretend die Debatte um das Verhältnis zwischen Staat und Kirche eskalierte,709 die Politisierung bzw. Nationalisierung des neoguelfischen Katholizismus oder die frühen Kulturkämpfe in der Schweiz waren nicht nur eng mit der Etablierung religiöser Kommunikationsgemeinschaften verbunden, sondern verliehen diesen eine permanent erhöhte Aufmerksamkeit. Wie in den vorangehenden Kapiteln ausgeführt, stand Tirol selbst vielfach im Fokus dieser religiös sensibilisierten europäischen Öffentlichkeiten – die Möglichkeiten der religiösen Kommunikation, die Variation und Reichweite der Medien blieben hier um 1840 jedoch unverändert eingeschränkt. Die Palette der zur Verfügung stehenden religiösen Medien war äußerst bescheiden: Neben der publizistischen Emigration und den vormärzliche Ersatzmedien, standen die klassische Face-to-Face-Kommunikation unter Anwesenden, etwa in Form von Predigen, populäre Erbauungsschriften oder theologische Abhandlungen zur Verfügung – die aber allesamt 709 Der Kölner Erzbischof Clemens August Droste zu Vischering lehnte die Ehegesetzgebung des Preußischen Landrechts, die vorsah, dass Kinder gemischtkonfessioneller Ehen nach der Konfession des Vaters zu erziehen sind, brüsk ab und wurde dafür inhaftiert: Anm. 242.
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Mediale Aufbrüche
Aktualität und Periodizität, zwei konstituierende Elemente moderner Mediensysteme, nicht gewährleisten konnten.710 Selbst der Hirtenbrief, ein pastorales Medium, das durch die Publikation in gedruckten Medien bzw. der mündlichen Verlautbarung in der Kirche eine breit gefächerte, zeitgleiche Verbreitung ermöglichte, wurde im Vormärz durch das kaiserliche Plazet gleichsam verstaatlicht und versank, nach einem Aufschwung im 18. Jahrhundert, in die Bedeutungslosigkeit. Johann Nepomuk von Tschiderer wie auch Bernhard Galura, die »vormärzlichen« Bischöfe Trients und Brixens, griffen lediglich zur Ankündigung der Fastenzeit auf dieses Medium der religiösen Kommunikation zurück. Wie im restlichen Europa, trat auch in Tirol ein wirklicher Bedeutungswandel des Hirtenbriefes erst nach 1850 ein, als die Bischöfe gleich mehrfach im Jahr Hirtenbriefe veröffentlichten und diese selbst zum Gegenstand politischer bzw. religiöser Reflexion wurden.711 Ein weiteres Element prägte die beiden Medienprojekte: Während im deutschen Sprachraum die konfessionelle, insbesondere die katholische Publizistik regelrecht boomte – in der einschlägigen Literatur ist von einer »Hochflut der Kirchenblattbewegung« die Rede – stellte die »Neue theologische Zeitschrift« in Wien als einzige deutschsprachige katholische Zeitschrift Österreichs ihr Erscheinen 1840 ein. Die zu Jahrhundertbeginn noch relativ ausdifferenzierte religiöse Medienlandschaft der Habsburgermonarchie stand somit ohne eine einzige deutschsprachige katholische Zeitschrift da – die Rolle als »katholische Großmacht« lässt sich aus diesem Blickwinkel für den Vormärz in Anlehnung an Gottfried Mayer tatsächlich nur als »Traum« bezeichnen. Diese mediale Lücke tritt umso deutlicher hervor, wenn man die publizistischen Hochburgen im deutschsprachigen Raum als Vergleichsfolie heranzieht: So erschienen allein in Mainz zwischen 1800 und 1847 acht katholische Zeitschriften.712 Immerhin wurde in den Territorien der Monarchie eine der wichtigsten Zeitschriften der italienischen katholischen Publizistik veröffentlicht. Der in Mailand ab 1841 erscheinende »L’Amico Cattolico« stieg bald zu einer zentralen Referenz für den norditalienischen Katholizismus auf und übte großen Einfluss auf die Katholiken im südlichen, italienischsprachigen Tirol aus.713 Die beiden 1839 und 1841 lancierten Zeitschriftenprojekte entstanden somit vor dem Hintergrund der fehlenden überregionalen medialen Anbindung, ihre 710 Thérenty, Debuts; Wendelin, Medialisierung, S. 45f.; Frevert, Politische Kommunikation, S. 17; Paul, Styles; Schneider, Barrikaden, S. 93. 711 Menozzi, Introduzione; Leitgöb, Antrittshirtenbriefe, S. 36–53; Vicentini, Santini, S. 213; Menozzi/Demo/Sarri, Lettere pastorali, S. 475–536. 712 Schneider, Barrikaden, S. 44–51; Pesch, Presse, S. 165–180, Zitat S. 173; Hosp, Kirche, S. 271–288; Ernegger, Zeitschriften. 713 Majo, Stampa cattolica, S. 13–24; Verucci, Cattolicesimo intransigente; Zieger, Stampa, S. 15f.; Benvenuti, La chiesa, S. 30–32; Huber, Intransigentismo, S. 72–74.
Scheitern an den Grenzen des Staatskirchentums
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Gleichzeitigkeit war Ausdruck des Bedürfnisses nach einer überpersonalen Kommunikationsplattform in der Region, mithin nach einer Vergesellschaftung als Kommunikationsgemeinschaft. Als solche ermöglichen sie tiefe Einblicke in das kommunikative, politische und staatsrechtliche Koordinatensystem, in dem sich die Katholizismen Tirols um 1840 bewegten.
5.1. Scheitern an den Grenzen des Staatskirchentums: Der »Raccoglitore Religioso« Am 25. November 1839 wandten sich zehn jüngere Kleriker aus dem italienischen Tirol, unter denen sich der spätere Fürstbischof, Benedetto de Riccabona, und der Regens des Trienter Seminars, Filippo Brunati, befanden, mit der dringenden Bitte an Fürstbischof Tschiderer, die Herausgabe eines »giornale settimanale ecclesiastico«714 zu genehmigen.715 Dem Schreiben legten die Kleriker eine detaillierte Beschreibung ihres Projektes bei: Demnach zielte die geplante Zeitschrift vornehmlich auf die religiöse Erbauung des Klerus und der Gläubigen, vor allem aber auch auf die beständige Fortbildung der Geistlichen ab, die sich möglichst zahlreich mit eigenen Artikeln am Projekt beteiligen sollten. Das vorgesehene Format war ein Druckbogen in Oktav, eine wöchentliche Erscheinungsfrequenz wurde angestrebt. Die Zeitschrift wurde als Kompilation von Artikeln aus 18 europäischen katholischen Medien projektiert, die durch Originalartikel über das südliche Tirol ergänzt werden sollten – wiewohl die Proponenten in dieser Hinsicht wenig zuversichtlich waren, weswegen der geplante Titel der Zeitschrift, »Raccoglitore Religioso« (»Religiöser Sammler«), durchaus passend gewählt wurde. Erstaunlich ist der geplante hohe Organisationsgrad der Zeitschrift, die von einer »Societ/ del Giornale« finanziert und von einem »Direttore« und einem »Segretario« geführt werden sollte. Mehrere »compositori«, gewissermaßen geistliche Redakteure, sowie Zensoren sollten die Unternehmung unterstützend begleiten. Den Zweck des Projektes sahen die Proponenten schließlich weniger in der polemischen Verteidigung der Kirche, als in der Erbauung, Bildung und Vergemeinschaftung der Katholiken, Laien wie Geistliche. Besonders die letztgenannte, soziale Dimension wurde akzentuiert: Die interessierten Trentiner Katholiken sollten der Direktion der Zeitschrift mitteilen, welche Artikel aus welchen Zeitschriften übernommen werden sollten 714 »wöchentliche Kirchenzeitung«. 715 ADT, Libro B, 390, Zl. 4023, Giovanni Angeli (geboren 1803) an Johann Nepomuk Tschiderer, 25. 11. 1839. Die weiteren Unterzeichner waren Simone Tevini (1792), Matteo Gottardi (1807), Nicolk Toneatti (1811), Gaetano Boscarolli (1809), Antonio Valentini (1795), Gianbattista Zanella (1780).
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– das Blatt war als interaktive Kommunikationsplattform gedacht, die ihre potentiellen Rezipienten stark einbinden wollte, ja deren Lesegewohnheiten widerzuspiegeln suchte. Vage formuliert blieb indes der angestrebte Rezeptionsradius der Zeitschrift: An einer Stelle sprachen die Geistlichen von der »diocesi«, an einer anderen von »Trento e fuori« – womit wohl zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass man vor allem den italienischen Teil der Diözese Trient anzusprechen suchte.716 Das durchaus zeitgemäße, mit dem Grunddesign anderer, um 1840 entstandener Zeitschriften vergleichbare Konzept bewirkte im Trienter fürstbischöflichen Ordinariat indes nur ein laues Echo.717 Zwar lobte Tschiderer in seinem Antwortschreiben das Projekt und erteilte ihm seine prinzipielle Zustimmung, allerdings unter erheblichen Auflagen, die den staatskirchlichen, nachgerade ängstlichen Rücksichten des Bischofs zuzuschreiben sind und das Projekt letztlich zum Scheitern brachten. Tschiderer mahnte zu Vorsicht und Geduld: Die Veröffentlichung einer Zeitschrift benötige eine lange, gewissenhafte Vorarbeit – über die er minutiös informiert werden wollte.718 In einem Anfang 1840 erfolgten Schreiben an die Projektgruppe forderte das Ordinariat dann eine mehrmonatige Probephase der Zeitschrift ein: »Dovrebbero per un pajo di mesi fornire ogni settimana un giornale allo stesso modo come se dovesse esser stampato, e comparire sotto gli occhi del pubblico.«719 Das fürstbischöfliche Ordinariat befürchtete den Verlust der öffentlichen Deutungshoheit über die Religion, aber auch ganz allgemein, dass diese durch eine religiöse Zeitschrift sichtbarer und damit selbst zum Gegenstand kritischer Beobachtungen werden könnte.720 Diese Form der geistlichen Vorzensur dürfte das Projekt zu Fall gebracht haben: Im Diözesanarchiv in Trient findet sich nicht eine einzige Probenummer und selbst an die staatlichen Behörden in Innsbruck dürfte kein Antrag auf die Zulassung der Zeitschrift ergangen sein. Wie diese kurze, aber letztlich emblematische Episode zeigt, war religiöse Kommunikation unter den Bedingungen des vormärzlichen Staatskirchentums nicht nur mit staatlichen, sondern vor allem auch mit innerkirchlichen Hürden konfrontiert. Ohne die Zustimmung der diözesanen Hierarchie hatte ein Zeitschriftenprojekt wie jenes des Trienter Klerus wenig Aussicht auf Erfolg. Die bischöfliche Unterstützung war vielmehr 716 Ebenda, Il Piano d’un giornale ecclesiastico. 717 Cajani, Paolo Ballerini, S. 10–13; Ferrari, L’origine, S. 65–77. 718 ADT, libro B, 390, Zl. 4023, f.b. Ordinariat Trient an Filippo Brunati, 28. 11. 1839; Grisar, Tschiderer, S. 195–224. 719 »Sie sollten ein paar Monate lang wöchentlich eine Ausgabe der Zeitung so zur Verfügung stellen, als würde sie gedruckt werden und vor den Augen des Publikums erscheinen.« ADT, libro B, 390, Zl. 4023, f.b. Ordinariat Trient an Simone Tevini, 24. 03. 1840. 720 Schmolke, Religionskommunikation, S. 207f.
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eine Voraussetzung für die Gründung einer Zeitschrift, wie etwa das Mailänder Beispiel nahelegt. Hier scheiterte 1831 eine religiöse Zeitschrift am Widerstand des Erzbischofs Karl von Gaisruck, zehn Jahre später dagegen stellte er ein weiteres Gründungsprojekt unter seine persönliche Schirmherrschaft – wenige Monate später konnte »L’Amico Cattolico« zum ersten Mal erscheinen.721 Mit dem Scheitern des Projektes war im Trentino eine wichtige Vorentscheidung gefallen: Die Etablierung einer regionalen katholischen Kommunikationsgemeinschaft, aber auch die Anbindung an überregionale katholische Diskurse blieb für einen Großteil des Trentiner Klerus aus – die religiöse Kommunikation damit weiterhin interpersonal beschränkt, situativ und dezentral organisiert.
5.2. Jenseits der Grenzen des Staatskirchentums: Die »Katholischen Blätter aus Tirol« Wenig später war eine Gruppe deutschsprachiger Kleriker wesentlich erfolgreicher : Mit der Gründung der »Katholischen Blätter aus Tirol« gelang ein entscheidender Coup, der nicht nur die kommunikativen Bedingungen des vormärzlichen Staatskirchensystems aufbrach, sondern als wirkmächtiger Faktor der Medialisierung den deutschsprachigen Katholizismus Tirols nachhaltig veränderte. Die bislang von der einschlägigen landes-, regional- und kirchengeschichtlichen Forschung kaum beachtete und bestenfalls als ultramontane Quelle im Rahmen der Ereignisse von 1848 wahrgenommene Zeitschrift löste nach 1843 eine kleine Kommunikationsrevolution aus, die in Tirol zu einer kommunikativen Verdichtung führte und nach außen gerichtet die Anbindung an größere Kommunikationsgemeinschaften ermöglichte.722 Der deutschsprachige Katholizismus in Tirol nahm somit nach 1843 eine Entwicklung, die von jener des italienischsprachigen Pendants innerhalb des Kronlandes klar abwich. Die Entstehung der Zeitschrift weist starke Parallelen zum gescheiterten Trienter Projekt auf, obwohl, soweit die archivalische Überlieferung diesen Schluss zulässt, kein Kontakt zwischen den beiden Gruppen bestanden haben dürfte. Auch in Innsbruck bildete sich 1841 ein Netzwerk jüngerer, um oder nach 1800 geborener Geistlicher, die, vom Bedürfnis eines überpersonalen Kommunikationsmediums in Zeiten der zunehmenden Medialisierung angetrieben, ein 721 Ferrari, L’origine, S. 87f.; Schneider, Barrikaden, S. 89–92. 722 Heiss/Götz, Revolution; Priesching, Mörl, S. 59–61, die die erstmalige Erscheinung mit 1842 datiert; dasselbe Ersterscheinungsjahr gibt auch Nagl, Auseinandersetzung, S. 306f., an. Unpräzise auch Reinalter, Ennemoser, insbesondere S. 291f.
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Projekt zur Gründung einer Zeitschrift ausarbeiteten. Darunter befanden sich journalistisch und publizistisch bereits erprobte Geistliche wie der weithin bekannte Autor Beda Weber oder Johann Rappold, der sich mit einschlägigen Beiträgen am Zillertaler Medienereignis beteiligt hatte. Gemein waren den meisten Mitgliedern dieses Netzwerkes die theologische Ausbildung am Brixener Priesterseminar sowie die persönliche Förderung durch Fürstbischof Galura.723 Im Gegensatz zum früh gescheiterten Trienter Projekt sicherte sich die Gruppe von Beginn an eine solide Basis: Als man den Plan zur Gründung einer Zeitschrift Anfang Juli 1841 erstmals dem Brixener Ordinariat unterbreitete, nannte man nicht nur bereits einen verantwortlichen Redakteur, sondern mit der Wagner’schen Buchhandlung in Innsbruck auch einen Drucker und Verleger, der das Projekt unterstützte.724 Während die Trienter Gruppe als lose Verbindung jüngerer Geistlicher wirkte, agierte die Deutschtiroler Gruppe von einer institutionalisierten Basis aus: Als Schaltstelle, die die Verhandlungen mit dem Ordinariat, den staatlichen Stellen und dem Verlagshaus koordinierte, fungierte das Dekanalamt Innsbruck, der eigentliche Kopf der Unternehmung war dessen Dekan Johann Duille. Der offizielle Leiter der Redaktion, Universitätsprofessor Dr. Ingenuin Weber, figurierte dagegen, was auch Zeitgenossen nicht entging, lediglich als ein den staatlichen Stellen genehmer, vorgeschobener Platzhalter ohne merklichen Einfluss auf die Zeitschrift.725 Erst im Dezember 1846 trat er von diesem Amt zurück und übergab dem eigentlichen Redakteur, dem Innsbrucker Kooperator Bartholomäus Kometer, offiziell die Leitung der Zeitschrift.726 Der größte und 723 Diesem Netzwerk gehörten neben Weber (geboren 1798) und Rappold (1787) der Orientalist Alois Flir (1805), der Theologieprofessor Michael Haidegger (1808), der Kirchenhistoriker Georg Tinkhauser (1811), die Dekane Johann Hell (1799), Joseph Seyr (1789) und Johann Duille (1793), Albert Jäger (1801), einer der Begründer der österreichischen Geschichtswissenschaft, ferner Bartholomäus Kometer (1812), die späteren Bischöfe Vinzenz Gasser (1809), Joseph Fessler (1813) und Joseph Rudigier (1811) an. TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale 1842, Zl. 2656/1841, Theologische Zeitschrift vom Pr. Weber zur Herausgabe beantragt, 20. 08. 1841; Wolf, Zeitungen, S. 70; Gelmi, Priesterseminar, S. 178– 189; Mayer, Grossmacht, S. 10–12, S. 27–34; Meindl, Rudigier, S. 72–85; Pesch, Presse, S. 14. 724 DAB, KA 1841, Fs. 32, Nr. 12, Zl. 1604, Johann Duille an f.b. Ordinariat Brixen, 03. 07. 1841. 725 Die polizeilich-politischen Erhebungen über Ingenuin Weber betonten freilich, dass es sich um einen der »Kirche und dem Staate treu ergebenen Manne« handle: TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale 1841, Zl. 2844, Gutachten des Polizeidirektors Hahn, 10. 09. 1841; Forcher, Staatspolizei, S. 95–97; TLMF, F. B. 856, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 1 1841–1843, S. 266: »Zwar trägt Prof. Weber den Namen eines Redacteurs, in der That ist es aber der Dechant Duille, der wieder von dem ihn umgebenen jungen Priestern bearbeitet wird, von denen jeder seine Lieblingsneigung hat und etwas davon gedruckt lesen möchte«; Zobl, Duille. 726 Kath. Bl. 4 (1846), S. 1169; Gschließer, Kometer. Leider ist der Verbleib des Redaktionsarchivs, das die historische Kontextualisierung und die innere Organisationsbildung der
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letztlich ausschlaggebende Unterschied zwischen den beiden Gründungsvorhaben lag schließlich in der entschiedenen Unterstützung des Brixener Fürstbischofs, der von Beginn an zusicherte, »dieses lobenswürdige Unternehmen nach Thunlichkeit zu fördern.«727 Bernhard Galura, der den jüngeren Klerus energisch förderte und dessen Ausbildungsweg genau verfolgte, bewarb das Projekt nicht nur gegenüber den staatlichen Stellen, sondern rief seinen Klerus und insbesondere die Professoren des Brixener Priesterseminars mehrfach zur Mitarbeit an der neuen Zeitschrift auf.728 Trotz dieser durchwegs günstigen Voraussetzungen – selbst der Innsbrucker Gouverneur äußerte Wohlgefallen am Projekt – bremste der komplexe und mühsame Instanzenweg der vormärzlichen Bürokratie die anfängliche Verve der jungen Geistlichen drastisch ein.729 Nach dem ersten Antrag an das Brixener Ordinariat entspann sich ein dichter Briefverkehr zwischen dem Innsbrucker Gubernium, dem Brixener Ordinariat, dem Innsbrucker Dekanalamt und der Wagner’schen Buchhandlung; die Innsbrucker Polizei war indessen mit Erhebungen über die politische und moralische Haltung des designierten Redakteurs Dr. Ingenuin Weber beschäftigt, sodass schließlich erst Ende September der Direktor der Wiener Polizeihofstelle über das Vorhaben, in Tirol eine katholische Zeitschrift zu gründen, informiert werden konnte. Dieser wiederum teilte die amtlichen Auflagen für die Herausgabe der Zeitschrift – eine Probenummer und einen verlässlichen Zensor – erst zwei Monate später mit; bis diese wiederum über mehrere Stellen der Projektgruppe mitgeteilt und erfüllt waren, vergingen weitere vier Monate. Erst Ende Juli 1842, über ein Jahr nach dem ersten Antrag, ging in Brixen die Genehmigung der Polizeihofstelle ein. Nach einigen konzeptionellen und organisatorischen Nachjustierungen konnten die »Katholischen Blätter aus Tirol« am 2. Januar 1843 schließlich erstmals in Innsbruck erscheinen.730
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»Blätter« ermöglichen könnte, ungeklärt. Zu dieser typischen Quellenlage der (Print-)Mediengeschichte Bösch, Mediengeschichte, S. 24. DAB, KA 1841, Fs. 32, Nr. 12, Zl. 1604, f.b. Ordinariat Brixen an f.b. Dekanalamt Innsbruck, 05. 07. 1841. DAB, KA 1841, Fs. 32, Nr. 12, Zl. 2259, f.b. Ordinariat Brixen an k.k Landespräsidium, 30. 08. 1841; ebenda, KA 1842, Fs. 32, Nr. 16, Zl. 210, f.b. Ordinariat Brixen an f.b. Seminarvorstehung, 21. 01. 1842; ebenda, Zl. 248, f.b. Ordinariat Brixen an k.k. Landespräsidium, 21. 01. 1842; ebenda, Zl. 863, f.b. Ordinariat Brixen an f.b. Vizedirektorat d. theologischen Studien, 30. 03. 1842; ebenda, Zl. 3344, Ankündigung d. Kth. Bl. an die Geistlichkeit, 02. 12. 1842; Gelmi, Priesterseminar, S. 177; Mayer, Grossmacht, S. 31–34; Tinkhauser, Galura, S. 23– 25; Meindl, Rudigier I, S. 131–136; DASP, I/03–01, NL Fessler 03, Bernhard Galura an Joseph Fessler, 18. 07. 1840; Pesch, Presse, S. 14, S. 96f.; Schneider, Barrikaden, S. 92–94. TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale 1841, Fasz. 3698, Zl. 2834, k.k. Landespräsidium Innsbruck an Polizeihofstelle-Präsidenten Grafen von Sedlnitzky, 17. 09. 1841. TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale 1841, Fasz. 3698, Zl. 2656, 2834, 2844; ebenda, Präsidiale 1842, Fasz. 317, Zl. 1176, 2171; DAB, KA 1841, Fs. 32, Nr. 12; ebenda, KA 1842, Fs. 32, Nr. 16; ebenda, KA 1843, Fs. 32, Nr. 3.
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Die diversen programmatischen Entwürfe der Zeitschrift, die im Zuge dieser eineinhalbjährigen Gründungsphase entstanden waren und in die Einleitung des ersten Heftes mündeten, zeigen deutlich die Intentionen des Gründernetzwerkes. Zunächst – und dies war für die vormärzlichen Kirchenblätter typisch – ließe sich die Grundabsicht der »Katholischen Blätter« mit der Formel »Belehrung und Erbauung« umschreiben. Durch die »geschichtliche« Darstellung kirchlicher Ereignisse der Vergangenheit und der Gegenwart, theologische Abhandlungen, Missionsnachrichten und kirchlich-topographische Skizzen sollte »dem katholischen Klerus und jedem gebildeten Katholiken die Gelegenheit [gegeben werden], sich nicht bloß wichtige und genaue Kenntnisse von den wichtigsten Ereignissen zu verschaffen, sondern auch anschaulich [gemacht werden], wie das Reich Gottes bei den verschiedenartigsten Schicksalen desselben doch immer siegreich fortbestehe, um sie so im Glauben zu stärken und bei ihrer Verehrung gegen die Kirche und der Liebe zum kirchlichen Leben zu fördern«.731
Mit Nachdruck betonten diese programmatische Entwürfe eine »historische Tendenz« in der Darstellung, die Politik und Polemik ausschließe – diese entschieden apolitische Grundausrichtung war den chronisch misstrauischen staatlichen Behörden geschuldet und trug nicht unwesentlich zur Genehmigung des Projektes bei.732 Wie jedoch Rudolf Pesch hervorhob und in der kircheninternen Korrespondenz auch unumwunden geäußert wurde, stand hinter diesen für die vormärzliche Kirchenblattbewegung klassischen Formulierungen keineswegs eine rein innerkirchliche Abkehr von der Welt, sondern vielmehr ein eminent politisches Programm: Die »Weckung und Beförderung des christlichen Lebens« im öffentlichen Raum führte dazu, dass religiösen Semantiken eine neuartige politische Bedeutung zugeschrieben wurde.733 Dies war dem Leiter der Polizeihofstelle Josef Graf Sedlnitzky durchaus bewusst, wenn er die Redaktion der »Blätter« eindringlich davor warnte, durch die »Parallelisierung« der Gegenwart mit der Vergangenheit implizit politische Fragen anzusprechen.734
731 DAB, KA 1841, Fs. 32, Nr. 12, Zl. 1604, Ingenuin Weber, Äußerste Umrisse [1841]; ebenda, KA 1842, Fs. 32, Nr. 16, Zl. 2046, Programm der Kath. Blätter aus Tirol [1841], hier das Zitat; ebenda, Johann Duille an f.b. Ordinariat Brixen, 06. 08. 1842; ebenda, Zl. 2812, Johann Duille an f.b. Ordinariat, 13. 10. 1842; ebenda, KA 1843, Fs. 32, Nr. 3, Zl. 233, Vinzenz Gasser, Bemerkungen über die kath. Bl., 12. 08. 1842; ebenda, Joseph Rudigier, Gutachten über die kath. Bl., 26. 08. 1842; ebenda, Joseph Fessler, Gutachten über die kath. Bl., 02. 09. 1842; Ingenuin Weber, Einleitung, in: Kath. Bl. 1 (1843), S. III–VIII. 732 DAB, KA 1842, Fs. 32, Nr. 16, Zl. 1964, k.k. Landespräsidium an f.b. Ordinariat, 26. 07. 1842. 733 Pesch, Presse, S. 3f.; Schneider, Barrikaden, S. 60, S. 63–67; DAB, KA 1842, Fs. 32, Nr. 16, Zl. 2812, Johann Duille an f.b. Ordinariat Brixen, 13. 10. 1842; das Zitat ebenda, Zl. 2046, Programm d. Kath. Blätter aus Tirol [1842]; Schlögl, Alter Glaube, S. 157–167. 734 TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale 1841, Fasz. 3698, Zl., 2834, k.k. Polizeihofstelle-Prä-
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Als »einen immer lauter werdenden Wunsche des tirolischen Klerus« bezeichneten die programmatischen Abhandlungen die der geplanten Zeitschrift beigemessene Funktion eines »Organs des Klerus«. Die Zeitschrift sollte als Kommunikationsplattform eine überpersonale Bewusstseinsbildung ermöglichen, der Klerus zeitgleich informiert und gebildet werden, die Katholiken Tirols religiöse Erbauung finden, kurzum, sie sollte »mit den Theilnehmenden in fortwährender lebendiger Wechselbeziehung« stehen.735 Besonders den in Tirol häufig in abgelegenen Pfarren isolierten Klerus wollte die Zeitschrift einbeziehen: Das neue Medium sollte ihm die Möglichkeit eines steten Austausches, aber auch Lektüreanleitungen und pastorale Hilfestellungen bieten.736 Der tiefgreifende Bruch mit den bisherigen katholischen Kommunikationsstrukturen, der mit diesen Aussagen und Absichten verbunden war, lässt sich kaum überschätzen: Nicht mehr die kirchliche Hierarchie oder staatskirchliche Direktiven sollten dem Klerus als religiöse und lebensweltliche Instanzen gelten, sondern öffentlich verhandelte Semantiken. Katholische Laien fanden ihrerseits religiöse Erbauung nicht mehr ausschließlich in den kirchlich normierten religiösen Praktiken oder im privaten Gebet, sondern auch über die regelmäßige Lektüre einer Zeitschrift. In den Worten Rudolf Schlögls »entstand auf diese Weise eine neue Sphäre öffentlicher Gottesverehrung jenseits des Kirchenbesuchs, die sich als eine von Massenmedien getragene soziale Wirklichkeit der Religion entfaltete«.737 Religion wurde damit öffentlich. Diese Grundausrichtung der »Blätter« hätte bei den staatlichen Stellen durchaus Skepsis hervorrufen können, zumal selbst Sedlnitzky eine derartige Entwicklung, wie er sie von »auswärtigen theologischen Blätter[n]« kannte, die »nicht die rechte Mitte hielten«, durchaus befürchtete.738 Die zwar langwierige, aber letztlich doch problemlose Genehmigung der Zeitschrift erklärt sich deshalb auch aus der erstaunlichen argumentativen und politischen Gewandtheit
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sident Graf von Sedlnitzky an k.k. Landesgubernium Innsbruck, 24. 12. 1841; Chvojka, Sedlnitzky. DAB, KA 1842, Fs. 3, Nr. 16, Zl. 2046, Programm d. Kath. Blätter aus Tirol [1842]; Weber, Einleitung; Beda Weber, Bemerkungen über Michael Feichter, in: Kath. Bl. 1 (1843), S. 1–8, 17–21, 65–70, 81–86, S. 83: »freuen uns, daß in den katholischen Blättern aus Tirol uns eine Gelegenheit gegeben ist zur wechselseitigen Verständigung und Bildung.« DAB, KA 1842, Fs. 3, Nr. 16, Zl. 2046, Programm d. Kath. Blätter aus Tirol [1842]; Schneider, Barrikaden, S. 63; Grisar, Tschiderer, S. 177f. Die Abgeschiedenheit des Tiroler Klerus in den Gebirgspfarreien betonten selbst liberale Beobachter : »erwartet ihn eine ärmliche Curatie in einem abgelegenen Dörfchen, oft stundenweit vom nächsten Amtsbruder, von allem Umgang mit gebildeten Menschen entfernt. Seine Pflichten sind äußerst beschwerlich, und zur Winterzeit oft nicht ohne Lebensgefahr zu erfüllen. Arm und einsam verbringt der Curat die schönste Zeit seines Lebens mitten unter Bauern, die ebenso kümmerlich dahinleben wie er.« [Streiter], Tirol, S. 72. Schlögl, Alter Glaube, S. 291–300, Zitat S. 451. TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale 1841, Fasz. 3698, Zl., 2834, k.k. Polizeihofstelle-Präsident Graf von Sedlnitzky an k.k. Landesgubernium Innsbruck, 24. 12. 1841.
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des Promotorennetzwerkes im Umgang mit den staatlichen Stellen. Als Sedlnitzky die Ernennung eines permanenten Zensors für die Zeitschrift einforderte, schlug Duille dem Brixener Ordinariat kurzerhand den pensionierten Religionslehrer am Innsbrucker Gymnasium, David Moritz, vor, der als Staatsangestellter politische Zuverlässigkeit garantierte und als theologisch gebildeter Intellektueller die besten Voraussetzungen für das Zensurfach mitbrachte. Auf die nachdrückliche Empfehlung von Fürstbischof Galura hin akzeptierten die staatlichen Stellen diese Nominierung ohne Einwand, zumal Moritz diesen, insbesondere Gouverneur Brandis, in der heiklen Frage seiner frühzeitigen Pensionierung, die durch die Berufung der Jesuiten an das Innsbrucker Gymnasium erforderlich wurde, sehr entgegen gekommen war.739 Dass Moritz dem Gründungsnetzwerk sehr nahestand, ja als Mentor einiger der involvierten jungen Priester galt, blieb freilich unerwähnt, ebenso, dass er dem frühen Ultramontanismus zuneigte und die rationalistische, hermesianische Theologie energisch ablehnte.740 Als wohlgesinnter Zensor wirkte Moritz äußerst permissiv, womit die »Blätter« den Einschränkungen der vormärzlichen Zensur zwar nicht vollkommen entzogen waren, diese aber kaum verspürten, wie der Redakteur der Zeitschrift, Bartholomäus Kometer, 1848 rückblickend feststellte: »Jene Freimüthigkeit, welche beim Bestande der ängstlichen Zensurvorschriften erzielbar war, haben die kathol. Blätter aus Tirol muthig angestrebt, und ich weiß es nur zu gut, daß ich diesfalls gar Vieles dem loyalen Zensor zu verdanken hatte.«741
Wie unbekümmert die »Katholischen Blätter« die Zensur umgingen, weckte sogar bei liberalen Kommentatoren Staunen und heimliche Anerkennung: Der Innsbrucker Johann Lang hielt in seinem Tagebuch verwundert fest, dass der Brixener Kirchenhistoriker Georg Tinkhauser 1844 in den »Blättern« über die Aufnahme der Benediktiner aus dem aufgehobenen Aargauer Kloster Muri in Gries bei Bozen berichtete und dem zukünftigen Propst dazu gratulierte, dass er auf der Prälatenbank am Tiroler Landtag vertreten sein werde.742 Die Veröffentlichung der Verhandlungsergebnisse zwischen der österreichischen Regie739 DAB, KA 1842, Fs. 32, Nr. 16, Zl. 248, Johann Duillle an f.b. Ordinariat Brixen, 21. 01. 1842; ebenda, f.b. Ordinariat Brixen an k.k. Landespräsidium, 21. 01. 1842; Kramp, Brandis, S. 90–95. 740 Zobl, Gasser, S. 15f.; Kramp, Brandis, S. 90, Anm. 461; Grass, Historiker-Biographien, S. 51. 741 Johann Th. M. Zetter, Das freie Wort und die katholische Kirche. Ein wohlgemeinter Wink in der ernsten Gegenwart, in: Kath. Bl. 7 (1848), S. 384–392, S. 412–417, S. 443–448, S. 477– 484, S. 412. 742 [Georg Tinkhauser], Die Katholikenverfolgung, und die Aufhebung der Klöster im Kanton Aargau, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 17–27, S. 37–51, S. 93–104, S. 117–126; Stadler, Kulturkampf, S. 79.
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rung und dem Aargauer Benediktinerkonvent war für vormärzliche Verhältnisse schlicht unerhört. Sie wurde von bedeutenden Zeitungen, etwa der Augsburger »Allgemeinen Zeitung«, umgehend übernommen – kompromittierte sie doch den Papst wie auch die österreichische Regierung, die beide offiziell gegen die Schweizer Klosteraufhebungen protestierten, diese stillschweigend aber – wie der Bericht Tinkhausers suggerierte – bereits akzeptiert hatten. Gouverneur Brandis und die Wiener Regierung waren, wie Lang süffisant festhielt, entsetzt über die Veröffentlichung eines »Staatsgeheimnisses« – letztlich blieb dieser Zwischenfall aber ohne Konsequenzen für die Zeitschrift.743 Eine weitere argumentative Strategie für die Zulassung der Zeitschrift war der Hinweis, dass die Herausgabe einer katholischen Zeitschrift auf österreichischem Boden die stark rezipierten ausländischen Blätter, wie die Proponenten sich ausdrückten, »entbehrlich« machen würde.744 Die österreichischen Behörden reagierten in der Tat irritiert und beunruhigt auf den Aufschwung der katholischen Presse im deutschen Sprachraum nach 1838/39 und forderten die Ordinariate auf, jene ausländischen Zeitschriften, die in ihrem Gebiet verbreitet waren, zu nennen und den Behörden zu übergeben.745 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Gruppe um Duille dieses behördliche Unbehagen über die Rezeption der ausländischen katholischen Presse bestens bekannt war – sie betonten diesen möglichen Vorzug ihres Projektes jedenfalls mit Nachdruck: »Die gehorsamst Unterzeichneten glauben, daß dieses Unternehmen selbst aus CensurRücksichten der hohen Genehmigung versichert sein dürfte, da diese Zeitschrift im Inlande unter Aufsicht der geistlichen und politischen Behörden erscheint, und daher wohl erwünschter sein kann, als die Verbreitung einer vielleicht eben so großen Anzahl ausländischer theologischer Blätter, welche, wenn gleich durch die k.k. Censur zugelassen gewiß nicht so im Geiste der bestehenden k.k. österreichischen Gesetze verfasst sein werden, wie die beantragte Zeitschrift gehalten sein soll.«746
Diese Argumentation überzeugte den Innsbrucker Gouverneur wie auch den Leiter der Polizeihofstelle vollkommen: Ähnlich wie die preußischen Behörden im Rheinland hielten auch die österreichischen Stellen die Zulassung einer katholischen Zeitschrift, die man immerhin beeinflussen und zensieren konnte, für ein geringeres Übel als die schwer zu unterbindende Verbreitung ausländischer Blätter, auf die man keinen Einfluss hatte.747 Anstatt jedoch als harmloses Sur743 TLMF, F.B. 857, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 2, 1844–1846, S. 583; TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidialprotokoll 146, Nr. 605; Winkler, Gründung. 744 TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale 1842, Zl. 2656/1841, Theologische Zeitschrift vom Pr. Weber zur Herausgabe beantragt, 20. 08. 1841. 745 ADT, Atti presidiali, 1840/8, k.k. Landespräsidium an f.b. Ordinariat Trient, 29. 04. 1840. 746 TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale 1842, Zl. 2656/1841, Theologische Zeitschrift vom Pr. Weber zur Herausgabe beantragt, 20. 08. 1841. 747 TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale 1841, Fasz. 3698, Zl., 2834, k.k. Polizeihofstelle-Prä-
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rogat für die ausländische Publizistik zu wirken, entwickelte sich die Zeitschrift geradezu zu deren Multiplikator : Durch die regelmäßige Wiedergabe von Texten aus den katholischen Medien Europas richteten die »Blätter« den Fokus ganz auf die kulturkämpferischen Konflikte der nahen Schweiz und vor allem der preußischen Rheinprovinz, die Habsburgermonarchie blieb dagegen unscharf im Hintergrund.748 Der Leitung der »Blätter« galt es als selbstverständlich, in einen Austausch mit den Redaktionen der katholischen Periodika Europas zu treten und deren Artikel zu rezipieren. Anstatt die Kulturkämpfe des Auslandes von Österreich fernzuhalten, verbreitete die Berichterstattung der »Blätter« diese vielmehr in komprimierter Form.749 Diese Nachrichtenselektion erklärt sich nicht nur durch die aufsehenerregenden kulturkämpferischen Konflikte in diesen Gebieten oder die absehbaren polizeilichen Probleme, die eine kritischere und eingehendere Beschäftigung mit der religiösen und politischen Lage Österreichs mit sich gebracht hätte. Vielmehr war diese Medienrealität eine Folge des politisch-religiösen Selbstverständnisses des geistlichen Netzwerkes, von dem die Zeitschrift getragen war. Dieses manifestierte sich auch an den engen Verbindungen zum personellen Umfeld der Münchener »Historisch-Politischen Blätter für das katholische Deutschland«, die bereits in der Gründungsphase des kleineren Tiroler Pendants als wirkmächtiger Referenz- und Orientierungspunkt dienten.750 Dieses konzeptionelle Gesamtbild erschwert die Einordnung der »Blätter« in die zeitgenössische, von historiographischen Studien weitgehend übernommene Typologie der katholischen Presse: Als wöchentlich erscheinende, 16 bis 32 Seiten starke Zeitschrift vereinten die »Katholischen Blätter aus Tirol« Elemente »wissenschaftlich-theologischer Blätter«, Aspekte von »Zeitschriften für die praktische Seelsorge«, von »wöchentlichen Kirchenblättern« und »Erbauungszeitschriften« in hybrider Form. Sie verband stark theologisch orientierte Inhalte mit Nachrichten »weltlicher« Aktualität, wandte sich vornehmlich, aber nicht ausschließlich an Geistliche, war mithin also weder eine streng wissenschaftlich-theologische Zeitschrift, noch ein ausschließlich weltorientiertes Kirchenblatt. Ihre Selbstbezeichnung lautete schlicht »echt katholisches
sident Graf von Sedlnitzky an k.k. Landesgubernium Innsbruck, 24. 12. 1841; Pesch, Presse, S. 25f. 748 [Georg Tinkhauser], Die Katholikenverfolgung, und die Aufhebung der Klöster im Kanton Aargau, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 17–27, S. 37–51, S. 93–104, S. 117–126; ders., Deutschland. Die katholischen Differenzgemeinden in Deutschland, oder die deutsch-(evangelisch, auch christ)katholischen Kirchen, in: ebenda 3 (1845), S. 298–304; Stadler, Kulturkampf, S. 65–82; Borutta, Antikatholizismus, S. 276–283. 749 DASP, I/03–01, NL Fessler 04, Bartholomäus Kometer an Joseph Fessler, 04. 06. 1847; DAB, KA 1842, Fs. 32, Nr. 16, Zl. 2812, Johann Duille an f.b. Ordinariat Brixen, 13. 10. 1842. 750 Ebenda; Zobl, Duille, S. 56; Gschließer, Einheitsbewegung, S. 4.
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Blatt«.751 Man ginge auch fehl, sie als »regionales Kirchenblatt« einordnen zu wollen, ein Typus, der nach 1840 häufig auftrat und seinen Tätigkeitsradius auf eine einzelne Diözese oder Region begrenzte. Obwohl sie dem diözesanen Klerus als »Organ« dienen wollte, verwies die Reichweite der Zeitschrift deutlich über die Grenzen des Kronlandes Tirol hinaus: Vielmehr sollte das »erweiterte Vaterland«, mithin das »katholische Deutschland« angesprochen werden. Die Redaktion war sich ihrer publizistischen Monopolstellung als einzige deutschsprachige katholische Zeitschrift der Habsburgermonarchie bewusst und erwartete sich schon deshalb eine größere Verbreitung.752 Diese war auch tatsächlich gleich von Beginn an durchaus respektabel: 1844 wurde die Zeitschrift nicht nur in den deutschsprachigen Erbländern der Monarchie, sondern vor allem auch in den restlichen, mitunter weit entlegenen deutschsprachigen katholischen Gebieten gelesen, wie etwa in Danzig oder in Elberfeld; 13 Exemplare wurden an »Redactionen der bekannten Zeitschriften« versandt.753 Obwohl eigentlich ein Spätstarter der vormärzlichen Kirchenblattbewegung, erlangte die Zeitschrift somit rasch erhebliche Bedeutung und Resonanz. Die »Frankfurter Katholische Kirchenzeitung« rechnete das Tiroler Kirchenblatt bereits 1844 zu den wichtigsten »deutschen Zeitblättern, welche dem Banner der Kirche treu anhängen und es vertheidigen«, 1846 gehörte sie bereits zur Standardausstattung katholischer Lesezirkel im Rheinland.754 Die hohe Aufmerksamkeit, die den »Blättern« zuteil wurde, erschließt sich auch aus ihrer Auflagenzahl: Diese dürfte in den ersten beiden Jahren bei 500 Exemplaren gelegen haben, stieg dann zwischen 1845 und 1850 auf 1.000 Stück an, um dann nach 1850 abrupt abzufallen. Damit gehörten die »Blätter« durchaus zum oberen Mittelfeld der Kirchenblattbewegung, zumal ein vormärzliches Kirchenblatt die 1.000-Stück-Marke nur selten übertraf. Die tatsächliche Zahl der Leserinnen und Leser lag dank Multiplikatoren, etwa den Lesezirkeln, freilich bedeutend höher.755 Bemerkenswert ist schließlich die Lebensdauer der »Blätter«: Sie hielten sich bis 1871, was für ein vormärzliches Kirchenblatt durchaus ungewöhnlich war. Die meisten Blätter mussten ihr Erscheinen nach wenigen Jahren, 751 Schneider, Barrikaden, S. 58–73; Ingenuin Weber, Einleitung, in: Kath. Bl. 1 (1843), S. III–VIII, das Zitat S. VII. 752 DAB, KA 1842, Fs. 32, Nr. 16, Zl. 2046, Programm d. Kath. Blätter aus Tirol; Ingenuin Weber, Einleitung, in: Kath. Bl. 1 (1843), S. III–VIII, S. VIII; Schneider, Barrikaden, S. 68. 753 DASP, I/03–01, NL Fessler, 03, Schriftstücke und Notizen aus dem Nachlass Galuras, »Katholische Blätter aus Tirol, Exemplare«. 754 Die Kirche und die kirchlichen Zeitungen, in: Frankfurter Katholische Kirchenzeitung 8 (1844), S. 1f., zitiert in: Pesch, Presse, S. 297–299; Programm des Religiösen Lesezirkels in Mainz 1846, in: Katholische Sonntagsblätter, Mainz 5 (1846), S. 413f., zitiert in: ebenda, S. 316–319. 755 Pesch, Presse, S. 218; Wolf, Zeitungen, S. 174; TLA, Statthaltereiarchiv, Präsidiale 1858, Nr. 146; Schneider, Barrikaden, S. 73–85; Clark, Catholicism, S. 24f.
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spätestens jedoch nach 1848, einstellen, als die Konkurrenz durch die katholische Tagespresse zu groß wurde.756 Diese mediale Konkurrenz verspürten auch die Tiroler »Blätter«, denen es jedoch nicht nur 1848, sondern auch nach 1861 gelang, sich den neuen medialen Gegebenheiten anzupassen und dadurch, freilich gefördert durch die Diözesanverwaltung, die eigene Existenz zu sichern.757 1843, das Jahr des erstmaligen Erscheinens der »Katholischen Blätter aus Tirol«, ließe sich nach 1837 als zweite tiefgreifende Zäsur für die Katholizismen Tirols bezeichnen. Die Zeitschrift führte zu einer Medialisierung der Religion: Bestimmte Formen der religiösen Kommunikation waren nun überhaupt erst möglich, was die gesellschaftliche Form von Religion insgesamt entscheidend veränderte.758 Das Medium Zeitschrift erlaubte neben neuen religiös und räumlich begründeten Selbstbeschreibungen auch die Anbindung an breitere Kommunikationsgemeinschaften und dadurch die Beobachtung eines weiteren Einzugsgebietes. Das italienischsprachige Tirol blieb von diesem vormärzlichen Schub der Medialisierung ausgeschlossen – zwar schickte die Innsbrucker Redaktion jährlich über zehn Exemplare nach Trient, doch waren diese in erster Linie für die deutschsprachigen Absolventen des Trienter Priesterseminars bestimmt, sodass die Rezeption der »Blätter« im italienischen Landesteil insgesamt gering geblieben sein dürfte.759 Korrespondenzen aus dem italienischsprachigen Teil des Kronlandes blieben äußerst rar, umgekehrt schenkten die »Blätter« dem italienischen Katholizismus Tirols selbst kaum Aufmerksamkeit, wie 1846 eine der wenigen Korrespondenzen aus Trient beklagte: »Erlauben Sie mir gütigst, daß ich hier noch einen Wunsch ausspreche, nämlich: Die italienischen Leistungen in der theologischen Literatur – namentlich hin und wieder in Südtirol – dürften in Ihren geschätzten Blättern doch ein und anderes Mal eine Würdigung verdienen. Manche diesfällige Pflanze gedeiht und wird zum fruchtbringenden Baume, und der deutsche Landsmann kennt dieselben oft kaum dem Namen nach.«760
Die Zeitschrift verstärkte somit bereits latent vorhandene Grenzen nachhaltig. Fallstudien zur Homogenisierung des Klerus, zum Transfer konfessioneller Konflikte und zur statistischen Konstruktion konfessioneller Wirklichkeiten vermessen im Folgenden die Dimensionen und die Konsequenzen dieser Me756 757 758 759
Schneider, Barrikaden, S. 46. Wolf, Zeitungen, S. 72–74, S. 168–174, S. 227–238; Breit, Pressewesen, S. 69–73. Luhmann, Religion; ders., Ausdifferenzierung; Schlögl, Historiker. DASP, I/03–01, NL Fessler, 03, Schriftstücke und Notizen aus dem Nachlass Galuras, »Katholische Blätter aus Tirol, Exemplare«. Äußerst rar waren darüber hinaus auch die Übernahme von Artikeln im offiziösen »Messaggiere Tirolese«, als eines der wenigen Beispiele siehe Gli ospedali del Tirolo nel Medio Evo, memoria del P. Alberto Jäger (Dal Giornale religioso d’Innsbruck), MT Nr. 22, 18. 03. 1843, S. 1–4, Nr. 23, 22. 03. 1843, S. 1–3. 760 Kirchliche Nachrichten – Tirol (Trient), in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 361f.
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dialisierung und mit ihnen die »dialektische Verschränkung« zwischen Religion und ihren Medien.761
5.2.1. Formen der Medialisierung I: Die Konstruktion des »idealen Priesters« Entgegen den Befürchtungen der Professoren des Brixener Priesterseminars, die neue Zeitschrift werde aufgrund von Zensurrücksichten und mangels veröffentlichungswürdiger Ereignisse kaum »vaterländische« Berichte enthalten, bildeten sich bereits in den ersten Nummern der Zeitschrift mehrere Textgattungen heraus, die den »Tiroler« Priester zum Gegenstand hatten.762 Es handelte sich hier um die mediale Konstruktion eines sazerdotalen Idealtypus, die sich dem katholischen Geistlichen in seiner weltlichen Position, seinem religiösen Kompetenzbereich und seiner gesellschaftlichen Wirkung widmete. Diesen Texten war eine appellative Funktion eigen, sie sprachen den Klerus direkt an, zuweilen wurde er explizit angehalten, den medialen Pastor bonus nachzuahmen. Pastoraltheologische Handlungsanleitungen und Definitionen des idealen, vorbildlichen Priestertypus waren indes keine Novitäten des 19. Jahrhunderts, wohl aber verdichtete sich nach der disziplinären Etablierung der Pastoraltheologie im 18. Jahrhundert deren Präsenz am Büchermarkt, auch literarisierte Priesterbilder traten ab 1800 häufiger auf.763 Das Medium der Zeitschrift goss diese Anleitungen in eine periodische, aktuelle und vor allem konzise Form: Die »Blätter« präsentierten die gängigen Anforderungskataloge für Priester auf wenige Seiten komprimiert, für aktuelle Ereignisse anschlussfähig und vor allem in einem genuin tirolischen Kontext. Die entscheidende Neuerung war jedoch, dass diese nun dem gesamten deutschsprachigen Klerus Tirols zugänglich waren und dass dieser selbst auf die Konstruktion einer integrativ-idealen Priesterfigur einwirken konnte. Zwischen 1843 und 1848 bildete sich in den »Blättern« ein eindrucksvoller und ausdifferenzierter Anforderungs- und Tugendkatalog für den Tiroler Priester aus. Der priesterliche »Genotypus« (K. Baumgartner), den die mindestens 40 dieser Kernfrage gewidmeten Texte produzierten, war zwar homogen, keineswegs aber statisch, sondern vielmehr markanten, von den historischen Kontingenzen der »Welt« und innerreligiösen Evolutionen bedingten Wandlungen unterworfen. Das Medium Zeitschrift war dank seiner Dynamik den 761 Bösch/Hölscher, Kirchen, S. 16; Wendelin, Medialisierung, S. 47; Hannig, Religion. 762 KA 1843, Fs. 32, Nr. 3, Zl. 233, Vinzenz Gasser, Bemerkungen über die kath. Bl., 12. 08. 1842; ebenda, Joseph Rudigier, Gutachten über die kath. Bl., 26. 08. 1842; ebenda, Joseph Fessler, Gutachten über die kath. Bl., 02. 09. 1842. 763 Hurth, Priesterbild, S. 18–36; Baumgartner, Bemühungen, S. 58–65; ders., Seelsorge, S. 165–179; Miccoli, Figura; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 339–342.
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behäbigen kirchlichen Strukturen überlegen und reagierte auf veränderte Rahmenbedingungen wesentlich schneller. Während beispielsweise das fürstbischöfliche Ordinariat erst am 21. April 1848 eine »politische« Instruktion an den Klerus erließ, veröffentlichten die »Blätter« bereits elf Tage vorher pastorale Anleitungen und politische Ratschläge für die turbulenten Tage der Revolution.764 Der 1839 vom Trienter Ordinariat befürchtete Verlust der religiösen bzw. kirchlichen Deutungs- und Kommunikationshoheit, den das neue Medium Zeitschrift zu bewirken schien, war 1848 tatsächlich längst schon eingetreten. Das zentrale belehrende Genre in den »Katholischen Blättern« waren Nachrufe bzw. Nekrologe.765 Gleich in den ersten Nummern der Zeitschrift präsentierten diese Texte nachahmungswürdige priesterliche Lebensläufe und Lebensvollzüge, die einem erstaunlich homogenen Narrativ folgten. Dem biographischen Abriss des verstorbenen, in der Regel der Diözese Brixen angehörenden Priesters, folgte die Präsentation bestimmter Verhaltensweisen und charakterlich-mentaler Grunddispositionen, die als verbindliche Kernelemente des medial inszenierten Idealklerikers gelten können: Die vorgestellten Kleriker führten ein selbstloses Leben, waren hoch gebildet, hilfsbereit und dienten der ihnen anvertrauten kirchlichen Gemeinde treu bis zum letzten Atemzug. Diese Kleriker fühlten sich nicht nur Gott, sondern vor allem dem Papst und der kirchlichen Hierarchie gegenüber verpflichtet: Ein Priester lebte demnach dem Axiom »Ohne Papstthum keine Kirche, ohne Kirche keine Offenbarung, ohne Offenbarung keine Religion« entsprechend, ein anderer in »kindlicher Ehrfurcht gegen seinen Bischof« – der mediale Entwurf des katholischen Priesters nahm den ultramontan disziplinierten Kleriker unübersehbar vorweg.766 Die Priester traten in diesen Texten zudem als übermenschliche Heldenfiguren auf, die ihre 764 Georg Tinkhauser, Die Aufgabe des Seelsorgers auf dem Lande in der jetzigen Zeitenwende, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 353–362; DAB, KA 1848, Fs. 64, B, Nr. 1, Kurrenda über das Verhalten des Klerus bei politischen Wahlen, 21. 04. 1848; Mayer, Grossmacht, S. 54–61; Rainer, Vormärz, S. 314–317. 765 Miccoli, Figura, S. 889; Goetz, Poetik, S. 21–26. Die Texte, auf die sich die folgende Analyse stützt, sind: Beda Weber, Bemerkungen über Michael Feichter, in: Kath. Bl. 1 (1843), S. 1–8, S. 17–21, S. 65–70, S. 81–86; Franz Geiger, Chorherr zu Luzern, in: ebenda, S. 353–360; Kirchliche Nachrichten, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 84; Nekrolog über Ignaz Franz Zimmermann. Fürstbischof von Lavant, in: ebenda, S. 126–136; Johann Joseph Stey, in: ebenda, S. 427–452; Kirchliche Nachrichten – Tirol, in: ebenda, S. 621; Anton Fleisch, in: ebenda, S. 1133–1144; Johann Joseph Baal, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 409–419, S. 433–439; Johann Stanislaus Althuber, in: ebenda, S. 697–707; Biographische Notizen über Franz Ransperg und Franz Pappus, Benediktiner von Mehrerau, in: ebenda, S. 777–779; Beda Weber, Der Priester Joh. Jak. Pöll, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 177–183; Johann Joseph Schapler, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 48–60; Padre Stefano Bellesini, in: ebenda, S. 297–306; Pater Albert Komplojer, in: ebenda, S. 545–552; Nachtrag zu Schapler’s Nekrolog, in: ebenda, S. 307f. 766 Franz Geiger, Chorherr zu Luzern, in: Kath. Bl. 1 (1843), S. 353–360, S. 359; Johann Joseph Baal, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 409–419, S. 433–439, S. 433.
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Gemeinde in Kriegszeiten mutig beschützten und sich für ihr Amt bedingungslos aufopferten. So arbeitete ein Priester ganze Wochen durch, »ohne daß er sich nur einmal zu Bette legte«.767 Einem anderen kostete diese selbstlose Amtsführung gar das Leben, was den Verfasser des Nekrologs dazu bewog, Parallelen zum Religionsstifter Jesus herzustellen: »Der gute Hirth (Jesus Christus) hat sein Leben für seine Schafe hingegeben […] Gleichet, o Hirten, diesem guten Hirten, der das Haupt der ganzen Herde ist!«768 Selbstlose Aufopferung, gewissenhafte Bildung, strenge Wissenschaftlichkeit, demutsvolle Entsagung, ja die »Vergessung seiner Selbst« und bedingungsloser Gehorsam gegenüber der kirchlichen Hierarchie: Der vormärzliche Modellkleriker war weit entfernt von Olaf Blaschkes klerikalen »Milieumanagern« der zweiten Jahrhunderthälfte, die mit einem Gestus der Superiorität alle gesellschaftlichen Bereiche der Katholiken dominierten.769 Vielmehr lesen sich diese Nekrologe als Aufforderungen zu einer demutsvollen, diskreten Amtsführung, die in ihrer gott- und papstgefälligen Selbstlosigkeit nachgerade an Heiligenviten erinnert – zuweilen unter expliziter Bezugnahme: Der Vorarlberger Priester Anton Fleisch etwa, so sein Nekrolog, »begehrte und empfing daher mit innigster Andacht die heil. Sterbesakramente, und bereitete sich wie ein Heiliger zu dem wichtigen Schritte in die Ewigkeit vor, und ertrug die Schmerzen mit der Geduld eines Heiligen.«770 Die verstorbenen Priester, ihr tadelloser Lebenswandel und ihre bis zum Märtyrertum aufopfernde Amtsführung sollten, dem Leben der Heiligen gleich, zur Nachahmung anregen. In der Tat schlossen die meisten Nekrologe mit eindringlichen Appellen an den Klerus, sich die Verstorbenen zum Vorbild zu nehmen: »Wir schließen unsern Bericht mit dem herzlichen Wunsche: Möge Gott seiner Kirche viele, viele Priester geben, die in dem Geiste und in der Liebe des seligen Stey wirken und wandeln.«771 Die Texte sollten in erster Linie nicht die Erinnerung an den Verstorbenen konservieren, sondern vielmehr den lesenden Klerus der Gegenwart formen und die im Priesterseminar begonnene Ausbildung gleichsam medial fortsetzen. Hierzu war auch dienlich, dass die vorbildlichen Priester nicht aus fernen Gegenden oder Zeiten stammten, wie dies in der belehrenden Literatur oft der Fall war, 767 Johann Joseph Stey, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 427–452, S. 444. 768 Johann Joseph Schapler, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 48–60, S. 59; siehe auch Pius Zingerle, Aus den Schriften des hl. Jakob von Nisidis. Aus dem Armenischen – aus der Unterweisung von den Hirten, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 130–133, das Zitat S. 132. 769 Blaschke, Kolonialisierung; das Zitat bei Johann Joseph Baal, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 409– 419, S. 433–439, S. 409. 770 Anton Fleisch, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 1133–1144, S. 1142; Miccoli, Figura, S. 889f. 771 Johann Joseph Stey, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 427–452, S. 452. Ähnlich auch Anton Fleisch, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 1133–1144, S. 1144; Johann Joseph Baal, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 409– 419, S. 433–439, S. 439; Nachtrag zu Schapler’s Nekrolog, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 307f., S. 308.
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sondern als Priester der Diözese oft denselben Ausbildungs- und Lebensweg wie die meisten ihrer Kleriker-Kollegen durchliefen und häufig in denselben beschwerlichen alpinen Umwelten wie diese wirkten. Kurzum: Die Identifikationskraft dieser Nekrologe war erheblich, zumal sie durchaus dem Selbst- und Amtsverständnis des Tiroler Klerus entsprachen – stammten die Texte doch durchwegs von Priestern der Diözese Brixen. Mitunter riefen die »Blätter« selbst ihr lesendes Publikum dazu auf, Nekrologe verstorbener Priester aus Tirol einzusenden.772 Neben den Nekrologen bildete sich eine zweite belehrend-appellative Textsorte heraus, die den allgemeinen klerikalen Tugendkanon mit praktischen pastoralen Hinweisen ergänzte und die direkte Einwirkung auf den Klerus suchte. Hinter Titeln wie »Freundesworte an Priesterthums-Kandidaten«, »Gib Rechenschaft von deiner Haushaltung«, »Bild des katholischen Seelsorgspriesters«, mitunter auch in Erfahrungs- und Tätigkeitsberichten älterer Geistlicher, verlagerte sich der Akzent von den inneren Tugenden auf eine äußere, weltliche Funktionalität des Geistlichen.773 Eine elementare Dienstpflicht des Priesters liege demnach in einer akribisch betriebenen Wissenschaftlichkeit, die notwendig sei, um das Kirchenvolk gegen einen als religionsfeindlich wahrgenommenen »Zeitgeist« zu immunisieren und diesen mit den eigenen Waffen zu schlagen.774 Parallel und ergänzend dazu müsse sich das Augenmerk des Priesters ganz auf die Schulbildung richten: Moral, Sittlichkeit und Religiosität sollten bereits im Kindesalter gelehrt werden, um für die Zukunft gute Katholiken zu sichern.775 Generell sollte sich der Kleriker also verstärkt der »Welt« und seiner Gemeinde zuwenden, die Ereignisse der »Zeit« aufmerksam verfolgen und diesen
772 Redaktion, Einladung zur Einsendung allfälliger biograph. Notizen über Franz X. Luggas, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 887; Goetz, Poetik, S. 40–42. 773 V. Wiery, Freundesworte an Priesterthums-Kandidaten. Maria – der elfenbeinerne Thurm, der Thurm Davids, das goldene Haus, die Arche des Bundes (Betrachtung am 8. Dezember), in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 1229–1236, S. 1253–1259; ders., Freundesworte an PriesterthumsKandidaten, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 601–609; Gib Rechenschaft von deiner Haushaltung, in: ebenda, S. 1–16; [Pr. D. V.], Bild des katholischen Seelsorgspriesters, in: ebenda, S. 439– 443; Aus meinem Seelsorgerleben, in: ebenda, S. 992–996; Kirchliche Nachrichten, in: ebenda, S. 609–612; G. Schellander, An die hochw. Seelsorgsgeistlichkeit, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 1009–1016. 774 Die Sendung und Aufgabe des katholischen Seelsorgers in unserer Zeit, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 1085–1100; G. Schellander, An die hochw. Seelsorgsgeistlichkeit, in: Kath. Bl. 5 (1847); Warum soll der Priester auf dem Lande sich wissenschaftlich fortbilden?, in: ebenda, S. 81– 88; Miccoli, Figura, S. 908f. 775 Über die geistliche Lesung, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 1260–1263; Der Brief des hl. Paulus als Pastoralschreiben, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 97–108, S. 121–129; S. 145–154; Etwas über die Kinderbeicht, in: ebenda, S. 897–904, S. 921–930.
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entsprechend handeln – als wichtigster und kämpferischer »Volkserzieher«.776 In diesen belehrenden Artikeln bildete sich zunehmend die Grunddifferenz zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen »Welt« und »Ewigkeit« aus. Als Mittler zwischen diesen beiden Dimensionen geriet der Kleriker in ein spannungsvolles Paradoxon: Nur ein weltfremder Priester, losgelöst von den Zwängen der Zeit (»Sey kein Sklave der Zeit«), dessen Kompetenzbereich zugleich aber immer stärker in weltlichen Angelegenheiten angesiedelt wurde, könne ein guter Priester sein. Der Ratschlag, »in, aber nicht mit der Welt zu seyn«, bringt dieses Spannungsverhältnis prägnant auf den Punkt.777 Wie Giovanni Miccoli betont, war im italienischen Sprachraum dieses Spannungsverhältnis zwischen Jenseits und Diesseits, zwischen einer rein innerkirchlichen, spirituellen und einer öffentlichen, zivilgesellschaftlichen Verortung des idealen Priesters historisch kontingent: So zeichnete in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine konservativ gefärbte Vorstellung vom idealen Priester ein möglichst welt- und politikfernes Priestertum, das die privilegierte Verbindung zwischen Staat und Kirche nicht stören dürfe. Nach der italienischen Einigung waren es dann liberal-katholische Priesterbilder, die den sazerdotalen Rückzug aus dem öffentlichen Raum als Voraussetzung zur Aussöhnung zwischen Staat und Kirche einforderten.778 Die weltliche Indienstnahme des Priesters, seine gesellschaftliche Funktionalisierung gleichsam, steht deutlich in der Tradition der aufgeklärten, rationalistischen Pastoraltheologie, wie sie besonders vom Landshuter Pastoraltheologen Matthäus Fingerlos betrieben und verbreitet worden war. Während dieser aufgeklärte Typus des »Zeit-Geistlichen«, wie ihn Johannes Sailer später etwas abfällig bezeichnete, vornehmlich als Staatsdiener zu wirken hatte, fehlte der staatliche Bezug im Priesterbild der »Blätter« – und das mag in Zeiten des Staatskirchentums überraschen – nahezu vollständig.779 Auch konfessionelle Differenzierungen wurden für die Formulierung des idealen Priesters nach 1845 bedeutsam. Der Tiroler Kleriker sollte seine Herde nicht nur religiös erziehen, sondern dadurch auch vom Abfall vom Katholizismus bewahren. Hierin spiegeln sich historische Entwicklungen, wie etwa die als bedrohlich wahrgenommene deutschkatholische Bewegung, die in den »Katholischen Blättern aus Tirol« aufmerksam beobachtet und eingehend kom776 Ein Wort über Volkserziehung, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 326–329. 777 V. Wiery, Die Zeit als Herrin und Dienerin betrachtet beim Jahreswechsel, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 1233–1246; das erste Zitat auf S. 1238; [Pr. D. V.], Bild des katholischen Seelsorgspriesters, in: ebenda, S. 439–443, hier das zweite Zitat auf S. 441; Pius Zingerle, Aus den Schriften des hl. Jakob von Nisidis. Aus dem Armenischen – aus der Unterweisung von den Hirten, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 130–133, S. 132; Hurth, Mann Gottes, S. 19f.; Blaschke, Kolonialisierung, S. 96. 778 Miccoli, Figura, S. 896–903. 779 Baumgartner, Seelsorge, S. 174–177.
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mentiert wurde. So wurde das von den Deutschkatholiken ostentativ abgelehnte Zölibat gerade als Grundlage der Superiorität des katholischen priesterlichen Amtscharismas dargestellt, das den katholischen Seelsorger von der Welt und von den anderen Konfessionen bzw. Religionen abhob.780 Das in den »Blättern« formulierte Priesterbild beschritt somit einen Mittelweg zwischen den von Johann Michael Sailer definierten Priestertypen des »Geistlich-Geistlichen« und des »Zeit-Geistlichen«; sie schufen eine Symbiose des stark auf die Heilsvermittlung fokussierten, christuszentrierten Idealtypus Sailers und dem anthropozentrischen, stark der Welt zugewandten Priesterbild der Aufklärung.781 Dieser bereits ausdifferenzierte sazerdotale Anforderungs- und Tugendkanon erfuhr ab März 1848 eine weitere markante Akzentverschiebung. War der Kompetenzradius des Klerus bislang auf genuin innerkirchliche Angelegenheiten sowie auf die Schule, Alten- und Krankenpflege begrenzt, so forderten die belehrenden Texte nun eindringlich eine öffentliche und politische Tätigkeit des Priesters ein: »Saget nicht, ihr Priester, was außerhalb der Kirche ist, darf uns nicht kümmern, wir können uns mit den politischen Fragen nicht beschäftigen, wir haben der Sorge und Arbeit genug. Auch was außerhalb der Kirche liegt, gehört zu Kirche.«782
Der Tiroler Klerus wurde aufgefordert, eine »öffentliche Stellung« einzunehmen und politisch aktiv zu werden: Er sollte die Katholiken nunmehr politisch unterrichten und aufklären, ihnen die Bedeutung der neuen konstitutionellen Rechte und Pflichten erläutern, sie für Petitionen mobilisieren und in Wahlgängen katholische Kandidaten unterstützen.783 »Es ist auch des Priesters Pflicht, nach Kräften mitzuwirken, daß unsere Verfassung auf den Grundlagen der Religion, der Vernunft und des Rechts sich neu erhebe«, ermahnte etwa Georg Tinkhauser den Klerus der Diözese Brixen. Selbst Landesverteidigung und Schützenwesen erforderten unbedingt die Teilnahme des Priesters als Anführer seiner Gemeinde.784 Diese offene Politisierung des Priesterbildes war überaus brisant – hatte doch Fürstbischof Galura in einem Rundschreiben vom 21. März 780 Ein Wort über das Zölibat, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 553–561; Noch ein Wort über das Zölibat, in: ebenda, S. 1009–1023; Gatz, Zölibat, S. 349–356. 781 Baumgartner, Wandel, S. 5–13. 782 Weckstimme an Klerus und Volk, insbesondere in Innerösterreich, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 577–591; Paletschek, Frauen, S. 28, S. 166–168; Denzler, Geschichte, S. 130–133. 783 [Alois Meßmer], Ein Wort an den tirolischen Klerus, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 1073–1085, S. 1077; Vonbank, Meßmer, S. 66; Georg Tinkhauser, Die Aufgabe des Seelsorgers auf dem Lande in der jetzigen Zeitenwende, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 353–362; ders., Die Wirksamkeit des Klerus in Tirol bei der jetzigen Zeitenwende, in: ebenda, S. 617–626, S. 620, S. 622. 784 Tinkhauser, Die Aufgabe des Seelsorgers auf dem Lande in der jetzigen Zeitenwende, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 353f.
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1848 seinen Klerus unmissverständlich vor politischer Parteinahme gewarnt und verboten, »die Kanzel oder die amtliche Stellung mit der Tribüne der politischen Kämpfe […] zu vertauschen.«785 Anstatt sich jedoch der episkopalen Order zu fügen, legten die »Katholischen Blätter« das Hirtenschreiben so aus, dass es den öffentlichen und politischen Aktivismus keineswegs ausschließe, sondern vielmehr einfordere.786 Besonders insistierten die »Katholischen Blätter« auf die Nutzung der Presse: Die amtliche Stellung und das hohe Ansehen des Priesters mache besonders in politisch unsicheren Zeiten die Presse für politische, aber auch für pastorale Zwecke unabdingbar – die Tätigkeit des Klerus müsse eine »öffentliche« werden.787 Radikal änderte sich nach 1848 auch die Sprache der belehrenden Texte. Bis 1848 war diese mild, verständnisvoll und kollegial gehalten – die Revolution äußerte sich sprachlich in einer hektischen Dramatik, ja mitunter offenen Kritik, mit der der Klerus aufgefordert wurde, seinem Ideal nachzukommen. Paradigmatisch für diese dramatisierte Sprache sind etwa die Worte, mit denen sich der Konvertit Johann Theophil Maximilian Zetter an den Tiroler Klerus wandte: »Wer jetzt schläft, verschläft auch noch das Jüngste Gericht.«788 Hinter der Basisformel der Kirchenblattbewegung, »Belehrung und Erbauung«, stand in den »Katholischen Blättern aus Tirol« von Anfang an eine medial kommunizierte Homogenisierung des Klerus, die durch ein nachahmungswürdiges, ideales Priesterbild erreicht werden sollte. Prozesse der Klerikalisierung und der Homogenisierung, zwei Grundzüge der Ultramontanisierung des Katholizismus, wurden somit nicht ausschließlich durch kirchliche Strukturen, wie etwa die reformierte Ausbildung in den Priesterseminaren oder die Stärkung der innerkirchlichen Hierarchien, sondern eben auch, und dies hat die bisherige Forschung kaum beachtet, durch die katholische Publizistik ermöglicht.789 Wie der Kirchenhistoriker Georg Denzler betont, bestimmten zu keiner Zeit ausschließlich »bibeltheoretische Vorgaben« das Bild des Priesters und die an ihn gestellten Anforderungen. Diese mussten vielmehr in historisch kontingenten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stets neu ausgehandelt werden.790 Die 785 DAB, KA 1848, Fs. 64, Zl. 250. 786 Tinkhauser, Die Wirksamkeit des Klerus in Tirol bei der jetzigen Zeitenwende, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 617–626. 787 [Meßmer], Ein Wort an den tirolischen Klerus, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 1081–1085; Johann Th. M. Zetter, Das freie Wort und die katholische Kirche. Ein wohlgemeinter Wink in der ernsten Gegenwart, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 384–392; Joseph Mösmer, Einladung zum Gebrauch der freien Presse, in: ebenda, S. 362–364. 788 Johann Th. M. Zetter, Zeichen der Zeit, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 545–554, S. 633–639, S. 546. 789 Metzger, Konstruktionsmechanismen, S. 435–440; Götz von Olenhusen, Ultramontanisierung; Ebertz, Herrschaft, S. 97–101. 790 Denzler, Zölibat, S. 88–94.
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Zeitschrift hob diese Beziehung zwischen theologischen Vorgaben und gesellschaftlichen Anforderungen auf ein neues Niveau. Insbesondere im Revolutionsjahr 1848 wirkte die Zeitschrift nicht nur eindringlicher und schneller als der Brixener Fürstbischof auf den Klerus ein, sondern wich dabei auch von dessen Direktiven ab. Die »Katholischen Blätter« stellten somit diskursive Mechanismen der Homogenisierung bereit; die spezifische Medialität der Zeitschrift, mithin Aktualität, Periodizität und Gleichzeitigkeit, ermöglichte zudem neue kommunikative Formen der Vereinheitlichung. In diesen vom sazerdotalen Anforderungskatalog ablesbaren, narrativen und semantischen Aspekten der Homogenisierung spiegeln sich darüber hinaus spezifische historische Entwicklungen, sie waren nicht statisch, sondern vielmehr von diesen abhängig. Die Konstruktion und die mediale Inszenierung des tirolischen Pastor bonus in den »Katholischen Blättern« zeigen, wie sehr mediale Innovationen religiöse Kommunikation und damit Religion verändern konnte. Die bemerkenswert kompakte Haltung und der energische politische Aktionismus des deutschsprachigen Klerus Tirols während der Revolution 1848 sind somit nicht nur auf die Ausbildung im Brixener Seminar, sondern auch, und dies insbesondere im Vergleich zu Regionen, die über keine vormärzliche Publizistik verfügten, auf die »Katholischen Blätter« und deren homogenisierende Wirkung zurückzuführen. Die Auswirkung der Medialisierung beschränkte sich jedoch nicht auf den Klerus, vielmehr ist auch von einer »Belehrung zweiter Ordnung« auszugehen, da die Kleriker angewiesen wurden, wie sie ihrerseits auf die ihnen anvertrauten Katholiken einwirken sollten. Allerdings sollte man das Verhältnis zwischen Kommunikationsmedium und Gesellschaft/Religion nicht als asymmetrisch-einseitig verstehen. Gerade die partizipative Gestaltung der »Katholischen Blätter« ermöglichte es Geistlichen wie auch Laien, auf den Klerus und die religiöse Kommunikation insgesamt einzuwirken – was die Bedeutung der »Katholischen Blätter aus Tirol« als sozialen und religiösen Akteur nur noch weiter bestärkte.
5.2.2. Formen der Medialisierung II: Die Konfessionalisierung der Region Die durch die »Katholischen Blätter aus Tirol« nach 1843 eingeleitete Medialisierung des Katholizismus führte nicht nur zu einer inneren Homogenisierung, sondern, nach außen gerichtet, auch zu einer Konfessionalisierung und Verräumlichung des Katholizismus auf regionaler Ebene.791 Durch die von der 791 Teile des folgenden Abschnittes wurden bereits als Huber, Antiprotestantismus, S. 41–46, veröffentlicht.
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Zensur und dem Gründungsdesign der Zeitschrift geprägten Nachrichtenselektionen und Medienrealitäten, die ihr Augenmerk ganz auf die frühen kulturkämpferischen Konfliktfelder Europas legten, aber auch durch die Besprechung einschlägiger katholischer Reflexionen über das zwischenkonfessionelle Verhältnis sowie eingehende Berichte über die aufsehenerregenden und hochgradig politisierten Konversionen übertrug die Zeitschrift konfessionalistische Diskurse in das monokonfessionelle Tirol. Sie war also Grundlage und Verbreitungsmedium des katholischen Antiprotestantismus auf regionaler Ebene, eines bislang religionsgeschichtlich vernachlässigten Phänomens.792 Diese durch die Beobachtung der außerösterreichischen religiösen Umwelt entstandene mediale Neuverortung konfessioneller Antagonismen setzte bereits in den ersten Nummern der Zeitschrift ein. Der in der Anfangsphase der »Blätter« äußerst aktive Kirchenhistoriker Georg Tinkhauser problematisierte in der Ausgabe vom 4. September 1843 erstmals das interkonfessionelle Verhältnis zwischen »Katholizismus« und »Protestantismus«, ein weiterer Beitrag aus dem Jahr 1843 prognostizierte eine nahende »jammervolle Selbstauflösung des Protestantismus«.793 Diese Texte sind vor allem deshalb bedeutsam, da sie die noch wenige Jahre vorher den Zillertalern zugeschriebenen Eigenschaften – die eben belegen sollten, dass es sich bei der Glaubensgemeinschaft nicht um Protestanten handelte – nun dem Protestantismus, der sich in einem sittlichen Verfall befinde, zurechneten. Diese Texte blieben vorerst nicht mehr als symptomatische Vorabreflexionen, eine tatsächliche konfessionalistische Wende in den »Blättern« setzte erst im Biennium 1845/46 ein. Die siebenwöchige Trierer Rockwallfahrt, an der 1844 geschätzte 500.000 Menschen teilnahmen und die damit die größte vormärzliche Massenveranstaltung im Deutschen Bund darstellte, die mit ihr eng verbundene Etablierung des Deutschkatholizismus sowie die Berliner evangelische Generalsynode im Sommer 1846 wurden von der Zeitschrift intensiv wahrgenommen und aufmerksam beobachtet, sie markieren den Übergang von der weitgehenden Reproduktion, bestenfalls Reformulierung konfessionalistischer Semantiken hin zu einer eigenständigen Beobachtungsform.794 Diese kam zwar nicht ohne die polemische Sprache der katholischen Publizistik aus, verfolgte die religiöse Umwelt nunmehr aber aus einer regional definierten, genuin tirolischen Perspektive. Auch wenn sich diese Ereignisse auf Tirol bzw. Österreich 792 Foa, Intransigenti; Valerius, Katholizismus; Schmidt, Wirklichkeit, S. 3–19; Luhmann, Gesellschaft, S. 1102–1109; Clark, Catholicism; Blaschke, Anti-Protestantism. 793 Katholizismus und Protestantismus, in: Kath. Bl. 1 (1843), S. 689–698, Zitat S. 689; [Georg Tinkhauser], Der Abfall von der Kirche, in: ebenda, S. 561–571, S. 577–584. 794 Schieder, Religion; Borutta, Antikatholizismus, S. 78–88; Nipperdey, Bürgerwelt, S. 403–451; Holzem, Kirchenreform; ders., Christentum in Deutschland, S. 1012–1026; Paletschek, Frauen und Dissens, S. 19–60; Graf, Politisierung, S. 26–47.
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zunächst kaum auswirkten, begründete Georg Tinkhauser in einem weiteren Beitrag deren eingehende Problematisierung in den »Blättern« damit, dass es besser sei, »wenn man den Feind kennt, wenn man weiß, von woher sein Ausgang ist, gegen welche Seite er sich wende.«795 Man kann hier also von »lokalisierten Transfers« sprechen: Wie Hartmut Kaelble betont, sind Transfers, in diesem Fall die mediale Übertragung konfessioneller Konflikte in einen monokonfessionellen Raum, »nie bloße Imitationen, sondern immer Aneignungen und Veränderungen im Kontext der Lokalität.«796 Die kommunikative Verräumlichung des medial übertragenen konfessionellen Konflikts war, und das ist entscheidend, vom Verbreitungsmedium Zeitschrift elementar getragen. Die mediale Realität überbrückte räumliche Grenzen – weit entfernte und aus Tiroler Perspektive zunächst abgelegene Ereignisse schlugen sich in der Berichterstattung der »Blätter« massiv nieder.797 Die mediale Beobachtungsform der »Katholischen Blätter« schuf dadurch neue »raumbezogene Semantiken«, gesellschaftliche Selbstbeschreibungen mithin, die an räumliche Vorstellungen gekoppelt waren und in den »Blättern« aus einer genuin religiösen Perspektive gedeutet wurden.798 In diesen Jahren, um 1844/45 also, entstand jene exklusive, verräumlichte Katholizität, die in den 1830er Jahren bereits in der Fremdwahrnehmung mit Tirol assoziiert worden war, auch als – freilich stark konfliktgesättigter – Grundzug (Deutsch-)Tiroler Selbstbeschreibung. Bereits vor der Gründung der »Katholischen Blätter« finden sich hierzu Hinweise: Vor allem Beda Weber zeichnete 1841 in seinem opulenten Werk über die Reformation bereits für das 16. Jahrhundert Tirol als katholische Bastion und als Zentrum der Gegenreformation.799 Weber unternahm in seinem gewichtigen Opus genau das, wovor der Präsident der Polizeihofstelle Sedlnitzky wenig später im Zusammenhang mit der Gründung der »Katholischen Blätter« warnen sollte: Der Rückgriff auf die Vergangenheit diente ihm dazu, die Entwicklungen der Gegenwart zu deuten. Der Benediktiner zeichnete ein verheerendes Bild des Protestantismus, der in Tirol im 16. Jahrhundert zu Dekadenz und Kirchenraub geführt habe. Begriffe der Stigmatisierung, die wenige Jahre vorher für die Zillertaler Glaubensgemeinschaft verwendet worden waren, fanden auffallend breiten Eingang in 795 Georg Tinkhauser, Deutschland. Die katholischen Differenzgemeinden in Deutschland, oder die deutsch-(evangelisch, auch christ)katholischen Kirchen, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 298–304, S. 303; Schima, Deutschkatholiken. 796 Kaelble, Herausforderungen, Zitat, S. 7; Pernau, Transnationale Geschichte, S. 48. 797 Großklaus, Medien-Zeit, S. 103–112; Geppert/Jensen/Weinhöld, Verräumlichung. 798 Redepenning, Überraschung; Pott, Identität; Haslinger, Nation, S. 30–33; Rau, Räume, S. 174–177. 799 Weber, Reformation. Später betonte Weber jedoch immer wieder seine Achtung vor den anderen christlichen Konfessionen, nur deren »moderne« Formen wolle er bekämpfen: Angerer, Beda Weber, S. 121f.
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Webers Vokabular : So bezeichnete er Protestanten als »Träger des Gifts«, als »Unkraut« oder »Angesteckte«.800 In mystischen Passagen führte der Benediktiner aus, wie Tirol in der Reformationszeit die Kräfte aus dem katholischen Süden in sich gesammelt habe. Es sei aufgestiegen zu einer katholischen »Bundesfestung«, die Rom vor der von Norden vordringenden »Irrlehre« bewahrt habe.801 Tirols gegenwärtige soziale Ordnung, so Weber weiter, basiere ausschließlich auf dem katholischen Charakter, den sich das Land seit der Gegenreformation bewahrt habe.802 Auch wenn der Benediktiner für seine Werke einen Gegenwartsbezug explizit ausschloss,803 bildete seine Gegenwart geradezu die narrative Folie für die konstruierte Vergangenheit. Voller Pathos beschrieb der Benediktiner einen »Kreuzzug der Verzückten«, von Wundern umgebene Personen, die als besondere geistige Bannerträger den Tiroler Katholizismus im Kampf mit einem aggressiven Protestantismus unterstützt hatten.804 Die Analogie zu seiner Gegenwart, in der neben der bereits erwähnten Maria von Mörl im südlichen Tirol weitere wundersame Figuren in Erscheinung traten, ist evident.805 Die räumlich-religiöse Selbstbeschreibung der »Katholischen Blätter«, an der auch Weber beteiligt war, verdichtete diese Semantik durch die Amalgamierung räumlicher und konfessioneller Differenzsetzungen. Das katholische Tirol wurde vom protestantischen Norden scharf abgegrenzt, besonders Berlin galt in den »Blättern« als Hauptstadt und journalistisches Zentrum eines aggressiven und expansiven Protestantismus.806 Ein anonymer Korrespondent klagte im September 1846 über die Angriffe des »stockprotestantischen Berlinerthums« auf den »ausgeprägtesten Katholizismus des Tiroler Volkes«. In diesem Artikel trat auch erstmals die Selbstbeschreibung »Tiroler Katholizismus« auf, der noch vor dem »römischen« vom Protestantismus gekreuzigt werde.807 Es zeigt sich hier also deutlich jenes Phänomen, das Reinhart Koselleck als Naturalisierung und Territorialisierung asymmetrischer Gegenbegriffe bezeichnet hat. Ähnlich wie bei Karl Gottlieb Bretschneider oder in den frühen Schriften Görres’ wurde in den »Blättern« der konfessionelle Gegensatz naturalisiert und in einer Nord800 Weber, Reformation, S. 46, S. 49, S. 56. 801 »gleich einer Bundesfestung, die […] alle Lebenskräfte des Katholizismus von Italien her in sich aufnahm, und zur Wiederbelebung der verführten Gemüther […] in die angränzenden Länder hinaussandte.« Ebenda, S. 4f. 802 Ebenda, S. 129, S. 432–434. 803 Ebenda, Einleitung. 804 Ebenda, S. 60–68. 805 Der Gegenwartsbezug ist bei Weber derart dominant, dass etwa Nicole Priesching seinen in das 16. Jahrhundert verorteten »Kreuzzug der Verzückten« auf das 19. Jahrhundert bezieht: Priesching, Mörl, S. 92. 806 An die Leser, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 1–8, S. 3. 807 Von der Etsch, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 937–939.
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Süd-Differenz räumlich festgeschrieben. Der Raum stieg hier zur religiösen Selbstbeschreibungsformel auf, Religion diente dazu komplementär als differenzierende Chiffre für die räumliche Vorstellung von »Tirol«.808 Die mediale Beobachtung der konfessionellen Konflikte war darüber hinaus geprägt von einer markanten sprachlichen Radikalisierung: Die alarmierte Zeitdiagnostik in den »Blättern« registrierte einen »geistigen Wettbewerb« zwischen den Konfessionen, eine »cause c8lHbre« bzw. einen »großen Weltprozess«, ausgelöst von einem angriffslustigen Protestantismus.809 Der kaum differenziert wahrgenommene, bestenfalls in das binäre Schema progressiv/liberal–orthodox unterschiedene »Protestantismus« galt in diesen einschlägigen Texten nunmehr als äußerster »Feind«, als »Gegner« des Katholizismus schlechthin. Dem wirksamsten Instrument dieses konfessionellen Antagonisten, dem »Gift der protestantischen Presse« solle, wie ein unbekannter Korrespondent aus Vorarlberg einforderte, »ein Gegengift durch die katholische Presse entgegengestellt werden.«810 Der konfessionelle Konflikt wurde im monokonfessionellen Tirol mithin als letztgültig und unüberwindlich wahrgenommen. Selbst in Missionsberichten Tiroler Geistlicher, insbesondere aus den Vereinigten Staaten von Amerika, dominieren konfessionelle Konfliktmuster. Adalbert Inama, der Prämonstratenser aus dem Stift Wilten bei Innsbruck, berichtete etwa von einem Wettstreit der Konfessionen in den Vereinigten Staaten, von hinterlistigen Manövern, mit denen Protestanten die katholische Mission sabotierten, oder von einem strukturellen Startvorteil der protestantischen Mission, denn »ihr magerer Kultus kostet fast nichts.«811 Diese ab 1845 dominante, räumlich festgeschriebene Feindsemantik gründete auf mehreren diskursiven Konstruktionsmechanismen, die für die sich ausbildende katholische Kommunikationsgemeinschaft wie auch für die Beschreibung des konfessionell »Anderen« von elementarer Bedeutung waren.812 Ein erster Mechanismus zielte auf die Feststellung und die Festschreibung von Differenzen zwischen den Konfessionen in allen denkbaren Bereichen des religiösen, öffentlichen und privaten Lebens ab. So wurden, wie am Beispiel der Konstruktion des idealen Priestertypus bereits angesprochen, Unterschiede im religiösen Personal betont, aber auch in der Liturgie, im Missionswesen, im 808 Koselleck, Gegenbegriffe, S. 217–222; Luhmann, Gesellschaft, S. 880f.; Altgeld, Katholizismus, S. 125–137. 809 Ist die katholische Kirche eine Proselytenmacherin, und verdient sie deshalb einen Vorwurf ?, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 725–734, S. 725; Salomons weiser Urteilsspruch (Eine Allegorie auf unsere Zeit), in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 883–837, S. 833. 810 Kirchliche Nachrichten – Vorarlberg, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 419–422, S. 422. 811 Adalbert Inama, Kirchliche Nachrichten – Vereinigte Staaten von Amerika, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 260–262; Naupp, Berichterstattung; Inama P. Adalbert, in: ÖBL 3, Wien 1965, S. 31; Luginbühl, Konstruktion; Habermas, Mission, S. 660–671. 812 Metzger, Konstruktionsmechanismen.
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Hochschulwesen oder allgemein in der »Sittlichkeit«.813 Diese für konfessionelle Unterschiede sensible, pauschalisierende Beobachtungsform schloss neben den Protestantismus auch protestantische »Lichtfreunde« und den Deutschkatholizismus mit ein: Protestanten und Deutschkatholiken verschmolzen in der Fremdbeschreibung der »Blätter« zu einer eigentümlichen und diffusen, jedenfalls gegen den Katholizismus gerichteten Einheit.814 »Lichtmänner«, »Lichtfreunde« oder allgemein »moderne lichtfreundliche Nachtreter Luthers«, »Rongeaner« oder »Rongianismus«, aber auch »Rationalismus« und »Materialismus« dienten weitgehend synonym zur Bezeichnung von Protestantismus und Deutschkatholizismus. Johann Ronge, ein katholischer Priester, der gegen die Trierer Wallfahrt publizistisch vorging, den Trierer Bischof Arnoldi öffentlich anklagte und der gemeinhin als Stifter des Deutschkatholizismus gilt, wurde als »moderner Luther« bezeichnet, der eine neue Reformation und damit eine neue Revolution einleiten werde.815 Diese radikale, von der Medienrealität der »Blätter« abgebildete Komplexitätsreduktion orientierte sich zweitens in ihrer konfessionellen Differenzierung nicht mehr an den moralischen Leitwerten, die etwa noch in den 1830er Jahren in der Beschreibung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft dominant gewesen waren, sondern an absolut gesetzten Glaubenswahrheiten. Die aufsehenerregende Entstehung des Deutschkatholizismus, aber auch die in den Augen der Tiroler Beobachter gescheiterte Berliner Generalsynode 1846 wurden, und hier griffen sie klassische, gesamteuropäische antiprotestantische Gemeinplätze auf, als eindringliche Symptome des religiösen Niedergangs gedeutet.816 Der Protestantismus habe sich, wie die »Blätter« festhielten, spätestens seit der Auf813 Georg Tinkhauser, Zur Geschichte und Würdigung der Inquisition, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 505–518, S. 529–542; ders., Die Missionen der katholischen Kirche, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 1178–1191, S. 1201–1215, S. 1232–1239; Ein Wort über das Zölibat, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 553–561; Noch ein Wort über das Zölibat, in: ebenda, S. 1009–1023; Der Rosenkranz als Symbol der katholischen Kirche, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 1129–1141; Der Gebrauch des gesäuerten und ungesäuerten Brodes bei der Eucharistie, vom gesetzlichen, geschichtlichen und symbolischen Gesichtspunkte betrachtet, in: ebenda, S. 817–829; Johann Kopatsch, Gemischte Ehen nach den Bestimmungen des gemeinen und des österr. Kirchenrechts, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 165–180, S. 189–204; Vom Eisack im Mai, Kath. Bl. 3 (1845), S. 521– 525; Kirchliche Nachrichten, ebenda, S. 1249–1253. 814 Johann Th. M. Zetter, Wehe euch Gesetzgelehrten!, in Kath. Bl. 5 (1847), S. 82–92, S. 881– 896, S. 905–917, S. 861f.; Vom Eisack im Mai, Kath. Bl. 3 (1845), S. 521–525; Graf, Politisierung, S. 47–53. 815 Johann Th. M. Zetter, Einst und jetzt. Zur gemeinsamen Beachtung für unser Zeitalter, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 1057–1065, S. 1081–1095, S. 1105–1114, S. 1129–1139, S. 1093; Die lutherische Bibelübersetzung nur mehr ein Notbehelf in der protestantischen Kirche, in: ebenda, S. 322–326, S. 325; ähnlich auch Georg Tinkhauser, Deutschland; Beilage zu den katholischen Blättern Nr. 52, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 1249–1252; Borutta, Antikatholizismus, S. 82f., Paletschek, Frauen, S. 19–23; Graf, Politisierung, S. 196–199. 816 Blaschke, Anti-Protestantism.
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klärung und ihrer rationalistischen Theologie von seinen ursprünglichen Grundwahrheiten entfernt und entfremdet, Lehr- und Meinungsfreiheit hätten parallel dazu jegliche Glaubensgewissheit hinfällig gemacht. »Rationalismus« und »Kantianismus«, so die eingehende Diagnose der »Blätter«, führten in eine unvermeidliche Atomisierung des Protestantismus, der bald schon in »so viele Sekten, wie protestantische Köpfe« zerfallen werde.817 Der Deutschkatholizismus wurde als katholische Variante dieser allgemeinen religiösen Krise gedeutet: Laue Katholiken, »bettelarme Taugenichtse, weibersüchtige Priester und liberalische Miserabilitäten« hätten das »protestantische Princip« auf den Katholizismus übertragen und sich deshalb von der Kirche entfernt. Selbst die Etablierung des Deutschkatholizismus wurde der konfessionellen Superiorität des Katholizismus gutgeschrieben. Anders als der Protestantismus verfüge der Katholizismus über eine selbstreinigende Kraft, die »faule Elemente« ausscheide.818 Insgesamt betrachtet, seien der Protestantismus und damit auch der Deutschkatholizismus in eine unüberwindbare Paradoxie verfallen: Ihre Existenz als Religion oder als Konfession verweise zwangsläufig auf einen genuinen reformatorischen Kern, auf ein »protestantisches Princip«. Da diesem aber geradezu beliebige und undogmatische Lehr- und Gewissensfreiheiten inhärent seien, entfremde es, auf sich selbst angewandt, sich selbst. Die protestantische Selbstauflösung, so die Beobachtung der »Blätter«, sei schließlich nichts anderes als die konsequente Fortführung der Reformation, die im Unglauben enden müsse.819 Den »rechtgläubigen«, orthodoxen Protestanten bleibe deshalb nur 817 Ueber die zahlreichen Konversionen zur römischkatholischen Kirche in der gegenwärtigen Zeit, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 1170–1178, S. 1177; Brixen, 30. Juni (Korrespondenz), in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 657f.; Luginbühl, Konstruktion, S. 184f. 818 Georg Tinkhauser, Deutschland. Die katholischen Differenzgemeinden in Deutschland, oder die deutsch-(evangelisch, auch christ)katholischen Kirchen, in: ebenda 3 (1845), S. 298– 304; Ders., Rückblick auf die kirchlichen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 753–766, S. 755 (erstes und zweites Zitat); Ders., Die protestantische Landessynode in Berlin, in: Ebenda, S. 1017–1032; Beilage Nr. 52, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 1249–1253, S. 1253 (drittes Zitat); Johann Th. M. Zetter, Wehe euch Gesetzgelehrten!, in Kath. Bl. 5 (1847), S. 82–92, S. 881–896, S. 905–917, S. 868–871; Johann Th. M. Zetter, Einst und jetzt. Zur gemeinsamen Beachtung für unser Zeitalter, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 1057–1065, S. 1081–1095, S. 1105–1114, S. 1129–1139, S. 1094f., S. 1108–1110; Holzem, Kirchenreform, S. 199–202; ders., Christentum in Deutschland, S. 1025f. 819 Georg Tinkhauser, Rückblick auf die kirchlichen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 753–766, S. 760; Die protestantische Orthodoxie im Verzweiflungskampfe mit dem gegenwärtigen Protestantismus, und darin im größten Widerspruche mit sich selbst und mit ihrem eigenen Lebensprincipe. Unter den gegenwärtigen religiösen Wirren eine auferbauliche Betrachtung zum Schlusse des vielbewegten Jahres 1846, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 1249–1262; Die lutherische Bibelübersetzung; Johann Th. M. Zetter, Wehe euch Gesetzgelehrten!, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 82–92, S. 881–896, S. 905–917, S. 883f., S. 995f.; Foa, Intransigenti, S. 22–34.
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mehr die Rückkehr zur katholischen Kirche, womit die 300-jährige Epoche der Reformation zu ihrem geschichtlichen Abschluss finden werde. Dieses geschichtsphilosophisch-theologische Konzept schien durch die zahlreichen, spektakulären Konversionen der Zeit eine eindrucksvolle Bestätigung zu finden. Wie ein Konversionsbericht aus Innsbruck in den »Katholischen Blättern« betonte, verdankten die Konvertiten »ihre Bekehrung nach der besonderen Gnade Gottes vorzüglich dem wohlthätigen Einflusse des allenthalben wahrgenommenen religiösen Eifers und lebendigen kirchlichen Sinne« der Tiroler Landeshauptstadt.820 Nicht mehr gut/böse oder moralisch/unmoralisch, wie noch am Beispiel der Zillertaler Glaubensgemeinschaft gut ablesbar,821 sondern »Glauben/Unglauben« war der Code, mit dem der medialisierte Katholizismus Tirols seine konfessionelle Umwelt nunmehr beobachtete. Das der Zillertaler Glaubensgemeinschaft zur Last gelegte unmoralische Verhalten ließ ihre Religiosität und damit auch ihre Zuordnung zum Protestantismus zweifelhaft erscheinen. Der Protestantismus befand sich in dieser Unterscheidung also noch allgemein mit dem Katholizismus auf der positiven Seite. In Anlehnung an Martin Riesebrodt könnte man hier auch von Religionsdiskursen sprechen, die mit unterschiedlichen Unterscheidungen operieren. Demnach ließe sich – ähnlich wie im italienischen Sprachraum übrigens – ein Übergang von einer normativ-moralischen bzw. politisch-rechtlichen hin zu einer innerreligiösen Form der religiösen Unterscheidung festmachen.822 Das neue Verbreitungsmedium, der geänderte Beobachtungsradius und die Medienrealität der »Katholischen Blätter« führten in den 1840er Jahren somit zu einer Um-Codierung der religiösen Kommunikation, die am Vorabend von 1848 ihre religiöse Umwelt ausgehend von der Unterscheidung Glauben/Unglauben beobachtete und somit alles vom Katholizismus Abweichende, in erster Linie freilich den Protestantismus, als ungläubig einstufte. Der Protestantismus diente nunmehr als das konfessionell »Andere«, als räumlich festgeschriebene Negativfolie des Katholizismus Tirols, der sich 820 Ueber die zahlreichen Konversionen zur römischkatholischen Kirche in der gegenwärtigen Zeit, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 1170–1178; Ueber die zahlreichen Konversionen oder Warum wurde ich katholisch?, in: Kathl. Bl. 5 (1847), S. 796–800. Hierbei handelt es sich um eine ausführliche und sehr wohlwollend-anerkennende Rezension des Konversionsberichtes von Johann Th. M. Zetter, Warum wurde ich Katholisch?, Salzburg 1847. Zu Zetter, evangelischer Theologe und Naturwissenschaftler, der nach seiner Konversion zum Katholizismus im Salzburger Borromäum unterrichtete und 1847 und 1848 substantielle Beiträge für die »Katholischen Blätter« verfasste, Johann Theophil Maximilian Zetter, in: Wurzbach, Biographisches Lexikon 59, S. 349–351; Kirchliche Nachrichten – Tirol, in: Kath. Bl. 1 (1843), S. 74f; Schaser, Konversionen; Saurer, KonvertitInnen; Altgeld, Katholizismus, S. 213–215. 821 Kap. 3.3. 822 Riesebrodt, Cultus, S. 28f.; Verucci, Cattolicesimo Intransigente, S. 257.
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somit als »Nicht-« oder »Antiprotestantismus« verstand.823 Dabei spielte es keine Rolle, dass Tirol in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen homogenen, monokonfessionell-katholischen Raum bildete, ja vielmehr, wie etwa auch das Beispiel Belgien zeigt, scheint ein »Antiprotestantismus ohne Protestanten« im europäischen Vergleich eher die Regel, denn die Ausnahme gewesen zu sein.824
5.2.3. Formen der Medialisierung III: Kirchliche Statistik als neue Beobachtungsform Die »Katholischen Blätter« ermöglichten eine dritte Form der Medialisierung der Religion, die eng mit den in den vorangegangenen Abschnitten dargelegten Varianten verbunden war, ja deren Grundlage bildete. Es handelte sich dabei um eine neuartige Beobachtungsform, die durch das Medium der religiösen Zeitschrift in Tirol verbreitet wurde und das öffentliche Wesen der Religion selbst veränderte. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden Religion und Religiosität, wie etwa in England von den Methodisten, die ab 1767 jährliche Mitgliederzahlen vorlegten, als objektiv und exakt messbare »Kirchlichkeit« in Form von »Kirchenstatistiken« dargestellt.825 Im deutschen Sprachraum lässt sich der Begriff der »Kirchenstatistik« ebenfalls bereits in den 1780er Jahren finden. Hier waren es vor allem konservative Protestanten, die das Christ-Sein quantifizierten und an bestimmten Indikatoren, wie der regelmäßigen Teilnahme an den klassischen Riten – etwa Gottesdienst oder Abendmahl – bemaßen.826 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde sodann von allen christlichen Konfessionen eine Unmenge an statistischen Daten über die Mitglieder von Kirchen und religiösen Vereinen, Konversionen, die Teilnahme an Riten oder am Sakramentenempfang gesammelt und damit die Grundlage für akademische Disziplinen gelegt, zum Beispiel für die Religionssoziologie. Bereits in den 1840er Jahren wurde in Anschluss an Friedrich Schleiermacher versucht, die »Kirchenstatistik« als jüngste theologische Diziplin zu etablieren.827 Bis in die Gegenwart halten kirchenhistorische Arbeiten relativ unreflektiert an diesen quantitativen Objektivierungen fest und bemessen die »Kirchlichkeit« oder 823 Luhmann, Distinctions, insbesondere S. 13–20, ders., Soziale Systeme, S. 603f.; Schulze Wessel, Das 19. Jahrhundert, S. 516. 824 Blaschke, Anti-Protestantism, S. 126. 825 Brown, Death, S. 22–39. 826 Graf, Wiederkehr, S. 81–85. 827 Wiggers, Kirchliche Statistik, S. 6–20; Grethlein, Kirchenstatistik, S. 1690f.; Hölscher [Hrsg.], Datenatlas.
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»kirchliche Wirklichkeiten« bestimmter Regionen an statistisch definierten Parametern.828 Wie vor allem Callum G. Brown betont, handelte es sich hierbei nicht um nüchtern-exakte Momentaufnahmen der Religiosität einer Gesellschaft, sondern vielmehr um Objektivierungen der Säkularisierung: Indem Priester, Zeitschriften, später dann eigene Vereine, Institute und ganze wissenschaftliche Disziplinen statistisches Datenmaterial über die »Kirchlichkeit« der Gesellschaft erhoben, konnte die diffuse Niedergangssemantik der Religion erst plausibilisiert und bewiesen werden. Kirchenstatistiken waren mithin keine neutralen Messsonden, sondern spezifische Beobachtungsformen der Religion selbst, die sich in der Moderne als Teil der Gesellschaft beobachtete und deren Kirchlichkeit bzw. religiösen Sinn adäquat vermessen und darstellen musste. Religion rationalisierte sich also gewissermaßen selbst – und ermöglichte damit erst den Siegeszug der modernen Säkularisierungs-Erzählung.829 Dieses moderne Instrument der Weltbeobachtung und der religiösen Selbstbeschreibung wurde spätestens im Vormärz auch von Katholiken adaptiert. 1845 erschien in Schaffhausen eine »Kirchen-Statistik der katholischen Schweiz«, die sich als »Wissenschaft [verstand], welche die kirchliche Gestaltung eines Volkes nach der Ankündigung seines innern und äußern Lebens im Kreise der Gegenwart, im Zusammenhang darstellt.« Kirchenstatistik bezeichne demnach »den status quo einer Kirche, das heißt einer christlich-religiösen Gemeinde.«830 Allerdings sollte es im Deutschen Kaiserreich noch bis 1915 und in Österreich gar bis nach 1945 dauern, bis detaillierte und systematische Zahlen zu den katholischen Osterkommunikantinnen und -kommunikanten oder Kirchenbesucherinnen und -besuchern erhoben wurden.831 In der Habsburgermonarchie etablierten sich indes die »Katholischen Blätter aus Tirol« zu einer zentralen Agentur der katholischen Kirchenstatistik. Zwischen 1843 und 1848 sammelten und veröffentlichten die Mitarbeiter der Zeitschrift umfangreiches und mitunter auch sehr detailliertes Datenmaterial über den »Zustand« der Kirchen und den »kirchlichen Sinn« in nahen und fernen Gebieten, vor allem aber in der Monarchie und im Kronland Tirol. Bereits in der Planungs- und Konzeptionsphase der Zeitschrift wurde großer Wert auf statistische Inhalte gelegt. Johann Duille, der Innsbrucker Dekan, forderte das Brixener Ordinariat mehrfach auf, statistische Aufsätze über die Brixener Diözese anzuregen und dabei aus dem Diözesanregistraturen das erforderliche Daten-
828 829 830 831
Klieber, Lebenswelten, S. 131; AKKZG, Katholiken. Brown, Death, S. 38f.; Ziemann, Sozialgeschichte, S. 36–42; ders., Religiosität. Geographisch-Historische Kirchen-Statistik, S. V. Ziemann, Sozialgeschichte, S. 37; ders., Sozialwissenschaften, S. 59f.
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material bereitzustellen, um »gleichsam eine Art Relation über den Zustand und die Wirksamkeit der Diözese« zu erhalten.832 Diese »statistische« Form der Säkularisierungsbeobachtung und der quantifizierten Selbstbeschreibung in der Innsbrucker Zeitschrift wich in zwei entscheidenden Punkten von jener der protestantischen Konfessionen ab: Zunächst waren die gesammelten Daten stark institutionenzentriert und wurden in der Regel den offiziösen Diözesanschematismen entnommen. Die »Kirchlichkeit« einer Region wurde somit weniger aufgrund des individuellen religiösen Verhaltens der Kirchenmitglieder, als vielmehr auf der Basis von deren absoluten Zahl oder der Relation des Klerus zur Gesamtzahl der Katholiken, der Anzahl der Klöster und des Regularklerus definiert. Detaillierte Daten über das individuelle religiöse Verhalten wurden im vormärzlichen Tirol nur in außerordentlichen Konkurrenzsituationen, wie etwa im Fall der Auseinandersetzung im Zillertal, erhoben. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Statistiken über den Besuch bzw. vielmehr die Ablehnung der Osterbeichte dienten jedoch vor allem dem kircheninternen Gebrauch und waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt.833 Zwar finden sich in den »Blättern« auch Daten zu Taufen oder Hochzeiten, allerdings wird das konforme religiöse Verhalten der Kirchenmitglieder schlicht vorausgesetzt und nicht weiter problematisiert. Wichtig ist vielmehr die strukturelle Stärke der katholischen Kirche, die stets im Verhältnis zu anderen Konfessionen dargestellt wurde. Die katholische Kirchenstatistik reflektierte die neue Position der Kirche in einer säkularisierten Umwelt, mithin in einer potentiellen Konkurrenzsituation zu anderen Konfessionen.834 Zwischen 1843 und 1848 veröffentlichten die »Katholischen Blätter« mehrere kirchenstatistische Originalaufsätze und übernahmen zudem eine ganze Reihe von statistischen Texten aus anderen Zeitschriften. Kein anderes Medium – sieht man von der 1840 erschienenen »Statistik des Kaiserthumes« Johann Springers ab – bot damit im habsburgischen Vormärz eine derart detaillierte Kirchenstatistik der Monarchie.835 Dabei veröffentlichten die »Blätter« keine zusammenhangslose Datenansammlungen, sondern vielmehr Statistiken, die bereits vorhandene religiöse Diskurse gleichsam materialisierten und damit mit objektiver Evidenz versahen. Zunächst zielten die aus den Daten der Diözesanschematismen zusammengestellten statistischen Originalaufsätze darauf ab, die 832 DAB, KA 1842, Fs. 32, Nr. 16, Zl. 863, Johann Duille an f.b. Ordinariat Brixen, 22. 03. 1842, hier das Zitat; ebenda, Zl. 210, f.b. Ordinariat an f.b. Seminarvorstehung, 21. 01. 1842; ebenda, Zl. 2046, Johann Duille an f.b. Ordinariat, 06. 08. 1842; ebenda, Zl. 3227, f.b. Ordinariat an f.b. Dekanalamt Innsbruck, 25. 11. 1842. 833 Zu den »Renitenten-Listen« aus dem Zillertal S. 127–132. 834 Statistische Nachrichten über die Diöcese Brixen nach dem Stande am Ende des Jahres 1842, in: Kath. Bl. 1 (1843), Beilage, S. 33–42, S. 37–39. 835 Springer, Statistik, S. 193–199, S. 328–352.
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Dominanz der katholischen Kirche in Tirol und in der Habsburgermonarchie allgemein darzustellen. Der Innsbrucker Professor der Rechtswissenschaften und des Kirchenrechts, Dr. Johann Kopatsch, beklagte in seinem umfangreichen Artikel über den »Stand der katholischen Kirche« in der Habsburgermonarchie, dass die staatlichen und militärischen Behörden bei der »Populationserhebung« die »Religionsbekenntnisse« nicht mit der gewünschten Sorgfalt berücksichtigten. Dennoch zeichnete er – wie übrigens bereits Johann Springer einige Jahre vorher, auf den er sich immer wieder stützte – eine zwar vielfältige, aber doch von der katholischen Kirche dominierte habsburgische Religionslandschaft, die in weiten Teilen der Monarchie eine Monopolstellung einnehme und sich nur in der äußersten Peripherie, in Siegenbürgen und in der »Militärgränze« »gegen die übrigen Glaubensgenossen in der Minderzahl« befinde. Die evangelischen Konfessionen, wie Kopatsch weiter betont, ließen sich verstreut zwar in zahlreichen Teilen der Monarchie finden, ihr Bestand habe aber in vielen Kronländern in den vorangegangenen Jahren stark abgenommen.836 Kurzum: Die nüchterne Anordnung von Zahlen stellte nichts anderes dar, als eine katholisch dominierte Monarchie. In ihren ersten Jahrgängen veröffentlichten die »Blätter« aber auch zahlreiche regionale Detailstatistiken, etwa zu Galizien, dem Königreich Ungarn, den Diözesen Linz, St. Pölten, Wien oder Venedig.837 Am eingehendsten beschäftigten sich die »Blätter« mit der Diözese Brixen. Bereits in ihrem ersten Erscheinungsjahr, 1843, publizierte die Innsbrucker Zeitschrift eine detailreiche kirchenstatistische Abhandlung über das Brixener Bistum, die nicht nur den Bestand des Klerus bis auf die Dekanatsebene deklinierte, die Mitgliedszahlen der Orden auflistete, die Zahl der Priester pro Seelsorgestation, pro Katholik und gar pro Quadratmeile darstellte, Geburten und Todesfälle der Katholiken und des Klerus bezifferte, sondern auch zumindest ansatzweise den Empfang der Sakramente (Taufe und Ehe) quantifizierte und die diözesanen Spenden an die Leopoldinen-Stiftung, den österreichischen Missionsverein, auflistete. Obgleich die Daten für sich schon eindrucksvoll waren – Brixen gehörte zu den Diözesen der Monarchie mit der höchsten Priesterdichte – unterstrich der Text aus836 Johann Kopatsch, Statistische Daten über den Stand der kathol. Kirche im österr. Kaiserthume vom Jahre 1842, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 553–558, S. 605–608, S. 651–656, S. 820– 824, S. 967–971, S. 995–1000, S. 554, S. 556, S. 557; Oesterreich (Statistik), Kath. Bl. 2 (1844), S. 429; Springer, Statistik, S. 352. 837 Galizien (Statistik), in: Kath. Bl 1 (1843), S. 395f.; Oesterreich (Statistik der St. Pöltner Diözese), in: ebenda, S. 413–415; Oberoesterreich (Statistik), in: ebenda, S. 521f.; Oesterreich. Statistik der Wiener Erzdiözese, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 256–258; Lombardischvenetianisches Königreich (Statistik der Diözese Venedig), in: ebenda, S. 501f.; [Joseph] Werner, Beiträge zur kirchlichen Statistik Ungarns, in: ebenda, S. 624–628, S. 832–836, S. 857–860; ders. Beiträge zur Statistik der katholischen Kirche Ungarns, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 381–384.
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drücklich den besonderen »kirchlichen Sinn« Brixens. Die hohe Priesterdichte wurde dagegen mit der zerstreuten alpinen Siedlungsstruktur und dem unwegsamen Gelände Tirols gerechtfertigt – schließlich dürften »die von der Natur so kärglich bedachten Bewohner nicht auch noch ihrer religiösen Bedürfnisse entbehren.«838 Neben der statistischen Zementierung der dominanten Katholizität Tirols und Österreichs wandten die »Blätter« nicht wenig Mühe auf, um einen globalen Aufschwung des Katholizismus und der katholischen Kirche zu belegen. Konfessionell besonders umstrittene Gebiete, wie etwa Nordamerika oder die britischen Dominions, standen dabei deutlich im Zentrum des Interesses der Innsbrucker Redaktion, die sich von der statistisch nachweisbaren Zunahme von Katholiken einen bemerkenswerten Aufschwung der »socialen und politischen Sitten« der betroffenen Länder erwartete.839 Selbst wenn keine Daten angeführt werden konnten, beschrieben die »Katholischen Blätter« eine nahezu unaufhaltsame weltweite Ausbreitung der katholischen Kirche. In den britischen Kolonien, wie ein Artikel aus dem Jahr 1844 prophezeite, werde die römische Kirche deshalb alle anderen Konfessionen, ja selbst die anglikanische Kirche bald übertreffen.840 Auch die »Katholischen Blätter aus Tirol« betrieben mit der statischen Beobachtung und Darstellung ihrer Umwelt nichts anderes als einen »ecclesiastical machismo« (C. G. Brown). Die Kirchenstatistik war dabei kein neutrales Messinstrument, sondern bestätigte und objektivierte bestimmte Diskurse: Auf die Habsburgermonarchie bezogen etwa jenen der »katholischen Großmacht« nach außen und nach innen, der die zwar kontrollierte, aber doch privilegierte Position der katholischen Kirche im vormärzlichen Staatskirchensystem legitimierte. Tirol wurde dagegen als rein katholisches Gebiet mit im internationalen Vergleich überragenden katholischen Infrastrukturen dargestellt – die »Heiligkeit« Tirols wurde damit erstmals zähl- und beobachtbar. Es ist gerade diese in Zahlen gegossene hohe Priesterdichte, die dazu verleitet hat, Tirol als »Kirchenstaat« der Habsburgermonarchie zu bezeichnen.841 Die Territoriali838 Statistische Nachrichten über die Diöcese Brixen, Zitate S. 37 und S. 41; Johann Kopatsch, Statistische Daten über den Stand der kathol. Kirche im österr. Kaiserthume vom Jahre 1842, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 608, S. 653–655. Springer, Statistik, S. 199, errechnet für das Jahr 1837 gar die Relation von 220 Katholiken auf einen Geistlichen in Tirol – allerdings sind hier auch die männlichen und weiblichen Ordensangehörigen mit eingerechnet. 839 Nordamerika, (Fortschritte), in: Kath. Bl. 1 (1843), S. 127, hier das Zitat; [Joseph] Werner, Nachrichten über die gegenwärtigen Zustände der katholischen Kirche in Mexiko, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 381–385, S. 410–412, S. 481–484; Zur kirchlichen Statistik Hollands, in: ebenda, S. 1146–1148. 840 [Joseph] Werner, Ueber die Verfassung und Disziplin der anglikanischen Kirche, in: Kath. Bl. 2 (1844), S. 1037–1046, S. 1061–1075, S. 1074f. 841 Klieber, Lebenswelten, S. 131, S. 129, mit den Daten für die Monarchie für das Jahr 1911.
Zusammenfassung
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sierung der Katholizität Tirols, wie sie ebenfalls in den »Blättern« stattfand, erhielt dadurch jedenfalls weitere Unterstützung und Evidenz. Die Kirchenstatistik lässt sich somit als mediale Beobachtungsform der religiösen Umwelt verstehen, die religiöse Selbstbeschreibungen unterstützte und weiterentwickelte, den Lesern und Leserinnen aber erstmals auch ferne, in Zahlen gegossene religiöse Landschaften zugänglich machte. Wichtig ist die Verbindung der Kirchenstatistik zu den Semantiken, aus denen sie entstand und für die sie selbst wiederum argumentative Beweise bereitstellte. Die raumbezogene Semantik der »Glaubenseinheit« macht beispielsweise nur Sinn, wenn sie auch statistisch messbar wird – andersrum diente diese quantifizierte Monokonfessionalität Tirols 1848 als Grundlage der politischen Argumentation für den »Erhalt« der »Glaubenseinheit«. Die Kirchenstatistik der »Blätter« stellte somit keine Wirklichkeiten dar, sie schuf vielmehr neue.
5.3. Zusammenfassung Die »Katholischen Blätter aus Tirol« bewirkten – auch auf der Basis von statistischen Darstellungen – nach 1843 einen Transfer konfessionalistischer Diskurse, die im deutschsprachigen Tirol adaptiert und an die Bedingungen einer monokonfessionellen regionalen Gesellschaft angepasst wurden. Die angesprochenen Beispiele belegen die Wirkmächtigkeit von Medien für die religiöse Kommunikation, vor allem aber auch, dass konfessionelle Konflikte nicht nur mehrkonfessionelle Gesellschaften belasteten, sondern sich eben auch in monokonfessionellen Territorien entfalten konnten. Dieser Aspekt und der Transfer konfessionalistischer Konflikte bzw. von Wissen über konfessionalistische Wirklichkeiten wurden in der einschlägigen Forschung der letzten Jahre, vor allem in der Diskussion um ein »Zweites Konfessionelles Zeitalter« weitgehend ausgeblendet und der Fokus stattdessen ausschließlich auf mehrkonfessionelle Gesellschaften gelegt.842 Gerade die religiöse Publizistik des 19. Jahrhunderts als transnationaler Akteur, selbst unter den restriktiven Bedingungen des Vormärz, erhob religiöse 842 Blaschke, Konfessionelles Zeitalter; Schulze Wessel, Thesen; Kretschmann/Pahl, Zeitalter; Steinhoff, Zeitalter, sowie zuletzt Müller, Aufklärung. Selbst Altgeld, Katholizismus und Schnabel, Die religiösen Kräfte und erneut Blaschke, Säkularisierung, S. 449, nehmen eine vornehmlich »kleindeutsche« Perspektive ein. Auch Heilbronner, Ghetto, S. 468, bezweifelt, dass zwischenkonfessionelle Beziehungen in monokonfessionellen Räumen zur Bildung katholischer Ghetto-Vergesellschaftungen beitrugen. Mergel, Grenzen, S. 93, weist, wiewohl zwischenkonfessionelle Konflikte vor allem in mehrkonfessionelle Räume verortend, darauf hin, dass diese nicht »naturwüchsig« auftauchten, sondern als »Reaktion auf zunehmende Interkommunikation zwischen Konfessionen« zu deuten seien.
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bzw. konfessionelle Grenzziehungen zu gesamteuropäischen bzw. zu globalen Phänomenen, worauf vor allem die Missionsforschung in den letzten Jahren in eindrucksvoller Weise aufmerksam gemacht hat – eine nationalstaatliche Heuristik greift hier jedenfalls zu kurz.843 Festzuhalten ist an dieser Stelle auch – und dies hängt ebenfalls mit medialen Transfers zusammen – dass sich der medialisierte Katholizismus Tirols in erster Linie von den protestantisch-christlichen Konfessionen abgrenzte. Das Judentum und auch die ostkirchlichen, orthodoxen Konfessionen blieben unterbelichtet im Hintergrund.844 Das Beispiel Tirol zeigt außerdem, wie sehr der regionalgeschichtliche Zugriff, einem Brennglas gleich, transnationale Diskurse sichtbar und beschreibbar macht.845 Der konfessionelle Konflikt schien im deutschsprachigen Landesteil kurz vor dem Ausbruch der Revolution 1848 letztgültig und derart dominant, dass sich selbst der dem Ultramontanismus keineswegs abgeneigte, konservative Landesgouverneur Clemens von Brandis gezwungen sah, bei Fürstbischof Galura schriftlich zu intervenieren. Anfang März 1848 bat er den Kirchenfürsten, auf seinen subalternen Klerus einzuwirken und den »protestantischen Brüdern« die Hand zu reichen. Dies erforderten die Zeitumstände, zumal die »Gefahren, die von Frankreich ausgehen«, alle Konfessionen bedrohten.846 Der Gouverneur vermochte freilich den Tiroler Antiprotestantismus kaum mehr zu bändigen, vielmehr verfestigte sich in den nachfolgenden Revolutionswochen die räumliche und konfessionelle Gleichsetzung »tirolisch = katholisch«, die künftighin die katholische Selbstbeschreibung und die Landespolitik Tirols dominieren sollte. Die »Katholischen Blätter« zogen indes nicht nur zwischenkonfessionelle Grenzen, sondern auch binnenkatholische. Der italienischsprachige Katholizismus Tirols blieb von der Medialisierung und ihren Auswirkungen weitgehend unberührt. Im südlichen Tirol gingen die Katholizismen andere Wege, entwickelten andere Selbstbeschreibungen und kommunizierten über andere Medien. Die »Blätter« begründeten somit eine publizistische Tradition im deutschen Katholizismus Tirols, die wenige Jahre später, 1848, mit der Gründung von zwei katholischen Tageszeitungen einen ersten Höhepunkt erlangte und ab den 1860ern Jahren in eine dominante Stellung im regionalen Medienmarkt mündete, dessen Erbe insbesondere in der italienischen Provinz Bozen-Südtirol bis heute erheblich nachwirkt.847 Während der deutschsprachige Katholizismus Tirols einen publizistisch bedeutsamen Anschluss an überregionale und europäische Kommunikationszu843 844 845 846 847
Luginbühl, Konstruktion; Juneja, Mission; Habermas, Mission. Als Ausnahme: Galizien (Statistik), in: Kath.Bl 1 (1843), S. 395. Mergel, Milieu; De Rosa, Storia. DAB, Ka 1848, Fs. 55, Nr. 3, Zl. 630, Clemens von Brandis an Bernard Galura, 06. 03. 1848. Cole, Gott, Kaiser, Vaterland, S. 185–194; Hillebrand, Medienmacht.
Zusammenfassung
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sammenhänge fand und innovative mediale Impulse setzte, benötigten die italienischsprachigen Katholiken Tirols weitere 20 Jahre, bis Ende 1863 die erste kirchennahe Zeitung ins Leben gerufen werden konnnte. Man sollte darin allerdings keine »Verspätung« sehen, vielmehr liegen die Gründe für diese innertirolische mediale Ungleichzeitigkeit des Katholischen in den unterschiedlichen Strukturen und politischen Ausrichtungen der Katholizismen – bis in die 1860er Jahre benötigte man im italienischen Tirol schlicht kein katholisches Presseorgan. Liberal-katholische Positionen blieben hier bis in die 1850er Jahre im Klerus wie unter den Laien dominant und konnten sich auch deshalb der vorhandenen Medien, wie etwa des Roveretaner »Messaggiere«, des »Giornale agrario« oder der Roveretaner »Accademia«, relativ problemlos bedienen. Erst die italienische Einigung 1861 und die von ihr ausgelöste römische Frage entzweiten den Trentiner Katholizismus in eine liberal-risorgimentale und in eine konservativ-intransigente Fraktion, was eine parteiische katholische Presse erforderlich machte.848 Die »kommunikative Entkoppelung« der Tiroler Landesteile setzte damit jedoch nicht erst 1848, wie Hans Heiss und Thomas Götz argumentieren, sondern spätestens mit der Medialisierung des deutschsprachigen Katholizismus ab 1843 ein.849 Nicht die Diözesangrenzen, sondern die Grenzen der medialen Rezeption – die sich mit den Sprachgrenzen weitgehend deckten – verhinderten die Ausbildung eines gesamttirolischen katholischen Kommunikations- und Interaktionsraumes. Freilich wurde dies erst einige Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen der »Blätter«, im Revolutionsjahr 1848, in aller Deutlichkeit sichtbar.
848 Kap. 6.; Kap 8.; Kap. 9.2.; Odorizzi, Vicari; Huber, Intransigentismo, S. 71–81; Zieger, Stampa, S. 35–53. 849 Heiss/Götz, Revolution, S. 177–182; Götz, Bürgertum, S. 117–238.
6.
Ersatzöffentlichkeiten: Religiöse Kommunikation im Trentino
Während sich im deutschsprachigen Tirol nach 1843 erstmals eine dauerhafte religiöse Öffentlichkeit auszubilden begann, blieben im italienischsprachigen Teil des Kronlandes mit dem Scheitern des Zeitungsprojektes »Raccoglitore Religioso« die Bedingungen religiöser Kommunikation weiterhin begrenzt und situativ. Dennoch sind kategorische Verdikte wie jene von Antonio Zieger, der die vormärzliche Zeitungslandschaft im italienischen Tirol als »non […] altro che un’accozzaglia di brani svariati, senza commento alcuno e senza nessuna valutazione reale delle condizioni politiche del tempo«850 beschrieb, kurzsichtig und vor allem aus der Perspektive der Medienrevolution von 1848 verfasst.851 Denn zunächst gilt: Die Voraussetzungen für die Gründung einer Zeitschrift waren im italienischsprachigen Teil des Kronlandes alles andere als günstig. An der Grenze zu den norditalienischen publizistischen Hochburgen Mailand, Verona, Padua und Venedig sowie dem deutschen Sprachraum gelegen, reduzierte sich der potentielle Absatzmarkt für publizistische Unternehmungen auf ein sehr enges regionales Umfeld.852 Wie im restlichen italienischen Kulturraum verhinderte zudem auch im Trentino die staatliche Pressepolitik die Ausbildung einer medialen Öffentlichkeit: Die staatliche Zensur schränkte das Sag- und Druckbare von vorneherein massiv ein; die aktive Medienarbeit des Staates, in Form von privilegierten bzw. subventionierten Zeitungen und Zeitschriften, wie etwa den offiziösen Gazzetten in Rovereto, Mailand oder in Venedig, aber auch durch die Subventionierung vorderhand »freier« Blätter wie etwa der »Biblioteca Italiana«, führte zeitweise zu einer staatlichen Monopolstellung auf dem Medi-
850 »nichts anderes als ein Sammelsurium verschiedenartiger Texte, ohne jeglichen Kommentar und ohne wirkliche Analyse der politischen Zustände der Zeit.« 851 Zieger, Giornalismo, S. 37; I. Perconi [Pseudonym], Wie die Freiheit in Trient erschienen und wie sie zu Grabe getragen worden, in: Wiener Charivari Nr. 67, 05. 09. 1848, S. 264: »unser Proveretaner-Bote [!], der seit den 34 Jahren seines Bestehens nie einen selbstständigen Laut von sich gegeben hatte.« 852 Allegri, Produzione, S. 342.
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Ersatzöffentlichkeiten: Religiöse Kommunikation im Trentino
enmarkt, denen gegenüber unabhängige Zeitungsprojekte, wenn sie denn zugelassen wurden, oft kaum konkurrenzfähig waren.853 Trotz dieser auf den ersten Blick ungünstigen Grundvoraussetzungen etablierte sich im vormärzlichen Trentino eine überraschend vitale Medienlandschaft, getragen von einer überschaubaren, dafür aber höchst umtriebigen Gruppe journalistisch aktiver Intellektueller. Zwar wurde der permanente öffentliche Austausch über Politik, Gesellschaft und Religion damit nicht kompensiert, immerhin aber Teilöffentlichkeiten geschaffen, in denen sich religiöse Kommunikation regelmäßig verdichtete. Man kann hier von Ersatzöffentlichkeiten und von Ersatzmedien sprechen, die sich überall dort ausbildeten, wo der vormärzliche Staat seine Arkanbereiche, also sich selbst und seine Verwaltung, Politik, Religion und Nation, nicht bedrängt bzw. problematisiert sah.854 Als von der Zensur relativ unbehelligte Kommunikationsräume dienten in den 1830er und 1840er Jahren vor allem die Literatur und wissenschaftliche, wirtschaftliche und technische Diskursfelder.855 So wurden im vormärzlichen Trentino – neben dem erwähnten, gescheiterten Projekt einer religiösen Zeitschrift – mehrfach Projekte für literarische Unternehmungen und Vereine formuliert: 1824/25 versuchte es Antonio Rosmini mit einer gesamttrentinischen literarischen Sozietät, 1835 dann Francesco Antonio Marsilli, Andrea Maffei und Tommaso Gar und schließlich 1837 Agostino Perini mit literarischen Zeitschriften.856 Diese in rascher Abfolge nach dem Vorbild von Giovan Pietro Vieusseux’ »Antologia«857 formulierten Projekte zeigen, wie sehr gerade der Auseinandersetzung mit der Literatur auch eine regional gemeinschaftsbildende Funktion zugeschrieben wurde. Besonders deutlich geht dies aus dem bekanntesten dieser Projekte hervor, der von Francesco Antonio Marsilli und anderen 1834/35 lancierten »L’Italia e la Germania«: Die Zeitschrift sollte einerseits, wie Marsilli Gioseffo Pinamonti brieflich darlegte, die Trentiner letteratura patria, aber auch die deutschsprachige Literatur im italienischen Sprachraum bekannt machen. Umgekehrt sollte die Unternehmung italienischen Literaten als Brücke in den deutschen Kulturraum dienen. Die trentinische Zwischenlage zwischen Italien und Deutschland sollte somit als Basis für eine übernationale literarische Kommunikationsplattform dienen, die jedoch entschieden regional verankert 853 Murialdi, Storia, S. 35–45; Villa, Restaurazione; Galante Garrone, Giornali; Boaglio, Pressewesen. 854 Herminghouse, Literature; Requate, Öffentlichkeit. 855 Murialdi, Storia, S. 35; Villa, Restaurazione, S. 90–97, S. 112–116. 856 Valle, Societ/ letteraria; Farina, Rosmini, S. 26f.; Bonazza, Marsilli, S. 177f.; Allegri, Produzione, S. 344; Faustini, Giornalismo, S. 419; Zieger, Giornalismo, S. 46f.; Bonora de Altamer, Messaggero, S. 9f. 857 Die in Florenz zwischen 1821 und 1833 herausgegebene Zeitschrift bildete für über ein Dezennium das kulturelle Zentrum Italiens. Galante Garrone, Restaurazione, S. 114– 131; Allegri, Produzione, S. 346.
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und als Element der regionalen Identitätsstiftung gedacht war. So sollte eine Sektion der geplanten Zeitschrift zur italienischen Grammatik dazu beitragen, »di mantenere pura la vera lingua italiana«.858 Die gemeinschaftliche literarische Aktion aller Intellektuellen des Trentino, wie sie Marsilli vorsah, zielte in erster Linie darauf ab, das Niveau der regionalen italienischsprachigen Literatur insgesamt zu heben und bestmöglich zu verbreiten. Das ambitionierte Projekt Marsillis sah tatsächlich die Mitarbeit aller namhaften italienischsprachigen Wissenschaftler und Literaten Tirols, wie etwa Benedetto Giovanelli, Antonio Mazzetti, Paride Zajotti, Andrea Maffei bis hin zu Antonio Rosmini oder Francesco Fillos, vor. »Amore patrio« verpflichte jeden Trentiner Schriftsteller, so Marsilli resümierend, an diesem Projekt mitzuwirken.859 Auch wenn das Projekt offenbar an den munizipalistischen Rivalitäten zwischen den beiden urbanen Zentren Trient und Rovereto scheiterte, zeigt es doch das übernationale, aber regional verwurzelte Selbstverständnis eines Großteils der Trentiner intellektuellen Elite, gleichsam an einer Grenze zu leben und zu wirken. Dies zeigt sich auch am zweisprachigen Zeitungsprojekt »Il Pellegrino«, das der Trentiner Nicola Negrelli 1837 in Wien zu realisieren suchte, sowie an der Mitarbeit zahlreicher Literaten aus dem italienischen Tirol an Giovanni Battista Bolzas »Rivista Viennese« (1838–1840). Darüber hinaus gehörten herausragende Trentiner Intellektuelle wie der Literat, Übersetzer, Bibliothekar, Historiker und Politiker Tommaso Gar, der in Verbindung mit Wilhelm von Giesebrecht, Alfred von Reumont oder Ferdinand Gregorovius stand, in deutschen und italienischen Zeitungen publizierte, am »Archivio Storico Italiano« mitwirkte und deutsche wissenschaftliche Methoden der Historik und Bibliothekenlehre in Italien einführte, zu den wichtigsten Agenten des deutsch-italienischen Kulturtransfers.860 Das literarisch-patriotische Engagement dieser Elite konzentrierte sich schließlich auf den seit 1823 erscheinenden »Appendice« des offiziösen »Messaggiere Tirolese«, dessen Redakteur ab 1834 der umtriebige Kaufmann und Literat Marsilli war.861 Die Beschäftigung mit Literatur kompensierte gesellschaftliche, politische und nationale Debatten, die durch die medialen Bedingungen des Vormärz verhindert wurden.862 Ähnlich wie die »Antologia« Vieu858 »die wahre italienische Sprache rein zu erhalten.«; APT, Archivio Thun, D 33.3 (10), Agostino Perini an Gioseffo Pinamonti, [undatiert, 1837]. 859 APT, Archivio Thun, D. 30.3 (9), Francesco Antonio Marsilli an Gioseffo Pinamonti, 02. 04. 1835, hier das Zitat; AAA, 1056.27, Tommaso Gar an Francesco Antonio Marsilli, 23. 01. 1835; Zieger, Giornalismo, S. 47–49. 860 Allegri, Produzione, S. 344, S. 348f.; Ganda, Tommaso Gar ; Boaglio, Italienische Sprache. 861 Bonazza, Marsilli; Allegri, Giornale, S. 474–483. 862 Rasi, Romanticismo.
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sseux’, obgleich namhafte katholische Schriftsteller, wie etwa Gino Capponi, an ihr mitwirkten, stellte auch der Roveretaner »Messaggiere« zunächst kaum Reflexionen über die Religion an und vor allem nur selten Verbindungen zwischen dem Katholizismus und der Nation her.863 Erst im Biennium 1846/1847 wurde die Zeitung von der neoguelfischen Euphorie um den vermeintlich liberalen Papst Pius IX. erfasst und exponierte sich mitunter deutlich in diese Richtung.864 Bis dahin schlugen die »Appendici« bestenfalls einen sanften nationalen Ton an: Zwar widmeten sie ihre Aufmerksamkeit vornehmlich der italienischen Halbinsel, durch die regelmäßige Berichterstattung über die italienischen Wissenschaftskongresse und die Diskussion wichtiger risorgimentaler Autoren wie Rosmini, Pellico oder Manzoni ermöglichten sie die Beobachtung der italienischen politischen Öffentlichkeit. Da sie jedoch in einem subventionierten, offiziösen Blatt im Dienst des Staates erschienen, blieben ihre Margen der politischen und religiösen Selbstreflexion indes sehr begrenzt.865 Die Bedeutung des »Messaggiere« lag vielmehr darin, die vormärzlichen Ersatzöffentlichkeiten des italienischsprachigen Tirol verbunden und ihnen dadurch regelmäßig weitere öffentliche Sichtbarkeit ermöglicht zu haben.866 Der »Accademia degli Agiati« wie auch den Mitgliedern der »Societ/ Agraria«, auf die im Folgenden näher eingegangen wird, boten sich im Laufe des Vormärz tatsächlich immer wieder Möglichkeiten, Artikel in den »Appendici« unterzubringen. Neben den unregelmäßig publizierten »Atti« der Akademie wurden immer wieder akademische Vorträge, die mitunter nicht als solche ausgewiesen waren, oder sonstige Texte aus dem Umfeld der »Accademia« oder der »Societ/« veröffentlicht.867 Die offiziöse Zeitung war jedoch nicht nur ein mediales Scharnier, sondern diente auch als mediales Erprobungsfeld: Die meisten der führenden Politiker und Publizisten, die nach 1848 offen für eine politische bzw. administrative Unabhängigkeit des italienischen Tirol fochten, unternahmen ihre ersten publizistischen Gehversuche im »Messaggiere«. Ein vom Staat gefördertes Organ bildete mithin dessen politische Opposition aus – auch dies war eine Paradoxie des Vormärz.868 Einen wirklichen, weitgehend staatsfreien Raum für religiöse Kommunikation bot indes der ab 1840 in Trient erscheinende »Giornale agrario«.869 Das von 863 Sacra Eloquenza, MT Nr. 15, 01. 05. 1841, S. 1f.; Wolfzettel/Ihring, Katholizismus, S. 402. 864 Kap. 8. 865 Bonora de Altamer, Messaggero, S. 11; Allegri, Giornale, S. 463–468; Zieger, Giornalismo, S. 30–43. 866 Requeate, Öffentlichkeit, S. 14f. 867 Del Classicismo e del Romanticismo. Ragionamento Accademico, MT Nr. 16, 22. 02. 1840, S. 1–3; Nr. 17, 26. 02. 1840, S. 1–3; Nr. 18, 29. 02. 1840, S. 1–3; Nr. 19, 04. 03. 1840, S. 1–3; Giovanni Bertanza, Un rito ed una consuetudine, MT Nr. 26, 31. 03. 1841, S. 1–4. 868 Bonora de Altamer, Messaggero, S. 11–20. 869 Götz, Bürgertum, S. 100f., Anm. 281.
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Agostino Perini, Francesco Antonio Marsilli und vor allem von Gioseffo Pinamonti redigierte Organ der 1839 gegründeten »Societ/ Agraria« – eigentlich »Consorzio filiale dei distretti italiani dell’Imperial Regia Societ/ Agraria Tirolese« – widmete sich zunächst vor allem technischen und ökonomischen Problemen der Landwirtschaft. Wie vergleichbare italienische Einrichtungen bzw. Zeitschriften, die zwar über keine politische, wohl aber über eine wirtschaftlich-statistische Einigung Italiens debattierten, verfolgte auch die Trentiner agrarische Sozietät implizit einen genuin nationalen, risorgimentalen Praxisbezug. Sie konstruierte in unzähligen statistischen Abhandlungen, klimatischen Messungen und agrarischen Problemerörterungen einen einheitlichen trentinischen Raum, der sich vom deutschsprachigen Tirol klar abgrenzte. Medial schuf sie eine Anbindung an Italien, indem sie Nachrichten aus anderen italienischen Agrarzeitungen wiedergab, von den nationalen italienischen Wissenschaftskongressen berichtete und 1846 und 1847 offizielle Deputierte dorthin entsandte.870 Sein eigenes politisch-religiöses Programm fortführend, sorgte der Redakteur der Zeitung, Gioseffo Pinamonti, dafür, dass dieser technisch-wirtschaftliche Fortschrittsdiskurs nicht nur eine bestmögliche Verbreitung, sondern auch einen Anschluss an den liberalen Katholizismus fand.871 Die »Accademia degli Agiati« in Rovereto entwickelte sich zu einer weiteren Instanz der öffentlichen religiösen Kommunikation. Die 1750 gegründete Gelehrtenakademie – die älteste der Habsburgermonarchie – war in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens eines der wichtigsten Zentren der italienischen Aufklärung und wirkte als bedeutsame kulturelle Vermittlungsagentur zwischen Italien und Deutschland. Das Interesse der »Agiati« an der deutschsprachigen Kultur war nicht nur der kaiserlichen Protektion, die 1752 erfolgte, geschuldet, sondern entsprach vielmehr dem Selbstverständnis führender »soci«, wie etwa Giuseppe Valeriano Vannetti und der Akademie allgemein, einen Vermittlungsauftrag zwischen Nord und Süd wahrzunehmen. Wie vor allem Reinhard Stauber überzeugend dargelegt hat, war diese übernationale, bikulturelle Grunddisposition der Akademie (im 18. Jahrhundert waren zeitweise bis zu 50 Prozent der Mitglieder deutschsprachiger Herkunft) durchaus mit einem ab den 1770er Jahren markanter hervortretenden kulturellen Zugehörigkeitsbewusstsein zu Italien kompatibel. In historischen Studien, aber auch in linguistischen Abhandlungen begründeten die »Agiati« die Italianit/ des italienischen Tirol mit der nachhaltig wirkenden Differenz zwischen »Natur« und »Politik«: Während das Gebiet um Rovereto »per natura« Italien angehöre, sei es lediglich aus politischen, mithin kontingenten Gründen Teil der Grafschaft Tirol und damit des 870 Villa, Restaurazione, S. 112f., S. 129f.; Leonardi, Societ/ Agrarie, S. 7–20; Corsini, Trentino, S. 318–322; Zaninelli, Agricoltura, S. 104f. 871 Kap. 4.; Zieger, Giornalismo, S. 47.
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Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.872 Der aufgeklärte, kosmopolitische Impetus der »Agiati« ging in den napoleonischen Kriegen und den politischen Umwälzungen um 1800 weitgehend verloren: Nach ihrer Neugründung 1812 konnte die Gelehrtengemeinschaft im Vormärz nicht mehr an ihre frühere Blütezeit anschließen und zog sich in einen weitgehend regionalen Aktions- und Wahrnehmungsradius zurück. Entscheidend ist jedoch, dass dieser zweite Lebensabschnitt der Roveretaner Akademie maßgeblich von katholischen Geistlichen geprägt war und Rovereto sich, stärker als der Bischofssitz Trient, zu einem regionalen Zentrum des intellektuellen Austauschs über die Funktion der Religion in der Moderne etablierte.873 Die kommunikativen Bedingungen des Vormärz wirkten sich in Tirol somit unterschiedlich aus: Während im deutschsprachigen Teil des Kronlandes die Medialisierung der Religion durch das Medium der katholischen Zeitschrift feste Züge erhielt und sich eine von Raum und Zeit unabhängige religiöse Öffentlichkeit ausbildete, entwickelten sich im südlichen, italienischsprachigen Tirol dezentral und in unterschiedlicher Medialität mehrere Möglichkeiten, um von der staatlichen Kontrolle relativ unabhängig über Religion zu kommunizieren. Die Roveretaner Akademie in ihren regelmäßigen Sitzungen und in ihren Veröffentlichungen und die »Societ/ Agraria« mit ihrem Organ, dem »Giornale agrario«, boten – und das ist entscheidend – den Raum, um auch jenseits der kirchlichen Hierarchie religiöse Fragen zu problematisieren. Durch die regelrechte Blockierung der projektierten kirchlichen Zeitschrift durch die Trienter Kurie trat ausgerechnet das ein, was diese repressive Maßnahme eben verhindern sollte: Der Verlust der kirchlichen Deutungshoheit über Religion im öffentlichen Raum. Damit kreuzten sich die getrennten Wege der medialen Strukturen der religiösen Kommunikation im südlichen und im nördlichen Tirol erneut. Im deutschsprachigen wie im italienischsprachigen Landesteil war religiöse Kommunikation nicht mehr ausschließlicher Gegenstand kirchlicher Institutionen.
872 Stauber, Diskurs; ders., Zentralstaat, S. 408–425. 873 Bonazza, Accademia, S. 69f.; Stauber, Zentralstaat, S. 387–408.
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6.1. »Or chi dunque siam noi?«874 Gelehrter Austausch und neoguelfische Selbstfindung an der »Accademia degli Agiati« in Rovereto »E per verit/ la sapienza dei nostri statuti in fino dai primi paragrafi ci avverte, che gli studj di patria istoria debbono essere la prima nostra occupazione. E per me, felice in questa importante quistione, a me pure far udir la mia voce, che onde del bene patrio si tratta, correr/ sempre debole s', ma volonterosa a’ consigli, lo dirk certo, che l’Accademia nostra non debba in cik allontanarsi dalla sapienza de’ suoi statuti, e godo poter ripettere questo […] desiderio alla presenza di tale autorevole personaggio, che non ha guari, in questo luogo medesimo, agli studi di patria istoria, con sapiente ragionamento, ci consigliava, e a suoi cultori imprometteva l’alto e valente suo patroncinio.«875
Die von Francesco Antonio Marsilli 1848 verfasste Rückschau auf die vormärzliche Entwicklung der Roveretaner Akademie lässt die radikale Neuausrichtung der Gelehrtenversammlung nach 1812 in aller Deutlichkeit hervortreten. Nicht mehr aufgeklärter Kosmopolitismus und Offenheit gegenüber dem deutschen Kulturraum, sondern die konzertierte Ergründung und Deutung ihrer regionalen Vergangenheit seien die statutarisch untermauerten Kernaufgaben der Akademie. Die mehrfache Erwähnung der Statuten und des »autorevole personaggio« waren nicht zufällig: Die Neuausrichtung der Akademie nach 1812 war vom wohl bedeutendsten Trentiner Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Antonio Rosmini, maßgeblich beeinflusst.876 Zuvor erfolgte jedoch ein tiefgreifender Bruch. Der akademische Glanz der ersten Jahrzehnte, geprägt von den internationalen Kontakten und der transnationalen Ausrichtung der Akademie, von den literarischen Verflechtungen und Auseinandersetzungen mit Geistesgrößen von europäischer Statur, von den zeitweise über 500 Mitgliedern aus den verschiedensten europäischen und gar außereuropäischen Ländern, die die Kleinstadt Rovereto zu einem kulturellen Zentrum durchaus europäischen Ranges machten, war zu Beginn des 19. Jahr874 »Ach, wer sind wir nun?« AAA, 158.1, Giovanni Bertanza, Unione della poesia con la storia e vero patriottismo, 06. 04. 1845, S. 2f. 875 »Und tatsächlich erinnern uns unsere Statuten bereits in ihren ersten Paragraphen daran, dass die Erforschung der vaterländischen Geschichte unsere erste Beschäftigung sein muss. Und ich, glücklich in dieser wichtigen Angelegenheit beteiligt zu sein, werde, wenn es dem Wohl des Vaterlandes gereicht, stets meine schwache Stimme erheben. Ich sage es mit Bestimmtheit, folgen wir dem Ratschlag, dass sich unsere Akademie darin nicht von der Weisheit ihrer Statuten entfernen dürfe, und es freut mich ganz besonders, diesen Wunsch in der Anwesenheit dieser angesehenen Persönlichkeit wiederholen zu dürfen, die ihresgleichen in dieser Versammlung nicht kennt und die uns in weiser Überlegung das Studium der vaterländischen Geschichte auftrug und deren Förderern ihre hohe und vortreffliche Schirmherrschaft zusagte.« AAA, 1065.1, Francesco Antonio Marsilli, Del principio e del progresso della Accademia, dissertazione non letta, [1848]. 876 Farina, Rosmini; Dossi, Strosio; Accademia Rovertana degli Agiati [Hrsg.], Rosmini.
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hunderts verblasst.877 Nach dem Tod mehrerer führender »Agiati« und vor allem des permanenten Sekretärs und Sohnes des Mitbegründers der Akademie, Clementino Vannetti, war die kulturelle Aktivität der Akademie nahezu vollständig erlahmt. Wie Marcello Bonazza betont, waren es weniger die unruhigen napoleonischen Jahre, die die Akademie zum Erliegen brachten, sondern vielmehr die Konzentration der gesamten akademischen Tätigkeiten und Inhalte auf Vannetti, dessen Tod somit eine irreparable Lücke aufriss.878 Als der Roveretaner Vizepräfekt des napoleonischen Regno d’Italia, Pietro Perolari Malmignati da Lendinara, 1811 die einstmals so stolze Einrichtung aus ihrem »stato letargico« erwecken wollte, fanden sich gerade noch vier lebende Mitglieder der alten Akademie. Am 8. Januar 1812 erfolgte die Neugründung in Form einer staatlich stark bevormundeten Rumpfgesellschaft, der die Behandlung religiöser Gegenstände ausdrücklich untersagt war, obwohl die wichtigsten Ämter von Geistlichen bekleidet wurden: Der Roveretaner Erzpriester Giacomo Tabarelli wurde zum Präsidenten gewählt, Carlo Tacchi zum Sekretär, Carlo Pederzani und der Rechtsanwalt Girolamo Haim dienten als Zensoren, Costantino Lorenzi und Giacomo Pizzini figurierten als einfache Mitglieder. Mit der Eingliederung Roveretos in den habsburgischen Herrschaftsverband nach 1814 erwirkte die Gesellschaft die Bestätigung ihrer alten Form, ihres Statuts und der akademischen Freiheiten.879 Unter den ersten ordentlichen Mitgliedern der »neuen« Akademie befand sich bereits Antonio Rosmini, der 1813, kaum sechzehnjährig, aufgenommen wurde und die strukturelle und inhaltliche Ausrichtung der Gelehrtenvereinigung nachhaltig prägen sollte.880 1823 regte der mittlerweile zum Priester geweihte Rosmini die Reformulierung der Statuten von 1750 an, die seiner Ansicht nach den Zeitumständen nicht mehr genügten. Blickt man auf das in seinen wesentlichen Zügen von ihm verfasste Elaborat, so treten das Selbstverständnis und die neue Schwerpunktsetzung der Roveretaner Gesellschaft deutlich hervor: »L’Accademia ne’ suoi fini riguarda o gli studi, o la patria, o gli Accademici stessi; gli studi per promuoverli, la patria per illustrarla, gli Accademici colla comunicazione de’ lumi vie piF dotti« – die regionale, nachgerade selbstreferenzielle Neupositionierung der Akademie wird bereits mit dem ersten Artikel Rosminis unverkennbar begründet.881 Diese neue 877 Dies wurde in den Jahrzehnten nach 1834 mehrfach beklagt, siehe etwa die Rede des Sekretärs Don Valerio Giuseppe Fontana am 10. 01. 1834, abgedruckt in Memorie, S. 46f. 878 Bonazza, Accademia, S. 26. 879 »lethargischen Zustand«; AAA, 663, Catalogo Soci, S. 102; Bonazza, Accademia, S. 27–29; Farina, Rosmini, S. 16–18. 880 Farina, Rosmini, S. 18–23. 881 »Die Akademie beschäftigt sich mit dem wissenschaftlichen Studium, mit dem Vaterland und mit ihren Mitgliedern: Mit den wissenschaftlichen Studien, um sie zu fördern, mit dem Vaterland, um es zu veranschaulichen, mit ihren Mitgliedern, um ihnen die gelehrtesten Wissenschaften zugänglich zu machen.« Paoli, Statuti, S. 26.
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Grundausrichtung der Akademie brachte ihr Präsident, Giuseppe Telani, am 10. Januar 1823, noch bevor die neuen Statuten in Kraft getreten waren, voller Pathos auf den Punkt: »Fra le molte utili cose, che potrebbero essere presentate argomento delle nostre letterarie occupazioni, quella per mio avviso, di illustrare la storia, e particolarmente l’istoria letteraria di questa patria, di cui siamo cittadini […], meriterebbe forse sopra di ogni altra la preferenza. Vantano presso che tutte le italiane Citt/ l’istoria della loro letteratura, la citt/ nostra al contrario non puk ancora mostrarla.«882
Die im 18. Jahrhundert noch umständlich begründete Differenzierung zwischen italienischen und deutschen Tirolern durch die Codierung Politik/Natur ist in Telanis Grundsatzrede nunmehr eine Selbstverständlichkeit, ja es scheint ihm nachgerade ein Gebot, sich in erster Linie mit der »natürlichen« patria zu beschäftigen. Die religionsphilosophische Berufung Rosminis und die klerikale Zusammensetzung der Führungsriege der Akademie waren wohl auch verantwortlich für den hohen Stellenwert, der der Religion innerhalb des akademischen Austausches zugeschrieben wurde: Die Akademie legte sich statutarisch auf jene Inhalte fest, »che tendono a stabilire maggiormente la Religione e la Giustizia pubblica cioH il rispetto al Sovrano« – naturwissenschaftlich-praktische, literarische und linguistische Themen nahmen nunmehr einen nachgeordneten Rang ein.883 Die prominente Stellung, in die Rosmini die Religion im statutarischen Gerüst der Akademie rückte, entsprach auf den ersten Blick ganz der staatstragenden Funktion, die sie bzw. die Kirchen im postrevolutionären Europa einnahmen. Religiöse Fragen etablierten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts tatsächlich zu zentralen Themen der akademischen Auseinandersetzung, die aber keinesfalls staatskirchenrechtliche Axiome rezitierte, sondern vielmehr liberalkatholische Positionen auslotete und selbst kirchlichen Positionen mitunter kritisch entgegentrat. Neben dieser inhaltlichen Festschreibung nahmen die neuen Statuten im Vergleich zu den »costituzioni« von 1750 vor allem eine Bürokratisierung der 882 »Von den vielen Gegenständen unserer literarischen Beschäftigung, ist es meines Erachtens die Veranschaulichung der Geschichte, und insbesondere die Literaturgeschichte unseres Vaterlandes, dessen Bürger wir sind, die die größte Aufmerksamkeit verdiente. Nahezu alle Städte Italiens erfreuen sich einer Geschichte ihres literarischen Schaffens, unsere Stadt dagegen kann eine solche noch nicht vorweisen.« Memorie, S. 42f., Zitat S. 42. Zu Telani, der von 1824–1826 und von 1830–1845 die Präsidentschaft innehatte, ebenda, S. 530; Bonazza [Hrsg.], Inventario, S. 626; Clemens, Regionalgeschichte, S. 59–69; Vettori, Accademia; Romagnani, Eruditi. 883 »die darauf abzielen, die Religion und das öffentliche Recht, also die Ehrfurcht vor dem Monarchen zu festigen.« Postinger, Costituzioni, S. 110–114; Paoli, Statuti, S. 26–40, das Zitat auf S. 27; Memorie, S. 14–17.
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Akademie vor : Die Aufgaben, Pflichten und Rechte der einzelnen Ämter bis hin zur ordentlichen oder korrespondierenden Mitgliedschaft wurden detailliert dargelegt, die Regelmäßigkeit und gar die Dauer der »tornate«, also der Zusammentreffen der »Agiati«, akkurat festgelegt. Mindestens fünfmal jährlich sollte die Akademie zusammentreten, um die »dissertazioni«, also die eingesandten bzw. persönlich vorgetragenen wissenschaftlichen oder literarischen Referate ihrer Mitglieder, zu hören. Für die ordentlichen, also vor Ort anwesenden Mitglieder war die Teilnahme an den öffentlichen und privaten Sitzungen der Akademie verpflichtend, sie wurden in den Statuten auch zu regelmäßigen Vorträgen angehalten, während die »korrespondierenden«, auswärtigen Mitglieder ihre gedruckten Texte einzusenden hatten.884 Bedeutsam ist schließlich die korporative Vergemeinschaftung der Akademie, die einem akademisch-politischen Patronagenetz nahe kam: Zum Mitglied ernannt wurden nur jene Intellektuelle, die ein politisch und religiös untadeliges Leben (»privi di ogni macchia di irreligiosit/ o di pubblica inquietudine«)885 führten, wobei das letzte Wort über eine Aufnahme bzw. Kooptation den »Zensoren« zukam. Die Urstatuten der Gesellschaft aus dem 18. Jahrhundert sahen als Grundvoraussetzung für eine Aufnahme lediglich eine philosophische Grundausbildung bzw. eine dokumentierbare Gelehrtheit vor, ohne jedoch bestimmte religiös-moralisch-politische Grunddispositionen einzufordern.886 Neue Mitglieder – wie etwa 1845 Gioseffo Pinamonti – wurden aufgefordert, die Statuten schriftlich zu akzeptieren, wobei besonders die sogenannte »protezione accademica« unterstrichen wurde. Dieser im Kern bereits in den Statuten von 1750 enthaltene Passus garantierte den Mitgliedern der Akademie, falls ihre persönliche Ehre bzw. ihre Schriften angegriffen wurden, akademischen Schutz, mithin die literarisch-wissenschaftliche Unterstützung aller Mitglieder der Akademie. Der Grundsatz der akademischen Solidarität griff auch bei der Aufnahme neuer Mitglieder : In den Kreis der »Agiati« fanden nur jene Eingang, die in keinem wissenschaftlich-literarischen bzw. politischen Streit mit Akademiemitgliedern standen bzw. gestanden hatten. Der Geistliche, Universitätsprofessor und Rektor der Universität Padua, Don Antonio Meneghelli beispielsweise, der sich offenbar über die Schriften eines Mitglieds der Akademie in »scioche sentenze« geäußert hatte, wurde 1828 erst nach einem öffentlichen Widerruf dieser früheren Schrift
884 Die »cariche accademiche«, die Ämter der Akademie, die im Wesentlichen der »Presidente«, der »Segretario«, zwei »Censori«, der »Epistolografo«, der »Cassiere« und ab 1846 auch ein »Auditore« sowie ein »Vicepresidente« waren, sind in den Artikeln 25–50 der Statuten aufgelistet und eingehend beschrieben. Paoli, Statuti, S. 30–35; Bonazza [Hrsg.], Inventario, S. 623–636; Memorie, S. 41. 885 »über jedem Verdacht der Irreligiosität oder der öffentlichen Erregung erhaben.« 886 Paoli, Statuti, S. 27f., das Zitat auf S. 27; Memorie, S. 13f.
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aufgenommen.887 Die »Accademia degli Agiati« lässt sich also auch als literarische, wissenschaftliche und politische Solidargemeinschaft verstehen, die zwar einen bestimmten Grad an akademischer Pluralität garantierte, nach innen und außen hin aber weitgehend homogen und korporativ geformt war. Gewiss, man sollte diesen Passus der rosminianischen Statuten nicht überbewerten, will man jedoch die Genealogie des im Trentino dominanten neoguelfisch-liberalen Katholizismus beschreiben, kommt man um die »Accademia degli Agiati« und ihre korporative Konstitution nicht umhin.888 Die Zusammensetzung der zwischen 1812 und 1848 aufgenommenen Mitglieder verdeutlicht nicht nur die weitreichenden Auswirkungen der rosminianischen Statuten, sondern das politisch-religiöse Programm der Roveretaner Gelehrtengesellschaft insgesamt.889 Zunächst: Der Anspruch der Mittlerfunktion zwischen dem deutschen und dem italienischen Sprachraum wurde nach der Neugründung der Akademie 1812 nicht mehr verfolgt, vielmehr nachgerade verworfen.890 Von den 238 aufgenommenen Mitgliedern stammten lediglich elf Prozent aus dem deutschen Sprachraum: 16 »Agiati« kamen aus dem deutschsprachigen Tirol und elf aus dem restlichen deutschsprachigen Kulturraum. In der Regel handelte es sich um hochrangige Beamte, Kreishauptleute, Gouverneure Tirols oder Richter, die ehrenhalber aufgenommen wurden.891 Mit über 40 Prozent oder 96 Neumitgliedern entstammte die überwältigende Mehrheit der »Agiati« dem norditalienischen Raum, der mit seinen literarisch-wissenschaftlichen Knotenpunkten Mailand, Verona, Padua und Venedig erheblich auf die Gelehrtengesellschaft einwirkte. Die restlichen Akademiemitglieder waren – bis auf einen Schweden, einen Prager und einen Franzosen – Trentiner. Die Roveretaner Gelehrtengesellschaft versammelte somit das gesamte intellektuelle Milieu des italienischsprachigen Tirol, sie war im Laufe des Vormärz italienischer und trentinischer geworden. Sie blieb auch weitgehend eine männliche Gelehrtengemeinschaft: Die Aufnahme von Frauen, wie etwa von Angela Vero887 »albernen Urteilen«; AAA, 663, Catalogo Soci, S. 117. Meneghelli hatte Don Antonio Cesari, der bereits seit 1813 Mitglied der Akademie war, öffentlich kritisiert. Zu Meneghelli Memorie, S. 562; zu Don Antonio Cesari, ebenda, S. 536–539. Die »protezione accademica« wurde 1823 geregelt in den Artikeln 18 und 74 der Statuten. Paoli, Costituzioni, S. 29, S. 39; Memorie, S. 14. 888 Götz, Bürgertum, S. 103. 889 AAA, 663, Catalogo Soci, S. 102–148; Memorie, S. 526–643; Coppola/Passerini/Zandonati [Hrsg.], I soci. 890 Garbari, Libert/, S. 17f. betont dagegen eine Kontinuität der italienisch-deutschen Scharnierfunktion zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert, wenngleich auch sie nicht umhin kommt, eine Provinzialisierung und eine verstärkte Orientierung nach Süden zu konstatieren. 891 1848 wurde diese Praxis abgeschafft. Postinger, Costituzioni, S. 114; Lutteri, Fasti, S. 39, behauptet dagegen, zwischen 1823 und 1850 seien 43 »tedeschi« aufgenommen worden, was deutlich überzogen erscheint.
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nese 1813 oder von Rosa Taddei 1832, blieb auch im Vormärz eine absolute Ausnahme.892 Ein zweiter Grundzug sticht markant hervor : 63 der nach 1812 aufgenommenen »Agiati«, gut ein Viertel, waren geistlichen Standes. Freilich kam der Kurat-Klerus kaum in den Genuss akademischer Würden, sondern vielmehr die typischen Vertreter der liberalen, national orientierten katholischen Geistlichkeit: gebildet, im Schul- bzw. Erziehungsbereich tätig, wissenschaftlich-literarisch aktiv. Unter den »Agiati« befanden sich, häufig in führenden Positionen, mit Giampietro Beltrami, Francesco Puecher, Giovanni a Prato, Gioseffo Pinamonti, Giacomo Turrati, Jacopo Freinadimetz, Giovanni Bertanza oder Eleuterio Lutteri die führenden liberalen Geistlichen des Trentino.893 Diese italienisch-klerikale Zusammensetzung des Akademikerkorpus war kein Zufall, sondern vielmehr programmatisch gestaltet. Denn anstatt von Aufnahmen von Neumitgliedern, wie vom Statut vorgesehen, muss man vielmehr von regelrechten Kooptationen sprechen. Wohl nur eine Minderheit beantragte selbst die Aufnahme in die Akademie und sandte ihre Schriften zur Begutachtung ein. Die Praxis war vielmehr jene der ausdrücklichen Ernennung, wie etwa im Fall von Pinamonti: Mitglieder der Akademie schlugen neue Mitglieder vor, die oftmals – ebenfalls entgegen den Statuten – keinerlei Schriften einreichen mussten, eine allgemeine, nicht näher spezifizierte wissenschaftlichliterarische Reputation genügte häufig für die Aufnahme. Dies führte dazu, dass die Zusammensetzung der »Agiati« zu einem Abbild liberaler norditalienischer Netzwerke geriet und von einzelnen, besonders umtriebigen Mitgliedern maßgeblich gestaltet wurde. Antonio Francesco Marsilli beispielsweise schlug zwischen 1829 und 1848 nicht weniger als 37 Neumitglieder vor, darunter vor allem 892 AAA, 663, Catalogo Soci, S. 109 (Veronese) und S. 121 (Taddei). 893 Leider fehlt jede Form der prosopographischen Erfassung des Trentiner liberalen Klerus, Janes, Correnti, S. 1–40, behandelt neben Antonio Rosmini lediglich Francesco Tecini und strengt keine generationelle Generalisierung an; ebenso Brunialti, Atteggiamenti, die sich bloß auf a Prato, Giovanni Bertanza und immerhin auch auf den weniger bekannten Giovanni Battista Zanella konzentriert. Götz, Bürgertum, S. 103, charakterisiert den liberalen Klerus als Teil des vormärzlichen Bürgertums. Die hier genannten – sofern sie noch lebten – gerieten 1848 aufgrund ihrer liberalen bzw. nationalen Haltung ins Visier der polizeilichen Behörden: Rizzi, Clero. Zu Beltrami, 1827–1828 Präsident, 1813–1826, 1835– 1843 Sekretär und 1827–1829 Censore, Bonzza [Hrsg.], Inventario, S. 326; Memorie, S. 527f.; zu Puecher ebenda, S. 579f., zu dessen Mitarbeit an der rosminianischen Zeitschrift »Fede e Patria« Traniello, Cattolicesimo Conciliatorista, S. 156–160; zu a Prato Cavaletti, Prato; Benvenuti, Prato; Bonazza, Ripiegamento; zu Pinamonti Kap. 4; zu Turrati Memorie, S. 531f.; zu Freinadimetz, Generalvikar der Diözese Trient, ebenda, S. 580f. sowie, vor allem auf seine Rolle 1848 und im Neoabsolutismus bezogen, Odorizzi, Vicari, zu Bertanza, 1862–1864 Präsident, 1856–1861 Vizepräsident, 1843–1845 und 1872– 1881 Sekretär, 1843, 1846–1849, 1853–1855 Epistolografo und 1839–1842 Censore Nequirito, Bertanza; zu Lutteri, 1853–1855 Sekretär, 1850–1852 Censore, 1852–1867 Bibliothekar, Memorie, S. 637f.; Ambrosi, Scrittori, S. 257.
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Personen, mit denen er in besonders intensivem Kontakt stand und deren politische Neigungen er teilte, wie etwa Cosimo Ridolfi, den Vorsitzenden des toskanischen Agrarvereins, Alessandro Manzoni, Tommaso Gar oder Agostino Perini.894 Von der gelehrten, aufgeklärten Sozietät mit starker mitteleuropäischer Ausrichtung entwickelte sich die »Accademia degli Agiati« im Schatten des vormärzlichen Staates zu einem exklusiven Forum regionaler und, wie noch zu zeigen sein wird, zunehmend risorgimental-neoguelfischer Selbstfindung. Die Ernennung der Mitglieder diente im Vormärz als politisches Instrument, das eine Anbindung des südlichen Tirol an den italienischen Sprach- und Kulturraum erwirken und für das Trentino besonders verdiente Persönlichkeiten ehren sollte. Die Aufnahme des Ingenieurs und späteren piemontesischen Ministers Pietro Paleocapa im Oktober 1847 zeigt dies deutlich: Sie erfolgte wohl auch aufgrund seiner »nota scienza«,895 in erster Linie aber deshalb, weil er sich für die offizielle Akkreditierung der Roveretaner Gelehrtengesellschaft am neunten italienischen Wissenschaftskongress, der im selben Jahr in Venedig abgehalten worden war, eingesetzt hatte.896 Am Vorabend der Revolution 1848 waren die »Agiati« nur noch vordergründig eine Gelehrtengesellschaft – im Kern handelte es sich um eine protopolitische Vereinigung in risorgimentaler Absicht.897 Die Roveretaner Gelehrtenakademie lässt sich aber auch als Organisation beschreiben, die über festgelegte Verfahren und Rituale Kommunikation und ihre Medialität reglementierte – die rosminianischen Statuten stellten den Rahmen hierfür bereit. Das Organigramm der Akademie sah neben einer nach innen gerichteten, institutionellen, auch eine nach außen orientierte, wissenschaftlich-literarische Tätigkeitsform vor.898 Der »corpo accademico«, also alle in Rovereto anwesenden Akademiemitglieder, traten einmal jährlich zu einer »sessione privata« zusammen, in der die allgemeine Entwicklung der Akademie diskutiert, die Verteilung der internen Ämter vorgenommen und eine Art Jahresprogramm, also die öffentlichen Sitzungen und die »Agiati«, die bei diesen Gelegenheiten ihre Texte vorzutragen hatten, bestimmt wurde.899 In der Regel 894 Bonazza, Marsilli, S. 172–180. Unter den weiteren von Marsilli vorgeschlagenen »Agiati« befanden sich Luigi Erminio Carrer, AAA, 663, Catalogo Soci, S. 117, Andrea Maffei (S. 118), Scipione Sighele (S. 119), Giuseppe und Defendente Sacchi, Francesco Lampato (alle S. 126), Antonio Gazzoletti (S. 128) oder Don Raffaele Lambruschini (S. 135). Ein weiteres Beispiel bietet Scipione Sighele, der in einem Zug gleich sieben potentielle Mitglieder vorschlug: AAA, 317, Scipione Sighele an Accademia degli Agiati, 07. 06. 1835. 895 »bekannten Wissenschaftlichkeit«. 896 AAA, 663, Catalogo Soci, S. 147; Meriggi, Congressi. 897 Götz, Bürgertum, S. 103. 898 Bonazza, Inventario, S. 11. 899 Ebenda, S. 11; AAA, 17, Sessioni private dell’Accademia degli Agiati; Paoli, Statuti, S. 23f., S. 35–37.
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fanden die »sessioni private« im Dezember oder im Januar in der städtischen Bibliothek oder in einem Raum des Roveretaner Gymnasiums statt. Ihr vormärzlicher Verlauf – ab 1826 wurden sie in einem eigenen Register festgehalten – verdeutlicht die Metamorphose der Akademie von einer Gelehrten- hin zu einer politischen Solidargemeinschaft. Zwischen 1823 und 1838 zeugen die Register noch von einer bestimmten akademischen Vitalität: Die fünf von den Statuten vorgesehenen öffentlichen »tornate« wurden zwar nur 1828 erreicht, drei bis vier Veranstaltungen im Jahr konnten in diesem Zeitraum jedoch problemlos mit Themen gefüllt werden.900 Diese zwar nicht mehr mit der akademischen Höchstform des 18. Jahrhunderts, als mitunter jährlich neun öffentliche Sitzungen abgehalten worden waren, vergleichbare, aber immerhin noch beachtliche Tätigkeit verlor bis 1848 sukzessive an Konsistenz und Konstanz. Die »tornate« wurden seltener und die vorgetragenen Texte weniger, in bestimmten Krisenjahren, wie 1836, als die Cholera auch in Rovereto wütete, aber auch 1832 und 1842 fielen diese ganz aus. 1845 passten die Akademiker die Statuten den neuen Rahmenbedingungen an und reduzierten das Soll an öffentlichen »tornate« wieder auf drei – doch selbst diese konnten 1846 und 1847 nicht mehr erreicht werden.901 Auch die »sessioni private« blieben teilweise ganz aus. Regelmäßiger wurden dagegen die Klagen der »Agiati«, die sich über den sichtlichen inneren Verfall ihrer Akademie empörten und eindringlich ein »Risorgimento dell’Accademia« einforderten.902 Längerfristige Projekte wurden entweder gar nicht anvisiert bzw. ergebnislos fallen gelassen, wie die Bestandsaufnahme und Neuordnung der eigenen Bibliothek. Die einzige nennenswerte Ausnahme bildete die Edition des Gesamtwerks von Clementino Vannetti durch einzelne »Agiati«, die 1831 fertiggestellt werden konnte.903 Die Krise des akademischen Innenlebens lässt sich auch von der relativ dünnen internen Führungsschicht ablesen. An den »sessioni private« nahmen im Laufe des Vormärz durchschnittlich kaum mehr als zehn Personen teil, die sich in den zentralen Ämtern abwechselten und im Grunde die Geschicke der Akademie leiteten. Zu diesem inneren Führungszirkel der Akademie gehörten insbesondere die Juristen Giuseppe Telani, Pietro Cristofori und Giuseppe Lupatini, der Unternehmer Marsilli sowie die Geistlichen Giambattista Azzolini, Giampietro Beltrami, Valerio Giuseppe Fontana, Pietro Orsi und Giuseppe Sicher ; in den 1840er Jahren stießen die Geistlichen Paolo Orsi, Giovanni a Prato, 900 Memorie, S. 197–213. 901 AAA, 16, Libro che contiene le memorie delle tornate pubbliche, S. 33, S. 38; Memorie, S. 204, S. 210; Baldi, Atti, S. IX; AAA, 17, Sessioni private dell’Accademia degli Agiati, S. 35. 902 AAA, 17, Sessioni private dell’Accademia degli Agiati, S. 23, S. 26, S. 32, S. 33, S. 34, S. 35, S. 46; Memorie, S. 46f., Zitat S. 47. 903 Bonazza, Accademia, S. 32; Memorie, S. 254; Lutteri, Fasti, S. 34f.; AAA, 17, Sessioni private dell’Accademia degli Agiati, S. 36f., S. 39.
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Giovanni Bertanza und der Jurist Carlo de Rigotti hinzu.904 Stärker noch, als es die Mitgliederstruktur vermuten lassen würde, waren Führungspositionen der vormärzlichen Akademie von einem geistlichen Überhang geprägt: Vor allem die Ämter des Sekretärs und der »Censori« waren fast durchgehend klerikal besetzt.905 Die führenden »Agiati« entwickelten in den »sessioni private« eine doppelte Strategie, um dem drohenden akademischen Schrumpfungsprozess beizukommen. Zunächst wurde ab 1830 versucht, durch eine offensivere Kooptationspolitik das alte Renommee der Akademie neu zu begründen und ihr Innenleben zu reaktivieren. Neben den lokalen Geistesgrößen wurden Intellektuelle nationalen Formats, wie Alessandro Manzoni (1834), Cosimo de Ridolfi (1841) und Raffaele Lambruschini (1842) zu Mitgliedern der Akademie ernannt. Der Zweck, der mit der Aufnahme dieser illustren Mitglieder verfolgt wurde, geht aus dem Ernennungsschreiben an Alessandro Manzoni deutlich hervor : »L’ I.R. Accademia degli Agiati, non tanto per onorare in Voi il massimo degli scrittori contemporanei italiani, quanto piuttosto per onorare la stessa della Vostra luce, iscrisse il Vostro nome, o Signore, nel numero de suoi Sozi […].«906 Zwar dürfte diese Kooptationspraxis die italienweite Bekanntschaft der Akademie angehoben und die interne national-neoguelfische Bewusstseinsbildung erheblich bestärkt haben – versammelte die Akademie nun doch mit Manzoni, Lambruschini und vor allem Rosmini drei der bedeutendsten Neoguelfen unter ihren Mitgliedern – ihre Entwissenschaftlichung und ihre Verpolitisierung wurden dadurch allerdings nur weiter beschleunigt.907 Die meisten dieser vor allem aus dem norditalienischen Raum stammenden Mitglieder nahmen die Ernennung zwar dankbar an, einige sandten auch gedruckte Werke nach Rovereto, Beiträge für die öffentlichen Sitzungen gingen jedoch kaum ein, am öffentlichen Leben der Akademie nahmen sie überhaupt nicht teil. Wohl auch deshalb suchte die Akademie in den 1840er Jahren vor allem Akademiker aus der näheren Umgebung Roveretos aufzunehmen.908 Neben dieser gelenkten Öffnung nach außen versuchten die Akademiker durch eine stärkere Reglementierung nach innen der Akademie neuen Elan zu verschaffen. Die »Agiati« wurden 904 AAA, 17, Sessioni private dell’Accademia degli Agiati; Bonazza, Accademia, S. 31. 905 Bonazza, Inventario, S. 626–639. 906 »Die k.k. Akademie der Agiati trug Ihren Namen, o Herr, in die Reihe ihrer Mitglieder ein, weniger, um Sie als den größten der gegenwärtigen Literaten Italiens zu beehren, sondern vielmehr, um dieselbe mit dem Glanz Ihres Lichtes zu erhellen.« AAA, 316.5, [Epistolografo] an Alessandro Manzoni, 29. 03. 1834; ebenda, 663, Catalogo Soci, S. 124, S. 135; ebenda, 17, Sessioni private dell’Accademia degli Agiati, S. 23; Garbari, Libert/, S. 28. 907 Wolfzettel/Ihring, Katholizismus; Leonhard, Italia, S. 527; De Rosa, Movimento cattolico, S. 19; Traniello, Cattolicesimo Conciliatorista, S. 98–116; Borutta, Antikatholizismus, S. 163–167. 908 Memorie, S. 197–213; AAA, 309–324; ebenda, 62, Soci Accademici.
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schriftlich zur Teilnahme am akademischen Leben angehalten, in den 1840er Jahren die Strafen für die Nichterfüllung der akademischen Pflichten mehrfach angehoben und ausgeweitet.909 In seiner Festschrift zur 100. Wiederkehr der Akademiegründung konnte Eleutterio Lutteri deshalb von einer eindrucksvollen Reihe berühmter Mitglieder berichten, die nach 1823 Aufnahme in den Kreis der »Agiati« gefunden hatten, auch die stetig angestiegenen Mitgliederzahlen waren dem Geistlichen Beleg für eine neue Blüte der Gelehrtengesellschaft.910 Die permanenten Klagen über »macerie accademiche«,911 der Rückgang der »tornate« und die dünne Personaldecke der Akademie relativieren allerdings Lutteris überschwänglichen Rückblick. Indes ist fraglich, ob das schleppende Innenleben der Akademie ihr äußeres Ansehen schmälerte. Die jährlichen zwei bis drei öffentlichen »tornate« gaben der Akademie zumindest in ihrem urbanen, lokalen Umfeld ein Mindestmaß an Sichtbarkeit. Wie sich der Ablauf einer öffentlichen Sitzung der Akademie gestaltete, wie viele Personen daran teilnahmen, ob und in welcher Form Diskussionen folgten, lässt sich anhand der vorhandenen Überlieferung nur schwer festmachen. Den äußeren Rahmen setzten jedenfalls abermals die Statuten fest: Die Sitzung wurde vom Präsidenten eröffnet, darauf verlasen die angemeldeten Mitglieder ihre Beiträge, der Sekretär beschloss die Sitzung mit einem eigenen Referat oder allgemeinen Informationen zur Akademie.912 Da die »tornate« statutengemäß drei Stunden dauerten, lasen im Schnitt fünf bis sechs »Agiati« ihre Beiträge, aber es fanden auch Sitzungen mit nur einem, andere mit neun Vorträgen statt. Vor allem in den Jahren zwischen 1813 und 1826 wurde kaum eine Handvoll Texte vorgetragen, am produktivsten war die Akademie dann zwischen 1827 und 1838, als im Schnitt jährlich über 15 »Agiati« ihre Beiträge präsentierten.913 Die Sekretäre führten über die »tornate« in einer Art Kurzprotokoll Buch, dem sich weitere Informationen entnehmen lassen.914 So wurden zu den öffentlichen Veranstaltungen alle Mitglieder, die angesehensten Bürger Roveretos sowie der gesamte Klerus geladen. Offenbar folgten diese der Einladung durchaus, bis auf wenige Ausnahmen in den heißen Sommermonaten waren die protokollführenden Sekretäre mit den Besucherzahlen durchwegs zufrieden. Bei öffentlichen Auftritten von Antonio Rosmini oder hoher Beamter dürfte der 909 AAA, 16, Sessioni private dell’Accademia degli Agiati, S. 40, S. 42, S. 45. 910 Lutteri, Fasti, S. 38f.; Bertanza, Storia, S. 283. 911 »akademische Trümmer«; AAA, 17, Libro che contiene le memorie delle tornate pubbliche, S. 42. 912 Paoli, Statuti, S. 37f. 913 Memorie, S. 197–213. 914 AAA, 17, Libro che contiene le memorie delle tornate pubbliche; Bonazza [Hrsg.], Inventario, S. 11.
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Andrang zu den Sitzungen der »Agiati« besonders beträchtlich gewesen sein.915 Kommentare zu den Reaktionen auf die Lesungen sind dagegen kaum überliefert, es ist fraglich, ob überhaupt Diskussionen zugelassen wurden. Als Reaktionen hielten die Sekretäre lediglich Beifall und Zustimmung fest, Dissens wurde allenfalls in stilistischen Fragen geäußert.916 Bei den in den öffentlichen Veranstaltungen präsentierten Beiträgen handelte es sich in der Regel entweder um lyrische Texte, meistens anlassbezogene Oden oder Gedichte, oder um sogenannte »prolusioni« oder »dissertazioni«, pseudowissenschaftlich-dilettantische Auseinandersetzungen mit Sachgebieten, für die die Beiträger nicht unbedingt Spezialisten sein mussten. Es ging vielmehr darum, den anwesenden »Agiati« einen knappen Überblick über einen bestimmten Fachbereich zu vermitteln.917 Die primären Adressaten dieser gesprochenen Texte waren zunächst die anwesenden Personen, also neben den Mitgliedern der Akademie die Bürger und Kleriker Roveretos. Die Rezeption der »tornate« ging jedoch wesentlich über dieses unmittelbar anwesende Publikum hinaus. Einerseits publizierten viele der Beiträger ihre Texte als Broschüren, die von lokalen Buchhändlern vertrieben wurden.918 Ab 1826 veröffentlichte die Akademie, einer Aufforderung der Regierung nachkommend, die hier Öffentlichkeit förderte, die »Atti« der öffentlichen Sitzungen im »Appendice« des offiziösen »Messaggiere Tirolese«. Dabei handelte es sich in der Regel um Kurzfassungen der vorgetragenen Texte und einige Notizen zur Akademie, nur in Ausnahmefällen, und dies galt vor allem für die Beiträge von Antonio Rosmini, wurden die »dissertazioni« in extenso veröffentlicht.919 Die Öffentlichkeit, die die »tornate« damit erlangten, war 915 AAA, 17, Libro che contiene le memorie delle tornate pubbliche, S. 31, »presente un buon numero di persone« – »zufriedenstellende Anzahl an Personen anwesend«; S. 32, »intervennero in molti, e in universale fu gradita« – »es beteiligten sich viele, und insgesamt wurde sie als sehr gefällig empfunden«; S. 38, »molti invitati« – »viele Eingeladene«; S. 43, »Convennero, ad onta del molto caldo, buon numero di Cittadini« – »trotz der großen Hitze nahmen zahlreiche Bürger teil« oder S. 46, »concorsero parecchi cittadini, molti sacerdoti, pochi accademici« – »es beteiligten sich zahlreiche Bürger, viele Priester, wenige Akademiker«. 916 AAA, 16, Libro che contiene le memorie delle tornate pubbliche, S. 32, S. 39, S. 40, sowie der Kommentar zu einer medizinischen Abhandlung aus dem Jahr 1835 auf S. 29: »La quale se fosse stata scritta con qualche eleganza ed ornamento, e se il Sig. Dr. Antonio Balisti la avesse letta con maggior dignit/, avrebbe potuto essere vie meglio gradita.« – »Dieselbe würde, wäre sie nur etwas eleganter und mit mehr Zierde versehen geschrieben worden und hätte sie Herr Dr. Antonio Balisti etwas würdevoller vorgetragen, wesentlich mehr geschätzt worden sein.« 917 Bonazza [Hrsg.], Inventario, S. 40. 918 Memorie, S. 253–255. 919 Baldi, Atti, S. VIIIf.; Garbari, Libert/, S. 28; AAA, 17, Sessioni private dell’Accademia degli Agiati, S. 20; Dissertazione sul celibato letta dal Rmo. Arciprete Donn’Antonio Rosmini nella tornata straordinaria dell’Accademia degli Agiati tenuta il d' 12 febbrajo 1834, MT Nr. 39, 15. 05. 1835; Nr. 40, 19. 05. 1835, S. 4–6.
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jedoch nur partiell und vor allem nicht permanent, da sie nur unvollständig und vor allem sehr unregelmäßig wiedergegeben wurden.920 Die Medialität der religiösen Kommunikation an der »Accademia degli Agiati« war mithin äußerst komplex und entzieht sich eindeutigen Kategorisierungen. Man könnte sie vielleicht am treffendsten mit Rudolf Schlögl als »Kommunikation unter Anwesenden« unter den Bedingungen der Moderne fassen.921 In der Tat vollzog sich hier Vergesellschaftung in erster Linie nicht über überpersonale Medien, sondern unter Anwesenden, womit Elementen der Performanz und der Körperlichkeit, der Gleichzeitigkeit und der Anwesenheit entscheidende Bedeutung zufiel. Nur wer während der »tornate« anwesend war, konnte zunächst an religiöser Kommunikation teilhaben. Diese wurde darüber hinaus in Form von »Sprechordnungen« von den akademischen Statuten erheblich reglementiert und exklusiv gestaltet: Lesen durften nur Mitglieder der Gesellschaft; auch die Sitzordnung, die innere Abfolge sowie der inhaltliche Rahmen der Beiträge und die Periodizität der Sitzungen legten die Statuten fest.922 Gedruckte Medien transzendierten diese Anwesendenkommunikation aber regelmäßig und hoben damit deren Grundkriterium auf. Diese Situation scheint paradox: Die vormärzlichen Bedingungen reduzierten religiöse Kommunikation auf Anwesenheit, boten ihr aber gleichzeitig die Möglichkeit sporadischer und kontrollierter überpersonaler Öffentlichkeit – wie bereits in den gelehrten Gesellschaften und Akademien des 16. und 17. Jahrhunderts, wurden auch hier, freilich unter anderen rechtlichen Voraussetzungen, Anwesenheit und Verbreitungsmedien gewissermaßen kombiniert.923 Diese Form der vormärzlichen Anwesenheitsöffentlichkeit scheint weitgehend immun gegen staatliche und kirchliche Eingriffe gewesen zu sein. Obwohl mitunter hohe staatliche Beamte an den öffentlichen Sitzungen teilnahmen, kam es kaum zu staatlichen bzw. kirchlichen Interferenzen. Die akademische Kommunikation unter Anwesenden bildete im Vormärz somit als Versammlungsöffentlichkeit eine der wenigen TeilÖffentlichkeiten, die verhältnismäßig freie Rede ermöglichten. Erst nach 1848 wurde die Akademie durch die neue Vereinsgesetzgebung stärker an staatliche Vorgaben gebunden und polizeilich aufmerksamer kontrolliert. 1863 beispielsweise führte ein von Bertanza vorgetragener Nachruf auf Francesco Antonio Marsilli zu erheblichen polizeilichen Konsequenzen für die Akademie und den Autor, der ins italienische Exil flüchtete.924 Dass Religion neben historischen, literarisch-linguistischen und naturwissenschaftlich-medizinischen Themen zum fixen Bestandteil der akademischen 920 921 922 923 924
Osele, Atti, S. 3–9; Baldi, Atti, S. IX. Schlögl, Kommunikation; ders., Politik; ders., Anwesende. Schlögl, Anwesende, S. 41–47, S. 55–66. Schlögl, Kommunikation, S. 155. Bonazza, Accademia, S. 38; Memorie, S. 60; Nequirito, Bertanza, S. 222–224.
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Abhandlungen gehörte, ja vielfach mit diesen verflochten wurde, überrascht angesichts des dominanten rosminianischen und liberal-klerikalen Einflusses nicht weiter. Doch es griffe zu kurz, wollte man die religiöse Kommunikation an der Akademie ganz auf Rosmini und den liberalen Klerus reduzieren – moderate Liberale wie Francesco Antonio Marsilli, Carlo de Rigotti oder Tommaso Gar lieferten ebenfalls substantielle Beiträge.925 Überblickt man die überlieferten Abhandlungen, die zwischen 1823 und 1848 Religion problematisierten,926 so lassen sich typologisch drei, sich teilweise überlagernde Formen voneinander unterscheiden. Zunächst wurde Religion in einer bestimmten Regelmäßigkeit in Nekrologen verstorbener Priester thematisiert, die in Form von Nachrufen, gelehrten Auseinandersetzungen oder eleganten Elegien in den »tornate« präsentiert wurden.927 Die mündlich vorgetragenen, teilweise im »Messaggiere« oder in Sonderdrucken veröffentlichten Texte weisen Ähnlichkeiten mit dem medialen »Idealpriester« auf, der in den »Katholischen Blättern« zeitgleich konstruiert wurde. So dienten auch in der Roveretaner Akademie diese Texte nicht nur der Erinnerung an verdiente Geistliche, sondern forderten zu ihrer Nachahmung auf, wie etwa Giambattista Manfrini am 21. Januar 1840 betonte: »Che se l’udir gli altrui fatti e la virtF ci consiglia sempre a bene operare, non H a dir quanto possano sugli animi i preclari esempi dei nostri, i quali per Santi vincoli
925 Tommaso Gar, Un discorso sulle Armonie poetiche e religiose del Lamartine, Bonazza, Inventario, S. 642; AAA, 145.2, Francesco Antonio Marsilli, Il secolo e la Chiesa, 14. 06. 1831; ebenda, 152.1, Carlo Rigotti, Necrologio dell’Ab. Giambattista Salvadori da Mori, 18. 01. 1838. 926 Von zahlreichen vormärzlichen Beiträgen ist nur noch der Titel vorhanden, da – entgegen den Statuten – viele »Agiati« die Manuskripte ihrer Abhandlungen, trotz drohender Sanktionen und eingehender Aufforderungen, nicht hinterlegten: Bonazza [Hrsg.], Inventario, S. 38–40, S. 640–645. Inwieweit dies Nachlässigkeit oder einer Art von Selbstzensur geschuldet war, kann nicht beantwortet werden. Zum Teil kann diese unvollständige Quellenlage durch die veröffentlichten »Atti« im »Messaggiere Tirolese« bzw. durch Sonderdrucke kompensiert werden. 927 AAA, 140.3, Giampietro Beltrami, Elogio funebre dell’Ab. Domenico Pasqui prete roveretano, 09. 05. 1826; Giuseppe Telani, La vita di Francesco Santoni, Arciprete della collegiata di Arco, 03. 05. 1827; ders., Un discorso intorno al defunto socio Ab. Bart. Gius. Stoffella della Croce, 12. 02. 1833; ebenda, 151.3, Giambattista Manfrini, L’Elogio di Felice Dordi di Valsugana, chierico di ottime speranze, 19. 04. 1837; Giovanni Bertanza, L’Elogio del defunto socio Ab. Pietro Orsi, 16. 08. 1837; ebenda, 152.1, Carlo Rigotti, Necrologio dell’Ab. Giambattista Salvadori da Mori, 18. 01. 1838; ebenda, 154, Giovanni Bertanza, In morte dell’Arcivescovo di Cesarea monsignor Carlo Emmanuele Sardagna, gi/ vescovo di Cremona, elegia in terza rima, 21. 01. 1840; ebenda, Iacopo Galvagni, Elogio funebre di Monsignor Carlo Emanuele Sardagna, 21. 01. 1840; ebenda, Giambattista Manfrini, Un Elogio funebre del defunto socio Ab. Gius. Bonfioli, 21. 01. 1840; Giampietro Beltrami, Un Elogio funebre in lingua latina del defunto socio Giuseppe Pederzani, 21. 01. 1840. Die Texte ohne archivalische Überlieferung sind aufgelistet in Bonazza [Hrsg.], Inventario, S. 641– 643.
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s’attengono a noi, che le loro virtF sembrano quasi un eredit/, che noi dobbiamo se non accrescere, almeno mantenere illibata.«928
Die in der Roveretaner Akademie vorgestellten »perfetti esemplari dei Curati« waren den deutschtirolischen Idealpriestern nicht nur in ihrem Ziel – der Formierung und Homogenisierung des Klerus –, sondern auch in ihrem postulierten Tugendkanon sehr ähnlich: Demut, selbstlose Hingabe und Gelehrsamkeit gehörten zu den Standardeigenschaften der besprochenen Priester.929 Andererseits bedingte schon die Medialität der beiden Priestertypen erhebliche Unterschiede. Im deutschsprachigen Tirol diente der »Idealpriester« dem gesamten Klerus als Vorbild und die Gesamtheit des Klerus nahm zumindest potentiell an dessen Konstruktion teil. Das zentrale Kriterium der Anwesenheit führte dagegen in Rovereto dazu, dass, sofern die nekrologischen Texte nicht gedruckt und veröffentlicht wurden, nur ein geringer Teil des italienischsprachigen Klerus Tirols von den sazerdotalen Tugenden der Verstorbenen erfuhr. Die Produktion des fiktionalen Priestertypus war noch restriktiver angelegt: Sie blieb die Sache der Mitglieder der Akademie; überdies wurden vornehmlich »soci« der Akademie mit Nachrufen bedacht. Diese Exklusivität des idealen Priestertypus, der unter den Roveretaner Akademikern ausgehandelt wurde, hatte einschneidende Konsequenzen. So galt die Gelehrsamkeit als höchste sazerdotale Tugend, ja wahre Religiosität sei mitunter nur durch konsequentes Studium zugänglich und somit auch für Laien erreichbar. Dem Priester als Erzieher und Lehrer der kirchlichen Gemeinde wurde somit die Aufgabe zugeschrieben, Religion zu »lehren«. Dies deckte sich auch mit Rosminis Reformtheologie, die gerade in der mangelnden religiösen »Erziehung« des Volkes die Hauptursache der von ihm beklagten Differenzierung zwischen Geistlichen und Laien, mithin der fehlenden kirchlichen Einheit, sah.930 Der zweite Grundzug des »akademischen« Priestertypus, der ihn stark von seinem deutschtirolischen Pendant unterschied, war der regionalen Introversi928 »Wenn bereits die Denkwürdigkeiten und Tugenden der Anderen zum guten Wirken anhalten, um wie viel mehr wiegen dann die vortrefflichen Vorbilder jener, die durch ein heiliges Band mit uns verbunden sind, deren Tugenden geradezu als Erbe erscheinen, das wir wenn nicht vermehren, so doch rein erhalten müssen.« AAA, 154, Giambatista Manfrini, Elogio alla memoria del Sacerdote Gius. Bonfioli, 14. 01. 1840, S. 3; Atti della tornata dell’I.R. Accademia degli Agiati del 21 gennajo 1840, MT Nr. 14, 14. 02. 1840, S. 1f. 929 AAA, 152.1, Carlo Rigotti, Necrologio dell’Ab. Giambattista Salvadori da Mori, 18. 01. 1838, das Zitat S. 23; ebenda, 154, Giambattista Manfrini, Un Elogio funebre del defunto socio Ab. Gius. Bonfioli, 21. 01. 1840; ebenda, Iacopo Galvagni, Elogio funebre di Monsignor Carlo Emanuele Sardagna, 21. 01. 1840; Stella, Clero; Miccoli, Figura. 930 AAA, 152.1, Carlo Rigotti, Necrologio dell’Ab. Giambattista Salvadori da Mori, S. 8f.; ebenda, 154, Giambattista Manfrini, Un Elogio funebre del defunto socio Ab. Gius. Bonfioli, 21. 01. 1840, S. 6f.; Atti della tornata dell’I.R. Accademia degli Agiati del 21 gennajo 1840, MT Nr. 11, 08. 02. 1840, S. 1; Traniello, Societ/, S. 215.
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on der vormärzlichen akademischen Gemeinschaft geschuldet. Denn die verstorbenen Priester hatten nicht nur der Kirche, sondern in erster Linie auch der patria – »nostro estremo lembo d’Italia«931 – gedient. Indem ihre gelehrte Religiosität als Vorbild diente, sie als Lehrer und eloquente Prediger die Reinheit der italienischen Sprache aufrecht erhielten, als Wissenschaftler gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichten, wirkten die Kleriker als veritable Säulen der patria. Ja selbst wenn ein Priester, wie etwa Carlo Emanuele Sardagna, außerhalb seiner Heimat Karriere gemacht hatte, dann trug er dadurch immerhin zur »gloria della patria« bei.932 Ein drittes Spezifikum des imaginierten akademischen Idealpriesters war seine liberalkatholische Qualität: Der »gute« Priester solle allen amtlichen und hierarchischen Äußerlichkeiten entsagen und nicht in einer kirchlichen Karriere den Zweck seiner Existenz suchen, sondern ausschließlich im Dienst an seiner Gemeinde und seiner patria. Ebenso – und hier treten die Parallelen zu Rosminis »Cinque piaghe« deutlich hervor – sei es ein priesterliches Gebot, der politischen Macht fernzubleiben und den Reizen des Wohlstandes zu widerstehen. Nicht den Reichen und Mächtigen, sondern den Armen müsse die erhöhte Aufmerksamkeit des Priesters gelten.933 Gelehrsamkeit, Stütze der patria und Diener einer staatsfernen, armen Kirche – dies waren die Kerneigenschaften des idealen Priesters, wie er von den Roveretaner »Agiati« imaginiert wurde. Dieses Idealbild erlangte zwar nicht die Verbreitung des Pastor bonus der »Katholischen Blätter«, dennoch entsprach es in groben Zügen den allgemeinen prosopographischen Konstanten des liberalen Klerus des Trentino bzw. Italiens. Vor allem der hohe Stellenwert von Bildung und Wissenschaftlichkeit und deren Vermittlung als Publizist, Lehrer oder Präzeptor lassen sich als Basiselemente des liberalen Klerus nennen – seine personelle Stärke in den Mitgliederlisten der Akademie rührt auch daher. Eine zweite Gruppe von religiösen Texten umfasste lyrische Kompositionen. Während der öffentlichen »tornate« war es üblich, die oftmals schwerfälligen Abhandlungen durch Gedichte, Oden, Hymnen, Elegien, Sonette oder sonstige 931 »che dia chiaro a conoscere qual gloria anche da lui sarebbe venuta a questo nostro estremo lembo d’Italia, se Iddio lo lasciava viver piF oltre alle speranze della patria, e della Chiesa.« – »es möge deutlich ersichtlich werden, welchen Ruhm auch er unserem äußersten Zipfel Italiens, den Hoffnungen des Vaterlandes und der Kirche erbracht hätte, wenn Gott ihn länger hätte leben lassen.« AAA, 151.3, Giambattista Manfrini, L’Elogio di Felice Dordi di Valsugana, chierico di ottime speranze, 19. 04. 1837, S. 1. 932 AAA, 154, Giambattista Manfrini, Un Elogio funebre del defunto socio Ab. Gius. Bonfioli, 21. 01. 1840, S. 9; ebenda, 152.1, Carlo Rigotti, Necrologio dell’Ab. Giambattista Salvadori da Mori, S. 30; ebenda, 154, Iacopo Galvagni, Elogio funebre di Monsignor Carlo Emanuele Sardagna, 21. 01. 1840. Sardagna war Bischof von Cremona. 933 AAA, 152.1, Carlo Rigotti, Necrologio dell’Ab. Giambattista Salvadori da Mori, S. 20–26; Traniello, Societ/, S. 218–242; Marangon, Risorgimento, S. 327–337.
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Gelegenheitsdichtungen aufzulockern. Überaus beliebt waren etwa poetische Kompositionen für Hochzeiten oder zu den Geburtstagen der Kaiser.934 Eine Reihe dieser Texte hatte einen religiösen Inhalt, zahlreiche einen religiösen Hintergrund.935 Freilich stand dabei zunächst die sprachliche Eleganz – der in der Akademie ohnehin hohe Bedeutung beigemessen wurde – im Vordergrund. Dennoch sollte man ihren Inhalt nicht unterschätzen, auch wenn sie in der Regel nur mündlich vorgetragen und nicht veröffentlicht wurden. Diese Texte reichten von exaltierten Hymnen, die sich nur schwer von gebetsartigen Anrufungen Gottes unterscheiden lassen, bis hin zu Parabeln, die allgemeine katholische Glaubenssätze zu veranschaulichen suchten.936 Hinzu kam eine religiös-politische Lyrik, die wohl nur in der relativ freien akademischen Anwesenheitskommunikation, fern von der staatlichen und kirchlichen Zensur, Ausdruck finden konnte. Auch sie ist ein Beleg des hohen Stellenwertes, den Religion für die »Agiati« im Vormärz einnahm und zeigt, wie sehr sich die Roveretaner Akademie zu einem regionalen Zentrum des Neoguelfismus entwickelte. So beklagte beispielsweise der Priester Giambattista Beltrami bereits am 18. Januar 1838, also keine zwei Monate nach dem Ereignis, die Inhaftierung des Kölner Erzbischofs Clemens August Droste zu Vischering in einem Sonett. Beltrami deutete die Kölner »Wirren« als mahnendes Exempel der staatlichen Knechtung der Kirche und feierte Droste zu Vischering als Vorkämpfer ihrer Freiheit, ja als »banditore / Che i Chierici non son tutti avari e vili«.937 Den vorangegangenen Konflikt zwischen dem Fürstbischof und den Bonner Hermesianern, denen der cattolicesimo liberale näher stand als Droste zu Vischering, ließ Beltrami dagegen unerwähnt. Dafür feierte das Sonett den inhaftierten Bischof als Vertei-
934 AAA, 141.2, Giampietro Beltrami, Per la prosperit/ di S. M. l’Imperatore, voto in latino, 12. 02. 1827; ebenda, 142.3, Giovanni Battista Carpentari, Alla Nobil Donna Contessa Violante de Thunn-Martinengo per la ricuperata di lei salute, 29. 04. 1828. 935 AAA, 141.1, Giampietro Beltrami, Volgarizzamento poetico dell’inno di San Giovanni, traduzione, 04. 01. 1827; ebenda, 145.2, Francesco Antonio Marsilli, Il secolo e la Chiesa, 14. 06. 1831; ebenda, ders., La voce di Dio, 14. 01. 1831; Iacopo Crescini, L’Amor Divino, 18. 07. 1834; ebenda, 149.2, Francesco Antonio Marsilli, Gloria a Dio solo, traduzione dell’ode 16 libro IV di Victor Hugo, 12. 02. 1835; Giulio Todeschi, Un Dialogo sul vero concetto della libert/, 07. 01. 1836; ebenda, 151.1. Giovanni Bertanza, Il tempio dell’immoralit/, capitolo in terza rima, 03. 01. 1837; ebenda, 152.2, Antonio Balisti, Amor di madre e amor di Dio, 19. 04. 1838; ebenda, 153.2, Iacopo Galvagni, Inno a Dio, poemetto, 02. 05. 1839; Francesco Antonio Marsilli, Lutero a Trento, un ode, 18. 12. 1845. Die Texte ohne archivalische Belegstelle sind nicht überliefert, jedoch in Bonazza [Hrsg.], Inventario, S. 640–645, aufgelistet. 936 AAA, 153.2, Iacopo Galvagni, Inno a Dio, poemetto, 02. 05. 1839; ebenda, 152.2, Antonio Balisti, Amor di madre e amor di Dio, 19. 04. 1838. 937 »Ausrufer / dass geizig und feige nicht alle Kleriker sind.« AAA, 152.1, Giambattista Beltrami, A Monsignor Ferdinando Augusto Arcivescovo Reverendissimo di Colonia, 18. 01. 1838.
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diger der Kirche, der ganz im Lichte des guten, aufopfernden Idealklerikers erstrahlte. Die Akademie thematisierte Probleme religiös-politischer Natur in einer Offenheit, die für das vormärzliche Österreich eigentlich undenkbar war. Ein eindrückliches Beispiel hierfür lieferte etwa Giovanni Bertanza, der 1837 in einer Parabel die politische Situation Italiens problematisierte und recht offen das neoguelfische Programm, wie es einige Jahre später vor allem von Vincenzo Gioberti formuliert werden sollte, literarisch präfigurierte.938 In düsteren, apokalyptischen Zügen zeichnete der Priester aus Limone am Gardasee ein besetztes, entmündigtes und dahinsiechendes Italien, seiner Kräfte und seines Willens beraubt: »E l’italico Ciel turbarsi e lampi Di sanguinosa luce il negro orrore Romper d’intorno quasi il mondo avampi Mughien con alto orribile fragore Di sopra i tuoni, e il fulmine rovente.«939
Ein »aquilon / che irato spira«940, diente ihm als Allegorie der österreichischen Vormachtstellung auf der italienischen Halbinsel, der Bertanza – wie viele andere führende Intellektuelle des Risorgimento auch – implizit die Verantwortung für den Verfall Italiens zuschrieb.941 Die Hoffnung auf die Wiederauferstehung des Landes legte Bertanza ganz in die Hände der göttlichen Vorsehung und vor allem in jene des Papstes und seiner Priester, die das Land befreien können: »Dei pastori al Pastor diletto a Dio Mirali intorno e in mezzo a lor ravvisa Tal che la gloria fa del suol natio Egli H quel, che l’invidia ha gi/ conquisa E del Prence e Pastor chiamato al soglio Opre illustri compisce in varia guisa. Scevro d’ambizion, scevro d’orgoglio D’amor non vile ama la patria e intende. 938 AAA, 151.1, Giovanni Bertanza, Il tempio dell’immoralit/, capitolo in terza rima, 03. 01. 1837. Der Text wurde 50 Jahre später in Atti dell’Accademia degli Agiati V (1887), S. 156– 166 in stark abgeänderter Form veröffentlicht: Die meisten Bezüge auf Italien bzw. das Risorgimento wurden gestrichen bzw. mit christologischen Elementen ersetzt und mit Belegstellen bzw. Zitaten aus der rosminianischen Literatur versehen; Rumi, Gioberti. 939 »Es trübt sich der italische Himmel und Blitze / von blutrotem Licht der schwarze Horror / bricht herein als ob die Welt innerlich brennte / Von oben herab tönen mit fürchterlichem Grollen / Donner und der brennende Blitz.« 940 »Ein Nordwind, der erzürnt bläst«. 941 AAA, 151.1 Giovanni Bertanza, Il tempio dell’immoralit/, capitolo in terza rima, 03. 01. 1837, f. 4r.; Patriarca, Indolence.
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Ora i suoi giusti voti e dice: Io voglio. E al Pontefice santo anch ei contende Della patria il desir : contende e prega e il voto universal pago si rende.«942
Bereits 1837, neun Jahre bevor die Euphorie um den vermeintlichen liberalen Einiger der Nation, Papst Pius IX., einsetzte und Denker wie Gioberti katholische Nationskonzepte publikumswirksam präsentierten, antizipierte Bertanzas Gedicht, dessen Manuskript mit Verweisen auf Rosmini und anderen Denkern versehen ist, die wesentlichen Grundzüge des neoguelfischen Programmes. Freilich blieb unklar, welchen Prinzen und welchen Hirten Bertanza ansprach, ebenso fehlen Vorstellungen für zukünftige staatliche Strukturen Italiens – dennoch entsprach die Trias Gott/Religion – Papst – Nation ganz dem »religiös inspirierten Reformismus« des Neoguelfismus der 1840er Jahre.943 Bertanza selbst deutete seinen Text als utopische »Visione« und als Traum, um aber im gleichen Zug einzugestehen, an dessen Erfüllung zu glauben.944 Ein weiteres Stück dieser religiös-politischen Dichtkunst präsentierte Francesco Antonio Marsilli in der öffentlichen Sitzung vom 14. Juni 1831. In einem Dialog zwischen dem »Jahrhundert« und der »Kirche« problematisierte er die schwierige, politisch wie religiös kontroverse Stellung der Kirche in seiner Gegenwart – irdische Vergänglichkeit und religiös-kirchliche Überzeitlichkeit prallen hier frontal aufeinander. Anstatt jedoch zu resignieren und die Unvereinbarkeit von Kirche und Moderne festzuschreiben, löste Marsilli das Zwiegespräch in einer harmonischen Wendung auf: Die Kirche und das »secolo« versöhnten sich und erkannten einander vielmehr als Brüder, die sich ergänzten.945 Dieser in poetischen und nekrologischen Elaborationen gefasste liberale Katholizismus, der Fortschritt, Nation und Religion als semantische Einheit präsentierte, dominierte auch zahlreiche »dissertazioni« der »Agiati«, die zu den 942 »Die Hirten des Hirten, der Gott so lieb / Betrachte genau und erkenne inmitten von ihnen denjenigen / Der dem heimatlichen Boden Ruhm gebracht / Denjenigen, der den Neid besiegte / Und zum Thron des Prinzen und des Hirten berufen / große Taten vollbringt. / Frei von Stolz, frei von Ehrgeiz / liebt er das Vaterland auf edle Weise / so begreift er nun seine Wünsche, und sagt: Ich will. / Und mit dem Heiligen Papst teilt er den Wunsch des Vaterlandes: / Er teilt und und betet / den Wunsch aller, der sich verwirklicht.« AAA, 151.1, Giovanni Bertanza, Il tempio dell’immoralit/, capitolo in terza rima, 03. 01. 1837, f. 4v’. 943 Wolfzettel/Ihring, Katholizismus, S. 401; Rumi, Gioberti, S. 25–39. 944 »Ah se fu sogno il mio, dunque mendace / Sempre il sogno non H, ma il vero ancora / Nelle sue larve figurar gli piace. / A me parea di s'.« – »Ach, wenn es ein Traum war, dann sind trügerisch / nicht alle Träume, doch die Wahrheit / liebt zu zeigen die Zukunft in Bildern, die unwahr erscheinen mögen. Mich dünkt, es sei so.« AAA, 151.1, Giovanni Bertanza, Il tempio dell’immoralit/, capitolo in terza rima, 03. 01. 1837, f. 5r. 945 AAA, 145.2, Francesco Antonio Marsilli, Il secolo e la Chiesa, 14. 06. 1831.
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unterschiedlichsten wissenschaftlich-moralischen Fragen Stellung bezogen und auf den ersten Blick nicht immer als Texte religiösen Inhaltes erkennbar sind.946 Der Neoguelfismus der Akademie bildete sich vielmehr als selbstreferentielles diskursives Netzwerk aus, das stets Bezug nahm auf frühere Texte, die in- und außerhalb der Akademie entstanden waren. Mit Blick auf die »dissertazioni« wird auch der maßgebliche Einfluss Antonio Rosminis deutlich: Er gehörte bis 1848 zu den umtriebigsten »Agiati«, las selbst fünf Abhandlungen und präsentierte bisweilen im geschützten Rahmen der »tornate« seine religiösen Schriften erstmals der Öffentlichkeit, die häufig die zentrale Referenz für weitere akademische »dissertazioni« bildeten. Insgesamt wurde Religion in den gelehrten Abhandlungen der Akademie aus drei Perspektiven problematisiert: Zunächst ihr Wesen selbst, zweitens ihre gesellschaftlich-politische Funktion und sodann ihre historisch-nationale Dimension. In einer Antwort auf eine im »Bothen für Tirol« erschienene Rezension seines Werkes »Nuovo Saggio sulle origini delle idee« (1830) entfaltete Rosmini 1831 weitläufige Überlegungen über den Zusammenhang zwischen Sprache, Gesellschaft und der philosophischen Wahrheit. Der Text, als Brief an seinen Roveretaner Gymnasiallehrer Paolo Orsi verfasst, wurde von diesem am 15. Dezember 1831 in der öffentlichen Sitzung der Akademie vorgelesen. Rosmini kritisierte darin die in seinen Augen typisch deutsche philosophische Praxis, komplexe Gedankengänge in einer eigenen Sprache, also Fachsemantik gewissermaßen, zu formulieren. Damit betreibe die deutsche Wissenschaft nichts weniger als Apotheose (»che l’un uomo sia una divinit/ dell’altro«),947 denn die Wahrheit, die sich durch die Sprache erschließe, sei nicht mensch-, sondern gottgegeben. Der Philosoph könne also die göttliche Wahrheit nur entdecken und beschreiben, sie jedoch keinesfalls schaffen oder verändern: »Ma questo tanto di sapere e di lingua ciascuno di noi il riceviamo, come il seme feconda il nostro intelletto, dalla societ/ degli uomini, e la societ/ umana l’ha ricevuta da 946 Antonio Rosmini, Passi da »Filosofia della politica«, 04. 09. 1828; Antonio Soini, La clemenza, 12. 02. 1830; Giampietro Beltrami, Sopra la nuova orazione mandata dalla Santa Sede ai vescovi di Francia per il loro re, 12. 02. 1831; Antonio Rosmini, Confutazione dell’opera di Benjamin Constant »De la religion«, 14. 06. 1831; Paolo Orsi, Una lettera dell’Ab. Antonio Rosmini all’»articolo« (tradotto dal tedesco) inserito nel Messaggere tirolese sopra il suo Nuovo saggio sull’origine delle idee, 15. 12. 1831; Tommaso Gar, Discorso sulle Armonie poetiche e religiose del Lamartine, 15. 12. 1831; Demetrio Debiasi, Intorno all’indifferenza in fatti di religione, 12. 02. 1833; AAA, 149.1, Francesco Puecher, L’esistenza di Dio, dissertazione in latino, 30. 12. 1834; Antonio Rosmini, Intorno al celibato dei preti, 12. 02. 1835; ebenda, 157.2, Giovanni a Prato, Papa Gregorio VII ed Enrico IV imperatore in Canossa, dissertazione, 06. 08. 1844; ebenda, 158.1, Giovanni Bertanza, Unione della poesia con la storia e vero patriottismo, 06. 04. 1845; ebenda, 158.2, Giovanni a Prato, Sull’educazione delle donne, 19. 04. 1845; ebenda, 160.2, Antonio Rosmini, Dei piF celebri riformatori sociali dei tempi nostri, 15. 07. 1847; Bonazza [Hrsg.], Inventario, S. 641f. 947 »dass ein Mensch dem anderen eine Gottheit sei.«
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Dio.«948 Religion, vornehmlich das Christentum, diene somit als Speicher- und Vermittlungsagentur dieses göttlichen Wissens, sie selbst sei mithin dieses gottgegebene Wissen.949 Bereits im Juni 1831 hatte Rosmini in einem Vortrag in der Akademie, der sich mit Benjamin Constants »De la Religion« auseinandersetzte, das Proprium der Religion definiert: Diese bestehe in der Kommunikation mit Gott, die unabdingbare Basis hierfür sei jedoch das Wissen von Gott, eine »ragione cristiana«.950 Rosminis Verständnis von Religion deckte sich damit nicht nur weitgehend mit jenem anderer »Agiati«, wie es etwa in den Nekrologen geäußert wurde – ja es ist vielmehr davon auszugehen, dass er dieses erheblich beeinflusste.951 Die Ergründung und Betonung der gesellschaftlichen Dimension des Christentums war, wie Francesco Traniello hervorhebt, ein zentraler Impetus des philosophisch-theologischen Oeuvres Rosminis und prägte auch die Roveretaner Akademie erheblich.952 Rosmini selbst diskutierte die Beziehungen zwischen Religion und der Gesellschaft in mehreren Vorträgen eingehend. So etwa in seiner »dissertazione« im Februar 1835, die sich mit dem Zölibat des katholischen Klerus auseinandersetzte, den er als elementaren Baustein einer »societ/ cattolica« definierte. Diese Gesellschaftsform, die er am Beispiel Englands stark von einer protestantischen abgrenzte, deutete er als die universale, perfekte und jeder anderen – auch der nationalen – überlegen. Diese katholische Superiorität gründe in der göttlichen Offenbarung und in ihrer Geschichtlichkeit, die den göttlichen Wille manifestierte: »Ogni societ/ dunque possiede essenzialmente uno spirito di previdenza pari alla sua estensione ed alla sua durevolezza. […] La sapienza del cattolicesimo travalica questi limiti, perocchH H sapienza di una societ/ universale e perenne.«953 Das Verhältnis zwischen Religion und Gesell948 »Aber dieses Wissen und diese Sprache erhalten wir, so wie den Samen, der unseren Geist befruchtet, von der Gesellschaft der Menschen, die sie wiederum von Gott erhalten hat.« 949 Lettera di Antonio Rosmini Serbati a Don Pietro Orsi sopra un Articolo inserito nel Messaggiere Tirolese […], MT Nr. 103, 27. 12. 1831, S. 5f.; Traniello, Societ/, S. 139, S. 144. 950 »christliche Vernunft«; Antonio Rosmini, Confutazione dell’opera di Benjamin Constant »De la religion«, veröffentlicht als Beniamino Constant, in: ders., Frammenti di una storia della empiet/, Milano 1834, S. 1–103, hier zitiert nach Traniello, Societ/, S. 161; Farina, Rosmini, S. 30; Marangon, Risorgimento, S. 332f. 951 Leider verharrt Farina, Rosmini, ganz an der ereignisgeschichtlichen Oberfläche und stellt diese Frage erst gar nicht bzw. setzt ihre positive Beantwortung voraus. Soweit aus den verfügbaren Quellen ersichtlich ist, orientierten sich die »Agiati« tatsächlich stark an Rosmini, als markante Beispiele siehe etwa AAA, 151.1, Giovanni Bertanza, Il tempio dell’immoralit/, capitolo in terza rima, 03. 01. 1837; Bertanza, Tempio, S. 165f. 952 Traniello, Societ/, S. 137–280. 953 »Jede Gesellschaft besitzt also grundsätzlich einen Geist der Voraussicht, der ihrem Umfang und ihrer Beständigkeit entspricht. […] Die Weisheit des Katholizismus durchbricht diese Grenzen, weil sie die Weisheit einer universalen und ewigen Gesellschaft ist.« Antonio Rosmini, Intorno al celibato dei preti, 12. 02. 1835, veröffentlicht als ders., Sul Celibato und als Dissertazione sul celibato letta dal Rmo. Arciprete Donn’Antonio Rosmini nella tornata
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schaft war hier also nicht funktional gedacht, ein rein funktionalistisches Verständnis von Religion lehnte Rosmini vielmehr vehement ab. Dieses Verhältnis war bei ihm organisch und hierarchisch konzipiert: Die katholische Gesellschaft stehe über anderen sozialen Formationen, wirke aber gerade dadurch positiv auf diese ein.954 Gesellschaftlicher Fortschritt sei deshalb, wie er zwölf Jahre später in einem weiteren, vielbeachteten Vortrag ausführte, nur über Religion und religiöse Reformen erreichbar. Zeitgenössischen, insbesondere sozialistischen Sozialutopien, wie sie Robert Owen, Henri de Saint-Simon oder Charles Fourier formuliert hatten, stellte er das Idealbild der katholischen Gemeinschaft, deren vorzüglichste Ausprägung er in jener Italiens fand, entgegen: »Felice necessit/ H all’Italia, aver la cattolica fede a fondamento della stessa sua politica grandezza, e dire la cattolica fede, H un dire altres' la virtF morale con tutto il suo eroismo e il generoso suo sacrificio, H un dire la giustizia privata e pubblica, e un dire la legittima libert/, che vive e si nutre della luce della religione.«955
Ganz im Sinne von Giobertis »Primato« sei also die Katholizität das Substrat der italienischen Superiorität, deren politische Realisierung Rosmini ganz in die Hände von Papst Pius IX. legte: »Quell’altissima provvidenza, che suscitk alla chiesa universale, e piF particolarmente all’Italia, un Pastore, il quale su quel solidissimo fondamento della religione, della giustizia, e di ogni morale virtF […], viene edificando con mano maestra e possente l’edificio della felicit/ de suoi popoli, e il trionfo della Chiesa: Pio IX!«956
Katholizismus als gesellschaftliches Rückgrat, als Faktor des Fortschritts und der moralischen Vervollkommnung – dies waren die diskursiven Basiselemente der religiösen Kommunikation der »Agiati« vor 1848. Wichtige Belege für ihre Reflexionen über das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft fanden die Mitglieder der Akademie – und dies war für den vormärzlichen Neoguelfismus straordinaria dell’Accademia degli Agiati tenuta il d' 12 febbrajo 1834, MT Nr. 39, 15. 05. 1835, S. 4–6 und Nr. 40, 19. 05. 1835, S. 5f., Zitat S. 5, Anm. 1; AAA, 158.2., Giovanni a Prato, Sull’educazione delle donne, 19. 04. 1845. 954 Dissertazione sul celibato letta dal Rmo. Arciprete Donn’Antonio Rosmini nella tornata straordinaria dell’Accademia degli Agiati tenuta il d' 12 febbrajo 1834, MT Nr. 39, 15. 05. 1835, S. 4–6, S. 5; Traniello, Societ/, S. 149f., S. 162–178. 955 »Glückliche Notwendigkeit Italiens, den katholischen Glauben als Grundlage der eigenen politischen Größe zu haben, und wenn man vom katholischen Glauben spricht, sind damit gleichfalls die moralische Tugend mit all ihrem Heroismus und ihrem großzügigen Opfergang, das private und das öffentliche Recht, die legitime Freiheit, die in der Religion lebt und von ihrem Licht genährt wird, angesprochen.« 956 »Jene höchste Vorsehung, die der universalen Kirche, und insbesondere Italien jenen Hirten bescherte, der auf dem festen Fundament der Religion, der Gerechtigkeit und jeder moralischen Tugend […] mit meisterhafter und mächtiger Hand das Gebäude der Glückseligkeit seiner Völker und des Triumphes der Kirche erbaut: Pius IX!« AAA, 160.2, Antonio Rosmini, Dei piF celebri riformatori sociali dei tempi nostri, 15. 07. 1847, Zitate S. 19, S. 20.
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typisch – auch in der historischen Dimension, deren politische Konsequenzen über die Postulate Rosminis mitunter hinausreichten. Giovanni a Prato präsentierte 1844 eine historiographische Arbeit über den Investiturstreit, mit der er sich gleichzeitig um die Aufnahme in den Kreis der Akademiker bewarb. A Pratos mediävistische Studien waren in erster Linie – dies betonte er selbst und dies entging auch den anwesenden »Agiati« nicht – ein wortgewaltiges Plädoyer für die Freiheit der Kirche vor staatlichen Eingriffen sowie den Vorrang des Papstes unter den italienischen Fürsten. In überschwänglichem Pathos lobte a Prato den Kampf Papst Gregors VII. für innerkirchliche Reformen und gegen die Übergriffe des »deutschen« Kaisers auf die Kirche.957 Damit reihte er sich in die neoguelfische historiographische Schule ein, deren vornehmlicher Untersuchungsgegenstand das Mittelalter war. Sie beschrieb das Papsttum als genuin nationale Institution, die trotz jahrhundertelanger Fremdbeherrschung die italienische Nationalität konserviert habe.958 Der Vortrag a Pratos ist auch einer der wenigen, der konkretere Aussagen über seine Rezeption erlaubt: In geradezu euphorischen Gutachten (»cose da far strabiliare i cani!!«)959 beurteilten die »Censori« den Vortrag und dessen Wirkung auf das anwesende Publikum. Bemerkenswert ist nicht nur, dass die »Censori« a Pratos historische Interpretation ohne Widerspruch teilten, sondern auch, dass sie seine Thesen durch Belege weiterer neoguelfischer Historiker, etwa Cesare CantFs, untermauerten.960 Im weitgehend staatsfreien Rahmen der Versammlungsöffentlichkeit fügten sich die »Agiati« somit in eine breitere, nationale Diskursgemeinschaft ein. Obwohl – abgesehen von Rosmini freilich – der Trentiner Beitrag zu dieser allein schon aus politisch-polizeilichen Gründen sehr beschränkt blieb, war die Akademie ein geradezu idealer Rahmen, um im Schatten nur vordergründig unpolitischer Themen politische, religiöse und historische Ansätze des Neoguelfismus zu rezipieren und den lokalen Gegebenheiten anzupassen. Dies zeigte nicht zuletzt das flammende Plädoyer des Priesters Giovanni Bertanza, der 1845 seine Mitakademiker eindringlich zur Erforschung der eigenen Geschichte aufforderte. In einer bemerkenswerten Deutlichkeit kritisierte er die österreichische Herrschaft über den italienischen Teil Tirols: »Noi collocati qui sull’estremo lembo d’una nazione stiam esposti continuamente alle critiche invasioni d’un altra. Se questa per suoi fratelli ci abbraccia, quella per sua propriet/ ci pretende, […] Italiani non ci H sempre permessi di essere, Tedeschi non ci
957 AAA, 157.2, Giovanni a Prato, Papa Gregorio VII ed Enrico IV imperatore in Canossa, dissertazione, 06. 08. 1844, S. 13–22. 958 Herde, Guelfen, S. 61–144. 959 »Dinge, die Hunde ins Staunen versetzen!« 960 AAA, 62, Giuseppe Sicher, Parere dei censori Pietro Cristofori e Giuseppe Sicher sulla aggregazione di Giovanni Battista a Prato, [1844], Zitat S. 2.
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lasciano essere n8 la lingua, n8 i costumi, n8 la medesima piF natural posizione. Or chi dunque siam noi?«961
Bertanza sah die einzige Möglichkeit, diese Frage mit aller Gewissheit zu beantworten, in der Vergangenheit der patria. Die Erforschung der eigenen Geschichte sei mithin eine genuin nationale Aufgabe, zu der »patrio amore« und die Religion verpflichteten. In Anschluss an Rosminis religiöse Gesellschaftslehre baute auch Bertanza in seinen Ausführungen auf ein hierarchisches Verhältnis zwischen christlicher und nationaler Gesellschaft: »Quell’amore, che a’ prossimi nostri ci H nel codice di Cristo con tanta enfasi comandato, dovr/ essere come la norma dei doveri nostri alla patria.«962 Christliche Nächstenliebe und die Zuneigung zur patria, mithin zur Nation, wurden hier parallelisiert – so wie die erste die christliche, so begründe die zweite die nationale Gemeinschaft. Überblickt man die religiöse Kommunikation der »Agiati« und ihre mediale Form, dann wird die kulturell-intellektuelle Hegemonie, die liberal-katholische Selbstbeschreibungen im Laufe des Vormärz im südlichen, italienischsprachigen Tirol erlangten, nachvollziehbar. Die Akademie ermöglichte die Anbindung an gesamtitalienische Diskurse ebenso wie den regelmäßigen Austausch über Fragen der Religion und der Nation, über gesellschaftliche, politische und kirchliche Reformen, kurzum, sie wurde zur Arena nationaler und religiös begründeter Selbstfindung in neoguelfischer Ausrichtung. Der Einfluss Rosminis auf diese Entwicklung war enorm, seine religions- und politikphilosophischen Theorien fanden selbst in literarischen Texten – wie etwa der oben besprochenen Parabel Bertanzas – breite Rezeption. Zugleich erzeugten auch andere Strömungen des durchaus pluralistischen Neoguelfismus, insbesondere die politischen Thesen Giobertis, in der Roveretaner Akademie große Resonanz.963 Zwei weitere Elemente sind hier hervorzuheben: Die neoguelfische Selbstbeschreibung der »Agiati« schloss das deutschsprachige Tirol mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit aus, indem sie klar zwischen patria und Tirolo unterschied. Sie deuteten »Tirol« als politisch-administratives Konstrukt und als habsburgisches Herrschaftsinstrument, das einer Geschichte und vor allem einer nationalen Einheit entbehre: »Eppure il Tirolo, il fedele Tirolo non ha una 961 »Wir, an den äußersten Zipfel einer Nation versetzt, sind den ständigen kritischen Einfällen einer anderen ausgesetzt. Während uns jene als ihre Brüder umarmt, so beansprucht uns diese als ihr Eigentum. […] Italiener zu sein ist uns nicht immer erlaubt, Deutsche lassen uns unsere Sprache, unsere Sitten wie auch unsere natürliche Lage nicht sein. Ach, wer sind wir nun?« AAA, 158.1, Giovanni Bertanza, Unione della poesia con la storia e vero patriottismo, 06. 04. 1845, Zitat S. 2f. 962 »Jene Liebe, die uns die Schrift Christi mit so viel Nachdruck unseren Nächsten gegenüber aufträgt, soll uns als Norm für unsere Pflichten gegen unser Vaterland dienen.« Ebenda, S. 2–4, Zitat S. 2. 963 Traniello, Rosmini; Giovagnoli, Neoguelfismo; Wolfzettel/Ihring, Katholizismus.
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storia!«964 Die Abkehr der Akademie vom deutschsprachigen Norden ist also nicht auf einer strukturell-personellen, sondern vor allem auch auf einer inhaltlichen Ebene ablesbar. Zweitens erfolgten diese Selbstbeschreibungen in einem überraschend staatsfreien Rahmen. Die Akademie, die sich als Gemeinschaft Anwesender konstituierte, blieb weitgehend frei von staatlichen bzw. kirchlichen Eingriffen und ermöglichte somit die Auseinandersetzung mit Themen, die außerhalb der akademischen Versammlungsöffentlichkeit kaum ansprechbar waren. In ihrer hybriden Mischung aus überpersonaler Kommunikation und Vergemeinschaftung unter Anwesenden respektierte die Akademie durchwegs die Grenzen der Zensur. So wurden besonders heikle Passagen, wie etwa die oben angeführte Hymne Rosminis auf Papst Pius IX. nur mündlich vorgetragen – für die Veröffentlichung im »Messaggiere Tirolese« wurde sie in sorgsamer Selbstzensur ersatzlos gestrichen.965 Die Reichweite der liberalkatholischen Selbstfindung blieb damit auf einen exklusiven Personenkreis beschränkt, der allerdings groß genug war, um dem Neoguelfismus und dem liberalen Katholizismus im südlichen Tirol bis in die zweite Jahrhunderhälfte hinein eine dominante Stellung zu sichern.
6.2. »Ozio«, Fortschritt und praktisches Christentum: Der »Giornale agrario« Parallel zum elitär-selbstreferentiellen neoguelfischen Diskurs der Roveretaner »Accademia« entstand eine zweite, praxisbezogenere und vor allem öffentlichkeitswirksamere Form der Kommunikation über Religion und Nation. Der zwischen 1840 und 1848 erschienene »Giornale agrario dei distretti trentini e roveretani« der italienisch-trentinischen Sektion der Tiroler Agrarsozietät bildete ein effizientes und eng mit den »Agiati« vernetztes Forum,966 das im Jahr964 »Und dennoch hat Tirol, das treue Tirol, keine Geschichte!« Francesco Fillos, Una Introduzione ai Cenni intorno alle antiche divisioni geografiche e politiche del Tirolo e alla famiglia dei conti di Spaur, 13. 02. 1834, veröffentlicht in Tornata straordinaria dell’I. R. Accademia degli Agiati, MT Nr. 14, 18. 02. 1834, S. 4, hier das Zitat; AAA, 142.4, Giuseppe Telani, Intorno ad un manoscritto dell’Arciprete di Arco, 01. 07. 1828, in Auszügen veröffentlicht in Imp. Reg. Accademia Roveretana. Tornata del di 1. Luglio 1828, MT Nr. 29, 10. 04. 1829, S. 5. 965 Giovanni a Prato, Tornata ordinaria dell Imp. Reg. Accademia Roveretana tenuta ai 22 di Giugno 1847, MT Nr. 66, 18. 08. 1847, S. 3f. 966 Götz, Bürgertum, S. 100–106. Vor allem in den führenden Positionen deckten sich die Mitglieder der beiden Institutionen, wie das Beispiel des Roveretaner Juristen Giuseppe Telani zeigt, der von 1830–1845 Präsident der Roveretaner Akademie, von 1840 bis 1844 Vorsitzender der Roveretaner Sektion des Agrarvereins, Autor einiger Artikel für den »Giornale agrario« sowie Trentiner Abgeordneter zu den jährlichen Plenarversammlungen
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zehnt vor der Revolution den akademischen Intellektualismus in eine populäre und greifbare Sprache übersetzte und auf zwei volksnahe und alltagspraktische Bereiche anwandte: Landwirtschaft und Moral. Nach dem kurzlebigen, etatistisch-elitären Vorlauf der maria-theresianischen Agrarsozietäten der 1760er Jahre etablierte sich im Vormärz wie in der restlichen Monarchie bzw. in einem Großteil Europas auch in Tirol eine agrarische Gesellschaft mit dem allgemeinen Ziel, die rückständige, produktionsschwache und anfällige Landwirtschaft des Kronlandes zu modernisieren und zu verwissenschaftlichen.967 Nachdem im Mai 1838 nach jahrelangem Druck der Tiroler Stände die »k.k. Tiroler Landwirtschaftsgesellschaft« gegründet worden war, konstituierten sich deren Roveretaner und Trienter Ableger im Mai 1839 zu einer weitgehend autonomen, mit eigenen Statuten versehenen Hauptfiliale. Wenngleich die Trentiner Vertreter des Vereines beteuerten, diesen Schritt vorab wegen der besonderen landwirtschaftlich-klimatischen Eigenschaften des südlichen Tirol, die sich von jenen im Landesteil nördlich des Brenners tatsächlich markant unterschieden, vollzogen zu haben, entwickelte die »Societ/ agraria« ein weitgehend unabhängiges Vereinsleben. Obwohl Zweck und Zielsetzung im Grunde dieselben blieben, lässt sich mit Gerd Heinicke von einem eigenständigen Verein sprechen.968 Gewiss, auf den ersten Blick war die tatsächliche Wirksamkeit der Trentiner Hauptfiliale – wie im übrigen auch jene des gesamttirolischen Vereins – eher bescheiden. Den vielen angedachten und teilweise lancierten Vorhaben, die vom experimentellen Anbau über Prämien für innovative Landwirtschaft, einem Lehrstuhl für Agrarwirtschaft an der Universität Innsbruck bzw. den Priesterseminaren in Brixen und Trient bis hin zu Landwirtschaftsschulen reichten, war kaum ein nachhaltiger Erfolg beschieden, die Landwirtschaft Tirols blieb weiterhin unproduktiv und labil.969 Die Bedeutung dieses Vereins lag indes nicht in des gesamttirolischen Agrarvereines war : Atti sociali, Tornata generale dei due Circoli italiani, tenuti in Trento il giorno 25 giugno 1844, GADTR Nr. 33, 13. 08. 1844, S. 133–135. 967 Bruckmüller, Organisationen; Bonoldi, Associazionismo, S. 107–117, S. 121–125; Leonardi, Societ/ Agrarie, S. 8–12, Heinicke, Landwirtschaftsgesellschaft, S. 16–20. 968 Heinicke, Landwirtschaftsgesellschaft, S. 23f., Leonardi, Societ/ Agrarie, S. 12–14; Bonoldi, Associazionismo, S. 125f.; Bruckmüller, Organisationen, S. 70; Appendice – Agricoltura, MT Nr. 55, 09. 07. 1839, S. 4. Dass Vertreter des Trentiner Ablegers die Hauptversammlungen des Gesamtvereines nach 1846 nicht mehr besucht hätten und dies ein deutliches Signal einer faktischen Abspaltung sei, wie in der hier angeführten Literatur behauptet wird, kann nicht bestätigt werden. 1846 wurde zumindest ein Vertreter für die Hauptversammlung bestimmt, 1847 war ein solcher auch in Innsbruck anwesend: Tornata generale dei due Circoli italiani tenuta in Trento il giorno 21 Aprile 1846, GADTR Nr. 24, 16. 08. 1846, S. 94–96, S. 96; Relazione del Presidente della Sezione Italiana dell’I.R. Societ/ Agraria tirolese fatta nella adunanza generale provinciale in Innsbruck il 18 maggio 1847, ebenda Nr. 30, 27. 07. 1847, S. 117f. 969 Leonardi, Societ/ Agrarie, S. 20; Bruckmüller, Organisationen, S. 74–89, S. 98–100;
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seiner (unerfüllten) Zielsetzung, sondern vielmehr in seiner Konstitution und Arbeitsweise: Es handelte sich dabei um die erste ausdrücklich überständische, das gesamte italienischsprachige Tirol umfassende Sozietät, die 1843 die beachtliche 650-Mitglieder-Marke überschritt.970 Trotz seiner sozialen Durchlässigkeit blieb der Verein weitgehend eine Angelegenheit gesellschaftlicher Eliten und setzte sich vor allem aus Geistlichen, Adeligen, Staatsbeamten und Juristen zusammen, während Bauern und Landarbeiter eine marginale, darüber hinaus noch schwer zu haltende Minderheit blieben.971 Wie schon in der Roveretaner Akademie nahm auch in der »Societ/ Agraria« der Klerus eine zentrale Rolle ein, zeitweilig waren über 20 Prozent der Mitglieder geistlichen Standes.972 Neben den jährlichen Hauptversammlungen in Trient veranstaltete der Verein in unregelmäßigen Abständen auch »comizi agrari« in den größeren Landgemeinden. Die in Pergine in der Valsugana am 28. Juni 1846 gehaltene Agrarversammlung gibt einen näheren Einblick in den Aufbau, Ablauf und die öffentlichkeitswirksame Darstellung dieser vormärzlichen »comizi«. Zunächst war die Versammlung als Volksfest arrangiert: Staatliche und kirchliche Autoritäten nahmen an der Veranstaltung teil. Sie fand an einem Sonntag statt, die örtliche Musikkapelle spielte auf, bekannte Volksschriftsteller, allen voran Gioseffo Pinamonti, lasen aus ihren Texten, Prämien an verdiente Landwirte wurden verteilt. Dieses aufwendige Festarrangement lockte über 6.000 Bauern auf den Hauptplatz von Pergine, wo der Verein vor einer für den österreichischen Vormärz außergewöhnlichen Kulisse die eigenen Zielsetzungen propagieren konnte. Die Redner, allen voran der Vereinspräsident Matteo Thun, appellierten an die Bauern, sich über die Angebote des Vereines fortzubilden und an den gesellschaftlichen Fortschritt zu glauben, ermahnten den Klerus eindringlich, auf die Landbevölkerung in diesem Sinne einzuwirken und setzten darüber hinaus wohldosierte nationale Akzente (»la nostra Italia«) ein. Der Dekan von Pergine, Francesco Tecini, schärfte in einer Festpredigt die religiöse Seite des gesellschaftlichen und landwirtschaftlichen Fortschrittes ein, ein Beamter trug seine schlichten literarischen Kompositionen vor, die den Bauern, bevor sich die Leonardi, Societ/ Agrarie, S. 17–19; Bonoldi, Associazionismo, S. 129f.; Heinicke, Landwirtschaftsgesellschaft, S. 26–32; Fontana, Restauration, S. 634–639; Schmid, Weltklerus, S. 328. 970 Leonardi, Societ/ Agrarie, S. 9f., Anm. 16; Bonoldi, Associazionismo, S. 124; Bruckmüller, Organisationen, S. 54f. 971 Elenco degli Associati a questo giornale nell’ordine che ci sono giunti, GADTR Nr. 9, 03. 03. 1840, S. 36; Bruckmüller, Organisationen, S. 54–56; Leonardi, Societ/ Agrarie, S. 16; Bonoldi, Associazionismo, S. 127; Heinicke, Landwirtschaftsgesellschaft, S. 41f. 972 Gioseffo Pinamonti, Gli ecclesiastici e l’agricoltura, GADTR Nr. 21, 25. 05. 1841, S. 82; Leonardi, Societ/ Agrarie, S. 16; Schmid, Weltklerus. Ein ähnliches Bild bietet die vormärzliche Abonnentenschaft des Krainer Agrarblattes »Novice«, die zu 50 Prozent aus Klerikern bestand: Hösler, Krain, S. 246–253.
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Versammlung auflöste, in gedruckter Form mit nach Hause gegeben wurden. Wenige Wochen später berichtete die Vereinszeitschrift ausführlich über die imposante Bezirksversammlung. Durch die geschickte Kombination von populären Belustigungen und die Einbindung staatlicher und kirchlicher Würdenträger konnte der Verein seine Ziele und seine Methoden unter der Landbevölkerung verbreiten, die detailliert berichtende Vereinszeitschrift sorgte dafür, dass die »comizi« im gesamten italienischen Teil des Kronlandes bekannt wurden und ließ eine überlokale Kommunikationsgemeinschaft daran teilhaben.973 Ab November 1847 wurden in den Räumlichkeiten des »Istituto sociale« in Trient wöchentliche »conferenze agrarie« gehalten, in denen einzelne Mitglieder Vorträge zu wissenschaftlichen, agrarischen oder moralischen Problemen hielten. Diese regelmäßigen Zusammenkünfte standen allen Mitgliedern des Agrarvereins offen und ihre Ergebnisse wurden in der Vereinszeitschrift veröffentlicht. Der Agrarverein schuf sich somit eine der Roveretaner »Accademia« durchaus ähnliche, permanente Anwesenheits-Öffentlichkeit, die durch das Medium der Zeitschrift mit einer überpersonalen Öffentlichkeit verbunden war.974 Das bedeutendste Kommunikations- und Verbreitungsmedium war jedoch die Vereinszeitschrift »Giornale agrario dei distretti trentini e roveretani«. Die ab dem 7. Januar 1840 wöchentlich erscheinende, einen Bogen starke Zeitschrift war neben dem offiziösen »Messaggiere Tirolese« das einzige »nennenswerte« (Th. Götz) Verbreitungsmedium des vormärzlichen Trentino. Während seines neunjährigen Erscheinens zählte der »Giornale« stets um 500 Abonnenten und erreichte bis zu 584 Abnehmer. Das lesende Publikum, das wöchentlich erreicht wurde, war indes um ein Vielfaches größer, da zahlreiche ländliche Gemeinden oder Lesekabinette die Zeitschrift abonnierten.975 Der offizielle Redakteur (»compilatore«) der Zeitschrift war der Journalist, Lehrer und Naturwissen973 Relazione sul comizio agrario tenuto in Pergine il giorno 28 giugno 1846, GADTR Nr. 32, 11. 08. 1846, S. 226–228; Nr. 33, 18. 08. 1846, S. 299–231, das Zitat auf S. 229; Solenne distribuzione di premj agrarj fatta dalla Sezione italiana dell’I.R. Societ/ agraria tirolese in Pergine, MT Nr. 55, 11. 07. 1846, S. 2f.; Cose Patrie, MT Nr. 17, 24. 09. 1842, S. 1–3, S. 2f. 974 GADTR Nr. 3, 20. 01. 1848, S. 17f. 975 Leonardi, Societ/ Agrarie, S. 14–16; Bonoldi, Associazionismo, S. 126f.; Elenco degli Associati a questo giornale nell’ordine che ci sono giunti, GADTR Nr. 38, 21. 09. 1840, S. 152; Zieger, Giornalismo, S. 65–68; siehe auch Giuseppe Telani, Discorso letto dal Preside del Comitato agrario circolare di Rovereto […], GADTR Nr. 1, 03. 01. 1843, S. 1–3, S. 3: »Ogni comune questo giornale lo ha. Sarebbe, per quello che a me ne sembra, sino una specie di piacevole trattenimento il radunarsi in qualche luogo, nei giorni per esempio festivi dopo gli uffizj della chiesa, […], e quivi alcuno farne a tutti la lettura, e sopra le cose lette manifestare ognuno la propria opinione.« – »Jede Gemeinde hat diese Zeitung. Es wäre, meines Erachtens, gar eine vergnügliche Unterhaltung, sich an einem Ort zu versammeln, etwa an den Feiertagen nach dem Gottesdienst […], und dort gemeinsam die Zeitung zu lesen, um dann jeden seine Meinung dazu äußern zu lassen.«
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schaftler Agostino Perini, der gleichzeitig als hauptamtlicher Sekretär der »Societ/« wirkte.976 Ab 1841 trat Gioseffo Pinamonti in die Redaktion der Zeitschrift ein und verlieh ihr durch eine Vielzahl von Originalartikeln nicht nur seine Signatur, sondern nutzte sie vielmehr auch zur praktischen Umsetzung seines liberalkatholischen politischen Programms, das er einige Jahre vorher in seinem Reiseführer über Trient entworfen hatte.977 Der Verein und seine Zeitschrift waren Ausdruck eines progressiven wie paternalistischen Impetus der gesellschaftlichen Reform in risorgimentaler Absicht. Ihre Zielsetzungen, die Modernisierung der Landwirtschaft und die Bildung der Bauern bzw. der Landarbeiterinnen und Landarbeiter standen im Dienst der gesellschaftlichen Modernisierung durch die Trias WissenschaftFortschritt-Religion. Zwar wandte sich der »Giornale« in erster Linie an Bauern – auf eine einfache, leicht verständliche Sprache wurde größter Wert gelegt –,978 allerdings zielte die Zeitung damit nicht auf deren Emanzipation ab, sondern in paternalistischer Absicht auf deren Integration in eine »zivilisierte«, wirtschaftlich aufstrebende nationale Gemeinschaft.979 So verteidigte die Zeitschrift die ständische Gesellschaftsordnung oder die Grundabgaben mehrfach – der Bauer blieb in den Zeilen des »Giornale« ein kindliches, zu belehrendes und zu erziehendes Subjekt.980 Die Verbreitung wissenschaftlich-technischer Kenntnisse aller Art und agrarwirtschaftlicher Aufschwung allgemein galten dem Verein vielmehr als Mittel der nationalen Anbindung des Trentino an Italien, wie Agostino Perini in einer für den Vormärz ungewöhnlich offenen Sprache zum Ausdruck brachte: »Sia lode pertanto all’illustre Congresso degli Scienziati italiani tenuto in Pisa nell’anno 1839 per aver primo ideato questo nazionale lavoro d’una Statistica agricola d’Italia, al sig. marchese Mazzarosa che primo vi diede mano colla Statistica agricola del Ducato di Lucca, al sig. conte Sanseverino, ch’esegui quella di Crema, agli egregj agronomi Piemontesi che a tutta possa stanno lavorando quella del loro paese, e a tutti gl’Italiani che per certi si presteranno a questa fatica, nH saremo noi gli ultimi su quest’ultimo lembo dell’Italia a corrispondere a un dovere a cui ci chiama la nostra nazionalit/, e il nostro interesse.«981
976 Alessandrini, Biografia, S. 291–316. 977 Kap. 4.4. 978 Gioseffo Pinamonti, Il conte Benedetto Giovanelli, GADTR Nr. 24, 16. 06. 1846, S. 93f., S. 94; [Agostino Perini], Il compilatore ai lettori, GADTR Nr. 3, 04. 01. 1842, S. 1; Bonoldi, Associazionismo, S. 126f. 979 Gioseffo Pinamonti, Come il giornale Agrario puk contribuire all’incivilimento della Popolazione, GADTR Nr. 34, 24. 08. 1841, S. 133f; Hösler, Krain, S. 254–270. 980 Gioseffo Pinamonti, Pensieri e desiderii circa le Decime, GADTR Nr. 49, 06. 12. 1842, S. 111–113; ders., Nobile e Cristiano trattamento dei Campagnoli, ebenda Nr. 22, 01. 06. 1847, S. 87f.; I Ricchi e i Poveri. Il Curato, e Giannetto, ebenda Nr. 8, 21. 02. 1843, S. 31f. 981 »Der ehrwürdige Kongress der italienischen Wissenschaftler, der in Pisa im Jahr 1839
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In der Tat förderte die in den 1840er Jahren regelrecht boomende landeskundliche Statistik erstmals die Vorstellung von einem geographisch, klimatisch und wirtschaftlich homogenen »Trentiner« Raum. Wie Umberto Corsini und Renato Mazzolini für das Trentino und Silvana Patriarca für den restlichen italienischen Sprachraum betont haben, diente diese nachgerade pedantisch-penible Sammlung statistischer Daten der Materialisierung der abstrakten Idee der Nation ebenso wie der wissenschaftlichen Legitimierung politischer Forderungen. So stützten sich die mitunter erstaunlich detaillierten Trentiner Denkschriften während der Revolution 1848 zu einem erheblichen Teil auf die statistischen Abhandlungen des »Giornale agrario«.982 Praktisch und medial wurde die Anbindung an die italienische Kulturnation überdies durch die Wiedergabe von Artikeln aus norditalienischen Agrarzeitungen und vor allem durch permanente Bezugnahmen auf die landwirtschaftlichen Sektionen der italienischen Wissenschaftskongresse hergestellt, zu denen 1846 mit Camillo Sizzo und dem Veroneser Filippo Alessandro de Gianfilippi und 1847 mit Matteo Thun, Giovanni a Prato, Eleutterio Lutteri und Giovanni Bertanza auch offizielle Vertreter entsandt wurden.983 Agostino Perini, einer der Architekten dieser wissenschaftlich-agrarischen Verbindung, bezeichnete 1852 rückblickend die Trentiner Hauptfiliale der Tiroler Landwirtschaftsgesellschaft als »anello che mise il gehalten wurde, sei gelobt, da er als erster an das nationale Werk einer Agrarstatistik Italiens gedacht hat, Lob gilt ebenso dem Marchese Mazzarosa, der mit der Agrarstatistik des Herzogtums Lucca begonnen hat, dem Herrn Grafen Sanseverino, der jene von Crema erarbeitete, den vortrefflichen Agronomen Piemonts, die an jener ihres Landes arbeiten, und allen Italienern, die diese Mühen auf sich nehmen werden. Auch wir in diesem äußersten Zipfel Italiens werden dieser Aufgabe entsprechen, zu der uns unsere Nationalität und unsere Interessen verpflichten.« Agostino Perini, Pensieri sopra una Statistica agricola del Trentino, GADTR Nr. 1, 02. 01. 1844, S. 3f.; Nr. 3, 16. 01. 1844, S. 12; Nr. 4, 23. 01. 1844, S. 15f.; Nr. 5, 30. 01. 1844, S. 19f.; Nr. 6, 06. 02. 1844, S. 24; Nr. 7, 13. 02. 1844, S. 27f.; Nr. 8, 20. 02. 1844, S. 32; Nr. 9, 27. 02. 1844, S. 36; Nr. 10, 05. 03. 1844, S. 40; Nr. 11, 12. 03. 1844, S. 44; Nr. 12, 19. 03. 1844, S. 48; Statistica degli inverni rigidi, ebenda Nr. 18, 04. 05. 1847, S. 72; Notizie patrie, ebenda Nr. 21, 20. 05. 1845, S. 86; Domenico Battisti, Quadro statistico dei prodotti agricoli delle comuni di Besenello e Calliano, ebenda Nr. 41, 13. 10. 1840, S. 161–164. 982 Corsini, Trentino, S. 319; Götz, Bürgertum, S. 100f.; Patriarca, Numbers; Mazzolini, Il territorio, S. 109; Leonardi, Statistica. 983 Delle Scuole di pratiche agrarie, considerate come mezzo efficace ed universale per l’istruzione dei contadini. Memoria letta nella Sezione di agricoltura del Congresso scientifico di Pisa, Ottobre 1839, GADTR Nr. 44, 03. 11. 1840, S. 174. Die wichtigsten Zeitungen, von denen Artikel entnommen wurden, waren »Amico del Contadino«, San Vito; »Giornale Agrario Toscano«, Florenz, »Giornale Agrario Lombardo-Veneto«, Mailand; F. A. de Gianfilippi, Relazione dei d’intorni dell’Agro Napoletano, e dei lavori della Sezione d’agronomia del settimo Congresso degli Scienziati italiani, GADTR Nr. 37, 15. 09. 1846, S. 145–147; Camillo Sizzo, Ragguaglio degli studii della Sezione di agronomia e di tecnologia al congresso di Genova, ebenda Nr. 50, 15. 12. 1846, S. 197–200; Corsini, Trentino, S. 321f.
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Trentino in comunicazione coi congressi scientifici italiani, stupenda istituzione che da sola basterebbe a dar movimento ad una nazione.«984 Dem agrarisch-wissenschaftlichen Fortschrittsdiskurs der »Societ/« – und dies mag überraschen – war eine eminent religiöse Dimension eigen, ja er gründete auf der Zielvorstellung einer idealen christlichen Gesellschaft. Dass sich zwischen unzähligen statistischen und belehrenden Abhandlungen über Obst- und Weinanbau, Düngemethoden und Tierkrankheiten, über Seidenraupen oder die Vermeidung von Ungeziefer immer wieder religiöse Texte reihten, war durchaus konsequent: Der Präsident des Vereins, Matteo Thun – Gioseffo Pinamontis ehemaliger Zögling –, definierte die Zielsetzung der Zeitschrift und des Vereins 1847 rückblickend mit einer »utilit/ materiale« und einer »tendenza morale«.985 Offenbar war der zweite Bereich zunächst nicht vorgesehen gewesen und erwuchs erst allmählich aus der Schwierigkeit, Woche für Woche die vier Seiten einer Ausgabe mit agrarwissenschaftlichen Inhalten zu füllen. Bereits im November 1840 klagte der Redakteur Perini in geradezu enerviert-frustriertem Ton, dass über landwirtschaftliche Themen bereits alles gesagt sei und forderte Gioseffo Pinamonti auf, andere Themenbereiche anzuschneiden.986 Pinamonti ergriff nun die Gelegenheit, sein gesellschaftspolitisches Programm umzusetzen. Der Priester aus dem Nonstal füllte in den folgenden Monaten ganze Ausgaben nahezu im Alleingang und verlieh so dem agrarischen Fortschrittsdiskurs des Vereins ein markantes religiös-moralisches Profil. Sein Verständnis von Fortschritt bekundete Pinamonti in einem programmatischen Artikel in aller Deutlichkeit: Fortschritt, unabhängig welcher Art, erwachse aus dem Gleichschritt mit Religion und Moral, ja »se il progresso materiale non va di pari passo 984 »Ring, der das Trentino mit den Wissenschaftskongressen Italiens verband, eine wunderbare Einrichtung, die allein schon genügte, um eine Nation in Bewegung zu versetzen«. Perini, Statistica I, S. 168. 985 Agostino Perini, Tornata Generale della Sezione agraria italiana tenuta in Trento il 21 Aprile 1847, GADTR Nr. 24, 15. 06. 1847, S. 93–95, S. 94. 986 APT, Archivio Thun, D 33.3 (10), Agostino Perini an Gioseffo Pinamonti, 19. 11. 1840: »Di gelsi abbiamo parlato anche troppo – di fasci! Dio ce ne liberi – di vino! Sono gi/ tanti gli articoli – di patate, di grano, di vacche abbiamo parlato – di porci c’H pure un articolo – Di che diavolo parleremo in avvenire? H per questo che sarebbe buono il torsi qualche volta da quest’agraria, conservando perk il primo articolo agricolo. Se andate d’accordo con me, o se avete qualche bel pensiero in proposito suggeritemelo, o piF ancora cominciate ad essere operativo nel senso che credete il meglio.« – »Von Maulbeerbäumen haben wir schon zu viel gesagt – von Raupen! Gott befreie uns von ihnen – über Wein! sind die Artikel schon zahlreich – Kartoffel, Getreide und Kühe haben wir bereits besprochen – sogar über Schweine gibt es einen Artikel – Über was zum Teufel sollen wir in der Zukunft noch schreiben? Aus diesem Grund wäre es manchmal gut, sich von der Landwirtschaft etwas zu distanzieren, der erste Artikel sollte jedoch agrarischen Inhalts bleiben. Wenn Sie mit mir einverstanden sind, oder wenn Sie selbst eine schöne Idee in dieser Hinsicht haben, empfehlen Sie sie mir, oder besser noch, beginnen Sie gleich in dem Sinn, den Sie für gut halten, tätig zu werden.«
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col retto pensare e colla moralit/, sia maledetto il progresso.«987 Mithin sei es nicht zuletzt Aufgabe der »Societ/ Agraria«, aber auch der Kirche, den »guten« Fortschritt zu sichern. Als Wächter der harmonischen Trias von Wissenschaft-Fortschritt-Religion wurden die katholischen Geistlichen auserkoren, denen, wie in anderen katholischen Gebieten auch, eine zentrale Rolle in der Vermittlung landwirtschaftlicher Innovationen zukam. Tatsächlich eigneten sich Priester aufgrund ihrer lebensweltlichen Nähe zur Landbevölkerung, aber auch dank ihres gehobenen Sozialprestiges, ihrer wissenschaftlichen Bildung und der kapillaren Vernetzung der kirchlichen Strukturen besonders für eine derartige Vermittlerrolle.988 Diese erhöhte sazerdotale Bedeutung für die Zielsetzungen der »Societ/ agraria« führte dazu, dass auch der »Giornale agrario« an einen idealen Priestertypus appellierte, der zwar in wesentlichen Zügen (»amore patrio«, Bildung, Demut, Umtriebigkeit) dem Pastor bonus der »Accademia« sehr nahe stand. Für die Zwecke des Agrarvereins wurde er aber gleichsam umfunktionalisiert und zeichnete sich insbesondere durch fortwährende agrarwissenschaftliche Bildung und eine rastlose Promotorentätigkeit für landwirtschaftliche Neuerungen aus. Andrea Leonardis Zweifel über die eigentlichen Adressaten des »Giornale« – die Landbevölkerung oder die Geistlichkeit am Land – sind insofern durchaus berechtigt.989 In der Tat richtete sich die Zeitschrift in zahlreichen Texten indirekt oder direkt an die Landgeistlichkeit: Eine typische, den Klerus wie auch die Landbevölkerung belehrende Textgattung bildeten etwa die häufigen fiktionalen Dialoge zwischen Landkuraten und Bauern, die gleichsam ein Vademekum für die geistliche Gesprächsführung in landwirtschaftlichen Angelegenheiten darstellten.990 Daneben wurden auch, wie bereits in der Akademie und in den »Katholischen Blättern«, Nekrologe verstorbener und um die Landwirtschaft besonders verdienter Priester gedruckt, die mitunter ausdrückliche Aufforderungen zur Nachahmung miteinschlossen.991 Drittens wurden die Priester in 987 »wenn der materielle Fortschritt nicht im Gleichschritt mit Aufrichtigkeit und Moralität zunimmt, dann sei er verflucht, der Fortschritt.« Gioseffo Pinamonti, Progresso in bene ed in male, GADTR Nr. 27, 06. 07. 1847, S. 105. 988 Schmid, Weltklerus, insbesondere S. 326–339. 989 Leonardi, Societ/ Agrarie, S. 16f. 990 Etwa Sopra una cura che si deve avere acciocchH non vada in carbone il frumento. L’Arciprete e il suo Parrocchiano Pasquale, GADTR Nr. 1, 03. 01. 1843; Sulla coltivazione del Frumento. Il Curato e Giovanni, ebenda Nr. 2, 10. 01. 1843, S. 6–8; Dialogo sopra un metodo economico di far le piantagioni, e l’utile che se ne avr/ facendole in tale maniera. L’arciprete e il suo parrocchiano, ebenda Nr. 21, 28. 05. 1843, S. 84–86; Dialogo sui beni comunali fra il Parroco e il Compare, ebenda Nr. 49, 02. 12. 1845, S. 195–197. 991 Paolo Leonardi, Biografia, GADTR Nr. 32, 10. 08. 1841, S. 127f.: »Voglia iddio ridonare a quella Valle un simil Pastore, ed impertirgli miglior salute, e sar/ fortunata appieno.« – »Möge Gott diesem Tal erneut einen derartigen Hirten schenken, und ihm eine bessere Gesundheit erteilen, so wird es vollkommen glücklich sein«; Giuseppe Degara, Necrologia,
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Texten, bei denen es sich teilweise um in den »comizii agrari« gehaltene Reden handelte, direkt angesprochen und dabei die Förderung und die religiöse Betreuung des agrarischen Fortschritts gleichsam als elementarer Teil der Seelsorge auf dem Land definiert. Artikel wie jener aus der Ausgabe vom 7. März 1843 sprachen die Kleriker direkt an: »A che bella cosa se tutti i Parrochi la pensassero cos', ed agissero in consequenza!«992 Es griffe indes zu kurz, diese hohe, dem katholischen Geistlichen beigemessene Bedeutung ausschließlich auf ein zweckorientiertes, pragmatisches Priesterbild zurückführen zu wollen, wie es etwa für den Josephinismus des 18. Jahrhunderts typisch war, der im Geistlichen das ideale Instrument zur Umsetzung elitärer, von »oben« herab implementierter Gesellschaftsreformen sah.993 Vielmehr gründete sie in einer elementaren religiös-gesellschaftlichen Grunddifferenzierung, gleichsam einer radikalen risorgimentalen Gesellschaftskritik: Vor allem Silvana Patriarca hat hervorgehoben, dass »ozio« der zentrale, von den führenden risorgimentalen Denkern wie Vincenzo Gioberti oder Cesare Balbo gebrauchte Begriff war, mit dem die italienische Rückständigkeit erklärt und begründet wurde. »Ozio« beschrieb eine geradezu »orientalische« Haltung des untätigen, apathischen Müßiggangs, der überall in Italien anzutreffen sei und es von den zivilisierten und arbeitsamen (»industriose«) Nationen Europas westlichen Typs entferne. Dieses nationale Defizit war den risorgimentalen Denkern zufolge jedoch nicht primordial und genetisch bedingt, sondern historisch kontingent: Erst durch die jahrhundertelange Fremdherrschaft sei Italien in einen entmännlichten Status der »oziosit/« verfallen.994 Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und nationale Unabhängigkeit ebenda Nr. 51, 17. 12. 1844; S. 206: »Patria! t’affretta ad innalzargli una epigrafe sepolcrale in cui splendano le eminenti virtF dell’illustre trapassato ad esempio anche dei piF tardi nipoti.« – »Vaterland! Beeile dich, ihm eine Grabinschrift zu errichten, aus der die vortrefflichen Tugenden des illustren Verstorbenen ausstrahlen, zum Vorbild der späteren Enkel«; Necrologia, ebenda Nr. 37, 09. 09. 1845, S. 149f.; Gioseffo Pinamonti, Un prete promotore di nuove ed utili opere agrarie, ebenda Nr. 35, 26. 08. 1845, S. 141: »Oh, se molti Ecclesiastici meritassero di essere dai Governi consultati su quello ch’H da farsi per promuovere il pubblico bene.« – »Oh, wenn nur viele Geistliche es verdienten, von den Regierungen darüber angehört zu werden, welche Maßnahmen zur Hebung des öffentlichen Wohls zu treffen seien.« 992 »Wie schön wäre es, wenn alle Priester so dächten und dementsprechend handelten.« Beni comunali. Un Amministratore e due Parrochi A. B., GADTR Nr. 10, 07. 03. 1843, S. 38–40, S. 38; Gioseffo Pinamonti, Della scienza in Agricoltura. Colloquio tra un Contadino e me, ebenda Nr. 16, 18. 04. 1843, S. 63–65, S. 63; ders., Gli ecclesiastici e l’agricoltura, ebenda Nr. 25. 05. 1841, S. 82; ders., Utile ritrovato di un parroco, ebenda Nr. 21, 25. 04. 1841, S. 84; Atti sociali. Sessione generale dei due Circoli Italiani tenuta in Trento il 21 Aprile 1843. Relazione del Segretario, ebenda Nr. 26, 27. 06. 1843, S. 103f.; Influenza del clero sull’avanzamento dell’istruzione agraria, ebenda Nr. 26, 24. 06. 1845. 993 Weißensteiner, Diözesanklerus, S. 295–298; Bowman, Priest, S. 101–138. 994 Patriarca, Indolence.
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wurden hier verschränkt, sie bedingten sich gegenseitig – ein ambitioniertes Programm wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung, wie es der »Giornale agrario« verfolgte, gewann allein deshalb schon nationale Bedeutung. Die Trentiner Agrarzeitung setzte aber – wie Cesare Balbo auch – den gesellschaftlichen Zustand der »oziosit/« in scharfen Gegensatz zum Idealbild einer christlichen Lebensführung, ja in den Zeilen des »Giornale« entwickelte sich »ozio« geradezu zum Anderen, zum Gegenteil der Religion.995 Insbesondere Gioseffo Pinamonti warnte Bauern und Geistliche unermüdlich vor den Versuchungen des »ozio« – unmoralisches Verhalten, ausschweifende Wirtshausbesuche und eine laxe Sexualmoral seien nicht nur die Kennzeichen einer irreligiösen Lebenshaltung, sondern auch ein Fanal für einen unabwendbaren wirtschaftlichen Ruin. Der gute, christliche Bauer – Pinamonti sprach in seinen Artikeln von »buoni cristiani« – widme sich ganz einer tugendhaften, sparsamen und vor allem rastlos-fleißigen Lebensführung: »Il cristiano vero H laborioso, e cerca di lavorare meglio che puk«. Geleitet und belehrt vom Klerus sei er offen für die Umsetzung agrarwissenschaftlicher Innovationen.996 Die energische Bekämpfung des »ozio«, des moralischen, religiösen und wirtschaftlichen Verfalls, lässt sich als semantische Konsequenz der Trias Wissenschaft-FortschrittReligion bezeichnen: So wie der religiös-moralische Verfall auch wirtschaftliche Dekadenz bedinge, ermögliche erst religiös-moralische Regeneration einen wirtschaftlichen Aufstieg. Dieses risorgimentale, neoguelfische Grundaxiom durchzog alle Jahrgänge des »Giornale agrario«, zunächst vor allem in den Texten Pinamontis, später übernahmen es auch andere Autoren bzw. Redner. So hielt der Dekan von Pergine im bereits erwähnten »comizio agrario« vor über 6.000 Anwesenden mit Nachdruck fest: »L’agricoltura bene esercitata H anche di sommo spirituale vantaggio«. Deshalb sei »il bravo agricoltore […] nemico dell’ozio, e va esente da molti gravissimi vizj che l’ozio produce. […] Il timore di Dio, e la pace H nella casa sua.«997 Ein anderer Geistlicher gab im »Giornale agrario« einen Passus aus 995 Ebenda, S. 392f.; APT, Archivio Thun, D. 31.2 (5), Giuseppe Maria Ducati an Gioseffo Pinamonti, 15. 10. 1847. 996 »Der wahre Christ ist arbeitsam und versucht so gut als möglich zu arbeiten.« Gioseffo Pinamonti, Del Lusso nei contadini, GADTR Nr. 10, 04. 03. 1845, S. 37f.; ders., Sopra un Pronostico fatto per l’anno corrente, ebenda Nr. 15, 14. 04. 1846, S. 59f.; ders., Degli anni e tempi buoni e cattivi, ebenda Nr. 17, 27. 04. 1841, S. 67f.; ders., Alcuni consigli, o suggerimenti, ai Contadini delle nostre Valli, specialmente a’fittajuoli, ebenda Nr. 2, 17. 01. 1843, S. 10–12; ebenda Nr. 3, 24 .01. 1843, S. 14f., das Zitat S. 14; Agostino Perini, Degli Ostacoli che si oppongono al progresso dell’Agricoltura, ebenda Nr. 5, 03. 02. 1846, S. 19. 997 »Die gut ausgeführte Landwirtschaft ist auch spirituell von erheblichem Nutzen. […] Der gute Landwirt ist deshalb der Feind des Müßiggangs und frei von den schlimmen Lastern, zu denen der Müßiggang führt. Gottesfurcht und Friede sind bei ihm zu Hause.« Relazione sul comizio agrario tenuto in Pergine il giorno 28 giugno 1846, GADTR Nr. 32, 11. 08. 1846, S. 226–228, S. 226.
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Ersatzöffentlichkeiten: Religiöse Kommunikation im Trentino
Chateaubriands »GHnie du Christianisme« (1802) mit folgenden Worten wieder : »La Religione perk non volle che quel giorno, nel quale domandasi a Dio che la terra fruttifichi, fosse giorno ozioso«.998 Und Pinamonti selbst schrieb über den katholischen Klerus: »Si dica piuttosto, e dicassi una verit/ che molto onora il nostro clero, che, sapendo esso che molti amano piF l’ozio che la fatica, e che senza faticare non si adempiono i doveri del Cristiano, vogliono, col promuovere la piF innocente delle arti, distorre le genti dai vizii che sono generati dall’oziosit/, e fare al tempo stesso che cessi la miseria.«999
Der »Giornale agrario« bzw. die »Societ/ agraria« verbreiteten ein der Lebenswelt der italienischsprachigen Landbevölkerung Tirols angepasstes, praxisbezogenes Christentum, das sich eng an dominante Narrative des vormärzlichen, vor allem neoguelfischen Risorgimento anlehnte und in vieler Hinsicht dem bürgerlichen Reformkatholizismus im deutschen Sprachraum sehr ähnlich war.1000 Neben der Vermittlung wirtschaftlicher und technischer Kenntnisse zielten Zeitschrift und Verein eben auch auf religiöse Grundhaltungen ab. Man kann also von einer medialisierten und religiös aufgeladenen Form der »Feldpredigten« sprechen, wie die belehrenden Vorträge an die Bauern Böhmens und Mährens im Vormärz genannt wurden.1001
6.3. Zusammenfassung Eine vornehmlich technisch-wirtschaftlich ausgerichtete Zeitschrift diente im südlichen Tirol somit als regionales Verbindungs- und Verbreitungsmedium für risorgimentale, neoguelfische Diskurse, die eine rationalisierte ländliche Lebenswelt religiös begründeten. Damit wirkte sie als Plattform für einen weitgehend staatsfernen öffentlichen Kommunikationsraum: Gerade weil die Grundstruktur der Tiroler Agrarsozietät zunächst eine sehr enge Verzahnung zwischen dem Verein und staatlichen Stellen vorgesehen hatte, konnte der »Giornale« weitgehend unbehelligt von den Zwängen der Zensur erscheinen. 998 »Die Religion aber wollte nicht, dass jener Tag, an welchem Gott gebeten wurde, dass die Erde Früchte trage, ein Tag des Müßiggangs sei.« Pensieri sull’agricoltura. Le processioni delle rogazioni, GADTR Nr. 43, 27. 10. 1846, S. 171. 999 »Man sage stattdessen, und spreche damit eine unseren Klerus sehr ehrende Wahrheit aus, dass dieser, wissend, dass viele dem Müßiggang mehr zugeneigt sind als dem Fleiße, und dass ohne harte Arbeit die Pflichten des Christen nicht erfüllt werden, indem er die unschuldigste der Künste fördert, die Menschen von den Lastern des Müßiggangs abhält und dabei gleichzeitig deren Elend bekämpft.« Gioseffo Pinamonti, Gli ecclesiastici e l’agricoltura, GADTR Nr. 21, 25. 05. 1841, S. 82. 1000 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 941f. 1001 Bruckmüller, Organisationen, S. 74; Schmid, Weltklerus, S. 330.
Zusammenfassung
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Perinis leidenschaftliches Plädoyer für die Statistik als nationale Wissenschaft zeigt in eklatanter Weise, wie nachlässig die österreichische Zensur vordergründig unpolitische Inhalte behandelte. Erst ab 1846/47, als die österreichischen Behörden den »Giornale« genauer observierten, operierte die Redaktion vorsichtiger und griff durch Selbstzensur schärferen staatlichen Interventionen vor. Pinamonti schloss beispielsweise einen exaltierten Artikel über Pius IX., den ein Trentiner Priester aus Mailand eingesandt hatte, mit einem trockenen »si ommetta« von der Veröffentlichung im »Giornale« aus.1002 Im Gegensatz zur »Akademie«, die im Grunde keinen weiteren Resonanzradius anstrebte, ermöglichten diese kommunikativen Bedingungen eine weite Verbreitung praxisbezogener Diskurse mit einer immanenten politischen Bedeutung. Die einfache Sprache der Texte, die in Massenveranstaltungen wie in Pergine oder durch Geistliche im ländlichen Alltag auch mündlich verbreitet wurden, ermöglichten im Gegensatz zur Akademie, aber auch zu den Deutschtiroler »Katholischen Blättern« eine zwar sanfte, aber implizite und kontinuierliche Durchdringung der Landbevölkerung mit politischen und religiösen Inhalten, die an Staat und Kirche vorbei, gleichsam als »Tröpfchenberegnung«, wirkte. Religion wurde somit auch im italienischsprachigen Tirol, über den Umweg zweier »Ersatzöffentlichkeiten«, öffentlich. Die Roveretaner Akademie und die »Societ/ Agraria« ermöglichten auf unterschiedlichen Wegen die Anbindung an größere, nationale Öffentlichkeiten und die Ausbildung regionaler, wiewohl beschränkter und nicht immer leicht zugänglicher Kommunikationsgemeinschaften. Obwohl diese zunächst ganz unterschiedliche Absichten und Adressaten hatten – die Akademie richtete sich an das gebildete Bürgertum und an eine regionale wissenschaftliche Gemeinschaft, die Agrargesellschaft in erster Linie an Bauern und Geistliche, wiewohl auch sie von naturwissenschaftlich interessierten bürgerlichen Schichten getragen war – waren sie eng verbunden und ergänzten sich kongenial. Den Platz der Religion in der Moderne, ihr Verhältnis zum gesellschaftlichen Fortschritt und zur Nation, und damit die Beziehung zwischen dem Trentino und der italienischen Kulturnation wurde im Vormärz von neoguelfischen, liberalkatholischen Selbstbeschreibungen und zu einem beträchtlichen Teil von Priestern bestimmt.
1002 »wegzulassen«; »APT, Archivio Thun, D. 30. 2 (1), Carlo Devigli, Elezione di Sua Santit/ Pio IX, 03. 01. 1847; ebenda, D. 31.2 (6), Carlo Devigli an Gioseffo Pinamonti, 20. 08. 1846.
7.
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»Es dürfte Verwunderung erregen, warum die rhätischen Alpen, in denen so viele Grundtöne zu ergreifenden Akkorden schlummern, so lange stumm blieben.«1003 Mit diesen romantisch aufgeladenen, im Weiteren aber zurückhaltenden Worten begann der Bozener Liberale Joseph Streiter seine Rückschau auf die literarische Produktion Tirols nach 1800, die er in die Beilage der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« vom 6. Dezember 1843 einrücken ließ. Die Folgen dieses anonym veröffentlichten Textes waren unerwartet gravierend: Der Beitrag löste eine bis 1847 anhaltende, intensiv geführte öffentliche Debatte in deutschsprachigen Zeitungen, ja ein »tirolisches Kriegstheater« aus, wie ein Beteiligter retrospektiv meinte. Auch dem bekannten Kirchenrechtler Georg Phillips erschienen 1847 die polemischen Artikel aus Tirol als die leidenschaftlichsten der gesamten süddeutschen Presse.1004 In über 80 Artikeln entbrannte eine mediale Fehde, an der Tiroler, Laien wie Geistliche, aber auch Bayern teilnahmen und die in Tirol selbst gewaltiges Aufsehen erregte. Zeitweise, etwa im Frühjahr oder im Herbst 1844, erschienen die Beiträge aus und über Tirol sogar im Wochentakt. Der »Sängerkrieg« legte am Vorabend der Revolution 1848 mithin die nachgerade »lachhafte« Ineffizienz der staatlichen Zensur, wie sie Christopher Clark am Beispiel Preußens beschrieben hat, in aller Deutlichkeit offen.1005 Über den Anlassfall Literatur wurde in diesen Artikeln freilich nur vordergründig und beiläufig gestritten. Obwohl persönliche und literarische Eitelkeiten häufig ausreichenden Antrieb für die Teilnahme an dieser öffentlichen Auseinandersetzung boten, zielten die Texte in erster Linie auf die Essenz Tirols, gleichsam auf dessen hegemoniale politische, nationale, soziale und religiöse Selbstbeschreibungen. Der »Sängerkrieg« spiegelt gewandelte mediale Zusammenhänge wider, er zeugt von einer bereits im Vormärz stark politisierten in1003 [Joseph Streiter], Poetische Regungen in Tirol, in: AZ Nr. 340, 06. 12. 1843, (Beilage) S. 2669–2671, das Zitat auf S. 2669; Steub, Sängerkrieg, S. 157–167. 1004 Steub, Sängerkrieg, S. 157; AAM, NL Albert Jäger, Erinnerungen meines Lebens, Bd. 1, S. 94. 1005 Clark, Preußen, S. 531.
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tellektuellen Elite, die sich trotz – oder gerade wegen – der österreichischen Zensur auf dem Parkett der europäischen Öffentlichkeit mit erstaunlicher Gewandtheit bewegte. Dieser »Sängerkrieg« war kein Tiroler Spezifikum, sondern vielmehr eine regionale Variante gesamteuropäischer Diskurse und erst vor diesem transnationalen Hintergrund lässt er sich vollständig beschreiben und nachvollziehen. Seine prägnante, bis heute gültige Signatur erhielt dieser Konflikt durch den bayerischen Beamten, Schriftsteller und Tirol-Kenner Ludwig Steub, der ihn 1882 in einer umfangreichen Monographie als »Sängerkrieg in Tirol« dokumentierte. Steub zog diesen markanten Begriff anderen zeitgenössischen Bezeichnungen nicht nur aus ästhetisch-stilistischen Gründen vor, sondern vor allem deshalb, weil er den Kerngehalt seines Buches, die literarischen wie persönlichen Zerwürfnisse zwischen Tiroler Literaten, allen voran Beda Weber und Joseph Streiter, prägnant zum Ausdruck bringen wollte. Der Münchener Schriftsteller beschrieb seinen »Sängerkrieg«, stark autobiographisch durchsetzt, als einen von persönlichen und literarischen Animositäten angetriebenen regionalen Konflikt, der vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Zahlreiche Briefe der Protagonisten und persönliche Erinnerungen des Autors bekräftigten dieses romantische Bild einer Fehde zwischen Streiter und Weber, »Tirols bedeutendstem Sängerpaar«.1006 Freilich bleibt dabei unerwähnt, dass Ludwig Steub selbst ein zentraler Akteur dieses »Sängerkrieges« war : Er gab ihm nicht nur nachträglich seinen Namen, sondern hatte zur Auseinandersetzung selbst substantielle Beiträge beigesteuert und neue Streitfelder eröffnet. Durch seine guten Kontakte zum Herausgeber der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« wirkte er zudem entscheidend darauf ein, welche Texte anderer Autoren zur Veröffentlichung gelangten.1007 Kaum zu übersehen sind auch seine Parteinahme für den Bozener liberalen Advokaten Joseph Streiter und seine unverhohlene Abneigung gegen den Benediktiner Beda Weber, dessen Rolle im Konflikt er maßlos überzeichnete. Steubs »Sängerkrieg« war mithin keine neutrale Rückschau, sondern ein letzter, später Akt des Konfliktes selbst.1008 Das zweite grundlegende Werk über den »Sängerkrieg« entstammte der Feder des Innsbrucker Germanisten Josef Eduard Wackernell und erschien gut 20 Jahre nach Steubs Philippika. Auch Wackernell arbeitete mit einer stark personalisierten Grundstruktur, wechselte jedoch die Perspektive und zielte auf eine Rehabilitierung Beda Webers ab.1009 Wie schon die Zeitgenossen des Kon1006 Steub, Sängerkrieg, S. V–VII. Ein früherer Titel des Manuskriptes lautete »Literarische Unruhen in Tirol«. 1007 Dreyer, Steub, S. 88; Steub, Sängerkrieg, S. 189. 1008 Wackernell, Beda Weber, S. 220. 1009 Ebenda; ders., Sängerkrieg, S. 69–72.
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fliktes, legten beide Werke den Fokus vornehmlich auf die Frage der Autorschaft der in der Regel anonymen Artikel, ohne aber wirklich auf deren Gehalt einzugehen. Mit diesen beiden, bisweilen nachgerade hagiographischen Studien war das historiographische Fundament des »Tiroler Sängerkrieges« zementiert, auf das die nachfolgende Historiographie sich im Wesentlichen stützte, ohne grundlegend neue Erkenntnisse beizutragen.1010 Beim »Sängerkrieg« handelte es sich, wie im Folgenden ausgeführt wird, mithin nicht um einen romantisch stilisierten literarischen Wettstreit – schon gar nicht beschränkt auf Weber und Streiter –, sondern um eine regionale Ausprägung der frühen europäischen Kulturkämpfe.1011 Wie zutreffend festgehalten wurde, bildeten die Jahre 1844–1847 eine wichtige Formations- und Erprobungsphase für die politischen Parteiungen im deutschsprachigen Tirol, die 1848 erstmals offen aufeinanderprallten und das politische Geschehen bis zur Jahrhundertwende prägten.1012 Dennoch erschöpft sich dieser Konflikt nicht in der politischen Differenzierung zwischen »liberal« und »konservativ/ultramontan«, sie war weder dessen Ursache noch dessen ausschließlicher Gehalt, sondern seine Folge. Im Zentrum dieses medialen Konfliktes standen zunächst religiöse bzw. kirchliche Fragen, die die gesellschaftliche Rolle einer strengkirchlichen, ja ultramontanen Religiosität – verkörpert durch die Jesuiten bzw. den »Jesuitismus« – problematisierten. Gegenstand der Auseinandersetzung waren aber auch die medialen Bedingungen der öffentlichen Kommunikation im vormärzlichen Habsburgerstaat sowie nationale Selbstbeschreibungen, wodurch sich der »Sängerkrieg« auch auf die italienischen Gebiete des Kronlandes ausweitete, die zu dieser Zeit einen analogen, eigenen »Sängerkrieg« en miniatur ausfochten.1013 Diese Tiroler »Sängerkriege« lassen sich mithin als öffentlich ausgetragene Verhandlungsprozesse zwischen den Proponenten konkurrierender Gesellschaftsentwürfe beschreiben. Sie wurden ausgelöst und erheblich beeinflusst durch die kirchlich-politischen Konflikte in der Schweiz und im außerösterreichischen Deutschland sowie den zunehmenden nationalen Ansprüchen »Deutschlands« und »Italiens« auf Tirol. Ermöglicht wurden sie durch die relativ problemlos zugänglichen, von der österreichischen Zensur nur bedingt kontrollierbaren Publikationsstandorte in Süddeutschland, der Schweiz und Norditalien – die »Sängerkriege« waren gleichsam typisch für ein multiples Grenzland. Erstmals in der Geschichte Tirols schufen die »Sängerkriege« somit die Konturen einer nachhaltigen medialen Öffentlichkeit: Allein die Tatsache, dass 1010 Prem, Kampf; Maaß, Jesuiten, S. 110–172; Fontana, Restauration, S. 682–692; Hagel, Sängerkrieg; Mumelter, Streiter, S. 65–120; Götz, Bürgertum, S. 107–110. 1011 Borutta, Antikatholizismus; Clark/Kaiser [Hrsg.], Culture Wars. 1012 Fontana, Restauration, S. 688; Götz, Bürgertum, S. 108f. 1013 Emert, Polemica letteraria; Bertagnolli, Giovanni Prati.
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religiöse, soziale und politische Probleme offen thematisiert, dass die Regierung kritisiert und nationale Bekenntnisse formuliert wurden, war schlicht unerhört. Sie erregte in Innsbruck, Bozen und Trient ungläubiges Aufsehen und kam einer Kapitulation des vormärzlichen Staates gleich. Dies war während des Medienereignisses der Zillertaler Ausweisung ebenso wie in den »Katholischen Blättern« oder den diversen vormärzlichen Ersatzöffentlichkeiten kaum und vor allem nicht in diesem Ausmaß möglich. Die wichtigste Neuerung der »Sängerkriege« lag darin, dass nunmehr Tiroler selbst um die Deutungshoheit über »Tirol« fochten, die »passive Öffentlichkeit« der 1830er Jahre wandelte sich in den 1840ern zu einer »aktiven«. Im Folgenden wird die Bedeutung, die Religion in diesen öffentlichen Auseinandersetzungen einnahm, analysiert und gefragt, wie sich die Strukturen und Bedingungen der religiösen Kommunikation dadurch veränderten und welcher gesellschaftliche Platz der Religion zugewiesen wurde. Zunächst wird daher der Antijesuitismus in Tirol als elementare Vorbedingung der »Sängerkriege« behandelt, in einem zweiten Schritt sodann ihre Medialität und drittens schließlich ihre semantische Architektur beschrieben.
7.1. »Das oberste Gesetz des Ordens ist das, was ihm nützt.«1014 Antijesuitismus in Tirol Die Ausweisung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft 1837 und die Ende 1838 erfolgte Reinstallierung des Jesuitenordens in Innsbruck bildeten für das bildungsbürgerliche, protopolitische liberale Milieu Tirols, wie Thomas Götz festhielt, eine nachhaltig traumatische Erfahrung,1015 die sich ab 1840 allmählich zu einem markanten Antijesuitismus verdichtete. Ab Mitte der 1830er Jahre entfaltete sich rund um den Bozener Adeligen Joseph von Giovanelli ein ultramontanes Netzwerk, dem auch hohe Regierungsbeamte wie Robert von Benz, Vizegouverneur in Innsbruck, der Metternich sehr nahe stehende Publizist und Hofsekretär Joseph von Pilat, das Mitglied der Studienhofkommission und der spätere Tiroler Gouverneur, Clemens von Brandis, angehörten. Dieser autoritative Kreis setzte die Rückberufung der Jesuiten nach Tirol politisch und administrativ durch.1016 Wie bereits im Zusammenhang mit der Ausweisung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft, verdeckten die Regierung bzw. der Regierung nahe stehende Politiker zunächst ihre Positionen, indem sie erst nach einer Immediat-Eingabe des Tiroler Kongresses an den Kaiser, formuliert und vorgetragen durch Joseph von Giovanelli, offen tätig 1014 [Streiter], Jesuiten, S. 27. 1015 Götz, Bürgertum, S. 108. 1016 Maaß, Jesuiten, S. 15–86; Baxa, Josef Anton von Pilat; Kramp, Brandis, S. 86–94.
Antijesuitismus in Tirol
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wurden.1017 Die Rückberufung der Jesuiten und die ultramontane Bildungsoffensive der Jahre 1838–1843 bedeuteten einen programmatischen Vorstoß der »sittlich-wissenschäftlichen Bildung«1018 in antirevolutionärer Absicht: Ultramontane Gesellschaftsentwürfe und der in religiösen Angelegenheiten immer noch stark dirigistische vormärzliche Staat vereinten sich zu einer sachbezogenen Allianz, die in religiös-gesellschaftlicher Hinsicht die Jugend vor dem »Verderben«1019 bewahren wollte und eine solide, vor Liberalismus, liberalkatholischen, protestantischen bzw. freireligiösen Ideen gefeite ultramontane Elite heranzubilden suchte. Die Regierung ihrerseits bzw. die involvierten Regierungsmitglieder in Innsbruck und Wien erwarteten sich von der Bildungsarbeit der Jesuiten loyale und gegen jede Revolution abgeneigte Staatsbürger.1020 Der Orden übernahm 1839 zunächst das Innsbrucker Gymnasium, bis 1842 folgte das Theresianum, ein Konvikt für Zöglinge der Tiroler Adelsfamilien. Zudem wurde ab 1840 der Plan anvisiert, in Innsbruck ein über 200 Plätze fassendes Heim für bürgerliche Zöglinge zu errichten und dieses den Jesuiten zu übergeben – nach einem öffentlichen Spenden- und Finanzierungsaufruf wurde 1843 tatsächlich der Grundstein dieses Konviktes gelegt. In der Provinzhauptstadt erlangten die Jesuiten – sieht man von der Universität ab – binnen weniger Jahre faktisch wieder das Bildungsmonopol, zumal ihnen konzediert wurde, den Unterricht autonom, nach der erneuerten ratio studiorum des Ordens, zu gestalten.1021 Es war zunächst weniger die unmittelbare Erfahrung der Reetablierung der Jesuiten, denn die Einwirkung privater Ereignisse – wie etwa beim Autor der »Jesuitenlieder«, Hermann von Gilm – und gesamteuropäischer Diskurse, die zur Ausbildung des Antijesuitismus in Tirol führten.1022 Beim »modernen« Antijesuitismus des 19. Jahrhunderts handelte es sich um ein transnationales, europäisches Phänomen, das auf aufklärerische Diskurse des 18. Jahrhunderts gründete, auf simplen, und, wie Stefan Gerber hervorhebt, mitunter verschwörungstheoretischen Axiomen beruhte und dessen wichtigste Epizentren Tirol geradezu umzingelten: Der Schweizer Liberalismus bzw. Radikalismus gehörte im Vorfeld des »Sonderbundskrieges« zu den vehementesten Gegnern der Jesuiten, was sich auch auf das angrenzende Tirol auswirkte, in das in den 1017 Maaß, Jesuiten, S. 15–33; ders., Die österreichischen Jesuiten, S. 66–80; Kramp, Brandis, S. 88–97. 1018 TLMF, Bib. Tir. Ferd. W. 3319, Ständisches Congress Protocoll 1838, S. 77. 1019 Die Herstellung eines Konviktes in Innsbruck für Studirende aus allen Ständen unter der Leitung der Jesuiten, in: Kath. Bl. 1 (1843), S. 305–316, S. 305. 1020 TLMF, W. 3319, Ständisches Congress Protocoll 1838, S. 73–77; Die Herstellung eines Convicts in Innsbruck für Studirende aus allen Ständen unter der Leitung der Jesuiten, [Innsbruck 1843]. 1021 Maaß, Jesuiten, S. 33–61. 1022 Dörrer, Gilm.
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1830er und 1840er Jahren regelmäßig antijesuitische Pamphlete Schweizer Provenienz geschmuggelt wurden.1023 Das italienische Risorgimento nahm in den 1840er Jahren durch die einflussreichen Schriften Vincenzo Giobertis, der die Jesuiten zu Feinden der italienischen Nation erklärte, ebenfalls eine markante antijesuitische Wendung.1024 Weit verbreitet waren antijesuitische Diskurse schließlich im – keineswegs nur protestantischen! – deutschsprachigen Raum, wo der Orden gleichfalls als Antipode der Nation und als Hemmnis von Fortschritt und Bildung galt.1025 Diese Diskurse dürften sich auf Tirol deutlich stärker ausgewirkt haben als die Wiederberufung des Ordens selbst. Obwohl – und dies gilt für Europa insgesamt – die historische Erschließung des vormärzlichen Antijesuitismus sehr dürftig ist, scheint dieser im deutschsprachigen Tirol vor allem von außen beeinflusst worden zu sein. Zunächst nahm die aus dem 18. Jahrhundert stammende antijesuitische Tradition Tirols im Vormärz insgesamt eine nachgeordnete Rolle ein.1026 Auch die Berufung der Jesuiten 1838 und deren Übernahme des Gymnasiums trafen zunächst auf keinen nennenswerten Widerstand. Sieht man von der neidvollen Missgunst anderer Ordensgemeinschaften bzw. der Geistlichkeit allgemein ab, dürfte der Orden in Innsbruck mit einem distanzierten Wohlwollen aufgenommen worden sein. Wie Ferdinand Maaß betont, scheinen kirchliche und staatliche Funktionäre, ja selbst Teile des Tiroler Bildungsbürgertums vielmehr hohe Erwartungen an die Lehr- und Erziehungstätigkeit des Ordens gerichtet zu haben. Erst als sich die pädagogisch-didaktischen Fähigkeiten der Innsbrucker Jesuiten als zumindest fragwürdig und ihre erzieherischen Methoden als antiquiert erwiesen hatten, sie an ihre einst berühmte Wissenschaftlichkeit nicht mehr anschließen konnten und die Händler und Trödler Innsbrucks wegen der Etablierung des Ordens über Geschäftseinbußen klagten – offenbar betrieben die Jesuiten ihre Häuser sehr sparsam, geradezu autark – regte sich in Innsbruck allmählich antijesuitischer Widerstand. Dieser steigerte sich zum offenen Unmut, wie der öffentliche Skandal bei der Grundsteinlegung des bürgerlichen, den Jesuiten anzuvertrauenden Konviktes im April 1843 in Innsbruck zeigt. Die Innsbrucker Schützen verweigerten ostentativ ihre Teilnahme an der Zeremonie, in der Nacht vor der Feierlichkeit war der Grundstein trotz Bewachung mit Kot beschmiert worden. Trotz allen 1023 Gerber, Jesuitische Umtriebe; Dülmen, Antijesuitismus; Tanner, Revolution, S. 127– 135; Dörrer, Gilm, S. 65f.; Raschhofer, Liberalismus, S. 184; Forcher, Staatspolizei, S. 375–378; Müller, Schmuggel, S. 274–291. 1024 Borutta, Antikatholizismus, S. 218–220; De Rosa, Movimento, S. 20f.; Menozzi, Gesuiti, S. 455–457; Candeloro, Movimento, S. 50–65. 1025 Healy, Jesuit Specter, S. 35–42; Altgeld, Italienbild, S. 213f. 1026 Heiss, Katholische Aufklärung; Bertagnolli, Katholische Aufklärung; Kustatscher, Katholische Aufklärung.
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kirchlichen und weltlichen Pomps, der Anwesenheit des Wiener Nuntius, der Bischöfe von Trient und Brixen, der versammelten Tiroler Stände sowie hoher kirchlicher und staatlicher Funktionäre geriet die Feier zur Farce, was auch den Zeitgenossen nicht entging.1027 Nachhaltiger als dieser bestenfalls passive Widerstand gegen die Jesuiten in Innsbruck wirkte jedoch der Aufstieg eines liberalen Antijesuitismus nach 1840, der zunächst vornehmlich im Medium der politischen Lyrik seinen Ausdruck fand. Johann Senn, Joseph Streiter und vor allem Hermann von Gilm übersetzten die Skepsis, ja die offene Ablehnung, die den Jesuiten von Innsbrucker Studenten und Gymnasiasten, von der josephinischen Beamtenschaft und selbst von einem Teil des Klerus entgegengebracht wurde, in eine beißende, bisweilen polemischsatirische Lyrik.1028 Insbesondere Gilms »Jesuiten-Lieder« waren weithin bekannt: Sie wurden mehrfach abgeschrieben und weitergereicht, an öffentlichen Orten, vor allem in Innsbrucker Wirtshäusern, zur Freude der anwesenden Gäste »deklamiert«. Mehrfach wurden sie, ohne Angabe des Verfassers, auch gedruckt veröffentlicht.1029 Der Inhalt dieser selbstreferentiellen, mitunter die liberale Diskursgemeinschaft begründende antijesuitische Lyrik – Albert Tanner nennt den Antijesuitismus eine radikal-liberale »Integrationsideologie« – war keineswegs originell: Sie baute auf die antijesuitische Kernkritik aus dem 18. Jahrhundert, die gegen die anti- bzw. transnationale Romtreue und das Bildungsmonopol bzw. die Unterrichtsmethoden des Ordens gerichtet war und vermengte diese mit gegenwärtigen Diskursen.1030 Diese tirolischen »JesuitenLieder« hätten damit genauso gut in der Schweiz, in Sachsen oder im italienischen Sprachraum entstehen können – ihr Erfolg und ihre weite Verbreitung in Tirol waren durch ihre hohe Aktualität und Anschlussfähigkeit begründet: Während sich in vielen Teilen Europas offene Kritik gegen die Jesuiten regte, schien der Orden in der Tiroler Provinzhauptstadt sein gegenreformatorisches Bildungsmonopol unaufhaltsam wieder aufzubauen. 1027 Raschhofer, Liberalismus, S. 187; Maaß, Jesuiten, S. 89–107; TLMF, F.B. 856, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 1, 1841–1843, April 1843, S. 273–275; Die Herstellung eines Konviktes in Innsbruck für Studirende aus allen Ständen unter der Leitung der Jesuiten, in: Kath. Bl. 1 (1843), S. 305–316; BTV Nr. 34, 27. 04. 1843, S. 133. Nicht Joseph von Giovanelli, wie von den liberalen Zeitgenossen behauptet wurde, sondern der Innsbrucker Dekan Johann Duille initiierte und koordinierte den Bau des bürgerlichen Konviktes: Zobl, Duille, S. 44–46. 1028 Erber, Lieder. 1029 Pichler, Zur tirolischen Literatur, S. 99–129; Mumelter, Streiter, S. 106; Dörrer, Gilm; Raschhofer, Liberalismus, S. 75, S. 187–191; Forcher, Staatspolizei, S. 330–335; TLMF, F.B. 857, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 2, 1844–1846, S. 359, zur Liedertafel in Innsbruck: »Jetzt haben sie die Jesuiten zum Gegenstand ihrer Spötterey, wenn nicht des Hasses gemacht«; Steub, Sängerkrieg, S. 48–58. 1030 Gilm, Gedichte, S. 44; Götz, Bürgertum, S. 93–96; Gerber, Jesuitische Umtriebe; S. 253– 259; Tanner, Revolution, S. 114–116, S. 133–135, Zitat S. 127; Dülmen, Antijesuitismus.
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Die dominante Grundopposition, die sich durch diese antijesuitische Lyrik zog, stellte positiv konnotierte Werte wie Licht, Freiheit, Bildung, Geist und Gegenwart der »Finsternis« von Nacht, Schatten, Unbildung, Knechtung und Despotie gegenüber. Hier war die Kritik am Bildungsmonopol und am Unterrichtsstil der Jesuiten offenkundig: So sei die Tatsache, dass es in Tirol keine nennenswerte literarische Produktion gebe, auf ihre Anwesenheit und ihren Unterrichtsstil zurückzuführen, denn, wie Gilm schreibt: »Gedanken nun regieren jetzt die Welt / Ihr Dogma aber – schaudert nur! Enthält / Das einzige Gesetz: Du sollst nicht denken!«1031 Der modernen Bildung und vor allem der Poesie schrieben die Tiroler Dichter dagegen die Kraft zu, den Jesuitismus und die Jesuiten zu überwinden, und eben darin liege auch der Grund, weshalb der Orden eine freie Bildung und Dichtung unterdrücke.1032 In diesen Zeilen wurden indes nicht nur die Jesuiten scharf angegriffen, sondern zumindest implizit auch die österreichische Regierung und das vormärzliche, absolutistische und neuständische Herrschaftssystem insgesamt, das die neuerliche Etablierung des Ordens in Tirol ermöglicht hatte. Liberale Dichter deuteten die Jesuiten denn auch als despotisches Instrument der politischen Repression, da sie kritisches Räsonnement und gesellschaftlichen Fortschritt verhinderten. Besonders scharf und unumwunden wurde der ständische Tiroler Kongress kritisiert, der, anstatt für die materiellen und nationalen Bedürfnisse der Tiroler Bevölkerung einzutreten, die Jesuiten ins Land geholt habe.1033 Eine zweite antijesuitische Grunddifferenz unterschied zwischen dem irdischen Orden der Jesuiten und dem überirdischen, göttlichen Religionsstifter Jesus, zwischen einer menschlichen Religion der Knechtung und einer transzendental verorteten, wahren Religion der Freiheit: »Möchte Jesus auf der Erde noch verkehren, / Und hörte, was ihr preist als seine Lehren, / Wie ihr nur sinnt, die Wahrheit zu entehren« klagte Joseph Streiter in seinem »Den Jesuiten« an. Ganz ähnlich Hermann von Gilm: »Und Jesu trug ein wallend Haar, und seine Wang’ war roth, und Jesus’offnes Auge war So frei – wie sein Gebot. […] Drum seh’ ich solch ’nen Finsterling, So fällt mir immer ein: 1031 »Zeit-Sonette aus dem Pusterthale«, Gilm, Gedichte, S. 159; »Zuneigung«, ebenda, S. 44; »Den Jesuiten«, Mumelter, Streiter, S. 106. 1032 »Der Dichter muß voran! Wie einst die Wolke / Vor Israel, muß er vor seinem Volke / der wüsten Zeiten kund’ger Lootse wandeln.«, »Zeit-Sonette aus dem Pusterthale«, Gilm, Gedichte, S. 157; »Die Liedertafel und die Jesuiten«, ebenda, S. 71f. 1033 »Der Tiroler Landtag«, Gilm, Gedichte S. 73–76; »Zeit-Sonette aus dem Pusterthale«, ebenda, S. 159; Dörrer, Gilm, S. 64f.; Raschhofer, Liberalismus, S. 75.
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Wie kann man doch solch’ wüstem Ding So schönen Namen leih’n.«1034
Streiter und Gilm brachten in diesen Versen die diffusen, theologisch nicht weiter reflektierten Kernpositionen des liberalen Katholizismus im deutschsprachigen Tirol zum Ausdruck, der im Wesentlichen kirchlichen Zwang ablehnte und eine prinzipielle, freireligiöse Unterscheidung zwischen Kirche und Religion mit einigen staatsutilitaristischen, josephinischen Elementen kombinierte. Peter Horwarth brachte diese liberale Katholizität prägnant auf den Punkt: »Josephinisch-staatskirchliches Denken, antijesuitische Gesinnung und Elemente eines völkisch angehauchten Lokalpatriotismus waren Ausgangspunkte der schöngeistigen Literatur des Grenzlandes.«1035 Dieser Antijesuitismus war keineswegs antiklerikal motiviert oder prinzipiell gegen die katholische Kirche gerichtet. Dies machte ihn zunächst auch anschlussfähig für zahlreiche, insbesondere höher gebildete Kleriker wie Alois Flir, Albert Jäger oder, in geringerem Ausmaß, auch Beda Weber.1036 Ebenfalls mit Rückgriffen auf das 18. Jahrhundert war ein dritter Grundzug des lyrischen Antijesuitismus versehen: Der Orden wurde biologisiert bzw. pathologisiert, die Ordensmitglieder als unheimliche, fahle und schleichende Kreaturen, als nur zum Teil menschliche Wesen dargestellt, die in der Nacht lebten, da sie das Tageslicht schlecht vertrügen. Die Jesuiten wurden als das »Andere« der modernen Zivilisation inszeniert, als dämonische Wesen, die den Bestand der Menschheit bedrohten: »Da schlichen herein ein Paar mit hohlen Augen / Nichts gattet sich so schnell, mehrt sich so stark, / als Ungeziefer. Seht nun, wie sie saugen, / am Weiberherze und am Männermark.«1037 Diese Dämonisierung und Dehumanisierung rechtfertigte offenbar auch die offenen antijesuitischen Gewaltphantasien, von denen die politische Lyrik Tirols durchzogen war. Streiter etwa beendete sein antijesuitisches Gedicht mit der Prophezeiung, dass Jesu seinen Geist ausgeschickt habe, »Zum Schrecken Aller, die mit euch im Bunde, / Euch zu ersäufen auf dem Meeresgrunde.«1038 Gilm dagegen bezeichnete seine Gedichte als direkte Waffen gegen die Jesuiten, als Wegbereiter eines »Morgensturms«, der den Orden aus dem Land fegen und »geistig ver1034 »Der Jesuit«, Gilm, Gedichte, S. 86; »Den Jesuiten«, Mumelter, Streiter, S. 106. 1035 Horwath, Vom liberalen zum nationalen Pathos, S. 14; Raschhofer, Liberalismus, S. 146–156; Götz, Bürgertum; ders., Gratwanderungen. 1036 Dörrer, Gilm, S. 73; Maaß, Jesuiten, S. 91; Raschhofer, Liberalismus, S. 171–183; Wackernell, Beda Weber, S. 188. 1037 »Die Liedertafel und die Jesuiten«, Gilm, Gedichte, S. 72; »Der Jesuit«, ebenda, S. 70; »Die Grundsteinlegung des Jesuiten-Collegiums zu Innsbruck«, ebenda, S. 72; Raschhofer, Liberalismus, S. 192f.; Dörrer, Gilm, S. 150f., S. 174, wo Dörrer meint, Gilm habe diese Passagen mitunter wörtlich von anderen übernommen. 1038 »Den Jesuiten«, Mumelter, Streiter, S. 106.
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nichten« werde.1039 Die jungen liberalen Dichter schlossen den Orden aus der modernen Gesellschaft aus und versagten ihm somit jedes Existenzrecht. Wie Stefan Gerber treffend bemerkt: »Wer als ›Fortschrittsfeind‹ identifiziert war, für den konnte es keine Freiheit geben.« Streiter und Gilm verwendeten damit Elemente antiklerikaler Ausgrenzung und medialer Gewalt, wie sie das gesamte 19. Jahrhundert hindurch in ganz Europa verbreitet waren.1040 Ein weiterer Aspekt des Tiroler Antijesuitismus war schließlich – und auch dies lässt sich europaweit beobachten –, die Jesuiten als Feinde Tirols und der deutschen Nation insgesamt zu identifizieren. Durch ihren direkten Einfluss auf das Schulwesen unterminierten und schwächten sie das »Deutschtum« und damit die historische Funktion Tirols als nationale Grenzmauer gegen den italienischen Süden; durch sein national hybrides Wesen fördere der Orden in einer antinationalen Komplizenschaft mit dem Tiroler Landtag die nationale Indifferenz und beginge dadurch einen historischen Verrat an Land und Leuten des Aufstandes von 1809: »Ich stand mit Hunderttausenden in Waffen, / Zum Schutz dem deutschen Recht, dem deutschen Heerde, / Nun stehlen wälsche Lehrer, wälsche Pfaffen / Heimtückisch Stück um Stück von unsrer Erde!«1041 Die lyrischen Texte deuteten die Jesuiten als das Andere der modernen Bildung, des Christentums, der menschlichen Natur und schließlich der Nation – keine dieser diskursiven Ausgrenzungen war eine genuin tirolische Zuschreibung, allen vier Elementen kam jedoch aufgrund der Situation in Tirol eine erhöhte Aktualität und Anschlussfähigkeit zu. Sie ließen sich verschwörungstheoretisch inszenieren und waren durch besondere Irrationalität geprägt: Die politische Lyrik beklagte nicht nur die schädliche Wirkung der Jesuiten, sondern unterstellte dieser auch Intentionalität. Die Jesuiten unterrichteten demnach nicht nur schlecht, sondern täten dies auch bewusst und absichtlich. Damit erklärten sich die jungen Liberalen die vermeintliche geistige und kulturelle Insuffizienz Tirols. Zwar hatte der Orden bis zu seiner Aufhebung 1773 im nördlichen Teil der Gefürsteten Grafschaft Tirol faktisch ein Bildungsmonopol inne – im deutschsprachigen Süden des Landes hatte er sich allerdings nie festgesetzt. Auch scheint es wenig logisch, Anfang der 1840er Jahre die Verantwortung für einen vermeintlichen tirolischen Bildungsrückstand dem Orden zuzuschreiben, als dieser das Innsbrucker Gymnasium nach einer gut 70-jährigen Unterbrechung eben erst seit ein paar Jahren wieder übernommen hatte.1042 Die verschwörungstheoretische Komponente und die Irrationalität des Antijesuitismus zeigen, dass es im Grunde weniger um den Orden selbst ging – 1039 »Die Grundsteinlegung des Jesuiten-Collegiums zu Innsbruck«, Gilm, Gedichte, S. 73; »Zeit-Sonette aus dem Pusterthale«, ebenda, S. 154, ähnlich auch S. 156. 1040 Gerber, Jesuitische Umtriebe, S. 254; Borutta, Antikatholizismus, S. 155–265. 1041 »Der Tiroler Landtag«, Gilm, Gedichte, S. 84. 1042 Dörrer, Gilm, S. 150.
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»Jesuitismus« stand vielmehr als Chiffre für Rückständigkeit, Antimodernität, Despotie, Aristokratismus und – nicht zuletzt – für Ultramontanismus. Diese Abstraktion setzte bereits mit der Auflösung des Ordens 1773 ein: Obwohl die Jesuiten nicht mehr existierten, wurde der Kampf gegen sie und das, was ihre Gegner ihnen zuschrieben, unvermindert fortgeführt.1043 Wie sehr diese Differenzierung den Diskurs dominierte, zeigt sich auch darin, dass Fürst Metternich, der Kaiser Franz I. von der Sinnhaftigkeit der Wiedereinführung der Jesuiten in den cisleithanischen Ländern der Monarchie überzeugen wollte, bereits 1825 darauf hinwies, dass man deutlich zwischen »Jesuiten« und »Jesuitismus« unterscheiden müsse: Die Jesuiten stünden für eine historisch belegbare effiziente Lehrtätigkeit, für eine sittliche Erziehung der Jugend sowie eine hohe Wissenschaftlichkeit und seien damit »eine mächtige und siegverheißende Waffe im Kampf mit den Irrtümern der modernen Zeit«, während der »Jesuitismus« eine Nebenerscheinung, ein »Auswuchs einer heilsamen Institution« sei, der zur Aufhebung des Ordens 1773 geführt habe. Auch Giorberti legte großen Wert darauf, »Jesuitismus« – worunter er den strengkirchlichen, konservativen Katholizismus verstand – nicht allgemein mit dem Orden oder gar dem Katholizismus insgesamt gleichzusetzen.1044 Der Antijesuitismus entwickelte sich 1843/44 zur dominanten politischen Semantik, er diente als Positionsbestimmung Tirols in der Moderne. Der Zeitpunkt dieser Zuspitzung war weder zufällig noch eine genuin tirolische Eigenart. Überall in Europa, besonders aber im deutsch- und italienischsprachigen Raum erfuhr der Antijesuitismus in diesen Jahren eine dramatische Steigerung.1045 Es war, wie im Folgenden gezeigt werden soll, diese Semantik der politisch-religiösen Auseinandersetzung, die den »Sängerkrieg« auslöste und inhaltlich bestimmte, ein Grundkonflikt, der über die persönliche literarische Fehde zwischen Joseph Streiter und Beda Weber weit hinausging.1046 Die Zeitgenossen der Auseinandersetzung nahmen diese auch nicht als polemische Literaturdebatte, sondern als medialen Streit um die gesellschaftliche Rolle des Jesuitenordens wahr.1047 Die Literatur und die literarische Produktion Tirols waren mithin weniger der Gegenstand der Auseinandersetzung, denn deren Medium. Wie im restlichen – vor allem, aber nicht nur im protestantisch geprägten – deutschen 1043 Dülmen, Antijesuitismus, S. 67; Gerber, Jesuitische Umtriebe, S. 266; Healy, Specter, S. 38; Borutta, Antikatholizismus, S. 413f. 1044 HHStA, Staatskanzlei, Vorträge 1825, Fasz. 359, zitiert nach Maaß, Die österreichischen Jesuiten, S. 71; Candeloro, Movimento, S. 58–60. 1045 Gerber, Jesuitische Umtriebe, S. 258f., S. 267–271 (Sachsen); Wackernell, Sängerkrieg, S. 57 (Tirol); Tanner, Revolution, S. 133 (Schweiz). 1046 Mumelter, Streiter, S. 131–137; Wackernell, Beda Weber, S. 172–178, S. 213–218. 1047 TLMF, F.B. 857, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 2, 1844–1846, S. 364–366, S. 378f., S. 386–388, S. 446–448, S. 472, S. 505–507, S. 519f., S. 544–547.
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Sprachraum, waren die Literatur und die Konstruktion eines nationalen literarischen Kanons eines der Mittel, um den Katholizismus aus der nationalen Gemeinschaft auszuschließen.1048 Der »Sängerkrieg« erschließt sich auch aus dieser Perspektive: Als Anschlussversuch an die literarische deutsche Nation, der sich der Katholizität und der Italianität Tirols – subsumiert in der Chiffre des »Jesuitismus« – gleichermaßen zu entledigen suchte.1049 Streiters »Poetische Regungen«, die folgenreiche literarische Bilanz, die am 6. Dezember 1843 in der »Allgemeinen Zeitung« erschien, hob den Antijesuitismus Tirols auf ein neues mediales Niveau: Zirkulierte er bislang in erster Linie mündlich in Wirtshäusern und wurden seine Texte in handgeschriebenen Abschriften herumgereicht, so fand er nun erstmals in gedruckter Form öffentliche Verbreitung – allein dies schon eine Sensation im vormärzlichen Tirol.1050 Der Artikel liest sich zunächst als scharfe Besprechung der aktuellen Literatur Tirols, in der Streiter seinen literarischen Weggenossen wohlgemeinte Ratschläge, und, insbesondere Beda Weber, auch Tadel erteilte. Implizit schloss der Artikel den Katholizismus bereits aus dem literarischen Betrieb aus: »Als Mönch und Priester [Beda Weber, F.H.] auf die Betrachtung des Ueberirdischen angewiesen, sollte jede andere Empfindung aus dem Kreise seines Lebens verbannt sein, und da sich der Reichthum von Phantasie und Gefühl der kalten Ascese nicht unterordnete, verklärte sich der Ausdruck des irdischen Eros in jenen des himmlischen, und die Scheu sich der Gemeinheit gegenüber auszusprechen, drängte seine Gefühle oft in jenes Dunkel zurück, das ihr Verständnis verhindert.«1051
Den Jesuiten, und hier wiederholt Streiter das klassische antijesuitische Argument, wird die »stocklateinische Ausbildung« und die mangelnde literarische Vitalität Tirols angelastet: »Als ein Hemmnis des hoffnungsvollen Nachwuchses dürfte die Uebernahme des Gymnasiums zu Innsbruck durch die Jesuiten erscheinen, die ihrer alten Methode treu, ein wenig Küchenlatein als die Feuerprobe und den Gipfel jugendlicher Bildung ansehen und alles Nationale so streng verbannen, daß sie den Studierenden sogar die Lektüre deutscher Dichter untersagen.«1052
1048 Borutta, Antikatholizismus, S. 71–77; Steub, Sängerkrieg; Wackernell, Beda Weber ; ders., Sängerkrieg; Dreyer, Steub; Mumelter, Streiter ; Hagel, Sängerkrieg, S. 82–86; Fontana, Restauration, S. 687f.; Götz, Bürgertum, S. 108–110; Maaß, Jesuiten, S. 105– 127. 1049 Pichler, Literatur, S. 147. 1050 Dörrer, Gilm, S. 160 (»wirkte wie eine Bombe in Tirol«); TLMF, F.B. 857, InnsbruckerTagebücher des Joh. Lang, Bd. 2, 1844–1846, S. 364f. 1051 [Joseph Streiter], Poetische Regungen in Tirol, in: AZ Nr. 340, 06. 12. 1843, (Beilage) S. 2671. 1052 Ebenda; Wackernell, Beda Weber, S. 219.
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Bereits die bloße Tatsache, dass der Text unumwunden und öffentlich Tiroler Angelegenheiten erörterte, erregte höchstes Aufsehen. Streiters Leser interessierte jedoch weniger die literarische Fehde, als vielmehr seine Jesuitenschelte – den Orden anzugreifen, bedeutete implizit auch, die österreichische Regierung zu kritisieren.1053 Zunächst reagierte denn auch keiner der besprochenen Tiroler Literaten auf Streiters polemischen Diskussionsanstoß, sondern die Jesuiten selbst bzw. eine ihnen oder der österreichischen Regierung nahestehende Person mit einem Korrespondenzartikel, der am 29. Januar 1844 in der »Allgemeinen Zeitung« erschien.1054 Der sehr konziliant gehaltene Text versucht Streiters Vorwürfe zu entkräften und den Jesuiten eine wirksame, nationale und poetische Erziehung (»Nationalbildung«) der Tiroler Jugend zuzuschreiben. Dass dieser harmlose Artikel die antijesuitische Aufregung kaum zu besänftigen vermochte, zeigte wenig später ein weiterer Höhepunkt des Tiroler Antijesuitismus. Gouverneur Brandis, selbst ein vielbeachteter Historiker, lancierte im Winter 1843/44 im Tiroler Nationalmuseum »Ferdinandeum« einen Vorlesungszyklus zur Geschichte Tirols. Am 8. März 1844 referierte der Benediktiner und Historiker Albert Jäger über die wissenschaftlichen, sittlichen und religiösen Verhältnisse Tirols im 17. und 18. Jahrhundert.1055 Die Wirkung dieses Vortrages lässt sich mit Streiters »Regungen« vergleichen – er erregte in Innsbruck, ja in ganz Tirol einen beispiellosen Skandal – erneut wurden die Jesuiten Gegenstand offener und öffentlicher Kritik. Jäger kritisierte in seinen offenbar sehr süffisant-spitzen Ausführungen vor allem die Erziehungsmethoden des Ordens und die überbordende Frömmigkeit, die er in Tirol etabliert habe. Da das Manuskript des Vortrages verschollen ist, lässt sich dessen tatsächlicher Inhalt nicht prüfen, die Aussagen der Anwesenden wichen jedenfalls stark voneinander ab.1056 Dennoch zeigt die Wirkung von Jägers Vortrag, welchen hohen und konfliktreichen Stellenwert die Jesuiten mittlerweile, nur fünf Jahre nach ihrer Wiederberufung, auch in Tirol eingenommen hatten: »Mit Ausnahme weniger wütender Jesuitenfreunde war alles begeistert, stürzte auf den Redner zu, drückte ihm die Hand, umarmte ihn, und mehrere Tage war von nichts als von diesem Vortrag an allen öffentlichen Orten die Rede«
1053 TLMF, F. B. 857, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd 2, 1844–1846, S. 364–366. 1054 Oesterreich. Aus dem Innthal im Januar, AZ Nr. 29, 29. 01. 1844, S. 230f.; TLMF, F. B. 857, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 2, 1844–1846, S. 365f.; Wackernell, Beda Weber, S. 227f. 1055 Schlorhaufer, Ferdinandeum; AAM, NL Albert Jäger, Erinnerungen meines Lebens, Bd. 1, S. 89f. 1056 Dörrer, Gilm, S. 169–171; Maaß, Jesuiten, S. 113–118; Wackernell, Beda Weber, S. 232–236; Kramp, Brandis, S. 222–226.
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teilte ein Augenzeuge aufgeregt Joseph Streiter nach Bozen mit.1057 Mündlich und brieflich verbreitete sich so die Kunde von Jägers Vortrag, der bald als Schlag gegen den »Jesuitismus« gedeutet wurde, obwohl Jäger selbst stets beteuerte, bloß der »historischen Wahrheit« verpflichtet zu sein.1058 Im Rückblick bereute Jäger seinen Vortrag und musste eingestehen, dass er das Innsbrucker Publikum falsch eingeschätzt hatte: »Hätte ich gewusst, wie unterwühlt Innsbruck, wie es sich jetzt zeigte, war, von irreligiöser, unkirchlicher und unsittlicher Gesinnung, ich hätte die Vorträge nicht gehalten.« Er habe vorausgesetzt gehabt, dass das Auditorium im Stande gewesen wäre, die »Objectivität« seines Vortrages »ohne Leidenschaft« aufzufassen. Stattdessen habe er beobachten müssen, wie sein Vortrag als »verdeckter Angriff auf die ihnen verhassten, vor Kurzem wieder in Innsbruck eingeführten Ordensleute« gedeutet und die von ihm dargestellten Misstände des 16. und 17. Jahrhunderts »den Jesuiten in die Schuhe« geschoben wurden.1059 Genau besehen, dürfte auch weniger der Inhalt des Vortrages Aufsehen erregt haben, als vielmehr dessen Form, die dem Tiroler Antijesuitismus eine völlig neue Legitimationsbasis verlieh. Zunächst schien Jägers Vortrag eine der Kernkomponenten des Antijesuitismus, die Kritik an einer ineffizienten, ja schädlichen Bildungs- und Erziehungsweise des Ordens, wissenschaftlich-historisch zu untermauern und dadurch zu legitimieren. Dies betonte etwa die liberal-nationale Leipziger Zeitschrift »Die Grenzboten«, die ausführlich darüber berichtete: »Es ist nicht zu läugnen, daß die Einwohnerschaft von Innsbruck bisher der Gesellschaft Jesu nicht günstig gestimmt werden konnte, und da in dem Gehörten für diese abholde Meinung eine vollgiltige Motivierung lag, so wurde es nur mit desto größerer Anerkennung aufgenommen.«1060
Dass Jäger Geistlicher, selbst Mitglied eines Ordens und gleichzeitig Hofmeister bei Landesgouverneur Brandis war, der die Vortragsreihe organisiert hatte, befreite den Tiroler Antijesuitismus von seiner oppositionellen Randlage und verlieh ihm geradezu einen offiziellen Charakter. In der Tat wurden Jäger und Brandis von den Tiroler Liberalen wegen ihres Freimutes gefeiert.1061 Brandis selbst, der höchste Vertreter des Zentralstaates in Tirol, geriet zunehmend zwischen die Fronten dieses Konfliktes um die Jesuiten. Wenige Wochen nach 1057 Dr. Michael Stotter an Dr. Joseph Streiter, 23. 03. 1844, zitiert in: Wackernell, Beda Weber, S. 234. 1058 Ebenda, S. 234–236; TLMF, F. B. 857, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 2, 1844–1846, S. 400f. 1059 AAM, NL Albert Jäger, Erinnerungen meines Lebens, Bd. 1, S. 90f. 1060 Aus Innsbruck, in: Die Grenzboten 3 (1844), 1, S. 691–694, S. 693. 1061 Maaß, Jesuiten, S. 115; Dörrer, Gilm, S. 167f.
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Jägers Vortrag, am 25. April 1844, trat er in seiner Eröffnungsrede am konservativ dominierten Tiroler Kongress für die Jesuiten ein und wandte sich in aller Deutlichkeit gegen ihre Kritiker. In seiner Rede in der Generalversammlung des Museumsvereins – einem der zentralen Aggregationspunkte des vormärzlichen Liberalismus in Tirol – verteidigte er dagegen nur zwei Wochen später seinen Benediktiner Proteg8 und dessen Vortrag gegen die kirchlich-ultramontane Empörung. Brandis’ Verhalten verdeutlicht den geringen Einfluss des Staates und seiner höchsten Vertreter auf den politisch-religiösen Diskurs. Sie nahmen nunmehr eine weitgehend reaktiv-vermittelnde Rolle ein.1062 Waren 1844 noch Gilm und Jäger die Hauptakteure des Antijesuitismus in Tirol, so riss Joseph Streiter 1845 die Diskurshoheit an sich. Er veröffentlichte in Heidelberg anonym das Pamphlet »Tirol und die Jesuiten«, das die wichtigsten historischen Etappen des Verhältnisses zwischen dem Orden und Tirol bis in seine Gegenwart schilderte und diese mit den klassischen antijesuitischen Argumenten kommentierte. Wie brisant dieses publizistische Unterfangen war, zeigt schon die Tatsache, dass Streiters Freund Ludwig Steub das anonyme Manuskript »zur größeren Sicherheit« persönlich von Bozen nach Heidelberg geschmuggelt hatte.1063 Bei dem Werk handelte es sich um ein systematisches Vademekum des Antijesuitismus in Tirol, wobei die Gedichte Gilms, Jägers Vortrag und briefliche Mitteilungen an Streiter, die er mitunter wörtlich in den Text integrierte, als wichtigste Quellen dienten.1064 Der Bozener Liberale beschrieb das Wirken des Ordens bis ins 18. Jahrhundert, dessen Wiederberufung nach Tirol und dessen Reetablierung im Bildungswesen, die er als Drang des Ordens zur Ausbreitung deutete. Der »geistestödtende« Unterricht der Jesuiten, so Streiter, müsse zwangsläufig zur »Verdummung« der Jugend und deren Entfremdung von der deutschen Sprache führen.1065 Neben klassischen antijesuitischen Topoi baute Streiter immer wieder nicht weiter begründete verschwörungstheoretische Argumente ein, etwa wenn er schrieb: »Vor allem versuchen sich die Jesuiten der Weiber zu bemächtigen, sind diese einmal gewonnen, so kann es ihnen, meinen sie, mit Mann, Sohn oder Tochter gar nicht fehlen« oder »Nichts wird besser ausgebeutet, als der Hang zur Schwärmerei.«1066 1062 TLMF, F. B. 857, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 2, 1844–1846, S. 443; Kramp, Brandis, S. 225f.; Maaß, Jesuiten, S. 118; TLMF, F.B. 3322/2, Ständisches Congress-Protokoll für das Jahr 1844, S 19–21; Schlorhaufer, Ferdinandeum, Kapitel »Der Museumsverein«, S. 3; Forcher, Staatspolizei, S. 288–292. 1063 [Streiter], Jesuiten; Steub, Sängerkrieg, S. 104. 1064 [Streiter], Jesuiten, zitiert aus den Quellen Jägers, etwa aus den Arbeiten des Brixener Kirchenhistorikers Sinnacher, (S. 4, S. 5, S. 6, S. 8) aber auch aus den Werken Jägers selbst, etwa Tirol und der baierisch-französische Einfall im Jahre 1703, Innsbruck 1844 (S. 7), den in Anm. 1057 angeführten Brief gibt Streiter beinahe wörtlich wieder (S. 20). 1065 Ebenda, S. 23f. 1066 Ebenda, S. 26.
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Streiter schloss seine Schrift schließlich mit der Feststellung, das »Treiben« der Jesuiten sei mit »den Grundsätzen des wahren Christenthums« nicht vereinbar, »Jesuitismus« folglich nicht mit der katholischen Religion identisch.1067 Die Bedeutung dieses Textes lag in der Zusammenführung der diffusen Kritik an den Jesuiten, vor allem aber auch darin, dass er den Tiroler Antijesuitismus in einen europäischen bzw. gesamtdeutschen Kontext stellte und diesen somit über die Grenzen des Kronlandes hinaus bekannt machte. Die »Jesuitenfrage«, so Streiter, beschäftige nicht nur Tirol, sondern habe in ganz Europa eine »praktische Bedeutung«. Das Land aber beherberge die »bedeutendste Niederlassung der Jesuiten auf deutscher Erde«.1068 »Tirol und die Jesuiten« dürfte über Tirol hinaus rezipiert worden sein. Wichtige Spuren hinterließ der Text etwa in Reisehandbüchern, die ihn als Grundlage nutzten,1069 aber auch bei prominenten politischen Schriftstellern, etwa dem Exilösterreicher und Oppositionellen Franz Schuselka. Der zum Deutschkatholizismus Übergetretene übernahm die Behauptung Streiters, die Tiroler Niederlassung des Ordens sei die größte Deutschlands und wies Tirol im Verhältnis zwischen der deutschen Nation und dem Jesuitenorden eine zentrale Rolle zu. Aufgrund seiner Nähe zu Italien und Rom sei Tirol für den Orden die ideale Ausgangsbasis, um »den Plan der Entzweiung Deutschlands und Zerrüttung Oesterreichs« zu verfolgen. Die Jesuiten müssten also besonders in Tirol bekämpft werden.1070 Dieser stark mit gesamteuropäischen Semantiken durchsetzte Antijesuitismus löste 1843/44 nicht nur den »Sängerkrieg« aus, er bestimmte im Wesentlichen auch dessen Inhalte. In der Auseinandersetzung für oder wider die Jesuiten ging es letztlich um die Definition von Religion und Katholizismus, um deren Verhältnisbestimmung zu »Tirol« und letztlich um die nationale Verortung des Kronlandes selbst. Man sollte jedoch keine lineare Verbindung zwischen dem Antijesuitismus und der Aufhebung des Ordens 1848 herstellen. Der »Sängerkrieg« wurde zwar vom Antijesuitismus ausgelöst, veränderte aber dessen mediale Ausgestaltung und damit dessen personelle Zusammensetzung erheblich. Viele, insbesondere unter dem Klerus, die Anfang der 1840er Jahre den Jesuiten zumindest skeptisch gegenüberstanden, wurden durch die verbale Radikalisierung des »Sängerkrieges« vom Antijesuitismus entfremdet und stellten sich 1848 auf die Seite der Verteidiger der Jesuiten.1071 Die Ausbildung nachhaltig wirksamer liberalkatholischer Semantiken wurde dadurch im Keim erstickt.
1067 1068 1069 1070 1071
Ebenda, S. 27. Ebenda, S. 1. Koch, Reise, S. 169–183. Schuselka, Jesuitenkrieg, S. 310–317, Zitat S. 312; Lengauer, Ästhetik, S. 83–92. Kap. 7.4.
Das Ende der Zensur: Die Medialität der »Sängerkriege«
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7.2. Das Ende der Zensur: Die Medialität der »Sängerkriege« »Unser Brief von Riva braucht nach Augsburg netto drei Tage und drei Nächte. Am vierten Tag wird er daselbst gedruckt, und am siebenten langt er wieder am Gardasee an, Morgends um halb acht Uhr. Und alle Freunde und Gevattern sind entzückt über die sinnliche Darstellung ihrer inländischen Weisheit, mit einem Wort, über die freie Presse in Tirol.«1072
Diese im Herbst 1846 in der »Augsburger Postzeitung« veröffentlichten Zeilen stellen nicht nur die eingehendste zeitgenössische Reflexion über die Medialität des »Sängerkrieges« dar, sie sind in ihrer Offenheit und durch die Proklamation der politischen Losung »freie Presse« vor allem auch eine Kampfansage an die österreichische Regierung. Indes: Die Presse war 1846 in Tirol natürlich alles andere als »frei«, sie unterlag nach wie vor der rigiden staatlichen Kontrolle. Dennoch führte der »Sängerkrieg« zu einer politischen Öffentlichkeit in und über Tirol und degradierte die staatliche Zensur bereits vor 1848 faktisch zum zahnlosen Instrument. Der »Sängerkrieg« begründete dabei keine staatsfreie Öffentlichkeit, sondern initiierte vielmehr einen Kommunikationsprozess, in dem der vormärzliche Staat seine Rolle neu definieren musste: Wollte er auf die öffentliche Kommunikation noch Einfluss nehmen, musste er seinen Anspruch als Kommunikationsregulator aufgeben und jene eines gleichrangigen Akteurs, eines Teilnehmers am öffentlichen Diskurs, einnehmen. Tirol war dabei kein Sonderfall – in zahlreichen Gebieten des Deutschen Bundes waren Zensur- und Polizeiapparate nach 1840 »mit ihrer eigenen Ohnmacht konfrontiert.«1073 Der sich stark ausbreitende mediale Markt wurde schlicht zu unübersichtlich und zu dynamisch, um ihn weiter behördlich eingrenzen und kontrollieren zu können – zumal in einem Grenzland wie Tirol. Mit Streiters »Poetischen Regungen« vom 6. Dezember 1843 entbrannte eine gut vierjährige öffentliche Debatte, die zumindest in dreizehn deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, vornehmlich außerhalb der habsburgischen Monarchie, ausgetragen wurde.1074 Obwohl wiederholt auch Artikel in den Hochburgen der vormärzlichen Presse – wie etwa Leipzig, Basel oder Frankfurt – erschienen, konzentrierte sich die Auseinandersetzung vor allem auf Augsburg, das mit der »Allgemeinen Zeitung« das wichtigste deutschsprachige Me-
1072 Die freie Presse in Tirol, AP Nr. 85 (Beilage), 24. 10. 1846, S. 337. 1073 Müller, Schmuggel, S. 191f., Zitat S. 191. 1074 Diese waren: Wiener Zuschauer, Augsburger Allgemeine Zeitung, Augsburger Postzeitung, Illustrierte Zeitung (Leipzig), Frankfurter Journal, Mannheimer Abendzeitung, Der Schweizer-Freund (Basel), Katholische Blätter aus Tirol, Grenzboten (Leipzig), Deutsche Allgemeine Zeitung (Leipzig), Dresdner Abendzeitung, Nürnberger Correspondent, Frankfurter Oberpostamtszeitung, Churer Zeitung, Der Beobachter (Stuttgart).
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dium überhaupt und mit der »Postzeitung« lange Zeit die einzige katholische Tageszeitung beheimatete.1075 Im Vergleich zum knapp ein Jahrzehnt vorher stattgefundenen Medienereignis der Zillertaler Auswanderung treten mehrere entscheidende Unterschiede hervor. Zunächst handelte es sich beim »Sängerkrieg« nicht mehr um ein Medienereignis im eigentlichen Sinn: Es gab – sieht man vom »Antijesuitismus« ab – keinen einschneidenden medialisierten Vorfall, sondern vielmehr eine öffentliche Debatte, deren Inhalte immer wieder changierten und deren kleinster Nenner die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Zustände in Tirol bildeten. Auch von einer »passiven Öffentlichkeit« kann keine Rede mehr sein, wurden doch die Beiträge des »Sängerkrieges« mehrheitlich von Tirolern verfasst. Joseph Streiter, Beda Weber, Joseph Thaler, Pius Zingerle, Ferdinand von Giovanelli, der Sohn Joseph von Giovanellis, Vinzenz Gasser, der spätere Fürstbischof von Brixen, Josef Valentin Haller, der Bürgermeister von Meran oder der ständische Archivar und Redakteur des offiziösen »Bothen von Tirol und Vorarlberg«, Johann Schuler, nahmen mit Sicherheit an der Zeitungsfehde teil, sekundiert von den Bayern Johann Friedrich Lentner, Guido Görres, Ludwig Steub und Ernst von Moy de Sons.1076 Bis auf Steub veröffentlichten alle »Krieger« ihre Beiträge anonym, so ist etwa die Identität des umtriebigsten Autors, des sogenannten »Kreuzkorrespondenten«, bis heute ungeklärt.1077 Obwohl die Identität vieler Autoren bald bekannt war – Adolf Pichler ahnte bereits am 14. Dezember 1843, dass Joseph Streiter der anonyme Autor der »Poetischen Regungen« sein musste – fachten die Diskussionen um die Autorschaft der Beiträge die Aufregung nur weiter an.1078 Bei den Artikeln des »Sängerkrieges« handelte es sich im Grunde genommen um eine selbstreferentielle Serie von Korrespondenzen, die, wie die eingangs zitierte Passage nahelegt, entweder per Post oder durch Kuriere den Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften zugesandt wurden. Um jeden Verdacht zu vermeiden, vor allem aber um die Briefsendung nicht zu gefährden, ließen 1075 Pesch, Presse, S. 48f., S. 165f.; Schmolke, Presse, S. 69; Feistle, Augsburger Postzeitung; Breil, Allgemeine Zeitung. 1076 Wackernell, Beda Weber, S. 218–276; Steub, Sängerkrieg, S. 153–192; S. 350–417; Wackernell, Sängerkrieg, S. 62; AAM, NL Albert Jäger, Erinnerungen meines Lebens Bd. 1, S. 96. 1077 Während die Autorschaft Webers seit Wackernell, Beda Weber, und Pichler, Zu meiner Zeit I, S. 272 widerlegt ist, tippt Fontana, Restauration, S. 688, S. 743, Anm. 234 auf Pius Zingerle, einem handschriftlichen Vermerk, wohl von Anton Dörrer, in der Ausgabe Pichlers Autobiographie im Dörrer-Bestand der Südtiroler Landesbibliothek »F. Teßmann« folgend; Prem, Kampf, S. 14, geht dagegen davon aus, dass diese Artikel von mehreren Personen verfasst wurden. 1078 Johann Nepomuk Gilm an Hermann von Gilm, 10. 01. 1844, zitiert in: Dörrer, Gilm, S. 160f.; Adolf Pichler an Cornelie Schuler, 14. 12. 1843, zitiert in: Pichler, Zu meiner Zeit I, S. 173.
Das Ende der Zensur: Die Medialität der »Sängerkriege«
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manche der Teilnehmer am »Sängerkrieg« ihre Artikel von dritten Personen absenden.1079 Entscheidend für das Engagement der beiden großen Augsburger Zeitungen waren persönliche Freundschaften bzw. gute Beziehungen der Redakteure zu den wichtigsten Teilnehmern des Konfliktes. So verfügten insbesondere Streiter und Steub über beste Verbindungen zu Gustav Kolb, dem langjährigen Redakteur der »Allgemeinen Zeitung«.1080 Beda Weber und der Bozener Giovanelli-Kreis konnten dagegen auf direkte Verbindungen in die Redaktionen der »Augsburger Postzeitung« und der »Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland« in München zurückgreifen.1081 Indes: Es lässt sich nur sehr schwer ermessen, wie »öffentlich« der »Sängerkrieg« in Tirol war. Zwar betonten zahlreiche Zeitzeugen in Briefen oder sonstigen Selbstdokumenten die unerhörte Furore, die diese Auseinandersetzung erregte. Adolf Pichler schrieb beispielsweise im Rückblick, dass »das wichtigste politische Ereignis […] nicht so viel Staub auf[warf], als dieser Poetenrummel in Tirol, wo man sonst nur ›Gebeter‹ sprach und den Kalender las«. Der Vater Gilms, Johann Nepomuk, erlebte eine »beinahe allgemeine Indignation«, in den Wirtshäusern hätten dagegen »unbesonnene Kaffee-Müßiggänger ihre Schadenfreude ausgedrückt«.1082 Diese Aussagen sind mit Vorsicht zu bewerten: Während die »Allgemeine Zeitung« in der Tat relativ problemlos in Österreich erhältlich war und auch in Tirol beträchtliche Abnahme fand,1083 belief sich die Auflage der »Postzeitung«, die den Großteil der Artikel des »Sängerkrieges« veröffentlichte, Anfang der 1840er Jahre auf etwa 1.500 bis 2.000 Stück, von denen nur sehr wenige in Tirol Absatz fanden. Statt einer direkten Aufnahme fanden diese Artikel jedoch indirekte Verbreitung: Die betreffenden Ausgaben der Zeitungen wurden entweder an Freunde verliehen oder handschriftlich abgeschrieben und herumgereicht. Ein zentraler Kommunikationsraum blieb weiterhin das Wirtshaus, wo die Artikel vorgelesen und diskutiert wurden. Es steht indes fest, dass die beiden Augsburger Zeitungen zu den beliebtesten 1079 Wackernell, Beda Weber, S. 28. 1080 Mumelter, Streiter, S. 143, S. 146; Steub, Sängerkrieg, S. 97; Dreyer, Steub, S. 87–93; Götz, Bürgertum, S. 96f.; Breil, Allgemeine Zeitung, S. 26–28. 1081 Giovanelli, Familiengeschichte, S. 6851–6854; Grass/Hochenegg, Görres und Tirol; Priesching, Mörl, S. 301–318; Fink-Lang, Einleitung, in: dies. [Hrsg.], Briefe, S. IX– CCXXXII, S. CXXVII–CXXXIV; Wackernell, Sängerkrieg, S. 59; ders., Weber, S. 241. 1082 Pichler, Literatur, S. 237; Johann Nepomuk von Gilm an Hermann von Gilm, 10. 01. 1844, zitiert in: Dörrer, Gilm, S. 160. 1083 Dies beklagten auch konservative Autoren: »Jedermann begreift das Gewicht, das die Allgemeine Zeitung in solchen literarischen Feldzügen durch Correspondenzen gegen das katholische Tirol in die Wagschale (!) legen kann. Sie genießt fast allein von allen größeren Zeitblättern, das Recht des ungehinderten Umflaufes in den österreichischen Staaten.« [Beda Weber], Tirol und seine Beurtheiler in Sachen der Religion und Kirche, AP Nr. 102, 23. 12. 1846, Beilage, S. 405–408, S. 407; Breil, Allgemeine Zeitung, S. 46f.; Wolf, Zeitungen, S. 10f.
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ausländischen Blättern in Tirol gehörten. 1820 beispielsweise vereinten sie mehr Abonnenten auf sich, als alle restlichen in Tirol bezogenen Zeitungen zusammen.1084 Die Öffentlichkeit, die der »Sängerkrieg« in Tirol konstituierte, war räumlich und sozial begrenzt. Er dürfte seine größte Resonanz in den Städten Tirols, vor allem in Innsbruck, Bozen, Meran und Trient, gefunden haben, während ihn am Lande bestenfalls Beamte, Priester und Adelige verfolgten. Ohnehin war diese Öffentlichkeit nach wie vor elitär begrenzt: Das Bildungs- und Handelsbürgertum, die Beamtenschaft, der Adel, der Klerus und die Studentenschaft fochten den »Sängerkrieg« aus, alle anderen Bevölkerungsgruppen nahmen ihn wohl kaum zur Kenntnis. Dies machte den »Sängerkrieg« für die Regierung nicht weniger gefährlich. Von Beginn an suchten Gouverneur Brandis und das Innsbrucker Gubernium den medialen Konflikt zu unterbinden, im bürokratischen Sprachgebrauch der Zeit folgte der Staat der Devise, alle Spuren der »Zeitungspolemik bezüglich d.[er] im heurigen Jahre geherrschten literarischen Zerwürfnisse sorgfältig zu beseitigen«.1085 Dass dies in der letzten Phase des Vormärz nicht mehr möglich war, gestand Gouverneur Brandis in der Korrespondenz mit dem österreichischen Generalkonsul in Hamburg im Herbst 1847 resigniert ein: Man kenne in der Regel zwar die Autoren österreichkritischer bzw. allgemein unliebsamer Artikel, könne dies jedoch nicht beweisen und sei letztlich machtlos gegenüber Texten, die außerhalb der Monarchie erscheinen.1086 Dennoch suchte Brandis den Konflikt zu beeinflussen. Nachdem im Dezember 1843 Streiters »Regungen« den »Krieg« eröffnet hatten, übte der Gouverneur erheblichen Druck auf die Redaktion der »Allgemeinen Zeitung« aus, um den Namen des Autors zu erfahren. Beda Weber und einigen Trienter Intellektuellen wurde mehrfach schärfstens untersagt, weitere Artikel nach Augsburg zu senden,1087 die Verbreitung der katholischen »Augsburger Postzeitung« und der Münchener »Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland« wurde in 1084 Wolf, Zeitungen, S. 11; Steub, Sängerkrieg, S. 167; TLMF, F.B. 857, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 2, 1844–1846, S. 447, S. 506; Feistle, Postzeitung, S. 20f. 1085 TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidial-Protokoll 143 (1844), Nr. 4015. Der Akt wurde leider »ausgeschieden«. 1086 TLA, Jüngeres Gubernium, Geheime Präsidiale, S. I, Sig. XXIV/2 (Fasz. 3895), Clemens von Brandis an Generalkonsul Pretis in Hamburg, 11. 10. 1847. 1087 Wackernell, Beda Weber, S. 248, S. 272; den Trentiner Gelehrten wurde jede Teilnahme am »Sängerkrieg« in den offiziösen Zeitungen in Trient und in Innsbruck, aber auch in ausländischen Blättern, strengstens untersagt: Trient, AP Nr. 264, 20. 09. 1844, S. 1033– 1035; Ludwig Steub, Nachtrag, AZ Nr. 284, 10. 10. 1844, S. 2267: »Daß den wälschtirolischen Gelehrten die Erwiderung auf deutsch-tirolische Angriffe durch amtliche Erlasse untersagt worden, habe ich vor zwei Monaten erfahren und habe es zwei Monate lang bedauert.«
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Österreich bzw. in Tirol zeitweise besonders erschwert.1088 Neben dieser wenig erfolgreichen repressiven Pressepolitik – die Intensität des »Sängerkrieges« wurde davon kaum beeinflusst – suchte die Regierung jedoch auch aktiv und inhaltlich in die Auseinandersetzung einzugreifen, indem sie die medialen Spielregeln nutzte und ebenfalls Artikel in den beiden Augsburger Zeitungen veröffentlichte. Bereits die erste Erwiderung auf Streiters »Regungen«, die in der »Allgemeinen Zeitung« am 29. Januar 1844 veröffentlicht wurde, hatte wohl Brandis selbst angeordnet bzw. sie dürfte mit seiner Zustimmung entstanden sein, zumal der Autor bzw. die Autoren Zugang zu den Akten des Guberniums hatten. Später ließ die Regierung sehr konziliante Artikel veröffentlichen, um dem Konflikt seine Dynamik zu nehmen. Derartige Artikel wurden nicht nur von einzelnen Beamten nach Augsburg gesandt, sondern häufig auch direkt von zentralen Regierungsstellen, wie etwa der Polizeihofstelle in Wien.1089 Der Staat nahm im »Sängerkrieg« eine vermittelnde und mäßigende Rolle ein – wie bereits im Zusammenhang mit dem Tiroler Antijesuitismus war sein Einfluss auf politisch-religiöse Diskurse jedoch auch hier verschwindend gering. Er konnte auch nicht mehr verhindern, dass er selbst, seine repressive Pressepolitik zumal, Gegenstand der politischen Diskussion wurde, wie der eingangs angeführte Artikel deutlich belegt. Die Medialität des »Sängerkrieges« war also komplex, sie kombinierte moderne mit vormodernen Elementen, sie unterschied sich von den vorangegangenen wie auch von den nachfolgenden Bedingungen überpersonaler Kommunikation in vielerlei Hinsicht. Zunächst war die Rolle des Staates paradox: Die Zensur zwang zur journalistischen Emigration, diese hebelte wiederum deren Wirkmächtigkeit aus – der Staat wurde dadurch zu einem Beobachter politischer und religiöser Kommunikation unter vielen. Es handelte sich hierbei gleichsam um eine regionale Variante jener »österreichischen« Exilöffentlichkeit, die in den 1840ern vor allem von sächsischen Verlegern logistisch-publizistisch gestützt und von österreichischen oppositionellen Korrespondenten und Literaten getragen wurde.1090 Dies führte jedoch keineswegs zu einer modernen bürgerlichen Öffentlichkeit, die Kommunikationszusammenhänge von Zeit, Raum und sozialer Lage unabhängig verfügbar gemacht hätte. Vielmehr begründete der »Sängerkrieg« eine Teilöffentlichkeit mit sozial, räumlich und zeitlich begrenztem Publikum, die somit bestenfalls als »situativ« zu bezeichnen wäre. Überpersonale Kommunikation trat also neben Kommunikations- und Vergesellschaftungsformen unter Anwesenden: Hier waren vor allem die persönliche 1088 Wackernell, Beda Weber, 273f. 1089 Ebenda, S. 225, S. 230, S. 272; TLMF, F.B. 857, Innsbrucker-Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 2, 1844–1846, S. 365f. 1090 Lengauer, Ästhetik, S. 59–64.
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Weitergabe der Texte des »Sängerkrieges« sowie ihr öffentlicher Vortrag von zentraler Bedeutung. Die wichtigsten Sozialisations- und Kommunikationspunkte des »Sängerkrieges« blieben die Wirtshäuser, typische Kristallisationsorte vormoderner Öffentlichkeit mithin, wiewohl als zentrales Medium die moderne Tagespresse diente – vormoderne und moderne Kommunikationsmöglichkeiten vermengten sich hier zu einem »medialen Cocktail«.1091
7.3. Semantiken der »Sängerkriege« Streiters »Regungen« bildeten nicht nur den klangvollen Auftakt des »Sängerkrieges«, die literarische Revue steckte auch alle Konfliktfelder ab, in denen sich die mediale Auseinandersetzung der darauffolgenden vier Jahre entspinnen sollte. Indem er Beda Weber aus dem nationalen literarischen Kanon und die Jesuiten aus der Gegenwart Tirols ausschloss,1092 markierte er mit der kritischen Beanstandung der gesellschaftlichen Funktion des Katholizismus eine der zentralen Konflikt- und Problemstellungen des »Sängerkrieges«. Eine zweite Bruchlinie zog Streiter, indem er den ultramontanen-konservativen Katholizismus, verkörpert durch die Jesuiten, aus der nationalen Gemeinschaft ausschloss – die Beziehung bzw. Verflechtung zwischen der »Nation« und der »Religion« war ebenfalls ein zentrales Thema des Tiroler »Sängerkrieges«. Da Streiter seinen Text als (literarische) Koppelung Tirols an die – protestantisch dominierte – deutsche Kulturnation konzipiert hatte, stand in den folgenden Monaten und Jahren schließlich auch die religiöse und nationale Grunddefinition Tirols selbst zur Disposition – spätestens hier griff der »Sängerkrieg« auch auf das italienische Tirol über.1093 Insgesamt betrachtet, schrieb der »Sängerkrieg« somit die diskursiven Kernelemente des Antijesuitismus fort und machte sie zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Während im Trentino wissenschaftliche, wirtschaftliche, politische, literarische und religiöse Fortschrittsentwürfe verhältnismäßig gut harmonierten, prallten diese im deutschsprachigen Tirol bisweilen unversöhnlich aufeinander und lösten damit einen heftigen Konflikt, eine frühe Form der europäischen Kulturkämpfe aus.1094 1091 Mauelshagen, Öffentlichkeit, Zitat S. 245; Rau/Schwerhoff, Öffentliche Räume; Kümin, Wirtshaus; ders., Wirtshäuser ; Heiss, Zentralraum Wirtshaus. 1092 Kap. 7.1.; Literaturzustände in Tirol, Illustrierte Zeitung Nr. 48, 25. 05. 1844, S. 346; Ludwig Steub, Nachtrag [zu den Sprachgränzen], AZ Nr. 284 (Beilage), 10. 10. 1844, S. 2267: »Diese geistliche Muse sey fortan seine einzige Führerin – alle weltlichen Egerien, so unschuldig sie zu locken scheinen, werden ihn nur zu Schanden führen.« 1093 Hagel, Sängerkrieg, S. 84–86; Fontana, Restauration, S. 687–692; Götz, Bürgertum, S. 109f. 1094 Götz, Gratwanderungen, insbesondere S. 455.
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7.3.1. Welcher Katholizismus? Die Auseinandersetzung mit den Jesuiten und dem »Jesuitismus« setzte mit dem ersten Artikel ein und durchzog den gesamten Konflikt – in Tirol schien ein Stellvertreterkrieg zwischen den Gegnern und den Unterstützern des Ordens ausgebrochen zu sein. Anfang 1847 hielt die Redaktion der Münchener »Historisch-politischen Blätter« resümierend fest, dass die Liberalen Tirols und Bayerns den Ultramontanismus in Tirol, »angeblich gegen den Jesuitismus kämpfend«, frontal angegriffen hätten.1095 Der Orden war in den Artikeln omnipräsent, immer wieder wurden klassische antijesuitische Kritikpunkte bemüht, denen dann ab April 1844 in der »Augsburger Postzeitung« mit bemerkenswerter Ausdauer entgegnet wurde. Diese tirolische »Jesuitismus«-Debatte erhielt durch Medienereignisse wie Albert Jägers Vortrag vom 8. März 1844 – in Innsbruck sprach man zeitweise vom »Jäger’schen Streit«1096 – oder durch Broschüren wie jene von Streiter oder Schuselka immer wieder neue Aktualität.1097 Einer der raren ausgewogenen Beiträge des »Sängerkrieges« brachte diese Zentralität der Jesuiten-Frage auf den Punkt: »Während viele der sogenannten Liberalen den Druck der Censur und einer mißtrauischen Polizei, die herrisch in das Gebiet der geistigen Freiheit und des Gewissens eingreift, der Kirche zuschreiben […], laden die Jesuiten und ihre Freunde durch das starre Festhalten mancher Einrichtungen und Maximen, die der dahinschwindenden Volksbevormundungsperiode ihre Entstehung verdanken, den verderblichen Schein auf sich, als ob sie gerade jenes polizeiliche Walten in Sachen des Glaubens und der geistigen Erkenntnis nicht bloß für nothwendig hielten, sondern demselben sogar mehr als den eigentlichen Waffen der Kirche […] vertrauten.«1098
Der »Jesuitismus« und die Jesuiten stiegen somit zum dominanten Differenzmarker auf, mit dessen Hilfe die Teilnehmer am »Sängerkrieg« nicht nur sich selbst beschrieben, sondern auch ihr Verständnis von Religion und von Katholizismus definierten, was zu einigen der seltenen religiösen Selbstbeschreibungen des liberalen Katholizismus im deutschsprachigen Tirol führte. Wie von Thomas Mergel am Beispiel des rheinischen Bürgertums eindrücklich 1095 An den Correspondenten der Allgemeinen Zeitung in Sachen Tirols, in: Hist. Pol. Bl. Nr. 19 (1847), S. 117–121, Zitat S. 117. 1096 TLMF, F.B. 857, Innsbrucker-Tagebücher des Johann Lang, Bd. 2, 1844–1846, S. 472. 1097 Von der untern Etsch, 8. April (Abendvorlesung in Innsbruck von P. Albert Jäger), AP Nr. 112, 21. 04. 1844, S. 437f.; Literaturzustände in Tyrol, Illustrierte Zeitung Nr. 48, 25. 05. 1844, S. 346; Innsbruck: Wissenschaftliche Vorlesungen, AZ Nr. 149, 28. 05. 1844, S. 1189f.; Aus Innsbruck, in: Die Grenzboten 3 (1844), 1, S. 691–694; Verwaltungs-Ausschuss des Ferdinandeums, An die verehrte Redaction der Allg. Zeitung, AZ Nr. 158, 06. 06. 1844, S. 1262f.; Innsbruck, 15. Juli. (Sache der Jesuiten in Tirol.), AP Nr. 224, 11. 08. 1844, S. 873f.; Oesterreich – Innsbruck, ebenda Nr. 138, 02. 07. 1845, S. 730f. 1098 Oesterreich – Innsbruck, AP Nr. 138, 02. 07. 1845, S. 730f., S. 731.
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beschrieben, wandte sich der vormärzliche Liberalismus nicht vollständig vom Katholizismus ab, vielmehr wurden Religion und Religiosität in den privaten Bereich der Erziehung verschoben, implizit dienten sie gleichermaßen zur Erhaltung eines konservativen, patriarchalischen Geschlechter- und Gesellschaftsmodells.1099 Obwohl die sehr dürftige Forschungslage hier nur vorläufige Aussagen ermöglicht, deuten die wenigen vorhandenen Indizien doch darauf hin, dass die liberale Katholizität im deutschsprachigen Tirol mit jener im Rheinland vergleichbar war : Sieht man von den zeitweise im Vormärz kirchenfernen Agnostikern Johann Schuler oder Adolf Pichler ab, so diente eine entsprechende Variante des Katholizismus auch den Liberalen Tirols, mit josephinischen Versatzstücken versehen, als rationales, ordnungserhaltendes Prinzip und zur Vermittlung bürgerlicher Tugenden, wobei gleichzeitig jede Klerikalisierung und Politisierung der Religion entschieden abgelehnt wurde.1100 Religion war den Liberalen somit eine private Angelegenheit, die den familiären Alltag aber durchaus prägte. Joseph Streiter beispielsweise erkundigte sich bei seinem in Berlin studierenden Sohn, wie oft und wie regelmäßig dieser den Gottesdienst besuche.1101 Auch für das Tiroler Bürgertum galt mithin: »Religion blieb etwas höchst Positives, solange sie die Ordnung des bürgerlichen Lebens schützte. ›Fanatismus‹ und ›Überspanntheit‹ liefen dieser Priorität der Mitte und des Maßhaltens aber zuwider«.1102 Die liberale Verortung der Religion in den privaten und familiären Bereich hatte zur Folge, dass ihr keine öffentlich-politische Rolle zukam, was auch dazu führte, dass die Liberalen öffentlich über ihre eigene Religiosität schwiegen. Dies änderte sich im Laufe des »Sängerkrieges« grundlegend, einige der insgesamt raren liberalen »Glaubensbekenntnisse« wurden im Zuge dieser medialen Auseinandersetzung veröffentlicht. Eine der Folgen des anhaltenden, ostentativen Antijesuitismus der Tiroler Liberalen war, dass ultramontane Autoren begannen, den Orden mit der Kirche als Ganzes gleichzusetzen: »Im Schicksale, das man von einer gewissen Seite den Jesuiten bereiten will, sehen wahre Katholiken das endliche Schicksal ihrer Religion und ihrer Kirche, wenn es
1099 Mergel, Bürgertum, S. 70–94; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 940–958. 1100 Adolf Pichler an Alois Flir, 10. 07. 1844, zitiert in: Pichler, Zu meiner Zeit I, S. 212–214, S. 213: »Ihre Ueberzeugung ist katholisch; ich habe Roms Dogmen den Rücken gewandt; Sie sind selig im Glauben, in der Hoffnung auf das Jenseits: ich will stark und entschlossen im Diesseits stehen: Sie sind ein Christ, ich bin ein Heide.« Wackernell, Sängerkrieg, S. 28f.; Pizzini Dalsass, Bürgerliche Familienformen, S. 141f.; Götz, Gratwanderungen, S. 465; Raschhofer, Liberalismus, S. 129–156. 1101 Friedrich Streiter an Joseph Streiter, 14. 04. 1855, zitiert in: Pizzini Dalsass, Bürgerliche Familienformen, S. 142. 1102 Mergel, Bürgertum, S. 81.
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einmal Grundsatz würde, daß jemand ungehört mißhandelt und verurtheilt werden könnte.«1103
Kurzum: Antijesuiten galten fortan als »Feinde der Kirche«, selbst der in der Jesuitenfrage ambivalente Gouverneur Brandis übernahm in seiner Landtagsrede 1844 diese Argumentation.1104 Dieser diskursive Ausschluss aus der katholischen Solidargemeinschaft nötigte den Liberalismus dazu, seine Katholizität zu begründen, ohne dabei die antijesuitische Grundhaltung aufzugeben. Dies geschah durch beharrlich vorgetragene Kritik am »Jesuitismus« und an allem, was ihm zugeschrieben wurde, ohne den Orden selbst zu nennen. So wurde die sinnliche, irrationale Frömmigkeit der Landbevölkerung Tirols immer wieder verurteilt. Vor allem die religiösen Massenereignisse des Jahres 1845 gerieten zum Gegenstand harscher liberaler Kritik: Im Juli zählte man bei einer Massenwallfahrt nach St. Georgenberg im nördlichen Tirol binnen neun Tagen über 60.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen, wenig später, Ende August, nahmen an einer kirchlichen Jubiläumsfeier in Bozen an drei Tagen über 40.000 Gläubige teil und schließlich lockte die Begehung der 300. Wiederkehr der Eröffnung des Trienter Konzils im Dezember 1845 über 25.000 Menschen nach Trient.1105 Ein Südtiroler Korrespondent der »Allgemeinen Zeitung« kommentierte die kirchliche Feier in Bozen mit unumwundener Häme: »Keine Feier, welche hier in den Alpen, zumal nächst den Gränzen wälscher Zunge alle Beine zu Berg und Thal rühriger machte als eine kirchliche mit Goldornat und Festgeläute, Processionen und reichgeschmückten Bildern oder Reliquien. Zu diesen flüchtet sich der Landmann bei Seuche und Mißwachs, und trägt die Gebeine seiner hochverehrten Beschützer vertrauensvoll durch die Gassen, auf daß sie sich seines
1103 Von der untern Etsch (Abendvorlesung in Innsbruck von P. Albert Jäger), AP Nr. 112, 21. 04. 1844, S. 437f., S. 438. 1104 Von der untern Etsch (Poetische Entzweiung in Tirol), AP Nr. 93, 02. 04. 1844, S. 369f.; Von der untern Etsch (Abendvorlesung in Innsbruck von P. Albert Jäger), ebenda Nr. 112, 21. 04. 1844, S. 437f., Zitat S. 438; Von der untern Etsch, im Mai (Regsamkeit des katholischen Lebens in Südtirol), ebenda Nr. 151, 30. 05. 1844, S. 590; TLMF, F.B. 3322/2, Ständisches Congress-Protokoll für das Jahr 1844, S. 19–21. 1105 Naupp, Wallfahrt, S. 103; Pirmin Pockstaller, Tausendjährige Sekularfeier auf Sanct Georgenberg vom 20. bis 29. Juli 1845, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 865–880, S. 889–901; Kirchliche Feier in Botzen, AP Nr. 74, 13. 09. 1845, S. 230f.; Kurze Geschichte des wunderthätigen Muttergottesbildes in der Stifts- und Pfarrkirche zu Bozen. Zum Andenken an die Säkularfeier im Jahre 1845, o. O., o. J.; Feste secolari del Concilio di Trento con solenne rito celebrate nei giorni 12, 13 e 14 dicembre 1845, descritte, ed illustrate, Trento [1845]; Die dritte Sekular-Feier der allgemeinen Trientner Kirchen-Versammlung am 12., 13. und 14. Dezember dieses Jahres zu Trient in Tirol, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 1218–1232; Die große Engelweihe in Maria Einsiedeln, in: ebenda, S. 1033–1044.
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Elends erbarmen, auf nichts horcht er stolzer als auf schönes Festgeläute: ist es ja das Sprachrohr seiner Freuden und Leiden.«1106
Ein ähnlicher Kommentar galt der Jubiläumsfeier in Trient: »Alles was dem Aug’ und Ohr des Italieners schmeichelt, kirchlicher Pomp und äußere Pracht, hohe Würdenträger der Hierarchie, feierliche Messen, Litaneien und Processionen, Glockenklang und Böllerknall, Fackelzüge und Beleuchtung, Concerte im Theater, rauschende Musik im Dome, Orgelspiel und Singquartet wechselten ohne Unterlaß.«1107
Diese sinnliche, nach außen gerichtete Form der katholischen Frömmigkeit wurde von den Liberalen als infantiler Habitus bewertet, die Gläubigen als geistlose Wesen dargestellt, die nur auf äußere Reize reagierten, kurz, die Liberalen lehnten einen Katholizismus, der nur »Gefühl und Phantasie«1108 anspreche, eine »undeutsche« Wallfahrtsfrömmigkeit mithin, entschieden ab.1109 Auch die Theatralität der ekstatischen Jungfrauen im südlichen Tirol und ihre breite Verehrung in der Landbevölkerung ließ sich mit der gewünschten Verstandesreligion kaum in Einklang bringen: Ein Innsbrucker, offensichtlich dem »Deutschkatholizismus« nahestehender Korrespondent der liberalen »Mannheimer Abendzeitung«, der sich selbst als »katholischer Laie« bezeichnete, beschrieb Tirol als ein zweites, alpines »Trier«, als Hort einer »übermäßigen« und irrationalen Frömmigkeit.1110 Ein weiterer, im St. Galler »Der Schweizer Freund« veröffentlichter Artikel ging indes deutlich über diese bloße Kritik hinaus und stellte das wohl ausführlichste öffentliche Zeugnis des liberalen Katholizismus aus dem deutschsprachigen Tirol dar. Nachdem der Artikel »Tirol und der Jesuitismus« die üblichen Punkte der antijesuitische Kritik abgehandelt hatte, beschrieb er die Liberalen Tirols und deren Religiosität. Es handle sich dabei keineswegs um 1106 Aus dem Etschlande, AZ Nr. 281, 08. 10. 1845, S. 2246f. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem anonymen Autor um Joseph Streiter, der die kirchliche Feier in seiner Heimatstadt genau verfolgte und dokumentierte: SLA, NL Streiter, Nr. 27, 18, Die »Glocken-Weihe« zu Bozen am 24. August 1845 und 19, Programm betreffend die Säkularfeier der Uebersetzung des marianischen Gnadenbildes. 1107 Trient, 15 Dec., AZ Nr. 354, 20. 12. 1845, S. 2830. 1108 Ebenda. 1109 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 937; Gerber, Die Mutter aller Revolutionen, S. 407. 1110 Ein Seitenstück zu Ronge’s heiligem Rock, erschienen in der Mannheimer Abendzeitung im Frühjahr 1845, wiedergegeben in Das Ende vom Lied der Jungtiroler, AP Nr. 23 (Beilage), 19. 03. 1845, S. 89f. Als Autor dieses Artikels kann durchaus Joseph Streiter angenommen werden, der zu Jahresende 1844 vom Redakteur der Zeitung, Franz von Fenner-Fennberg, zur Einsendung »politischer Correspondenzen« aus Tirol aufgefordert wurde: SLA, NL Streiter 24/1, Franz von Fenner-Fennberg an Joseph Streiter, 26. 12. 1844; Raschhofer, Liberalismus, S. 141–145; Dussel, Deutsche Tagespresse, S. 35f.
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revolutionäre, religionsferne Literaten, sondern um ehrsame und fromme Bürger, um die Gesamtheit der »gebildeten« Beamten- und Priesterschaft: »Religion und Wahrheit gleich achtende Männer bilden die Genossenschaft, welche in ganz unvorbereiteter, wie auf höherem Wink gegebener Meinungsverwandtschaft dem Jesuitismus ihre Sympathie offen versagen, sein entartetes Wesen tadeln.«
Diese »Männer« folgten einer individuell begründeten Vernunftreligion, die alle äußere Ornamentik, aber auch alle restriktive Kirchlichkeit und weltliche Herrschaftsansprüche als dem Katholizismus fremde Eigenschaften ablehne: »Es bedünkt uns, als habe die katholische Religion die Wunder ihrer Kraft schon durch das Überdauern ihrer Krebsschäden so klar bethätigt, und sich als ein so unantastbares Heiligtum geadelt und im Gemüte festgegründet, daß sie keine überladene Zierde aus dem Kramladen jener hohlen Äußerlichkeit bedürfte.«
Auch der Tiroler könne »gut katholisch fromm sein, ohne den Geist dabei aufzugeben.«1111 Dieses öffentliche, liberalkatholische Bekenntnis aus dem deutschsprachigen Tirol, das in Hunderten von Abschriften zirkulierte und für erhebliches Aufsehen sorgte,1112 wurde von weiteren Texten liberaler Provenienz über das Wesen des Katholizismus flankiert. Diese manifestierten mitunter offene Sympathien für den Deutschkatholizismus oder plädierten für die Übernahme von Elementen aus den protestantischen Konfessionen, ja für eine kleine »Reformation« in Tirol.1113 Gemein war diesen liberalkatholischen Entwürfen der Anspruch, und dies wurde von der nachfolgenden Geschichtsschreibung übersehen, »den eigentlich wahren Katholizismus, das wahre Christentum oder die wahre Religion zu vertreten«, wie Lisa Dittrich das religiöse Selbstverständnis des europäischen Antiklerikalismus treffend umreißt.1114 Dieser »bürgerliche« und »gemäßigte« Katholizismus suchte darüber hinaus, und auch dies geht aus den vorangegangenen Zitaten hervor, seine »konfessionellen Kanten abzuschleifen«. Er baute auf überkonfessionelle Gemeinsamkeiten und auf die »bürgerliche Ausprägung des Christentums« als einendes Substrat einer modernen, städtischen, gesamtdeutschen Gesellschaft.1115 Auch darin lag ein grundlegender Unterschied zum Ultramontanismus, der stattdessen konfessionelle Grenzen akzentuierte, ja mitunter neu konstruierte. Schließlich bemühten auch die deutschsprachigen Liberalen Tirols die His1111 Tyrol und der Jesuitismus, Der Schweizer-Freund Nr. 150, 26. 09. 1844, S. 623f. und Nr. 151, 27. 09. 1844, S. 627f., Zitate S. 628; Maaß, Jesuiten, S. 125–127, S. 177–183. 1112 Maaß, Jesuiten, S. 125. 1113 Die entsprechenden Artikel in der radikalen Mannheimer Abendzeitung und im Frankurter Journal sind in Das Ende vom Lied der Jungtiroler, AP Nr. 23 (Beilage), 19. 03. 1845, S. 89f. ausführlich wiedergegeben, das Zitat S. 89. 1114 Dittrich, Antiklerikalismus, S. 350–384, das Zitat auf S. 495 1115 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 944f., Zitat S. 945.
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torie, um die politische und soziale Funktion von Kirche und Katholizismus zu reflektieren. 1844, im selben Jahr der Roveretaner »dissertazione« Giovanni a Pratos über den Investiturstreit, veröffentlichte Joseph Streiter in Stuttgart das Drama »Heinrich und Gregor«. Entgegen dem neoguelfisch aufgewerteten, liberalen Papstbild a Pratos, zeichnete Streiter Gregor VII. als gebieterischen Tyrannen, der die »Herrschaft über Kronen« angestrebt und Deutschland in einen Bürgerkrieg geführt habe. Wiewohl Streiter und a Prato für eine möglichst staatsferne Kirche plädierten, waren ihre Verhältnisbestimmungen geradezu diametral entgegengesetzt: A Prato stellte Gregor VII. als Verteidiger gegen staatliche – deutsche – Übergriffe dar, bei Streiter war es dagegen Heinrich IV., der die Nation und die weltliche Herrschaft vor kirchliche – römisch-italienische – Ingerenzen und damit ein reines Christentum bewahrt habe.1116 So trennten nicht zuletzt diese nationalen Engführungen die liberalkatholischen Konzeptionen Tirols. Die liberale Konkurrenz, die nun auch auf das religiöse Feld übergriff sowie die permanente antijesuitische Kritik drängten auch den frühen Tiroler Ultramontanismus dazu, die eigene Katholizität zumindest implizit zu definieren. Zunächst wurden, wie erwähnt, die Jesuiten mit der Gesamtkirche gleichgesetzt, stand der Orden doch für klassische ultramontane Motive wie eine entschiedene Ausrichtung auf Rom, Hierarchisierung und Homogenisierung. Wie auch Josef Wackernell betont, bewirkte diese Gleichsetzung, dass selbst den Jesuiten gegenüber zumindest skeptische Laien oder Geistliche, wie etwa Beda Weber oder Albert Jäger, spätestens 1848 offen für den Orden als Sinnbild für die gesamte Kirche eintraten.1117 Die liberalkatholischen Bekenntnisse, vor allem die vereinzelten Annäherungen an Deutschkatholizismus und Protestantismus, ermöglichten es ultramontanen Autoren zudem, den Liberalismus nicht nur aus der katholischen Gemeinschaft auszuschließen, sondern gleichermaßen als »protestantisch« zu etikettieren. Als Vertreter einer »akatholischen Clique«, als »Partei des protestantischen Selbstlobes«, bestrebt, eine neue, »sehr einfache« und »protestantische Religion« in Tirol einführen zu wollen, wurden sie in diesen Texten fortwährend attackiert.1118 In direkter Antwort auf die liberalkatholische Kritik wurden besonders die sinnlichen Elemente der katholischen Frömmigkeit positiv hervorgehoben: So sei das wahre und überlieferte Christentum nur noch im Katholizismus zu finden, da gerade die Frömmigkeit und die Wallfahrten den Glauben stärkten – der in »protestantischen Gegenden« als 1116 S. 259f.; [Joseph Streiter], Kaiser Heinrich, Zitat S. 62. 1117 Wackernell, Beda Weber, S. 275. 1118 Von der untern Etsch (Poetische Entzweiung in Tirol), AP Nr. 93, 02. 04. 1844, S. 369f.; Vom obern Inn, 2. Juli (Der Aufschwung des literarischen Selbstlobes in Tirol.), AP Nr. 212, 30. 07. 1844, S. 830f.; Das Ende vom Lied der Jungtiroler, AP Nr. 23 (Beilage), 19. 03. 1845, S. 89f., Zitat S. 89.
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solcher nicht mehr zu finden sei.1119 Beda Weber schilderte einen Besuch der ekstatischen Jungfrau Domenica Lazzeri im südlichen Tirol als zutiefst erbauliches Erlebnis und veröffentlichte die Gebete, die er gemeinsam mit ihr gesprochen haben soll.1120 Obschon der »Sängerkrieg« für den Ultramontanismus von Beginn an eine religiöse Signatur hatte, blieb eine umfassende Darstellung der eigenen Vorstellung von Katholizismus aus. Man verstand sich als rechtgläubig und bedurfte somit keiner näheren Begründung des eigenen Glaubens – Katholizität wurde schlichtweg gleichgesetzt mit der katholischen Kirche und ihren Orden, deren Deutungsmacht nach wie vor als absolut und letztgültig gedeutet wurde. Damit lässt sich auch erklären, weshalb dem »Sängerkrieg« eine genuin religiöse Bedeutung zugeschrieben wurde: Der Ausschluss des Katholizismus und der katholischen Priester aus dem literarischen Kanon war ein grundsätzlicher Affront gegen den universalen Geltungsanspruch des Ultramontanismus.1121 Manche Ultramontane sahen die literarische Kritik Streiters nur als vorgeschobenes Argument, um das tieferliegende Bestreben, die katholische Kirche aus dem öffentlichen und politischen Raum zu verbannen, zu kaschieren.1122 Die »Augsburger Postzeitung« – die einzige deutschsprachige katholische Tageszeitung – wurde auch deshalb zur Plattform ultramontaner Repliken gewählt, weil der »Sängerkrieg« als zutiefst religiöser Konflikt alle Katholiken Deutschlands betreffe.1123 Wie schwer dieser Säkularisierungsversuch, der auf den Ausschluss des Katholizismus aus dem deutschsprachigen Literaturbetrieb abzielte, wog, zeigt sich auch darin, dass mehrere Artikel in den Jahren 1844 und 1845 mit großem argumentativen Aufwand versuchten, Religion bzw. Katholizismus und Poesie zusammenzuführen. So wurden etwa im August 1845 in einem Artikel der »Postzeitung« die »christ-katholische« Religion als »mystisches Band, das der Sohn Gottes um die Menschheit geschlungen hat zur Versöhnung mit Gott«, definiert. In Anlehnung an Romantiker wie Wilhelm Heinrich Wackenroder, der die Kunst allgemein als Bindeglied zwischen Gott und den Menschen beschrieben hatte, wurde die Poesie als ästhetische Form dieses Bandes, als das in eine »äußerlich abgemessene, ansprechende und schöne Form gegossene reli1119 Deutschland. Betrachtungen über die kirchliche Feier in Bozen, AP (Beilage) Nr. 75, 17. 09. 1845, S. 237f.; Nachklänge aus Trient, AP Nr. 105 (Beilage), 31. 12. 1845, S. 417f.; [Beda Weber], Arndt und die Klöster, AP (Beilage), Nr. 50, 24. 06. 1846, S. 197f. 1120 [Beda Weber], Ausflug nach Cavriana, AP (Beilage) Nr. 23, 21. 03. 1846, S. 89–91. Zu Lazzeri Vareschi, Curiosit/. 1121 Weiss, Ultramontanismus; Metzger, Religion, S. 270–280. 1122 Von der untern Etsch (Poetische Entzweiung in Tirol), AP Nr. 93, 02. 04. 1844, S. 369f., Zitat S. 369. 1123 Ebenda; Innsbruck, 15. Juli. (Sache der Jesuiten in Tirol), AP Nr. 224, 11. 08. 1844, S. 873f., Zitat S. 874.
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giöse Gefühl« gedeutet. Poesie und Religion hätten somit dieselbe göttliche Quelle – erst mit der Reformation, dem Abfall von der Kirche, hätten sie sich voneinander entfremdet und entfernt. Man könne somit gar nicht die Religion bzw. den Katholizismus von der Poesie ausscheiden, ohne diese selbst zu zerstören.1124 Der »Sängerkrieg« lässt sich somit als frühe Form der europäischen Kulturkämpfe deuten. Die Liberalen Tirols versuchten, Religion und katholische Kirche in die private Lebenswelt zu verdrängen. Zu diesem Zweck grenzten sie den Katholizismus als überirdisches Glaubenssystem von der Kirche als irdischer, menschlicher Institution sowie von den Jesuiten als dem obskuren »Anderen« der Moderne ab. Der Klerus und die kirchlichen Einrichtungen sollten deshalb prinzipiell aus allen öffentlichen Sphären, insbesondere aus Schule, Politik und Literatur, entfernt werden. Angefacht von den Entwicklungen in der nahen Schweiz und im restlichen deutschsprachigen Raum kam es zu kontroversen öffentlichen Aushandlungsprozessen über das Proprium des Katholizismus, wobei, und dies kann nicht genug betont werden, es in den 1840er Jahren noch keineswegs absehbar war, dass der Ultramontanismus diesen Deutungskampf gewinnen würde. Der Liberalismus Tirols beharrte zumindest in den Anfangsjahren des »Sängerkrieges« noch auf seine Katholizität und versuchte diese offensiv darzustellen. Den Rheinländer Liberalen nicht unähnlich, wurden auch die liberalen Bürger Tirols erst nach 1848 zu »Gratwanderern« (Thomas Götz), die ihre politische Überzeugung nur noch schwer mit ihrer Katholizität bzw. ihrer kirchlichen Bindung vereinbaren konnten. Dies war mit ein Grund dafür, weshalb auch die Liberalen in Tirol – ganz im Gegensatz zum Trentino und dem italienischen Raum allgemein – spätestens ab der zweiten Jahrhunderthälfte über ihre Religiosität öffentlich schwiegen.1125
7.3.2. Die doppelte Entzweiung Tirols: Liberal oder katholisch, deutsch oder italienisch? Diese gegenseitigen Verketzerungen von Liberalen und Ultramontanen waren mit weiteren, vor allem politischen und nationalen Zuschreibungen eng verbunden – im »Sängerkrieg« ging es spätestens ab dem zweiten Halbjahr 1844 in erster Linie darum, was »Tirol« sei und wofür es stehen solle. Obgleich die gesamte Provinz dem Deutschen Bund angehörte, waren insbesondere nationale 1124 Ueber den Bund der Religion und Poesie, AP (Beilage) Nr. 67, 20. 08. 1845, S. 265–267, S. 266; Oesterreich, aus dem Innthal im Januar, AZ Nr. 29, 29. 01. 1844, S. 230f.; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 962. 1125 Mergel, Bürgertum, S. 70–73; Götz, Gratwanderungen.
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Zuschreibungen nicht selbstverständlich oder unumstritten. Die Sprach- und Kulturgrenze, die das Kronland in zwei nahezu gleich große, sprachlich relativ homogene Teile schied, machte nationale Selbstbeschreibungen auf der regionalen Ebene vielmehr höchst problematisch und kontrovers. Der »Sängerkrieg« war mithin auch die erste öffentliche Reflexion der Bikulturalität des Kronlandes, der in Zeiten des beginnenden Aufstiegs des Nationalismus zum dominanten politischen Leitwert auch außerhalb Tirols einige Aufmerksamkeit zukam.1126 Diese öffentlich ausgehandelten nationalen Zuschreibungen waren unmittelbar mit religiösen Selbstbeschreibungen verknüpft – die schwierige Verhältnisbestimmung zwischen Region, Nation und Religion wurde im »Sängerkrieg« weiter verkompliziert, vor allem aber öffentlich thematisiert. Der liberale Vorwurf gegen die Jesuiten, das »deutsche« Bildungswesen Tirols und damit den nationalen Charakter des Kronlandes zu schwächen, wog auch deshalb schwer, da er zu einem Zeitpunkt formuliert wurde, in dem im südlichen Tirol die Italianit/ in mehreren wissenschaftlichen und populären Publikationen öffentlich – und expansiv – ausgesprochen und propagiert wurde. Autoren wie Giuseppe Frapporti, Agostino Perini oder Giambattista Garzetti rechneten das südliche Tirol Italien zu und versahen es mit dem noch elitären, sich bis 1848 jedoch immer stärker durchsetzenden raumbezogenen Etikett »Trentino«.1127 Agostino Perini, der Lehrer, Journalist und Begründer der Trentiner Statistik beispielsweise, bezeichnete 1843 in seinem populären »Almanacco Trentino« Italienisch als »lingua nazionale« des Trentino und schloss in dieses noch unbestimmte räumliche Gebilde die deutschsprachigen Gebiete südlich des Brenners gleich mit ein.1128 Historisch begründet wurde diese nationale Kartographie bereits 1840 von Giuseppe Frapportis »Della Storia e della condizione del Trentino nell’antico e nel medio evo«. Auch Frapportis Trentino reichte bis an den Brenner, was er mit mehreren Karten anschaulich zu illustrieren suchte.1129 Die Begründung dieser Grenzziehung zwischen »Trentino« und »Tirol«, zwischen Italien und Deutschland mithin, fand er einerseits in der Kolonisierung dieses Gebiets durch die italische, etruskisch-römische »nazione madre«, andererseits in der von der Natur vorgegebenen Grenze am Alpenhauptkamm, die seit Urzeiten Italien von Deutschland trenne: »la natura che ne segnk i confini li serba immutabili ad onta di tutte le partizioni e lacerazioni politiche cui possa essere stato scopo«.1130 Frapportis Trentino war somit ein überzeitliches italie1126 Altgeld, Italienbild, S. 265–268; Hagel, Sängerkrieg, S. 83f.; Fontana, Restauration, S. 688–690; Götz, Bürgertum, S. 107–110. 1127 Nequirito, Trentino, S. 56f.; ders., Territorio. 1128 Perini, Almanacco Trentino 1843, insbesondere S. 71–87, Zitat S. 85; Zieger, Giornalismo, S. 70–73; Corsini, Trentino, S. 308f.; Villa, Restaurazione, S. 130. 1129 Frapporti, Della Storia; Corsini, Trentino, S. 309–11; ders., Questione, S. 604. 1130 »Die Natur zog und bewahrt ihre Grenzen, die allen politischen Teilungen und Umbrüchen
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nisches Gebilde, das nur aufgrund historischer Kontingenzen von Italien abgetrennt worden sei. Dies, wie auch die Tatsache, dass sich südlich des Brenners Germanen ansiedelten, ändere nichts an dessen Italianit/. So sei etwa »Brunopoli« (Bruneck) niemals eine italienische Stadt gewesen, sie befinde sich allerdings auf trentinischem Boden und damit in Italien.1131 Diese historisch-statistische Semantik, von der sich nicht nur nationale Selbstbeschreibungen, sondern unschwer auch konkrete politische Forderungen ableiten ließen, wirkte sich beträchtlich auf den »Sängerkrieg« aus. Eine im Februar 1844 in der »Allgemeinen Zeitung« erschienene Revue der tirolischen Historiographie und Landeskunde griff die »Italomanie« der Trentiner Gelehrten scharf an und bagatellisierte ihre wissenschaftliche Produktion als »Monomanie des Romanisirens, von der eine zahlreiche Partei – wir möchten sagen alle neueren Historiographen – befallen« sei.1132 Wissenschaftliche Beweisführung würde patriotisch motivierten, argumentativen »Kunststücken« geopfert, um »alles Tirol zum Brenner und drüber hinaus […] gut römisch und alle Bewohner zu römischen Abkömmlingen« zu machen.1133 Neben diese polemische, wenig analytische Klageschrift reihte sich wenig später eine längere Artikelserie Ludwig Steubs, die den das ganze Jahrhundert hindurch währenden linguistisch-ethnopolitischen Streit über die nationalen bzw. ethnischen Grenzläufe Tirols eröffnen sollte.1134 In seiner Artikelserie »Die Sprachgränzen in Tirol«, die zwischen Juni und Oktober 1844 in der »Allgemeinen Zeitung« erschien, zeichnete Steub eine ethnische Topographie Tirols, die nicht nur den expansiven Nationalismus des Trentiner wissenschaftlichen Diskurses zu widerlegen suchte, sondern ein tatsächliches unaufhaltsames Vordringen der italienischen Sprache nach Norden dokumentieren wollte. Unmittelbarer Anlass für Steubs Text war der »Krieg« zwischen den deutschen und italienischen Gelehrten Tirols über die ethnisch-nationale Beschaffenheit des Kronlandes, vor allem aber Frapportis »Della storia e della condizione del Trentino«. Obgleich auch Steub das Buch wenig sachlich, ja abschätzig besprach,
1131 1132 1133 1134
zum Trotz unwandelbar bestehen bleiben, selbst wenn sie diesen ausgesetzt waren.« Ebenda, S. 16, S. 30f., Zitat S. 31; Stauber, Zentralstaat, S. 49–129. Ebenda, S. 134; Heiss/Götz, Revolution, S. 149, Anm. 119. Ueber tirolische Geschichte und Landeskunde, AZ Nr. 42 (Beilage), 11. 02. 1844, S. 329f.; Nr. 43, 12. 02. 1844, S. 338–340, Zitat S. 339; Wackernell, Beda Weber, S. 228; Steub, Sängerkrieg, S. 405f. Ueber tirolische Geschichte und Landeskunde, AZ Nr. 43, 12. 12. 1844, S. 338–340, Zitat S. 339. Ludwig Steub, Die Sprachgränzen in Tirol (I.), AZ Nr. 174, 22. 06. 1844, S. 1386–1388; Nr. 175, 23. 06. 1844, S. 1392–1394; Nr. 176, 24. 06. 1844, S. 1401f.; Nr. 177, 25. 06. 1844, S. 1498f.; ders., Die Sprachgränzen in Tirol (II.), ebenda Nr. 209, 27. 07. 1844, S. 1665f.; Nr. 210, 28. 09. 1844, S. 1675f.; Nr. 211, 29. 07. 1844, S. 1681–1683; Nr. 212, 30. 07. 1844, S. 1689f.; ders., Die Sprachgränzen in Tirol (III.), ebenda Nr. 284, 10. 10. 1844, S. 2265– 2267; ders., Nachtrag [zu den Sprachgränzen], ebenda.
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ging er doch auf dessen Kernthesen ein, die er grundsätzlich teilte. Die Gebiete bis zum Brenner seien tatsächlich romanisch gewesen, dann aber, von Germanen bzw. Bajuwaren germanisiert worden, weshalb jeder Anspruch auf diese Gebiete anachronistisch und unberechtigt sei. Die Tiroler seien deshalb, »und dies ist ein Glück in unseren Tagen, mit so ganzem Herzen deutsch, daß sie solche wälsche Genealogien für ruchlose Ketzerei halten.«1135 Steub ging jedoch über diese Thesen zur Völkerwanderung deutlich hinaus und behandelte die ethnische Tektonik seiner Gegenwart, nicht ohne süffisante wie auch alarmistische Töne anzustimmen. So belustigte er sich über das »bislang völlig unbekannte Land« »Trentino«, das er als semantischen Kunstgriff der Trentiner Gelehrten abtat.1136 Ernster stimmten ihn jedoch die Bewegungen der Sprachgrenze im südlichen Tirol – das deutsche Tirol südlich des Brenners sei von einer akuten Italianisierung bedroht. »Die deutsche Sprachkarte, welche die nächste Generation herausgibt, wird also wahrscheinlich alles mit der wälschen Farbe bemalen dürfen, was von Meran und von Botzen auf dem linken Etschufer hin liegt.«1137 Vor allem das Klima und der bescheidene Lebensstil der »Italiener« führten dazu, dass diese sich immer weiter nördlich ansiedelten und somit das deutsche Tirol weiter italianisierten. Zum Schutze des »Germanismus« forderte Steub die österreichische Regierung deshalb auf, die Etsch einzudämmen und zu regulieren, damit Klima und Luft »den Deutschen zuträglicher« würden.1138 Einen weiteren Grund für die italienische Expansion gegen Norden sah er in der Diözesaneinteilung Tirols: Die deutschsprachigen Gebiete der Diözese Trient seien demnach einem zusätzlichen Sog der Italianisierung ausgesetzt, da sie von italienischen Geistlichen betreut würden: »Die todesmuthige Phalanx der Mocheni wird von wälschen Caplänen und Schulmeistern wohl auch nach wenigen Decennien gesprengt werden, und dann ists vorbei.«1139 Obgleich Steub viele Passagen und Argumentationsstränge aus Beda Webers »Land Tirol« übernahm,1140 waren vor allem die Eindringlichkeit, mit der er seine Thesen vortrug, sowie die offene Kritik an Staat und Kirche, die er für den drohenden nationalen Untergang des deutschen Tirol südlich des Brenners verantwortlich machte, neuartig und für die deutschen Überfremdungsängste in Tirol nachhaltig prägend.1141 Er selbst brachte seine Thesen in einem dramatischen Duktus in diversen Publi1135 Steub, Sprachgränzen (II.), AZ Nr. 209, 27. 07. 1844, S. 1665; ebenda Nr. 212, 30. 07. 1844, S. 1690. 1136 Ebenda, AZ Nr. 210, 28. 09. 1844, S. 1675. 1137 Steub, Sprachgränzen (I.), AZ Nr. 177, 25. 06. 1844, S. 1499. 1138 Ebenda, AZ Nr. 175, 23. 06. 1844, S. 1394; Nr. 177, 25. 06. 1844, S. 1499. 1139 Ebenda, AZ Nr. 175, 23. 06. 1844, S. 1393; Nr. 177, 25. 06. 1844, S. 1498; Götz, Bürgertum, S. 109f. 1140 Steub, Sprachgränzen (I.), AZ Nr. 175, 23. 06. 1844, S. 1392; Nr. 177, 25. 06. 1844, S. 1498f. 1141 Altgeld, Italienbild, S. 265–270; Stauber, Christian Schneller.
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kationen immer wieder vor, selbst noch in den 1860er Jahren dominierten sie die Diskussionen um eine Neuordnung der Diözesen Tirols.1142 Den »Sängerkrieg« veränderte Steubs Artikelserie auf zweifache Weise: Das italienische Tirol war nunmehr endgültig Gegenstand des Konfliktes, kirchliche/religiöse Fragen waren andererseits auch jenseits des Antijesuitismus mit nationalen Zuschreibungen verbunden – die Konfliktlinien zwischen »Tirol« und »Trentino«, zwischen »liberal« und »ultramontan« überlagerten sich nunmehr. Erstmals griffen nun auch italienischsprachige Tiroler in den Konflikt ein. Am 17. Juli 1844 antwortete ein liberalkatholischer Korrespondent aus dem südlichen Tirol einem aus Mailand eingesandten Artikel des »Kreuzkorrespondenten«, der die lombardische Religiosität und Frömmigkeit scharf tadelte. Der Trentiner betonte dagegen, dass die vermeintlich laxe Kirchendisziplin keine italienische oder lombardische Eigenschaft sei, sondern auf den Josephinismus zurückzuführen und damit der österreichischen Herrschaft in Italien anzulasten sei.1143 Entschiedener noch fiel die Antwort auf Steubs »Sprachgränzen« aus, die ebenfalls von einem italienischen Tiroler verfasst und in die »Postzeitung« eingerückt wurde. Darin wurde einerseits der Sprachenstreit im südlichen Tirol als Fiktion ausländischer Journalisten abgetan, gleichzeitig aber der wissenschaftliche Anspruch auf die Brennergrenze verteidigt. Die katholische Kirche und der Katholizismus wirkten dem Trentiner Korrespondenten zufolge als einigendes Band zwischen Deutschen und Italienern an der Etsch, sodass etwaige ethnische Grenzverschiebungen kaum ins Gewicht fielen. Dieser Artikel ist aber auch deshalb von Bedeutung, weil er erstmals offen politische Forderungen der italienischen Tiroler formulierte: Diese seien politisch und wirtschaftlich marginalisiert, zusätzlich verfahre die Zensur mit italienischsprachigen Texten deutlich strenger als mit deutschsprachigen. Erstmals forderte ein Trentiner öffentlich dieselben Rechte für beide Sprachgruppen des Kronlandes, »die gleiche Achtung vor dem wälschen wie vor dem deutschen Worte« ein.1144 Zwar nicht in einem direkten Zusammenhang mit dem Augsburger »Sängerkrieg«, aber doch in dessen Kontext entbrannte gegen Jahresende 1844 im italienischsprachigen Tirol eine frappant ähnliche Auseinandersetzung. Auch 1142 Ludwig Steub, Die ehemals deutschen Gemeinden in Welschtirol, AZ Nr. 35 (Beilage), 04. 02. 1861, S. 563; ders., Südtirol deutsch oder welsch?, ebenda Nr. 160, 09. 06. 1861, S. 2614–2616; ders., Das Deutschtum in Welschland, ebenda Nr. 253, 10. 09. 1867, S. 4061f.; Nr. 254, 11. 09. 1867, S. 4078f., Nr. 255, 12. 09. 1867, S. 4094f.; ders., Die deutschen Schulen in Welschtirol, ebenda Nr. 26, 26. 01. 1872, S. 390f.; Dreyer, Steub, S. 112– 116; Skraup, Bestrebungen, S. 60–123. 1143 Von der italienischen Gränze, AP Nr. 199, 17. 07. 1844, S. 778f.; Mailand, 12. Juni (Der kirchliche Geist im Mailändischen), AP Nr. 189, 07. 07. 1844, S. 738f. 1144 Trient, 30. Aug. (Ueber die Sprachengränze in Tirol), AP Nr. 264, 20. 09. 1844, S. 1033–1035, Zitat S. 1035.
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hier handelte es sich nur vordergründig um einen literarischen Konflikt. Vielmehr wurde eine nationale Identitätsdebatte öffentlich ausgetragen, die literarische, historische und gegenwartsbezogene Argumentationen zusammenführte. Die vergleichsweise kurze Auseinandersetzung, die sich über sechs gedruckte und drei handschriftliche Texte, die in den Kaffeehäusern Trients und Roveretos herumgereicht wurden, erstreckte, wurde im November 1844 vom 26jährigen Anwalt Ignazio Puecher-Passavalli eröffnet, der, ähnlich wie Streiter ein knappes Jahr zuvor, im »Giornale Eugeaneo« in Padua eine Bilanz der jüngsten literarischen Produktion des Trentino zog.1145 Die Wahl des Mediums war nicht zufällig: Die Veröffentlichung eines auch nur ansatzweise regierungskritischsubversiven Textes wurde insbesondere im italienischen Tirol zunehmend von der Zensur erschwert. So verbot die Regierung etwa Agostino Perini, der 1843 einen weiteren Almanach für das Jahr 1844 herauszugeben suchte, die Verwendung italianisierter Toponyme für das deutschsprachige Gebiet südlich des Brenners, worauf Perini auf die Herausgabe des Almanachs verzichtete.1146 Eine in Padua erscheinende Zeitschrift ermöglichte dagegen eine freiere Wortwahl, überdies gehörte der »Giornale Euganeo« zu den wichtigsten liberal-patriotischen Medien im habsburgischen Italien.1147 Die Grundintention von Puecher-Passavallis literarischem Panorama war im Grunde dieselbe wie jene von Streiters »Regungen« – der Anschluss des italienischen Tirol an den literarisch–wissenschaftlichen Diskurs Italiens. Dies galt dem jungen Anwalt auch als Grundaufgabe einer trentinischen Literatur bzw. Geschichtsschreibung: Die Italianit/ des Trentino zu begründen und im restlichen Italien bekannt zu machen.1148 Autoren wie der Trienter Bürgermeister Benedetto Giovanelli, der bereits 1810 »Trento, citt/ d’Italia« veröffentlicht hatte, oder insbesondere Frapporti mit seiner historischen Begründung der Italianit/ des Raumes südlich des Brenners wurden deshalb besonders hervorgehoben – »storia trentina non esisteva prima di lui: egli ne fu propriamente il creatore.«1149 Puecher-Passavalli übernahm in seiner Rundschau die Argumentationen der von ihm besprochenen Literatur : So sprach auch er von einer »provincia trentina« als »provincia d’Italia«, die er scharf von »Tirol« trennte. Wenig implizit waren auch seine Klagen über die staatsrechtliche Zugehörigkeit seiner »misera 1145 Ignazio Puecher-Passavalli, Sulla Trentina Letteratura del decimo nono secolo, memoria, Giornale Euganeo Nr. 22, 30. 11. 1844, S. 843–854; Ambrosi, Scrittori, S. 301–304; Goio, Della poesia patriotica; Anm. 1013; BCT, Ms. 2160, Polemica sulla trentina letteratura del secolo XIX. 1146 Zieger, Giornalismo, S. 72f.; Fontana, Restauration, S. 692; Corsini, Trentino, S. 342f. 1147 Villa, Restaurazione, S. 125f. 1148 Ignazio Puecher-Passavalli, Sulla Trentina Letteratura del decimo nono secolo, memoria, Giornale Euganeo Nr. 22, 30. 11. 1844, S. 843–854, S. 844, S. 846f., S. 854. 1149 »eine trentinische Geschichte existierte vor ihm nicht: er ist ihr eigentlicher Begründer.« Ebenda, S. 846.
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patria« zur Habsburgermonarchie und ihrer Benachteiligung im Kronland Tirol.1150 Im Gegensatz zu Streiters »Regungen« spielte der Katholizismus bei Puecher nicht die Rolle einer integrativen Negativfolie, sondern wirkte vielmehr als allgemeines Fundament wissenschaftlich-literarischer Arbeiten. Dies verdanke man vor allem Antonio Rosmini, der nicht nur im Trentino, sondern in ganz Italien Philosophie und Christentum wieder vereint habe, was sich auch auf schöngeistige Schriften deutlich auswirke.1151 Den größten Tadel erteilte Puecher-Passavalli schließlich jenen Trentinern, die aus Opportunitätsgründen im privaten und öffentlichen Gebrauch die deutsche Sprache der italienischen vorzögen. Zwar finden sich bei Puecher-Passavalli keine Überfremdungsängste wie bei Steub, dennoch sieht er die Italianit/ des Trentino und die Etablierung der trentinischen Literatur durch diese Formen der sprachlich-nationalen Indifferenz gefährdet.1152 Dieser Text eröffnete einen Trentiner »Sängerkrieg« in Miniaturformat: 1845 wurden mehrere Artikel und Flugschriften veröffentlicht, die Puecher-Passavalli entweder heftig angriffen oder engagiert verteidigten. Anders jedoch als im Augsburger »Sängerkrieg« blieb diese Auseinandersetzung, an der Benedetto Giovanelli, Giovanni Prati, Giambattista Campagna und Ferdinando Betta teilnahmen, inhaltlich und personell begrenzt. Puechers Grundthesen wurden kaum substantiell angegriffen, vielmehr aber die Tatsache, dass ein noch jugendlicher Intellektueller sich anmaßte, die gesamte literarisch-wissenschaftliche Produktion öffentlich zu beurteilen, scharf kritisiert.1153 Die Italianit/ des südlichen Tirol und dessen Abgrenzung vom deutschsprachigen Teil des Kronlandes wurden dagegen kaum hinterfragt, ja dadurch vielmehr implizit fortgeschrieben – so wies Giovanni Prati beispielsweise die Kritik Campagnas an Puecher-Passavalli, dessen öffentliche Anklage gegen deutschsprechende Trentiner sei unverhältnismäßig, mit dem lapidaren Argument zurück, dass es wohl selbstverständlich sei, dass man in Italien Italienisch spreche.1154 Wenngleich diese Auseinandersetzung somit begrenzt blieb, sollte man ihre Wirkung nicht unterschätzen: Puecher-Passavalli übermittelte die nationale Semantik der wissenschaftlich-literarischen Werke in eine immerhin situative politische Öffentlichkeit, was von aufmerksamen, außerhalb der öffentlichen Auseinander1150 1151 1152 1153
Ebenda, S. 846, S. 848f., S. 853. Ebenda, S. 850–852. Ebenda, S. 848. [Giambattista Campagna], Critica di un Articolo del Sig. Ignazio Puecher sulla Letteratura trentina del decimo non secolo, […], MT Nr. 13, 12. 02. 1845, S. 1–3; [ders], Lettera al Sig. Prati difensore dell’articolo del Sig. Puecher, Brescia 1845 und Benedetto Giovanelli, La modestia H una bella virtF, GADTR Nr. 18, 29. 04. 1845, S. 74; Giovanni Prati, Articolo non anonimo […], Trento 1845; [Giambattista Betta], Riflessioni sopra articoli anonimi e non anonimi, Verona 1845. 1154 Prati, Articolo, S. 5f.
Semantiken der »Sängerkriege«
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setzung stehenden Beobachtern, wie etwa Gioseffo Pinamonti, sehr begrüßt wurde.1155 Wiewohl dieser öffentliche Konflikt im Augsburger »Sängerkrieg« nicht unbemerkt blieb und mehrfach Bezug darauf genommen wurde,1156 war seine Wirkung im Vergleich zu den Schriften Frapportis und Perinis wesentlich geringer. Die nationalen Aspirationen der Trentiner wurden zur Kenntnis genommen und energisch zurückgewiesen, die eigentliche Bruchlinie verlief nun aber zwischen unterschiedlichen Entwürfen der deutschen Nationalität Tirols. Liberale Autoren wie Streiter oder Steub propagierten mit Nachdruck eine laikale Anbindung an die deutsche Kulturnation – vermittelt durch die Literatur. Ludwig Steub beispielsweise präsentierte in einer Art Reisebericht in der »Allgemeinen Zeitung« Bozen als »letzte Stadt deutscher Zunge [um die] der deutsche Genius ein geistiges Band geschlungen hat, das sie mit dem großen Ganzen vereint.«1157 Anders als im italienischen Tirol fiel dem Katholizismus in diesen nationalen Zuschreibungen keine Bedeutung zu, ja in seiner kirchlichen Ausprägung, vor allem in Form der Jesuiten, galt er, wie Streiters »Regungen« oder Steubs »Sprachgränzen« wortgewaltig ausführten, vielmehr als national zersetzend. Wie in vielen anderen Teilen Europas lässt sich auch im deutschsprachigen Tirol der Versuch beobachten, den Katholizismus nicht nur aus dem literarischen Kanon, sondern auch aus der Nation insgesamt auszuschließen.1158 Gegen dieses liberale »Phrasendeutschtum«, wie es ein ultramontaner Autor bezeichnete, regte sich heftiger Widerstand – nicht jedoch gegen die nationale Zuschreibung an sich, wie in der regionalgeschichtlichen Literatur mitunter behauptet wurde, sondern gegen deren liberal-säkulare Ausprägung: »Wir legen Verwahrung ein gegen Göthe, Schiller, Nestor und Mossers Weihnachtskrippe als Zeugen unserer Deutschheit. […] Während Göthe vor dem großen Korsen schweifwedelte, haben wir auf dem Berge Isel unsere deutsche Nationalität blutig besiegelt. […] Für uns gibt es kein Deutschthum ohne Katholicismus.«1159
Katholische Religiosität wurde in diesen Texten als typisch tirolische »Landesgesinnung«, als tirolischer, antiprotestantischer und antiliberaler Grundzug der Bevölkerung Tirols festgeschrieben:
1155 1156 1157 1158
BCT, Ms. 2075, f. 113–115, Gioseffo Pinamonti, Polemica letteraria di genere novissimo. Miscellen aus Tirol, AP Nr. 89, 04. 10. 1845 (Beilage), S. 257. [Ludwig Steub], Bozen, im Juni, AZ Nr. 220, 07. 08. 1844, S. 1754–1757. Kuhlemann, Konfessionalisierung; Borutta, Antikatholizismus, sowie zusammenfassend, ders., Genealogie. 1159 Bozen, im August, AP Nr. 249, 05. 09. 1844, S. 973f., Zitat S. 973; Fontana, Restauration, S. 692.
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»Das katholische Volk, welches sich an vielen Orten in sorglosen Schlummer wiegte, ist wach geworden, die Religion der Väter als höchstes Kleinod aufzunehmen. Den schlechten Bestrebungen der Zeit gegenüber darf Niemand die Hände in den Schooß legen, unerlässlich ist die Pflicht für jeden Freund des deutschen Namens, muthig den Kampfplatz zu betreten.«1160
Ein anderer Autor behauptete: »Die katholische Landesgesinnung hat so feste Wurzeln, daß auch die neueste Aufregung dagegen fruchtlos zu Boden gefallen ist.«1161 Wie die »Katholischen Blätter« betrieben auch die ultramontanen Protagonisten des »Sängerkrieges« – vielfach handelte es sich um dieselben Federn – eine Konfessionalisierung der Region, Tirol wurde in diesen Texten mit dem Katholizismus gleichgesetzt. Während jedoch der Diskurs in den »Blättern« ein gelehrter und theologischer war, war das katholische Nationskonzept auf regionaler Ebene, das hier ausformuliert wurde, politisch motiviert und eine Reaktion auf den liberalen Säkularisierungsversuch.
7.4. Zusammenfassung Zum Jahresanfang 1847 erschöpfte sich der »Sängerkrieg« weitgehend, um ein gutes Jahr später, unter den veränderten medialen und politischen Bedingungen der Revolution, abermals auszubrechen. Vieles von dem, was die revolutionären Öffentlichkeiten 1848 und 1849 in Tirol hervorbrachten, wurde bereits im »Sängerkrieg« thematisiert: Die gesellschaftliche Rolle des Staates, der Kirche und der Presse, unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe und nationale Selbstbeschreibungen waren Gegenstand eines Konfliktes, der über die Umwege der journalistischen Emigration, der Kolportage und der geselligen Lektüre in den Wirtshäusern öffentlich ausgetragen wurde. Politisch schied der »Sängerkrieg« scharf zwischen »liberal« und »ultramontan/konservativ«, zwei Diskursgemeinschaften, die nach klaren Zuordnungen konstituiert waren, wie einer der letzten Texte des Konfliktes verdeutlicht: »Wer zu einer Zeit, wo man uns leichten Kaufes politisch und kirchlich in den Sack zu stecken meinte, noch kleinherzig an seine eigene Person denken und an geringen Meinungsverschiedenheiten mäklen kann, ist ein schlechter Tiroler, er stehe in unseren Reihen, oder auf der Gegenseite!«1162 1160 In Sachen Tirols, AP Nr. 12 (Beilage), 10. 02. 1847, S. 45f., Zitat S. 45. 1161 Von der untern Etsch (Regsamkeit des katholischen Lebens in Südtirol), AP Nr. 151, 30. 05. 1844, S. 590; Vom obern Inn, 2. Juli (Der Aufschwung des literarischen Selbstlobes in Tirol), ebenda Nr. 212, 30. 07. 1844, S. 830f. 1162 Aus Tirol, 1. Febr, AP Nr. 12 (Beilage), 10. 02. 1847, S. 46.
Zusammenfassung
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Diese Scheidung schien letztgültig und bewirkte, dass zunächst nicht eindeutig zuordenbare politische Grenzgänger wie Beda Weber oder Albert Jäger, der 1844 noch als wissenschaftlicher Doyen des Antijesuitismus galt, sich vom politischen Liberalismus distanzierten und zu Säulen des Tiroler Ultramontanismus wurden. Selbst ein Agnostiker wie Johann Schuler, das intellektuelle Rückgrat des frühen tirolischen Liberalismus, wandte sich nach dem »Sängerkrieg« den Konservativen zu.1163 Eine entscheidende Folge dieser politischen Entzweiung war mithin, dass der ultramontane Katholizismus als zentraler Differenzmarker wirkte, Religion also politisiert und Kirchenvertreter mit einer hohen politischen Deutungskraft ausgestattet wurden. Wie sich 1848 zeigen sollte, erreichten die Liberalen mit dem Antijesuitismus und ihren Säkularisierungsversuchen genau das Gegenteil von dem, was sie bezweckten: Religion stieg in Tirol zu einem prägenden Faktor der Öffentlichkeit und zu einer dominanten politischen Kraft auf – die religiöse Signatur des Kronlandes wurde weiter bestärkt. Damit trat auch auf der regionalen Ebene jene Paradoxie der liberalen Kirchen- und Religionspolitik ein, die darauf abzielte, insbesondere den Katholizismus aus der Politik und dem öffentlichen Raum zu verbannen, diesen aber eben dadurch politisierte und öffentlich machte.1164 Dies entging auch zeitgenössischen liberalen Beobachtern nicht. Der Reiseschriftsteller Matthias Koch etwa widmete dem »Sängerkrieg« und dem Tiroler Antijesuitimus in seiner »Reise in Tirol« einen ganzen Abschnitt und kam trotz aller Zustimmung für die antijesuitische Kritik nicht umhin, dem liberalen Antijesuitismus ein vollumfängliches Scheitern zu attestieren: »Den Verhetzten konnte es nämlich nicht schwer fallen, die Blößen und Ungereimtheiten der verschiedenartigen Anklagen aufzudecken und von sich abzulehnen, wodurch die Jesuitenanhänger sich um so mehr angespornt fühlten, für ihre Lieblinge Partei zu nehmen.«1165
Diese politische Differenzierung betraf zunächst nur den deutschsprachigen Teil des Kronlandes. Im südlichen, italienischsprachigen Tirol wirkte Religion in Form des dominanten liberalen Katholizismus dagegen weiterhin als integrative Kraft, die sich mit regionalen raumbezogenen Semantiken und nationalen Entwürfen gut kombinieren ließ. Das Kronland war somit bereits vor der Revolution in zwei politische Öffentlichkeiten, in ein deutsches »Tirol« und in ein italienisches »Trentino« geteilt, die durch den »Sängerkrieg« zeitweise zusam1163 Schuler trat in der Deutschen Nationalversammlung gar für die rechtliche Berücksichtigung der Tiroler »Glaubenseinheit« ein: Wigard [Hrsg.], Reden für die deutsche Nation, S. 1739. 1164 Borutta, Genealogie, S. 365; Krech, Prozessbegriffe, S. 574f. 1165 Koch, Reise, S. 169–187, Zitat S. 169.
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mengeführt wurden – Italien und Deutschland trafen sich nunmehr tatsächlich in Tirol. Der »Sängerkrieg« jedoch trug das vormärzliche und obrigkeitliche Projekt der tirolischen Landeseinheit endgültig zu Grabe.
8.
»Glaubenseinheit« und »Pio IX« – Zwischen Vormärz und 1848
Überblickt man die Geschichte der Katholizismen Tirols im Vormärz, dann lässt sich zunächst festhalten, dass diese keineswegs eine in sich gekehrte, introvertierte war. Trotz – oder besser : gerade wegen der autoritären Kommunikationskontrolle des vormärzlichen Staatskirchentums suchten und fanden die Grenzkatholizismen zahlreiche neue kommunikative Wege nach innen wie nach außen. Der tirolische Vormärz lässt sich somit auch als Zeit der sanften Medienevolution lesen: Der »passiven Öffentlichkeit« und den Ersatzmedien bzw. den »religiösen Ethnographien« der 1830er Jahre folgten die katholische Zeitschrift, die »Ersatzöffentlichkeiten« und die aktive, aber situative Öffentlichkeit der »Sängerkriege« der 1840er Jahre. Entscheidend für diese Entwicklung war nicht zuletzt die Grenzlage Tirols: Der Einfluss aus dem deutschen und italienischen Ausland sowie der Schweiz schlug sich auf die mediale Entwicklung erheblich nieder, neue Bedingungen überpersonaler Kommunikation ermöglichten wiederum intensivierte Selbstbeschreibungen nach innen und Kontakte nach außen. Die Transnationalität der regionalen Katholizismen Tirols und deren Medialisierung waren also eng miteinander verflochten, ihr Verhältnis bestimmte die Transfers von Süd und Nord. Der Vormärz lässt sich somit zweitens auch als mediale Transfergeschichte deuten, von einer »chinesischen Mauer« um Österreich kann keine Rede sein. Mit Oswald Gschließer lässt sich vielmehr behaupten, dass die engen Beziehungen Tirols zum deutschsprachigen Raum – die von hochrangigen Beamten bereits 1815 und 1820 beklagt wurden – nach 1848 die vormärzliche Intensität nicht mehr erreichen sollten.1166 Die Entwicklung der vormärzlichen Kommunikationsbedingungen und -möglichkeiten veränderten die Katholizismen Tirols grundlegend. Dies zeigt sich am Beispiel der liberalen Katholizismen in aller Deutlichkeit: Im italienischsprachigen Süden Tirols etablierte sich mit der »Accademia degli Agiati« ein zentraler liberalkatholischer Aggregationspunkt, der wissenschaftlich-po1166 Gschließer, Einheitsbewegung, S. 2f.; Fontana, Restauration, S. 684f.; [Rapp], Voglsanger, S. 22.
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litische Sozialisation und gelehrten Austausch ermöglichte; die Agrarsozietät erlaubte die praxis- und gesellschaftsbezogene Erprobung dieser Semantiken sowie deren Verbreitung in ländlichen Gebieten. Beide – die Akademie wie die »Societ/ Agraria« – festigten persönliche Kontakte in den Süden im Zeichen des liberalen Katholizismus. Antonio Rosmini verkörperte diesen vormärzlichen liberalkatholischen Aufschwung und seine Orientierung nach Süden geradezu idealtypisch: Als gebürtiger Trentiner, tragende Säule der regionalen Wissensgemeinschaft und als Gelehrter von nationaler Geltung und internationaler Bedeutung personifizierte er die liberalkatholische Italianit/, die Bindung des südlichen, italienischen Tirol an die italienische Kulturnation. Im deutschsprachigen Tirol dagegen erschwerte die Medialisierung der Religion die Etablierung eines Katholizismus liberaler Prägung. 1837, während des Zillertaler Medienereignisses, schwiegen die deutschsprachigen Liberalen und überließen die Deutungshoheit über Religion der Amtskirche und dem frühen Ultramontanismus. Selbst der späterhin von der liberalen Literatur als »Prophet der Gewissensfreiheit«1167 dargestellte Innsbrucker Bürgermeister Valentin Maurer, der am Landtag zumindest leise Bedenken gegen die drohende Ausweisung der Glaubensgemeinschaft geäußert, dann aber doch mit der konservativen Mehrheit gestimmt hatte, erfuhr keine öffentliche Unterstützung und lancierte selbst auch keinen Versuch, seine Position öffentlich zu verteidigen. Die Deutungshoheit des Ultramontanismus wurde durch die Etablierung der »Katholischen Blätter«, vor allem aber durch den »Sängerkrieg« weiter zementiert – und der liberale Katholizismus im öffentlichen Diskurs marginalisiert. Viele Liberale, wie der Bozener Joseph Streiter, distanzierten sich öffentlich von diesem politisierten Katholizismus, andere, wie Schuler, traten 1848 offen für ihn ein, Grenzgänger wie Albert Jäger oder Beda Weber wurden zu Säulen des strengkirchlichen Katholizismus Tirols. Liberale Kleriker, wie etwa Sebastian Ruf, der Kaplan des Haller »Irrenhauses«, denen Sozialisationsinstanzen wie die Roveretaner »Accademia« fehlten, begaben sich, von der Kirche relativ unbehelligt, schließlich in die innere Emigration.1168 Während der liberale Katholizismus somit im Süden Tirols die öffentliche Deutungshoheit erlangte, rückte er im deutschsprachigen Landesteil jenseits des öffentlich Sagbaren. Mehr noch, liberale Katholizität war mit der hegemonialen Deutung Tirols als katholische, konservative und kirchentreue Region schlicht nicht kompatibel. Diese katholische Entzweiung in getrennte »Deutungswelten« setzte sich bereits vor 1848 in zwei Semantiken, die sich parallel zwischen 1846 und 1847 1167 Gsteu, Landtag, S. 149. 1168 Glaubenseinheit, Inn-Zeitung Nr. 32, 08. 02. 1862; TLMF, F. B. 4660; Heidegger, Seelsorge in der Haller »Irrenanstalt«, S. 74–76; Lentner, Sebastian Ruf, S. 3–16; Steub, Sängerkrieg, S. 75–85; Götz, Bürgertum, S. 446–454. Bei Reinalter, Liberalismus und Kirche, wird diese Frage ganz ausgeblendet.
»Glaubenseinheit« und »Pio IX« – Zwischen Vormärz und 1848
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ausbildeten, nachhaltig fest. »Glaubenseinheit« und »Pio Nono« waren spätvormärzliche Ausdrücke ganz anders gelagerter Katholizität, sie drückten unterschiedliche Vorstellungen von Gesellschaft, Staat, Kirche und Politik aus und spalteten die religiöse Landschaft Tirols tief. Wie im Abschnitt über die Roveretaner Akademie beschrieben wurde, nahm das Papsttum in der neoguelfischen Deutungsvariante, etwa in den »dissertazioni« der Priester a Prato oder Bertanza, eine gesteigerte gesellschaftliche und nationale Bedeutung an, die im deutschsprachigen Tirol, selbst in ultramontanen Kreisen, unbekannt war.1169 Nach der Inthronisierung Pius’ IX. am 16. Juni 1846 und vor allem nach dessen ersten Regierungsmaßnahmen, etwa der politischen Amnestie im Juli 1846, der Implementierung eines liberalen Presserechtes oder der Bestellung des als liberal geltenden Kardinals Tommaso Gizzi zum Staatssekretär, verstärkte sich der liberalkatholische Papstkult und nahm, wie im restlichen Italien, geradezu enthusiastische Formen an. Der liberale Trentiner Mario Manfroni behauptete gar »che un vero interesse alle cose che avvenivano in Italia non incomincik a risvegliarsi nel Trentino che dopo l’avvento di Pio IX al pontificato per opera principalmente della parte piF colta e liberale del clero a cik gi/ preparata dai libri prima di Gioberti e poi del Rosmini.«1170
Vor allem trat der Papstkult aus dem engen Umfeld der akademischen Abhandlungen heraus und wurde 1846 und 1847 zu einer festen Größe der Trentiner Öffentlichkeit. Verantwortlich hierfür war der amtliche »Messaggiere« in Rovereto, der seine Berichterstattung aus Italien ganz auf den neuen Papst zuspitzte. Abgesehen von den amtlichen Kundmachungen dominierte Pius IX. die Berichterstattung des »Messaggiere«, der in unzähligen Nachrichten und Korrespondenzen über die neue päpstliche Regierung den Enthusiasmus der Menschen im Kirchenstaat darstellte, denen zahlreiche neue Freiheiten gewährt und die so einem »incivilimento morale«1171 zugeführt würden.1172 Besonders hervorgehoben wurden die vielen Feierlichkeiten für den Papst, der »Messaggiere« druckte gar »Viva Pio«-Rufe und Papst-Banner ab: »Sulle Bandiere leggevansi a grandi parole: Amnistia, costituzione municipale, deputati, instruzione (!), codici e strade ferrate, Pio IX, padre della patria.«1173 1169 Kap. 9. 1170 »dass ein wirkliches Interesse an den italienischen Entwicklungen im Trentino erst mit Pius IX. wieder erwachte, getragen vom gebildeten und liberalen Teil des Klerus, der zuerst von den Büchern Giobertis und dann Rosminis dafür vorbereitet wurde.« Manfroni, Il Trentino, S. 8; Francia, 1848, S. 34–45; Leonhard, Italia, S. 529f.; Ara, La fase liberale; Benvenuti, Istituzioni, S. 294; Caravale/Caracciolo, Lo Stato pontificio, S. 641–649. 1171 »Moralische Zivilisierung.« 1172 Italia – Stato pontificio, MT Nr. 92, 17. 11. 1847, S. 3. 1173 »Auf den Fahnen las man in großen Lettern: Amnestie, Gemeindeverfassung, Abgeord-
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Der Trentiner Piuskult erfasste neben der Akademie und dem »Messaggiere« auch weitere Bereiche des öffentlichen Raumes. So häuften sich in Trient 1846, vor allem aber 1847 öffentliche und politische Akte im Namen von Pius IX.: Wandaufschriften zu Ehren des Papstes zierten private und öffentliche Gebäude, eine aus Verona stammende »Ode a Pio IX« war gedruckt und handschriftlich weit verbreitet, ja selbst am Kaiserschießen Ende November 1847 in Trient ertönten aus dem Publikum immer wieder »Viva Pio Nono«-Rufe, päpstliche Kokarden wurden verteilt.1174 Der Höhepunkt der Trentiner Papst-Euphorie war zweifelsfrei die Aufführung Rossinis »Inno popolare a Pio IX« im Trienter »Teatro Sociale« im Juli 1847, die den Charakter einer genuin nationalen Inszenierung annahm und als »subversives politisches Mittel Vorbote der Revolution« war.1175 Die anwesenden Damen erschienen in Gold und Silber, die begeistert mitsingenden Männer trugen die päpstlichen Farben auf Hals- und Taschentüchern. Zum Skandal und politischen Problem für die lokalen und regionalen Regierungsstellen wurde diese Episode vor allem deshalb, weil der junge Paduaner Student und Patriot Arnaldo Fusinato in einem Reisebericht in der Paduaner Zeitschrift »CafH Pedrocchi« darüber informierte und der »Messaggiere Tirolese« diesen Text am 21. Juli in Auszügen nachdruckte. Ausgerechnet in den Zeilen eines offiziösen österreichischen Regierungsblattes war somit das risorgimentale Pathos abgedruckt, das die italienische Öffentlichkeit nach 1846 erregte: »Il corpo dell’opera cantava in quella sera l’inno all’uomo piF grande del nostro secolo, all’idolo della nazione italiana, al propugnacolo della fede e del vangelo… a Pio IX. […] Il pubblico oltre il costume affollato aspettava con ansia religiosa che si slanciassero per la silente curva le soavi e potente note ideate dal genio dell’immortal Rossini, e una salva di fragorosi ed unanmimi applausi salutava il cantico inneggiato al sommo successore di Piero. Se ne domandava tosto la replica tra le grida festanti e gli evviva iterati […]. Egli era un fremente entusiasmo, un concitato tripudio, che quasi elettrica corrente scuoteva le fibre dell’esultante moltidutine.«1176 nete, Bildung, Gesetzbücher und Eisenbahnen, Pius IX., Vater des Vaterlandes.« Ebenda Nr. 52, 30. 06. 1847, S. 4. 1174 Mayr, Irredentismus, S. 102–106; Corsini, Trentino, S. 347–352; Zieger, Giornalismo, S. 55; Mazohl, Autonomiebestrebungen, S. 10; Marchetti, Trentino, S. 73–78; Cucchetti, Storia di Trento, S. 266f.; Aus Tirol (Trientner Kaiserschießen), AP Nr. 306, 02. 11. 1847, S. 1219. 1175 Kokorz, Triest 1848, S.166–171, Zitat S. 168. 1176 »An jenem Abend sang die Oper den Hymnus auf den größten Menschen unseres Jahrhunderts, auf das Idol der italienischen Nation, der Vormauer des Glaubens und des Evangeliums … auf Pius IX. […] Das äußerst zahlreiche Publikum wartete mit religiöser Spannung darauf, dass der schweigenden Tribüne die lieblichen und kraftvollen Noten entgegenschwingen, ersonnen vom Genius des unsterblichen Rossini. Tosender und einstimmiger Applaus verabschiedete die Hymne auf den großen Nachfolger Petri. Zwischen feierlichem Geschrei und wiederholten Hochrufen forderte man entschieden eine
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Mit der Veröffentlichung dieser Zeilen schilderte der »Messaggiere« somit erstmals eine lokale Papstfeierlichkeit, die sich in Sprache und Überschwang von jenen aus dem restlichen Italien kaum unterschied – auch Trient nahm nunmehr am nationalen Piuskult teil. Dass ausgerechnet ein offiziöses Blatt diesen Bericht veröffentlichte, führte nicht nur zu massiven Friktionen zwischen den Regierungsstellen in Trient bzw. Rovereto, Innsbruck und Wien, sondern im November 1847 auch zu einem faktischen amtlichen Verbot der Polizeihofstelle, den Namen des Papstes »Pio Nono« in der Öffentlichkeit, insbesondere in gedruckter Form, zu nennen.1177 Diese Maßnahme der Regierung kam, wenn man ihr überhaupt eine Wirkung beimessen wollte, deutlich zu spät. Pius IX. verlieh dem liberalen Katholizismus und seiner politisch-nationalen Ausprägung – dem Neoguelfismus – ein Gesicht und eine konkrete politische Erwartungshaltung. Dies galt auch für das Trentino: »Pio Nono« galt als Sinnbild einer Italianit/, die sich mit Kirche und Religion vereinen ließ, und die, ungeachtet der staatlichen Demarkationen, auch das Trentino einschloss. Darüber hinaus war, insbesondere nach dem diplomatischen Zwischenfall um die Verstärkung der österreichischen Garnison in Ferrara im Juli 1847, die gegen den Willen von Pius IX. erfolgte und in ganz Italien Proteste und Solidaritätsbekundungen für das Kirchenoberhaupt auslöste, allein schon die öffentliche Deklamation des Papstnamens oder das Absingen von Papst-Hymnen bei offiziellen Anlässen, wie dem Kaiserschießen, zu einem politischen Statement und einer potentiellen Provokation der österreichischen Behörden geworden.1178 Bereits vor der Revolution vereinte der Name des Papstes demnach ein politisches und religiöses Programm auf regionaler und nationaler Ebene in sich, wie sich wenige Monate später, bei Ausbruch der Revolution, zeigen sollte. In eine völlig andere Richtung bewegte sich der Katholizismus – hier in seiner ultramontanen Ausprägung – im deutschsprachigen Tirol. Der im Laufe des Vormärz intensivierte Kontakt mit anderen deutschsprachigen Gebieten, ermöglicht vor allem durch die katholische Zeitschrift und den »Sängerkrieg«, führte hier zu einer markanten Konfessionalisierung der religiösen Selbstbeschreibung. Theologisch und historisch-philosophisch geschaffen wurde diese Selbstbeschreibung durch die Beobachtung und Beschreibung der religiösen Umwelt in den »Katholischen Blättern aus Tirol«. Ähnlich wie im südlichen Tirol Wiederaufführung. Es war ein bebender Enthusiasmus, ein erregter Jubel, der wie elektrischer Strom die Fasern der exaltierten Masse erschütterte.« Arnaldo Fusinato, Dodici giorni nel Tirolo Italiano, MT Nr. 58, 21. 07. 1847, S. 1–3, hier S. 3; Zieger, Giornalismo, S. 55; Mayr, Irredentismus, S. 103f.; Bonora de Altamer, Messaggero, S. 18. 1177 AST, Giudizio distrettuale di Fondo, Atti presidiali, b. 67 (1844–1856), 1847/N. 248; Mayr, Irredentismus, S. 104; Benvenuti, Istituzioni, S. 294; Corsini, Trentino, S. 349; Zieger, Giornalismo, S. 55–57; Lazzaretto, Clero veneto, S. 411. 1178 Francia, 1848, S. 43; Leonhard, Italia, S. 530f.; Mayr, Irredentismus, S. 103; Corsini, Trentino, S. 348f.; Sked, Habsburg Empire, S. 96–99.
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»Glaubenseinheit« und »Pio IX« – Zwischen Vormärz und 1848
verdichtete sich diese Semantik zu einem zentralen Begriff, der politisches und religiöses Programm gleichermaßen war und sich aufgrund seiner Prägnanz breitenwirksam vermitteln ließ. »Glaubenseinheit« wurde zum politischen Schlagwort, das Tirol und seinen dominanten ultramontanen Katholizismus bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte hinein prägte.1179 Der Begriff dürfte erst im 19. Jahrhundert entstanden sein. Im 16. Jahrhundert sprach man von »concordia«, »Eintracht« oder »unitas fidei«, wobei der Sinngehalt zwischen einer politischen und einer inter- bzw. intrakonfessionellen Dimension oszillierte und häufig auf die Überwindung konfessioneller Differenzen abzielte.1180 »Einheit« löste als Neologismus »unitas« oder »Einigkeit« überhaupt erst im 18. Jahrhundert allmählich ab.1181 Was mit »Glaubenseinheit« ausgedrückt oder bezeichnet werden sollte, war noch im 19. Jahrhundert keinesfalls klar und allgemein geteilt. Konfessionelle Lexika führten keine einschlägigen Lemmata; das Wörterbuch der Gebrüder Grimm erwähnt unter dem Stichwort bloß knapp die Werke einiger katholischer Geistlicher, worin die Notwendigkeit, wieder eine »Glaubenseinheit« herzustellen, eingefordert wird.1182 Diese wenigen Inhalte deuten insgesamt darauf hin, dass »Glaubenseinheit« vornehmlich die angestrebte Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen bzw. einen vorreformatorischen Status bezeichnete. Diesen semantischen Gehalt führte auch das ältere »Glaubenseinigkeit« mit, das etwa in innerprotestantischen Auseinandersetzungen Verwendung fand.1183 Die Herausgeber des gelehrten katholischen »Kirchen-Lexikons« dagegen definierten in den 1840er Jahren als »Grundprinzip« der Enzyklopädie »die Einheit und Einigkeit des Katholicismus, welches sich dadurch erweisen lässt, daß die positive katholisch-theologische Wissenschaft nur nach der Lehre und dem Geiste der katholischen Kirche und in vollkommener Uebereinstimmung damit dargelegt, alles Andere aber so, wie es an sich ist, und dann im Verhältnis zur Lehre und dem Geiste der katholischen Kirche betrachtet werden soll.«1184
Blickt man nach Tirol, so fehlte der Begriff vor 1800, etwa in den Debatten um das josephinische Toleranzpatent von 1781, ebenso. Man bezeichnete die Monokonfessionalität Tirols, die man mit der zumindest partiellen Gleichberechtigung anderer Konfessionen zu verlieren glaubte, als »herrschende Religion«, »Einheit in der Religion«, »Religionseinigkeit« oder »Reinigkeit der Religi1179 Die nachfolgende Darstellung wurde zum Teil bereits als Huber, Antiprotestantismus, S. 46–49, veröffentlicht. 1180 Schulze, Concordia. Ich danke Heinz Noflatscher für den freundlichen Hinweis. 1181 Blasius/Gall/Segermann, Einheit, S. 121–123. 1182 Glaubenseinheit, Glaubenseinigkeit, in: Grimm/Grimm, Deutsches Wörterbuch 7, Sp. 7854–7858; Zeitläufe, in: Hist. Pol. Bl. 2 (1838), S. 505–525, S. 513. 1183 [Klemm], Glaubens-Einigkeit. 1184 Amts-Blatt zum BTV Nr. 25, 24. 06. 1847, S. 205.
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on«.1185 Diese Semantik war durchaus konsequent: Wie begriffsgeschichtliche Studien argumentieren, verstand sich der Katholizismus noch im 18. Jahrhundert nicht als Konfession, sondern als die einzige legitime Variante des Christentums.1186 Deshalb rekurrierte der Katholizismus Tirols, um sich selbst zu beschreiben, stets auf einen Religionsbegriff – das Konzept »Glauben« existierte offenbar noch nicht. Im Vormärz, besonders während der virulenten Phase des Konflikts im Zillertal, fand der Begriff ebenfalls nur vereinzelt Verwendung;1187 meistens mit diffusem Sinn versehen, wurde er synonym zu »Religions-Einheit«1188, »Einheit des katholischen Glaubens«1189 oder »Reinheit und Einheit des Glaubens«1190 gebraucht. So wie es im Vormärz noch kein homogenes Konzept zur Bezeichnung des »Anderen« gab, bestand offenbar auch kein Bedürfnis, den eigenen konfessionellen Status zu definieren. Dies änderte sich jedoch Anfang der 1840er Jahre grundlegend: Mit der Gründung der »Katholischen Blätter«, der damit verbundenen Etablierung des Codes Glauben/Unglauben sowie der Abgrenzung von Protestantismus, Deutschkatholizismus und Liberalismus bildete sich eine spezifische Semantik aus, die die bislang lose verwendeten Begriffe aufgriff und auf die konfessionelle Unterscheidung hin zuspitzte. So wurde der innerprotestantische Pluralismus, der als Substrat für dessen Unglauben betrachtet wurde, als »Vielheit des Glaubens« bezeichnet, der man nun eine kompakte katholische »Glaubenseinheit« entgegengestellte.1191 Diese Unterscheidung wurde als Grunddifferenz zwischen den Konfessionen gedeutet, beide Prinzipien, protestantische Vielheit und katholische Einheit, wie der konvertierte Pastor Johann Zetter 1847 argumentierte, schlössen sich gegenseitig aus und seien »der Grund des ganzen religiösen Streits.«1192 Die Differenz zwischen »Glaubenseinheit« und »Glaubensvielheit« war vorerst noch allgemein und 1185 [Goldegg], Journal, S. 31, S. 37, S. 58; DAB, KA 1837, Fs. 55, Nr. 2, Hieronymus von Colloredo an Joseph von Spaur, 30. 05. 1788; Noflatscher, Heilig, S. 361. 1186 Hölscher, Konfessionspolitik, S. 17–22; ders., Structures, S. 192. 1187 Gasteiger, Protestanten, S. 33, S. 55. 1188 DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 7, Ad. Zl. 3182, Äußerung des Dekans zu Schwarzach, 09. 12. 1835. 1189 DAB, KA 1836, Fs. 55, Nr. 5, Zl. 1085, Bitte der katholischen Zillertaller wegen Vollstreckung d. Majestäts Spruches, 08. 05. 1836. 1190 DAB, KA 1835, Fs. 55, Nr. 2, Zl. 1397, 03. 06. 1835. 1191 Die protestantische Orthodoxie im Verzweiflungskampfe mit dem gegenwärtigen Protestantismus, und darin im größten Widerspruche mit sich selbst und mit ihrem eigenen Lebensprincipe. Unter den gegenwärtigen religiösen Wirren eine auferbauliche Betrachtung zum Schlusse des vielbewegten Jahres 1846, in: Kath. Bl. 4 (1846), S. 1249–1262, S. 1254. 1192 Johann Th. M. Zetter, Einst und jetzt. Zur gemeinsamen Beachtung für unser Zeitalter, in: Kath. Bl. 5 (1847), S. 1057–1065, S. 1081–1095, S. 1105–1114, S. 1129–1139, S. 1113f., das Zitat auf S. 1114.
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räumlich undefiniert gehalten, im Laufe des Revolutionsjahres 1848 erfolgte dann deren territoriale Fixierung auf Tirol. Ein unbekannter Autor bezeichnete in den »Katholischen Blättern« den Unterschied zwischen dem »norddeutschen Unglauben« und dem »religionswarmen Tiroler« als eine der größten Hürden einer nationalen Einheit Deutschlands.1193 Hier lässt sich die politische Relevanz, die der Ultramontanismus allen Religionen und Konfessionen zuschrieb, deutlich erkennen: Wie Andreas Holzem am Beispiel der »Einheit« des ungenähten Rockes, der 1844 in Trier ausgestellt wurde, argumentiert, »war Religion stets politisch, weil sie entweder konstruktiv die Kohäsion der Gesellschaft bewirkte oder in zerstörerischem Individualismus auf Zerfall und Revolution hinarbeitete.«1194 »Glaubenseinheit« brachte somit nichts anderes als die ultramontan postulierte, kosmische Einheit von Religion, Gesellschaft, Staat und Nation zum Ausdruck. Mit dieser Territorialisierung der konfessionellen Unterscheidung gewann der Begriff »Glaubenseinheit« zusätzlich an zwischenkonfessioneller Trennschärfe. Nunmehr markierte er nicht nur eine generelle katholische Superiorität über die protestantische Vielheit, sondern avancierte zur dominierenden, die Differenz zum Protestantismus begründenden Selbstbeschreibungsform des Katholizismus Tirols.1195 In einem, wegen des Ausbruchs der Revolution im März 1848 nicht versandten Majestätsgesuch des Brixener Fürstbischofs schlug sich dieser semantische Wandel bereits nieder. Tirols »Glaubenseinheit« – angesprochen war nun dessen Monokonfessionalität – und damit alle besonderen Eigenschaften, die man den Tirolern zuschrieb, drohten im Falle einer Ansiedlung von Protestanten verloren zu gehen. Diese besondere Katholizität führe dazu, dass Protestanten in Tirol – so das von Joseph Fessler, dem späteren Bischof von St. Pölten, im Namen des Fürstbischofs verfasste Memorandum – äußerst unbeliebt und »nicht gerne gesehen« seien. Bemerkenswert ist schließlich, dass die Bezeichnung der Zillertaler Glaubensgemeinschaft dieser Selbstbeschreibung angepasst wurde: Es habe sich nun bei den Abweichenden im Zillertal tatsächlich um Protestanten gehandelt, deren Ausweisung zum Präzedenzfall und 1837 zum Tiroler »Normaljahr« wurde, das dessen exklusive Katholizität definitiv fixierte. Wenn man schon eigene Landsleute wegen deren Glaubensbekenntnis des Landes verwiesen habe, so Fessler, dann könne man in
1193 Beilage Nr. 15 zu den katholischen Blättern, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 369–371, S. 370. 1194 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1015. 1195 Einhundert vierundzwanzig Tausend Männer von Tirol: Offenes Schreiben an die tirolischen Abgeordneten zur deutschen Nazionalversammlung in Frankfurt. Eine Beleuchtung der dortigen Debatte über die Religions- und Kirchenfrage bezüglich auf Tirol, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 1409–1421, S. 1433–1445.
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Zukunft keinesfalls die Ansiedlung ausländischer Andersgläubiger tolerieren.1196 Anfang 1847 fand der Begriff auch Eingang in den »Sängerkrieg« – im Gegensatz zur mitunter abstrakten, theologisch-philosophischen Fachsprache der »Blätter«, die darüber hinaus aufgrund der Zensur nur sehr implizit über innenpolitische, tirolische Angelegenheiten schreiben konnten, wurde »Glaubenseinheit« hier offen definiert. In Tirol suche man, so der Autor – vermutlich Beda Weber – vergeblich »protestantische Überzeugungen«, das Land sei fest und einheitlich katholisch, diese »Glaubenseinheit« entspreche dem »Landessinn« der Tiroler.1197 »Glaubenseinheit« bezeichnete in Tirol somit nicht mehr das ökumenische Postulat der konfessionellen Wiedervereinigung, sondern markierte vielmehr die Differenz zwischen den Konfessionen, mithin zwischen dem katholischen Tirol und dem protestantischen Norden. Damit hatte sich die dominante, von räumlichen, religiösen und zunehmend auch politischen Semantiken geprägte Selbstbeschreibungsform des Tiroler Ultramontanismus ausgebildet. »Glaubenseinheit« und »Pio Nono« waren die Signaturen zweier unterschiedlicher Katholizismen, die sich im Laufe des Vormärz ausbildeten und kurz vor 1848 feste Konturen gewannen. Sie waren keineswegs »autochthone« Phänomene, sondern entstanden durch Transferprozesse, die von diversen medialen Formaten abhingen. Sie standen für unterschiedliche Konzepte des Katholizismus: Während »Glaubenseinheit« dem integralistisch-universalistischen Gesellschaftsverständnis des Ultramontanismus entsprach, galt im Trentino dem liberalen Katholizismus »Pius IX.« als Signum einer progressiven, toleranten Katholizität, die als Grundlage des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Fortschritts gedacht wurde. Trotz dieser Differenzen waren den beiden Konzepten einige zentrale Elemente gemein, die 1848 in aller Deutlichkeit sichtbar wurden. Sie eröffneten zunächst eine nationale Dimension, die Tirol bzw. das Trentino mit der deutschen bzw. der italienischen Kulturnation verband. Zweitens war ihnen damit eine politische Geltung bzw. eine politische Erwartungshaltung inhärent: Tirol sei als »deutsches« Land durch eine mögliche Ansiedlung von Protestanten in seinem Kern – der »Glaubenseinheit« – bedroht, weshalb konfessioneller Pluralismus auch politisch und rechtlich verhindert werden müsse. Die neoguelfische Huldigung Papst Pius’ IX. im südlichen Tirol schrieb dessen Italianit/ und Zugehörigkeit zur italienischen Kulturnation
1196 DAB, KA 1848, Fs. 55, Nr. 5, Zl. 707, Dr. Fesslers Konzept für Majestätsgesuch für Erhalt der Einheit des Glaubens im Lande, März 1848. 1197 [Beda Weber], Tirol und seine Beurtheiler in Sachen der Religion und Kirche, AP Nr. 102, 23. 12. 1846, Beilage, S. 405–408, S. 411f.
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hingegen auf einer religiösen Grundlage fest, die nur unschwer in eine politische Forderung übersetzbar war.
9.
Grenzkatholizismen als öffentliche Religionen: Zusammenfassung und Ausblick
Im Rückblick auf das turbulente Biennium 1848–1850 problematisierte Giovanni Cimadomo, eine zentrale Figur des Roveretaner liberalkatholischen Klerus, in einem Zeitungsartikel das Spannungsverhältnis, in das die Grenzkatholizismen als öffentliche Religionen geraten waren: »Puk il giornalismo cattolico occuparsi delle questioni religiose?«1198 Denn nach wie vor, so Cimadomo, bestehe innerhalb wie außerhalb der katholischen Kirche die Auffassung, dass »le questioni religiose non ispettare al dominio del giornalismo. Si vuole su tali materie un perfetto silenzio, lasciarne la cura e la decisione ai Pontefici, ai Vescovi, alla Chiesa.«1199 In diesen Zeilen spitzte der Roveretaner Priester das Grundproblem der öffentlichen Religionen, wie sie sich seit dem Vormärz entwickelt hatten, zu: Indem die Katholizismen sich mit den modernen medialen Konfigurationen arrangierten, ja diese maßgeblich mitprägten, verlor die institutionalisierte Kirche die öffentliche Deutungshoheit über Religion – und dies nach dem Wegfall der Zensur im März 1848 in einem bislang unbekannten Ausmaß. Geistliche wie Laien, theologisch geschulte Experten oder politisch motivierte Journalisten stritten in Zeitungen, Kaffeehäusern, Gemeindeversammlungen, Landtagen oder Parlamenten über die Essenz und den Platz der Religion in der Moderne. Öffentliche Religionen waren den neuen Rahmenbedingungen aber keineswegs passiv ausgesetzt, sondern gingen mit großer Verve vielmehr daran, eigene Gesellschaftsvorstellungen mit modernen Instrumentarien – wie etwa der Massenpolitik – zu realisieren. Vor diesem Hintergrund der deutlich gesteigerten »Öffentlichkeit« der Religion kam Cimadomo nicht umhin, seine Frage zu bejahen: »Le verit/ cattoliche non hanno a temere dalla libera discussione, non possono che avvantaggiare; e oh quanti, di coloro che ripugnanti allo studio dei grossi volumi, 1198 »Darf der katholische Journalismus sich mit religiösen Fragen beschäftigen?« 1199 »Fragen der Religion nicht in die Domäne des religiösen Journalismus gehörten. In diesen Bereichen verlangt man absolutes Schweigen, ihre Behandlung und Bestimmung soll den Päpsten, den Bischöfen, der Kirche vorbehalten bleiben.«
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Grenzkatholizismen als öffentliche Religionen
mediante un giornalismo saggiamente e sinceramente cattolico si potrebbero innamorare della religione.«1200
Cimadomos Reflexionen stellen gewissermaßen den Endpunkt der Geschichte des Formenwandels der Katholizismen Tirols zwischen 1830 und 1848 dar, als dessen zentrale Dimensionen sich Politisierung, Medialisierung und Nationalisierung festhalten lassen. Der Blick auf diese Prozesse vor dem Hintergrund der nationalen und regionalen Varianten der europäischen Revolution von 1848, gewissermaßen vom Ende des vormärzlichen Formwandels der Religion aus, soll abschließend eine tiefergehende Systematisierung der Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel ermöglichen.1201
9.1. Die »lange Revolution« in der Grenzregion »1848« ist zunächst als »lange« Revolution zu verstehen, die nicht erst im Februar oder im März 1848 ihren Anfang nahm, sondern bereits 1846 einsetzte, sich 1848 spektakulär verdichtete und bis 1852 andauerte.1202 Nimmt man eine transnationale Perspektive auf die Region ein, dann sprechen mehrere Gründe für eine derart weitgefasste Periodisierung: Spätestens 1846 setzte die öffentliche Konfessionalisierung Tirols als katholisches, deutsches und nicht-protestantisches Land ein, eine ultramontane Selbstbeschreibung mithin, die 1848 politisiert und damit politisch handlungsleitend wurde. Die Inthronisierung Pius’ IX. im selben Jahr ließ im südlichen Tirol dagegen die politische Realisierung der neoguelfischen Vision vom geeinten Italien in greifbare Nähe rücken. Der neue Pontifex wurde – wie im restlichen italienischsprachigen Raum – zur politisch-religiösen Ikone stilisiert, der liberale Katholizismus geradezu zur staatseinenden Ideologie erhoben. Deutlich spürbar war im Kronland ferner die antiösterreichische Zuspitzung der öffentlichen Meinung auf der italienischen 1200 »Die katholischen Wahrheiten haben nichts von der freien Diskussion zu befürchten, ja sie können daraus nur Nutzen ziehen; und wie viele derjenigen, die das Studium der dicken Bücher anwidert, könnten sich durch einen weisen und ehrlichen katholischen Journalismus in die Religion verlieben.« Giovanni Cimadomo, Il giornalismo cattolico e la questione religiosa, GdT Nr. 83, 14. 11. 1850 und Nr. 89, 23. 11. 1850; Atti dell’Accademia degli Agiati di Rovereto II (1884), S. 113–139, die Zitate auf S. 116 und S. 118. Der Geistliche Giovanni Cimadomo war Gymnasiallehrer, Mitglied der Roveretaner Akademie, glühender Rosminianer. 1201 Kaelble, 1848; Langewiesche, Kommunikationsraum Europa; Rapport, 1848; Hummel, Zonen der politischen Stille; Heiss, Am Rand der Erinnerung, S. 151f.; Bellabarba, La grande paura, S. 129; Stockinger, Politische Stille. 1202 Sperber, Eine alte Revolution; Soldani, Annäherung an Europa; Francia, 1848; ders., Clero; Bacher, Provinziallandtag, S. 22, argumentiert hingegen, dass in Tirol 1847 vom politischen Umbruch »nur sehr wenig« zu spüren gewesen sei.
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Halbinsel, die in zahlreichen Regionen, in der österreichischen Lombardei zumal, zu einem Zustand des latenten Aufstandes führte. Auch im tirolischen Trient hinterließ diese eigentümliche Gemengelage aus nationalem Enthusiasmus und politischer Destabilisierung ihre Spuren: Neben den zahlreichen »Viva Pio Nono«-Aufschriften auf den Gebäuden der Stadt und der Verteilung antiösterreichischer Flugschriften kam es immer wieder zu unmissverständlichen politischen Demonstrationen. Im Februar 1848 etwa, kurz vor dem Ausbruch der Revolution in Wien, soll gar ein »Zigarettenrummel« en miniature stattgefunden haben. Nach dem Mailänder Vorbild sollte die Stadtbevölkerung den Tabakkonsum boykottieren, um dem habsburgischen Fiskus Schaden zuzufügen.1203 Insgesamt dürfte es sich hier eher um unsystematische Einzelaktionen gehandelt haben, denen selbst die sonst überaus wachsamen österreichischen Behörden keine besondere politische Bedeutung beimaßen. Sie waren vielmehr wegen des Schmuggels von »scritti sediziosi« und um die politische Zuverlässigkeit einzelner Beamter besorgt.1204 Aufmerksame Beobachter registrierten jedoch die um Tirol, vor allem in der Schweiz und in Norditalien eskalierende politische Lage durchaus. Im September 1847 schrieb ein sichtlich beunruhigter Tiroler in einer Zeitungskorrespondenz nach Augsburg: »Die italienischen Angelegenheiten mit dem steigenden Haß gegen die Deutschen berühren uns Gränzer mit jedem Tage mehr.«1205 Während jedoch die Deutschtiroler Katholiken für die politische Agitation in Italien, der der Papst voranzugehen schien, zumindest teilweise noch Verständnis entgegenzubringen vermochten, löste der Sonderbundskrieg in der Schweiz erhebliche Revolutionsängste aus – zumal sich, mit Constantin Siegwart-Müller und anderen, prominente Sonderbundsflüchtlinge in Tirol aufhielten, was für nicht geringes Aufsehen sorgte.1206 Gottfried Mayer, der die Auswirkungen des Schweizer Sonderbundskrieges auf die deutschsprachigen Katholiken Tirols mit Nachdruck hervorgehoben hat, brachte diese Stimmung auf den Punkt: »Wie zehn Jahre zuvor manchem deutschen Katholiken der Kölner Kirchenstreit, so scheint nun der Schweizer Sonderbundskrieg den Tiroler Katholiken geeignet, den Katholizismus aus
1203 Meriggi, Regno, S. 330f.; Sked, Habsburg Empire, S. 106–118; Marchetti, Risorgimento, S. 77; TLMF, F.B. 858, Innsbrucker Tagebücher des Johann Lang, Bd. 3, 1847–1850, S. 1163f.; Bacher, Provinziallandtag, S. 23f.; BTV Nr. 11, 07. 02. 1848, S. 41; AP Nr. 51, 20. 02. 1848, S. 202. 1204 Mayr, Irredentismus, S. 97–101; Bellabarba, La grande paura, S. 130. 1205 Aus Tirol, AP Nr. 257, 14. 09. 1847, S. 1022f., S. 1023. 1206 [Beda Weber], Aus Italien, in: Hist. Pol. Bl. 20 (1847), S. 525–559; Die schweizerische Eidgenossenschaft. Ein Wort um sich zurecht zu finden in der gegenwärtigen Krise, in: Kath. Bl 5 (1847), S. 1153–1168; ebenda 6 (1848), S. 14; AP Nr. 6, 06. 01. 1848, S. 22; Nr. 7, 07. 01. 1848, S. 25f.; Nr. 8, 08. 01. 1848, S. 29f.; Amschwand, Constantin Siegwart; Heiss/Götz, Revolution, S. 42–46; Siemann, Die deutsche Revolution, S 49–57.
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Grenzkatholizismen als öffentliche Religionen
seinem Dämmerzustand zu reißen und die Katholiken zu bewegen.«1207 Viel von dem schließlich, was 1848 offen politisch artikulier- und einklagbar wurde, wurde im deutschen wie im italienischen Tirol, etwa im »Sängerkrieg«, bereits seit 1846 ausgesprochen und diskutiert. Begünstigt wurden diese semantischen Verschiebungen durch die deutliche Beschleunigung und Verdichtung der politischen Ereignisse im Vorfeld der europäischen Revolutionen, die in Tirol besonders stark verspürt wurden. Der »europäische Kommunikationsraum« (D. Langewiesche), der die europäische Dimension von »1848« konstituierte, existierte in Tirol ansatzweise bereits seit 1846. Gute Gründe sprechen sodann dafür, das Ende der Revolution mit 1852 und der vollen Implementierung des zentralstaatlichen Neoabsolutismus anzusetzen.1208 Zunächst setzte bereits im April 1850 eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen Staat und katholischer Kirche ein. Zwei kaiserliche Verordnungen, die sogenannten »Aprilverordnungen«, räumten dem österreichischen Episkopat freien Verkehr mit Rom, erheblichen Einfluss auf das Schulwesen und die jurisdiktionelle Gewalt über den Klerus ein. Zwar noch nicht formell, aber faktisch war damit das vormärzliche Staatskirchentum mit seinen josephinischen Wurzeln bereits aufgehoben und damit auch die innerkatholischen Diskussionen über die Beziehung, die die katholische Kirche zum Staat eingehen sollte, auf eine neue Grundlage gestellt. Mit diesen Verordnungen und dem fünf Jahre später unterzeichneten Konkordat mit dem Heiligen Stuhl übertraf die neoabsolutistische Monarchie sogar die ultramontanen kirchenpolitischen Forderungen von 1848: Nicht »Freiheit« bzw. »Unabhängigkeit« der Kirche von der Staatsgewalt, sondern die staatsrechtlich gesicherte Gleichberechtigung mit dieser und die Privilegierung gegenüber anderen Religionsgemeinschaften waren die Ergebnisse der staatlichen Kirchenpolitik der 1850er Jahre. Staat und Kirche hatten sich nicht voneinander gelöst, sondern sich vielmehr wesentlich stärker aneinander gebunden.1209 Die neoabsolutistische Involution stützte sich nicht nur auf die mit neuen Vollmachten ausgestattete katholische Kirche, sondern auch auf eine verstärkte Regulierung der überpersonalen Kommunikation. Die »Preßfreiheit« von 1848, die Aufhebung der vormärzlichen Zensur, war eines der prominentesten Opfer des Neoabsolutismus: Am 6. Juli 1851 erließ der junge Kaiser Franz Joseph eine »Verwarnungsverordnung«, mit der nicht mehr Justizbehörden, sondern Verwaltung und Regierung den Medienmarkt ordnen und gegen einzelne Zeitungen vorgehen konnten. Noch im Sommer 1851 erging eine ganze Reihe von War1207 Mayer, Grossmacht, S. 51f., das Zitat S. 52; Vonbank, Meßmer, S. 41–43. 1208 Seiderer, Neugestaltung, S. 31–35. 1209 Liebmann, Dominanz, S. 372–377; Vocelka, Verfassung, S. 26–28; Leisching, Die römisch-katholische Kirche, S. 24–34; Mayer, Grossmacht, S. 141–210; Weinzierl, Die österreichischen Konkordate, S. 250–258; Sperber, Kirchen, S. 938–940.
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nungsverordnungen an einzelne Zeitungen, die im Falle einer zweiten Verwarnung ihr Erscheinen einstellen mussten. Zahlreiche betroffene Medien beendeten darauf selbst ihre Tätigkeit, eingeschüchtert von der reaktivierten Willkür der staatlichen Pressepolitik. Am 31. Dezember 1851 hoben die sogenannten Sylvesterpatente die Grundrechte der »oktroyierten Verfassung« von 1849 – und damit auch die Pressefreiheit – auf, 1852 wurde schließlich eine neue »Pressordnung« erlassen. Diese stellte in ihrer Mischung aus »polizeilich-präventiven und justiziell-repressiven Elementen« zwar nicht mehr das undurchsichtige obrigkeitliche Zensursystem des Vormärz wieder her, kam ihm faktisch aber sehr nahe – »an die Stelle des Zensors waren die Verwaltungsbehörde und der Staatsanwalt getreten.«1210 Diese rapide Rückkehr zu den pressepolitischen Verhältnissen der ersten Jahrhunderthälfte veränderte die mediale Konfiguration auch in Tirol grundlegend. Hier hatte sich seit der faktischen Abschaffung der Zensur im März, besonders dann aber im Sommer 1848 eine äußerst vitale und vielfältige Presselandschaft ausgebildet – erstmals in der Geschichte Tirols war eine überpersonale Öffentlichkeit legal möglich. Politische und sprachlich-nationale Vielfalt förderten diese Pressepluralität massiv : Zwischen 1848 und 1852/53 erschienen im Kronland 25 deutschsprachige und fünf italienischsprachige Zeitungen bzw. Zeitschriften. Wiewohl die Regierung bereits mit Jahresende 1848 begann, die Medienlandschaft schärfer zu observieren und die Pressefreiheit sukzessive einzuschränken, dauerte die mediale Hochkonjunktur an: Noch 1850 erschienen im 15.000 Einwohner zählenden Innsbruck zehn Zeitungen bzw. Zeitschriften, von denen zumindest sechs explizit politische Inhalte anstrebten.1211 Tirol gehörte damit zur Jahrhundertmitte nach Wien und Böhmen zu den dichtesten Medienmärkten der Monarchie.1212 Die repressive Neujustierung der Pressegesetzgebung in den Jahren 1851 und 1852 beendete diese mediale Blüte auch in Tirol – mindestens zehn Zeitungen mussten binnen weniger Monate ihr Erscheinen einstellen. Prominenteste Opfer der neuen zensurähnlichen Verhältnisse waren vor allem jene Blätter, die sich der staatlich verordneten »Entpolitisierung« widersetzten, wie etwa das kurzlebige, antiklerikale und republikanische Innsbrucker Satireblatt »Harfe und Zither«, das nach erheblichem Druck des Brixener Ordinariates und einer Verwarnung des Innsbrucker Guberniums am 9. September 1851 zum letzten
1210 Olechowski, Entwicklung, S. 341–357, das Zitat S. 356; Rumpler, Chance, S. 319–323; Seiderer, Neugestaltung, S. 35–40, S. 91–136; Siemann, Revolution und Kommunikation, S. 312f., Zitat S. 312. 1211 Wolf, Zeitungen, S. 79–99; Zieger, Giornalismo, S. 79–118; Boaglio, Pressewesen, S. 2316–2321; Kath. Bl. 8 (1850), S. 53f., S. 73–75. 1212 Wolf, Zeitungen, S. 95.
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Mal erschien.1213 Ähnlich erging es dem »Giornale del Trentino«, der nicht nur ein klares risorgimentales Profil hatte, sondern offen liberalkatholische Positionen vertrat und die neoabsolutistische Kirchenpolitik einer scharfen Kritik unterzog. Im September 1851 kam die Zeitung einem behördlichen Verbot zuvor und beendete ihr Erscheinen. Allerdings war die Einstellung des »Giornale« nicht ausschließlich dem repressiven neoabsolutistischen Klima geschuldet – ein chronischer Mangel an Abnehmern und Mitarbeitern sowie der schwelende »campanilistische« Konflikt zwischen Trient und Rovereto dürften gleichermaßen dazu beigetragen haben.1214 Die beiden Beispiele zeigen nicht nur, dass die revolutionäre Öffentlichkeit bis zumindest 1851 andauerte, sondern auch, dass die neoabsolutistische Neuordnung der Presse- und Kirchenpolitik in ihren Auswirkungen auf die öffentlichen Religionen zu analysieren ist – sie wirkte äußerst repressiv auf die Grenzkatholizismen ein. Denn auch die katholischen Zeitungen und Zeitschriften änderten ihr Profil: Der neue pressepolitische Rahmen führte zu einer Entpolitisierung und zum Rückzug in die Refugien der Theologie und der Erbauung, ja insgesamt zu einem öffentlichen Bedeutungsverlust: Die Auflagen brachen nach 1852 rapide ein, die »Katholischen Blätter« etwa reduzierten ihren Umfang wieder auf das vormärzliche Niveau, die »Tiroler Zeitung« stellte ihr Erscheinen 1853 ganz ein.1215 Der mediale und semantische Kontext, der sich seit den 1840er Jahren ausgebildet hatte, fand somit nicht 1848, sondern 1852 sein Ende. Vor diesem Hintergrund lassen sich die drei zentralen Elemente des Formenwandels hin zu öffentlichen Religionen – Politisierung, Medialisierung und Nationalisierung – präziser zusammenfassen.
9.2. Politisierung Mit dem Ausbruch der Revolution im März 1848 konstituierten sich völlig neue politische Räume, in denen die Bedingungen und Möglichkeiten der Ordnung der Gesellschaft ausgehandelt wurden – mediale in der Presse, institutionelle in den Parlamenten, gesellschaftlich-interaktive in den Vereinen und auf der Straße.1216 Diese neuartige Politisierung der Gesellschaft erfasste die Grenz1213 TLA, Jüngeres Gubernium, Präsidiale 1849, Fasz. 3719, Nr. 7; DAB, KA 1848, 1849, 1850 und 1851, Fs. 32; Wolf, Zeitungen, S. 213–218. 1214 Zieger, Giornalismo, S. 101–114; Bonazza, Ripiegamento, S. 57f. 1215 Wolf, Zeitungen, S. 172–194; S. 342. 1216 Siemann, Revolution, S. 58–60; Heiss/Götz, Revolution; Götz, Bürgertum, S. 117–238; Bellabarba, La grande paura; Frevert, Politische Kommunikation; Mergel, Kulturgeschichte der Politik; Stockinger, Dörfer und Deputierte, S. 31–77, der sich im Zusammenhang mit der Revolution 1848 eingehend mit dem Konzept der Politisierung der
Politisierung
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katholizismen auf drei Ebenen: Die neuen, konstitutionellen Rahmenbedingungen ermöglichten die parlamentarische Thematisierung und Realisierung der katholischen Entwürfe von Religion, Gesellschaft und Politik, die bereits im Vormärz entwickelt worden waren. »Politisierung« meint hier zunächst also die systemische Ausdifferenzierung von »Politik«, die durch den parlamentarischen Konstitutionalismus und die Auflösung des obrigkeitsstaatlichen Staatskirchentums erreicht wurde. Religion war nicht mehr automatisch die Leitreferenz politischer Entscheidungen. Sie musste vielmehr selbst politisch aktiv werden, um den eigenen Ordnungsvorstellungen – und sich selbst – politische Relevanz zu verleihen.1217 Dies lässt sich am Beispiel der deutschsprachigen Ultramontanen Tirols sehr gut beobachten: In der Frankfurter Nationalversammlung, im Innsbrucker Landtag oder auch im Innsbrucker Gemeinderat luden sie ihre Vorstellung vom »glaubenseinheitlichen«, monokonfessionellen Tirol mit politischer Bedeutung auf und suchten ihr rechtliche Verankerung zu verschaffen.1218 Der 1848 nahezu omnipräsente Innsbrucker Stadtpfarrer und Dekan Johann Amberg brachte diese neue Situation der Politisierung, in der sich der Katholizismus in Tirol befand, in einer Rede am Innsbrucker Landtag auf den Punkt: »Nach der alten Verfassung würde Niemand hierüber gefragt haben; das Land war erklärt katholisch, man wußte nichts von der Manifestation einer andern Religion; gegenwärtig sind die Verhältnisse ganz verschieden […] Das Land spricht sich dahin aus, daß es die Ausübung des römisch-katholischen Kultus gewahrt wissen will.«1219
Was im Vormärz mithin eine Selbstverständlichkeit war, musste nunmehr öffentlich »ausgesprochen« und politisch verhandelt werden. Aber auch in politischen Vereinen und in oppositionellen Versammlungen wurde Religion thematisiert. Sie spielte etwa in den »comitati patrii«, die im südlichen Tirol im Herbst 1848 entstanden, eine prominente Rolle. Fragen der religiösen bzw. konfessionellen Ordnung eines zukünftigen unabhängigen bzw. autonomen Landbevölkerung auseinandersetzt und den Begriff als unbrauchbar ablehnt, wenn man »Politik als ubiquitär und überall existierend, als alles, was auf die Ordnung des Gemeinwesens« (S. 75) abzielt, versteht. Dieser Einwand ist nicht abzuweisen, schließlich war jedes Gemeinwesen politisch – auch vor 1848. Allerdings soll der Begriff »Politisierung« hier zweierlei ausdrücken: Erstens den qualitativen Sprung – in der Habsburgermonarchie zumal –, der im Frühjahr 1848 allein schon durch die Integration der gesamten Gesellschaft in den politischen Ordnungsprozess erreicht wurde. Zweitens soll damit umschrieben werden, dass 1848 die Differenzierung zwischen Politik und anderen gesellschaftlichen Bereichen stark vorangetrieben wurde, womit diese Systeme wiederum selbst auf dem Feld der Politik aktiv wurden – etwa um ihre Interessen zu artikulieren. 1217 Schlögl, Alter Glaube, S. 157–226; Luhmann, Ausdifferenzierung, S. 327f.: »Religion muss nun ihr Proprium in die Welt tragen.« 1218 Heiss/Götz, Revolution, S. 98–129; Mayer, Grossmacht, S. 96–140; Bacher, Provinziallandtag, S. 83–88. 1219 Bacher, Provinziallandtag, S. 84.
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Trentino wurden hier intensiv diskutiert, wobei der Spannungsbogen von einer rechtlich normierten Monokonfessionalität bis hin zur Kultusfreiheit reichte. Religiöse Fragen gehörten deshalb auch zu den Arbeits- und Kompetenzbereichen des Roveretaner »comitato patrio«.1220 Zweitens wurde Religion selbst zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung, da die staatliche und gesellschaftliche Neuordnung, wie sie von allen politischen Gruppierungen angestrebt wurde, auch den Ort und die Bedeutung einschloss, die Religion in Staat und Gesellschaft einnehmen sollte. Auch hier konnten die Grenzkatholizismen auf Konzepte zurückgreifen, die bereits im Vormärz ausformuliert worden waren und deren gemeinsamer Nenner in der Ablehnung des vormärzlichen Staatskirchentums lag. Während jedoch der liberale Katholizismus im südlichen Tirol in der Tradition Rosminis eine absolute Trennung der Kirche vom Staat und die »libert/ religiosa« bzw. »libert/ cristiana« als bürgerliches Grundrecht einforderte, auf dessen Basis eine freie, konstitutionelle Gesellschaft erst entstehen könne,1221 strebte der deutschsprachige Ultramontanismus unter der Chiffre »Freiheit der Kirche« eine privilegierte Partnerschaft mit dem Staat an. Bereits 1847 beschrieben die »Katholischen Blätter« aus Innsbruck das Verhältnis zwischen Staat und Kirche mit der Metapher einer Familie: Gott sei demnach der Vater, Kirche und Staat dessen Kinder, die beide und gleichberechtigt zur Ordnung der Gesellschaft berufen seien.1222 Der Innsbrucker Stadtrat Johann Amberg definierte in einer Gemeinderatssitzung im August 1849 den Stadtbürger als politisches und religiöses Wesen: Man könne die beiden Seiten des Menschen und des Bürgers nicht voneinander trennen, weshalb Innsbruck eben nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse – katholische – Gemeinde sei.1223 Diese öffentlich formulierten, gesellschaftlich-politischen Verortungen der Religion führten ihrerseits zu politisch bzw. religiös motivierten öffentlichen Reaktionen – Religion wurde damit Gegenstand der öffentlichen Diskussion, auf die die insti-
1220 Giovanni Bertanza, Seduta straordinaria de comitati municipali uniti di Trento e Rovereto, che si tenne in Trento il d' 28 novembre scorso, MT Nr. 112, 07. 12. 1848, S. 2; ASR, Fondo Comune di Rovereto, Carteggio ed atti degli affari del comune, 1821–1923, 166, f. 72, Valentino Lorenzo Debiasi an Comitato Patrio di Rovereto, 28. 11. 1848; Götz, Bürgertum, S. 216–229. 1221 Giovanni Cimadomo, Della libert/ religiosa, MT Nr. 77, 26. 08. 1848, S. 1f.; AST, Fondo Giovanni Battista a Prato, 1816–1883, 100.3, Giuseppe Freinadimetz an Giovanni a Prato, 13. 02. 1849; Freiheit und Kirche, in: InnZ 1, 02. 01. 1849, S. 1f.; Nr. 3, 04. 01. 1849, S. 9f.; Nr. 4, 05. 01. 1849, S. 12f.; Reinalter, Auseinandersetzung; Götz, Bürgertum, S. 233–238. 1222 Die schweizerische Eidgenossenschaft. Ein Wort um sich zurecht zu finden in der gegenwärtigen Krise, in: Kath. Bl 5 (1847), S. 1153–1168, S. 1153–1156. 1223 Johann Amberg, Das Wesentliche der Besprechung über den vom Stadtpfarrer Amberg zu § 1 und 93 des Entwurfs der Stadtverfassung für Innsbruck am 13. und 15. August 1849 gestellten Antrag, in: Kath. Bl 7 (1849), S. 1387–1390.
Politisierung
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tutionelle Kirche keinen Einfluss mehr hatte und die erst durch die repressive Wende des Neoabsolutismus gestoppt werden konnte. Die katholische Kirche wurde schließlich selbst zum Raum des Politischen – in einem doppelten Sinn. Zunächst erlangte sie als räumlich wahrnehmbare Organisation politische Relevanz. In den Kirchen wurden die Verfassung und andere Kundmachungen mitgeteilt, in Predigten politische Inhalte dargelegt bzw. zu den Wahlen aufgerufen und selbst Prozessionen mit expliziten politischen Inhalten aufgeladen.1224 Diese Politisierung der Kirche war zweitens getragen und geprägt von ihrem Personal – dem Klerus. Als Publizisten, Vereinsmanager oder Parlamentarier – der Klerus war im deutschen wie im italienischen Tirol an der politischen Kommunikation entscheidend beteiligt, ja ohne Klerus ließ sich in Tirol 1848 schlicht kaum erfolgreich Politik betreiben. Umtriebige Priester wie Giovanni a Prato oder Johann Amberg avancierten schnell zu politischen Gravitationspolen, die die politische Öffentlichkeit in den Revolutionsmonaten entscheidend mitbestimmten: Der Innsbrucker Stadtpfarrer Amberg beispielsweise war im April die treibende Kraft hinter der Gründung des »Katholisch-Konstitutionellen Vereins«, einem der ersten deutschsprachigen katholischen Vereine überhaupt. Er organisierte die sogenannte »Riesen-Petition« für die »Erhaltung der Glaubenseinheit«, predigte gegen antiklerikale Politiker, schrieb zahlreiche Artikel über politisch-religiöse Fragen, wirkte als Wahlkämpfer und war, wie bereits erwähnt, selbst Abgeordneter zum Tiroler Landtag und zum Innsbrucker Gemeinderat. In zahlreichen Schreiben an das Ordinariat trieb er den Brixener Bischof, etwa im Kampf gegen die liberale Presse, geradezu vor sich her.1225 Wichtiger jedoch als diese klerikalen Multimanager in den Zeitungstuben oder in den Parlamenten war die weitgehend anonyme Schar der Landgeist1224 DAB, KA 1848, Fs. 64, B, Nr. 1, Kurrenda an den Klerus das Verhalten bei politischen Wahlen betreffend, 21. 04. 1848; Maria unsere Hilfe in der gegenwärtigen Gefahr feindlicher Einfälle. Eine Ermunterung im Vertrauen auf die jungfräuliche Gottesgebärerin. Bei Gelegenheit des am 9. Juli 1848 in Innsbruck stattgehabten Bittganges unter Herumtragung des Gnadenbildes Mariahülf von einem Verehrer der seligsten Jungfrau, [Innsbruck 1848]; Nischler, Die wahre Freiheit, Gleichheit und Bruderliebe; ADT, Libro B, 460, n. 948, Casimiro Bertagnolli an f.b. Ordinariat Trient, 12. 05. 1848; Sperber, Kirchen. 1225 DAB, KA 1848, Fs. 64, Nr. 1117, Johann Amberg an f.b. Ordinariat, 27. 04. 1848; Heinen, Katholizismus und Gesellschaft, S. 23–35; Heim, Vereine, S. 178–184; Gschließer, Einheitsbewegung, S. 76; DAB, KA 1848, Fs. 64, Nr. 4, Johann Amberg an f.b. Ordinariat, 13. 05. 1848; Kirchliche Mitteilungen – Tirol, Kath. Bl. 6 (1848), S. 537–539; ADT, Libro B, 461, Nr. 1461, Johann Amberg an f.b. Ordinariat Trient, 15. 05. 1848; [Streiter], Revolution, S. 87–93; DAB, KA 1849, Fs. 64/A/10, Johann Amberg, Predigtskizze; Für Gott, Kaiser und Vaterland; TLA, NL Ladurner, Mikrofilm 2356/2, Flugblätter 1848, Nr. 29, Johann Amberg, An die Wähler, 26. 04. 1848; DAB, KA 1848, Fs. 19, Zl. 1935, Johann Amberg an f.b. Ordinariat, 18. 07. 1848; ebenda, KA 1849, Fs. 32, Nr. 4, Zl. 699, Johann Amberg an f.b. Ordinariat, 22. 03. 1849.
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lichen, die als die eigentlichen Vermittler zwischen der medial-urbanen Ebene der Politik und der Masse der Landbevölkerung fungierten. Von den Kanzeln herab riefen sie zu den Wahlen auf, verkündeten die Konstitution und weitere Gesetze; sie ermöglichten erst die moderne Massenpolitik, indem sie etwa Unterschriftensammlungen durchführten; sie bauten lokale Vereinsstrukturen auf und ließen sich – sehr zum Ärger der Ordinariate – selbst in politische Auseinandersetzungen im Dorf verwickeln.1226 Michele Napoleone Allemandi, General der italienischen Freischärler, die im April im Süden Tirols eingefallen waren, Erzherzog Johann in seinen Mobilisierungsversuchen gegen diese, die Ordinariate und Regierungsbehörden, die sich über die Wirkung der Verfassung informieren oder die »comitati patrii«, die die Landbevölkerung für die administrativ-parlamentarische Trennung des italienischen vom deutschen Tirol gewinnen wollten: Sie alle mussten, wollten sie ihren politischen Absichten Erfolg verleihen, den Kuratklerus auf dem Land von ihren Zielen überzeugen.1227 Wie sehr diese politische Aufwertung den Landklerus bisweilen forderte, zeigt etwa das Beispiel des Nordtiroler Priesters Alois Meßmer, der am 14. Mai 1848 seinen geradezu euphorischen politischen Tatendrang in einem Brief festhielt: »Lange schon trug ich den Drang im Busen, zu wirken und wirken zu machen, die allgemeine Schläfrigkeit war mir peinlich. Am Markustag (Osterdienstag) hielt ich an einem Nachbarort bei einem concursus populi eine sausende patriotische Predigt und man ist einverstanden, daß sie der erste zündende Funke war. Nachbargeistliche folgten mir nach, öffentlich und privatim belehrend und wirkend, und so kam es, daß unser Gericht [Reutte, F.H.] zu einer ziemlich geordneten politischen Regsamkeit erweckt wurde. Nachmittag besuchte ich die Gemeindeversammlung (wie gewöhnlich) und erklärte meinen Leuten Wesen und Bedeutung der Frankfurter-Wahlen – eine geringe Mühe, aber lohnender als man glaubt, der Klerus sollte das zu allerst thun! Des andern Tages schrieb ich einen Aufsatz für die Postzeitung […], desselben Tages erhielt ich noch eine eilige Mission nach Innsbruck im Interesse des ganzen Gerichtes.«1228
Geistliche wie Meßmer stiegen 1848 auf dem Land rasch zu politischen Autoritäten – noch vor den Staatsvertretern oder den laikalen Honoratioren – auf, was jedoch insbesondere im italienischen Tirol, wo viele Landgeistliche offen für eine Trennung der Landesteile Tirols in einer mitunter prononciert nationalen 1226 Sperber, Kirchen, S. 947–949; Francia, Clero; Lazzaretto, Clero; Otruba, Flugschriftenliteratur ; Schneidgen, Revolution, S. 203–266; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1139–1144. 1227 Benvenuti, Chiesa, S. 4–12; Helfert, Landesvertheidigung, S. 41, S. 156f., S. 162–164; Odorizzi, Vicari, S. 68f.; DAB, KA 1848, Fs. 64, A, Nr. 6; ADT, Libro B, 460, n. 1300; ASR, Fondo Comune di Rovereto, Carteggio ed atti degli affari del comune, 1821–1923, 166, Nr. 103. 1228 Vonbank, Meßmer, S. 52.
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Absicht eintraten, häufig zu persönlichen Verwerfungen mit Landrichtern, dörflichen Eliten oder Dekanen führte. Davon zeugen nicht zuletzt die zahlreichen Klagen gegen den Trienter Kuratklerus bei staatlichen oder weltlichen Behörden, wie etwa gegen Giuseppe Grazioli, der sogar von seiner Pfarre entfernt, als »caldo e fanatico sostenitore della causa italiana« des Hochverrates angeklagt und in Innsbruck interniert wurde.1229 Vielfach war die politische Tätigkeit der Landkleriker aber auch nur ein Vorwand, um alte Rechnungen begleichen und unbequeme Geistliche aus ihrem Wirkungskreis zu entfernen: So dürften nicht wenige der 1848/49 rund 40 politisch kompromittierten Trentiner Kleriker eher aufgrund persönlicher Verwerfungen, denn ihres politischen Aktionismus wegen denunziert worden sein.1230 Deshalb sollte man sich davor hüten, voreilig von einem einheitlich agierenden Trentiner »clero nazionale« zu sprechen. Diese nachgerade mythisch aufgeladene Figur dürfte vielmehr – wie Thomas Götz im Fall der Trentiner Nationalbewegung im Jahr 1848 insgesamt zeigen konnte – durch die Berichte der lokalen Behörden konstruiert und von der risorgimentalen Historiographie in positiver Umdeutung aufgegriffen worden sein.1231 Wie jedoch die zahlreichen innerkirchlichen Korrespondenzen der Kleriker zeigen, waren Sympathien für die italienische Einigung zwar vorhanden, aber keineswegs dominant. Das Spektrum der politischen Meinungen der Trentiner Kleriker war – ihm Gegensatz zu ihren Deutschtiroler Kollegen – sehr breit gefächert und nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Vielfach motivierten weniger die abstrakten 1229 »heißblütiger und fanatischer Verfechter der italienischen Sache«; Pontello Negherbon, Grazioli, Zitat S. 20; ADT, Atti presidiali 1848; Nardon, 1848, S. 50–53, S. 68f., S. 73, S. 101–106. 1230 Pontello Negherbon, Grazioli, S. 21–28; ADT, Atti Presidiali 1848, 11. Lokale Konflikte dürften auch zur Kompromittierung Don Pietro Guettis in Baselga PinH – Gorfer, Parroco quanrantottino; ADT, Atti Presidiali, 6; ebenda, Libro B 468 (1849), Zl. 1604 – oder Pietro Menguzzatos in Castel Tesino, der von der örtlichen Bürgergarde verhaftet wurde – ebenda, Atti Presidiali 1848, 7, 8; ebenda, Libro B, 461, n. 1774 – geführt haben. 1231 Götz, Bürgertum, S. 226f; Zieger, Agitazione politica, der einen politischen Bericht an Innenminister Graf Stadion ediert, um den »spirito compatto del paese«, die einheitliche Gesinnung im Lande im Jahr 1848 also, zu demonstieren (S. 4). Dieser vertrauliche Rapport spricht von »preti cattivi«, »böswilligen Priestern« am Land (S. 23) und beschreibt die Trienter Kurie als »composta esclusivamente di persone ostili ai tedeschi«, als »ausschließlich aus Personen, die den Deutschen übel gesinnt sind, zusammengesetzt« (S. 29). Rizzi, Clero, S. 446, stützt sich in ihrer Darstellung des Klerus im Revolutionsjahr auf die Akten des Kreisamtes und der Polizeibehörde in Trient und behauptet: »Non crediamo sia esagerato affermare che la storia del Risorgimento si possa piF solidamente e diffusamente ricostruire sui dati che i solerti organi governativi austriaci raccolsero nella loro vigile attivit/ che su quelli di fonte opposta e diversa.« – »Wir glauben nicht, dass es übertrieben sei, zu behaupten, dass sich die Geschichte des Risorgimento auf der Grundlage der Informationen, die die umtriebigen österreichischen Regierungsbehörden im Zuge ihrer wachsamen Tätigkeit gesammelt haben, solider und umfassender schreiben ließe, als auf jener anderer und entgegengesetzter Quellen.«
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Theoreme Rosminis oder Giobertis den Landklerus zur politischen Aktion, denn die alltäglichen Bedürfnisse der Landbevölkerung.1232 Häufig führten die überstürzten Anklagen und aufsehenerregenden Handlungen der Polizei zu einer Solidarisierung der Bevölkerung mit ihrem Klerus – die österreichischen Behörden bestärkten dadurch die politische Position der Priester am Land. Die Bevölkerung der Gemeinde Ivano Francena stellte sich beispielsweise in zwei Unterstützungserklärungen, die von allen Haushaltsvorständen unterzeichnet wurden, geschlossen hinter ihren verhafteten Seelsorger Grazioli.1233 Insgesamt dürfte Alois Fischer, ein Gesandter der Wiener Regierung, in seinem Schlussbericht über die Situation in Tirol im August 1848 die politische Differenzierung des Priesterstandes im Kronland im Kern getroffen haben, wenn er schrieb, dass »der Clerus in Deutsch-Tirol […] im allgemeinen zur äußersten Rechte[n] [gehört], der Clerus in Wälsch-Tirol […] im allgemeinen italienisch gesinnt und daher auf der Linken [ist].«1234 Gemein war den meisten Tiroler Klerikern jedoch – unabhängig davon, in welcher Diözese sie wirkten, in welcher Sprache sie predigten und welcher politisch-religiösen Richtung sie angehörten – ihre außerordentliche politische Wirksamkeit. Dieser massive politische Bedeutungsgewinn des Klerus ist zunächst auf seine hohe personelle Dichte in Tirol zurückzuführen. Entscheidend war jedoch der Formations- und Erprobungsprozess, den zahlreiche jüngere Geistliche im Rahmen des vormärzlichen Formenwandels der Grenzkatholizismen durchlaufen hatten. In den vormärzlichen Zeitschriften übten sie sich als politische Publizisten, als Mitglieder der Roveretaner Akademie oder der »Societ/ Agraria« kamen sie mit neoguelfischen Gesellschafts- und Nationsentwürfen in Berührung, als Rezipienten der Medien- und Ersatzmedien der religiösen Öffentlichkeiten erfuhren sie von den liberalen Reformen im Kirchenstaat oder von den konfessionellen Konflikten Europas, fanden Hilfestellung im pastoralen Alltag und Anleitungen zur Amtsführung; idealisierte Priesterbilder schufen identitäre Grundlagen und Handlungsmotive in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern, kurzum: Sie wurden Teil überpersonaler Kommunikationsgemeinschaften. Diese Priester waren die eigentlichen Agenten der öffentlichen Religion und als solche dafür verantwortlich, dass der Katholizismus 1848 zu einem politischen Akteur ersten Ranges aufstieg. Wenngleich es in Tirol nicht, wie etwa in Wien, zu einem offenen Konflikt zwischen dem Klerus und den Ordinariaten kam, lässt sich doch festhalten, dass der Klerus die kirchlich-katholische Politik und die öffentliche Darstellung der Grenzkatholizismen bestimmte und nicht 1232 Lazzaretto, Clero, S. 418f. 1233 ADT, Atti Presidiali, 1848, 11. Siehe auch die Solidarisierungsadresse von 360 erwachsenen Männern aus Castel Tesino: Libro B, 461, n. 1774, Popolo di Castel Tesino, 28. 05. 1848. 1234 Helfert, Aloys Fischer, S. 177–208, Zitat S. 182; Heiss/Götz, Revolution, S. 137–140; Schnabel, Zusammenschluss, S. 35f.
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die Bischöfe von Trient oder Brixen. Der Trienter Bischof und die Trienter Kurie behinderten den politisch aktiven Klerus kaum, ja verteidigten ihn vielmehr gegen die Anklagen von Polizei und Behörden.1235 In Brixen war das politische Machtverhältnis noch asymmetrischer – hier bestimmte der Klerus die politische Richtung der Kurie in erheblichen Maße. Insbesondere junge Geistliche, wie etwa Joseph Greuter, eine der Galionsfiguren der konservativ-katholischen Opposition im österreichischen Reichsrat in der zweiten Jahrhunderthälfte, kritisierten die Passivität des Brixener Ordinariates vehement.1236 Die neuartige Politisierung der Religion wurde semantisch, strukturell und logistisch-organisatorisch nicht erst im März 1848 gleichsam improvisiert, sondern hatte ihre Wurzeln im religiösen Formenwandel der beiden vorrevolutionären Jahrzehnte. Wie sehr sich das Verhältnis zwischen Religion und Politik als Konsequenz der Säkularisierung wandelte, zeigt ein Blick auf das Verhältnis zwischen Kirche und Staat vor 1830, das eben nicht Gegenstand öffentlicher Verhandlungen war, sondern vielmehr geprägt von einer absoluten Unterordnung der Kirche.1237
9.3. Medialisierung Es gehört zu den wichtigsten Ergebnissen der Revolutionsforschung der vergangenen zwei Jahrzehnte, die Bedeutung der tiefgreifenden medialen und kommunikativen Veränderungen der Revolution erfasst und beschrieben zu haben. Dass »1848« als »Kommunikationsrevolution« zu verstehen ist, gehört mittlerweile zu den gesicherten Beständen des historischen Wissens über das 19. Jahrhundert.1238 Durch den Wegfall der Zensur im Frühjahr 1848 wurde in den meisten kontinentaleuropäischen Staaten eine wahre Flut von Zeitungsgründungen, Pamphleten und Flugblättern ausgelöst. Vor allem die Expansion der Tagespresse ist imposant: 1847 erschienen in der Habsburgermonarchie 79 deutschsprachige Blätter, 1848 stieg diese Zahl auf 388 an. 1849 zählte man im gesamten deutschsprachigen Raum gar 1.700 Zeitungen. Auch die Auflage der einzelnen Zeitungen stieg in einem bislang unbekannten Ausmaß. Die Wiener »Constitution« beispielsweise erlangte Spitzenwerte von 50.000 Exemplaren.1239 1235 Odorizzi, Vicari; Grisar, Tschiderer, S. 259–264; Schneidgen, Revolution, S. 236–242. 1236 DAB, KA 1848, Fs. 64/B, Zl. 1069, Joseph Greuter an f.b. Ordinariat, 19. 04. 1848. 1237 Grozzi, Doveri dei Sudditi; TLMF, F.B. 2730, Nr. 75, Benitius Mayr, Predigt anlässlich der Wiedervereinigung Tirols mit Vorarlberg, 14. 07. 1814. 1238 Siemann, Revolution, S. 114–124; ders., Kommunikation; Werner, Kleine Geschichte der deutschen Revolution, S. 45–47. 1239 Siemann, Revolution, S. 116f.; Werner, Kleine Geschichte der deutschen Revolution, S. 47f.
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Blickt man auf das Verhältnis zwischen der Revolution und ihren Medien, so ist mit Rolf Reichhard festzuhalten, dass sie sich gegenseitig, historisch kontingent, bedingten: Der Ausbruch der Revolution war zunächst einer bestimmten medialen Verdichtung geschuldet, der massive Bedeutungsgewinn der Presse dann aber durch die revolutionären Ereignisse und das breite gesellschaftliche Bedürfnis, mit politischen Nachrichten versorgt zu werden, ermöglicht; die dadurch geschaffene politische Öffentlichkeit wiederum bestimmte den weiteren Verlauf der Revolution erheblich mit. Welche Ausmaße dieser politische Informationshunger annehmen konnte, zeigt ein nachgerade verzweifelter Tagebucheintrag des Innsbruckers Johann Lang: »Übrigens steigerte sich die Sehnsucht nach verlässlichen Nachrichten über den Umstand im österr. Italien ins Ungeheure, zum Unglück kamen abends gar keine Zeitungen an, so daß man selbst den Verlauf d. Aufstandes in Berlin nicht einmal erfuhr.«1240
Die Revolutionen waren plurimedial und intermedial konfiguriert: Wiewohl die Tagespresse eindeutig das Leitmedium von »1848« darstellte, wurde sie von weiteren textuellen, visuellen und akustischen Medien flankiert – erst dadurch war eine volle Durchdringung der breiten Masse der Bevölkerung möglich. Diese unterschiedlichen Medien der Revolution standen jedoch nicht in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, sondern ergänzten sich und förderten ihre Rezeption gegenseitig – gesungene Lieder wurden in Zeitungen abgedruckt, Zeitungsartikel in Vereinsversammlungen verlesen.1241 Diese medialen Umbrüche betrafen nicht nur die urbanen Zentren der Revolution wie Wien, Berlin oder Paris, sondern auch die ländliche Provinz.1242 »Die Pressen sind jetzt in erstaunlicher Thätigkeit«,1243 berichtete Johann Amberg Ende März 1848 aus Innsbruck nach Brixen. Wiewohl nach der Aufhebung der Zensur am 15. März in der Habsburgermonarchie vielfach noch Unsicherheit herrschte – schließlich gab es nun überhaupt keinen presserechtlichen Rahmen mehr – und viele, um sich abzusichern, »privatim« ihre Manuskripte vor der Drucklegung den Behörden vorlegten, erfuhr der Medienmarkt im Kronland einen bemerkenswerten Aufschwung.1244 Zahlreiche Flugblätter über die neuen Ereignisse in Wien oder in Norditalien, aber auch solche mit ersten politischen Forderungen zirkulierten bereits Ende März. Buchhandlungen erTLMF, F.B. 858, Innsbrucker Tagebücher des Johann Lang, Bd. 3, 1847–1850, S. 1198. Reichhard, Plurimediale Kommunikation. Siemann, Revolution, S. 117f. DAB, KA 1848, Fs. 64/D, Zl. 781, Dekanalamt Innsbruck an f.b. Ordinariat Brixen, 23. 03. 1848. 1244 DAB, KA 1848, Fs. 64/A/1, Zl. 753, Dekanalamt Innsbruck an f.b. Ordinariat Brixen, 18. 03. 1848.
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kannten das kommerzielle Potential dieser Medien und boten ein erstaunlich breites Sortiment der neuesten regionalen und überregionalen Flugschriften und Pamphlete an.1245 In den folgenden Monaten stieg die Zahl der Tageszeitungen in Tirol um ein Vielfaches an, ausländische Blätter waren erstmals frei verfügbar und legal beziehbar. Die Regierung sah sich gezwungen, sich den Spielregeln der revolutionären Öffentlichkeit anzupassen und baute den bislang sehr trockenen, offiziösen »Bothen« in Innsbruck zu einem zeitgemäßen politischen Journal aus. Durch die rasche und zuverlässige Veröffentlichung politischer Neuigkeiten sollte das Blatt der Regierung Einfluss auf die politische Öffentlichkeit garantieren – die Regierungsvertreter auf dem Land sollten zu diesem Zweck als »Korrespondenten« wirken.1246 Dies zeigt, wie sehr der Wegfall der Zensur die politischen Verhältnisse veränderte: Die Regierung konnte eine politische Öffentlichkeit nicht mehr verhindern, sondern musste ihre Spielregeln akzeptieren – was sich im »Sängerkrieg« angebahnt hatte, vollzog sich ab März 1848: Der nunmehr »konstitutionelle« Staat geriet zum gleichberechtigten Akteur auf dem öffentlichen Markt der Meinungen. Wie wirkte sich dieser neue mediale Rahmen auf die Grenzkatholizismen aus? Zunächst – und dies galt für das gesamte Kronland – stieg der Grad der »Öffentlichkeit« der Religion in einem bislang unbekannten Ausmaß an. Bereits ab dem 1. Mai wurde das »Volksblatt für Tirol und Vorarlberg« als Organ des »Katholisch-Konstitutionellen Vereins« in Innsbruck gegründet und am 28. Juni 1848 erstmals als Wochenschrift veröffentlicht.1247 Wenige Tage später, am 15. Juli, erschien in Bozen erstmals das ultramontane »Tiroler Wochenblatt«, herausgegeben und redigiert vom Kirchenrechtler Ernst von Moy de Sons und dem Bozener Priester Joseph Pradella.1248 Die »Katholischen Blätter« erschienen ab Juli 1848 zweimal wöchentlich und verdoppelten damit ihren Umfang.1249 Ein viertes deutschsprachiges katholisches Presseprojekt scheiterte schließlich Anfang 1849 am Widerstand des Brixener Ordinariates, dem drei entschieden katholische Presseorgane als ausreichend erschienen.1250 Die Auflage dieser drei Verbreitungsmedien dürfte zusammengenommen beachtlich gewesen sein: Das 1245 Bozner Wochenblatt Nr. 21, 26. 05. 1848, S. 151 (Flugschriften, die neueste Ereignisse betreffend). Johann Lang hielt in seinem Tagebuch täglich die neu erschienenen Druck- und Flugschriften fest, siehe etwa TLMF, F.B. 858, Innsbrucker Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 3, 1847–1850, S. 1204 (30. März), oder S. 1212 (3. April). 1246 Wolf, Zeitungen, S. 84–89, Zitat S. 88. 1247 Volksblatt für Tirol und Vorarlberg, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 703f.; Wolf, Zeitungen, S. 184–194; Heiss/Götz, Revolution, S. 132. 1248 Bozner Wochenblatt, Beilage Nr. 25, 23. 06. 1848; Wolf, Zeitungen, S. 175–183. 1249 An die P.T. Abonnenten, Kath. Bl. 6 (1848), S. 657 sowie die Erklärung des Redakteurs Kometer dazu auf S. 550f. 1250 Der Proponent des Projektes mit dem Titel »Der Sammler am Eisack« war der Kanoniker am Brixener Dom, Franz Hirn. DAB, KA 1849, Fs. 32, Nr. 2, Zl. 293.
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»Volksblatt« erreichte bald eine Auflage von 1.100 Stück, die »Katholischen Blätter« bewegten sich auf demselben Niveau.1251 Darüber hinaus erschienen im deutschsprachigen Tirol zahlreiche gedruckte Predigten, aber auch Flugschriften, Gedichte und Pamphlete mit religiösen Inhalten. Predigten wurden darüber hinaus von Anwesenden mitgeschrieben und dann von diesen, gewissermaßen klandestin und ohne Wissen des klerikalen Autors, in Druck gegeben.1252 Zu einem weiteren Medium der Religion wurde schließlich die Masse der Bevölkerung: Wallfahrten und Prozessionen hatten in Zeiten der Massenpolitik per se eine politische Bedeutung. Der Innsbrucker Liberale Johann Lang, ein scharfer Beobachter der Revolutionsmonate, berichtete in seinem Tagebuch von zwei Prozessionen in Innsbruck, an denen jeweils, seinen Schätzungen zufolge, 8.000 Personen teilnahmen und denen er wie selbstverständlich eine politische Bedeutung beimaß – zumal, wie Lang sich ausdrückt, Dekan Amberg eine »schöne christlich-politische Predigt« gehalten habe.1253 Auch Petitionen waren ein wirksames Instrument, um die Masse der Bevölkerung als Medium der Politik zu inszenieren. Die binnen weniger Wochen organisierte »Riesen-Petition« für die »Glaubenseinheit«, die bemerkenswerte 123.500 Männer im deutschsprachigen Tirol unterzeichneten, liefert hierfür ein eindrucksvolles Beispiel. Es handelte sich um einen imposanten Plebiszit, der nicht nur die politische Organisationsund Integrationsfähigkeit des Ultramontanismus machtvoll demonstrierte, sondern die ultramontane Katholizität Tirol gleichsam demokratisch zu legitimieren schien.1254 Wie schon im Vormärz, trieb dieser Medialisierungsschub den Formenwandel der Religion erheblich voran. Ein Beispiel kann hier genügen. So verdankte der Herz Jesu-Kult, ein bis in die Gegenwart zentrales Element der Deutschtiroler Frömmigkeitskultur und der regionalen Identität, seine massenwirksame Verankerung der Medialisierung im Revolutionsjahr 1848. Der Kult war bereits im 16. und 17. Jahrhundert von erheblicher regionaler Bedeutung, erfuhr jedoch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, insbesondere aber in den napoleonischen Kriegen seine dramaturgisch wohlinszenierte politische Aufladung. In den Jahren des vormärzlichen Staatskirchentums wurde der Kult zwar forttradiert, seiner politischen Konnotation aber fast vollständig
1251 Wolf, Zeitungen, S. 191; zur Auflagenzahl der »Katholischen Blätter« S. 207. 1252 [Franz Pichler], Pfingstrede, gehalten in der St. Jakobs-Pfarrkirche zu Innsbruck 1848, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 639–645, S. 664–670; TLMF, F.B. 858, Innsbrucker Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 3, 1847–1850, S. 1193–1996, S. 1244f., S. 1334. 1253 TLMF, F.B. 858, Innsbrucker Tagebücher des Joh. Lang, Bd. 3, 1847–1850, S. 1244, hier das Zitat (Palmsonntag, 16. April), S. 1397–1399 (9. Juli). 1254 Heiss/Götz, Revolution, S. 79; Gschließer, Einheitsbewegung, S. 77f.
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entledigt.1255 Seine Revitalisierung ist auf eine Initiative des Brixener Kanonikus Franz Hirn zurückzuführen, der dem Ordinariat im Mai 1848 den Vorschlag unterbreitete, durch eine Broschüre den Kult neu zu beleben. Hirn ging es dabei wohl auch um die katholische Frömmigkeit, in erster Linie zielte er aber darauf ab, die Wehrhaftigkeit Tirols im Kampf gegen die italienischen Freischärler im Süden des Kronlandes zu steigern. Der Kanoniker inszenierte in seinem Flugblatt das Herz Jesu als Verbindungsglied zwischen der revolutionären Gegenwart und den anti-napoleonischen Kämpfen Tirols. Er deutete das Gelöbnis der Stände Tirols aus dem Jahr 1796 zu einem »ewigen Bund« des Landes mit dem Herzen Jesu um, um »die so eingetretene Erhebung des Landes zur Sicherung seiner bedrohten Gränzen durch ein bewährt wirksames geistliches Mittel zu unterstützen.«1256 Hirn versah seine Flugschrift, deren Druck er selbst bezahlte, mit weiterem liturgischem Material, wie etwa Gebetsanleitungen oder einer Herz Jesu-Litanei und bat das Brixener Ordinariat, sie an alle Seelsorger Tirols »gratis« zu verteilen. Hirns Initiative wurde bald aufgegriffen: Nachdem das Brixener Ordinariat noch im Juni die 600 Exemplare der Broschüre an alle Seelsorgestationen versandt hatte, hielt der Servit Magnus Perzager bereits am 2. Juli vor den vereinten Landtagsvertretern eine »Herz Jesu-Predigt«, die die wichtigsten Punkte der Broschüre Hirns enthielt: Auch Perzager sprach von einem »Bund« mit dem Herzen Jesu und bezeichnete die Tiroler als auserwähltes und besonders wehrhaftes Volk.1257 Anfang Oktober ermahnte Fürstbischof Galura in einem Rundschreiben seinen Klerus mit Nachdruck, die »empfohlenen Andachten zum hl. Herzen Jesu« regelmäßig zu halten.1258 Wie schnell sich der neu politisierte Kult durchsetzte, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass bereits im Herbst die neugegründeten Filialvereine des »Katholisch-Konstitutionellen Vereins« begannen, sich satzungsmäßig »unter de[n] Schutz des Herzen Jesu« zu stellen.1259 Die dominante Stellung, die der Herz Jesu-Kult im regionalen Panorama der ultramontanen Frömmigkeit einnahm, wurde von den neuen technisch-medialen Möglichkeiten des Revolutionsjahres 1848 somit erheblich begünstigt. Sie ist ein deutlicher Beleg dafür, wie sehr neue mediale Voraussetzungen die Form und die Praxis der Religion veränderten. Gedruckte Predigten, religiöse Hauskalender und die religiöse Presse führten 1255 Cole, Patriotische Aktion; ders., Nationale Identität; Priesching, Mörl, S. 84–91; Egarter, Tirols Herz-Jesu-Bund, S. 28f. 1256 DAB, KA 1848, Fs. 64/C, Nr. 2, Zl. 1285; Franz Hirn an f.b. Ordinariat, 12. 05. 1848; das Zitat in ebenda, f.b. Ordinariat Brixen an f.b. Ordinariat Trient, 22. 05. 1848; [Hirn], Der ewige Bund Tirols; Noflatscher, Heilig, S. 368f. 1257 Perzager, Predigt auf das in Tirol verlobte Herz Jesu Fest, S. 9–11. 1258 ADT, Libro B, 462, n. 2286, Bernhard Galura, An die hochwürdige Diözesan-SeelsorgsGeistlichkeit, Brixen, 06. 10. 1848. 1259 DAB, KA 1848, Fs. 63, Nr. 11, Zl. 3121, Johann Steger an f.b. Ordinariat Brixen, 23. 10. 1848.
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im deutschsprachigen Tirol zu einer öffentlichen Religion ultramontaner Prägung. Wie bereits im Vormärz gab es auch 1848 durchaus Versuche, liberale Vorstellungen von Religion der ultramontanen Dominanz entgegenzustellen, die aber insgesamt erfolglos blieben und letztlich kontraproduktiv waren, da sie ultramontane Medienprojekte geradezu anregten. Die ultramontane »Tiroler Zeitung« etwa begründete Ende 1852 ihre Einstellung unter anderem damit, dass »die Kirche […] frei [ist] oder es steht nur bei ihr, es zu sein. Die Regierung ist in der unbestrittenen Ausübung ihrer rechtmäßigen Gewalt und es steht nur bei ihr, es zu bleiben. Die revolutionäre Presse ist gezügelt und die Partei auf ein Feld gedrängt, wo sie mit andern Waffen, als denen der Journalistik bekämpft werden muß. Bloß für die Unterhaltung des Publikums zu schreiben oder mit Neuigkeiten einen Kramhandel zu betreiben, war nie unsere Sache.«1260
Der öffentliche und politische Erfolg des ultramontanen Katholizismus lässt sich auf zumindest drei Gründe zurückführen. Zunächst war die vormärzliche Tradition hierfür verantwortlich: Der ultramontane Katholizismus bildete sich als anti-protestantischer und deutscher Katholizismus bereits in den 1840er Jahren in den »Katholischen Blättern« aus. Ferner profitierten die ultramontanen Protagonisten von »1848« von ihren journalistischen und medialen Erfahrungen, die sie im Vormärz gesammelt hatten – sie entstammten jener Gruppe jüngerer Geistlicher, die die Innsbrucker Zeitschrift gründet hatte und bis 1848 prägte.1261 Nicht nur vereinzelte liberal-katholische Herausforderungen, sondern insgesamt die Politisierung der Religion förderte die mediale Präsenz des Ultramontanismus. Erst als das Wesen der Religion und ihre Verbindung zu Gesellschaft und Staat öffentlich zur Disposition standen, konnte der Ultramontanismus seine Entwürfe erfolgreich öffentlich durchsetzen. Den kirchlichen Strukturen, allen voran den Ordinariaten, blieb in diesem Prozess nur noch eine passive Rolle, die sich im Wesentlichen darin erschöpfte, die Initiativen der Zeitungen und des Vereines logistisch zu unterstützen.1262 Drittens schließlich gründete die massenmobilisierende Wirksamkeit des deutschsprachigen Ultramontanismus in dem »Zusammenwirken von medialer Vielfalt und ihren kollektiven Gebrauchsmodi«1263 – die Medien der öffentlichen Religion waren akkurat auf die soziale Realität der Rezipienten zugeschnitten. So bedienten Flugschriften, aber auch das »Volksblatt« durch ihre populäre, ja bisweilen mundartliche Sprache vor allem ländliche Schichten; die »Tiroler Zeitung« 1260 Tiroler Zeitung Nr. 262, 15. 11. 1852, S. 1057. 1261 Dies galt vor allem für Beda Weber, Vinzenz Gasser, Alois Flir, Georg Tinkhauser, Bartholomäus Kometer, Joseph Fessler oder Joseph Rudigier : Kap. 5.2. 1262 DAB, KA 1848, Fs. 63, Nr. 4, Zl. 1769, f.b. Ordinariat an die f.b. Dekanalämter, 30. 06. 1848 (Verbreitung des Volksblattes); ebenda, Nr. 1, f.b. Ordinariat an f.b. Dekanalamt Innsbruck, 28. 04. 1848; Heim, Vereine, S. 184–188. 1263 Reichhard, Plurimediale Kommunikation, S. 232.
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wandte sich an das katholische Bürgertum, während die »Katholischen Blätter« das Organ des deutschsprachigen Klerus blieben.1264 Wendet man den Blick wieder auf das gesamte Kronland, dann werden weitere Verbindungslinien zum Vormärz sichtbar : Das italienische Tirol blieb vom Medialisierungsschub der Religion im deutschsprachigen Landesteil erneut ausgeschlossen – Religion und ihre Medien verstärkten die binnentirolischen Grenzen weiter. Die Medialität der Religion blieb im Trentino auch während der Revolution dieselbe wie im Vormärz, wiewohl die Ersatzöffentlichkeit an der Roveretaner Akademie, die 1848 ihre »tornate« einstellte, wegfiel – sie waren nach der Aufhebung der Zensur schlicht nicht mehr notwendig bzw. in den turbulenten Revolutionsmonaten organisatorisch kaum durchführbar.1265 Obwohl im »Messaggiere« nunmehr freier über Religion geschrieben werden konnte, etablierte sich keine explizit katholische Publizistik, auch Predigten oder religiösen Flugschriften nahmen keinen nennenswerten oder zumindest mit dem deutschsprachigen Landesteil vergleichbaren Aufschwung.1266 Der Grund hierfür liegt wohl darin, dass trotz der bekannten Allokution Pius’ IX. vom 29. April 1848, in der das Kirchenoberhaupt seine Teilnahme am nationalen Krieg gegen Österreich verweigerte und damit die politische Dimension des neoguelfischen Risorgimento vorerst verdrängte, die öffentliche Hegemonie des liberalen Katholizismus bestehen blieb. Auch hier wirkte der Vormärz also nach: Die führenden Politiker, Laien wie Priester, aber auch die wichtigsten Amtsinhaber an der Trienter Kurie und am Priesterseminar waren nach wie vor von einer liberalen Katholizität überzeugt, die nicht nur einen kulturellen Anschluss an die italienische Mutternation versprach, sondern das italienische vom deutschen – und ultramontanen – Tirol schied. Bezeichnend ist hierfür der Redebeitrag des Trentiner Giovanni a Prato in der Frankfurter Paulskirche zur Debatte um die Tiroler »Glaubenseinheit« am 25. August 1848, in der über die Anwendung des Artikels III der Grundrechte, der allen Deutschen »Glaubensund Gewissensfreiheit« zusicherte, diskutiert wurde: 1264 Wolf, Zeitungen, S. 168–194; TLA, Jüngeres Gubernium, Präs. 1849, fasz. 3719, Zl. 1180, k.k. Landespräsidium an k.k. Ministerium d. Inneren u. Justiz, 12. 03. 1849. 1265 Die Roveretaner Akademie stellte nach dem Ausbruch der Revolution ihre Tätigkeit mit folgender Begründung ein: »poichH assai pochi tra noi potranno freddamente pensare a lavori accademici, mentre in altri campi si dibattono le fati (!) ben piF gravi della nostra futura esistenza politica, morale, religiosa, umanitaria, ecc. ecc.« – »weil nur sehr wenige von uns nüchtern an die akademischen Arbeiten denken werden können, während in anderen Feldern um das weitaus schwerwiegendere Schicksal unserer politischen, moralischen, religiösen, humanitären Existenz diskutiert wird.« AAA, 17, Sessioni private dell’Accademia degli Agiati, S. 54; Bonazza, Accademia, S. 34–36. 1266 Giovanni Cimadomo, Ancora sulla libert/ religiosa, MT Nr. 109, 11. 11. 1848, S. 1f.; ders., Pio IX, ebenda Nr. 122, 12. 12. 1848, S. 1–3; Ciro Farinati, Il Progresso e i progressisti, ebenda Nr. 123, 14. 12. 1848, S. 1–3.
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»Ein geehrter Abgeordneter von Nord-Tyrol hat, wenn ich nicht irre, eben den Antrag gestellt, daß man bei Einführung der Grundrechte des deutschen Volkes in Beziehung auf Art. III, wo einem jeden Deutschen Glaubens- und Gewissensfreiheit zugesichert ist, mit der möglichsten Schonung in Tyrol zu Werke gehen wolle. Obwohl ich hoffe, daß das italienische Tyrol bald vom deutschen Tyrol getrennt werden wird, so sind wir indessen noch immer ein ganzes Land, und man könnte also, wenn ich hierüber schweige, glauben, daß ich die Schonung, die für Tyrol in Anspruch genommen wird, auch auf mein Land, nämlich das italienische Tyrol, ausgedehnt wissen wollte. Das ist aber nicht der Fall. Ich für meinen Theil und für meine Landsleute nehme keine besondere Schonung in Beziehung auf die Veröffentlichung des Art. III. der Grundrechte des deutschen Volkes in Anspruch. Es wird kein Mensch bei uns darüber erschrecken, ja man wird es mit Freude vernehmen, wenn es heißen soll, daß Glaubensund Gewissensfreiheit eine Thatsache sei.«1267
Die liberalkatholische Dominanz im südlichen Tirol begegnete erst am Ende der »langen Revolution« ernsthafterem Widerstand. Giovanni a Pratos »Giornale del Trentino« begann sich ab Mai 1850 verstärkt religiösen Themen aus einer liberalen Perspektive zuzuwenden – Antonio Zieger bezeichnet die Zeitung deshalb auch als erstes Medium eines dezidiert katholischen Journalismus im Trentino.1268 A Prato widmete sich in seinen Artikeln vorwiegend der piemontesischen Religions- und Kirchenpolitik, die – im krassen Gegensatz zur habsburgischen, wie er hervorhob – die Trennung von Staat und Kirche konsequent verfolgte.1269 Wiewohl sie viele Punkte der rosminianischen Kirchenlehre zu realisieren schien, wirkte die piemontesische Kirchenpolitik, nicht zuletzt durch ihre prononciert liberale Darstellung im Trienter »Giornale«, im südlichen Tirol als tiefgreifende Zäsur. Ein großer Teil des liberalen, national affinen Trentiner Klerus wandte sich, wie übrigens im Lombardo-Veneto auch, unter dem Eindruck der antiklerikalen Politik Piemonts zunehmend von der politischen Zielvorstellung der nationalen Einheit, zumal unter der Führung Turins, ab. Nicht also die Allokution Pius’ IX. vom 29. April 1848, sondern der bemerkenswerte Widerspruch zwischen der piemontesischen und der habsburgischen Kirchenpolitik ab 1850 führte im südlichen Tirol zu einem sukzessiven Bedeutungsverlust des liberalen, neoguelfischen Katholizismus.1270 Dies drückte sich bezeichnenderweise in einem weiteren Projekt zur Grün1267 Wigard [Hrsg.], Reden für die deutsche Nation, S. 1738f.; Benvenuti, Prato, S. 58–60; Mayer, Grossmacht, S. 96–115. 1268 Zieger, Stampa, S. 11–15; ders., Giornalismo, S. 101–114; Benvenuti, Prato, S. 61; Manfroni, Prato, S. 174–181; Bonazza, Ripiegamento; Huber, Intransigentismo, S. 72. 1269 La chiesa ed il pubblico insegnamento, in: GdT Nr. 6, 14. 05. 1850; L’Abate Gragnaschi e la questione religiosa in Piemonte, ebenda Nr. 40, 01. 08. 1850; Jemolo, Chiesa e Stato, S. 87– 161. 1270 Huber, Intransigentismo, S. 73f.; Grisar, Vescovo, S. 248; Lorenzetti, Catene d’oro, S. 158–168; Lazzaretto, Clero, S. 421.
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dung einer religiösen Zeitung aus, das mehrere Geistliche aus der Vallagarina am 11. Juni 1850 an das Trienter Ordinariat richteten. Darin wurde explizit auf die »tendenza anticattolica« des »Giornale del Trentino« verwiesen, die die Gründung einer religiösen Zeitung erfordere.1271 Die Trentiner Kurie dürfte, wie bereits 1839, von diesem Projekt wenig gehalten haben, da sie auf das Schreiben der Proponenten schlicht nicht reagierte. Wie gespalten jedoch der Trentiner Klerus um 1850 bereits war, zeigt die Auseinandersetzung, die in der Mailänder Zeitschrift »L’Amico Cattolico« ausgetragen wurde. Konservative Korrespondenten aus dem italienischen Tirol beteuerten, dass die »orthodoxe« Katholizität der Trentiner mit jener der deutschsprachigen Bewohner der Provinz durchaus vergleichbar sei.1272 Ein anderer Korrespondent betonte, dass nur der Tatsache, dass in Tirol keine italienischsprachige religiöse Zeitschrift existiere, der Eindruck zuzuschreiben sei, die italienischen Katholiken der Region teilten die liberale Katholizität des »Giornale del Trentino«. In diesem Artikel wurden Giovanni a Prato und seine liberal-katholische Publizistik nicht nur scharf angegriffen, sondern erstmals auch die liberalkatholische Deutungshoheit über Religion im italienischen Tirol öffentlich in Frage gestellt.1273 Die Trienter Kurie hatte alle Mühe, diesen sich anbahnenden öffentlichen Konflikt zwischen liberalen und konservativ/ultramontanen Klerikern zu unterbinden. In ihrer Ablehnung des konservativen Zeitungsprojektes und in der scharfen Verwarnung Giovanni a Pratos, die im November 1850 erfolgte, suchte die Kurie im Grunde genommen die freie öffentliche Rede über Religion zu verhindern und den öffentlichen Diskurs über Religion selbst zu bestimmen.1274 Dies gelang dem Trienter Ordinariat bis zum Ende des Episkopats Tschiderers im Jahr 1860 – dessen Nachfolger Benedetto de Riccabona bezeichnenderweise 1839 und 1850 an den gescheiterten Zeitungsprojekten beteiligt gewesen war – kaum noch, vielmehr war die Spaltung des Trentiner Klerus nach 1850 schier unüberwindbar. In seinem oben zitierten Artikel reflektierte der Trentiner Priester Giovanni Cimadomo diese binnenkatholische Differenzierung, wenn er den öffentlichen Katholizismus in eine liberale und in eine ultramontane Variante teilte. Cimadomo verurteilte beide Richtungen, da sie beide bestimmte Elemente des Ka-
1271 ADT, Atti presidiali 1850, Nr. 9, Benedetto de Riccabona an f.b. Ordinariat Trient, 11. 06. 1850; Benvenuti, Chiesa, S. 30. 1272 Una dichiarazione onorevole dal Tirolo Italiano, AC 11 (1850) 3, S. 493. 1273 Una Protesta, AC 11 (1850) 4, S. 306f.; Una protesta, GdT Nr. 75, 22. 10. 1850; Due recenti lettere di S.A.R. il Principe Vescovo di Trento, in: AC 11 (1850) 4, S. 442–444. 1274 ADT, Atti Presidiali 1850, Nr. 9, Giuseppe Freinadimetz an Johann N. Tschiderer, 04. 11. 1850; Benvenuti, Chiesa, S. 31–33; Zieger, Stampa, S. 15–18.
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tholizismus überspitzten und damit die Einheit der katholischen Kirche gefährdeten.1275 »1848« stellte für die Grenzkatholizismen somit keine Medienrevolution dar, da die Kontinuitäten zum Vormärz deutlich überwogen. Wohl aber lässt sich von einer »Kommunikationsrevolution« sprechen: Religion vollzog sich, zumindest im deutschsprachigen Landesteil, in einem bislang unbekannten Ausmaß in überpersonaler Kommunikation. Medialisierung bedeutete hier aber auch eine weitere Trennung der Landesteile – die bereits im Vormärz sich anbahnende »kommunikative Entkoppelung« wurde zwischen 1847 und 1852 geradezu zementiert.1276 Im südlichen Tirol änderten die neuen kommunikativen Bedingungen zunächst wenig am medialen Setting des liberalen Katholizismus. Dessen hegemoniale Stellung wurde erst 1850, als die Folgen der Revolution, die Kirchenpolitik in Piemont und in der Habsburgermonarchie, das vorläufige Ende des Neoguelfismus, die Flucht des Papstes aus Rom und dessen konservative Neuorientierung sicht- und spürbar wurden, öffentlich in Frage gestellt – wenngleich sie noch bis in die 1860er Jahre anhalten sollte.
9.4. Nationalisierung Politisierung und Medialisierung waren schließlich auch Grundlage – und Konsequenz – der Nationalisierung der Religion, oder, in den Worten von Andreas Holzem: »Der Gott des 19. Jahrhunderts trug in den Augen seiner Verehrer ein zunehmend politisches Anlitz. Die Verehrung des Heiligen suchte sich, ohne die alten einfach abzustreifen, neue Orte, Objekte und Kulte der Verehrung.«1277 Dies galt auch für Tirol, 1848 zumal. Die Auswirkungen hiervon lassen sich am besten in der politischen Aufladung der beiden Grundsemantiken »Glaubenseinheit« und »Pio IX« nachvollziehen. »Glaubenseinheit« stieg im Frühjahr 1848 zur zentralen raumbezogenen Semantik im deutschsprachigen Tirol auf, in diesem Begriff vereinten sich eine ultramontane Katholizität, Raum und Nation. Man könnte den Begriff der »Glaubenseinheit«, wie er im Vormärz entwickelt und diskutiert wurde, in luhmannscher Diktion als »gepflegte Semantik« beschreiben. In der Tat war der darin gespeicherte Sinn einem theologischen Bedeutungskontext entnommen; er zirkulierte vor allem in akademisch trainierten Kreisen und war für Laien und die Masse der Bevölkerung nur schwer zugänglich. Die mediale Pluralisierung 1275 Cimadomo, Giornalismo, S. 121–139; Huber, Intransigentismo, S. 74–82; Benvenuti, Chiesa; Zieger, Stampa; Corsini, Colloquio. 1276 Heiss/Götz, Revolution, S. 177–182; Götz, Bürgertum, S. 233–238. 1277 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1087.
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und die breite Politisierung des Jahres 1848 übersetzten den Begriff in eine Art populäre »Alltagssemantik«.1278 Bereits im April 1848, als die militärische Bedrohung im Süden immer akuter wurde, appellierte der Arzt und Volksdichter Bernhard Mazegger in einem Flugblatt an die Wehrhaftigkeit und -freudigkeit der Tiroler, die er in der katholischen Monokonfessionalität, in der »Glaubenseinheit« Tirols mithin, begründet sah. Damit wurde der Begriff von seinem komplexen theologischen Hintergrund gelöst und in einen militärischen und nationalistischen Diskurs eingebettet: »In dieses Glaubens Einheit liegt deine Kraft Verflucht, der je es wagt ihn dir zu rauben Den überird’schen Drang in dir erschlafft All deine Stärke ist mit Ihm genommen Nur aus dem Heil’gen kann das Große kommen.«1279
Wenn man dem Tiroler seine »Glaubenseinheit«, sein rein katholisches Umfeld nehme, dann schwinde die militärische Tugend des tirolischen Kriegers, so die etwas plumpe religiös-politische, ultramontane Lyrik Mazeggers. Im Verlauf der Revolution fand der Begriff immer größere Verbreitung, er stieg zu einem zentralen Gegenstand der Wahlkämpfe zum Frankfurter Parlament und dem Tiroler Landtag auf. Wie groß seine politische Verbindlichkeit wurde, zeigt allein schon die Tatsache, dass nicht nur konservativ-ultramontane Kandidaten an ihn appellierten. Auch deren liberale Kontrahenten kamen nicht umhin, für die »Glaubenseinheit« Tirols öffentlich einzutreten. So kopierte der liberale Kandidat Merans für die Deutsche Nationalversammlung im Grunde die religionspolitischen Forderungen seines ultramontanen Konkurrenten Beda Weber, der in seinem Wahlaufruf vom 27. April 1848 die konfessionelle Einheit ebenfalls mit der militärischen Stärke Tirols in Verbindung setzte. Dr. Tappeiner, dem Bürgermeister Merans und liberalen Gegenkandidaten Webers, blieb in seinem drei Tage später unterzeichneten Wahlappell nichts anderes übrig, als diese Verbindung von Religion, Wehrhaftigkeit und Nation – in Zeiten der militärischen Bedrohung zumal – zu bestätigen.1280 Auch weitere liberale Kandidaten sahen sich dazu gezwungen, ihre politische Unterstützung der »Glaubenseinheit« zu beteuern.1281 Im Vorfeld der Landtagswahlen im Mai 1848 ermahnte auch das fürstbischöfliche Ordinariat in Brixen seine subalterne Geistlichkeit, von der Kanzel über die Folgen des Verlustes eines der »kostbarsten Güter« Tirols – der »Glaubenseinheit« – nachdrücklich zu informie1278 1279 1280 1281
Luhmann, Gesellschaftsstruktur, S. 19–21; Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 198f. Mazegger, Aufruf an das Vaterland; Heiss/Götz, Revolution, S. 68–72. Innerhofer, Franz Tappeiner. DAB, KA 1848, Fs. 64/B, Zl. 1191, Johann Amberg an f.b. Ordinariat Brixen, 03. 05. 1848; Götz, Bürgertum, S. 148.
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ren.1282 Die möglichen Folgen dieses Verlustes wurden im Rundschreiben nicht angesprochen – sie wurden schlicht vorausgesetzt. Fest dürfte damit jedoch stehen, dass jene Tiroler und Tirolerinnen, die im Mai 1848 religiöse Dienstleistungen in Anspruch nahmen, mit dem Begriff in Berührung kamen. Einer breiten deutschsprachigen Öffentlichkeit wurde die Tiroler »Glaubenseinheit« schließlich durch die Rede Vinzenz Gassers in der Frankfurter Paulskirche am 25. August bekannt gemacht, mit der er eine partielle Außerkraftsetzung der Grundrechte des Deutschen Volkes zu bewirken suchte: Deutschland, so Gasser, müsse auf seine »glaubenseinige«, südlichste Provinz Tirol Rücksicht nehmen und hier von einer konfessionellen Parität absehen.1283 Was in Gassers Rede, für die er übrigens kein Verständnis, sondern nur Heiterkeit und Spott erntete, bereits anklang, wurde in den darauf folgenden Diskussionen in Tirol fortgeschrieben und festgesetzt: »Glaubenseinheit« wurde zunehmend mit »Tirol« gleichgesetzt und damit räumlich festgeschrieben.1284 Der Begriff verwies damit auf ein transzendentales Gut, das durch seine irdischen Wirkungen begründet und legitimiert wurde – er wurde damit gleichsam säkularisiert. Der Präsident des Innsbrucker Katholikenvereins, Alfons von Pulciani, umschrieb den Begriff in einem Vortrag mit folgenden Worten: »Sie [die Glaubenseinheit, F.H.] enthält die wesentlichste Bedingung seiner Kraft, seiner Eintracht, seiner Wohlfahrt und seines Friedens, sie gilt seinem [Tirols] Heil, so hier, wie dort.«1285 Die konfessionelle Einheit wurde als »Quell der Taten«, als Grundlage der Wehrhaftigkeit der Tiroler gedacht und führte damit implizit auch eine nationale und antiitalienische Dimension mit – 1848 bedeutete die »Wehrhaftigkeit« Tirols die Sicherung der deutschen Grenzen gegen Süden.1286 Dass sich dieses Konzept in einem derartigen Ausmaß öffentlich festsetzen konnte und ständiger Gegenstand von Predigten, Flugschriften und Pressetexten war, ist durchaus erstaunlich und keineswegs selbstverständlich, da es den politischen bzw. kirchenpolitischen Zielsetzungen der Ultramontanen Tirols in doppelter Hinsicht widersprach. Zunächst stand es in einem deutlichen Ge1282 DAB, KA 1848, Fs. 64/B, Nr. 1157, 02. 05. 1848. 1283 Wigard [Hrsg.], Reden für die deutsche Nation, S. 1736f.; Mayer, Grossmacht, S. 100– 106; Gschließer, Einheitsbewegung, S. 81f.; Heiss/Götz, Revolution, S. 116–119. Gasser selbst bezeichnete seine Frankfurter Erfahrung als »eine der trübsinnigsten Stunden«, die sein »Vertrauen, durch den Schutz eines Staatsgesetzes die Glaubenseinheit meines lieben Heimatlandes zu retten, […] tief erschüttert« habe; Zobl, Gasser, S. 161. 1284 Vinzenz Gasser, Die Frankfurter Debatte über die Religions- und Kirchenfrage bezüglich Tirol, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 1057–1064; Offenes Schreiben an die tirolische Abgeordneten zur deutschen Nazionalversammlung in Frankfurt. Eine Beleuchtung der dortigen Debatte über die Religions- und Kirchenfrage bezüglich auf Tirol, ebenda, S. 1409–1421. 1285 Pulciani, Gedanken für die Glaubenseinheit in Tirol, S. 153. 1286 Wigard [Hrsg.], Reden für die deutsche Nation, S. 1736; Egger, Die Aufzeichnungen Joseph Hundeggers, S. 53–55; Eberle, Eine Tiroler Schützen-Kompagnie, S. 14f.
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gensatz zur Forderung des gesamtdeutschen Katholizismus nach einer möglichst weitreichenden Freiheit der Kirche vor staatlichen Ingerenzen, was, konsequent fortgedacht, letztlich in eine Kultusfreiheit münden musste, die allen Konfessionen in allen Teilen Deutschlands zu konzedieren war. Es war deshalb politisch wenig konsequent, diesen Grundsatz für mehrheitlich protestantische Territorien einzufordern, für Tirol aber abzulehnen. Dementsprechend fand Gassers Rede, bei allen Sympathien für Tirol, selbst bei den katholischen Abgeordneten in der Paulskirche kaum Unterstützung.1287 Zweitens verband gerade die militärisch-nationale Dimension der »Glaubenseinheit« das Bekenntnis zur deutschen Nation mit einer dynastischen Loyalität gegenüber der Habsburgermonarchie – beide wurden durch den Begriff jedoch zugleich politisch unterminiert bzw. relativiert. Denn die rechtliche Festsetzung der katholischen Monokonfessionalität Tirols baute auf eine autonomistische Tradition, die Landesrecht bzw. Landestraditionen über zentralstaatlich-nationale Forderungen und Erfordernisse hob.1288 Mit anderen Worten: »Glaubenseinheit« definierte Tirol als Teil einer übergeordneten Gemeinschaft, lehnte jedoch zugleich eine volle politisch-rechtliche Integration des Landes in diese entschieden ab. Festzuhalten ist jedoch, dass nach 1848 »Tirol« in der Selbst- und Fremdwahrnehmung, positiv oder pejorativ gedeutet, mit der konfessionell-religiösen Signatur »Glaubenseinheit« verbunden blieb.1289 Vor dem Hintergrund dieses semantischen Haushaltes und der politischen Verwendung von »Glaubenseinheit« überrascht es kaum, dass der Begriff im südlichen Tirol nur wenig Resonanz fand. Obwohl auch hier auf der Ebene der Landdekanate durchaus Vorbehalte gegen die Niederlassung Angehöriger anderer Konfessionen vorhanden waren,1290 diente die öffentliche Ablehnung der »Glaubenseinheit« vielmehr als willkommene Vorlage, um sich auch in religiösen Fragen vom deutschsprachigen Tirol abzugrenzen: »Dunque sia il nostro asilo la tolleranza« – kommentierte der liberale Priester Giovanni Bertanza die Frankfurter Debatte um die Tiroler »Glaubenseinheit«.1291 Im südlichen Tirol verkörperte dagegen, wie im restlichen italienischsprachigen Raum, Papst Pius IX. die Symbiose von Religion und Nation. Der liberale 1287 Mayer, Grossmacht, S. 100–102; Heiss/Götz, Revolution, S. 116–119. 1288 Vinzenz Gasser, Antwort auf das offene Sendschreiben an die tirolischen Abgeordneten zur deutschen Nationalversammlung, in: Kath. Bl. 6 (1848), S. 1489–1504; Ein Wort über die Freiheit der Kirche, ebenda, S. 1233–1239; Ein Votum bezüglich der dermaligen Zeitund Lebensfrage: Sollen Kirche und Staat völlig getrennt werden?, ebenda, S. 1398–1403; Gschließer, Einheitsbewegung, S. 73. 1289 Ospelt, Protestantenpatent; Huber, Papst, S. 375–378; [Siegmund], Aus dem Land der Glaubenseinheit. 1290 ADT, Libro B, 460, n. 948, Giannantonio Canestrini an f.b. Ordinariat Trient, 08. 05. 1848. 1291 »So sei also die Toleranz unser Asyl.« AAA, 1056.7, Giovanni Bertanza an Francesco Antonio Marsilli, 28. 08. 1848.
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Papstkult, der schon 1846 eingesetzt hatte, wurde im Frühjahr 1848 seinem öffentlichkeitswirksamen Höhepunkt zugeführt: In den ersten Revolutionsmonaten kamen Nation und Religion in der Person Pius’ IX. zur Deckungsgleichheit. Die revolutionäre Sprache war in Italien stark mit religiösen bzw. biblischen Motiven unterlegt, Geistliche wie Laien betrachteten die staatliche Einheit als »Erlösung« der geknechteten Nation, die Freiwilligen, die gegen Österreich in den Kampf zogen, bezeichneten sich selbst als »crociati«, als Kreuzzügler.1292 Dieser mit religiösem Pathos aufgeladene Nationalismus lässt sich 1848 auch im Trentino beobachten, selbst im offiziösen »Messaggiere« wurden Artikel mit »Viva Pio«- oder »Viva l’Italia redenta«-Ausrufen versehen. So gab die Zeitung in einem Bericht über konfiszierte Fahnen der »crociati« in großen, fetten Lettern deren Beschriftungen wieder, wie etwa »Viva Dio Redentor d’Italia« oder »Viva Italia Viva Risorta Immortale, Viva Pio IX« – die so gestaltete Zeitungsseite sah einem Flugblatt sehr ähnlich.1293 Der Mythos des liberalen Papstes hielt im südlichen Tirol, wie bereits erwähnt, auch nach der folgenreichen päpstlichen Allokution vom 29. April ungebrochen an. Der Frankfurter Abgeordnete Francesco Antonio Marsilli etwa versuchte noch im September 1848 mit Nachdruck den Roveretaner Philosophen Antonio Rosmini, der von der Turiner Regierung als Unterhändler nach Rom entsandt worden war, um den Papst für die Unabhängigkeit Italiens wiederzugewinnen, von der grundlegenden nationalen Bedeutung, die dem Katholizismus und Pius IX. innewohnten, zu überzeugen: »Da lui ebbe principio codesto sconvolgimento medesimo, abbia da lui un santo fine. Ei benedisce alla italiana libert/, e l’Italia sar/ libera se persiste fino alla fine nella benedizione di Pio. Ei proclamk il principio delle nazionalit/, e le nazioni se credono in lui usciranno dalla presente lotta europea, belle e distinte in nobli schiatte e famiglie, come furono belli di primordiale gioventF i primi padri dalla mano onnipossente di Dio.«1294
Selbst nach der Flucht Pius’ IX. aus Rom im Dezember 1848 hielten liberale Kleriker im Trentino am Axiom fest, dass ein freies, einiges und unabhängiges 1292 Francia, 1848, S. 142–154. 1293 Michele Antonio Lenzi, Lodrone e Caffaro presi d’assalto, MT Nr. 43, 22. 05. 1848; Oberkofler, Erlebtes und Vernommenes, S. 10f.; BSMTn, p. 5-n. 5, Cronaca di Trento del Prof. D. Giuseppe Sulzer dal Marzo all’Ottobre 1848, S. 1, S. 9. 1294 »Von ihm ging die gegenwärtige Erschütterung aus, er soll sie einem geheiligten Ende zuführen. Er segnete die italienische Freiheit, und Italien wird frei sein, wenn es bis zum Ende unter der Segnung Pius’ verharrt. Er rief das Prinzip der Nationalität aus, und die Nationen, wenn sie denn an ihn glauben, werden aus dem gegenwärtigen europäischen Kampf glänzend und in noblen Geschlechtern und Familien unterteilt hervortreten, gleich der frischen und ursprünglichen Jugendlichkeit der ersten Väter der allmächtigen Hand Gottes.« AAA, 1059.2, Francesco Antonio Marsilli an Antonio Rosmini, 24. 09. 1848; Chiesa, Carteggio politico, Zitat S. 222; Bonazza, Marsilli, S. 187f.
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Italien nur unter der Schirmherrschaft des Papstes entstehen könne.1295 Der Pius-Kult blieb im südlichen Tirol somit das Scharnier zur italienischen Kulturnation im Zeichen einer liberalen Katholizität. Erst der Konflikt um die weltliche Macht des Papstes, der sich 1848/49 bereits abzeichnete, 1859–1861 dann voll entbrannte, beendete auch im Trentino den liberalen Kult um Pius IX., der nunmehr als Verhinderer und Gegner der nationalen Einheit galt.1296 Eine vergleichbare öffentliche Bedeutung nahm Pius IX. im deutschsprachigen Tirol erst ab 1860 an, als ultramontane Katholiken aus ganz Europa sich mit dem bedrängten Papst solidarisierten, ja dieser zur ultramontanen Integrationsfigur schlechthin wurde.1297 Im Vormärz und 1848 spielten das Papsttum und Pius IX. für den deutschsprachigen Ultramontanismus Tirols dagegen, sieht man vom papstgefälligen Idealpriester der »Katholischen Blätter« ab, keine besondere Rolle – ja vielfach mussten Klerus und Laien, vor allem aber die im südlichen Landesteil kämpfenden Deutschtiroler Schützen im Frühjahr 1848 davon überzeugt werden, dass der Papst nicht mit den »crociati« gegen Tirol kämpfe bzw. nicht deren Waffen gesegnet habe. Einzelne Geistliche mussten in ihren Pfarren sogar gegen das Gerücht ankämpfen, der Papst sei »abgefallen.«1298 In Tirol, so lässt sich jedenfalls festhalten, existierten 1848, stärker noch als im Vormärz, zwei unterschiedliche, national bestimmte Konzeptionen des Papsttums. Die nationale Entzweiung der Katholizismen Tirols führte insbesondere in der Diözese Trient zu erheblichen Problemen. Die Kurie hatte, wie oben angesprochen, 1848 und 1849 nicht geringe Mühe ihren – teilweise mit risorgimentalen Ideen sympathisierenden und zu großen Teilen die sprachlich-nationale Aufteilung Tirols fordernden – subalternen Klerus zu disziplinieren und gegen die Vorwürfe der staatlichen Behörden in Schutz zu nehmen. Wiewohl sehr unterschiedliche Gründe zur Denuntiation der Kleriker führten, gingen die staatlichen Behörden selbst auf der Basis der vagesten Verdachtsmomente rigoros gegen die Priester vor. Diese kompromisslose Aktion der staatlichen Behörden erklärt sich zunächst dadurch, dass oftmals dem Klerus mehr Einfluss 1295 Giovanni Cimadomo, Pio IX, MT Nr. 122, 12. 12. 1848, S. 1–3. 1296 Huber, Papst, S. 382f.; Confronto storico fra l’Epoca del 1848–1861, MT Nr. 19, 19. 08. 1861; Reato [Hrsg.], Cattolici e liberali. 1297 Huber, Kulturkämpfer, S. 50f.; Seiler, Somatische Solidarität; Klieber, Ultramontanismus; Lamberts, Conservatives. 1298 DAB, KA 1848, Fs. 64/C, Zl. 1079, Dekanalamt Taufers, Bericht über Schützenkompanie und Feldkooperator, 20. 04. 1848; DAB, KA 1848, Fs. 64/A, Zl. 922, Bericht d. Cooperators Joseph Greuter in Flaurling den dort. Volksgeist betr., 09. 04. 1848; ebenda, Fs. 64/B, Zl. 1069, Joseph Greuter an f.b. Ordinariat, 19. 04. 1848; Zur Berichtigung einer verbreiteten irrigen Meinung, BTV Nr. 35, 17. 04. 1848, S. 180; Helfert, Landesvertheidigung, S. 162– 164; Fontana, Restauration, S. 704; Gschließer, Einheitsbewegung, S. 19f.; Holzem, Christentum in Deutschland, S. 970–975.
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auf die Landbevölkerung zugetraut wurde als den eigenen Vertretern. Schwerer wog jedoch, dass Klerus und Kirche 1848 als ehemalige Stützen des Staates in einigen Teilen der Monarchie, vor allem in den italienischsprachigen Territorien, zu einem potentiellen Faktor politischer Instabilität geworden waren.1299 Wie tiefgreifend die Nationalisierung die Trienter Diözesanstrukturen erfasste, zeigen nicht zuletzt die Zerwürfnisse zwischen deutschsprachigen und italienischsprachigen Studenten am Trienter Priesterseminar, die dazu führten, dass im Frühjahr 1848 die 56 deutschsprachigen Priesteramtskandidaten geschlossen eine Beurlaubung vom Studium in Trient beantragten.1300 Dass die Diözese Trient zwei Sprachgruppen umfasste, wurde 1848 zum politischen Problem, das das ganze weitere 19. Jahrhundert durchzog und zu erheblichen Spannungen zwischen Kirche und Staat und zwischen deutschen und italienischen Nationalisten führte.1301 Nationale Indifferenz oder gar ein binationales Selbstverständnis wurden dagegen als Verrat an der eigenen Nation gebrandmarkt.1302 Joseph Sulzer, ein Deutschtiroler Priester, der in Trient als Deutschlehrer wirkte und durchaus mit der neoguelfischen Vision sympathisierte, sich beiden Nationen zurechnete und 1848 den exaltierten Nationalismus auf beiden Seiten mit Süffisanz in seinem Tagebuch beschrieb, sah sich selbst persönlichen Anfeindungen ausgesetzt und fühlte sich in Trient schlichtweg als »nationales Amphibium«.1303 Auch Priester mussten sich nunmehr zu einer der beiden Nationen Tirols bekennen. Die Revolution führte im deutschen wie im italienischen Tirol zu einer Intensivierung bereits latent bestehender nationaler Differenzierungen. Der Katholizismus wirkte als Katalysator, der nationale Selbstbeschreibungen bündelte und dadurch breiteren Bevölkerungsgruppen zugänglich machte. Italienischsprachige Kleriker etwa solidarisierten mit der italienischen Nationalbewegung und bewarben offen die Teilung Tirols auf der Grundlage nationaler Parameter. Die Politisierungs- und Medialisierungsschübe der Religion verstärkten diese Amalgamierungsprozesse: Es waren die Grenzkatholizismen als öffentliche Religionen und nicht die kirchlichen Strukturen, die die Nationsentwürfe bereitstellten und popularisierten. Die zentralen Semantiken »Glaubenseinheit« und »Pio Nono« profitierten von den neuen medialen Möglichkeiten und der Politisierung der Gesellschaft, die sich in Wahlkämpfen, öffentlich zugänglichen 1299 Lazzaretto, Clero, S. 391–393. 1300 ADT, Libro B, 460, n. 1065, 56 Theologen an f.b. Ordinariat, 01. 04. 1848; ebenda, 463, n. 2896, Deutsche Theologen an f.b. Ordinariat, 30. 09. 1848; ebenda, n. 3183; Oberkofler, Erlebtes und Vernommenes, S. 18–21. 1301 Skraup, Bestrebungen. 1302 Judson, Borderlands, S. 27. 1303 BSMTn, p. 5-n. 5, Cronaca di Trento del Prof. D. Giuseppe Sulzer dal Marzo all’Ottobre 1848, S. 45f.
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parlamentarischen Versammlungen, Massenpetitionen und Vereinen manifestierte. Als öffentliche Religionen gelang es den Grenzkatholizismen, unter den Bedingungen der Revolution weiterhin gesellschaftliche Sichtbarkeit und Relevanz zu behalten. Den Ordinariaten blieb die weitgehend passive Rolle als logistische Drehschreiben, sie vermochten diese Prozesse nicht mehr zu steuern, die öffentliche Deutungshoheit über Religion war ihnen entglitten. Erst das restriktive Regime des Neoabsolutismus ab 1850 und die Neuinstallierung des Staatskirchentums durch das Konkordat 1855 begründeten den gesellschaftlichen Einfluss der kirchlichen Strukturen neu und nachhaltig. Es waren jedoch zwei Protagonisten der öffentlichen Religionen des Vormärz und von 1848, Benedetto de Riccabona und vor allem Vinzenz Gasser, die die verknöcherten Diözesanstrukturen Trients und Brixens mit einem öffentlichkeitswirksameren Design versahen, indem sie über neue Medien mit dem Klerus und ihren Diözesanangehörigen kommunizierten. Die so ab 1860 entstehenden »Kulturkampf-Katholizismen« überwanden die vormärzliche Unterscheidung zwischen öffentlicher und institutionalisierter Religion, ja sie brachten beide Formen zur Deckungsgleichheit.1304 »1848« lässt sich somit, wenn überhaupt, nur mit erheblichen Vorbehalten als »Revolution der Religion« bezeichnen. Die Grenzkatholizismen spielten in Tirol unzweifelhaft eine zentrale politische und soziale Rolle und bestimmten das Revolutionsgeschehen erheblich mit. Die öffentliche Form der Religion, sieht man von der Möglichkeit der Vereinsbildung ab, änderte sich 1848 jedoch nicht grundsätzlich – ihre Medien, ihre Verhältnisbestimmung zu Politik, Staat und Nation bestanden im Grunde bereits im vorrevolutionären Jahrzehnt. Die Revolution änderte lediglich die Rahmenbedingungen, in denen sich die Grenzkatholizismen als öffentliche Religionen entfalten konnten: Ihre mediale Vermittlung wurde pluraler, ihre politischen Einflussmöglichkeiten größer, ihre Nationsentwürfe anschlussfähiger. »1848« erscheint aus dieser Perspektive weniger als Zäsur, sondern vielmehr als Höhepunkt einer Entwicklung, die nach 1830 einsetzte.1305 Wie Andreas Holzem festhält, müssen Zäsuren und Entwicklungen der politischen und religiösen Geschichte keineswegs deckungsgleich sein, ja vielmehr »leide« die Religionsgeschichte darunter, im politikgeschichtlichen Gehege erforscht zu werden.1306 Der vormärzliche Formenwandel der Religion fand nicht 1848, sondern 1852 sein Ende.
1304 Zieger, Stampa, S. 27–96; Huber, Kulturkämpfer, S. 49f.; Breit, Pressewesen, S. 27–90. 1305 Bereits Gsteu, Landtag, S. 131, stellte fest: »Das Revolutionsjahr hat nichts Neues aufs Programm gebracht, sondern die bestehende Spannung nur ausgelöst.« 1306 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 20.
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9.5. Der »lange« Vormärz der Grenzkatholizismen Tirols Diese Arbeit handelt davon, wie Religion in einer multiplen, bikulturellen Grenzregion am Westrand der Habsburgermonarchie und unter den politischen, staatlichen und medialen Bedingungen des »langen« Vormärz sich selbst und ihre Umwelt wahrgenommen hat. Sie verfolgt dabei drei Ziele: Auf einer regionalhistorischen Ebene befasst sie sich zunächst mit der Frage, weshalb und wie es den Katholizismen in Tirol gelang, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein politische und moralische Deutungsmacht zu behaupten, allen europäischen Säkularisierungsbefunden zum Trotz. Sie versucht zweitens, die binnenkatholischen Differenzierungsprozesse Tirols zu beschreiben, die die Vorstellung vom katholischen Milieu-Monolithen deutlich in Frage stellen. Der Katholizismus war auch im 19. Jahrhundert eine gesellschaftlich wirkmächtige Kraft, aber keineswegs eine einförmige – Ultramontanisierung konnte, musste aber nicht zu einer Marginalisierung anderer katholischer Richtungen führen. Drittens schließlich will diese Arbeit die Erträge der Katholizismusgeschichte mit Fragestellungen der Grenzraumforschung und der Mediengeschichte kombinieren. Dieser Zuschnitt erlaubt es, den religiösen Formenwandel in einer europäischen Grenzregion darzustellen, der bereits in den 1830er Jahren einsetzte, maßgeblich von transnationalen Bezügen geprägt und von neuen medialen Formaten getragen wurde. In gewissem Sinne gilt also auch für die vormärzliche Geschichte der Tiroler Grenzkatholizismen der berühmte Aphorismus Marshall McLuhans, »the medium is the message«: Mediale Grundbedingungen und die damit verbundenen Formen von »Öffentlichkeit«, die sich in der Steigerung von einer »passiven«, über eine »Teil«- bzw. »Ersatzöffentlichkeit« hin zur »aktiven« Öffentlichkeit des Jahres 1848 festmachen lassen, prägten die Form der Religion ganz erheblich. Mehrere Befunde lassen sich an dieser Stelle zusammenfassend festhalten. Zunächst konnte in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt werden, dass der historisch kontingente mediale Kontext die gesellschaftliche Erscheinung von Religion maßgeblich beeinflusste. Für den habsburgischen Vormärz gilt mithin, dass das Zensursystem nicht nur eine repressive, sondern auch eine produktive Funktion hatte, die auch auf die Katholizismen entscheidend einwirkte. Die Zensur unterband religiöse Kommunikation nicht, sie kanalisierte sie vielmehr. Priester wie Laien entwickelten ein erstaunlich vielfältiges mediales Repertoire, das erst unter den Bedingungen der vormärzlichen Zensur notwendig und möglich wurde. Die Rolle des Staates als kommunikativer Akteur änderte sich dabei selbst fundamental: Konnte er in den 1830er Jahren überpersonale Kommunikation relativ eigenmächtig reglementieren, so war er im Vorfeld der Revolution 1848 gezwungen – wollte er seinen Einfluss auf die emergierende
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politische Öffentlichkeit behaupten –, sich als gleichberechtiger Akteur in kommunikative Netzwerke einzuschalten.1307 Diese mediale Konfiguration bedingte sodann, dass sich die Grenzkatholizismen in unterschiedlichen Kommunikationsräumen vollzogen, die nicht von den Staats-, Landes- oder Diözesangrenzen, sondern von den unterschiedlichen medialen Reichweiten begrenzt wurden. So wurden im deutschsprachigen Tirol konfessionalistische Diskurse aus mehrkonfessionellen Gesellschaften übernommen, die im italienischen Teil des Kronlandes bedeutungslos blieben. Hier wiederum ermöglichten Ersatzöffentlichkeiten den Anschluss an die italienische Nation im Zeichen des liberalen Katholizismus. So wurde in der Trienter Agrarzeitschrift – wie im restlichen, österreichischen und außerösterreichischen Italien – »ozio« als unitalienisches und unchristliches Verhalten gebrandmarkt und der Landbevölkerung eine arbeitssame, moralisch integre Lebensführung angeraten, die wirtschaftlichen und sittlichen Aufschwung verspreche. Die Kommunikationsräume in der Region waren somit nicht abgeschlossene Entitäten, sondern konstituierten sich vielfach erst aufgrund transregionaler und transnationaler Transfers. Wichtig ist hier jedoch festzuhalten, dass der Weg zu »öffentlichen Religionen« kein linearer, teleologisch vorgezeichneter war. Gerade das Tiroler Fallbespiel zeigt, dass die Bedingungen und Möglichkeiten der religiösen Kommunikation selbst auf engstem Raum stark variieren und Religionen auf unterschiedliche Weise »öffentlich« werden konnten. Eine gemeinsame Konsequenz dieser unterschiedlichen Formen von öffentlichen Religionen war jedoch, dass religiöse Kommunikation nicht mehr ausschließlich in institutionellen, kirchlichen Kommunikationssituationen stattfand, sondern auch in außerreligiösen Feldern, wie etwa den agrarischen, statistisch-historischen oder literarischen Diskursen. Dies lässt sich am besten am Beispiel der nahezu zeitgleichen Konstruktion von priesterlichen Idealtypen in den 1840er Jahren beschreiben: Wie sich ein Priester verhalten, welchem Selbstbild er verpflichtet sein und welches Verhältnis er zu seiner Gemeinde, dem Staat und der nationalen Gemeinschaft pflegen sollte, wurde nicht mehr ausschließlich in den Priesterseminaren, in den bischöflichen Konsistorien oder in pastoraltheologischen Fachpublikationen ausgehandelt, sondern auch mehr oder weniger öffentlich in den »Katholischen Blättern«, dem »Giornale agrario« oder in der »Accademia degli Agiati«. Die binnenkatholischen Ausdifferenzierungen Tirols waren schließlich, durchaus im Sinn einer Geteilten Geschichte, elementar miteinander verflochten. Die Grenzkatholizismen waren mithin ko-konstitutiv, sie beobachteten und bedingten sich gegenseitig. Das Tiroler Fallbeispiel bestätigt die These Stefan Gerbers, dass die »Auseinandersetzung mit dem konfessionell Anderen immer 1307 Brunn, Repression.
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auch eine Kampfansage nach ›innen‹ war«:1308 Wenn sich Deutschtiroler Ultramontane als Nicht-Protestanten definierten, so nahm der liberale Katholizismus im südlichen Landesteil eine offene, möglichst konziliante Haltung zu anderen Konfessionen ein – er definierte sich damit gleichsam auch als »Nicht-Ultramontanismus«. Diese binnenkatholische Grenzziehung war nicht alleine der politischen Differenzierung zwischen liberal/ultramontan geschuldet, sondern wohl im selben Maße auch den regionalen Rahmenbedingungen in der tirolischen Grenzregion, die geprägt war von Beziehungen in den deutschsprachigen Norden und in den italienischen Süden – wobei die Grenzkatholizismen selbst vielfach als Akteure des interregionalen und transnationalen Transfers wirkten. Unter den Bedingungen des obrigkeitsstaatlichen Experimentes des »Kronlandes Tirol«, das als multiples Grenzland zu verstehen ist, bildeten sich mehrere, miteinander verbundene, öffentlich bzw. paraöffentlich (in der Roveretaner Akademie etwa) geführte Debatten um das kulturelle und nationale Gefüge dieses bürokratischen Kunstgebildes aus, denen sich auch die Grenzkatholizismen nicht entziehen konnten. In diesen vormärzlichen Deutungskämpfen, die sich in ähnlicher Form auch in anderen Teilen der Monarchie zutrugen,1309 nahm Religion nicht nur einen besonderen Stellenwert ein, sondern wandelte ihre öffentliche Erscheinung, da sie mit politischen und nationalen Bedeutungen aufgeladen wurde. So konnte ein konservativer, ultramontaner und »deutscher« Katholizismus im nördlichen Landesteil eine hegemoniale Stellung einnehmen, während ein »italienischer«, liberal-neoguelfischer Katholizismus im italienischen Tirol öffentlich dominant wurde – »Glaubenseinheit« und »Pio IX« sind als Chiffren dieser öffentlichen Katholizismen zu verstehen. Wiewohl sich die Vorstellungen von Kirche und Religiosität des liberalen Reformkatholizismus im deutschen Landesteil und des Neoguelfismus im südlichen Tirol sehr ähnlich waren, verhinderten deren markant voneinander abweichenden Papstbilder eine engere, womöglich antiultramontane Kooperation. Während der deutsche Reformkatholizismus aus ekklesiologischen, aber auch aus nationalen bzw. nationalkirchlichen Gründen ein inner- und außerkirchlich dominantes Papsttum ablehnte, war ein solches für die neoguelfischen Trentiner nicht nur die Grundlage der nationalen Einigung, sondern auch ein Schutzwall gegen den staatskirchlichen Dirigismus. Die literarischen und historischen Verarbeitungen des Investiturstreites, die Joseph Streiter und Giovanni a Prato 1844 präsentierten, zeigen diese grundverschiedenen Papstkonzeptionen in aller Deutlichkeit auf: In Joseph Streiters Drama spielt Gregor VII. den gebieterischen, in weltliche Bereiche hineinregierenden, seine Kompetenzen maßlos überschreitenden und die nationalen Rechte »Deutschlands« verletztenden Tyrannen, 1308 Gerber, Die Mutter aller Revolutionen, S. 418. 1309 Hösler, Krain.
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während ihn Giovanni a Prato in seiner historischen Abhandlung als wackeren Verteidiger der Kirche und der Religion zeichnet. Eine wirkliche Annäherung erfolgte erst nach 1860, als der Liberalkatholizismus im deutschsprachigen Tirol öffentlich völlig marginalisiert war und die liberalen Katholiken im südlichen Tirol, nunmehr unter den Vorzeichen der römischen Frage, sich innerkirchlich, aber auch in politischer und nationaler Hinsicht ganz vom Papsttum abgewandt hatten. Allerdings hatte diese Übereinkunft keine religiöse Grundlage mehr, sondern eine rein politische, antiultramontane und antislawische im Zeichen der habsburgischen Kulturkämpfe.1310 Die Auseinandersetzung mit den Grenzkatholizismen macht aber auch deutlich, dass die »Nation« keineswegs nur die Sache liberaler Katholiken war, sondern auch im ultramontanen Wertekanon eine außerordentlich große Rolle spielte. Wiewohl für den Vormärz bislang nur wenige Vergleichsstudien vorliegen, lässt sich zumindest für die Ultramontanen Tirols festhalten, dass sich diese, je näher das Revolutionsjahr 1848 heranrückte, immer stärker als Teil einer »deutschen« Nation verstanden. Dabei waren es gerade religiös-konfessionelle Prämissen, die zu einer spezifisch ultramontanen Vorstellung von der Nation führten: Durch die Reformation konfessionell gespalten, könne die deutsche Nation – und damit ein deutscher Nationalstaat – erst durch die Überwindung der konfessionellen Teilung geeint werden. Der Idealzustand der Deutschen war demnach eine vorreformatorisch-ständische Urgesellschaft, die, ganz im Sinne der Romantik, im Mittelalter gefunden wurde. Konfessionelle Bezüge definierten aber auch die Zugehörigkeit Tirols zur gespaltenen deutschen Nation: Als eines der wenigen »glaubenseinheitlichen« Länder verkörpere Tirol diese mittelalterliche deutsche Nation und sei gleichermaßen deren Schutzwall gegen Italien.1311 Das »glaubenseinige«, wehrhafte Tirol galt den Ultramontanen nach 1848 als unpassierbare Grenzmark gegen den revolutionären italienischen Süden, die für die Habsburgermonarchie wie auch für Deutschland von existentieller Bedeutung sei. Tirol verkörpere als »Unikum«, als einziges deutsches konfessionell geschlossenes Land die Stärke und Größe des vorreformatorischen deutschen Reiches und sei schon deshalb als nationales Bollwerk im Süden bewahrenswert.1312 Wenn also ein ultramontaner Tiroler im »Sängerkrieg« »[f]ür uns gibt es kein Deutschthum ohne Katholicismus« tönte,1313 dann durchaus in programmatischer Absicht. Für die Ultramontanen Tirols lässt sich somit bereits für den 1310 Götz, Bürgertum, S. 440–518. 1311 Holzem, Christentum in Deutschland, S. 1099–1103. 1312 Die Kath. Glaubenseinheit in Tirol, S. 3; Freisinnigkeit und Freizügigkeit, in: Kath. Bl. 18 (1860), S. 90–93; [Häusle], Tyrol und der Protestantismus, S. 21–23, Zitat S. 30; Menzel, Preußen und Oesterreich, S. 54. 1313 S. 311.
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Vormärz nicht eine »Nationalisierung trotz Ultramontanisierung«, sondern vielmehr eine »Nationalisierung als Ultramontanisierung« konstatieren: Der Katholizismus war den Strengkirchlichen Tirols Schlüssel und Scharnier zur deutschen Nation.1314 Die Katholizismen Tirols – und mit ihnen das Kronland insgesamt – waren somit Teil der deutsch-österreichischen und der italienischen Geschichte.1315 Daran schließt sich jedoch die Frage, welche Rollen »Tirol« und »Trentino« in den jeweiligen National-Geschichten einnahmen und darüber hinaus jene nach ihrer grenzregionalen Qualität: Wenn »Tirol« und »Trentino« sowie ihre Anbindung an größere nationale Einheiten vormärzliche Konstrukte sind, die der regionalgeschichtliche Betrachter retrospektiv beschreibt und damit erneut konstruiert, stellt sich das klassische regionalgeschichtliche Problem der schlichten Beliebigkeit, mit der Regionen geschaffen werden, indem sie historisch analysiert werden. Machte es nicht genauso viel Sinn, anstatt mit großem Aufwand das gesamte Kronland unter die Lupe zu nehmen, »Tirol« oder das »Trentino« bzw. die Diözesen Brixen oder Trient getrennt zu erforschen – und damit in die Bahnen der getrennten regionalen Historiographien Trentino-Tirols des 19. und 20. Jahrhunderts zurückzukehren? Oder andersherum gewendet: Welchen übergeordneten Erkenntnisgewinn verspräche es, eine mehr oder minder willkürlich entstandene, politisch-staatliche Verwaltungseinheit »Kronland Tirol« als räumlichen Analyserahmen heranzuziehen – und sie damit in der Rückblende als Region historiographisch festzuschreiben? Will man der (regional-)geschichtlichen Forschung stets die Arbeit an heuristischen Konstrukten zugestehen, dann zeigt die Beschäftigung mit den Grenzkatholizismen Tirols, dass die Regionalität dieser Region – und damit ihr heuristischer Mehrwert – eben in ihrem Grenzcharakter, ihrem unsicheren, stets erklärungsbedürftigen Sein zwischen »Italien«, »Deutschland« und »Österreich« liegt. Man könnte die Region »Tirol« also, in Anlehnung an Jürgen Osterhammel, als Raum verdichteter grenzregionaler Interaktionen definieren, solcher also, die von den diversen Grenzregimes ermöglicht bzw. bedingt, in ihrem Namen vollzogen und gedeutet wurden.1316 Wie zuletzt festgehalten wurde, machen Grenzen alleine noch keine Grenzregionen aus, sondern eben vielmehr die grenzregionalen Kulturen, die in diesen Regionen entstehen und die auch in religionsgeschichtlicher Perspektive beschrieben und dargestellt werden können.1317 Gerade deshalb ist es sinnvoll, beide Seiten der inneren Grenze Tirols, die Gesamtregion – jedoch mit ihren äußeren Bezügen – in den Blick zu nehmen. 1314 1315 1316 1317
Stambolis, Nationalisierung trotz Ultramontanisierung. Götz, Bürgertum, S. 526–529. Osterhammel, Verwandlung, S. 156. Readman/Radding/Bryant, Borderlands, insbesondere S. 3.
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Hebt man auf die Beobachtungen und Wahrnehmungen der Zeitgenossen ab, dann war es gerade das Bewusstsein, in einem sprachlichen, klimatischen, politischen, kirchlichen und staatlichen Grenzraum zu leben, das wohl die meisten Bewohner des Kronlandes teilten. Freilich war dies gerade in der europäischen Vormoderne keine Besonderheit, sondern eher die Regel. Während jedoch in West- und Mitteleuropa viele dieser Grenzen um 1800 wegfielen, wurden sie in Tirol und in anderen, vor allem mittelost- und osteuropäischen Grenzregionen, geradezu potenziert: Staatliche Grenzen erhielten Geltungskraft bislang unbekannten Ausmaßes, Sprach- und Kulturgrenzen wurden zu nationalen Demarkationslinien. Keines dieser Grenzregimes war naturgegeben, selbst »natürliche Grenzen« nicht – ihre raumbegrenzende Qualität erhielten sie durch menschliche Zuschreibungen und standen dabei, wie Thomas Kühne betont, in einem Verhältnis permanenter Rivalität, die nicht nur Formen verbaler, sondern gegen Ende des 19. und in eklatantem Ausmaß im 20. Jahrhundert auch physischer Gewalt annahmen.1318 Religion jedenfalls stand zu diesen Prozessen der Be- und Entgrenzung in einem komplexen Wechselverhältnis: Einerseits wurde sie von den Grenzregimes geprägt, andererseits agierte sie selbst als wichtiger grenzregulierender Akteur. Moderne Religion war indes nicht nur an der Konstruktion und Aufrechterhaltung von Grenzregionen beteiligt – Medialisierung, Politisierung und Nationalisierung versetzten die Katholizismen Tirols auch in die Lage, in säkulären, außerreligiösen Bereichen an Deutungsmacht zu gewinnen, sie gleichsam religiös zu markieren. Es geht hier nicht darum, die Katholizismen als Gewinner oder Verlierer der Moderne hinzustellen, sondern zu rekapitulieren, inwieweit sie durch ihre neue gesellschaftliche Relevanz ihr Gesicht veränderten, sich dabei Säkularisierung aussetzten und zur politischen und nationalen Option gerieten: Indem Katholiken beispielsweise Rechtgläubigkeit mit bestimmen politischen, wirtschaftlichen oder moralischen Zielvorstellungen verbanden, wurde sie beliebig. Dies lässt sich am besten anhand der in dieser Arbeit am wenigsten berücksichtigten katholischen Gruppierung, dem deutschsprachigen liberalen Katholizismus, darlegen. Nicht die innerreligiöse bzw. innerkirchliche Dominanz des Ultramontanismus, sondern vor allem seine Fähigkeit, in hochgradig konfliktreichen Bereichen wie Politik, Bildung oder Wissenschaft als Stimme der Kirche und der Religion aufzutreten, führte zur graduellen Entfremdung liberaler Katholiken, wie etwa Joseph Streiters oder Sebastian Rufs, von der in der zweiten Jahrhunderthälfte institutionalisierten ultramontanen Katholizität. Sie mögen ihren Glauben privat weitergelebt haben, aber öffentlich äußerten sie sich nach 1848 nicht mehr zu religiösem Fragen. Auch sie waren 1318 Kühne, Region, S. 260f.; Bloetevogel, Region, S. 52; Paulmann, Regionen; Stauber, Zentralstaat, S. 55–60; Bartov/Weitz [Hrsg.], Shatterzone.
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jedoch Teil der Geschichte der Säkularisierung, wie sie hier beschrieben wurde. Als veränderte Beobachtungsform der Religion, die in medialisierter Form öffentlich wurde, lässt sich diese auf regionaler Ebene als komplexes Zusammenspiel endogener und exogener Faktoren beschreiben. Der liberalkatholische Antijesuitismus etwa war im deutschsprachigen Tirol ein wirkmächtiger Faktor der Ultramontanisierung, ebenso wie die Beobachtung der protestantischen Umwelt. Aber auch andere Umstände schlugen sich hier nieder : Der vormärzliche Staat, getragen vom »monarchischen Prinzip«, wies der Religion und den Kirchen eine säkuläre, politisch-moralische Funktion zu. Nationale Vergemeinschaftungsformen drohten darüber hinaus ältere, christliche Gesellschaftsmodelle zu ersetzen. Die Katholizismen reagierten in unterschiedlicher Weise auf diese Grundprozesse, indem sie Säkularisate aufnahmen, sich auf neue Medien stützten, öffentlich wurden. Man sollte die modernen öffentlichen Katholizismen jedoch nicht als schlichte Reaktionen auf antikatholische, politische oder nationalistische Säkularisierungsbestrebungen verstehen, sondern vielmehr auch als Agenten dieser Prozesse. Ultramontanismus und Neoguelfismus, die beiden dominanten Formen öffentlicher Katholizität in Tirol am Ende des Vormärz, trugen selbst enorm zur Selbstverweltlichung der Religion bei: Sie entzogen den institutionalisierten Kirchen die öffentliche Deutungshoheit über Religion, objektivierten sich selbst durch statistische Selbstbeschreibungen und behandelten auf religiöser Grundlage politische, wirtschaftliche und moralische Probleme. Die beiden Priester Beda Weber und Gioseffo Pinamonti beschrieben auf dieser Basis gar ganze Regionen und deren Bevölkerung. Sie und zahlreiche andere, vor allem nach oder um 1800 geborene Tiroler Priester wirkten, in freier Anlehnung an eine poinierte Forderung, die im Zusammenhang mit der Ausbildung des Pastor bonus in den »Katholischen Blättern« geäußert wurde, in dieser Welt und mit dieser Welt.1319 Diese Arbeit streift viele dieser Prozesse nur am Rande, ergründet vieles nicht mit der gebotenen analytischen Tiefe. Sie vernachlässigt weitgehend die bürgerlichen Religionswelten der deutschsprachigen liberalen Katholiken, leistet ebensowenig eine Sozial- bzw. Mikrogeschichte der Ultramontanisierung, wie sie eine nähere Darstellung der massiven Volksmissionierungen der 1840er Jahre bieten könnte. Antikatholische Positionen, die es selbst im »Heiligen Land« Tirol gab, werden vielfach nur angespochen, aber nicht eingehend analysiert. So gälte es insbesondere den lyrischen Antijesuitismus näher zu beschreiben, ihn literaturhistorisch zu kontextualisieren und nach seinen europäischen Anbindungen zu fragen. Aber auch das religiöse Medium der Menschenmasse, das nicht nur in den Volksmissionen, sondern auch in den drei Massenveranstaltungen 1319 Bild des katholischen Seelsorgspriesters, in: Kath. Bl. 3 (1845), S. 439–443, S. 441.
Der »lange« Vormärz der Grenzkatholizismen Tirols
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des Jahres 1845, als insgesamt über 125.000 Gläubige in St. Georgenberg, Bozen und Trient zusammenkamen, erst recht aber um 1848 bemüht wurde, verdiente eine eingehendere Untersuchung. Diese Studie muss sich damit begnügen, wahrscheinlich mehr Problemkomplexe eröffnet, denn geschlossen zu haben, im Idealfall aber auch: zu weiteren Forschungen anzuregen.
Abkürzungsverzeichnis
AAA AC ADT AfS AHR AKG AKKZG AMK Anm. AP APT ASR AST AT AZ BDLG BCT BPB BSMTn BTV DAB DAL DASP DBE Ders./Dies. DS EHQ EKZ F.B. FS/Fasz. GdT GG GR/SR
Archivio dell’Accademia degli Agiati, Rovereto L’Amico Cattolico, Mailand Archivio Diocesano Tridentino, Trient Archiv für Sozialgeschichte The American Historical Review Archiv für Kulturgeschichte Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte, Münster Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte Anmerkung Augsburger Postzeitung Archivio Provinciale di Trento Archivio Storico, Rovereto Archivio di Stato di Trento Archivio Trentino Allgemeine Zeitung, Augsburg Blätter für deutsche Landesgeschichte Biblioteca Comunale di Trento Bibliothek des Priesterseminars, Brixen Biblioteca del Seminario Minore, Trient Bothe von und für Tirol und Vorarlberg, Innsbruck Diözesanarchiv Brixen Diözesanarchiv Limburg Diözesanarchiv St. Pölten Deutsche Biographische Enzyklopädie Derselbe/Dieselbe Der Schlern European History Quarterly Evangelische Kirchen-Zeitung, Berlin Ferdinandeums-Bibliothek Faszikel Giornale del Trentino, Trient Geschichte und Gesellschaft Geschichte und Region/Storia e regione
364 HdA HHStA HJ HZ InnZ JAH JGPÖ
JMH JMIS KA Kath.Bl. KZfSS MIÖG MT N. F. NL NZF o. O. o. J. ÖAK ÖBL QFIAB RHM RSR StABz Sign. Sp. STSS SZG SZKRG TLA TLMF TS VC WZGN ZHF ZKTh Zl. ZBLG ZRGG ZSKG
Abkürzungsverzeichnis
Histoire des Alpes – Storia delle Alpi – Geschichte der Alpen Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien Historisches Jahrbuch Historische Zeitschrift Innsbrucker Zeitung The Journal of American History Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich, bis 1979 Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich The Journal of Modern History Journal of Modern Italian Studies Konsistorialakten Katholische Blätter aus Tirol, Innsbruck Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Il Messaggiere Tirolese, Rovereto Neue Folge Nachlass Neue Zeitschrift des Ferdinandeums, Innsbruck ohne Ortsangabe ohne Jahresangabe Österreichisches Archiv für Kirchenrecht Österreichisches Biographisches Lexikon Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken Römische Historische Mitteilungen Rassegna Storica del Risorgimento Stadtarchiv Bozen Signatur Spalte Studi Trentini di Scienze Storiche Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Schweizerische Zeitschrift für Kultur- und Religionsgeschichte Tiroler Landesarchiv, Innsbruck Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck Tiroler Stimmen, Innsbruck La Voce Cattolica, Trient Wiener Zeitschrift für die Geschichte der Neuzeit Zeitschrift für Historische Forschung Zeitschrift für katholische Theologie Zahl Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte
Abbildungsverzeichnis
S. 58 – Karte von Tirol, ca. 1860, TLA, Geheime Präsidiale, Fasz. II, Sign. XXI, 1 (III), Diözesanregulierung ca. 1860–1866. S. 98 – Mathias Schmid, Die Karrenzieher, 1872, in: Die Gartenlaube 1873, Nr. 38, S. 619. S. 99 – Mathias Schmid, Die Vertreibung der Zillertaler Protestanten im Jahre 1837. Der letzte Blick in die Heimat, 1877, Tiroler Landesmuseen, Innsbruck, Kunstgeschichtliche Sammlungen (bis 1900), Inv. Nr. Gem 3718, Foto: FrischaufBild, Innsbruck. S. 137 – Die Protestanten in Tyrol, Allgemeine Kirchen-Zeitung, Nr. 193, 05. 12. 1835. S. 137 – Die evangelischen Zillerthaler in Tyrol, Herold des Glaubens Nr. 14, 02. 12. 1837. S. 138 – Einführung der Tyroler aus dem Zillerthale in die evangelische Kirche zu Schmiedeberg, am 8ten N. 1837, Blicke in die Christenwelt, [Berlin 1838]. S. 139 – Georg Friedrich Heinrich Rheinwald, The Protestant Exiles of Zillerthal; their persecutions and expatriation from the Tyrol, on separating from the romish church and embracing the reforming faith. Translated from the German of Dr. Rheinwald of Berlin by John B. Saunders, London 1840. S. 143 – Johann Fleidl, aus Pichel im Landgericht Zell, Deputirter der evangelischen Zillerthaler. Gemalt et. lithographirt von E. W. Knippel, abgedruckt in Gustav Hahn, Die Zillertaler im Riesengebirge, Schmiedeberg im Riesengebirge 1887. Ich danke Wilfried Beimrohr für diesen Hinweis.
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368
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3.
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5.
Archivio di Stato, Trento (AST)
Giudizio distrettuale di Fondo, Atti presidiali, b. 67 (1844–1856). Fondo Giovanni Battista a Prato, 1816–1883, 100.3.
6.
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Ms. 2160, Polemica sulla trentina letteratura del secolo XIX. Ms. 2070, [Gioseffo Pinamonti], Nota de’ libri, che ho dato, o ricevuto in prestanza Ms. 2036. Ms. 2064. Ms. 2075, Gioseffo Pinamonti, Costituzione della cristiana cattolica chiesa, e sua dottrina intorno agli obblighi e diritti de’cittadini, e dei loro Reggitori.
7.
Archivio dell’Accademia degli Agiati, Rovereto (AAA)
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Ungedruckte Quellen
369
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8.
Archivio Provinciale, Trento (APT)
Archivio Thun, D. 30.1; 30.2; 30.3; 31.1; 31.2; 32.1; 33,1; 33.3.
9.
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10.
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11.
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Staatskanzlei ad. Polizei, 56 alt 75, 1812–1837, Fasz. 75.
12.
Diözesanarchiv St. Pölten (DASP)
I/03–01, NL Fessler, 03, 04.
13.
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FF3, 10, 4.
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370 15.
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Personenregister
Alexander, Helmut 51 Allemandi, Michele Napoleone 334 Altermatt, Urs 20, 42 Amberg, Johann 331–333, 338, 340 Andlaw-Birseck, Heinrich Bernhard von 16, Anm. 25 Angeli, Giovanni 197, Anm. 715 Appelius, Karl Theodor 150 Arndt, Johann 106 Arnoldi, Wilhelm 221 Azzolini, Giambattista 246 Bahlcke, Joachim 155f. Balbo, Cesare 48f., 270f. Balisti, Antonio 249, Anm. 916 Bast, Helga 100 Bast, Horst 100 Battisti, Cesare 61 Behschnitt, Wolfgang 178f., 184, 189 Beltrami, Giambattista (Giovanni Battista) 254f. Beltrami, Giampietro (Pietro) 244, 246 Benedikt XVI., Papst 12 Benvenuti, Sergio 13 Benz, Robert von 76, 153f., 278 Bertanza, Giovanni 244, 247, 250, 255f., 260f., 267, 317, 349 Betta, Ferdinando 310f. Bibl, Viktor 99f., 103, Anm. 341, 115f., 117, Anm. 394 Blaas, Mercedes 51 Blaschke, Olaf 21, 120, 211 Blessing, Werner K. 62, 182
Blum, Peter Joseph 172, 174 Bolza, Giovanni Battista 235 Bolzano, Bernard 87f. Bonazza, Marcello 240 Borutta, Manuel 15, 27, 41, 54 Boscarolli, Gaetano 197, Anm. 715 Bösch, Frank 32f. Bowman, William D. 49 Boyer, John W. 49 Brandis, Clemens von 76, 84, 159, 201, 204f., 230, 278f., 287–289, 294f., 299 Bresciani, Antonio 16, Anm. 25 Bretschneider, Karl Gottlieb 219f. Brown, Callum G. 27f., 225, 228 Brunati, Filippo 197 Brunet, Francesca 77 Buffa, Familie 169 Buol-Schauenstein, Karl Rudolf 79 Buß, Franz Joseph 16, Anm. 25 Calvin, Jean 160 Campagna, Giambattista 310f. Candeloro, Giorgio 47f. CantF, Cesare 260 Capponi, Gino 236 Carrer, Luigi Erminio 245, Anm. 894 Casanova, JosH 16, Anm. 24, 33, 118 Cesari, Antonio 243, Anm. 887 Chowanetz, Joseph Johann 90 Cimadomo, Giovanni 325f., 345f. Clark, Christopher 20, 275 Cole, Laurence 51, 61 Colloredo, Hieronymus von 109
422
Personenregister
Constant, Benjamin 258 Corsini, Umberto 267 Cristofori, Pietro 246 Curzel, Emanuele 51 Dahlmann, Friedrich Christoph 174 Dahrendorf, Ralf 153, Anm. 534 Dannenmayer, Matthias 86 De Gasperi, Alcide 14 De Rosa, Gabriele 47f. Denzler, Georg 215 Di Pauli, Andreas 151, 167f. Dietrich, Tobias 47 Dittrich, Lisa 301 Dörrer, Anton 283, Anm. 1037, 292, Anm. 1077 Droste zu Vischering, Clemens August 148, 195, Anm. 709, 254f. Duille, Johann 160f., 200, 204f., 225f., 281, Anm. 1027 Engel-J#nosi, Friedrich
49
Fenner-Fennberg, Franz von 300, Anm. 1110 Ferdinand I., Kaiser von Österreich 112, 116, 118f., 278 Fessler, Joseph 200, Amm. 723, 322f. Fiebrich, Vinzenz 88 Fillos, Francesco 235 Fingerlos, Matthäus 213 Fischer, Alois 336 Fleidl, Johann 142–144 Fleisch, Anton 211 Flir, Alois 173, 200, Anm. 723, 283, 342, Anm. 1261 Fontana, Josef 51 Fontana, Valerio Giuseppe 240, Anm. 877, 246 Fonzi, Fausto 47f. Fourier, Charles 259 Franz I., Kaiser von Österreich 64, 101, Anm. 334, 111–113, 115–117, 285 Franz Joseph, Kaiser von Österreich 328 Frapporti, Giuseppe 192, 305f., 309, 311
Freinadimetz, Jacopo 244 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 103, Anm. 341, 143, Anm. 492, 151, Anm. 524, 155 Fusinato, Arnaldo 318f. Gaisruck, Karl Kajetan von 199 Galasso, Familie 169 Galura, Bernhard 111, 114f., 121, 126, 154, 160, 196, 200f., 204, 214f., 230, 281, 333, 336f., 341 Gambasin, Angelo 47f. Gar, Tommaso 234f., 245, 251 Garzetti, Giambattista 305 Gasser, Vinzenz 86, 200, Anm. 723, 292, 342, Anm. 1261, 348f., 353 Gasteiger, Gustav von 101, Anm. 322, 112 Gatterer, Claus 60 Gazzoletti, Antonio 245, Anm. 894 Gelmi, Josef 12, Anm. 3, 79, Anm. 256 Gentz, Friedrich 62 Gerber, Stefan 279, 284, 355f. Geyer, Michael 41 Gianfilippi, Filippo Alessandro de 267 Giesebrecht, Wilhelm von 235 Gilm, Hermann von 96, 279–285, 289 Gilm, Johann Nepomuk von 293 Gioberti, Vincenzo 48, 255f., 259, 261, 270, 280, 317, 336 Giovanelli, Benedetto 235, 309f. Giovanelli, Familie 114, Anm. 381, 152, 173, 181, 293 Giovanelli, Ferdinand von 166, Anm. 580, 292 Giovanelli, Josef von 65, 67, 114, 116, 131, 151f., 159, Anm. 557, 164, 278f., 281, Anm. 1027, 292 Gißibl, Bernhard 164 Gizzi, Tommaso 317 Görres, Guido 16, Anm. 25, 292 Görres, Joseph 16, Anm. 25, 67, Anm. 205, 159, Anm. 557, 164, 166, Anm. 580, 181, 219f. Gottardi, Matteo 197, Anm. 715 Götz, Thomas 18, 54, 57, 61, 68, 231, 265, 278, 304, 335
423
Personenregister
Graf, Friedrich Wilhelm 25, 28, 120, 140 Grasser, Joseph 152 Grazioli, Giuseppe 335f. Gregor VII., Papst 260, 302, 356f. Gregorovius, Ferdinand 235 Greuter, Joseph 337 Grillparzer, Franz 76 Grisar, Josef 89, Anm. 295 Gruber, Augustin Johann Joseph 111, 114f., 127, 128, Anm. 444, 133 Grün, Anastasius (Auersperg, Anton Alexander von) 76 Gschließer, Oswald von 315 Guetti, Pietro 335, Anm. 1230 Günther, Anton 87 Hahn-Hahn, Ida 16, Anm. 25 Haidegger, Michael 200, Anm. 723 Haim, Girolamo 240 Haller, Joseph Valentin 292 Hanisch, Ernst 90f. Hannig, Nicolai 31 Hartungen, Christoph von 84f. Hartwig, Eugen von 15 Haslinger, Peter 177 Heilbronner, Oded 24 Heim, Bartholomäus 106, 142f. Heinicke, Gerd 263 Heinrich IV, römisch-deutscher Kaiser 260, 302 Heiss, Hans 51, 57, 61, 70, 93, 231 Hell, Johann 200, Anm. 723 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 148f. Hirn, Franz 339, Anm. 1250, 341 Hofbauer, Clemens Maria 86 Hofer, Andreas 142, 164 Hölscher, Lucian 19 Horne, Thomas Hartwell 141, 144 Hosp, Eduard 49, 86 Hübner, Lorenz 109 Huter, Franz 60 Inama, Adalbert
220
Jäger, Albert 173, 200, Anm. 723, 283, 287–289, 297, 302, 313, 316 Jarcke, Carl Ernst 126 Johann, Erzherzog von Österreich 112, 122, Anm. 418, 334 Joseph II, römisch-deutscher Kaiser 90, 102, 105, 111, Anm. 371 Jüstel, Josef Alois von 112, 117 Kaelble, Hartmut 218 Kippenberger, Martin 11f. Klieber, Rupert 13, 49 Knopper, Francois 178 Koch, Matthias 15, 313 Kolb, Gustav 293 Kometer, Bartholomäus 200, 204, 339, Anm. 1249, 342, Anm. 1261 Kopatsch, Johann 227 Koselleck, Reinhart 30, 219 Kotzebue, August von 60 Kröll, Joseph 106, Anm. 348 Kuhlemann, Frank-Michael 21 Kühne, Thomas 359 Lambruschini, Raffaele 245, Anm. 894, 247 Lampato, Francesco 245, Anm. 894 Lang, Johann 67, 204f., 338, 339, Anm. 1245, 340 Langewiesche, Dieter 24, 91f., 328 Lanzinger, Margareth 53 Laube, Heinrich 11, 15 Lazzeri, Domenica 303 Lendinara, Pietro Perolari Malmignati da 240 Lentner, Johann Friedrich 163, 292 Leo XII., Papst 110 Leonardi, Andrea 70, 269 Lepsius, Rainer M. 20f., 46f. Lewald, August 15 Lipp, Wolfgang 157 Lodron, Karl Franz von 81, 86, 173 Loesche, Georg 49, 128 Lönne, Egon 54 Lorenzi, Costantino 240
424 Loth, Winfried 21f. Luckmann, Thomas 27 Luhmann, Niklas 26–31, 346f. Lupatini, Giuseppe 246 Luschin, Franz Xaver von 17, 83, 170 Luther, Martin 143, 160, 221 Lutteri, Eleuterio 244, 248, 267 Maaß, Ferdinand 49, 280 Maffei, Andrea 234f., 245, Anm. 894 Maleczek, Werner 101 Manfrini, Giambattista 251 Manfroni, Mario 317 Manzoni, Alessandro 236, 245, 247 Marsilli, Franceso Antonio 234, 237, 239, 244–246, 250f., 256, 350f. Marx, Julius 73, 75 Maurer, Valentin 114, 316 Mayer, Gottfried 49, 196, 327 Mazegger, Bernhard 347 Mazohl, Brigitte 61 Mazzetti, Antonio 235 Mazzini, Giuseppe 37 Mazzolini, Renato 267 McLuhan, Marshall 354 Meneghelli, Antonio 242f. Menguzzato, Pietro 335, Anm. 1230 Menozzi, Daniele 48 Mercey, Frederic 15 Mergel, Thomas 21, 297f. Meriggi, Marco 61 Mersi, Andreas von 91f. Meßmer, Alois 334 Metternich, Clemens von 71, 74f., 77, 91, 99, 114, 116–118, 126, 155, 278, 285 Metzger, Franziska 23, 41f., 47, 133 Miccoli, Giovanni 47f., 213 Mitterer, Felix 100 Mooser, Josef 23 Moritz, David 87, Anm. 289, 204 Mörl, Maria von 38, Anm. 108, 51, 163f., 219 Mosen, Julius 14f. Moy de Sons, Ernst von 292, 339 Müller, Adam von 62
Personenregister
Negrelli, Nicola 235 Nicolai, Johann Friedrich 165 Nipperdey, Thomas 68, 71, Noflatscher, Heinz 14, 320, Anm. 118 Oberdan, Guglielmo 61 Orsi, Paolo 246, 257 Orsi, Pietro 246 Osterhammel, Jürgen 64, 358 Owen, Robert 259 Paleocapa, Pietro 245 Panizza, Oskar 12 Patriarca, Silvana 267, 270 Paulmann, Johannes 35 Pederzani, Carlo 240 Peirotes, Jacques 16, Anm. 21 Pellico, Silvio 236 Perini, Agostino 180, 192, 234, 237, 245, 265–268, 273, 305, 309, 311 Perzager, Magnus 341 Pesch, Rudolf 202 Phillips, Georg 275 Pichler, Adolf 96, 292f., 298 Pilat, Joseph von 278 Pilati, Carlantonio 172 Pinamonti, Gioseffo 16, Anm. 25, 34, 168–172, 175–194, 234, 237, 242, 244, 264, 266, 268, 271–273, 311, 360 Pius IX., Papst 35, 57, 82, 236, 255f., 259, 262, 273, 317–319, 323, 326f., 343f., 346, 349–352, 356 Pius VIII., Papst 82 Pizzini, Giacomo 240 Pradella, Joseph 339 Prati, Giovanni 310f. Prato, Giovanni Battista a 61, 171, 244, 246, 260, 267, 302, 317, 333, 343–345, 356f. Priesching, Nicole 14, 51, 163, 219, Anm. 805 Puecher, Francesco 244 Puecher-Passavalli, Ignazio 309–311 Pulciani, Alfons von 348
Personenregister
Ranke, Leopold 49 Rappold, Johann 125, 132, 153f., 159f., 200 Rau, Susanne 182 Rechberger, Augustin 86 Reden, Gräfin Friederike von 156 Reichhard, Rolf 338 Reinhard, Wolfgang 78 Repgen, Konrad 54 Reumont, Alfred von 235 Rheinwald, Georg Friedrich Heinrich 150f. Riccabona, Benedetto de 17, 152, 197, 345, 353 Ridolfi, Cosimo 245, 247 Riesebrodt, Martin 223 Rigotti, Carlo de 247, 251 Röggl, Alois 87, Anm. 289 Rohrer, Joseph 15 Ronge, Johann 221 Roschmann, Anton von 62, Anm. 187, 92, Anm. 307 Rosmini, Antonio 43, 48, 52, 89, 164, Anm. 569, 171, 234–236, 239–241, 244, Anm. 893, 247–253, 256–262, 310, 316f., 332, 336, 350 Rossini, Gioacchino 318 Rudigier, Joseph 200, Anm. 723, 342, Anm. 1261 Ruf, Sebastian 316, 359f. Sacchi, Defendente 245, Anm. 894 Sailer, Johannes Michael 213f. Saint-Simon, Henri de 259 Sanseverino, Faustino 266 Sardagna, Carlo Emanuele 253 Saurer, Edith 71 Sauser, Ekkart 100f., 113, Anm. 379 Scari, Familie 169 Schaitberger, Joseph 105, 143 Schennach, Martin P. 14 Schieder, Wolfgang 21f., 39, Anm. 109 Schlegel, Friedrich 133 Schleiermacher, Friedrich 224 Schlögl, Rudolf 19, 26, 31, Anm. 84, 32, 47, 88, 101, 203, 250
425 Schmid, Mathias 97–99 Schneider, Bernhard 189 Schneidgen, Hermann-Josef 49 Schottky, Julius Max 15 Schuler, Johann 173, 292, 298, 313, 316 Schulla, Franz 105 Schuselka, Franz 15, 76, 290, 297 Schwarz, Manfred 164 Schwarzenberg, Friedrich 108, Anm. 359, 115, 128, Anm. 444 Sedlnitzky, Josef von 74, 202–204, 218 Seidl, Johann Gabriel 185 Senn, Johann Chrysostomus 281 Seyr, Joseph 200, Anm. 723 Sicher, Giuseppe 246 Siegmund, Ferdinand 15 Siegwart-Müller, Constantin 327 Siemann, Wolfram 72, 181 Sighele, Scipione 245, Anm. 894 Sizzo, Camillo 267 Spangenberg, Johann 106 Spaur, Joseph von 109 Springer, Johann 226f. Stadion, Franz Seraph von 335, Anm. 1231 Stauber, Reinhard 61, 237 Steinhoff, Anthony 46 Steinmetz, Willibald 120 Steub, Ludwig 15, 174, Anm. 609, 276, 289, 292f., 306–308, 310f. Stey, Johann Joseph 211 Strauß, Friedrich 155 Streiter, Joseph 173, 275–277, 281–298, 300, Anm. 1106, Anm. 1110, 302f., 309– 311, 316, 356f., 359f. Sulzer, Joseph (Giuseppe) 352 Tabarelli, Giacomo 240 Tacchi, Carlo 240 Taddei, Rosa 244 Tanner, Albert 281 Tappeiner, Franz 347 Tecini, Francesco 244, Anm. 893, 264 Telani, Giuseppe 241, 246, 262, Anm. 966 Tevini, Simone 197, Anm. 715 Thaler, Joseph 292
426 Thun, Familie 169 Thun, Matteo 169, 170, Anm. 591, 264, 267f. Thun, Pietro Vigilio 72 Thun, Violante 170, Anm. 591 Tiefenthaler, Michael 122 Tinkhauser, Georg 200, Anm. 723, 204f., 214, 217f., 342, Anm. 1261 Tommazzoli, Bartolomeo 171f. Toneatti, Nicolk 197, Anm. 715 Torresani, Carlo Giusto 171, 181, 182, Anm. 644 Traniello, Francesco 258 Traut, Anton 124f. Treitschke, Heinrich von 99 Tschiderer, Johann Nepomuk von 56, 196–198, 281, 337, 345 Turrati, Giacomo 244 Valentini, Antonio 197, Anm. 715 Vannetti, Clementino 240, 246 Vannetti, Giuseppe Valeriano 237 Veronese, Angela 243f. Vieusseux, Giovan Pietro 234–236 Voegler, Max Herbert 49 Völker, Karl 103
Personenregister
Wackenroder, Wilhelm Heinrich 303 Wackernell, Josef Eduard 276f., 302 Walser Smith, Helmut 20 Weber, Beda 16, Anm. 25, 34, 76f., 87, 166–169, 172–194, 200, 218f., 276f., 283, 285f., 292–294, 296, 302f., 307, 313, 316, 323, 342, Anm. 1261, 347, 360 Weber, Ingenuin 200f. Weber, Max 26 Weinzierl, Erika 49 William IV., König des Vereinigten Königreiches 141 Winter, Eduard 49, 87, 103, Anm. 341 Witzany, Michael 123 Wolkenstein, Oswald von 173 Zajotti, Paride 235 Zanella, Giovanni Battista 197, Anm. 715, 244, Anm. 893 Zetter, Johann Theophil Maximilian 215, 223, Anm. 820, 321 Zieger, Antonio 233, 344 Ziemann, Benjamin 28f., 47 Zimmer, Oliver 22 Zingerle, Pius 173, 292