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German Pages 898 [900] Year 2004
Grenzen und Grenzüberschreitungen XIX. Deutscher Kongress für Philosophie
Grenzen und Grenzüberschreitungen XIX. Deutscher Kongress für Philosophie Bonn, 23.-27. September 2002
Vorträge und Kolloquien Herausgegeben von Wolfram Hogrebe in Verbindung mit Joachim Bromand
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
ISBN 3-05-003835-7 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2004 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: MB Medienhaus Berlin GmbH Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
13
Eröffnungsveranstaltung WOLFRAM HOGREBE
Begrüßung des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Philosophie
. . . .
15
KLAUS BORCHARD
Rede des Rektors zur Eröffnung des XIX. Deutschen Kongresses für Philosophie
18
HANS LENK
Grußwort zum XIX. Deutschen Kongreß für Philosophie, Bonn, 23. 9. 2002
. . .
20
JOHANNES RAU
Grußwort des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland und Schirmherrn des Kongresses
24
WOLFRAM HOGREBE
Sternbilder der Philosophie Eröffnungsvortrag des XIX. Deutschen Kongresses für Philosophie am 23. 9. 2002 in der Aula der Universität Bonn
26
Kolloquien 1. Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Philosophie der Antike und Spätantike CHRISTOPH HORN
Einleitung
37
CHRISTOF RAPP
Grenzen des Seins Die Diskussion um die Grenzen des Seienden in der Ontologie der vorsokratischen Philosophen
40
6
INHALTSVERZEICHNIS
NICHOLAS WHITE
Ethical Particularism in Aristotle
54
DOROTHEA FREDE
Grenze und Unbegrenztheit - Das Gute Leben in Piatons Philebos
62
2. Transzendentalphilosophie als limitative Theorie VOLKER GERHARDT
Einleitung
76
EVA-MARIA ENGELEN
Subjekt und Vertrauen Zur fundierenden Rolle des Gefühls bei den Leistungen der Vernunft
79
PAUL GUYER
Transzendentaler Idealismus und die Grenzen der Erkenntnis
89
PETER ROHS
Die Ontologie des zeitlichen Werdens und das Selbst
104
3. Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Moral als Thema der Ethik HANS LENK
Einleitung
114
LUDWIG SIEP
Arten und Ursprünge ethischer Grenzen
120
DIETER BIRNBACHER
Grenzen von Grenzen: Schwierige Grenzziehungen in der angewandten Ethik
131
ANTON LEIST
Lebensgüter, nicht moralische Pflichten
144
4. Barrieren des Verstehens und Erklärens PIRMIN STEKELER-WEITHOFER
Einleitung
162
MARTIN CARRIER
Interessen als Erkenntnisgrenzen? Die Wissenschaft unter Verwertungsdruck
168
BRIGITTE FALKENBURG
Grenzen der physikalischen Erklärung
181
ALEX BURRI
Grenzen des Verstehens
194
INHALTSVERZEICHNIS
7
5. Glauben und Wissen WOLFGANG KLUXEN
Einleitung
204
HERMANN LÜBBE
Die Religion und das Ende der wissenschaftlichen Weltanschauung
207
FRIEDO RICKEN
Erfahrung, Interpretation, Zustimmung Zur Rationalität des religiösen Glaubens
222
6. Grenzen als Thema in der Philosophie des Mittelalters LUDGER HONNEFELDER
Einleitung
234
THEO KOBUSCH
Die Grenzen der theoretischen Vernunft
237
BURKHARD MOJSISCH
Grenze als Vollkommenheit und Übergang in der Philosophie des Nikolaus von Kues
257
ROLF SCHÖNBERGER
Die Grenzen verständlicher Sprache Notwendigkeit und Grenze negativer Theologie nach Thomas von Aquin
267
7. Rationalitätsschranken und Grenzen der Erkenntnis JOSEF SIMON
Einleitung
280
HERBERT SCHNÄDELBACH
Grenzen der Vernunft? Über einen Topos kritischer Philosophie
283
RAINER ENSKAT
Rationalitätsschranken und Erkenntnisgrenzen der Wissens- und Informationsgesellschaft
296
RUDOLF SCHÜSSLER
Rationalität und Expertenstreit
314
8. Grenzen als Thema der politischen Philosophie WERNER BECKER
Einleitung
331
HENNING OTTMANN
Grenzen in einer Welt, die immer grenzenloser wird
334
8
INHALTSVERZEICHNIS
LUDGER KÜHNHARDT
Welche Grenzen setzt die Globalisierung der europäischen Integration?
344
PETER KOSLOWSKI
Grenzen des Politischen, Grenzen des Staates, Grenzen der Einheit von Staat und Volk
372
9. Philosophie des Geistes GÜNTER ABEL
Einleitung
385
ANSGAR BECKERMANN
Identität, Supervenienz und reduktive Erklärbarkeit Worum geht es beim Eigenschaftsphysikalismus?
390
ACHIM STEPHAN
Phänomenale Eigenschaften, Phänomenale Begriffe und die Grenzen Reduktiver Erklärung
404
HOLM TETENS
Das Mentale in naturalistischer Perspektive und die Grenzen unseres Wissens
. .
417
10. Grenzen des Naturwissens PAUL HOYNINGEN-HUENE
Einleitung
429
PETER JANICH
Kultur des Wissens - natürlich begrenzt?
431
GERNOT BÖHME
Phänomenologie oder Ästhetik der Natur?
445
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER
Gedanken über den Nutzen von Grenzen
451
11. Grenzreflexionen in der frühen Neuzeit HANS POSER
Einleitung
457
HUBERTUS BUSCHE
Die moralische Entgrenzung der Ökonomie in der Frührenaissance Exemplarische Argumente des Florentinischen Stadtbürgerhumanismus 1400-1460
462
WOLFGANG ROD
Omnis determinado est negatio
478
EBERHARD KNOBLOCH
Von Nicolaus von Kues über Galilei zu Leibniz Vom mathematischen Umgang mit dem Unendlichen
490
INHALTSVERZEICHNIS
9
12. Die Bedeutung limitativer Theorien in Logik und Metamathematik C . F . GETHMANN
Einleitung
504
FRANZ VON KUTSCHERA
Frege und das Ende des Piatonismus
507
GREGORY CHAITIN
On the intelligibility of the universe and the notions of simplicity, complexity, and irreducibility
517
GRAHAM PRIEST
Consistency, Paraconsistency, and the Logical Limitative Theorems
535
13. Das Grenzproblem in der Philosophie der Kulturen RALF KONERSMANN
Einleitung
545
OSWALD SCHWEMMER
Was ist Kultur? Zur anthropologischen Begründung eines historischen Kulturbegriffs
549
BIRGIT RECKI
Die Idee der Kultur Über praktisches Selbstverständnis im Kontext
564
JOHN MICHAEL KROIS
Zur Bild-Sprache-Grenze in der Philosophie Visuelle Kultur oder reine Sichtbarkeit?
574
14. Entgrenzungsmuster in der Geschichtsphilosophie HERTA NAGL-DOCEKAL
Einleitung
589
WINFRIED FRANZEN
Und die Moral in der Geschieht'? Stichworte zu Moral, Geschichte und Evolution
592
TILMAN BORSCHE
Vom Ende der Geschichtsphilosophie durch Entgrenzung ihres Gegenstands
604
KLAUS-M. KODALLE
Schuld in der Geschichte Der Kampf gegen das Vergessen und die Grenzen des Erinnerns
619
10
INHALTSVERZEICHNIS
15. Grenzen technischer Machbarkeit und Verfügbarkeit CHRISTOPH HUBIG
Einleitung
642
GERHARD GAMM
Technisierung ohne Grenzen - Medium, Risiko, Inhumanität
647
CHRISTIAN STREFFER
Notwendigkeit von Technologien Grundlagen für Entscheidungsprozesse am Beispiel der Energieversorgung
. . .
660
ARMIN GRUNWALD
Pragmatische Antworten auf die Frage nach Grenzen der technischen Machbarkeit
673
16. Immanenz und Transzendenz: Ist Metaphysik als limitative Theorie möglich? U W E MEIXNER
Einleitung
686
JENS HALFWASSEN
Zur Entdeckung der Transzendenz in der Metaphysik
690
STEPHAN GRÄTZEL
Metaphysische Schuld und ihre Begrenzung bei der Aufarbeitung von Großverbrechen
701
17. Ästhetik der Grenzen und Grenzüberschreitungen ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT
Einleitung
713
MARTIN SEEL
Das Kino und seine Grenzen
720
WOLFGANG WELSCH
Die Kunst und das Inhumane
730
GIANNI VATTIMO
Die Grenzen der Kunst
752
18. Ausdrucksgrenzen: Theorien nicht-propositionaler Wissensformen CHRISTIANE SCHILDKNECHT
Einleitung
759
GOTTFRIED GABRIEL
Logische und ästhetische Unaussagbarkeit
762
INHALTSVERZEICHNIS
11
HANS JULIUS SCHNEIDER
Das Unsagbare und das Unsägliche Grenzen im Bereich der Wissensformen
770
19. Renaissance der Phänomenologie? KARL-HEINZ LEMBECK
Einleitung
784
LÄSZLÖ TENGELYI
Vom Erlebnis zur Erfahrung Phänomenologie im Umbruch
788
THOMAS RENTSCH
Zeit, Sprache, Transzendenz - Phänomenologische Analysen zu den Grenzen und zum Sinngrund menschlicher Praxis
801
BERNHARD WALDENFELS
Phänomenologie zwischen Pathos und Response
813
Festvorträge WOLFGANG WIELAND
Herausforderungen der Bioethik
829
KURT FLASCH
Zeitgrenzen
843
JÜRGEN MLTTELSTRASS
Brauchen Gedanken Bilder?
854
HORST BREDEKAMP
Darwins Evolutionsdiagramm oder: Brauchen Bilder Gedanken?
863
WOLFRAM HOGREBE
Schlußwort
878
Hinweise zu den Autoren
881
Vorwort
Wenn man sich die Programme der Deutschen Kongresse für Philosophie, wie sie seit 1950, dem Gründungsjahr der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland e. V., stattfanden, näher anschaut,1 wird man schnell das ganz vordergründige Moment erkennen: Die Programme sind von 1950 bis 2002 erheblich umfangreicher geworden. Das spiegelt sich auch in der Zahl der Besucher dieser Kongresse. In Bonn wurden über tausend Besucher gezählt, das gab es bislang noch nie und belegt eindeutig das ungebrochene Interesse an der Philosophie über den Kreis der Fachvertreter hinaus. Auch die Gesellschaft, die sich auf der Mitgliederversammlung am 25.9.02 in Bonn den neuen Namen Deutsche Gesellschaft für Philosophie gegeben hat, ist seit 1950 enorm gewachsen und zählt derzeit ebenfalls etwa tausend Mitglieder. Diese rein quantitativen Aspekte sind zwar wichtig, spielen aber keine Rolle, wenn es um die Bedeutung der Philosophie in der gegenwärtigen Zeit geht. Es kann nämlich nicht gut in Abrede gestellt werden, daß trotz dieser beeindruckenden Zahlen der Zeitgeist der Philosophie heute entgegensteht. Ein szientistischer Naturalismus und ein ökonomisch fundierter Pragmazentrismus möchten das Bedürfnis nach einem sich selbst explizierenden Denken möglichst als überflüssig erscheinen lassen. Auch der Geschichte des Denkens wird kein Selbstwert mehr zugestanden, wie überhaupt ein zunehmendes Maß an Geschichtslosigkeit ein erwünschter Zustand unserer Zeit zu sein scheint. „Die Zerstörung der Vergangenheit... ist eines der charakteristischsten und unheimlichsten Phänomene des späten 20. Jahrhunderts."2 Schließlich darf ein selbstkritischer Befund in diesem Zusammenhang nicht fehlen: Die Philosophen selber haben nicht unerheblich dieser selbstdestruktiven Kulisse zugearbeitet. Aber eine solche Klage weiß sich getröstet darin, daß die Philosophie, seit es sie gibt, mit Varianten dieser Faktoren, die eben auch in ihr selbst immer wieder wurzeln, leben mußte. Vielleicht gibt es sie in Größe auch nur, weil sich das Denken gegenüber solchen Einsprüchen wider es selbst behaupten mußte, sich immer wieder als stärker erweisen mußte als die Gravitation des Positiven.
2
Vgl. Materialien zur Geschichte der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland e. V. (19502002), hg. v. Wolfram Hogrebe, Bonn 2002. Eric Hobsbawm, Age of Extremes, London 1994; dt. Das Zeitalter der Extreme, München/Wien 1995, 17.
14
VORWORT
Wo immer die Sensibilität für ein überpositives Denken verlorengeht, ist es um eine Menschheit geschehen, die eine Ausrichtung auf Sophia als Verpflichtung versteht. Diese überargumentative Verpflichtung ist in Wahrheit nur das Talent des Geistes, sich seiner Allgemeinheit zu vergewissern, jenseits aller positiven Interessen. Weise ist erst, wer über solche Interessen hinaus ist. Aber wer ist das schon. Dieser Band enthält die Hauptvorträge des XIX. Deutschen Kongresses für Philosophie, der in Bonn vom 23.9. bis zum 27.9.2002 stattfand. Solche Sammlungen haben für die Teilnehmer wissenschaftlich bilanzierende Effekte und werfen für spätere Leser auch zeitdiagnostische Renditen aus. ,Wie dachte man damals', in einer Zeit, der der Umbruchcharakter auf die Stirn geschrieben stand, für den der Titel des Kongresses Grenzen und Grenzüberschreitungen eine gute Chiffre war. Ich hoffe sehr, daß der Leser spürt, daß die Autoren, die mit ihren Beiträgen hier versammelt sind, dem rechenschaftlichen Ernst der Philosophie verpflichtet sind. Für die Fertigstellung dieses Bandes danke ich insbesondere meinem Mitarbeiter Dr. Joachim Bromand und dem Akademie Verlag Berlin.
Bonn, den 1. 3. 03 Wolfram Hogrebe
Begrüßung des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Prof. Dr. Wolfram Hogrebe
Meine Damen, meine Herren! Ich begrüße Sie umstandslos zur Eröffnung des XIX. Deutschen Kongresses für Philosophie hier in Bonn und gestehe sogleich, daß es mich außerordentlich freut, daß Sie in so großer Zahl den Weg in diese Zentralstadt der europäischen Wissenschaften im kreativen Süden Nordrhein-Westfalens gefunden haben. Auch ist es mir ein schickliches Bedürfnis, einige Persönlichkeiten namentlich zu begrüßen. So sind wir insbesondere erfreut und geehrt, daß der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Johannes Rau, ohne Zögern die Schirmherrschaft über unsere Tagung übernommen hatte und heute auch ein Grußwort auf dieser Eröffnungssitzung sprechen wollte. Leider mußte der Bundespräsident letzte Woche absagen und hat mir in einem Brief sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht. Ich bin autorisiert, Ihnen diesen Brief zur Kenntnis zu geben. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ebenso den Rektor der Rheinischen FriedrichWilhelm-Universität Bonn, Magnifizenz Borchard begrüßen, der freundlicherweise anschließend ein Wort an Sie richten wird. Desgleichen begrüße ich den Kanzler unserer Universität, Herrn Dr. Lutz, und ebenso die Dekane der Fakultäten ganz herzlich. Auch darf ich mit dem gebührenden Respekt den Vizepräsidenten des Weltverbandes der philosophischen Gesellschaften, also der Fédération Internationale des Sociétés des Philosophie, Herrn Kollegen Hans Lenk begrüßen, der, eben aus Rußland zurück, anschließend ein durch und durch globalisiertes Grußwort an Sie richten wird. Schließlich habe ich Anlaß und Freude, seine Exzellenz, Herrn Boris Lazar, Botschafter der Tschechischen Republik unter uns zu begrüßen, ebenso wie Frau Wessely-Steiner als Gesandte der Republik Österreich, Frau Elzbieta Sobotka, Generalkonsulin der Republik Polen, und Frau Shahin Aawani, Kulturattaché der Botschaft der Islamischen Republik Iran. Besonders freut es mich auch, unseren ehemaligen Kommilitonen und Bonner Doktor der Philosophie, inzwischen Bundesminister a. D., Herrn Dr. Norbert Blüm unter uns begrüßen zu dürfen. Nicht nur als Zeichen einer sittlich gebotenen wechselseitigen Wertschätzung, sondern auch in robuster, weil begründeter Hoffnung auf Meistbegünstigung, begrüße ich den Repräsentanten unseres Ministeriums für Wissenschaft und Forschung, Herrn Ministeri-
16
BEGRÜSSUNG DES PRÄSIDENTEN DER DGPHIL PROF. D R . WOLFRAM HOGREBE
alrat Prof. Dr. Heinz-Werner Pölchau. Auch die Anwesenheit des langjährigen ministerialen Sachwalters der Belange der Universität Bonn, inzwischen zugleich ihr Ehrenbürger, d. h. die Anwesenheit von Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Friedrich Fonk, bezeugt die Nachhaltigkeit des Interesses unseres Ministeriums an dieser Universität. Als Repräsentanten der Wissenschaftsorganisationen begrüße ich ebenso den Präsidenten der Nordrhein-Westfalischen Akademie der Wissenschaften, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Helmut Sies, den Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, Herrn Dr. Manfred Osten, den Vorstand der Fritz-Thyssen-Stiftung Herrn Jürgen Regge, den Vertreter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Herrn Dr. Thomas Wiemer und den ehemaligen Präsidenten des Bundesarchivs Herrn Dr. Hans Booms. Als Repräsentanten der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, die im Anschluß an dieses Eröffnungsplenum einen Preis für den wissenschaftlichen Nachwuchs vergeben wird, begrüße ich Frau Prof. Dr. Dr. h. c. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. Selbstverständlich begrüße ich auch ausdrücklich den Vorsitzenden der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Universität Bonn, Herrn Dr. Eberhard Schmitz. Die für die Universität so segensreiche Gesellschaft ist bislang, jedenfalls in meiner Zeit in Bonn, von den Philosophen verschont geblieben. Man darf das so deuten, daß sich die Philosophen dadurch gewissermaßen als Verschonungsrendite einen Zukunftsbonus erwirtschaftet haben. Bevor ich jedoch auf das Finanzierungsthema zu sprechen komme, lassen Sie mich insgesamt alle diejenigen ganz herzlich begrüßen, die mit ihren Vorträgen diesen Kongreß faktisch realisieren, und unter diesen besonders auch diejenigen, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind. Namentlich kann ich das, wie Sie verstehen werden, nur tun bei unseren Festrednern. So begrüße ich die Kollegen und Professoren Kurt Flasch/Bochum, Wolfgang Wieland/Heidelberg, Jürgen Mittelstraß/Konstanz und Horst Bredekamp/Berlin. Meine Damen und Herren! In Zeiten der Geistvergessenheit werden Personen und Institutionen auch in der Industrie wichtig, die nicht tatenlos zusehen wollen, wie der Kulturanspruch dieser Republik völlig unter die Räder kommt. So habe ich Anlaß, den Institutionen zu danken, die diesen Kongreß, zusätzlich zu den Leistungen der Universität, finanziell unterstützt haben. Hier ist vor allem zu nennen die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung und ihr Vorsitzender Prof. Dr. Dr. h. c. Berthold Beitz, die Westdeutsche-Landesbank und ihr damaliger Vorstandsvorsitzender Herr Dr. h. c. Friedel Neuber, der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und die Trebuth-Stiftung, namentlich Frau Helen Wild, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Firma Holtzbrinck. Schließlich ist es mir eine große Freude, hier auch die Firma Henkel in Düsseldorf nennen zu dürfen, deren Vorstandsvorsitzender Dr. Ulrich Lehner es sich nicht hat nehmen lassen, heute hier zu sein. Herr Dr. Lehner, herzlichen Dank für Ihre Unterstützung! Bonner Firmen waren leider nicht zu gewinnen, sie müssen erstens noch lernen, daß man auch in Bonn erfolgreich wirtschaften muß und zweitens, daß es eine seltene Ehre ist, die Philosophie in Bonn unterstützen zu dürfen. Meine Damen und Herren! Die Konzeption dieses Kongresses war von der Überzeugung getragen, daß das Thema , Grenzen und Grenzüberschreitungen' auch in sich grenzüberschreitend angelegt sein muß. Das dokumentiert sich in der trinitarischen Struktur ,Bild,
BEGRÜSSUNG DES PRÄSIDENTEN DER D G P H I L PROF. DR. WOLFRAM HOGREBE
17
Gedanke, Klang'. Der Kongreß ist im Kern natürlich dem Gedanken verpflichtet und er weiß darum. Allerdings bliebe er, ohne ins Bild oder in den Klang gesetzt zu sein, der leblos einsame. So wird der Kongreß thematisch durchdrungen von einer Kunstausstellung im Festsaal, die den Titel trägt: ,Geht nicht - gibt's nicht1. Sie wird um 13.30 Uhr im Festsaal der Universität eröffnet, und sie wird ihre Besucher zweifellos provozieren, aber, wie ich hoffe: produktiv. Und der Kongreß wird auch klanglich durchdrungen sein, und zwar durch ein Konzert unter dem Titel ,Metaphysique Musicale\ das Sie am Mittwoch abend hier in der Aula durch die Westdeutsche Sinfonia unter Stabführung seines Dirigenten Dirk Joeres erleben können. Schließlich geht der Kongreß mit musikalischen Mitteln zu sich selber auf Distanz, und zwar während des Empfangs des Rektors am Mittwoch Abend mit Hilfe des a-cappellaChores , Waschkraft' unter der Leitung von Peter Moslehner. Bevor ich unversehens das Wichtigste vergesse, seien insbesondere noch die uns werten Vertreter der Presse und der Medien begrüßt, namentlich und stellvertretend der Chefredakteur des Bonner Generalanzeigers Herr Joachim Westhoff. Eine Pressekonferenz wird gegen 12.15 Uhr in der Bibliothek des Philosophischen Seminars stattfinden. Schließlich begrüße ich insbesondere auch die der Philosophie buchstäblich nahestehenden Vertreter der Verlage. Sie alle sind übrigens nach dieser Eröffnungsveranstaltung und der Preisverleihung herzlichst zu einem Umtrunk im Foyer vor der Aula eingeladen. Bedanken möchte ich mich hier auch bei der Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn, Frau Bärbel Dieckmann, die die Teilnehmer dieses Kongresses für heute abend um 19.00 Uhr zu einem Empfang in das Alte Rathaus eingeladen hat. Meine Damen und Herren, die Philosophie präsentiert sich in Bonn als Wissenschaft von den Grenzen, aber sie weiß in ihrem Grenzwissen auch, daß es andere Formen gedanklicher Präsenz gibt, die nicht wahr oder falsch sind, sondern z. B. eindrucksvoll oder nichtssagend. So weiß sie auch, daß das, was ins Bild oder in den Klang sich fangt, sich nicht anders fangen kann. Deshalb erscheint die Philosophie auf diesem Kongreß von Medien durchdrungen, die sie ergänzen. Das ist zum ersten Mal so und also eine Premiere. Hoffen wir, daß in dieser Woche viele Gedanken vorgetragen werden, die auch den Charakter einer Premiere haben. Damit möchte ich das Pult Magnifizenz Borchard überlassen, nicht ohne mich abschließend noch bei meinem Mitarbeiter Herrn Dr. Martin Booms und Dr. Boehnigk und unserem Team zu bedanken. Ohne sie hätte das ehrgeizige Organisationsziel eines so konzipierten Kongresses nicht in Angriff genommen werden können. Ob dieses Ziel effektiv erreicht wird, wird diese Woche zeigen, und Sie werden es entscheiden. Murphys Gesetz, demzufolge schiefgeht, was schiefgehen kann, dieses Trauma aller Organisatoren, vermag allerdings, was Sie bitte in Rechnung stellen mögen, niemand außer Kraft zu setzen. Selbst ich nicht, und das will etwas heißen.
Vielen Dank!
Rede des Rektors Prof. Dr. Klaus Borchard zur Eröffnung des XIX. Deutschen Kongresses für Philosophie am 23. 9. 2002, 10.00 Uhr in der Aula
Meine Damen, meine Herren! Lieber Herr Hogrebe! Auch für einen Rektor ist es eine nicht eben häufig vorkommende Gelegenheit, einen Kongreß von der Bedeutung dieses XIX. Kongresses für Philosophie mit zu eröffnen. Seien Sie deshalb um so herzlicher hier in Bonn in der Friedrich-Wilhelms-Universität begrüßt! Wenn mich nicht alles täuscht, ist der letzte Kongreß der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, der hier in Bonn stattfand, auf das Jahr 1982 zu datieren. Präsident der Gesellschaft war damals Kollege Kluxen, der auch heute unter uns ist und von mir gesondert begrüßt sein mag, zumal er in diesem Jahre, ich darf das verraten, seinen achtzigsten Geburtstag begehen wird. Wenn man also bedenkt, daß ein solcher Kongreß nur alle zwanzig Jahre an einer Universität stattfindet, dann kann man schon daran ermessen, daß nicht jeder Rektor die Chance haben kann, die ich jetzt mit Freude wahrnehme. Meine Damen und Herren! Die Philosophie ist in Bonn eines der großen Fächer der philosophischen Fakultät. Als ich im Jahre 1996 das Rektorat übernahm, gab es noch drei gesonderte philosophische Seminare. Das hat sich seither grundlegend geändert. Herr Hogrebe hat alle drei Bereiche in eine einzige institutionelle Großstruktur überführt und zudem das Seminar einer grundlegenden Erneuerung unterzogen. Wenn demnächst auch noch die letzte der vakanten Professuren wieder besetzt sein wird, ist das Fach wieder komplett und kann sich, wie ich glaube, auch sehen lassen. Bedenken Sie bitte, daß die Philosophie an der Universität noch durch weitere Einrichtungen philosophischer Provenienz in Bonn flankiert wird. Da ist zum einen das AlbertusMagnus-Institut, dann gibt es noch das Institut für Wissenschaft und Ethik und das Deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften, Einrichtungen, die Kollege Honnefelder leitet. Man kann daran ermessen, daß Bonn einer der stärksten Standorte für das Fach Philosophie ist, und wir sind stolz darauf.
ERÖFFNUNGSREDE DES REKTORS PROF. DR. KLAUS BORCHARD
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Das Thema Ihres Kongresses ist unmittelbar von allgemeinem Interesse. Wie Sie vielleicht aus der Presse wissen, ist die Universität Bonn auch ein führender Standort in der Stammzellforschung, und wir sind daher für das Thema sozusagen professionell sensibel. Mir ist natürlich auch klar, daß Ihr Thema nicht nur in diesem Bereich diskutiert wird, sondern eine viel weiter gehende Bedeutung hat, die Sie auf Ihrem Kongreß sicherlich in allen Facetten ausleuchten werden. Wenn man sich das Programmheft ansieht, wird einem vor lauter Grenzen ganz schwindelig, deswegen ist es tröstlich, daß einige Grenzen auch überschritten werden können. Ich wünsche Ihnen allen eine ertragreiche Zeit in Bonn und danke zugleich dem Präsidenten der Gesellschaft, Herrn Kollegen Hogrebe, daß er Sie nach Bonn gelockt hat. Vielleicht finden Sie auch Zeit, die schöne Stadt Bonn und ihre Gastfreundlichkeit etwas näher kennenzulernen. Es lohnt sich.
A la bonheur!
HANS LENK
Grußwort zum XIX. Deutschen Kongreß für Philosophie Bonn, 23. 9. 2002
Im Namen der Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie (FISP) überbringe ich Ihnen die besten Glückwünsche für den XIX. Deutschen Kongreß für Philosophie und Grüße an die Deutsche Gesellschaft für Philosophie - besonders auch die Grüße1 der FISPPräsidentin Professor Ioanna Kuçuradi. Die FISP fordert ideell und begrüßt besonders nationale, internationale und regionale sowie vor allem auch interdisziplinäre Initiativen in Gestalt von entsprechenden Kongressen. Dies gilt zumal für praxisnahe und interdisziplinäre Themenkongresse wie den XIX. Deutschen Kongreß hier und heute. Dieser ist ja in der Tat einem wahrhaft interdisziplinären Thema gewidmet. „Grenzen und Grenzüberschreitungen" das ist natürlich ein Thema, das Praxisnähe der Philosophie geradezu herausfordert und berücksichtigen muß. Denn wir Menschen sind die Gratwanderer, Grenzgänger, ja, Grenzenüberschreiter par excellence. Heidegger definierte 1929 Philosophie als Transzendieren, Übersteigen und „Überstieg". Als solches und generell ist es - wie ich sagen möchte - deutendes, schichtenübersteigendes und übergreifendes Interpretieren, Schematisieren, Systematisieren. Wenn sich der Weltkongreß für Philosophie in Istanbul (10.-17. August 2003), der XXI. In einer beeindruckenden Reihe seit Paris 1900, im nächsten Jahr den praktischen Fragen und Herausforderungen der Philosophie in der modernen und globalisierten Welt widmet, so sind natürlich in dem Gesamtthema „Philosophy Facing World Problems" die Fragestellungen und Probleme unseres Kongresses mitgemeint bzw. zu berücksichtigen. Die Ergebnisse und Diskussionen unseres hiesigen Kongresses könnten dort aufgenommen, weitergeführt und auf internationale Ebene projiziert werden. Grenzen, Begrenzungen und die Problematik der Grenzüberschreitungen spielen ja in unserem komplexer gewordenen und international vor besonderen Herausforderungen stehenden Zeitalter überall eine entscheidende Rolle, der sich auch die Philosophie vermehrt widmen muß. Insbesondere in Fragen der Ethik, heute zumal der Bioethik, also der Wissenschaftsethik, der Biodisziplinen und ihrer Probleme 2 und der Medizinethik sowie
1
2
Grüße auch von der Russischen Philosophie Gesellschaft (und deren Präsident Prof. Stepin). Der 3. Russische Philosophie Kongress ist in Rostow/Don. Dort wurde übrigens die Deutsch-Russische Gesellschaft für Wissenschafts- und Technikphilosophie gegründet. Die FISP hat sich mit ihrem Komitee über Bioethik (Vorsitz Professor G. Hottois) angelegentlich auch mit der Bioethik-Konvention des Europarats befaßt und wird dies auch im Zuge des Weltkongresses in entsprechenden Sektionen und Teilgebieten tun.
GRUSSWORT
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der angewandten Ethik allgemein, sind die Fragen der Grenzziehungen und Grenzen ganz besonders aktuell geworden - auch durch die neueren Debatten um Stammzellen- und Embryonenforschung, die an unsere biologische und menschliche Substanz selber gehen dürften. Kann, soll alles, was machbar ist, auch verwirklicht und ausgeführt werden bzw. vertretbar sein? Offensichtlich nicht - zumindest nicht so, wie es solche Proponenten wie der sogenannte Vater der Wasserstoffbombe es vor einigen Jahrzehnten gefordert hatten. Aber wie stellen sich solche Grenzen dar? Sind es absolut gegebene oder unter moralischer Verantwortlichkeit der Menschen bzw. Forscher und Politiker sowie Planer gezogene und etablierte Grenzen, die sich erst aus einer ethisch-moralischen und auf Menschenrechte basierenden rechtsphilosophischen, juristischen und politischen Diskussion ergeben? Das sind herausragende Problemstellungen, die zweifellos diskutiert werden müssen - gerade auch hier auf unserem Kongreß. Aufgefallen ist mir, daß ein Thema in unserem Kongreß überhaupt nicht vorkommt, mit dem ich mich früher schon einmal (bei Olympischen Kongressen 1972, 1976 und in einer amerikanischen Akademieschrift) befaßt habe - nämlich die sogenannten Schranken3 bzw. Grenzen der menschlichen (zumal körperlichen) Leistungsfähigkeit (wie sie besonders im Spitzensport anstehen und heutzutage der Manipulierungsproblematik unterliegen). Es hätte mich gereizt, hierzu einen Sektionsbeitrag zu liefern: Offenbar ist auch der Sport an Grenzen der Leistungsvorbereitung und Leistungsfähigkeit gelangt, die kaum noch mit natürlichen Mitteln hinauszuschieben sind. Die brisante Frage des Dopings ist seit Jahrzehnten im Gespräch (ich war übrigens der erste in Deutschland, der bereits anfangs der 70er Jahre überraschende Dopingkontrollen im Training forderte ...) - spätestens seit der skandalösen Tour de France - einer wahrhaftigen „Dopiradeltour" - vor einigen Jahren. Trotz eines erheblichen Aufwandes an Geldmitteln und Organisation sind nur geringe Lösungsschritte erreicht und Maßnahmen auf Dauer erfolgreich gewesen. Eine totale Kontrolle scheint kaum möglich und unter humanen Gesichtspunkten auch kaum akzeptabel, zumal sich die intelligenten Versucher meist einen Schritt vor der entsprechenden institutionalisierten Kontrolle zu bewegen scheinen. Die Grenzen von „Natürlichkeit", „Manipulation", „Künstlichkeit" und ähnlichen orientierenden Leitbegriffen sind natürlich auch für viele andere Lebens- und Leistungsbereiche fast ebenso relevant wie für den Leistungssport. Gibt es Grenzen zwischen „Natur" und Kunstwelt? Oder leben wir bereits durchwegs in einer künstlich vom Menschen beeinflußten oder gar manipulierten Welt? Mir scheinen die etwas groben Dichotomien „Natur" vs. „Künstlichkeit" zu grob und zu pauschaliert, um die differenzierten komplexen Rück- und Wechselwirkungen in dynamischen Systemen zwischen Ökologie, Gesellschaft, Ökonomie und Industrie wie auch zwischen Wissenschaft, Technik und Produktion aller Arten hinreichend beschreiben zu können. Schillers Satz „Und siegt Natur, so muß die Kunst entweichen" müßte heute wohl umgedreht werden: „Und siegt die Technik (von alters her auch ,ars' = ,Kunst'!), so muß Natur entweichen!" Kann aber die Natur das gänzlich? Dürfen 3
Wie jeder Mathematiker und Mathematikstudierende weiß, ist zwischen Grenzen und Schranken zu unterscheiden (Grenzen werden - mathematisch gesprochen - erreicht, Schranken nicht). Auch diese Problematik dürfte sich hinsichtlich der zu diskutierenden und etablierenden Grenzziehungen und Grenzsetzungen in verschiedensten Gebieten und Konfrontationen sowie Beziehungen und Abgrenzungen zwischen solchen stellen.
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HANS LENK
wir es soweit kommen lassen? Wie in vielen Grenzbereichen unseres Lebens sind auch hier differenziertere begriffliche und theoretische sowie intertheoretische (zwischen und von unterschiedlichen Gebieten zu erfassende) Konzepte notwendig, um der Komplexität gerecht werden zu können. Analytisch-philosophische Arbeit des Begriffs ist hier überall gefragt. Für möglichst präzise und saubere philosophische Analysen dieser Begrenzungsprobleme und der entsprechenden Problematik der Überschreitungen von Grenzen ist also ein hoher Bedarf. Dies dürfte künftig noch verstärkt gelten. Das Problem der Grenzsetzungen und Grenzziehungen ist natürlich nicht nur ein deskriptives Problem ontologischer oder method(olog)isch-erkenntnistheoretischer Provenienz, sondern in den meisten gesellschaftlich besonders relevanten Bereichen auch eine Frage normativer Analysen und Konzeptualisierungen. Rechtsphilosophische, politik- und staatsphilosophische sowie allgemein gesellschaftsphilosophische und wertphilosophische Fragestellungen befassen sich natürlich in erster Linie eben auch mit vom Menschen explizit gesetzten Grenzziehungen, Wertungen, Unterteilungen und Klassifikationen, die immer zur Orientierung, Klassifizierung und Übersicht notwendig sein dürften. (Für diesbezügliche Analysen der Wertbegriffe und des etwas irreführend so genannten „Orientierungswissens" sind natürlich zumal auch Philosophen gefordert.) Ohne normative Grenzen und Grenzsetzungen bzw. Grenzziehungen keine Wertklassifikationen und -einteilungen, keine Sondierungen in Staat, Recht und Gesellschaft generell. Auch die Kunst bedarf der Normierungen und entsprechender ästhetischer Fragen von Grenzen, Begrenzungen - und heutzutage besonders typisch - gar von systematisch provozierenden Grenzüberschreitungen. Kurz: Die Thematik unseres Kongresses ist praktisch in jedem Lebensgebiet zu finden und relevant, ja, aktuell bis brisant. Möge die Wahl dieses hochaktuellen Themas, das große Erwartungen weckt, zu entsprechenden eingehenden und der internationalen Gemeinschaft präsentablen Diskussionsergebnissen und weiteren Forschungsanstößen führen, die - wie erwähnt - dann auch auf der Ebene der Weltkongresse für Philosophie weiterwirken können. Dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und ihrem Präsidenten sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kongresses gelten die guten Wünsche und Grüße der FISP, die seit vielen Jahrzehnten sehr intensiv und gut mit der Deutschen Gesellschaft für Philosophie zusammenarbeitet. Möge der Kongreß so erfolgreich sein wie die äußerst gelungene Themenwahl! Übrigens: In diesem Jahr gedenkt die Internationale Philosophie eines Grenzgängers, nämlich ihres Urvaters, des Philosophen Sokrates, der vor genau 2400 Jahren dazu verurteilt worden war, den Schierlingsbecher zu trinken und kurz zuvor im Kreise seiner Schüler - wie Piaton berichtet - Reflexionen über den Schritt über die große Grenze zwischen Leben und Tod anstellte. Piaton veranlaßte das tiefempfundene Schicksal und Vorbild des Sokrates, das Philosophieren selber als Grenzgängeraktivität zu etikettieren: „Philosophieren heißt sterben lernen". In der Platonischen Apologie spricht Sokrates (40c ff) von dem „Übergang" bzw. der „Übersiedlung der Seele ... von dem Orte hier an einen anderen Ort": Der Tod sei eine Art von Grenzübergang: „Wenn zutrifft, was erzählt wird, daß sich dort alle Verstorbenen befinden, gibt es dann wohl ein Gut, das größer wäre als dies ...?" Er bezieht sich (41c f) auf die „Tatsachen ..., daß einem guten Menschen kein Übel wiederfahren kann, weder im
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Leben, noch nach dem Tode ..." und schließt seine Apologie mit den bekannten Worten: „Doch jetzt ist Zeit fortzugehen: Für mich, um zu sterben, für euch, um zu leben. Wer von uns dem besseren Los entgegengeht, ist uns allen unbekannt - das weiß nur Gott" (ebd. 42a).
Grußwort des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland und Schirmherrn des Kongresses Dr. Johannes Rau
Sehr geehrter Herr Professor Hogrebe, wie ich Ihnen schon telefonisch habe mitteilen lassen, kann ich zu meinem großen Bedauern doch nicht zur Eröffnung des XIX. Deutschen Kongresses für Philosophie sprechen. Ich bitte Sie und alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch einmal herzlich um Verständnis und um Nachsicht. Die Absage fällt mir deswegen besonders schwer, weil es mich gereizt hätte, zum Thema Ihrer Tagung, „Grenzen und Grenzüberschreitungen", einige Gedanken beizusteuern. Das Thema bewegt mich sehr stark - natürlich weniger in erkenntnistheoretischer Hinsicht als vielmehr in Hinsicht auf das praktische Handeln, besonders in Politik und Wissenschaft. Vor mehr als einem Jahr hatte ich zu einigen Fragen des wissenschaftlichen Fortschritts, vor allem in der Biomedizin, zu sprechen. Ich hatte mir die Überschrift gewählt: „Fortschritt nach menschlichem Maß". Nun bin ich mir im klaren darüber, daß das „menschliche Maß" kein unumstrittener Begriff ist, er wird gewiß auch philosophisch engagiert diskutiert werden. Wenn man aber den Begriff als solchen für sinnvoll hält, wenn man der Überzeugung ist, es gebe ein menschliches Maß, wie ungenau definiert es auch sein mag, dann hat man akzeptiert, daß dem Menschen Grenzen gesetzt sind. Und daß dem menschlichen Handeln Grenzen gut tun. Denn ein Maß gibt es nicht ohne Begrenzung. Grenzenlosigkeit läßt kein Maß zu, sondern führt in die Maßlosigkeit. Grenzüberschreitung ist gewiß immer Kennzeichen des Fortschritts der Erkenntnis gewesen. „Denken heißt Überschreiten" - das war nicht nur das Lebensmotto Ernst Blochs. Aber es ist eines, die Grenzen der Erkenntnis immer wieder neu zu überschreiten, und es ist ein anderes, alles zu tun, was man tun kann. Die menschliche Freiheit, die menschliche Selbstbestimmung ist nicht durch Maßlosigkeit und nicht durch Grenzenlosigkeit beliebig erweiterbar. Gerade in manchen Bereichen des biomedizinischen Fortschritts schlägt die vorgeblich größere Selbstbestimmung oder die vorgebliche Erweiterung der Freiheit in neue Abhängigkeiten, in neue Beschränkung des anderen um. Ich wünsche mir sehr, daß Philosophen sich in diesen Streit einmischen. Gerade in den Fragen an den Grenzen des Lebens können Naturwissenschaftler und Politiker den Dialog nicht ohne Hilfe der Philosophie führen. Die Achtung vor dem Leben, die Achtung vor der Freiheit und die Achtung vor der Würde des Menschen sind dabei die Leitbilder, die die
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Auseinandersetzung begleiten müssen. Mit der Fragestellung Ihres Kongresses, mit der Frage nach den Grenzen und den Grenzüberschreitungen haben Sie ein außerordentlich aktuelles Problem gewählt, das sich gewiß auch in vielen anderen Feldern des menschlichen Handelns zeigt. Ich wünsche Ihrem Kongreß Erfolg. Aber was heißt Erfolg bei einem philosophischen Kongreß? Vielleicht, daß man die Grenzen des eigenen Denkens erkennt und durch die Begegnung mit anderem Denken immer wieder überschreiten kann. In diesem Sinne also wünsche ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Deutschen Kongresses für Philosophie einen erfolgreichen Verlauf und gute gemeinsame Tage.
Mit freundlichen Grüßen bin ich Ihr Johannes Rau
WOLFRAM HOGREBE
Sternbilder der Philosophie Eröffnungsvortrag des XIX. Deutschen Kongresses für Philosophie am 23. 9. 2002 in der Aula der Universität Bonn
Landläufig sind Grenzen dazu da, um überschritten zu werden. Manchmal ist eine solche Grenzüberschreitung als rechtlich zulässiger Grenzübergang statthaft, könnte aber, falls zollbewehrt, visumpflichtig und im Falle mitgefuhrter Güter je nach Tarifierung mit Kosten verbunden sein. Manchmal ist ein solcher Grenzübergang, wie wir aus leidvoller Geschichte wissen, auch nicht erlaubt und kostet daher, falls er dennoch versucht wird, nicht nur Geld, sondern unter Umständen das Leben. Aber es gibt natürlich nicht nur territoriale Grenzen, sondern auch ästhetische, die zu überschreiten eine Frage des Geschmacks oder des Stils ist. Führen ästhetische Grenzüberschreitungen allerdings zu expressivem Geländegewinn, hat der Geschmack in der Regel das Nachsehen, da er keine Konstante ist, sondern, seiner Zeit verhaftet, manchmal konservative Züge trägt. Es gibt auch moralische Grenzen, die zu überschreiten keine Frage des Geschmacks oder des Stils ist, sondern des Gewissens, der ethischen Bewertung, manchmal auch nur des Anstandes oder des Charakters. Verhaltensgrenzen sind im allgemeinen konventionell in Sitte und Brauch, können aber auch normativ kodifiziert werden, so daß bestimmte Handlungen z. B. einer rechtlichen Bewertung zugänglich sind, also normativ justiert' werden können. Überschreitungen solcher rechtlich festgelegten Verbindlichkeiten ziehen im allgemeinen Sanktionen nach sich, die im Richterspruch festgelegt und im geregelten Strafvollzug vollstreckt werden. Andere Grenzen sind unserem Können gesetzt, sind also Leistungsgrenzen wie in Beruf und Sport. Auf Märkte bezogen spricht man gelegentlich von ökologischen und ökonomischen Grenzen des Wachstums, die politisch berücksichtigt sein wollen, immer vorausgesetzt, es gibt sie wirklich. In der Ökonomie ist auch vom Grenznutzen die Rede, der z. B. beim geldwerten Austausch von Gütern umso kleiner ist, je mehr von den zu erwerbenden Gütern bereits vorhanden ist. In der Mathematik spielt der Grenzwert eine Rolle, grundbegrifflich in der Analysis als Limes einer Funktion. Grenzen also überall, manchmal überschreitbar, manchmal nicht. Als universelles Thema ist das Grenzphänomen daher schon früh von den Philosophen entdeckt worden. Anaximander, der älteste Philosoph des Abendlandes, von dem annähernd ein ganzer Satz überliefert ist, läßt alles per Grenze aus dem Unbegrenzten entstehen. Grenze ist hiernach Lizenz für Existenz. Piaton mag das Unbegrenzte nicht, er liebt klare Konturen und Strukturen, d. h. Grenzen. Ohne Grenzen keine Ordnung, ohne Ordnung keine Schönheit. Aristoteles verpflichtet eine methodisch ambitionierte Philosophie auf klare semantische Grenzziehungen,
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d. h. auf Definitionen. Frege erneuert diese Verpflichtung, muß zugleich aber zugeben, daß bedauerlicherweise selbst der Definierbarkeit Grenzen gesetzt sind. Gerade Prinzentermini der Philosophie wie ,wahr', ,gut' und ,schön' lassen sich nach Frege leider nicht definieren. Um sich gleichwohl der Bedeutung solcher elementaren Terme zu vergewissern, muß man sich mit, Erläuterungen' behelfen. Aber auch diese haben nach Frege ihre Grenzen, sie verfügen nämlich nicht über eine verstehenerzwingende Kraft. Erläuterungen bleiben auf ein entgegenkommendes Verstehen', ja auf ,Erraten' angewiesen.1 So gehören sie auch nicht im engeren Sinne zur Wissenschaft, sondern wegen ihres protreptischen Status zu ihrer Propädeutik. Carnap greift das später mit seiner Unterscheidung von internen und externen Fragen auf. Interne Fragen sind innerwissenschaftlich entscheidbar, externe Fragen betreffen die Voraussetzungen einer Wissenschaft. Obwohl gerade in diesem externen Bereich all die philosophisch interessanten Dinge erörtert und festgelegt werden, die das Rahmenwerk einer Theorie oder einer Sprache betreffen, haben Carnap zufolge solche Erörterungen eigentlich gar keinen kognitiven Gehalt. Damit fällt der gesamte deliberative Teil der Philosophie aus ihrem Begriff als Wissenschaft heraus. Alles Abwägen von Argumenten, jedes Bemühen um phänomenologische Adäquanz oder um die fruchtbarste Perspektive gehören dann wohin auch immer, jedenfalls nicht in die Philosophie als Wissenschaft. Diese restriktive Grenzziehung Carnaps hat sich allerdings als nicht besonders fruchtbar erwiesen. Der Wissensstolz des frühen Carnap tritt nur noch selten und in schlecht informierten Kreisen auf.2 Heute sind dagegen gerade intrinsische Grenzen des Wissens von Interesse. Im Ausgang von Frederic Fitch analysiert man z. B. folgendes Argument: Wenn etwas eine Wahrheit ist, um die man nicht weiß, aber vielleicht wissen könnte, dann ist der Umstand, daß dies eine Wahrheit ist, um die man nicht weiß, selber eine Wahrheit, um die man nicht wissen kann. Weniger sophisticated ausgedrückt: Jeder Punkt unseres kontingenten Nichtwissens korrespondiert mit einem Punkt eines notwendigen Nichtwissens. Wenn sich das erhärten läßt, und Timothy Williamson hat dies jüngst in einer Studie unter dem Titel Knowledge and its Limits3 in glänzender Weise getan, dann muß die gesamte Erkenntnistheorie im Lichte der Bedeutung des Nichtwissens für die Möglichkeit unseres Wissens neu geschrieben werden. 2400 Jahre nach seinem Tod ist Sokrates mit seinem berühmten Diktum „Ich weiß, daß ich nichts weiß" heute systematisch präsenter denn je. Das kündigte sich in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts in der Philosophie auch da an, wo man mit Wolfgang Wieland den Wissensbegriff aus der Umklammerung der Wissenschaftstheorie löste und sich Wissensformen zuwandte, die informellen Charakter haben. Informelle Wissensformen sind häufig solche, die nicht vollständig satzförmig abgebildet werden können wie z. B. ein Know-how oder auch ein Expertenwissen. Expertenwissen ist als Wissen gewiß satzförmig oder propositional, aber nicht als Wissen von Experten. Hier empfiehlt sich in der Tat eine liberale Fassung des Wissensbegriffs, der für Gradabstufungen empfanglich sein sollte.
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Vgl. hierzu Wolfram Hogrebe, Frege als Hermeneut, Bonn 2000. Carnap vertritt die von ihm selbst so genannte „stolze These, daß für die Wissenschaft keine Frage grundsätzlich unlösbar sei ...". Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1961, 260. Timothy Williamson, Knowledge and its Limits, Oxford 2000.
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Anmutungen, Ahnungen, Vermutungen und Annahmen sollten auch als Wissensformen analysiert werden. Wissen kann man nur das Wahre, gewiß, aber wir wissen auch, daß wir für ein solches Wissen niemals garantierende Kriterien zur Verfügung haben, sondern bestenfalls autorisierende. Um die besten autorisierenden Kriterien für Wissensansprüche bemüht sich die Wissenschaft, im Alltag hingegen sind wir in der Regel gezwungen, andere Autoritäten des Fürwahrhaltens zuzulassen: mulmige Gefühle, Merkwürdigkeiten, Registraturen von Kleinigkeiten in der Umgebung oder im Gebaren von Mitmenschen, ein verräterisches Zucken in ihrer Miene. Trotz des Risikos, das wir mit solchen weichen, unzuverlässigen, ja gelegentlich systematisch irreführenden Autoritäten eingehen, gänzlich verzichten können wir auf diese nicht. Daten auch nur in Form von Anhaltspunkten sind uns hochwillkommen, wenn uns sonst keine besseren Informationen zur Verfügung stehen. Hier ist der morastige Boden unseres alltäglichen Orientierungswissens, auf dem wir uns on the spot immer wieder einsinkend dennoch faute de mieux die Übersicht verschaffen müssen. Will die Philosophie solchen epistemischen Szenerien gerecht werden, benötigt sie allerdings einen reicheren Erfahrungsbegriff, als ihn die Erkenntnistheorie als Wissenschaftstheorie bereitstellt. Unsere Erfahrungen gründen nicht nur auf Beobachtungen, auf beobachtungsgestützten Sätzen, sondern ebenso auf Erfahrungen, die wir mit solchen Erfahrungen erster Stufe machen. Was wir benötigen, ist daher ein Empirismus zweiter Stufe. Was damit gemeint ist, läßt sich schön mit einem Gleichnis veranschaulichen. Carnap vergleicht einmal die Gegenstandsbereiche der Realwissenschaften mit Sternbildern.4 Hiernach sind die Gegenstände unserer Wissensbemühungen Sterne, die zu Sternbildern konfiguriert werden. Welche Arten von Gegenständen sind nun gegeben? Man könnte antworten: „erstens die Sterne selbst, zweitens die Abstände je zweier Sterne, drittens die Größenverhältnisse je zweier Abstände, viertens die Dreiecke je dreier Sterne, fünftens die Überdeckungsbeziehungen zweier Dreiecke, usf.; diese Gegenstandsarten sind tatsächlich völlig verschieden voneinander: ein Abstand ist kein Stern, ein Verhältnis zweier Abstände ist kein Abstand, usf."5 Gegen eine solche nach oben offene ontologische Skala von Gegenstandsarten argumentiert Carnap dahingehend, daß es sich hier außer um die Sterne selbst nicht sonst noch um ,autonome Gegenstandsarten' handelt. Es geht hier nur um Sterne und Beziehungen zwischen den Sternen, die da, wo wir die Sterne registrieren, so Carnap, „notwendig mitgegeben" sind: „die Verschiedenheit der sogenannten Gegenstandsarten [...] bedeutet nur eine verschiedene Art der Sternbilder [...] infolge verschiedener Zusammenfassungsweisen."6 Für Carnap gibt es also nur Sterne. Ihre Beziehungen zueinander sind zwar ,notwendig mitgegeben', was das besagt, teilt er uns allerdings nicht mit. Schließlich gibt es unsere konfigurierende Kraft, die die beziehentlich gegebenen Sterne zu Sternbildern konfiguriert. Aber auch diese konfigurierende und bildkreative Leistung wird nicht weiter analysiert. Carnap möchte den Empirismus der Beobachtungen und Sätze, d. h. den Empirismus erster Stufe, exklusiv stellen. Daß wir zudem Erfahrungen mit dem machen, was immer notwendig mitgegeben' ist, und Erfahrungen mit unseren konfigurierenden Talenten, tut ihmzufolge nichts zur Sache. Ein Empirismus zweiter Stufe ist nicht vorgesehen. So entfallen natür-
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Vgl. Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, 224. Ebd. Ebd.
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lieh auch Anschlußfragen wie diese: In welchem Sternbild werden die Sternbilder der Wissenschaften als solche überhaupt sichtbar? Dies ist die Frage nach dem Sternbild der Philosophie, deren Gegenstände die Sternbilder der Wissenschaften, aber auch die Sternbilder unserer außerwissenschaftlichen Selbstexplikation in Alltag und Geschichte sind. Das Sternbild der Sternbilder ist aber nur einem Empirismus zweiter Stufe zugänglich, der natürlich auch eine Wissenschaft der Erfahrung bleibt, aber der Erfahrung nicht von Gegenständen, sondern der Arten des Gegebenseins von Gegenständen, d. h. Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins. Für dieses Projekt hat sich seit Hegel auch der Titel einer Phänomenologie des Geistes eingebürgert. Projekt und Idee Hegels werden heute im Lichte einer schließenden, inferentiellen Vernunft als sozialsemantischer Explikationsmaschine z. B. von Robert Brandom neu entdeckt.7 Das kann auch als Fingerzeig dafür gewertet werden, daß in jedem Sternbild der Philosophie immer alle Sternbilder der Philosophie implizit enthalten sind und wiedergefunden werden können. Das gilt auch allgemein. Womit auch immer wir Bekanntschaft machen, wir machen darin auch immer Bekanntschaft mit uns selber. Diese Selbsterfahrungsgebundenheit aller Erfahrungen ist eine Einsicht, in der sich die Dimension philosophischer Fragestellungen erst eröffnet. Ihr ist die Einsicht in die Fremderfahrungsgebundenheit aller Selbsterfahrung allerdings komplementär. Diese in sich verschränkte Selbstbezüglichkeit kann nicht unterlaufen, sondern immer wieder nur dokumentiert werden. An dieser Stelle scheiden sich nun allerdings die Geister der Philosophie heute. Vorherrschend sind naturalistische und realistische Positionen, die den Eigensinn der Selbstbezüglichkeit eines Empirismus zweiter Stufe leugnen und ihn entweder direkt (kausal) oder indirekt über Brückenprinzipien und emergenztheoretische Relais auf der Basis eines Empirismus erster Stufe erklärlich machen wollen. Dem stehen Konzeptionen kritisch gegenüber, die die Kulturimprägniertheit auch unserer Naturbegrifflichkeiten akzentuieren, so daß naturalistische Optionen geradezu als Professionsfehler der Philosophie erscheinen. Der methodische Kulturalismus von Peter Janich und seiner Schule argumentiert in diese Richtung, und mir scheint mit Recht. Hiergegen muten in der Tat militante Formen eines eliminativen Materialismus wie bei Patricia Churchland eher als reflexionsresistente Strategien einer Selbstaufgabe der Philosophie an denn als ein Teil von ihr. Dem stehen in der Diskussion über die Existenz sogenannter Qualia wieder Denker gegenüber, die gerade die Nichtreduzierbarkeit von Erfahrungen zweiter Stufe betonen, und wie Thomas Nagel eher einer Unerforschlichkeitsthese zuneigen, z. B. von Erfahrungsweisen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wieder anders sieht es in funktionalistischen Theorien aus, die ihrerseits mit dem Problem der multiplen Realisierung zu kämpfen haben.8 Details können hier nicht ausgeführt werden, aber es galt zu belegen, daß gerade die Philosophie des Geistes (philosophy of mind) eine quicklebendige Disziplin der Gegenwartsphilosophie ist, in der sich auf spannende Weise die Wege von Neurologie, Computerwissenschaft, Kognitionswissenschaft und Philosophie kreuzen. Dabei zeigt es sich allerdings auch häufig, daß etliche vermeintlich neue Einsichten nur Wiederentdeckungen philosophischer Konzeptionen der Tradition in neuer Terminologie sind. Ein und dasselbe Sternbild kann in unterschiedlichen Farben leuchten. Aber auch das ist kein neues Phänomen, die systematische Philosophie auch der 7 8
Vgl. Robert Brandom, Expressive Vernunft, Frankfurt/M. 2000. Vgl. hierzu Martin Carrier, Bedeutung und Naturbeschreibung, Bonn 2000.
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Vergangenheit blieb in ihren Neuformulierungen immer den von der Tradition vorbereiteten Problemexplikationen verpflichtet, ob sie das nun wahrhaben wollte oder nicht. Das unterscheidet bekanntlich das Verhältnis der Philosophie zu ihrer eigenen Geschichte von dem nämlichen Verhältnis der Wissenschaften zu ihrer Geschichte. Deshalb ist die Geschichte der Philosophie von so eminenter Bedeutung für ihr Selbstverständnis. So kann man für die Philosophie des Geistes gerade aus der Tradition auch heute systematisch immer noch lernen, daß es ein Defizit ist, daß der Aspekt unserer Selbsterfindung in den gegenwärtigen Debatten nicht auftaucht. Die Diskussion um die Autorität der ersten Person und Rückgriffe auf Konzepte der Selbstorganisation können diesen Aspekt aber nicht erfassen. Tatsächlich hatte bereits Kant auf die Autokreativität der menschlichen Vernunft hingewiesen und bildlich von einer „Selbstgebärung unseres Verstandes (samt der Vernunft), ohne durch Erfahrung geschwängert zu sein", gesprochen.9 Erst durch diesen selbstkreativen Vorsprung vor aller Erfahrung baut sich unser epistemisches Weltverhältnis auf. Wir erfinden uns unter gegebenen Bedingungen nicht nur biographisch selbst, sondern unter den Bedingungen eines Naturwesens als Vernunftwesen überhaupt. Das hat mit philologischen Mitteln Bruno Snell in seinem bedeutenden Buch Die Entdeckung des Geistes10 in Analysen zur griechischen Literatur von Homer bis in die klassische und hellenistische Zeit auch empirisch mustergültig gezeigt. Daher haben wir schließlich nicht nur ein unveräußerliches kulturelles Patent auf unser biographisches Ich, sondern auch als Gattungswesen auf unsere Vernunftnatur. Das Sternbild der Philosophie muß aus dieser selbstkreativen Matrize heraus entwickelt werden, und wenn denn ihre Sterne Prinzipien sind, dann muß von hier aus gesehen immer der Umstand akzentuiert werden, daß es sich, wie Kant an anderer Stelle betont, um ,^elbstgedachte erste Prinzipien a priori unserer Erkenntnis"' 1 handelt. Die Selbstkreativität dessen, was wir Geist nennen, ist jedenfalls immer noch ein unabgegoltenes Phänomen, durch sie mutiert unser Empirismus zweiter Stufe zu einem kreativen Rationalismus. Die Intuition unserer erfahrungsbezogenen Selbstkreativität benötigen wir vor allem auch dann, wenn wir unsere Autonomie im Bereich der praktischen Vernunft absichern wollen. Daß in diesem Felde das Thema Grenzen und Grenzüberschreitungen gerade in unserer Zeit besonders aktuell ist, braucht sicher nicht eigens betont zu werden. Auch hier ist eine ebenso dringliche wie lebhafte Diskussion im Gange, in der sich Pfade der Medizin, Biologie, Neurologie, Gentechnologie, Jurisprudenz und Philosophie kreuzen. Da hier außerordentlich konsequenzenreiche Fragen traktiert werden, hat sich das Streitprofil erheblich verschärft. Es hilft aber nichts, etwas Besseres als State of the art-Argumente und -Informationen stehen einer auf Rationalität verpflichteten Diskussion nun einmal nicht zur Verfugung. Aber wenn die Probleme in ihrer kontroversen Zuspitzung den Beteiligten noch nicht lösungsreif erscheinen, gibt es im Rahmen einer Ethik des Argumentierens doch noch eine argumentative Tugend, die wir aus der antiken Skepsis kennen, nämlich eine freiwillige Selbstbegrenzung als Urteilsenthaltung (epoche). Sie impliziert im Bereich der praktischen Vernunft allerdings auch das Aussetzen einer Praxis, und das ist etwas, was in seinen Folgen wieder mitbedacht sein muß. So ist die Reichweite des Personenbegriffs immer noch kontrovers. 9 10 11
Kant, KrVB 793/A765. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 1993. Kant, KrVB 167.
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Das ist insofern von gravierender Bedeutung, als erst im Sternbild von Personen rechtsfähige Verhältnisse anzutreffen sind. Man muß allerdings zudem sehen, daß im Sternbild von Personen anderes, wie Carnap formulierte, ,notwendig mitgegeben' ist, nämlich alles, was zur Condition humaine zu rechnen ist. Dadurch werden die Verhältnisse allerdings so schwierig, daß man zu Abkürzungen geradezu gezwungen ist. Dazu könnte man ansetzen, wenn man den Status des Begriffs Mensch als normativen Programmbegriff faßt und nicht als Deskriptor einer Klasse von Primaten. Als Person gilt dann, was in das Programm Vernunftwesen hineingestellt ist. Dieses Programm kommt unterschiedlich zur Ausfuhrung, vom Kind anders als vom Greis, von Individuum zu Individuum verschieden, und niemand kann es ausschöpfen, der Gesunde nicht, der Kranke nicht, und trotzdem bleibt es dasselbe Programm. Diese programmbegriffliche Auffassung trägt dem bereits genannten autokreativen Aspekt unserer Vernunft Rechnung, impliziert aber auch, daß die Zugehörigkeit von Organismen zur Spezies Homo sapiens anders gefaßt werden muß. Die Zugehörigkeit zur Menschheit im programmbegrifflichen Sinne bedeutet dann gerade keine biologisch definierte Zugehörigkeit zu einer Klasse von Primaten, sondern das Hineingestelltsein in das Programm Mensch. Als Selbsterfindungsprogramm kommt der Mensch in der Biologie nicht vor. Bei Programmbegriffen handelt es sich grundsätzlich nicht um Natur-, sondern um Kulturbegriffe, unter dem Titel,Mensch' um den basalen, auf den alle sonstigen bezogen bleiben.12 Aber auch auf diesem Wege kann man die Faktizitätsabhängigkeit nicht gänzlich vermeiden, wohl aber motivieren. Sobald das Programm Person von Seiten eines Organismus ,aufgelegt' ist, ist er als in das Programm hinein- zugleich unter den Rechtsaspekt dieses Programms gestellt. Die Selbsterfindung des Vernunftwesens beginnt von Anfang an, nicht erst wenn es diese auch sprachlich zu entfalten beginnt. Der Mensch ist mehr als nur Sprachwesen. Er erfindet sich auf die Sprache zu und über sie hinaus. Das klingt für manche vermutlich zu poetisch, aber ist dennoch nur ein Stenogramm dessen, was Kant sehr umständlich zur semantisch überschüssigen Kraft der schöpferischen Einbildungskraft ausgeführt hat. Gewisse Vorstellungen, die wir haben, geben eben „viel zu denken" Anlaß, ohne daß ihnen „doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann".13 Es scheint, daß im symbolischen Medium solcher, von Kant auch ,ästhetisch' genannten Ideen, die keine Sprache völlig erreicht und die begrifflich nicht ausgeschöpft werden können, und daß im Medium auch solcher Ideen, denen umgekehrt keine Anschauungen adäquat sein können (Vernunftideen), die Selbstgebärung unseres Geistes statt hat. Das erklärt, daß in die semantischen Grenzen unserer Selbstverständigung nicht nur das Potential, sondern die Realität einer semantischen Grenzüberschreitung schon eingebaut ist. (Von hier aus wären die Theorien der Bezugnahme auf Gegenstände neu zu diskutieren, auch die Ursprünge unseres vorwissenschaftlichen Realismus.)
12
Vgl. hierzu auch Hubert Markl, Verantwortung, Menschenwürde: Warum Lebenswissenschaften mehr sind als Biologie, in: 52. Jahresversammlung der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin 2001, München
13
Kant, KUB 193/A 190.
2001,58.
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Jedenfalls sind die Grenzen unserer semantischen Expressivität nicht zugleich Grenzen unseres Denkens. Wieder mit Kant: es gibt Vorstellungen, „die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann".14 Sie regen uns an, beleben unser Nachdenken, bringen „das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung",15 lassen uns „zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken", erzeugen gerade dadurch ein ,Gefühl', das „mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet".16 Wo immer wir mit unserem Nachdenken solche Effekte erzeugen, die grenzüberschreitend das Unnennbare gleichsam berühren und Bedeutungen nur noch ahnen lassen, werden wir von Bildern und sprachlichen Winken Gebrauch machen, die alles Assertorische hinter sich lassen. „Wo es darauf ankommt, sich dem gedanklich Unfaßbaren auf dem Wege der Ahnung zu nähern, haben diese Bestandteile ihre volle Berechtigung".17 Diese Lizenz erteilt, was wohl sogar Philosophen der akademischen Zunft nicht vermuten dürften, niemand anderes als Gottlob Frege, der für diese Dimensionen außerhalb der Wissenschaften ein feines Gespür hatte. Auch der Philosoph wird gelegentlich und sparsam von solchen Mitteln Gebrauch machen, die eine überargumentative Nachdenklichkeit erzeugen, um gedankliche Horizonte abzutasten, die sich unserer begrifflichen Zugänglichkeit noch oder überhaupt entziehen. Nicht jeder Satz der Philosophie stimuliert allerdings das Nachdenken, dazu muß er, ohne unklar zu sein, doch ein gewisses intellektuelles Format haben, ähnlich wie Kant es mit Blick auf die ästhetischen Ideen beschrieben hat. Ein Satz wie „Wer im Mythos lebt, weiß das nicht" wirft solche nachdenklichkeits-stimulierenden Effekte aus. Er stammt von meinem Vorgänger im Amt, von Jürgen Mittelstraß.18 Wenn denn in diesem Sinne ein Mythos ein begründungsfreies Sternbild ist, dann muß sich die Philosophie auch fragen: In welchem Mythos leben wir heute? Vielleicht im Mythos der universellen Turingmaschine? Im Mythos eines anthropologischen Pragmazentrismus? Im Mythos einer abwesenden Spiritualität des Menschen? Wir wissen es nicht und können es erst wissen, wenn wir zu einem anderen Mythos übergehen. Der Schirm des Selbstverständlichen wird erst sichtbar, wenn wir ihn aus der Hand geben. Aber wir müssen aufpassen, daß wir uns nicht auch selbst mit aus der Hand geben. Denkwürdig bleibt, daß Kant mit dieser Möglichkeit gerechnet hat, wo er im § 83 der Kritik der Urteilskraft, also schon 1790, mit einiger Beiläufigkeit bemerkt, daß der Mensch „selbst, so viel an ihm ist, an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet".19 Daß gerade dies zutrifft, daß der Mensch an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet, nicht nur durch Kriege, sondern, wie manchmal behauptet wird, auch durch Technik und Wissenschaft, scheint eine riskante Behauptung zu sein. Aber manchmal schießt auch Philosophen, zuerst übrigens Heidegger, der Gedanke durch den Kopf, daß wir gerade heute im Verhältnis zu dem, was wir können, nicht mehr frei sind.20 Diese Art der Unfreiheit ist ein Kennzeichen des Pragmazentrismus
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18 19 20
K a n t , K U B 195/A 193. K a n t , K U B 194/A 194. Kant, KUB 197/A 195. Gottlob Frege, Logische Untersuchungen, in: ders., Kleine Schriften, hg. v. Ignacio Angelelli, Darmstadt 1967, 347. Jürgen Mittelstraß, Über philosophische Sprache, Bonn 2000, 30. Kant, KUB 390/A 385. Vgl. hierzu Wolfram Hogrebe, The Real Unknown, Bonn 2002.
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unserer Zeit. Einige Philosophen wie Jürgen Habermas sind deshalb der Ansicht, daß eine solche sternbildblinde Zentrierung nur durch die Inanspruchnahme eines Unverfügbaren vermieden werden kann. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage nach den spirituellen Bedürfnissen des Menschen, die in rezenten anthropologischen Sternbildern des Menschen nur selten vorkommen. Diese Frage ist auch deshalb von Belang, weil die Voraussetzung für den interkulturellen Dialog z. B. mit der islamischen Welt in der Anerkennung der Legitimität solcher Bedürfnisse gegeben ist. Und wer wenn nicht die Philosophen sollte sich an diesem notwendigen Dialog beteiligen, da Orient und Okzident in ihren kulturellen Voraussetzungen auf einem gemeinsamen Schatz an Gedanken aufruhen, und das ist die Philosophie von Piaton, Aristoteles und Plotin. So bedarf es vielleicht einer neuen Renaissance, um eine Gemeinsamkeit zu erarbeiten, für die die Geschichte uns schon ein Beispiel vorgegeben hat. So ist es eine bleibende Aufgabe der Philosophie, dem Gedanken zuzuarbeiten, daß die Menschheit sich als in ein gemeinsames Sternbild hineingestellt weiß. Dieser Aufgabe ist auch unser Kongreß verpflichtet.
Kolloquien
Kolloquium 1 Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Philosophie der Antike und Spätantike
CHRISTOPH HORN
Einleitung Mit Blick auf die antike Philosophie liegt es nahe, beim Stichwort Grenzen an eines der drei folgenden Themen zu denken: (a) an das Problem der äußeren Grenzen oder der Gestalt einer Entität; dieses wird meist als Frage nach zwei konstitutiven Prinzipien behandelt, wobei,Grenze' (peras) häufig den Formaspekt und ,Unbegrenztheit' (apeiron) den Materialaspekt bezeichnen, (b) an Grenzen des Wissens, der Erfassbarkeit oder Darstellbarkeit irgendwelcher epistemischer Inhalte und (c) an die begrenzte Reichweite der Gültigkeit subjektiver moralischer Überzeugungen, sozialer Normen oder traditioneller Standards. Bei der Themenstellung (a) kann es sich um Prinzipien in Ontologie, Epistemologie oder Moralphilosophie handelt. Die Frage nach Grenze und Unbegrenztem in diesem Wortsinn wird seit der vorsokratischen Philosophie erörtert; es war möglicherweise bereits Anaximander, der den apeiron-Begriff in die Debatte um die Prinzipien der Wirklichkeit eingeführt hat (vgl. DK 12B1). Das Begriffspaar von peras und apeiron spielt bis zu Piaton und Aristoteles eine wesentliche Rolle in der prinzipientheoretischen Grundlagendebatte. Thema (b) ist epistemologischer Art; diskutiert wird seit Parmenides und besonders seit Sophisten wie Gorgias oder Protagoras, wieweit Menschen über sicheres Wissen verfügen können. Und schließlich (c) gibt es mindestens seit den Sophisten eine rege Debatte um die Frage, wieweit subjektiv plausible oder gesellschaftlich akzeptierte Standards reichen mögen: Gelten ethische oder rechtliche Normen grundsätzlich nur subjekt-, gemeinschafts-, zeit- und epochenrelativ, oder soll man ihnen eine kontexttranszendente Bedeutung zuerkennen? Falls ersteres, schmälert das ihre Relevanz, oder ist Relativität selbst eine Sinnbedingung von Normgeltung? Falls letzteres, wodurch lässt sich ein übergreifender Anspruch untermauern? Im Kolloquium 1 sind Beiträge repräsentiert, in denen alle diese Themen sowie zahlreiche weitere Aspekte des Begriffs ,Grenze' berührt werden. Christof Rapp (Berlin) untersucht in seinem Text die Ontologie der Vorsokratiker, die seit Parmenides zentral am Begriff der Grenze orientiert gewesen sei. Der eleatische Grenzbegriff spiele im Hintergrund stets eine entscheidende Rolle, wenn etwa diskutiert werde, ob das wahrhaft Seiende teilbar oder unteilbar sei, ob es ausgedehnt sein könne, ob es eines oder vieles sei, ob es als bewegt
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und veränderlich anzusehen sei oder als gleichbleibend. Rapp erinnert zugleich daran, dass Parmenides scheinbar eine etwas skurrile Sonderstellung einnimmt: Die Intention des von Parmenides entwickelten extrem anspruchsvollen Kriterienkatalogs für wahres Sein scheine nicht in einer universalen Ontologie zu liegen, sondern auf eine einzige, pointiert herausgehobene wahre Entität zu zielen. Doch die Deutung des Lehrgedichts im Sinn eines numerischen Monismus lasse sich erschüttern, wenn man sich die Frage vorlege, weshalb Parmenides' Schüler Melissos den Grenzbegriff als Kriterium für wahres Sein durch den Begriff des Unbegrenzten ersetzt habe. Rapps Antwort besteht darin, dass Parmenides und Melissos dieselbe ontologische Grundkonzeption verteidigt, ihren jeweiligen Begriffen von Grenze aber einen grundverschiedenen Sinn verliehen hätten: Grenze bezeichne in ersten Kontext die stabilisierende Größe, die eine Entität vor dem Übergang ins Nichtsein bewahrt, und im zweiten Kontext das Abgegrenztsein einer Entität gegen benachbartes Seiendes. Hinter der Ungleichheit der Terminologie stecke eine grundlegende Gleichheit des Anliegens beider Autoren: die Annahme eines ontologischen Monismus. Was Rapp in Frage stellt, ist hingegen, dass die von beiden Philosophen geteilte Intention darin besteht, einen numerischen Monismus zu verteidigen. In seiner Interpretation des Parmenideischen Kugelvergleichs bezweifelt Rapp diese Meinung, indem er sich - unter Rückgriff auf die Arbeit von Patricia Curd - für einen prädikationalen Monismus und gegen einen numerischen Monismus bei Parmenides ausspricht. Auf diese Weise werde eine Lesart erreicht, die einen erheblich besseren philosophischen Sinn ergibt und wesentlich besser zu den zahlreichen antiken Textzeugen zu Parmenides' Anliegen passe. Auch vermittle diese Sicht ein klareres Bild von den Auseinandersetzungen, die im Anschluss an Parmenides um seinen Ansatz geführt worden seien. Dorothea Frede (Hamburg) behandelt Piatons Philebos mit Blick auf diejenigen Passagen, in denen peras und apeiron als konstitutive Prinzipien des guten Lebens dargestellt werden. Was in diesen Textabschnitten zur Diskussion steht, bezeichnet Frede pointiert als eine ,Mathematik des guten Lebens'. Geht es Piaton, so fragt sie, um eine quantitative Bestimmung jener richtigen Mischung, die dem Dialog zufolge das gute menschliche Leben ausmachen soll? Frau Frede wendet sich zum einen gegen eine bagatellisierende oder herabstufende Deutung einer solcher Konzeption, die bei Piaton seit der mittleren Phase zweifellos von erheblicher Bedeutung sei. Andererseits sei es Piaton nicht um konkrete, gar um quantifizierende moralische oder politische Problemlösungen mit den Mitteln der Mathematik gegangen. Frede weist daher zum anderen Interpretationen wie die der Tübinger Schule zurück, in denen die Bedeutung mathematiknaher Prinzipien überschätzt werde, hält die mathematische Konkretisierung aber durchaus für ein Forschungsprogramm Piatons. Zentral für ihre Deutung ist die komplexe Stelle 66a-c, welche eine fünfstufige Rangliste von Gütern enthält; sie wird von Frede als eine uneinheitliche Folge interpretiert, in die Piaton sowohl konstitutive Prinzipien, als auch deren Produkte, kausale Faktoren und Inhalte aufgenommen habe. Um dem Gehalt dieser Stelle genauer auf die Spur zu kommen, untersucht sie dann die frühere Passage 16c-18e, in der peras und apeiron als Methodenbegriffe gebraucht werden, sowie die Stelle 23b-31b, wo Grenze und Unbegrenztes als zwei von vier Seinsklassen erscheinen. In der ersten Textpassage sei es Piaton einfach um eine methodisch korrekte dialektische Aufteilung eines Phänomenfelds zu tun, bis man zu unteilbaren, elementaren Teilungsprodukten gelange. An der zweiten Stelle entwickle Piaton ein ontologi-
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sches Vier-Klassen-Modell mit dem Ziel, das richtige Maß mit Blick auf graduelle, komparative und relative Phänomene ausfindig machen zu können; zu letzteren zählt auch die Lust, aber nicht nur sie. Es komme Piaton nicht auf ein einziges, bestimmtes Maß an, sondern auf die Formulierung der Tatsache, dass verschiedene Mischungsverhältnisse in diversen Hinsichten für ein gutes Leben konstitutiv seien. Ob er dabei an konkrete numerische Proportionen gedacht hat, lässt Frede offen, ohne es für allzu unwahrscheinlich zu halten. Nicholas White (Irvine) wirft in seinem Text die Frage auf, ob man die moralphilosophische Position des Aristoteles in einem substantiellen Sinn als partikularistisch bezeichnen kann. Whites Antwort hierauf fallt differenziert aus: Er wendet sich dagegen, mit Terence Irwin jeglichen Partikularismus bei Aristoteles abzulehnen, und hält eine andere Version des Partikularismus für tatsächlich gegeben, für deren Begriffsbestimmung er auf Thesen von David Wiggins und John McDowell zurückgreift. Seine Kritik gilt zu Beginn des Textes der Deutung Irwins, welcher die aristotelische Moralphilosophie deswegen nicht als partikularistisch ansieht, weil dieser unter Partikularismus die vollständige Herleitung genereller praktischer Urteile aus partikularen praktischen Urteilen versteht. Zutreffend weise Irwin, so White, darauf hin, dass Aristoteles generelle oder universelle moralische Aussagen nicht bloß als Derivate aus partikularen Feststellungen betrachtet. Aristoteles operiere durchaus von Anfang an, und nicht bloß abgeleitetermaßen, mit allgemeinen Urteilen. Aber Irwin sei mit seiner zu engen Begriffsbestimmung im Unrecht; ein Partikularist müsse keineswegs behaupten, partikulare Urteile seien gegenüber generellen stets primär. Was White mit Blick auf Aristoteles für richtig hält, ist vielmehr die These, dass praktische Regeln an ihre Grenzen stoßen und daher weder partikulare Urteile noch generelle Urteile grundsätzlich primär sind. White verteidigt somit eine Interpretation, nach der Aristoteles, obwohl er einige allgemeine praktische Urteile für irreduzibel und unabgeleitet hält, dennoch zugleich situative Ergebnisse praktischer Deliberation als unabdingbar ansieht. Bestimmte praktische Einsichten können für Aristoteles (nach Whites Deutung) nicht anders als durch Überlegen erlangt werden, und zwar beruhten diese wesentlich auf Wahrnehmung (aisthésis). Für den Whiteschen Aristoteles existieren Fälle, besonders Tugendkonflikte und Probleme der graduellen Prinzipienanwendung, in denen die Einschränkung einer allgemeinen praktischen Regel nur durch situations- und kontextrelative Wahrnehmungen, nicht in Form von regelhaft formulierten Ausnahmen möglich sind. Allenfalls lassen sich generelle Einschränkungen dann ex post formulieren, nicht aber ex ante. White verteidigt diese Auffassung durch eingehendere Beobachtungen zum aisthésis-Begñff in praktischen Kontexten.
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Grenzen des Seins Die Diskussion um die Grenzen des Seienden in der Ontologie der vorsokratischen Philosophen
I.
Mit auffallender Häufung und Emphase begegnet uns die Vorstellung von Grenzen, Begrenzungen usw. im Zusammenhang der eleatischen Philosophie. Der Begründer der eleatischen Denktradition selbst, Parmenides, betont einerseits immer wieder, dass das Seiende feste Grenzen haben muss, andererseits jedoch will er zeitliche und interne Grenzen des Seienden ausschließen. Parmenides' Ausfuhrungen über die Grenzen des Seins stellen gewissermaßen die Weichen für die ontologischen Konzeptionen aller auf ihn folgenden Vorsokratiker und üben auf diesem Weg indirekt auch einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Ontologie der klassischen griechischen Philosophie in der Zeit Piatons und Aristoteles' aus. Die unmittelbar auf Parmenides folgenden Denker entwickeln unterschiedliche eigenständige Positionen, versuchen dabei aber, die wichtigsten ontologischen Prämissen des Parmenides beizubehalten; wenn sie diskutieren, ob das wahrhaft Seiende teilbar ist oder nicht, ob es ausgedehnt sein kann, ob es eines oder vieles ist, ob es bewegt und veränderlich sein kann oder ob es immer dieselbe Bestimmung aufweist, dann ist dies offenkundig das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den Seinskriterien des Parmenides.1
II. Nehmen wir den Faden bei Parmenides selbst auf. Er meint bekanntlich ein Argument zu haben, wonach es ausgeschlossen ist, etwas zu sagen, zu denken oder zu erkennen, was nicht ist.2 Deshalb fordert er auf, den Weg des Ist-Nicht beiseite zu lassen, weil es auf diesem nichts zu entdecken, zu erforschen oder zu erkennen gebe, und sich statt dessen dem
Man könnte das eben Gesagte auch auf das Kongressthema zuspitzen und sagen, all dies seien Transformationen der Parmenideischen Thesen über die Grenzen des Seins; es wird aber auch ohnedies klar werden, dass das Thema der Begrenzung wesentlich in den darzustellenden Diskussionskontext involviert ist. 2
Vgl. Parmenides, Fragment 28 B 2, 6-8: „Dieser Weg ist, so sage ich dir, ganz und gar unerkundbar; denn das, was nicht ist, kannst du weder denken / erkennen noch kannst du es sagen (denn das ist nicht durchfuhrbar)." Fragmentnummerierung nach Diels, H. / Kranz, W., Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde., Zürich "1974 (unveränderter Nachdr. der 6. Aufl.).
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Weg des Ist zuzuwenden. Will man diesen Weg konsequent zu Ende gehen, dann muss man das, was ist, von allen Vermengungen mit dem Ist-Nicht freihalten, denn das, was ist, darf sich in keiner möglichen Hinsicht als nicht-seiend erweisen. Um dies sicher zu stellen, benennt Parmenides verschiedene Kriterien, die jede Entität erfüllen muss, von der man zu Recht sagen darf, dass sie ist: Was ist, muss unentstanden, unvergänglich, unteilbar zusammenhängend, unveränderlich und unbeweglich, ganz, vollständig und von einer einzigen Art sein.3 Ein Blick auf diese Kriterien genügt, um zu sehen, dass nur sehr wenige von den Dingen, mit denen wir für gewöhnlich Umgang pflegen, eine Chance hätten, den Parmenideischen Seinstest zu bestehen. Es ist daher klar, dass wir Parmenides' Überlegungen nicht als Beitrag zu einer universalen Ontologie verstehen dürfen, wie wir sie von Aristoteles her kennen. Wenn die Parmenideischen Seinskriterien überhaupt zu etwas gut sind, dann zu einem ganz andersartigen Projekt, nämlich zur Identifizierung derjenigen grundlegenden Entität oder derjenigen grundlegenden Entitäten, von denen Parmenides meint, dass sie allein als zuverlässiger Gegenstand für unsere Erkenntnis und Erforschung der Welt in Frage kommen. Nun ist die gesuchte Entität, die Parmenides als wahrhaft seiend anerkennen würde, selbst offenbar wenig alltäglich - so wie überhaupt die von ihm mitgeteilte Lehre, die, wie er sagt, „weitab vom Pfad der Menschen" 4 sei - , die Kriterien jedoch, die diese Entität erfüllen muss, sind gar nicht so weit hergeholt, wie es zunächst erscheinen mag. Offenbar möchte Parmenides nur diejenigen Merkmale explizit machen, die jeder akzeptieren muss, der konsistenterweise behaupten will, dass etwas wirklich ist, da diese Behauptung, recht verstanden, impliziere, dass die betreffende Entität nicht zugleich nicht sein kann - und dies in jeder erdenklichen Hinsicht. So darf das, was wirklich ist, nicht entstanden sein und nicht vergehen, denn dann gäbe es Zeitpunkte, zu denen es nicht sein würde, so dass es nicht mehr als uneingeschränkt seiend angesehen werden könnte. Ebenso kann sich das, was wirklich ist, nicht verändern, denn wenn sich das Seiende als solches verändern würde, dann wäre es nach der Veränderung entweder mehr oder weniger seiend als zuvor, was aber ausgeschlossen werden kann, wenn es nach Voraussetzung uneingeschränkt und vollständig seiend sein soll. Das Fragment nun, in dem Parmenides alle diese Merkmale des Seienden vorstellt, ist voll von Hinweisen auf Grenzen, Begrenzungen, Fesseln oder Bande, die die gesuchte Entität aufweisen müsse; zum Beispiel sagt er: ... weder zum Werden noch zum Vergehen hat Dike es (das Seiende) freigegeben, indem sie es in seinen Fesseln locker lassen würde, vielmehr hält sie es (darin) fest. 5 ... unbeweglich liegt es in den Grenzen riesiger Bande, anfangslos und ohne Ende6, Die machtvolle Notwendigkeit nämlich hält es in den Banden der Grenze, die es ringsum einschließt, weil das Seiende nicht ohne Abschluss sein darf.7
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Dies sind die wichtigsten Merkmale des Seienden nach Fragment 28 B 8 (DK). Parmenides, Fragment 28 B 1, 27 (DK). Parmenides, Fragment 28 B 8, 14 f. (DK). Parmenides, Fragment 28 B 8, 26 f. (DK). Parmenides, Fragment 28 B 8, 30-32 (DK).
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Daher ist es auf den ersten Blick verblüffend, dass ausgerechnet einer seiner eleatischen Nachfolger, nämlich Melissos von Samos, der dem Parmenideischen Denken so nahe steht, dass er schon in der Antike regelmäßig als philosophisch minderbegabte Kopie des Meisters angesehen wurde, die These aufstellt, das Seiende sei in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht unbegrenzt.8 - Ein Vergleich zwischen beiden verspricht daher Aufschluss über die unterschiedlichen Aufgaben, zu denen der Grenzbegriff herangezogen werden kann, und dies wiederum wird uns auf zwei grundlegende und chronisch schwierige Fragen der Parmenides-Interpretation lenken.
III. Für beide, Parmenides und Melissos, grundlegend ist die Überzeugung, dass das, was wirklich ist, nicht entstanden und nicht vergänglich sein kann. Hierbei steht im Lehrgedicht des Parmenides das Argument im Vordergrund, dass Seiendes nicht aus Nicht-Seiendem entstanden sein könne. Unabhängig davon scheinen beide schon die Bedeutung des Wortes „sein" so zu verstehen, dass es bei konsequenter Verwendung ein Werden oder Gewordensein strikt ausschließt;9 insoweit dürfte hier ein Vorbild für den Wortgebrauch gegeben sein, der später Piatons Gegenüberstellung des Seienden und des Werdenden zugrunde liegen wird.10 Für Melissos folgt aus dem Fehlen eines Anfangs und eines Endes unmittelbar die ewige zeitliche Ausdehnung des Seienden, dass es nämlich, wie er sagt, immer war und immer sein wird." Parmenides zieht aus derselben Prämisse einen durchaus anderen Schluss, nämlich dass es nicht einst war und (künftig) sein wird, sondern dass es jetzt zugleich ganz ist.12 Aufgrund dieser Formulierung wurde es zu einer beliebten Streitfrage der Parmenides-Literatur, ob Parmenides nicht eher so etwas wie eine zeitlose Präsenz des Seienden13 als dessen ewige Dauer vor Augen habe. Die Annahme einer zeitlosen Präsenz des Seienden bei Parmenides könnte, wenn sie richtig sind, vielleicht erklären, warum Melissos Anfang und Ende explizit als Grenzen der zeitlichen Ausdehnung sieht und daher die zeitliche Unbegrenztheit des Seienden fordert, während Parmenides ein Anfangen oder Aufhören des Seienden zwar für ebenso abwegig hält, selbst diesen Umstand aber nirgendwo in der Terminologie nicht-vorhandener Grenzen beschreibt. Wenn er sogar formuliert, dass das Seiende durch mächtige Grenzen vom Werden und Vergehen abgehalten werde und damit die Begrenzung des Seienden in einem Atemzug mit demjenigen Merkmal nennt, das bei Melissos und später sogar bei Piaton14 als Unbegrenztheit beschrieben wird, dann wird klar,
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Für die zeitliche Hinsicht vgl. Melissos, Fragment 30 B 1, B 2, und B4 (DK), für die räumliche Hinsicht B3 (DK).
9
Vgl. Parmenides, Fragment 8,20. Vgl. Piaton, Timaios 27d-28a. Vgl. Melissos, Fragment 30 B 1, B 2 (DK). Vgl. Parmenides, Fragment 28 B 8, 5 (DK). Diese Auffassung wurde vertreten durch G. E. L. Owen, „Plato and Parmenides on Timeless Present", in: A. P. D. Mourelatus (Hg.), The Presocratics. A Collection of Critical Essays, New York 1974, 2 1993, 271-290. Vgl. Piaton, Parmenides 137d.
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dass bei Parmenides die Grenzen eine völlig andere Funktion haben: Die Grenzen, von denen er hier spricht, sind allein durch die Folgerichtigkeit des Denkens auferlegt, sie halten sozusagen das Seiende vom unzulässigen Übertritt in den Bereich des Nicht-Seienden ab bzw. halten uns, wenn wir folgerichtig denken, davon ab, einen solchen Übertritt in unserer Konzeption des gesuchten Seienden zuzulassen. Von äußeren Grenzen der zeitlichen Erstreckung ist erst in der späteren Tradition, bei Parmenides selbst jedoch noch nicht die Rede. Nun hat die zeitliche Begrenzung zumindest bei Melissos eine direkte Entsprechung in räumlicher Hinsicht; er sagt: ... so wie es immerwährend ist, so muss es auch der Größe nach immer unbegrenzt sein.15
Diese Unbegrenztheit des Seienden affiziert für Melissos unmittelbar eine andere Frage, nämlich die, wie viele Entitäten es überhaupt geben kann; seine Antwort auf diese Frage ist unmissverständlich: ... wenn es unbegrenzt wäre, wäre es eines. Denn gäbe es zwei, so könnten sie nicht unbegrenzt sein, sondern würden eine Grenze gegeneinander bilden.16 Wäre es nicht eines, so wird es gegen ein anderes eine Grenze bilden.17
Melissos' Verknüpfung von Pluralität mit Begrenztheit und von Einzahl mit Unbegrenztheit ist klar und folgenreich. Wo immer es eine Grenze gibt, gibt es ein Zweites, von dem das Begrenzte abgegrenzt wird, und wo immer es mehr als eines gibt, gibt es eine Grenze zwischen beiden. Auch klar ist, dass das Seiende für Melissos räumlich ausgedehnt ist, denn er spricht ausdrücklich von der unbegrenzten Ausdehnung (megethos) und leitet diese aus der Analogie zu den temporalen Eigenschaften des Seienden her. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang nur die Frage, ob Melissos entweder die Einzahl des Seienden als fundamental nimmt und daraus dann die Unbegrenztheit herleiten will oder ob er umgekehrt die Unbegrenztheit aus dem Fehlen von Anfang und Ende herleitet, diese dann von der zeitlichen auf die räumliche Perspektive überträgt, um schließlich aus der räumlichen Unbegrenztheit allein oder aus der raum-zeitlichen Unbegrenztheit insgesamt auf die Einzigkeit des Seienden zu schließen. In jedem Fall ist Melissos' Argument so erfolgreich und einprägsam, dass er schon in der antiken Überlieferung zusammen mit Parmenides einhellig als paradigmatischer Monist angesehen wurde, während zum Beispiel Zenon von Elea, den Piaton in seinem Dialog Parmenides zum großen Bekämpfer der Vielheit stilisiert, in der peripatetischen Doxographie m. W. nie in einer Reihe mit Parmenides und Melissos als Vertreter eines philosophischen Monismus genannt wird.
IV. Das Seiende ist für Melissos also unbegrenzt und durch seine Unbegrenztheit ein einziges. Wir haben außerdem gesehen, dass für Melissos das Argument von der Grenze, welche stets 15 16 17
Melissos, Fragment 30 B 3 (DK). Melissos, Fragment 30 B 6 (DK). Melissos, Fragment 30 B 5 (DK).
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ein weiteres Seiendes erfordere, und seine monistische These untrennbar verknüpft sind. Für Melissos' philosophisches Vorbild Parmenides erwartet nun die Tradition dieselbe Art von monistischer These, wobei aber Parmenides das Seiende als begrenzt und nicht als unbegrenzt charakterisiert, weswegen z. B. Aristoteles und die an ihn anknüpfenden MetaphysikKommentatoren das Verhältnis zwischen beiden auf die Formel bringen, beide hätten zwar das Seiende als eines angesehen, der eine aber habe es als begrenzt, der andere als unbegrenzt aufgefasst.18 Wenngleich wir bereits wissen, dass diese Gegenüberstellung irreführend ist, da sich die Begrenztheit des Seienden bei Parmenides zumindest in temporaler Hinsicht nicht auf derselben Ebene bewegt wie die Unbegrenztheit bei Melissos, bleibt der zitierte Unterschied zwischen beiden Denkern doch etwas verwirrend, da mit dem Merkmal der Unbegrenztheit bei Parmenides gerade die Grundlage für jenen Monismus fehlen würde, den der Tradition zufolge Melissos mit Parmenides gemein hat. Sehen wir uns also die entsprechenden Ausführungen bei Parmenides näher an. Während Melissos selbst hinreichend klar macht, wann er von zeitlichen und wann er von räumlichen Eigenschaften des Seienden spricht, besteht ein grundlegendes Problem der Parmenides-Exegeten darin, dass die von Parmenides angeführten Merkmale des Seienden wie die Homogenität, die Kontinuität oder die Unteilbarkeit ebenso gut räumlich wie zeitlich oder sogar nur als Metapher für Verhältnisse, die überhaupt nicht raumzeitlich sind, aufgefasst werden können, so dass es prinzipiell schwierig ist, genau die Stelle zu fixieren, an der Parmenides über räumliche Merkmale des Seienden Auskunft gibt. Dennoch gibt es einen Passus im Lehrgedicht, der sich den Interpreten mehr als alle anderen Stellen als Kronzeuge für räumliche Eigenschaften des Seienden anzubieten schien, weil er erstens klar räumliche Assoziationen benutzt und weil er zweitens in einem komplementären Verhältnis zu Abschnitten über die temporalen Eigenschaften gesehen werden kann; es ist der Abschnitt, der den berühmten Kugelvergleich einführt: Aber weil eine letzte Grenze vorhanden ist, ist es von überall her abgeschlossen, der Masse einer wohlgerundeten Kugel gleich, von der Mitte her überall gleich; denn es kann ja nicht hier oder da etwas größer oder schwächer sein. Denn weder gibt es Nicht-Seiendes, das es hindern könnte, zum gleichen zu gelangen, noch könnte Seiendes irgendwie hier mehr, dort weniger sein als Seiendes, da es als Ganzes unversehrt ist; sich selbst nämlich ist es von allen Seiten her gleich, es liegt gleichmäßig in seinen Grenzen.' 9
In diesem Textstück, das die Beschreibung des wahrhaft Seienden bei Parmenides beschließt, werden die Hinweise auf Grenzen so dicht und intensiv, dass es nur fair scheint, wenn man, wie die oben erwähnten Aristoteles-Kommentatoren die Lehre des Parmenides auf die Formel bringt, dass das Seiende begrenzt sei. Dennoch haben wir allen Grund zur Vorsicht. Am einfachsten wäre es natürlich, wenn wir die in diesem Abschnitt genannten Merkmale einfach wörtlich nehmen dürften: Dann hätte das Seiende die Gestalt einer Kugel und würde von wie auch immer gearteten Grenzen oder Banden in eben dieser Gestalt fi18
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Aristoteles, Metaphysik 986bl8ff: „Parmenides nämlich scheint das Eine dem Begriff nach (logos) aufgefasst zu haben, Melissos aber der Materie nach - deswegen sagt der eine auch es sei begrenzt, der andere, es sei unbegrenzt." Entsprechend Alexander von Aphrodisias, In Aristotelis Metaphysica Commentaria 42.22—43.9 (Hayduck) und Asclepius, In Aristotelis Metaphysicorum libros A-Z Commentaria, 40.23-41.16. Parmenides, Fragment 28 B 8,42-49 (DK).
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xiert. Nun rechnet man zwar bei den vorsokratischen Philosophen mit allerlei überraschenden Thesen, dass aber nach dieser Deutung des Parmenides der einzig mögliche Gegenstand unseres Denkens und Sprechens eine festumschnürte, bislang aber noch nirgendwo gesichtete Kugel sein soll, ist dann doch etwas viel der Zumutung, die auch dann nicht wesentlich geringer wird, wenn man erklärt, es sei hier die Kugelförmigkeit des Kosmos gemeint. Gegen eine solche Deutung gibt erstens immerhin zu denken, dass nicht einmal Parmenides selbst das Seiende eine Kugel nennt, sondern es mit der Kugelgestalt ausdrücklich nur vergleicht, sowie zweitens, dass die Grenzen im vorher untersuchten Zusammenhang mit der zeitlichen Unbegrenztheit vereinbar waren, so dass es überraschend wäre, wenn derselbe Begriff nur wenige Verse später dazu benutzt werden würde, um die literale räumliche Begrenzung des Seienden zu beschreiben. Eine ähnliche Beobachtung hat auch G. E. L. Owen zur Grundlage seiner oft zitierten Erklärung gemacht, wonach zwar die Kugel nur eine Metapher für die Homogenität sei, das räumliche Vokabular aber wörtlich zu nehmen sei, wobei wiederum die Grenzen, da sie schon in zeitlicher Hinsicht die Unbegrenztheit des Seienden beschrieben haben, auch hier nicht die räumliche Begrenztheit des Seienden meinen könnten.20 Allerdings ist auch der von Owen nahe gelegte Schluss, dass sich das Seiende in räumlicher Hinsicht genau so verhalten müsse wie in zeitlicher Hinsicht, nämlich unbegrenzt, nicht recht plausibel, denn erstens könnte man die Unbegrenztheit des Seienden kaum schlechter beschreiben, als mit der gehäuften affirmativen Zuschreibung von Grenzen (wie sie sich in dem zitierten Abschnitt findet), und zweitens haben auch in temporaler Hinsicht die Grenzen durchaus nicht die zeitliche Unbegrenztheit beschrieben, sondern auf eine vermeintliche Denknotwendigkeit verwiesen, aus der die Anfangs- und Endlosigkeit des Seienden sowie alle anderen Eigenschaften des wahrhaft Seienden nur abgeleitet sind. Schließlich wird das zu Beweisende vorausgesetzt, wenn man annimmt, dass es hier explizit um die räumlichen Eigenschaften des Seienden gehen würde. Damit scheint eine Interpretation dieser Stelle, durch die Parmenides das unmittelbare Vorbild für die Melisseische These von der Unbegrenztheit des Seienden liefern würde, ausgeschlossen. Was aber hat es dann mit den Grenzen und der Kugelförmigkeit auf sich? Ich halte die in der Literatur schon früh beschriebene Beobachtung für entscheidend, dass der ganze Abschnitt das schon einige Verse früher begonnene Thema der Vollständigkeit des Seienden fortsetzt; dort hieß es, das Seiende dürfe nicht ohne Abschluss, d. h. nicht unvollständig sein,21 etwa in dem Sinn, dass es erst noch ein bestimmtes Ziel erreichen muss, um als schlechthin seiend qualifiziert zu sein. Dies wird jetzt wieder aufgegriffen mit den Worten „weil eine letzte Grenze vorhanden ist, ist es von überall her abgeschlossen (bzw. vollständig)"22, was offenbar meint, dass es unter jeder Perspektive und in jeder Hinsicht abgeschlossen ist, und dieser Hinweis erst gibt den eigentlichen Anlass für den Kugelvergleich, so dass die schon lange zuvor eingeführten Grenzen gar nicht die Peripherie der Kugel beschreiben können. Da die Kugel der einzige geometrische Körper ist, der sich von allen Perspektiven aus völlig gleich verhält, könnte 20
G. E. L. Owen, „Eleatic Questions", in: ders., Logic, Science, and Dialectic. Philosophy, Thaca 1986, 3-26.
21
Vgl. Parmenides, Fragment 28 B 8, 30-33 (DK): „Die mächtige Notwendigkeit nämlich hält sie in den Fesseln der Grenze; diese umschließt es ringsum, weshalb es nicht rechtens ist, wenn das Seiende unvollendet wäre, denn es leidet keinen Mangel. Verhielt es sich anders, würde es jeglicher Sache entbehren." Parmenides, Fragment 28 B 8, 42f (DK).
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der Kugelvergleich etwa soviel besagen, dass sich das Seiende unter allen möglichen Blickwinkeln gleich verhält, nämlich als Seiendes, und dass es nicht in der einen oder anderen Hinsicht weniger oder mehr seiend sein kann. Die Grenzen, von denen Parmenides spricht, sind, da sie bereits im Zusammenhang mit dem Merkmal der Unentstandenheit und Vergänglichkeit, dann im Zusammenhang mit der Unveränderlichkeit und jetzt zuletzt im Zusammenhang mit der Gleichförmigkeit und Vollständigkeit genannt werden, keine Metapher für ein weiteres gleichberechtigtes Merkmal neben den anderen Merkmalen, vielmehr trägt ihr Auftreten bei jedem einzelnen Merkmale den Aspekt bei, dass sich die genannten Sachverhalte nicht zufällig und vorübergehend, sondern notwendig und konstant so verhalten; die Grenzen sollen veranschaulichen, dass sich das Seiende nicht anders als dargetan verhalten kann, und dass es ebenso wenig in den Bereich des Nicht-Seienden abwandern, wie das Nicht-Seiende in den Bereich das Seienden eindringen kann.
V. Unbegrenztheit des Seienden bei Melissos und Begrenztheit bei Parmenides schließen sich daher nicht aus, da es sich bei Parmenides nicht um konkrete Grenzen in zeitlicher oder räumlicher Hinsicht handelt. Gegen eine solche Deutung, die die Grenzen teils als metaphorisch, teils als literale Grenzen des folgerichtigen Denkens, aber jedenfalls nicht als konkrete Grenzen ansieht, wurde früher schon eingewandt, dass das ganze räumliche Vokabular bei Parmenides nicht einfach als metaphorisch abgetan werden könne. Dies zu betonen ist auch völlig angemessen; ich möchte auch gar nicht ausschließen, dass Parmenides eine räumliche Ausdehnung des Seienden zulässt, ich bestreite nur, dass der Kugelvergleich die Aufgabe hat, die räumliche Gestalt des Seienden zu erläutern und dass die diesbezüglich erwähnten Grenzen die räumliche Begrenzung des Seienden beschreiben. Wenn die gemachten Ausführungen im Prinzip richtig sind, dann würde das folgenden philosophisch signifikanten Unterschied ans Licht bringen: Melissos stellt sich Grenzen des Seins konkret als etwas vor, was das Seiende zu irgendwelchen Nachbarentitäten in Beziehung setzen würde, er schließt daher entweder, dass es keine solche Nachbarentitäten geben darf, weil das Seiende unbegrenzt ist, oder dass es unbegrenzt ist, weil es keine solche Nachbarentitäten geben darf. Bei Parmenides dagegen sorgen die Grenzen lediglich dafür, dass das wahrhaft Seiende nicht mit dem Nicht-Seienden kontaminiert sein darf, die Fragestellung hingegen, die bei Melissos zur Zurückweisung der Grenzen fuhrt, nämlich die Frage, wie sich das Seiende zu möglicherweise angrenzenden Nachbarentitäten verhält, stellt sich Parmenides zumindest nach unserer Deutung der Kugelpassage überhaupt nicht. Während wir in der Nachfolge des Parmenides verschiedentlich Fragen dieser Art diskutiert finden, wie etwa im Umfeld von Zenon die Frage, worin sich das Seiende eigentlich befinde - im Seienden oder im Nicht-Seienden -, 2 3 oder die für Archytas belegte Frage, was denn sei, wenn man, am Rande des Seienden stehend, die Hand aus demselben herausstrecke,24 fällt auf, dass Parmenides Fragen dieses Typs entweder gar nicht berührt oder sie mit der Formulierung, das Sei23 24
Vgl. Pseudo-Aristoteles, De Melisso Xenophane Gorgia 979b21 ff. So jedenfalls ein bei Simplikios überlieferter Bericht des Eudemos über Archytas; vgl. Archytas 47 A 24 (DK).
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ende ruhe in sich selbst, als falsch gestellt zurückweisen würde. Zu dieser Gegenüberstellung scheint zu passen, dass Aristoteles und Alexander von Aphrodisias die Differenz zwischen Parmenides und Melissos auch in der Formulierung wiederzugeben pflegen, dass Melissos das Seiende bzw. Eine der Materie nach auffasse, während Parmenides es dem logos bzw. dem eidos nach, also begrifflich, deflatorisch usw., begreife.25
VI. Gehen wir einen Schritt weiter. Wenn sich Parmenides offenbar nicht (oder nicht mit derselben Dringlichkeit) die bei Melissos dominierende Frage stellt, woran denn das Seiende grenze, dann ist klar, dass auch die monistische These bei Parmenides, wenn er sie überhaupt teilt, einen anderen Stellenwert und auf jeden Fall eine andere Begründung haben muss. Nach unserer bisherigen Analyse des Grenzbegriffs und des Kugelvergleiches haben wir keinerlei Anhaltspunkte, die den Monismus entweder belegen oder widerlegen würden.26 Die Unterschiede zu Melissos in der Frage der Begrenzung haben aber auch klar gemacht, dass wir keinen Grund haben, uns der doxographischen Tradition, die den Monismus des Parmenides nie in Frage stellt, unkritisch anzuvertrauen. Maßgeblich Anteil an dieser Tradition hat sicherlich Piaton; in seinem Parmenides unterstellt er dem Namensgeber seines Dialogs die These, dass Eines (to hen) ist. Die Formulierung an sich ist vieldeutig, da sie aber der Behauptung gegenübergestellt wird, dass Vieles ist, scheint klar, dass er Parmenides die These des numerischen Monismus unterstellt, nämlich dass nur ein einziges Ding ist. Auffallend ist natürlich, dass Parmenides selbst in den erhaltenen Fragmenten nie von „dem Einen" spricht und dass Piaton mit dieser Formulierung eine ältere Diskussion nicht zufallig auf den terminologischen Nenner bringt, der für die Diskussion eigener systematischer Fragen - im Zusammenhang mit der Ideen- oder der Prinzipientheorie - geeignet ist. Schauen wir dagegen auf die Fragmente des Parmenides selbst, dann scheint dieser weit mehr um die interne Homogenität und Unteilbarkeit des Seienden bekümmert als um die Frage der Einzigkeit. Die beiden Kronzeugenstellen jedenfalls, die zugunsten eines numerischen Monismus zu sprechen scheinen, halten bei genauerer Betrachtung nicht, was sie versprechen. Beide Stellen finden sich in dem Textabschnitt, der die Aufzählung jener Seinsmerkmale einleitet, über die wir schon gesprochen haben. Dort heißt es, es gäbe viele Anzeichen dafür, dass das, was wirklich ist, unentstanden und unvergänglich ist, ganz von einer einzigen Art (oulon mounogenes), unerschütterlich und vollständig; es war nicht einmal und wird nicht künftig sein, sondern ist jetzt als ganzes zusammenhängend eines (hen) und kontinuierlich.27
25 26
27
Die entsprechenden Stellen sind unter Fußnote 18 angeführt. In der neueren Forschung wurde Parmenides' angeblicher Monismus zuerst von J. Barnes, „Parmenides and the Eleatic One", in: Archiv flir Geschichte der Philosophie 61 (1979), 1-21, in Zweifel gezogen. Parmenides, Fragment 28 B 8, 3 - 6 (DK); zu der bei Simplikios bezeugten Formulierung „oulon mounogenes" gibt es allerdings auch alternative Überlieferungen; Näheres dazu im Haupttext.
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In diesem Abschnitt werden zwei Attribute genannt, die in Zusammenhang mit der monistischen These stehen könnten, nämlich dass das Seiende mounogenes und dass es hen sei. Beginnen wir mit dem zweiten der beiden Ausdrücke: „hen" bedeutet zwar „eines", kann aber ebenso gut die Einheitlichkeit meinen; außerdem scheint es an der vorliegenden Stelle gar nicht als selbstständiges Merkmal aufzutreten, sondern ist zusammen mit dem Ausdruck „homou pan" zu lesen. Schließlich handelt es sich bei der zitierten Stelle um eine Ankündigung von Merkmalen, die in den darauf folgenden Zeilen Stück um Stück expliziert werden; es findet sich jedoch kein Abschnitt, welcher der Einzigkeit des Seienden gewidmet wäre. Bleibt als Basis fur die Annahme eines numerischen Monismus nur noch die andere der beiden Formulierungen, nämlich dass das Seiende oulon mounogenes sei. Zu dieser Formulierung ist zunächst zu sagen, dass sie bei Diels / Kranz nicht im Text erscheint, sondern durch das von Plutarch überlieferte oulomeles (ganzgliedrig) ersetzt ist. „Ganzgliedrig" wäre noch weniger geeignet, um den numerischen Monismus des Parmenides zu begründen, besser gesichert ist aber in jedem Fall mounogenes, das immerhin bei Simplikios, Philoponos, Eusebios und anderen gelesen wird. Das Wort mounogenes nun, wurde teils auf monogignesthai „als einziges geworden" zurückgeführt, so dass es in der Tat die numerische Einzigkeit anzeigen würde. Wenn sich Parmenides allerdings der Wurzel ,gignesthai werden" bewusst gewesen wäre, hätte er diesen Anklang für das Seiende, das sich gerade durch seine Ungewordenheit auszeichnet, sicherlich vermieden. Deshalb ist wohl einer anderen Deutung des Begriffs der Vorzug zu geben, wonach damit gemeint ist, dass eine Sache von einer einzigen Gattung (monon genos) oder einer einzigen Gestalt bzw. Form sei (entsprechend dem bei Piaton geläufigen Ausdruck „monoeides", den er mit Bezug auf Ideen gebraucht). Wenn wir diese Deutung des Wortes annehmen, dann sagt Parmenides an dieser Stelle nicht mehr, als dass das Seiende von einer einzigen Gattung oder einer einzigen Art ist, und das impliziert, dass es sein Wesen nicht verändern kann, dass es nicht in der einen Hinsicht so und in der anderen Hinsicht anders ist, dass es nicht in Verschiedenartiges zerteilbar ist, usw. Einen numerischen Monismus gibt diese Bedeutung jedenfalls nicht her. Patricia Curd hat in ihrer 1997 erschienenen Monographie „Legacy of Parmenides", aufgrund dieser Deutung des Ausdrucks argumentiert, Parmenides vertrete zwar keinen numerischen Monismus, aber eine Position, die sie selbst als prädikationalen Monismus bezeichnet; sie versteht darunter die These: that each thing that is can be only one thing; it can hold only the one predicate that indicates what it is, and must hold it in a particularly strong way. To be a genuine entity, a thing must be a predicational unity, with a single account of what it is; but it need not be the case that there exists only one such thing. Rather, the thing itself must be a unified whole. If it is, say F, it must be all, only, and completely F. On predicational monism, a numerical plurality of such one-beings ... is possible.28
Dieses Deutungsmodell hat gewissermaßen noch viele Leerstellen offen, vor allem auch hinsichtlich der Frage, welche Prädikate denn überhaupt dafür in Frage kommen, das eine Prädikat des Seienden zu sein. Wenn dieses Modell aber in den Grundzügen richtig wäre, dann würde Parmenides nur behaupten, dass jede Entität, die als wahrhaft seiend gelten soll und nur auf diese Weise als zuverlässiger Gegenstand unserer Erkenntnis in Frage kommt egal welche Entität dies ist und egal, wie viele es am Ende davon geben wird - unentstan28
Patricia Curd, The Legacy of Parmenides, Princeton 1997, 66.
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den, unvergänglich, unveränderlich, unteilbar, homogen usw. und von einer einzigen Art oder Gattung sein muss. Patricia Curd selbst meint, dass etwa Piatons Ideen, die zwar viele, aber jeweils von einer einzigen Art sind, so konzipiert sind, dass sie Pannenides' Kriterien erfüllen. Dieser Befund, dass das Seiende bei Parmenides nicht als numerisch eines bezeichnet wird, sondern jeweils nur von einer einzigen Gattung sein darf, würde gut zu den Beobachtungen passen, die wir beim Vergleich mit Melissos machten, nämlich dass sich Parmenides sehr für die interne Struktur des Seienden, damit meine ich, seine Homogenität, seine Unteilbarkeit usw., interessiert, nicht aber für das Verhältnis des Seienden zu seiner konkreten Nachbarschaft oder zu möglichen weiteren Entitäten, so dass das Fehlen einer expliziten Stellungnahme zur Einzigkeit oder Vielheit des Seienden Ausdruck einer Fragestellung ist, die sich von dem Anliegen des Melissos und anderer Nachfolger deutlich unterscheidet. Ich gebe Patricia Curd darin recht, dass wir, wenn wir uns ausschließlich an die im Lehrgedicht ausdrücklich genannten und begründeten Merkmale halten, für Parmenides nur den sogenannten prädikationalen, nicht aber den eigentlichen, den numerischen Monismus feststellen können. Allerdings würde ich anders als Curd den Ausweg offen lassen, dass, wenn auch die Einzigkeit keines der explizit genannten und begründeten Merkmale des Seienden ist, diese vielleicht doch als eine Folge oder scheinbare Folge aus den explizit genannten und begründeten Merkmalen - möglicherweise auch als Folge aus dem prädikationalen Monismus - angesehen werden kann und vielleicht von Parmenides angesehen wurde. Zum Beispiel könnte man versuchen, die Einzigkeit aus dem Merkmal der Vollständigkeit herzuleiten. Einige solcher Strategien sind durchaus plausibel, es gibt aber bei allen mir bekannten Ansätzen dieser Art stets auch Möglichkeiten, die Konsequenz der Einzigkeit zu umgehen, so dass sich der numerische Monismus für Parmenides interpretatorisch nicht erzwingen lässt. Die radikalste Strategie, um zu zeigen, dass der numerische Monismus bei Parmenides zwar nicht ausgesprochen wird, aber sich aus anderem, was er sagt, herleiten lasse, besteht darin, dass man für Parmenides allgemein das Anliegen unterstellt, das Seiende von jeder Verwicklung in negative Aussagen freizuhalten; wenn das so sei, kann man weiterargumentieren, müssten aber auch negative Identitätsaussagen ausgeschlossen sein; die Annahme einer Vielheit jedoch impliziere negative Identitätsaussagen des Typs „Dieses Seiende ist nicht jenes Seiende", so dass eine Vielheit von Seiendem ausgeschlossen ist.29 So einfach scheint es aber nicht zu gehen, denn erstens stellt Parmenides selbst, wie wir gesehen haben, das Seiende nirgendwo direkt anderen möglichen Entitäten gegenüber, zweitens scheint sich seine These nicht auf jeden denkbaren Gebrauch des Wortes „ist" bzw. „ist nicht", z. B. nicht auf alle kopulativen Gebrauchsweisen, zu beziehen und drittens verwendet er auch negative Aussagen über das Seiende, etwa wenn er sagt, dass es unentstanden, unvergänglich usw. sei. Bemerkenswerterweise scheint nun auch Aristoteles bei seiner Darstellung des Parmenides davon auszugehen, dass dieser eine Art des prädikationalen Monismus vertritt, aus wel29
Montgomery Furth hat sich fur eine solche Auffassung ausgesprochen; vgl. M. Furth, „Elements of Eleatic Ontology", in: A. P. D. Mourelatus (Hg.), The Presocratics. A Collection of Critical Essays, New York 1974, 2 1993, 241-270. Ich selbst habe in diesem Zusammenhang bei einer anderen Gelegenheit für Parmenides das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren in Anspruch genommen: Ch. Rapp, Vorsokratiker, München 1997, 142.
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chem er aber fälschlicherweise auf den numerischen Monismus schließe. Wie schon erwähnt, sagt Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik, dass Melissos das Eine der Materie nach auffasse, während Parmenides es dem logos nach betrachte. Dass Melissos das Eine der Materie nach meint, heißt hier natürlich nicht, dass er alles auf eine Art von Stoff zurückfuhrt. Gemeint ist vielmehr, dass für ihn das eine Seiende etwas Konkretes und Ausgedehntes ist. Dass Parmenides hingegen vom Einen nur dem logos nach spricht, heißt nach der Aristotelischen Terminologie klarerweise nur, dass es um eine begriffliche, definitorische Einheit geht, welche mit numerischer Pluralität durchaus vereinbar ist. Insofern passt Aristoteles' Einschätzung durchaus zu dem, was wir in Anschluss an Curd als prädikationalen Monismus dargestellt haben. Das ist aber nur die eine Hälfte der Aristotelischen Parmenides-Darstellung. Im ersten Buch der Physik nämlich macht Aristoteles zwei Arten von Fehler bei Parmenides aus: Er gehe von einer falschen Voraussetzung aus, nämlich der Voraussetzung, dass „seiend" nur in einer Bedeutung verwendet wird, und ziehe daraus auch noch eine falsche Konsequenz: So nämlich wie jemand, der meine, dass alle Dinge, auf die das Prädikat „weiß" zutrifft, ein einziges seien, wenn „weiß" nur eine einzige Bedeutung habe, schließe Parmenides, dass alles, worauf „seiend" zutrifft, eines sein müsse, da dieses nur eine Bedeutung habe.30 Nach der /^-Darstellung könnte man Aristoteles auch so verstehen, dass er von Parmenides meint, er habe das Seiende fälschlicherweise wie ein einziges Ding behandelt, während er eigentlich nur so etwas wie eine begriffliche oder prädikationale Einheit hätte vertreten dürfen.
VII. Das Fazit der bisherigen Diskussion ist, dass sich der numerische Monismus, der bei Melissos durch das Argument von der Grenze begründet wurde, bei Parmenides nicht direkt, sondern, wenn überhaupt, dann eher indirekt als Konsequenz aus anderen Merkmalen des Seienden nachweisen lässt. Außerdem konnten wir aus der kurzen Diskussion von Aristoteles den Eindruck gewinnen, dass auch antike Interpreten eine gewisse Sensibilität für den Unterschied zwischen Melisseischem und Parmenideischem Monismus aufbrachten und dass sie durchaus in Erwägung zogen, die begriffliche und defínitorische Einheit, wie sie in dem erörterten Begriff mounogenes zum Ausdruck kommt, als für Parmenides grundlegend, und den numerischen Monismus als nur abgeleitet anzusehen. Wenn wir die Sache so betrachten, dann kommt auch Bewegung in die Frage, wie wir den Einfluss des Parmenides auf die weitere Entwicklung der frühen griechischen Ontologie bewerten. Einige solche Konsequenzen liegen auf der Hand:31 Zunächst ist eine beliebte Standarddarstellung der vorsokratischen Philosophie zu überdenken, wonach wir auf der einen Seite die Monisten, nämlich Parmenides, Zenon und Melissos, und auf der anderen Seite die Pluralisten, Empedokles, Anaxagoras und Atomisten angeordnet finden. Zwar wird bei diesem schematischen Bild der vorsokratischen Philosophie durchaus zugestanden, dass auch die Pluralisten gewisse Anregungen von Parmenides aufgenommen haben, diese Adaption ist aber nach der Standarddarstellung nur möglich, 30 31
Vgl. Aristoteles, Physik 186a22 ff. Ausführlich zu dieser Frage äußert sich P. Curd, a. a. O., 127 ff.
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wenn man auf Seiten der Pluralisten ein fundamentales Missverständnis oder die Aufgabe des zentralen eleatischen Theorems, dem der Einzigkeit des Seienden, unterstellt. Wenn aber der numerische Monismus nicht zu den primären Merkmalen der Parmenideischen Ontologie gehört, sondern nur eine Konsequenz ist, die einige ziehen und andere nicht, dann können auch die so genannten Pluralisten in die Liste der direkten Parmenides-Nachfolger aufgenommen werden, denn auch sie bemühen sich alle darum, grundlegende Entitäten zu benennen, die die von Parmenides aufgestellten Kriterien in verschiedenen Hinsichten erfüllen. Die Wurzelwerke oder Elemente des Empedokles sind ebenso unentstanden, unvergänglich, in ihrem Wesen unveränderlich wie das Seiende des Parmenides, die chremata des Anaxagoras oder die Atome des Demokrit. Richtiger als das Standardschema, in dem sich die Reihe der Monisten auf der einen, und die Reihe der Pluralisten auf der anderen Seite befinden, wäre daher ein Bild, in dem von Parmenides eine Verzweigung ausgeht, die in einen monistischen und einen pluralistischen Ast mündet. Auf der monistischen Seite stünde sicher nur Melissos. Selbst Zenon ist entgegen dem vorherrschenden Eindruck ein wackliger Kandidat für den Zweig der Monisten, denn einige seiner Argumente treffen die Monisten genau so wie die Pluralisten - darauf werden wir gleich noch eingehen. Auf den anderen Zweig, den der Pluralisten, passen mit Sicherheit Anaxagoras und Demokrit; Empedokles, den man wegen der Vierzahl seiner Wurzeln zu den Pluralisten zu zählen pflegt, dürfte sich auf dem Zweig der Pluralisten vielleicht gar nicht so wohl fühlen, weil er nach einer alten, zwischenzeitlich aus der Mode gekommenen, dann aber nach der Entdeckung neuer Fragmente scheinbar wieder bestätigten Interpretation, neben der Vierzahl der Elemente auch ein zyklisches Zusammentreten aller disparaten Teile zu einer ursprünglichen Einheit in einer Kugel der Liebe lehrt, so dass ihm der Aspekt der Einheit nicht weniger wichtig zu sein scheint als der der Vielheit und seine Einheitskugel vielleicht sogar das einzige Beispiel für eine konkretistische Interpretation des Parmenideischen Kugelvergleiches darstellt; also hätte Empedokles ein gewisses Recht, auf beiden Zweigen unseres verbesserten Schemas erwähnt zu werden.
VIII. Zum Schluss will ich stichprobenartig an einigen konkreten Beispielen aufzeigen, welches Schicksal die Parmenideische Trennung von Sein und Nicht-Sein bei den unmittelbaren Nachfolgern genommen hat. Zenon von Elea soll nach der bekannten Darstellung aus Piatons Parmenides ein Buch verfasst haben, mit dem Ziel die Thesen des Parmenides zu verteidigen, indem er zeigt, dass bei Annahme des Vielen noch Abwegigeres folgt als bei Annahme des Einen. Diese Darstellung hat in der modernen Forschung einige, zum Teil prominente Kritiker, wie etwa Friedrich Solmsen, gefunden, und obwohl die Diskussion nach Solmsen natürlich weiterging und zum Teil wieder in die andere Richtung umschlug, bleiben auch jetzt noch Zweifel am philosophischen Anliegen der so genannten Antinomien der Vielheit; drei solcher Antinomien sind überliefert, zwei wörtlich, eine als Bericht bei Simplikios. Nur eine attackiert direkt die Vielheit, die anderen beiden diskutieren Probleme der Teilbarkeit, und mindestens eine scheint auch Parmenides zu treffen, zumindest wenn dieser das Seiende als ausgedehnt angesehen haben sollte.
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Zenon verschärft durch seine Argumentationsfigur der unendlichen Teilbarkeit, die wir auch aus seinen Bewegungsparadoxien kennen, das Problem der Unteilbarkeit des Seienden, während die von ihm abgelehnte Vielheit nur die Kehrseite derselben Medaille, nämlich das gewissermaßen nach außen gewandte Problem der Teilbarkeit darstellt. Parmenides hatte argumentiert, dass das Seiende unteilbar sei, weil es keine identifizierbaren Teile hat, und es nichts geben könne, was mehr oder weniger seiend sei und dadurch das Seiende davon abhalten könne, mit Seiendem zusammenzuhängen. Zenon zeigt nun, dass die Annahme der prinzipiellen Teilbarkeit des Seienden zu einer vollständigen Teilung des Seienden fuhren muss, vorausgesetzt, das Seiende verhält sich homogen. Wenn es sich nämlich homogen verhält, dann ist ausgeschlossen, dass man es hier, aber nicht da teilen kann; wenn man es aber überall teilen kann, dann ist es vollständig teilbar und die vollständige Teilung ist dann erreicht, wenn nichts Teilbares mehr übrig ist; was aber nicht mehr teilbar ist, ist auch nicht mehr ausgedehnt, sondern so klein, dass es nichts mehr ist. Die entscheidende Gefahr für die Unversehrtheit des Seienden geht auf diese Weise von der Teilung aus, da diese das Seiende direkt in den Zustand des Nicht-Seins überfuhren kann. Bei seiner Argumentation gegen das Viele wendet er, wie schon angedeutet, eine Figur, die Parmenides mit Blick auf die interne Teilbarkeit des Seienden entwickelt, nach außen gegen andere Entitäten und generiert die abgelehnte Vielheit ähnlich wie Melissos durch die Vorstellung konkreter Grenzen: Wenn zwei Dinge seiend sein sollen, dann, so Zenon, bedürfte es zwischen beiden einer Grenzoder Trennungsentität, welche die Distinktheit der beiden zu trennenden Dinge garantiert; weil aber auch die Distinktheit dieser Grenzentität selbst durch weitere Grenz- und Trennungsentitäten gesichert werden muss, und die Distinktheit dieser neuen Entitäten auch, folgt aus dem Zugeständnis einer prinzipiellen Vielheit eine unendliche Vielheit, so dass für Zenon klar zu sein scheint, dass nur das wirklich seiend sein kann, was ohne Teile und unzerlegbar ist. Bei den vorsokratischen Philosophen, die anders als Zenon eine Mehrzahl grundlegender Entitäten im Prinzip zulassen, wirkt Parmenides' Sorge um die folgerichtige Trennung von Sein und Nicht-Sein zunächst vor allem darin nach, dass das, was für diese Philosophen wirklich und grundlegend seiend ist, nicht aus dem Nicht-Seienden kommen und nicht in das Nicht-Seiende verschwinden darf. Was vordergründig als Entstehen und Vergehen erscheint, erweist sich als Mischung und Trennung jener grundlegenden Entitäten, die selbst nicht entstanden und nicht vergänglich sind. Bei Empedokles, dessen Eleatismus wir bereits kurz diskutiert haben, sind dies die vier Elemente, bei Anaxagoras wird diese Rolle von einer größeren Anzahl sogenannter Homoiomere, gleichteiliger Stoffe, eingenommen. Gleichteilige Stoffe haben die besondere Eigenschaft, dass die Teilungsprodukte denselben Namen tragen wie das Ganze, so dass die aus der Teilung eines homoiomeren Stoffes, wie Wasser oder Fleisch, hervorgehenden Entitäten immer noch von derselben Art sind wie das Ganze und trotz der Teilung einer gewissen Vollständigkeit nicht entbehren. Dadurch dass Anaxagoras solche Homoiomere als grundlegend ansieht, hat er klarerweise ein anderes Verhältnis zur Teilbarkeit des Seienden als etwa Zenon; jedoch sieht auch er im Zusammenhang mit der Teilung die Gefahr, dass das Seiende ins Nicht-Seiende übergehen könnte. Allerdings liegt für ihn das Problem geradezu konträr zu Zenon: Er möchte nicht die Teilung ausschließen, sondern er will vermeiden, dass es bei der Teilung einen kleinsten Teil geben kann, damit nicht, wie er sagt, das, was nicht ist, seiend wird. Die Annahme eines
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kleinsten Teils würde für ihn Seiendes zu Nicht-Seiendem machen, offenbar weil auch ein kleinster Teil noch so ausgedehnt sein müsste, dass er über Teile verfügt, diese Teile aber dürften, obwohl sie einerseits sind, gar nicht seiend sein, weil der kleinste Teile dann nicht mehr der kleinste wäre. Aus Sicht der von uns favorisierten Lesart des Parmenides, wonach dieser nicht in erster Linie die Einzigkeit des Seienden behauptet, sondern fordert, dass es jeweils von einer einzigen Art sei, ist ein anderer Zug des Anaxagoras interessant. Er gibt sich nämlich ausdrücklich nicht damit zufrieden, dass das Seiende nicht aus Nicht-Seiendem entstanden sein kann; er betont vielmehr, dass nichts von dem, was wirklich ist, also keiner seiner Grundstoffe, aus etwas entstanden sein kann, was er nicht selber ist: Haar könne nicht aus Nicht-Haar und Fleisch nicht aus Nicht-Fleisch entstanden sein. Die grundlegenden Stoffe des Anaxagoras erfüllen daher das Kriterium, mounogenes, von einer einzigen Gattung und in dieser Gattung unwandelbar zu sein. Dies hat die philosophisch einschlägige Konsequenz, dass eine wesentliche Vielfalt der Welt nicht generiert sein, sondern zusammen mit der ontologischen Grundausstattung der Welt gegeben sein muss. Zuletzt sind es unter den vorsokratischen Philosophen die Atomisten, die Parmenides' Trennung von Seiendem und Nicht-Seiendem zu befolgen suchen. Jedes Atom ist wie das wahrhaft Seiende bei Parmenides unentstanden, unvergänglich und selbst unwandelbar. Es ist unteilbar, weil es solide und voll ist, d. h. dass es alles Nicht-Seiende ausschließt und deshalb auch nicht durch Spuren des Nicht-Seienden perforiert sein kann, was die Voraussetzung für die Teilung wäre. Unter den Atomen gibt es eine Vielfalt von Arten und Formen, jedem Atom ist aber die Form, die es hat, wesentlich, so dass es sich in seiner grundlegenden Charakteristik nicht verändern kann. Die Vielheit der Atome ist dadurch zu erklären, dass sie voneinander getrennt sind, und getrennt werden sie durch das Nicht-Seiende, das die Atomisten, wie vielleicht schon vor ihnen Melissos, physikalisch als Leeres interpretieren. Das Leere ist der Raum, der zwischen die verschiedenen Atome treten kann und in dem sie sich bewegen. Seiendes und Nicht-Seiendes bleiben aber strikt getrennt, weil das NichtSeiende nicht in das volle Seiende eindringen und sich das Seiende andererseits nur im Nicht-Seinden bewegen, nicht aber mit ihm vermischen kann.
NICHOLAS WHITE
Ethical Particularism in Aristotle
The various views to which the label 'Ethical Particularism' is applied commonly come under criticism for either irrationality or injustice: irrationality, for denying that practical decisions should be based on considerations articulable in general terms, and injustice because they seem to allow decisions to be based on thinking that might not apply uniformly to like cases. My topic here is the historical question whether Aristotle's ethics is Particularist in some substantial sense, but we must nevertheless remember that this interpretative question is framed against a highly charged philosophical background, and that philosophers' answers to the question will depend to some extent on which philosophical positions they find plausible or implausible. What does Particularism say? But there is no one thing, Particularism. There are many 'Particularist' views, which have different aims. Philosophers disagree even about which are important to entertain, as we shall see. Aristotle, I'll say, certainly shows Particularist tendencies, and his position is, indeed, in one sense Particularist. In another sense, though - the rather extreme sense in which McDowell seems to say he's Particularist - he's not. That's shown by, for instance, Anagnostopoulos and Irwin. But in another sense, mostly ignored by Irwin but focused on by Wiggins, Aristotle definitely is a Particularist. This sense seems to me the most interesting, philosophically. But then there's another question. One might ask: what is Aristotle's Particularism supposed to do for us? Does it give us a way of approaching ethical problems, and, especially, hard ethical problems. McDowell and possibly Wiggins seem to think so. I'll argue that they're wrong. Aristotle's Particularism tries to tell us what well brought-up people actually do when they decide certain kinds of practical questions. It doesn't even try to tell anyone how to decide issues, let alone difficult ones. That's one of the things that's interesting about it. I. When Terence Irwin argues that Aristotle is no Particularist, he is dealing with a particular form of Particularism.1 The issue that Irwin treats is this: according to Aristotle, are 'univerSee T. H. Irwin, 'Ethics as an Inexact Science'.
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sal' or 'general' (Irwin uses both words) practical judgments 'theoretically or normatively prior' to 'particular perceptual judgments of virtuous agents' (103)? Irwin says no. He thinks the important Particularist interpreter to criticize is the one who says yes. McDowell is probably one such interpreter. He seems to maintain that in Aristotle's view all nonderived practical judgments are particular, and that the universal ones are derived from them. McDowell himself is not easy to interpret, but I'll interpret his interpretation in that way. Here's what I think Irwin's right about. From the evidence that Anagnostopoulos and he adduce in response to McDowell (it was of course already known), we can see that Aristotle both regards general practical judgments as ineliminable elements of practical deliberation, and even thinks that much deliberation must begin with such judgments. Pace Nussbaum,2 Aristotle doesn't even come close to maintaining that general judgments are merely summaries of particular judgments or 'rules of thumb' derived solely from them. Moreover Irwin elegantly lays out conclusive evidence that in Aristotle's view, such general judgments can be reached and justified on the basis of considerations not wholly reducible to particular judgments, or - if you prefer to put it this way - that the general facts reported by such judgments aren't tantamount to facts about particulars. If this issue were the only relevant one, then the Particularist interpretation would be dead as a doornail. No wonder. That Particularist thesis is extreme . If all generalities were reducible to particular judgments or justified entirely by them, then generalities as such would play no independent role in deliberation, and everything that general practical judgments say could be said using particular judgments. As a philosophical matter that thesis simply can't be right. It seems obvious that sometimes general judgments as such play an essential role in ethics. That's at least because sometimes it's important that certain ethical judgments be general, and that one hold to their generality even against a substantial pull from seeming particular counterexamples. (Kant and many others have realized that, even if they carried the point too far.) For sometimes it's demanded by considerations of fairness that, antecedent to discovering which particular cases will come up, one commit oneself to treating them all alike. Otherwise there will be unfairness in treating like cases differently, or different cases in the same way. It's no good saying later, 'Oh well, I plumped for this general rule, but now I think it best to decide this case this way and that utterly similar case that way, since this case involves my brother and I now take it that that's a relevant difference'. People rightly won't put up with that. Sometimes you're expected to fight the urge to treat cases differently. And even if that attitude itself should be derived from previous particular cases (which I doubt), nevertheless it enjoins us to a second-order examination of some of our ethical judgments to adjust them to this kind of fairness-driven universality.3 Aristotle is committed to something along these lines when he treats justice as a matter of proportion: many statements of proportion that he presents in Nicomachean Ethics V are implicitly universal. The critical point here is that as Aristotle implicitly sees, some of our judgments are induced by patterns in the making of particular judgments, which we then treat as or transform into principles constraining them. 2 3
Martha Nussbaum, Love's Knowledge, 68. It is of course fairness-driven, i. e., already a normative matter, not some demand of 'reason'.
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I don't think Wiggins has any quarrel with this idea. So far as I can understand his own philosophical position and his interpretation of Aristotle, Wiggins doesn't present a thesis as strong as that particular judgments are as a group prior to general ones. For one thing, he admits some categorical general prohibitions (Wiggins, 61), which he could hardly do if all he thinks he has to go on are particular judgments. McDowell, for his part, sometimes talks as though he himself does maintain such a strong thesis, though I don't think his arguments support it. Rather his arguments seem to me to support the more moderate form of Particularism that I'll go on to discuss. Moreover he frequently maintains that moral considerations 'silence' all others, which sounds tantamount to a non-Particular judgment or set of them, even if it's not framed as such. That gives an initial idea of why I don't think that even after Irwin has shown that general judgments figure ineliminably in Aristotle's ethics and thus that particular judgments aren't prior to them in that way, he has disposed of the 'Particularist' interpretation. As Irwin notes, that result leaves two possible alternative interpretations, even though he doesn't want to call them 'Particularist'. One ascribes to Aristotle something we could call 'Universalism', i. e.., the thesis that all valid particular normative judgments must be derived from general ones. The evidence adduced by and McDowell seems to establish that that interpretation of Aristotle is ruled out. The other alternative is the 'Intermediate' view, as we might call it, that neither sort of judgment is always prior to the other (Irwin, 104). The right interpretation, I maintain, falls into this last class. Moreover it's Particularist in an important sense, without lying at the extreme Particularist end of the spectrum. Such an interpretation ascribes to Aristotle the view that even though irreducibly general statements ineliminably play a role in practical deliberation, nevertheless (A) full practical rationality cannot be articulated in general judgments alone (the current slang abbreviation for this seems to be 'Rules run out'), and that in consequence (8) there is an ineliminable role in practical deliberation, and in the explanation of the rationality of practical decisions, for underived particular practical judgments. In interpretations of Aristotle, (B) is supplemented by a clause stating that (Ba) such judgments are judgments of perception or aisthesis. This is really the least important part of the idea as it appears in Aristotle: it merely tell us very sketchily and misleadingly, as we shall see, something about the mechanism of deliberation. The story of its structure is all conveyed by (A) and (B). According to the foregoing account, the shape of fully articulated rational deliberation is roughly as follows. A deliberator normally begins with relevant general principles. Together with these and statements about the current facts he derives general judgments about what is to be done. These judgments, however, are not true in all instances, and sometimes they have exceptions. 'Whenever conditions are C', such a judgment says, '(one should) do A\ But sometimes one shouldn 't do A even in C. Occasionally one can specify generally when this is so. But sometimes, according to the Particularist (including, it seems clear, Aristotle), one can't. When this happens, one must make a particular judgment about whether to do A or not in the particular case at hand, without appealing to a general judgment that settles the matter.
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The Particularist's crucial claim is that one really in some sense cannot give such a general specification. The central philosophical problem is, of course, to show that. A Particularist of Wiggins' stripe concedes that one may be able ex post facto to articulate a general judgment, but insists that this is an alteration or development, and not part of what ever was in some sense available in advance (Wiggins, 64). The crucial question here is whether one can indeed show that. Wiggins, McDowell, and Aristotle all take it to be obvious enough to require little or no explicit support. Because time is limited I shall simply assume here for the sake of argument that they are right and discuss what we should say next. We don't get much argument from Irwin against this interpretation of Aristotle. In two overlapping areas in which, according to Wiggins and McDowell as I read them, Aristotle advocates (A) and (B): (i) conflicts between virtues, and (ii) matters of degree. In both of these areas Irwin seems to me to leave their interpretation pretty nearly untouched. In both of these areas, that is, it seems plausible to say that according to Aristotle, 'rules run out'. (i) In the sphere of conflicts between virtues Wiggins thinks that the view, (A) and (B), is supported by a combination of two things: first, the existence of conflicts between general judgments required by distinct virtues, and, second, the unavailability of general judgments of priority fully ordering these statements.4 In cases of conflict, Wiggins and McDowell say, we need a 'situational appreciation', corresponding to Aristotle's aisthesis, that cannot be articulated in a general judgment. Wiggins thinks that this non-general 'appreciation' is required for apprehending both the 'salience' and, in some cases, the 'decisiveness' of certain such judgments. Irwin doesn't say anything much against this bit of interpretation - unsurprisingly, since the issue of priority that occupies him doesn't touch it. He says that he's 'not sure where' Aristotle commits himself to the claim that there can be competion and inconsistency between the claims of the virtues (Irwin, 125, n. 30). Indeed we face various tricky exegetical issues here. Aristotle is notoriously inattentive to issues about conflicts of virtues of character. Scholars divide on whether the conclusion to draw is that virtues are obviously consistent or that they are obviously ¿«consistent.5 In fact it seems plain that, as I have argued elsewhere, he attended far more closely to the conflict between at least one virtue of intellect, involving theoria, and most virtues of character on the other - a conflict which he plainly does not think can be wished away.6 In any event there certainly is a place in his scheme for some kind of conflict or other. The matter requires more extended treatment than is possible here, but I see no reason, in Irwin's discussion or anywhere else, for denying that Aristotle intended his invocation of aisthesis to be, as I think it obviously is, relevant to such cases. (ii) As to matters of degree Irwin seems quite willing to grant to Particularist interpreters everything they wish. He notes that when you make an omelet, you should cook it until it's 'a little runny', but doesn't think we can specify the degree of runniness more closely. He also agrees that general judgments don't seem available to decide such ethical questions as 4
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It is obvious that this point — like many others! — is hostage to difficulties of philosophical logic in explaining the distinction between particular and general characterizations. Consistency and inconsistency among virtues are surprisingly difficult notions: see White, 'Conflicts of Goods and Conflicts of Virtues'. See White, Individual and Conflict in Greek Ethics, 244-264.
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exactly how much concern for a friend is appropriate - quite a lot, but not an unlimited amount. Nevertheless he denies that Aristotle 'suggests] that perception has any special role in these cases' (Irwin, 128; cf. 127), and he also doesn't seem to take Wiggins as having had such matters in mind when he talked of 'situational appreciation'. On the contrary, I'd say: these do seem to be among cases that most insistently concern Wiggins and McDowell. Moreover they're quite enough to make the philosophical point, as we shall see, that not all decisions can be covered by general judgments. Moreover these cases do fit what Aristotle says. He takes the identification of 'the mean' (;to meson) as a matter of degree which cannot be covered by a general formula, and it seems to me quite clear that aisthesis figures in his story of how we reach decisions in such cases. (This holds, of course, whether or not these cases involve conflicts of virtues.) They support the claim that in Aristotle's opinion practical deliberation, as performed by the best possible deliberator, must often end up with non-general judgments - and not just as a matter of human limitations, since Aristotle simply doesn't entertain the possibility or relevance of an ideal or divine deliberator who could make do with general judgments alone. Deliberation thus involves both sorts of judgments, first the general ones and then, often, the particular ones in addition.7 (By the way, a Pandora's Box which I won't open here, but which contains issues to which McDowell's invocation of Wittgenstein is pertinent, is delivered to us by the argument that says that all cases require particular judgments, because in all cases it is necessary to determine whether general judgments settle the case or not.) Of the various philosophical objections that arise at this juncture, one says that the Particularist view just sketched is trivial, because everyone has recognized both the existence of vagueness and, therefore, the obvious fact that in conflicts and matters of degree we sometimes have particular obligations that aren't specifiable by automatic deduction from generalities. The conclusion would be that Particularism is either something else altogether, or is not worth bothering with, or both. That's wrong. A given opponent of Wiggins and McDowell may say that he's recognized the existence of vagueness all along. That's gratifying to hear, but it doesn't show that Wiggins and McDowell are espousing something trivial. It just shows that some of their traditional opponents missed something important. The idea that universality is the essence of both knowledge and rationality is of ancient and noble lineage. Many philosophers have tried to produce universal specifications from which all particular practical decisions could be deduced. Act-Utilitarians certainly have tried to do this, and so have some RuleUtilitarians and some kantians as well. The fact that some rule-oriented moralists have not tried it is no reason to deny the importance of the long-standing effort to win our way to a deductive decision procedure ethics, or to say that it is trivial to deny that it can succeed fully. Another important issue concerns not the existence but the nature and frequency of cases in which 'rules run out'. Wiggins and McDowell think that these cases are legion, and are exhibited by most choices, and that Aristotle recognizes this (Wiggins, 65). That's because Wiggins and McDowell think that virtually all practical decisions involve conflicting considerations or matters of degree or both. They both deny, of course, that we usually have 7
Irwin confuses this issue, it seems to me, on page 104.
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rules o f priority to settle conflicts in most cases (though there is no reason w h y they should deny that sometimes w e do have them). Here and in related matters about the 'phenomenolo g y ' (Wiggins' term) o f practical deliberation, I think, lies the kernel o f the problem, which I don't have time here to address, and which Aristotle has rather less to say about than one might wish. A t any rate, even though conflicts and matters o f degree are not the whole, or even the most important part, o f what supports Particularist thinking, they are enough to support the basic point, that practical deliberation cannot be wholly a matter o f deduction from generalities and must, obviously, involve something else too. I think that that's what Aristotle wanted to say against the kind o f Platonic model that he found in the Republic and was also in the works in, say, the Protagoras. There's o f course much that's attractive in the familiar suggestion that Plato in his later works (e. g., the Philebus) wanted to say it too.
II. So much for my defense, against Irwin's objections, o f one version the interpretation o f Aristotle offered by Wiggins and McDowell, and especially my defense o f the idea that there is something particularly Particularist about it. M y defense focused mainly on thesis (A) and (B). I want now to say something - though restrictions o f time allow only a partial exposition - about the notion o f aisthesis. Interpreters have jumped to some mistaken conclusions about it, which have clouded the discussion o f what is Particularist about Aristotle's thinking. First o f all, some interpreters are needlessly distracted by the fact that in some sense Aristotle's use o f the term aisthesis is 'metaphorical'. Certainly he does not think that there is an organ for this form o f 'perception', nor is it assigned to the sensus communis. The important feature o f the term aisthesis is simply that it invokes a capacity to pass judgments about particular cases. The word aisthesis merely labels the capacity; it is not part o f an attempt to explain its workings. What is for Aristotle's purposes most important about the structure o f deliberation is already expressed by (A) and (B) alone. A s I've said, Wiggins and M c D o w e l l are right that according to Aristotle 'Rules run out', and that when that happens, something that w e may call aisthesis enters in. But Wiggins and M c D o w e l l are wrong about two important things. First, they both take Aristotle to invoke aisthesis to settle what they (using an expression common in present-day jurisprudence) call 'hard cases'. Second, they believe that Aristotle intended his invocation o f aisthesis not merely to tell us how people - or at least well brought up people - do settle cases, but also to tell us how to settle them. A s to the first point: w h y do people think that according to Aristotle aisthesis decides 'hard cases'? The only ground that they give is that he invokes aisthesis especially when people have to decide cases without relying on a general judgment. But that conclusion simply doesn't follow. Are all cases in which general judgments don't suffice for generating a conclusion 'hard cases'? Need they be unclear, or controversial? Not at all. There may be no w a y to specify how runny an omelet should be when you are to stop cooking it, but qualified gourmets may have little or no trouble agreeing, quite wholeheartedly, on which omelets are too hard or soft. The same applies to more serious ethical cases. It's one thing for rules to run out, and quite another thing for a case to be uncertain or disputed. M y con-
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elusion: there's no ground, here anyway, for agreeing with Wiggins' and McDowell's view that Aristotle is trying to say anything about 'hard cases' when he invokes aisthesis. Two more points in the same vein. First, Aristotle doesn't ever explicitly offer to say anything about hard cases, or how to settle disputes or uncertainties. Second, he hardly ever even mentions cases that are recognizably hard, let alone runs through any rich description of what goes on when a genuinely difficult case presents itself. To be sure, he does say that some cases are hard, or that it's difficult to determine this or that. But he doesn't tell us, either in general or in a particular instance, what to do when that happens. This is one reason why the scholarly literature on supposed dilemmas and cases of 'dirty hands' in Aristotle is so meagre. I am inclined to agree with Michael Stocker, that Aristotle allows cases of 'dirty hands' - dilemmas in which a person is morally obligated to do an action that is, nevertheless, morally wrong.8 One might conclude from the passages that can be adduced for this claim (esp. a few bits of E.N. III.l), that Aristotle has something to say about how you should proceed when you are faced with a dilemma. That, however, is not so. His descriptions of the relevant cases contain nothing at all that speaks to that question. Indeed, he treats the cases, not under the heading of how to deal with dilemmas or even under the heading of dilemmas, but rather in order to clarify the notion of the 'voluntary' (hekousion). If Aristotle has anything to say about how to deliberate in the face of a dilemma, then where in the Ethics or anywhere else in his corpus are the passages that address this matter? We should face the fact that they simply aren't there. There is, on the other hand, one serious case of a hard practical problem that Aristotle does try to deal with by extended philosophical reflection. That is the question whether or not to live a political life or a theoretical life - which was not then and is not even now a question merely for the philosophy classroom. Anyone who reads Nicomachean Ethics X.68 ought to recognize the real tug-of-war going on there between considerations favoring each of the two lives. No other treatment in the ethical writings of an actual practical issue, general or particular, compares in intensity and thoroughness with this one. Here, however, there's no talk at all of aisthesis. Rather, Aristotle deploys some philosophical arguments. Though it's questionable how decisive they really are, he seems to thinks that they settle the matter in favor of the theoretical life. However, he makes no general remarks there about how to settle such an issue. We find only a to and fro with various 'dialectical' or philosophical arguments, obviously reminiscent of the kinds of arguments that he gives in the Physics or other such works, when he's talking about notions like time or the void. The conclusion seems straightforward: Aristotle carries on the discussion in EN X.6-8 outside of the sphere of methods of practical deliberation, and doesn't treat it as a dilemma, because he has nothing general to say about how the solution to a dilemma should be reached. That's also the reason why in the Ethics he scarcely even talks about dilemmas. We should simply stop assuming that just because the problem of how to attack dilemmas preoccupies us, it must be possible to conjure up an Aristotelian response to it from his texts. That brings us to the second point. Aristotle's talk about aisthesis itself doesn't tell us anything about how to decide cases, whether 'hard' or not. Rather, his talk just gives us his label for what goes on in people when they come to a decision in the absence of a rule (and 8
Stacker, Plural and Conflicting Values , 53-59.
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when the decision is not driven, as in some case of akrasia, by immediate pathos or pleasure or pain. Aristotle thinks there's a capacity here to be labeled this way. But he's not advising us to use it. He's not saying, e. g., 'When you confront a hard case, train your aisthetic capacity on it'. Nor is he endorsing, or getting us to endorse, any decisions on any such basis. Why not? Or more broadly, why doesn't he say something about these problematic cases? It seems to me that he tells us quite clearly why he doesn't. In well known passages he tells us that you can't get anything from lectures on ethics if you're not already well brought up. Well brought up people have virtue and practical wisdom to varying degrees. That's how they decide what to do. When he tells us about aisthesis, that is, he's telling us what well brought up people actually do, on those occasions when they do what he presupposes his audience already can do and does. That is, he's just describing what he thinks we already do if we're well brought up. He's not telling either to do it or how to do it. This of course doesn't mean that nothing in his ethics helps us makes decisions. Some interpreters have thought that just because he expects his hearers to be well brought up from the start, that means that he doesn't have anything to tell them that will help them live well or be virtuous. That inference is invalid and the conclusion seems to me false. As Irwin and others show, Aristotle does think that some of his own generalities - e. g., about the nature of man - do help us act. But they don't do it by being enough to allow us to deduce practical decisions from them alone. The overall conclusion, then, is this. Aristotle's account of practical deliberation certainly is Particularist in a substantial sense. But his Particularist thinking doesn't tell us how to decide cases, and especially his treatment of aisthesis doesn't do so. His generalities about human beings and happiness do tell us something practical, he thinks, but not entirely by themselves, and they have to be filled out by our own applications of aisthesis, given that we are well brought up, and thus already can and do deploy it.
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DOROTHEA FREDE
Grenze und Unbegrenztheit - Das gute Leben in Piatons Philebos
1. Maß, Grenze und Zahl bei Piaton: Vorbemerkungen Mit globalen Behauptungen sollte man sich in der griechischen Philosophie angesichts der Vielfalt ihrer Ansätze besser zurückhalten. Man kann aber mit einiger Sicherheit behaupten, daß ein Ausdruck wie ,Grenzüberschreitung' - anders als heute - keine positiven Assoziationen erweckt hätte, so wie ja auch der Fortschrittsgedanke beinah ganz fehlte.1 Weder verbinden Vertreter der Hypothese unendlich vieler Welten diese mit dem Gedanken an menschliche Grenzüberschreitungen, wie etwa Demokrit, noch will Piaton mit der Unterscheidung von Sinnlichem und Intelligiblem, von Werden und Sein solche Assoziationen erwecken. Vielmehr hat Piaton den Gedanken an die Notwendigkeit von Grenzen so konsequent verfolgt, daß er allen Dingen - jedenfalls in seiner Spätphilosophie - am liebsten mathematisch präzise Grenzen gesetzt hätte. Nun soll es hier nicht um arkane Probleme wie dem von Ideenzahlen oder Ideen als Zahlen gehen, sondern, wie das Thema anzeigt, um die handfestere Frage, was es mit der Konzeption der Begrenzung des Unbegrenzten als Bedingung für das gute Leben im platonischen Philebos auf sich hat. Bei Licht besehen muß es allerdings gewagt erscheinen, hier von ,Handfestigkeit' zu sprechen. Denn wenn Piaton mit der Forderung nach Grenze und Begrenzung im guten Leben mehr im Auge hat als nur die delphische Maxime des ,Nichts zuviel', dann muß einem der Gedanke an eine Quantifizierung der Lebensqualitäten doch ganz phantastisch erscheinen. Was, so muß man sich fragen, soll uns eine Mathematik des guten Lebens? Angesichts der Häufigkeit, mit der in den Spätdialogen von Maß, Grenze und Begrenzung die Rede ist, stellt sich ganz generell die Frage, ob es sich dabei bloß um poetische Metaphorik handelt, hinter der sich Wunschdenken und Zukunftsmusik verbergen, oder ob Piaton ein ehrgeiziges Forschungsprogramm im Auge hat, wenn nicht gar eine Geheimlehre nach Tübinger Art. Solche Alternativfragen lassen entweder die Antwort „keines davon" erwarten oder aber „alles davon, aber nur unter wichtigen Einschränkungen". Auf letztere will ich in der Tat hinaus. Zunächst könnte man freilich die Berechtigung in Zweifel ziehen, die Mathematisierung auf Piatons Spätphilosophie zu beschränken. Denn seine Vorliebe für die Mathematik als exemplarische Wissenschaft ist bereits in den mittleren Dialogen zu beobachten. Da zudem 1
Vgl. Der Neue Pauly s.v. ,Fortschrittsgedanke', Bd. 4, 593-598.
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der Harmoniebegriff bei ihm von früh an eine zentrale Rolle spielt, könnte er auch die Mathematisierung jeder Ordnung schon früh ins Auge gefaßt haben. - Die Bedeutung der Mathematik und des Mathematischen in Platons mittlerer Periode ist nicht zu leugnen. So sind Arithmetik und Geometrie nicht nur die paradigmatischen Wissenschaften, die es für die zukünftigen Philosophenherrscher zu meistern gilt, sondern auch die beiden weiteren propädeutischen Wissenschaften, Astronomie und Harmonik, verdanken ihren pädagogischen Wert den mathematischen Strukturen ihrer Gegenstände.2 Man erinnere sich: Die angehenden Philosophenherrscher sollen, statt ihre Augen und ihr Genick in Verfolgung der beobachtbaren Himmelserscheinungen anzustrengen, die ,wahren Zahlen' der ,wahren Geschwindigkeiten' mit dem Verstand allein erfassen lernen (528e-530c). Ebenso ist es auch die Aufgabe der Harmoniker, nicht etwa ihre Ohren und die Saiten der Musikinstrumente zu quälen, sondern sich um die Erfassung der harmonischen Zahlen zu bemühen (530c-531c). 3 Zur Bedeutung von Harmonie und Mathematik in Platons mittleren Werken ist zweierlei zu sagen: Zum einen scheint Piaton in der Politeia unter Harmonie in Seele und Staat nichts mathematisch Spezifizierbares, sondern lediglich die willige Unterordnung der unteren Klassen und Seelenteile unter die Herrschaft der Vernunft zu verstehen (433a-444a). Zum anderen sieht er den Sinn der Beschäftigung mit mathematischen Verhältnissen für seine Philosophenkönige darin, die Seele aus der Sinnenwelt hinauszuführen. Statt sich um hier Meßbares zu kümmern, sollen sie lernen, sich auf ewig Gleichbleibendes, exakt Definierbares und in diesem Sinne ,Wahres' zu konzentrieren. Es spricht wenig dafür, daß Piaton in diesem Stadium Maß und Meßbarem im arithmetischen Sinn auch einen konkreten Nährwert zugesprochen hat. Zwar dürfte er in dieser Richtung gewisse Hoffnungen gehegt haben, es gibt aber keine Hinweise, daß er mathematische Proportionen etwa für das harmonische Verhältnis zwischen den Seelenteilen und den Klassen im Staat vorausgesetzt hätte.4 Von einer allgemeinen Wertschätzung für Mathematik als paradigmatische Wissenschaft mit unveränderbaren Objekten und für Harmonie als Ideal menschlicher und kosmischer Verhältnisse bis zu einer Quantifizierung der Metaphysik ist es aber ein langer Weg. Wie schon J. Stenzel (19593) bemängelt, haben sich manche Platon-Interpreten diesen Weg allzu leicht gemacht durch die simple Gleichsetzung von Einheit, der Eins und dem Einen in der Erklärung der ,Mathematisierung' der Ideenlehre, von der wir in der Hauptsache durch die Kritik des Aristoteles unterrichtet sind. Auf die aristotelische Ideen-Kritik, ihren Sinn und ihre Berechtigung wollen wir uns hier nicht einlassen, denn das würde uns in das Dornenfeld von Platons ungeschriebener Lehre führen. Vielmehr soll es um den Gedanken an Maß und Grenze gehen, wie er sich in den Dialogen selbst niederschlägt. Hier ist die Diagnose unzweideutig: ob im Politikos, im Timaios, in den Nomoi oder im Philebos, überall finden sich Hinweise, daß Piaton im ,richtigen Maß' ein Allheilmittel für die kosmische Ordnung 2
Sie gelten nicht etwa als übertragbare Fertigkeiten', sondern sollen im konfusen Reich der Sinne Ordnung durch Feststellung der Einheit von vermischt Wahrgenommenem schaffen und so „zum Sein hinziehen" (R. 523d).
3
Zur Veränderung in Platons Philosophie nach seiner .Entdeckung der Mathematik' vgl. Vlastos, 1988. Zur .staatstragenden' Rolle der Mathematik Burnyeat, 1987 und 2000. Zur Ordnung {taxis und kosmos) in der Seele und einer entsprechenden ,demiurgischen Seelentechnik', die der Redner sich aneignen soll, vgl. Gorgias 503d-505b. Von einer Mathematisierung der Seelenhygiene ist dort aber nicht die Rede.
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wie auch für alle Lebensfragen sieht. Dies gilt nicht nur für die metrische Weltordnung im Timaios, im Großen wie im Kleinen, sondern auch für die Unterscheidung zwischen relativen Maßen und dem richtigen Maß im Politikos (284e-285b), wie auch für die Staatskonzeption in den Nomoi, wo Gott in einem mehr als metaphorischen Sinn als das Maß aller Dinge gilt (716c). Daß es sich bei der Forderung nach ,Grenze' und ,dem richtigen Maß' um ein Charakteristikum von Piatons Spätphilosophie handelt, bestätigt auch die Beobachtung seiner Sprachgewohntheiten. So findet sich eine terminologisch fixierte Verwendung von Maß - metron5, Grenze -peras 6 und Verwandtem, wie auch von deren Gegenteilen ametria1 und apeiria8 - fast ausschließlich in den unzweifelhaft späten Dialogen. Und im Philebos sind, wie gesagt, Maß und Grenze das Kennzeichen des guten Lebens. Um die Frage, ob das nicht eine phantastische Zumutung ist, soll es hier gehen.
2. Das Maß aller guten Dinge Im Streit zwischen Lust und Wissen um den Rang des höchsten Gutes im Philebos spielt nicht nur der Gegensatz zwischen Grenze und Unbegrenztem eine zentrale Rolle, sondern Piaton scheint dabei in der Tat von quantifizierbaren Verhältnissen auszugehen. Daß Grenze und das weitgehend synonym gebrauchte ,Maß' so zum Maß aller Dinge werden, stellt sich nicht nur im Lauf des Gesprächs heraus, sondern das Ergebnis der Diskussion gipfelt in einer Preisverleihung für die höchsten Güter im menschlichen Leben, in der das Maß den ersten Rang erhält (66a-c): „Du wirst also Boten ausschicken und es in allen Richtungen verkünden lassen, Protarchos, den Anwesenden aber selber sagen, daß die Lust nicht das erste Besitztum ist und auch nicht das zweite. Sondern das erste gehört in das Gebiet von Maß {metron), Verhältnismäßigkeit (metrion), von Rechtzeitigkeit (kairion) und allem, was man zu dieser Art rechnen soll. [...] Das zweite bezieht sich auf das Angemessene (symmetron), das Schöne (kalon), Vollkommene (teleon), Genügende (hikanon) und alles, was zu dieser Familie gehört. [...] Wenn du als drittes Vernunft (nous) und Einsicht {phronesis) ansetzt, wie ich vermute, dann wirst du die Wahrheit nicht weit verfehlen. [...] Und wirst du nicht nach diesen dreien als viertes dasjenige ansehen, was wir als Besitz der Seele selbst bezeichnen, die Wissenschaften (epistemai), Künste (technai) und das, was wir wahre Meinungen (doxai orthai) nennen, da sie dem Guten jedenfalls näher verwandt sind als die Lust? Als fünftes aber diejenigen Lüste, die wir als schmerzlos bestimmten und reine Lüste der Seele nannten, die teils mit den Wissenschaften, teils mit den Wahrnehmungen einhergehen." 5
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7 8
In früheren Schriften beziehen sich metron und metrion immer auf Musik und davon abgeleitete Verwendungen (Grg. 505c; Smp. 197c; Phdr. 252b), beziehungsweise auf den homo-mensura Satz des Protagoras (7Tit. 152a; 161d ff, Cra. 386a). In den Spätschriften nimmt die nicht-musikalische Verwendung von metron, emmetrion und symmetron stark zu (bes. Phlb. 25b; 26a; 66 ff., Plt. 269c; 284b, 77. 39b; 68b; 87c und Lg. 649e; 668a; 692a; 698b et pass.). Vgl. Gregory 2000, 90-93. Wie der Menon erkennen läßt, bezieht Piaton den Ausdruck aus der Geometrie (Me. 75e-76a); als abstrakter Terminus für Grenze findet er sich in Prm. 144e-145a; 158d-e; 165a-c; Sph. 261b; Phlb. 16c; 23c ff. et pass. ; Ti. 55c Sph. 228a; 77. 87c~e. Prm A 37d; 143a et pass. Tht. 183b; Sph. 256e; Phlb. 16e ff. 23c ff.
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Bei dieser Wertehierarchie müssen wir einen Augenblick verweilen. Niemanden, der Piaton kennt, wird es überraschen, daß die Lust diesen Wettbewerb verliert, sondern selbst die reinen Formen der Lust nur den fünften und letzten Platz auf der Rangliste erhalten. Immerhin zeigt er sich auf seine alten Tage der Lust gegenüber aufgeschlossener, indem er sie überhaupt als Faktor im guten Leben zuläßt, wenn auch nur in ihrer asketischsten Form. Daß aber auch die Vernunft keineswegs den ersten, sondern nur den dritten Rang einnimmt, ist schon eher verwunderlich angesichts von Platons Wertschätzung für Vernunft und Wissen von früh auf. Was uns hier jedoch interessiert, sind die Träger des ersten und zweiten Preises. Zunächst: welcher Unterschied besteht denn zwischen ihnen? Wenn Piaton da nicht eine künstliche Zwischenstation eingebaut hat, um die Lust möglichst weit nach unten zu ,drücken', dann muß Klasse (1) sich auf Maß und Verhältnismäßigkeit selbst beschränken, Klasse (2) dagegen die Besitzer von Maß und Verhältnismäßigkeit enthalten. Daß es Piaton in der Tat um diese Unterscheidung zu tun ist, erkennt man an der Tatsache, daß er als Beispiele für (2) Schönes, Vollkommenes und Hinreichendes nennt.9 Diese Bedingung erfüllt jeder Gegenstand, der das richtige Maß hat, aber nicht selbst ein Maß ist. Wie Sokrates kurz zuvor bemerkt hat, manifestierten sich richtiges Maß und Verhältnismäßigkeit überall als Schönheit und Tugend (64e). Das Maß ist also eine notwendige Bedingung alles Schönen und Guten. Ein analoges Verhältnis wie zwischen Klasse (1) und (2) herrscht auch zwischen Preisträgern (3) und (4): Ist es zunächst verwunderlich, daß Vernunft und Einsicht von den Wissenschaften und Künsten getrennt werden, so erklärt sich das damit, daß Vernunft und Einsicht die Ursachen sind für den Erwerb von Wissenschaften, Künsten und auch von wahren Meinungen als dem „Besitz der Seele". Fragt man sich nach dem Status dieser Güterhierarchie, vor allem in Hinblick auf die Ideenlehre, so ist daran zu erinnern, was hier prämiert werden soll. Es geht nicht um einen Wettbewerb der höchsten metaphysischen Prinzipien, d. h. um die Auszeichnung des Guten an sich. Wie die Ausgangsfrage des Gesprächs am Anfang des Dialogs klarstellt, geht es vielmehr um (1 ld): „den Zustand (hexis) oder die Verfassung (diathesis) der Seele, die allen Menschen zu einem glücklichen Leben verhelfen kann". Die fünf Güterklassen beziehen sich also auf die Faktoren, die dabei eine Rolle spielen. Als das gute Leben präsentiert Sokrates im Lauf des Gesprächs das aus Lust und Wissen gemischte Leben (20b-23b): Niemand würde ein Leben als vollkommen, begehrenswert und hinreichend ansehen, das nicht Lust und Wissen enthält. Die Preisverleihung bewertet folglich diejenigen Güter, die für die harmonische Mischung in der Seele verantwortlich sind. Das schließt zwar nicht aus, daß hinter den Preisträgern Ideen stehen; aus der Güterhierarchie lassen sich aber keine unmittelbaren Schlüsse darüber ziehen. Für den Augenblick ist nur festzuhalten, daß die Preisverleihung die Ingredienzien der Richtigen Mischung' in der Seele bewertet. Dabei fungieren Maß und Proportion als die entscheidenden formalen konstituierenden Prinzipien, harmonische Mischungen sind ihr Produkt, Vernunft und Einsicht sind die kausalen Faktoren bei ihrem Erwerb, während Wissenschaften, Künste und richtige Meinungen die Inhalte der wohlgeordneten Seele sind, zu denen sich noch die reinen Formen der Lust gesellen.10 9
Er nimmt damit auf die Kriterien für die Bestimmung des guten Lebens bezug (20d).
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Das Fehlen klarer Kennzeichnungen im Dialog, ob jeweils konstituierende Faktoren oder inhaltliche Ingredienzien von Mischung (oder beides) gemeint sind, trägt zur Unsicherheit über Platons Begriff von Mischung bei.
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Daß Piaton in Maß und Verhältnismäßigkeit die entscheidende formale Bestimmung alles Guten sieht, gibt er immer wieder zu verstehen. Bei der Zusammenmischung des guten Lebens aus Wissen und Lust erklärt er Maß und Verhältnismäßigkeit zum Wertvollsten und zur wichtigsten Ursache der , unkörperlichen Ordnung' in der Seele (64d): „Daß jede Mischung, welche und wie sie auch sei, bei der nicht Maß (metron) und Verhältnismäßigkeit {he symmetros physis) herrscht, ihre Bestandteile zugrunde richtet und vornweg sich selbst. Es findet dabei in Wahrheit gar keine Mischung statt, sondern nur ein unverbundenes Durcheinander (akratos sympephoremene), das seinen Besitzern immer zum Verderben gereicht." Nur eine Mischung im richtigen Maß ist also überhaupt eine Mischung. Angesichts solcher Bekenntnisse ist zu fragen, ob Piaton dabei mehr im Auge hat als die Vorstellung von einer harmonischen Koexistenz von Wissen und Lust in der Seele. Eine mathematische Bestimmung ihres Verhältnisses wäre nicht nur an sich ein phantastischer Gedanke, sondern ist auch angesichts der Vielfalt der Ingredienzien der Mischung zweifelhaft. Denn Sokrates läßt ,global' alle Wissensarten - auch die weniger präzisen - zu, weil sie für das tägliche Leben erforderlich sind, und kombiniert sie mit den reinen Lüsten (wie den am Lernen und Wahrnehmungen). Wie könnte da von ,Maß' in einem wörtlichen, d. h. in einem quantitativen Sinn die Rede sein? Um dies festzustellen, müssen wir zum ersten Teil des Dialogs zurückgehen, denn dort erläutert Piaton ganz allgemein, was unter Grenze und Unbegrenztheit zu verstehen ist. Er tut das freilich in einer Weise, die zunächst mehr Verwirrung als Klarheit mit sich bringt und sogar die innere Einheit des Dialogs als ganzen problematisch erscheinen läßt." Der erste Teil enthält nämlich zwei sorgsam getrennte Abschnitte, in denen es um ganz verschiedene Verwendungen von Grenze geht. Im ersten Abschnitt fungieren Grenze und Unbegrenztheit als Methodenbegriffe (16c-18e). Grenze ist dort das Kriterium für die erfolgreiche Anwendung des dialektischen Einteilungsverfahren zur Bestimmung von Genera und Spezies. Man muß jeweils herausfinden, wie viele Arten und Unterarten es gibt, um ein echtes Wissen über den Gegenstand beanspruchen zu können. Im zweiten Abschnitt sind Grenze und Unbegrenztes dagegen zwei von vier Seinsklassen, die Piaton zur Bestimmung der Gattungen von Lust und Wissen einführt (23b-31b). Den Unterschied zwischen den beiden Verwendungen von Grenze und Unbegrenztheit wie auch ihrer Bedeutung im Dialog will ich kurz näher erläutern.
3. Grenze und Unbegrenztheit (1): Philebos 16c-18e Sokrates gibt zunächst eine Unterrichtsstunde über das dialektische Aufteilen von Gattungen und Spezies, weil die Gegenüberstellung von Lust und Wissen eine Klärung der Frage voraussetzt, ob es sich dabei jeweils um ein einheitliches Phänomen oder aber um eine Vielheit von teils guten, teils schlechten Arten handelt (12c-13e). Zur Erläuterung dieses Verfahrens fuhrt er erstmals in unserem Dialog die Begriffe von Grenze und Unbegrenztheit ein (14c16c).'2 Die Fähigkeit zum methodischen Vorgehen bezeichnet er als ein „Geschenk der Götter". Es beruht auf der Einsicht (16c): „daß die Dinge, von deren Sein jeweils die Rede
11 12
Vgl. Striker, 1970, bes. 9 f.; Gosling, 1975, xiv-xx und 1996. Zur Kontroverse über dieses Textstück vgl. Frede 1997, 114-130.
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ist, aus Einem und Vielem bestehen, und daß zu ihrer Natur Grenze (peras) und Unbegrenztheit (apeiria) gehören". Die Erklärungen zu dieser Methodik lassen keinen Zweifel daran, daß es hier um das Verfahren der Zusammenfassung (synagoge) zu einer obersten Gattung und der Aufteilung (dihairesis) in Unterarten bis hin zu den unteilbaren Arten geht, das der Phaidros näher beschreibt (Phdr. 265c-266c). Im Philebos geht Piaton darüber nur insofern hinaus, als er (a) deutlich macht, daß nicht immer mit Zweiteilungen zu rechnen ist, sondern auch drei oder mehr Unterarten möglich sind und (b) die Notwendigkeit der Vollständigkeit der Aufteilungen betont. Es muß genau festgestellt werden, wie viele Arten es gibt, 16d: „bis man von jenem ursprünglichen Einen nicht nur sieht, daß es eines, vieles und unbegrenzt ist, sondern auch seine Anzahl erfaßt. Man darf der Vielheit aber nicht eher die Form des Unbegrenzten zuschreiben, als bis man die genaue Anzahl all dessen festgestellt hat, was zwischen dem Einen und dem Unbegrenzten liegt. Erst dann ist es erlaubt, die jeweilige Einheit aus der Gesamtheit ins Unbegrenzte übergehen und auf sich beruhen zu lassen". Dieses Verfahren erläutert Sokrates u. a. anhand der Buchstaben bzw. der gesprochenen Laute: Die Gattung der sprachlichen Laute wird zunächst in Konsonanten und Vokale eingeteilt, danach die Konsonanten in Stimmhafte und Stimmlose bis sämtliche Unterarten bestimmt sind, also jeder einzelne Vokal und Konsonant genau spezifiziert und von allen anderen unterschieden worden ist. Quantitativ bestimmt wird hier also lediglich die Anzahl der Subgenera und der Spezies der Gegenstände einer Gattung. Eine metaphysische Ausdeutung des derart numerisch Begrenzten bzw. des Unbegrenzten liefert Piaton hier nicht. Er begnügt sich mit der Bedingung, daß jeweils die obersten Einheiten in den Gattungen aufgefunden und die Zahl ihrer Unterarten ermittelt wird. Diese Genauigkeit ist ihm deshalb so wichtig, weil sich damit die unbegrenzte Vielheit der Einzelfälle ,bändigen' läßt.13 Die unbegrenzte Variationsbreite von Einzelfallen stellt für ihn kein Problem dar, wenn sie durch die strukturelle Einheit des Gebietes zusammengehalten wird. Jedes beliebige ausgesprochene A ist ein A, ein Vokal, jedes B ein B, ein stimmloser labialer Konsonant, usf. Diese Bestimmung von Grenze und Unbegrenztheit ist nun zwar für das dialektische Vorgehen wichtig. Bei der ,Begrenzung' geht es jedoch nur um die numerische Abzählbarkeit von Arten und Unterarten. Irgendwelche Geheimnisse stecken in dieser Zaghaftigkeit nicht; insbesondere liegt in ihr kein ,Maß aller Dinge'. Denn welche Folgerungen sollten sich daraus ziehen lassen, daß das Genus Buchstabe zwei Subgenera enthält (Vokale und Konsonanten), daß die Konsonanten aus zwei Unterarten bestehen (stimmlose und stimmhafte) und daß sich als letzte unteilbare Arten sieben Vokal-Arten und - je nach Zählweise - 14 oder 17 Konsonanten-Arten erweisen? Da Piaton auf die Anzahl nur insofern wert legt, als man sie kennen muß (19b), kann ihm an der Quantität von Arten und Unterarten als solcher nichts gelegen sein. Er müßte einem seltsamen Zahlenfetischismus anhängen, wollte er der Anzahl der Arten und Unterarten von Buchstaben o. ä. einen symbolischen Wert zusprechen. Das tut er weder im Philebos noch an anderer Stelle, wo es um die konkrete Durchführung von Einteilungen geht, wie etwa im Sophistes und im Politikos mit ihrer (Über)Fülle von Beispielen. 13
Die unbegrenzte Vielheit' bezieht sich offensichtlich darauf, daß die tatsächlich gesprochenen Konsonanten und Vokale in einer beliebigen Variationsbreite von Tonhöhe, Lautstärke oder Klarheit der Artikulation auftreten können (17b).
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Mit den Einteilungen kommt zwar Disziplin in die Disziplinen und - insofern sie für geordnetes Sachwissen sorgt - hat die Grenze als Methodenbegriff auch eine indirekte Auswirkung auf die Lebensqualität, aber eben doch nur eine sehr indirekte. Zwar findet sich später ein Verweis darauf, daß die Dialektik für die Ordnung aller Wissensarten verantwortlich zeichnet (57c-58e), und Piaton dürfte grundsätzlich in geordnetem Sachwissen einen beglückenden Seelenzustand sehen;14 da es im Philebos aber um den guten Seelenzustand aller Menschen und nicht um den von Philosophen und Wissenschaftlern geht, spielt dieser Gesichtspunkt allenfalls eine untergeordnete Rolle. Wenn ich auf diese Bedeutung von Grenze und Unbegrenztheit ausfuhrlicher eingegangen bin, dann nur um des Unterschiedes zur zweiten Verwendung willen. Dabei geht es, wie bereits gesagt, nicht um Methodenbegriffe, sondern Grenze und Unbegrenztes sind selbst zwei der vier Seinsklassen. Die Tatsache, daß Piaton von einem gewissen Zusammenhang zwischen den beiden Verwendungen von peras und apeiron auszugehen scheint, hat zu einiger Verwirrung geführt und auch zu recht abenteuerlichen Spekulationen Anlaß gegeben.15 Denn es fragt sich, was die numerische Begrenzung der Arten einer Gattung mit Maß und Grenze als Konstitutivum guter und schöner Dinge zu tun hat.16
4. Grenze und Unbegrenztheit (2): Philebos 23b-31b Zur Bestimmung von Grenze und Unbegrenztheit als zwei von vier Seinsklassen kommt es, nachdem Sokrates die ursprünglich anvisierte Absicht aufgegeben hat, eine dihäretische Aufteilung von Lust und Wissen durchzuführen. Er rechtfertigt diese Kehrtwendung mit der Erklärung, ihm sei jäh in Erinnerung gekommen, daß ohnehin weder die Lust noch das Wissen allein für das gute Leben ausreichen, sondern eine Mischung aus beiden vorzuziehen ist. Es geht daher fortan nur noch um die Frage, welcher der beiden Kandidaten die Ursache für die richtige Mischung im guten Leben ist und daher den zweiten Preis bekommen soll (22ce). Eben diese Frage nimmt Sokrates mit seiner ,Vierteilung' alles Seienden in Grenze, Unbegrenztes, deren Mischung und die Ursache der Mischungen auf (23c-d). Grenze und Unbegrenztes sind hier selbst Seinsgattungen und fungieren nicht mehr, wie zuvor, als Einteilungskriterien in allen Wissenschaften. Da alle vier Seinsklassen entweder Ingredienzien oder konstitutive Faktoren des guten Lebens sind, müssen wir uns wenigstens in Umrissen vergegenwärtigen, wie Sokrates sie bestimmt. Beim Unbegrenzten handelt sich um Dinge oder Eigenschaften, die für sich genommen keinen bestimmten Grad haben (24ab): „Sieh zu, ob du im Falle des Wärmeren und des Kälteren eine Grenze erkennen kannst oder ob das Mehr und Weniger, die dieser Art innewohnen, gar kein Ende zulassen, solange sie sich dort befinden. Sobald nämlich ein Ende erreicht wird, sind auch sie zu Ende." Was 14
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Wissenschaften, Künste und wahre Meinungen werden später als (guter) Besitz der Seele klassifiziert (66b-c). Will man Piaton nicht ungewöhnlich konfuses Denken unterstellen, so sollte man ihm keine Assimilation von (1) generischer und spezifischer Begrenzung und individueller Unbegrenztheit mit (2) der Gattung von Grenze und Unbegrenztheit unterstellen, wie das von der Antike an bis hin zu Stenzel (1953 3 ) und Gosling (1975), (1996) immer wieder versucht worden ist. Dazu Frede 1997, 184-6; 202-211. Nur für die zweite Verwendung von peras setzt Piaton als Synonym metron ein; nach 32b ist nur noch von ,Maß' (metron) die Rede.
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mit dem ,Ende' gemeint ist, erklärt Sokrates wie folgt (24d): „Sollten sie nämlich eine bestimmte Anzahl annehmen, so sind sie nicht mehr wärmer und kälter. Denn das Wärmere ist immer im Fluß und bleibt nicht stehen, genau wie das Kältere. Die Anzahl aber bedeutet Stillstand und ein Ende des Fließens." Neben Komparativen wie Wärmerem und Kälterem rechnet Sokrates auch einfache Relativa wie Hoch und Tief sowie nicht-Relatives wie Frost und Hitze zum Unbegrenzten (25c-26b). Auch die Lust wird sich als Angehörige dieser Gattung erweisen (28e). Das Unbegrenzte zeichnet sich also dadurch aus, daß seine Mitglieder keine bestimmte Grenze und kein bestimmtes Maß haben, sondern eine gewisse Bandbreite zulassen und sich zudem in einem ständigen Fluß befinden. Diesem Fluß sollen nun Maß und Grenze ein Ende bereiten (25a-b): „Zuerst das Gleiche und die Gleichheit, dann nach dem Gleichen das Doppelte und alles, was sonst eine Zahl in Bezug auf eine andere Zahl oder ein Maß in bezug auf ein Maß ist." Daß damit nicht jede Art von Grad oder Maß, sondern eine bestimmte Proportion gemeint ist, ist zwar noch nicht aus der Definition der zweiten Klasse abzulesen. Es ergibt sich aber daraus, daß die Grenze die Fähigkeit haben soll (25d-e): „dem Widerstreit der Gegensätze ein Ende zu bereiten und sie statt dessen mit Hilfe einer Zahl miteinander kommensurabel zu machen und zu harmonisieren". Das Unbegrenzte befindet sich also nicht nur in einem ständigen Fluß, sondern es tritt auch in Gegensätzen auf, die für Unordnung und Disharmonie sorgen. Zur dritten Klasse gehören nicht beliebige Mischungen von Grenze und Unbegrenztem, sondern von an sich Unbegrenztem im richtigen Maß. So besteht etwa in der Musik das rechte Verhältnis zwischen Hoch und Tief, zwischen Langsam und Schnell. Als weitere harmonische Mischungen nennt Sokrates auch noch die Jahreszeiten, Gesundheit, Kraft, Schönheit und die Tugenden der Seele (26a-b). Die vierte Seinsklasse besteht in der Ursache dieser Mischungen. Auch hier bleibt Sokrates bei dem Modell der Herstellung: Es ist die Vernunft, die dem Unbegrenzten und Widerstreitenden das richtige Maß ,verpaßt'. Bei der Erklärung dieser Seinsklasse holt Sokrates weit aus, indem er auch die kosmische Dimension dieses Prinzips mit einbezieht: Die menschliche Vernunft erweist sich als kleiner und minderwertiger Abkömmling der göttlichen Vernunft, so wie alle Elemente auf Erden nur inferiore Teile der Gesamtnatur sind. Diese Parallelität zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos fuhrt zu dem Schluß (30c): „daß es im Weltall viel Unbegrenztes gibt, aber auch hinreichende Begrenzung, und daß darüber eine mächtige Ursache herrscht, welche Jahre, Jahreszeiten und Monate anordnet und daher mit vollem Recht als Weisheit und Vernunft bezeichnet werden sollte".17 Diese Vierteilung alles Seienden wird nun zur Bestimmung der Genera von Lust, Wissen und des guten Lebens verwendet (27d-31a). Die Vernunft und alle Wissensarten gehören in die vierte Gattung; sie sind Ursachen guter Mischungen. Da die Lust wie auch ihr Gegenteil, der Schmerz, ein Mehr und Weniger zuläßt, gehören sie in die Gattung des Unbegrenzten (31a). Lust und Unlust werden als Prozesse definiert, und zwar als die Prozesse einer Störung oder Zerstörung der harmonischen Mischung in Körper und Seele und deren Wiederherstellung (31d). Das gute Leben selbst gehört in die dritte Klasse, in die des „durch Grenze gebändigten Unbegrenzten" (27d). In welchem Sinn Piaton dafür von arithmetischen Verhältnissen ausgeht, wird noch zu überprüfen sein.
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Über die Parallele zur Kosmologie des Timaios vgl. etwa Lennox 1985, bes. 217.
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Obwohl er keinen Vollständigkeitsbeweis für seine Vier-Klassen-Gesellschaft liefert, ist als Ergebnis festzuhalten: Alles, was nicht entweder eine harmonische Mischung oder ursächlich an ihr beteiligt ist, fallt in die Gattung des Unbegrenzten. Ihr gehören all die Dinge an, die sich in einem herakliteischen Fluß von Werden und Vergehen, von Zunahme und Abnahme befinden. Das gilt selbst für die reinen bzw. die wahren Formen von Lust, weil sie (51b) „auf einem unmerkbaren und schmerzlosen Mangel beruhen und in wahrnehmbaren und angenehmen Füllungen bestehen". Auch die wahre Lust setzt also einen Mangel voraus und ist ein Wiederanfullungsprozess. Da ihre reinen Formen keine Komponente von Schmerz enthalten, stellen sie keinen ständigen unheilbaren Reizzustand dar wie die unreinen Lüste. Wenn man von dem Mangel nichts spürt, kann man ihn weder künstlich herbeifuhren, noch auch den Prozess der Wiederherstellung beliebig verlängern, maximieren oder variieren. Ist der Bedarf gedeckt, so hört der Prozess und damit auch die Lust schlicht auf. Aus diesem Grund spricht Piaton von einer ,Maßhaftigkeit' der reinen Lüste (52c). Gleichwohl ordnet er auch die besten unter ihnen, wie die Lust am Lernen und am Erwerb der Tugenden, dem Bereich des Werdens zu- und dem des Seins unter (54d).
5. Das gute Leben als Mischung Welches das Maß des harmonisch zusammengemischten Lebens sein soll, bleibt aber im folgenden offen. Bei der Zusammenmischung von Lust und Einsicht stellt Sokrates die Frage des Maßes gar nicht (61c-64a). Statt quantitativer werden nur qualitative Unterschiede berücksichtigt. Von Maß und Verhältnismäßigkeit ist erst nach dem erfolgreichen Abschluß der Zusammenmischung bei der Festlegung der Kriterien für die abschließende Preisverleihung wieder die Rede. Dort kommen - neben Wahrheit und Schönheit - auch Maß und Verhältnismäßigkeit wieder zu Ehren (64c-66a). Auch in dem langen Mittelteil des Dialogs, in dem die verschiedenen Arten von Lust und Wissen einer kritischen Musterung unterzogen werden, spielt das Maß keine Rolle. Nicht die Unbegrenztheit der Lust wird bemängelt, sondern verschiedene Möglichkeiten ihrer Falschheit (31b-55c). In der sehr viel kürzeren Differenzierung der Arten des Wissens ist zwar die Genauigkeit das entscheidende Kriterium (55c-59d). Diese Unterscheidung bleibt aber folgenlos. Denn Sokrates trennt zwar zunächst die Künste, die auf Maß und Zahl basieren, von den „ungenauen" und unterstellt sie der Herrschaft der Dialektik als der „wahrsten, verlässlichsten und genauesten aller Wissensformen" (57d-59d). In der abschließenden Zusammenmischung von Lust und Wissen macht er von dieser Unterscheidung aber gar keinen Gebrauch (59d-64b). Vielmehr werden kurzerhand alle Arten von Wissenschaften und Künsten in das gute Leben eingelassen, zusammen mit den unschädlichen Formen der reinen Lust. Es fragt sich daher, warum Piaton von der zuvor etablierten Genauigkeit als Unterscheidungskriterium bei den Wissenschaften keinen Gebrauch macht. Hat er zwischenzeitlich das richtige Maß als entscheidendes Ingredienz des guten Lebens ganz aus den Augen verloren, wenn er darauf erst in der Preisverleihung wieder zurückkommt? Zum Glück gibt es eine bessere Erklärung für die summarische Zulassung aller Wissenschaften und Künste zum guten Leben, einschließlich der ungenauen mit ihren „falschen Maßstäben", wie die Rechtfertigung dafür zeigt, warum gerade die ungenauen Maßstäbe für die praktischen Belange
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des Lebens unverzichtbar sind. Absolut exakte Maßstäbe lassen sich weder beim Hausbau noch in der Navigation anwenden. Auch ist es sinnlos, auf absolut geraden Linien zu bestehen, „wenn wir je unseren Weg nach Hause finden wollen", wie Protarchos anmerkt (62b). Da das gute Leben ein Leben in dieser Weltordnung sein soll, muß es der Ungenauigkeit der Verhältnisse Rechnung tragen und auch entsprechende Kenntnisse und Fertigkeiten enthalten. Das Maß, so dürfen wir schließen, ist jeweils durch die verschiedenen Wissensarten zu ermitteln, einschließlich der ungenauen. Sie sind es, die jeweils die Maßstäbe für die Herstellung guter Erzeugnisse, für gute Handlungen und für die Bewahrung von Gesundheit und Wohlergehen liefern. Es gibt also nicht das Maß, sondern eine Vielfalt richtiger Maße für die verschiedenen Belange des Lebens! Damit erklärt sich, warum das gute Leben im Philebos als eine Mischung aus Wissen und den damit verträglichen Lustarten konzipiert wird. Die für das gute Leben erforderlichen Künste sind keine bloßen ,Meßkünste der Lüste', wie Piaton in seinem Protagoras behauptet (356d). Gemessen werden vielmehr alle Dinge und Aktivitäten, die den Lebensinhalt ausmachen. Und dazu gehört als Ausgleich für Mängel und als Wiederherstellung des natürlichen Gleichgewichts auch die Lust. Wenn Lust und Schmerz aber nur Prozesse von Auflösung und Wiederherstellung sind, drängt sich die Frage auf, warum Piaton in der Lust überhaupt einen erstrebenswerten Bestandteil des guten Lebens sieht.18 Diese Frage ist um so dringender, als er eine „dritte Lebensform" ohne Lust und Schmerz über das gemischte Leben stellt und sie als „gottgleich" bezeichnet (32e-33b). Er macht zudem darauf aufmerksam, daß es für die Beurteilung der Lust nicht unwichtig ist, sich an diesen Zustand zu erinnern. Warum also soll nicht das Leben ohne Lust und Schmerz dem gemischten vorzuziehen sein? Die Lösung dieser Frage liegt, kurz gefaßt, darin, daß ein unstörbarer Gleichgewichtszustand schlechtweg menschenunmöglich ist. Auch das beste Leben ist nur ein „Werden zum Sein".19 Menschen befinden sich, wie es später heißt, in einem ständigen Fluß nach oben und unten (43a). Im günstigsten Fall tritt ein Mangel unmerklich ein, bringt also keine Schmerzen oder Unlust mit sich, während die Wiederherstellung als lustvoll empfunden wird. Eben darum geht es Piaton in der Zusammenmischung des guten Lebens: es soll nach Möglichkeit nur ungefühlte Mangelzustände enthalten, die durch reine, maßhafte Freuden wie die am Lernen oder dem Erwerb der Tugend ausgeglichen werden. Diese Konzeption beruht nicht etwa auf einer späten Einsicht Platons, daß den unvermeidlichen Störungen und Mängeln des Lebens möglichst schmerzlos Rechnung zu tragen ist. Daß zum Menschen notwendig der Mangel gehört, hat er immer gesehen. Davon zeugt schon seine Vorstellung vom Ursprung des Staates (R. 369b-c): Menschen schließen sich aufgrund ihrer ökonomischen Bedürftigkeit zusammen. Davon zeugen aber auch die Maßnahmen, die er in seinen politischen Schriften für Erziehung und Bildung und für die Erhaltung des inneren und äußeren Friedens vorschlägt. Ein späte Einsicht Platons dürfte dagegen die Klassifizierung der Lust als eines , Wiederherstellungsgutes' sein. Denn damit gehört sie grundsätzlich zu den sekundären Gütern. Diese Einsicht enthebt ihn so unplausibler Beweisfuhrungen wie dem in der Politeia, daß die Freuden des Philosophen nicht nur qualitativ,
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Vgl. dazu Frede 1999; anders Cooper 1977. Dieser Gesichtspunkt findet in der Literatur oft nicht ausreichende Beachtung, vgl. Carone 2000.
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sondern auch quantitativ allen anderen überlegen sind, so daß das Leben des Philosophen/ Gerechten 729 mal lustvoller sein soll als das des Tyrannen (R. 587d-e).
6. Maß und Zahl bei Piaton Wie wir gesehen haben, hält sich Piaton auch im Philebos mit der Quantifizierung der Güter des Lebens auffällig zurück. Er versucht sich gar nicht erst an einer Quantifizierung der Mischung von Lust und Erkenntnis. Es wäre ja auch ganz abwegig, zwischen ihnen ein numerisch bestimmtes Verhältnis festlegen zu wollen, etwa nach der Art: „Man nehme vier Teile Wissenschaften und Künste und mische sie mit drei Teilen Lust zusammen." Wieviel Lust und Wissen jedes Leben braucht und verträgt, läßt sich nicht für alle Menschen in der gleichen Weise bestimmen. Vielmehr richtet sich das Ausmaß der Lust nach dem Grad des jeweiligen Bedarfes. Das gilt für die Lust an der Betrachtung schöner Farben und am Hören reiner Töne ebenso wie für die am Lernen von Wissenswertem. Ein Maß bringt dabei einerseits der Gegenstand des Bedarfsausgleichs mit sich, andererseits aber der individuelle Zustand der Seele, die sich daran erfreut. Da Piaton das Gute in seiner Schlußbewertung mit Schönheit, Wahrheit und Verhältnismäßigkeit gleichsetzt, scheint er davon auszugehen, daß mit der Wohlbemessenheit des Gegenstandes nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität der Lust festgelegt ist. Solche abwiegelnden Überlegungen nehmen Piatons Theorie zwar den Ruch des Phantastischen. Sie wirken jedoch auch ernüchternd: Wenn es keine festen Maßstäbe für das Leben gibt, so scheint ein großer Spalt zu klaffen zwischen Piatons prinzipieller Forderung nach Maß und Zahl und ihrer praktischen Anwendung. Enttäuschte mögen sich jedoch daran erinnern, daß Piatons Beispiele für geglückte Mischungen aus Grenze und Unbegrenztheit anzeigen, daß die Anwendung nicht immer so hoffungslos kompliziert und fruchtlos sein muß wie bei der Gesamtkonzeption des Lebens. Die Beispiele von Gesundheit, Schönheit, Recht und Ordnung zeigen, daß der Gedanke an einen im Prinzip auch quantitativ spezifizierbaren Ausgleich zwischen an sich unbegrenzten Gegensätzen nicht ganz abwegig ist. Auch wenn die Griechen noch kein Thermometer kannten und daher nicht messen konnten, daß die Temperatur des gesunden Körper 36,8° beträgt, wußten sie doch, daß es dafür ein richtiges Maß gibt. Analoge Verhältnisse lassen sich auch für andere Zusammenhänge annehmen. Wenn Piaton der Dialektik im Philebos die (57c-d) „höchste Genauigkeit und Wahrheit bei Maßen und Zahlen" zuschreibt, ist damit wohl nicht nur das dihäretische Verfahren mit seinen abzählbaren Ein- und Vielheiten gemeint, sondern auch die Ermittlung des richtigen Maßes bei geglückten Mischungen und damit - jedenfalls dem Anspruch nach - auch der Seelenzustände des gute Lebens. Auf eine einfache Formel dürften diese sich freilich nicht bringen lassen. Dafür, daß Piaton von dieser Voraussetzung ausging und zwar nicht nur im Philebos, spricht nicht nur seine Vorliebe für Mathematik, die sich bereits im Gorgias in Sokrates' Vorwurf gegen Kallikles andeutet, er habe in seiner Lebensführung die geometrische Proportion als rechtes Maß mißachtet (Grg. 508a). Dazu kommen noch gelegentliche Kalkulationsversuche in früheren Werken. Dazu sei nicht nur an das 729-fältige Unglück des Tyrannen erinnert, sondern auch an die ominöse ,HochzeitszahF, deren Verfehlung durch die Philosophenkönige Piaton am Anfang des achten Buches der Politeia als Ursache für den Verfall des Staates ausmacht (R. 546a-d). Zwar bin ich selbst, mit anderen, geneigt, in die-
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ser Rechnerei eher eine Art intellektuellen Scherz zu sehen, weil Piaton nicht zu erkennen gibt, was die Basis der geometrischen Proportion sein soll, deren Verfehlung zu einer schlechteren Bevölkerungsqualität führt - die kalendarische Zeit der Hochzeiten, das Lebensalter der Beteiligten o. ä.20 Daß er aber die Komplexität menschlicher Lebensverhältnisse mit der Einfachheit des ,großen Jahres' der göttlichen Lebenszeit konfrontiert, zeugt davon, daß er sich der Schwierigkeiten bewußt ist, die mit der Forderung nach Maß und Proportion verbunden sind, obwohl er daran prinzipiell festhält. Der Philebos steht mit der Forderung nach Maß und Grenze also nicht allein. Von der Bedeutung von Maß und Zahlenverhältnissen in Platons Philosophie zeugt insbesondere der Timaios, der die Ordnung des Kosmos im Großen wie im Kleinen auf eine mathematische Basis zu stellen bemüht ist. Piaton scheint mit diesem Forschungsinteresse auch andere angesteckt zu haben, wenn der Bericht zutrifft, daß er seinen Mathematiker-Kollegen die Aufgabe gestellt hat, ihm ein Modell für die Himmelsbewegungen auf der Basis von Kreisbewegungen zu liefern.21 Eudoxos hat diese Aufgabe so glänzend gelöst, daß seine Nachfolger erst nach zwei Jahrtausenden von dem Versuch abließen, die Himmelsmechanik durch Reparaturen am Modell der Kreisbewegungen zu erklären. Auch Platons geometrische Atomlehre zeugt von seinem Zutrauen zu mathematischen Verhältnissen. Freilich darf nicht übersehen werden, daß er sich dabei nicht anmaßt, mit seinem Modell die Wahrheit getroffen zu haben. Nicht nur besteht er immer wieder darauf, daß seine Erklärungen lediglich eine Wahrscheinlichkeit für sich haben, sondern er verspricht auch, jeden als Freund begrüßen zu wollen, der etwas Besseres vorzuschlagen hat (7z. 54a). Die gleiche Zurückhaltung macht sich auch in Hinblick auf seine Anwendung von Zahlenverhältnissen auf die Abstände und Geschwindigkeiten der Himmelskörper bemerkbar. Zwar entwirft er ein System harmonischer Verhältnisse zwischen den Zahlen der Reihen 2, 4, 8 und 3, 9, 27 und füllt die Zwischenräume mit Hilfe der arithmetischen, geometrischen und harmonischen Mitten auf (35b-36d). Er orientiert sich dabei anscheinend an der Entschlüsselung der mathematischen Verhältnisse der Intervalle der diatonischen Tonleiter durch seinen Altersgenossen und Freund Archytas von Tarent. Auf die tatsächlichen Abstände und Geschwindigkeiten der Gestirne legt Piaton sich aber im Timaios wohlweislich nicht fest. Wie seine Erklärung der Himmelsbewegungen zeigt, war er sich wohl bewußt, daß die Beobachtungen präzise Berechnungen nicht zulassen, sondern daß seine mathematische Modelle Idealisierungen sind. Davon, daß Piaton nicht nur in der Natur, sondern auch für das menschliche Leben von der Nutzbarkeit der Mathematik ausgeht, zeugen auch die Nomoi. Auch hier scheint es zunächst wie bloße Spielerei, wenn der Athener etwa die Zahl der Haushalte in seinem neuen Idealstaat auf 5040 festsetzt, weil diese Zahl u. a. durch alle ganzen Zahlen bis 10 teilbar ist {Lg. 737e). Zahlentheoretische Überlegungen sind aber nicht das eigentliche Motiv. Vielmehr gibt Piaton wenigstens andeutungsweise zu verstehen, daß diese Zahl auch praktische Relevanz hat, wenn es um die Einteilung der Bürgerschaft in Bezirke, um die Landverteilung und um die Heeresordnung geht. Hinter Verweisen auf Zahlen verbirgt sich bei Piaton also nicht notwendig etwas Geheimnisvolles. Vielmehr ist er auch um die Details des täglichen Lebens besorgt, wie etwa um das passende Lebensalter für die Eheschließung (zwi20 21
Vgl. die ausfuhrliche Diskussion bei Adam 19632. Simplikios, In de Cael. 488.21-24. und der Index Herculanensis, ständnis vgl. Mueller 1992.
1902, 17. Zu Platons Mathematikver-
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sehen 25 und 35 Jahren, Lg. 772e) und die Zumessung von Geldstrafen für Unverheiratete, gestaffelt nach Steuerklassen (Lg. 774a-b). Der Timaios und die Nomoi haben in dieser Hinsicht eines gemeinsam: Piaton geht hier ganz ungewöhnlich ausführlich ins Detail. Das macht insbesondere die Nomoi, aber auch den letzten Teil des Timaios zu einer zähen Lektüre. Piaton scheint darauf aus gewesen zu sein, es seinen Kritikern einmal zu zeigen, was Genauigkeit in der Gesetzgebung wie auch in der Naturordnung angeht. Wenn schon Detailangaben, dann auch mit allen Schikanen. Vielleicht sollte man ihm dankbar sein, daß er sich sonst damit zurückhält und auch seine Rechenexempel aufs knappste beschränkt. Damit können wir zu der anfanglichen Fragestellung zurückkehren, ob es sich bei der Forderung nach Maß und Berechenbarkeit um poetische Metaphorik, um Wunschdenken oder Zukunftsmusik handelt oder ob Piaton ein konkretes Forschungsprogramm oder eine Geheimlehre im Auge hat. Ich hoffe, gezeigt zu haben, daß in gewisser Hinsicht alles davon zutrifft. Sicher hat Piaton gehofft, daß sich die harmonischen Verhältnisse, von denen er im Philebos für den Mikro- wie für den Makrokosmos ausgeht, allmählich entschlüsseln lassen würden. Also doch Wunschdenken und Zukunftsmusik in Hinblick auf eine mathematische Physik. Gleichzeitig wurde anscheinend in der Akademie an solchen Projekten gearbeitet. Also doch Forschungsprogramm. Und schließlich lassen das dialektische Aufteilungsverfahren und die Einteilung alles Seienden in vier Klassen darauf schließen, daß Piaton von zahlenhaften Strukturen für die Wirklichkeit wie auch für bestimmte Ideen ausging. Diese Mathematisierung der Ideenlehre wird im Philebos für die Mischungen nicht weiter verfolgt, weil Piaton sich hier weitgehend auf die diesseitige Weltordnung konzentriert, mit gelegentlichen Verweisen auf die Konsequenzen, die aus seinen Annahmen für die Natur der Ideen selbst zu ziehen wären. Also doch eine Geheimlehre? Ich glaube nicht, daß Piaton hier etwas geheim halten wollte. Vielmehr dürfte er sich bewußt gewesen sein, daß er mit seinen Bemühungen um Maß und Zahl noch am Anfang stand. Daher konnte auch der Eindruck entstehen, Piaton könne nur bis 10 zählen, wie Aristoteles moniert (Phys. 206b32-3; Metaph. 1084al217). Über symbolhafte Anweisungen zur Mathematisierung der Ideen-Strukturen ist er anscheinend nicht hinausgegangen.22 So erklären sich die Verweise auf das ,Eine', das jeder Idee zugrunde liegt, und auf die ,unbestimmte Zweiheit' des Großen und des Kleinen, das die durch die Einheit gestaltete - in sich aber unbegrenzte - ,Materie' symbolisiert (Metaph. 987bl8-988al). Wenn das alles ist, dann kann natürlich keine Rede sein von einer phantastischen Zumutung', so interessant sie in manchen Augen auch wäre. Die Zurückhaltung, die Piaton in dieser Hinsicht an den Tag legt, spricht dafür, daß er sich jedenfalls in einem Punkt nie von seinem Lehrmeister Sokrates entfernt hat: in der Überprüfung des eigenen Wissens. Er maßt sich kein Wissen an, wo er keines hat, sondern begnügt sich mit Andeutungen, wo die Berechenbarkeit der harmonischen Strukturen der Wirklichkeit bloße Vermutung bleiben muß. Auf der Annahme der Existenz vorgegebener Strukturen beruht aber seine grundsätzliche Zuversicht in die Wirkmächtigkeit von Grenzen. Grenzüberschreitungen bedeuten demgegenüber immer einen Bruch der vorgegebenen Harmonie, sie sind immer ein Zuviel oder ein Zuwenig. Dies ist der Grund für Piatons viel gescholtenen Konservatismus. Ein Optimum läßt sich nicht transzendieren, es läßt sich nur zerstören. Daß solche Grenzüberschreitungen dennoch immer wieder geschehen, dafür sorgt die Unordnung des Lebens. Ihr wollte Piaton entgegenwirken, soweit die Mittel der Philosophie dazu taugen. 22
Vgl. Annas 1976, bes. 62-75; Mueller 1987.
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Kolloquium 2 Transzendentalphilosophie als limitative Theorie
VOLKER GERHARDT
Einleitung Schon bei der Eröffnung hat sich der Titel des Kongresses Grenzen und Grenzüberschreitungen bewährt. Kein Redner mochte der Versuchung widerstehen, mit dem Begriff der Grenze zu spielen, die, wie man weiß, zugleich trennt und verbindet. Keiner ging so weit, der Philosophie zu wünschen, sie möge an ihre Grenzen kommen. Wohl aber wurde daran erinnert, daß sie, wie alles menschliche Leben, ihre Grenzen erkennen möge. Doch das Pathos der Grenzüberschreitung herrschte vor. Die Zeit, in der die Philosophen keine Weltverbesserer, sondern nur noch Argumentverbesserer sein wollten, scheint vorbei. Man möchte sich zumindest das Mögliche wieder zurückerobern, was anzeigt, daß man der angeblich so schlecht gewordenen Wirklichkeit immerhin noch Chancen einräumt. In diesem Kolloquium brauchen wir keine angestrengten Wortspiele, um eine Beziehung zum Thema des Kongresses herzustellen. Die Transzendentalphilosophie war schon, als sie erfunden wurde, eine Grenzwissenschaft. Transzendental sind die Elemente des Seins unmittelbar nach ihrer Erschaffung durch den göttlichen Geist. Während sich die transzendenten Formen mit dem zu befassen suchen, was sich innerhalb der göttlichen Sphäre befindet, haben die Transzendentalien diese Sphäre schon verlassen; sie befinden sich im Grund des Seienden, das sich aus eigener Kraft im Dasein hält. Also haben sie die Grenze zwischen Gott und Welt überschritten und gehören bereits zum Feld der Dinge und Ereignisse, in dem sich der erkennende menschliche Verstand bewegt. Wer die transzendentalen Bedingungen des Seienden ermitteln will, sucht innerhalb der Welt an deren erkennbare Grenzen zu gehen, um die Konditionen der Welt gleichsam in deren Innerem zu verstehen. Das kommt auch im Titel dieses Kolloquiums zum Ausdruck: „Transzendentalphilosophie als limitative Theorie". Der Titel, darauf lege ich Wert, stammt nicht von mir. Aber ich habe ihn akzeptiert, obgleich mir bei meiner Rückfrage nur eine vage Auskunft über seine mathematische Herkunft gegeben werden konnte. Dem brauchen wir hier schon deshalb nicht näher nachzugehen, weil die Transzendentalphilosophie schon immer eine „limitative" Theorie gewesen ist: Sie ist die Grenzwissenschaft, die nach den ontologischen Bedingungen des Seienden sucht. Und sie bleibt ontologisch, auch wenn sie, wie bei Kant, lediglich
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Erscheinungen zu begründen vermag. Die transzendentale Psychologie Nietzsches gibt sich sogar damit zufrieden, den perspektivischen Schein dessen zu begründen, was wie eine Erkenntnis erscheint. Mit dieser historisch-systematischen Auskunft können wir uns fürs Erste zufrieden geben, auch wenn sie alles andere als erschöpfend ist. Es genügt vollauf, den Anspruch auf Begründung in Erinnerung zu bringen, der zum Pathos einer jeden transzendentalen Frage gehört. Denn die Frage unterstellt, daß es nicht nur Gründe für Taten und Werke, sondern auch Gründe für Gegebenes gibt. Die Begründungserwartung ist auf die Wirklichkeit selbst - und damit auf die Welt - gerichtet. Das erscheint aus der verbreiteten Rückzugsposition des postmetaphysischen Denkens (das auch bei jenen in Mode ist, die das dumme Adjektiv vermeiden) entweder vermessen oder unbelehrt. Tatsächlich aber kommt hier nur jener elementare Anspruch zum Tragen, mit dem die Philosophie historisch angetreten ist und aus dem sie sich immer wieder erneuert: Sie möchte nicht nur wissen, was überhaupt ist, sondern auch, wie es für die Einsicht des nach Ziel und Sinn suchenden Menschen zusammenhängt. Also fragt sie nach den Gründen dessen, was ist, und gelangt so zwangsläufig auf die ersten Gründe des Seins, der Erscheinung oder des Scheins. Überflüssig zu sagen, daß es sich nur um die erkennbar ersten Gründe handeln kann. Mögen sich mit der Transzendentalphilosophie, insbesondere in ihrer erstmals mit Kant auf den Plan getretenen Konzeption, auch noch so weitreichende Hoffnungen auf ein Ende der Metaphysik verbinden: In Wahrheit hat das metaphysische Denken mit Kant einen neuen, einen spezifisch modernen Impuls erhalten. Die „kritische Philosophie" zielt auf eine Metaphysik der menschlichen Welt. Damit ist der epistemischen Bescheidenheit Rechnung getragen, die dort, wo man der Philosophie ferner steht, einen Rückzug aus der Metaphysik und mit ihr aus der Transzendentalphilosophie nahe zu legen scheint. Doch man kann alle historischen und terminologischen Reminiszenzen beiseite lassen, um sich die Aktualität der Transzendentalphilosophie vor Augen zu führen: Man braucht sich nur klar zu machen, daß man selbst unter den szientifischen Bedingungen der Gegenwart auf Gründe nicht verzichten kann. Und wo immer mit Blick auf das Ganze einer menschlichen Wirklichkeit nach Gründen für das Erkennen, das Handeln oder das Fühlen gesucht wird, da wird nach transzendentalen Gründen gesucht. Es sind die Gründe, die wir im Bewußtsein unserer eigenen Grenzen benötigen. Mit welchen methodologischen Problemen hier zu rechnen ist, gibt die schulmäßigen Fassung der Transzendentalphilosophie zu erkennen: Da ist sie die Theorie, die nach der Begründung allgemeiner Geltungsansprüche im Grenzbereich des empirischen Wissens fragt. Schon die sie auslösende Frage bewegt sich im Grenzbereich der Empirie, denn allgemeine Geltungsansprüche mögen noch so allgemein sein: Sie zeigen sich nur an empirischen Aussagen. Das Nichtempirische tritt ausschließlich an empirischen Tatbeständen hervor. Damit ist augenblicklich klar, warum den historisch, soziologisch, psychologisch oder linguistisch verfahrenden Theoretikern der Gegenwart die transzendentale Fragestellung als unbewältigter Rest erscheint, den es endlich empirisch einzuholen - und damit zu eliminieren - gilt. Ihre Versuche sind nicht zuletzt deshalb so interessant, weil sie schon in ihrem Erkenntnisanspruch das zur Geltung bringen, was sie hinter sich lassen wollen: nämlich
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KOLLOQUIUM 2 - EINLEITUNG
allgemeine Gründe für Gegebenes, die nur so lange allgemein sind, als sie nicht selbst gegeben sind, sondern von einsichtigen Wesen allererst gesucht werden müssen. Mit der Erinnerung an den uralten Begründungsanspruch der Philosophie ist auch klargestellt, daß wir in diesem Kolloquium keine dem Zeitgeist gemäßen Sensationen erwarten dürfen. Hätten wir Transzendentalphilosophie als Metaphysik angekündigt, wäre das zwar auch keine Sensation, aber es hätte zumindest eine Provokation enthalten. Vor dreißig, vierzig Jahren hätte man von der Transzendentalphilosophie als Warenanalyse gesprochen. Zu kurz gegriffen wäre auch die wenig später in Umlauf gekommene Gleichsetzung von Transzendentalphilosophie und Handlungstheorie. Würde dieser Kongreß in Frankfurt stattfinden, hätte man sich vielleicht von dem Titel Transzendentalphilosophie als Quasi-Soziologie etwas versprochen. Jedenfalls liegt das ganz im Trend des soeben wieder neu verkündeten Programms der Detranszendentalisierung der Transzendentalphilosophie. Solche Fachimperialismen haben wir hier nicht zu bieten, obgleich in dem Anspruch auf eine „limitative Theorie" ein Schuß Hoffnung auf eine Mathematisierung philosophischer Begründung stekken mag. Die Beiträge des Kolloquiums sind so ausgewählt, daß sie den von Kant eröffneten historischen Zugang klären, daß sie die systematische Reichweite einer über Kant hinausgehenden metaphysischen Fragestellung erhellen und daß sie am Ende auch die hier vielleicht nicht vermutete Rolle des Gefühls beleuchten können.
EVA-MARIA ENGELEN
Subjekt und Vertrauen Zur fundierenden Rolle des Gefühls bei den Leistungen der Vernunft
Die historisch entstandenen und dennoch unverzichtbaren Grundlagen des Denkens, auf die das Subjekt sich beziehen muß, prägen es. Die Frage, ob mit der Historizität der Urteilsgrundlagen und des Subjekts jegliche zeitlich unabhängige und damit nicht-kontingente Instanz des Urteilens verloren geht, ist in diesem Zusammenhang eine naheliegende Frage. Ich werde im folgenden die These vertreten, daß sich die scheinbare Unvereinbarkeit von historisch geprägtem Subjekt und Autonomie durch Berücksichtigung des für den Erkenntnisprozeß erforderlichen Begriffs des Vertrauens aufheben läßt, und damit einhergehend die Unvereinbarkeit von historisch entstandenen Urteilsgrundlagen und Kritik. Zeitlich bedingt sind nämlich nicht nur die Urteilsgrundlagen, auf die sich das Subjekt bezieht, sondern auch das Vernunftvermögen und damit das Subjekt selbst. Denn da der Mensch sich erst zu einem vernünftigen Subjekt entwickeln muß, welches in der Lage ist, nach Gründen zu fragen und Gründe anzugeben, ist es ein in der Zeit gewordenes auch als vernünftiges oder kritisches Wesen. Diese Feststellung stellt an und für sich bereits die Vermutung in Frage, daß vernünftiges und kritisches Denken überhaupt möglich seien. Denn das Einsetzen von Gründen im Urteils- und Erkenntnisschema scheint zeitlich und systematisch nachgeordnet zu sein, wenn das Subjekt sich erst zu einem vernünftigen Subjekt entwickeln muß und es dazu noch auf Urteilsgrundlagen zurückgreift, die sich nicht weiter begründen lassen. Zudem gefährdet die Bestimmung von vernünftigem Denken als begründendem ab einem bestimmten Punkt das, was wir vernünftiges Denken nennen. Denn da ,vernünfitig-Sein' bedeutet, Gründe zu haben und Gründe angeben zu können, gelangt man irgendwann an eine Grenze, an welcher sich keine weiteren kognitiven Gründe angeben lassen. Vertrauen ist daher für den Erkenntnisprozeß erforderlich. Denn in die Urteilsgrundlagen ist zu vertrauen, weil sie sich nicht weiter hinterfragen lassen, ohne sich der Grundlagen zu begeben, die erforderlich sind, um Fragen stellen zu können. Welcher Raum der Freiheit bleibt dann aber dem Subjekt, wenn die Grundlagen des Wissens und Urteilens historisch gewordene sind und das Subjekt in diese Grundlagen vertrauen muß! Ist das Subjekt vor dem Hintergrund dieses Muß nicht gewissermaßen zwischen Historizität und Logik gefangen, ohne daß ihm ein „Spielraum" für das bliebe, was wir ihm als Autonomie gerne zuschreiben würden? Die hier gegebene Antwort beginnt damit, daß das Subjekt zwar von den Wissensgrundlagen mitgebildet wird, aber nicht auf diese reduziert ist. Ein geringer Spielraum verbleibt
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ihm nämlich - derjenige der begrifflich notwendigen Einsicht. Mit der begrifflich notwendigen Einsicht(-smöglichkeit) ist auch der Raum für die Autonomie oder Freiheit des Subjekts eröffnet. 1 Freiheit ist auf diese Einsicht gegründet. Menschen können die Zusammenhänge zwischen Urteilsgrundlagen, Historizität des Wissens und der Werte und der Urteilsfreiheit des Subjekts einsehen und damit sind sie auch nicht vollständig von diesen Grundlagen bestimmt, sondern können auf diese Verhältnisse reflektieren. - Anzumerken ist, daß wir auch ohne diese spezifische Einsicht funktionieren würden. Es wäre wohl kein Unterschied in der alltäglichen Urteilspraxis oder in unserem Verhalten erkennbar, wenn uns diese Einsicht nicht zu Verfügung stände. Diese Einsicht erlaubt es uns jedoch, uns in ein besonderes Verhältnis zu uns selbst zu setzen und zu unseren Urteilsgrundlagen, die wir als Subjekte vorfinden. Sie ermöglicht es uns, die Urteilsgrundlagen, unsere Urteilsfähigkeit, unsere Kritikfähigkeit und den Wissenserwerb zu einem „Gegenstand" unserer Reflexionen zu machen. Indem wir uns in ein reflexives Verhältnis zu den Urteilsgrundlagen und dem Wissenserwerb setzen können, können wir uns auch in ein reflexives Verhältnis zu uns selbst setzen. Es handelt sich um eine Möglichkeit oder Freiheit, die den Menschen bestimmt. Sie gehört zu seiner Naturgeschichte. Die Möglichkeit der Einsicht, daß wir bei bestimmten Urteilsgrundlagen nicht weiter nach Begründungen fragen können, aber auch nicht auf sie verzichten können, ohne uns der Fragemöglichkeit selbst zu begeben, macht uns zu selbstreflexiven Wesen und damit zu autonomen. Von Kant wird das Moment der Freiheit mit den Konzepten der Spontaneität und dem der Autonomie näher bestimmt. Autonomie bedeutet für Kant Kritik durch die Vernunft. Einer Kritik durch die Vernunft kann allerdings nur dann Wirksamkeit und Geltung zugeschrieben werden, wenn unsere Handlungen und Gedanken nicht vollständig von der Materie determiniert sind. Begründungen und Rechtfertigungen sind ebenso auf den beschriebenen Spielraum der Reflexion angewiesen; sie sind grundlegende Bestandteile von Kritik, und ihre Geltung ist insofern davon abhängig, nicht vollständig determiniert zu sein, als ich mich nur dann Rechtfertigungen oder Begründungen gebe, wenn ich mich auf sie als Rechtfertigungen und Begründungen auch beziehen kann. Eine rein naturalistische Beschreibung des Selbst oder Bewußtseins läßt für das Konzept der Autonomie, sei es hinsichtlich des Entwurfs eines Lebensplans, sei es hinsichtlich der Kritik durch die Vernunft sicher keinen Spielraum, da das Konzept der Freiheit des Subjekts dem naturgegebener Bedingtheiten des Subjekts entgegensteht. Denn wenn Denken und kritische Reflexion auf die biologische Grundausstattung des Menschen reduziert werden oder aber auf die Inferentialität der vorhandenen Begrifflichkeit, bleibt kein systematischer Ansatzpunkt für eine Kritik durch die Vernunft. Kritik setzt Reflexion auf zufällig gewachsene, kulturell bedingte Erkenntnisgrundlagen voraus und es ist nicht zu sehen, inwiefern dieser Vorgang selbst wiederum auf chemisch-biologisch determinierte Erkenntnisgrundlagen beruhen könnte. Diese Zusammenhänge sind weitergehend zu erläutern. Wie genau ist die Verbindung von Reflexivität und Autonomie zu verstehen? Die Möglichkeit der Einsicht in die Bedingungen unserer Urteils- und Kritikfähigkeit macht uns zu autonomen Wesen. Wir können Daß diese Einsicht notwendig ist, bedeutet selbstverständlich nicht, daß sie auch in jedem Fall erfolgen muß.
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unsere eigenen Grenzen des Hinterfragens und Begründens auskundschaften und erwerben damit die Möglichkeit, den Raum, innerhalb dessen sich mit Gründen operieren läßt, auszuloten. Inwieweit diese Gründe durch begriffliche Notwendigkeiten oder historische Bedingtheiten gestaltet sein können, wird damit erst sichtbar. Im Bereich der praktischen Philosophie bedeutet das etwa, daß uns diese Möglichkeit eine Freiheit eröffnet, uns innerhalb der normativ unverzichtbaren Grenzen, zu Individuen zu entwickeln; zu Wesen also, deren Autonomie es ihnen ermöglicht, ihre eigene Lebensführung in Grenzen zu bestimmen. Es ist die Freiheit, bestimmte Urteilsgrundlagen als unverzichtbar, andere als kontingent erkennen zu können, die uns auch die Möglichkeit eröffnet, auf unsere Lebensführung Einfluß zu nehmen. Zunächst sind jedoch noch einige, aufgrund der Beschränkungen eines Aufsatzes jedoch sicher nicht alle zu berücksichtigenden Problemzusammenhänge im Bereich der theoretischen Philosophie zu erörtern. Zunächst möchte ich etwas näher auf die Frage eingehen, was Wissens- oder Urteilsgrundlagen sind und in welchem Verhältnis sie zu Vertrauen stehen. Wissensgrundlagen erhalten den Status objektiver, d. h. verbindlicher Grundlagen nicht dadurch, daß sie tradiert worden sind oder dadurch, daß sie sich durch Gründe auszeichnen ließen, sondern dadurch, daß das Subjekt sich auf sie beziehen muß. Daher sind diejenigen Wissens- oder Urteilsgrundlagen objektiv zu nennen, die sich nicht in Zweifel ziehen lassen, weil sie die Voraussetzung für die Formulierung des Zweifels sind. Auf sie hat das einzelne Subjekt insofern keinen Einfluß, als es sie nicht abändern, ja nicht einmal bezweifeln kann. Auf sie muß es vertrauen, weil sich keine Gründe für ihre Richtigkeit oder Zutreffenheit angeben lassen. Objektivität stellt das Subjekt in einem gewissen Sinne erst her, wenn es sich als Vertrauendes auf (Wissens- oder Urteils-)grundlagen bezieht. Die Objektivität dieser Grundlagen zeigt sich nämlich in ihrer Unhinterfragbarkeit und damit dem Umstand, daß wir auf sie vertrauen müssen. Die Einsicht, daß dem so ist, kann jedes Subjekt allerdings nur für sich selbst nachvollziehen. Darin zeigt sich das Wesen von Einsicht. Damit Urteile oder Kritik anderen gegenüber Gültigkeit erzielen können, müssen sie objektiv sein. Sie können nicht im Bereich der Subjektivität des einzelnen Subjekts angesiedelt sein und dennoch muß das Subjekt sich zu ihnen verhalten können, wenn ihm Autonomie zugeschrieben werden können soll. Objektivität der Urteilsgrundlagen und die Einsicht des urteilenden Subjekts, die die Objektivität der Urteilsgrundlagen erst begründet, sind gleichermaßen erforderlich. Um den oben erfolgten Hinweis auf die Autonomie des Subjekts etwas weiter zu verfolgen, sei nochmals in aller Kürze Kants Bestimmung von Autonomie vergegenwärtigt. Im Bereich der praktischen Philosophie besteht Autonomie nach Kant darin, sich den Anforderungen der Pflicht unterzuordnen.2 Von dieser Bestimmung ausgehend, mag der hier vorgestellte Autonomiebegriff an denjenigen Kants erinnern. Denn insofern in den vorliegenden Ausführungen Autonomie als notwendige Einsicht bestimmt wurde, nach welcher in diejenigen Urteilsgrundlagen zu vertrauen ist, die nicht hinterfragt werden können, ließe sich eine Parallele darin sehen, daß der Einsicht, sich den Anforderungen der Pflicht unterzuordnen, die 2
Zur Kritik an Kants Autonomiebegriff siehe auch: Harry Frankfurt 1999, 146-154.
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Einsicht entspricht, die Gültigkeit normativer Grundlagen, auf die gemeinsam vertraut werden muß, anzuerkennen. Der begrifflich erforderlichen Einsicht auf der theoretischen Ebene des Urteilens soll im folgenden jedoch keine erforderliche Einsicht in Pflichten auf der praktischen Ebene an die Seite gestellt werden. Obgleich diese mögliche Parallelisierung hier nicht systematisch weiterverfolgt werden soll, werde ich doch noch ein paar knappe Hinweise darauf geben, wie sich die Autonomie des Subjekts zu Fragen der Normativität verhält.3 Denn das bislang zum Verhältnis von Subjekt und objektiven Urteilsgrundlagen Dargelegte bezieht sich auch auf das Verhältnis Subjekt - normative Grundlagen. Weil das Moment der Notwendigkeit und des Zwangs, das in der Unhintergehbarkeit der Bezugnahme auf unverzichtbare Grundlagen des Zweifeins und damit des Erkennens deutlich wird, nicht in dem gleichen Maße für das praktisch handelnde Subjekt besteht, ist das „praktische" Subjekt allerdings freier als das rationale Subjekt. Verdeutlichen läßt sich dieser Gesichtspunkt vielleicht durch den Hinweis, daß das Hinterfragen von unverzichtbaren Normen und Werten, die das „praktische" Subjekt auch prägen, in zeitlicher Perspektive häufiger möglich ist. Unverzichtbar bedeutet wie erläutert, daß die Argumentation ohne bestimmte Normen und Werte nicht geführt werden kann. Kategorien wie ,Gleichheit' und ,Menschsein' sind etwa Beispiele für historische Kategorien, auf die wir uns beziehen und wie noch gleich dazulegen sein wird, auch beziehen müssen. Demgegenüber ist es nun zwar nicht auszuschließen, daß auch Gesetze der Logik eine Revision erfahren könnten, es handelt sich hierbei jedoch im wesentlichen um eine prinzipielle Möglichkeit, für die sich bisher keine konkreten Beispiele angeben lassen. Gesellschaftliche Normen sind nicht in derselben Weise unhintergehbar wie es etwa logische Gesetze oder begriffliche Tatsachen sind. Normative Grundlagen können, ebenso wie erkenntnistheoretische Grundlagen dennoch zeitweise unhintergehbar sein. Ein Beispiel wäre hier etwa der Rekurs auf das Recht auf Selbstbestimmung, auf das sich auch diejenigen stützen müssen, die einen universalen Wertekanon ansonsten ablehnen. Denn die Abweisung universaler und damit allgemeinverbindlicher Werte, die häufig mit dem Vorwurf des Kulturimperialismus einhergeht, kann beispielsweise nur dann gelingen, wenn man sich auf den gemeinsamen Wert der Selbstbestimmung geeinigt hat. Beide, gesellschaftliche Normierungen und erkenntnistheoretische Grundlagen sind allerdings nicht in einem absoluten Sinne unhintergehbar. Von beiden läßt sich sagen, daß sie prinzipiell veränderlich sind; es sei denn, jemandem sollte es gelingen ein aphoristisches erkenntnistheoretisches Modell als gültig auszuzeichnen (was ich aus prinzipiellen Gründen für unmöglich halte.) Der Zwang, der von Prinzipien ausgeht, ist dann kein universal gültiger. Denn es läßt sich nicht ausschließen, daß die Formulierung anderweitiger Vorstellungen einmal gegeben sein wird. Universale Gültigkeit kann daher nicht für alle Zeiten postuliert werden, sondern immer nur auf ein System der Erkenntnis und des Wissens bezogen sein. Das gilt sowohl für die Formulierungen anderweitiger Werte als auch für die begrifflicher, und das heißt im weitesten Sinne logischer Grundlagen. Nicht einmal für das logische Gesetz der Identität läßt sich mit Sicherheit annehmen, daß es unumstößlich ist. 3
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Normativität hier keineswegs als ein Begriff verwendet wird, der ausschließlich der praktischen Philosophie vorbehalten ist. Dieses umfassende Verständnis von Normativität scheint sich in der kontinental geprägten Philosophie nur langsam durchzusetzen.
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Sicher ist, daß die Veränderung gesellschaftlicher Normen sich in der Vergangenheit erheblich häufiger konstatieren läßt als dies bei begrifflichen Notwendigkeiten der Fall ist. Als Beispiele lassen sich in letzterem Fall analytische Urteile nennen. Notwendige oder analytische Sätze lassen sich nur auf Grund einer neuen Theorie revidieren. Eine solche Theorie muß das Wissen für die Falsifikation von Sätzen beinhalten, die für das bisherige Begriffssystem unabdingbar gewesen sind. Zu den Sätzen, für deren Revision eine neue Theorie oder ein neues Begriffssystem erforderlich sind, gehören dabei insbesondere logische oder mathematische Sätze. Die prinzipielle Möglichkeit, daß eine solche neue Theorie aufgestellt wird, bietet letztlich auch dem Subjekt einen Spielraum für Veränderungen des Urteilsrahmens. Welche Rolle soll nun aber Vertrauen in der oben skizzierten Systematik leisten? Zu Beginn wurde bereits daraufhingewiesen, daß Vertrauen in die Urteilsgrundlagen nicht nur insofern für den Erkenntnisprozeß erforderlich ist, als diese sich nicht weiter begründen lassen, sondern daß es einsetzen muß, um den Prozeß des Begründens und Urteilens überhaupt beginnen zu können. In diesem Zusammenhang wurde auch auf den Spielraum der Reflexion verwiesen, der durch diese Einsicht eröffnet wird. Vertrauen wurde damit auch eine begründende Funktion für die Autonomie des urteilenden Subjekt zugeschrieben. Denn das urteilende Subjekt wird auf der einen Seite von historisch kontingenten Normen und auf der anderen von nicht ganz so kontingenten logisch-begrifflichen bestimmt. Daß dem Subjekt überhaupt eine Autonomie bei Urteilen, die keine praktischen Urteile sind, zugesprochen wird, ergibt sich auch aus der Feststellung, daß selbst von logischen Urteilsgrundlagen nicht mehr angenommen wird, daß sie in einem absoluten Sinne a priori und damit unveränderlich sind. Das bedeutet, daß wir selbst von logischen Gesetzen nicht ausschließen können, daß sie sich einmal ändern könnten. (Auch wenn wir nicht sagen können, was das bedeuten würde. Insofern ist es allerdings nach wie vor gerechtfertigt, ihnen einen anderen, stabileren Geltungszeitraum einzuräumen als anderen Urteilsgrundlagen.) Damit ist Vertrauen eine notwendige Voraussetzung für vernünftiges und kritisches Denken und ermöglicht es zudem, eine Brücke zwischen Notwendigkeit und Kontingenz zu schlagen. Denn ein weiterer damit zusammenhängender Gesichtspunkt betrifft wie bereits erwähnt den Umstand, daß die Grundlagen des Denkens und Urteilens zum einen historisch gewordene und insofern kontingente sind; daß es zum anderen jedoch notwendig ist, daß Vertrauen in diese Grundlagen einsetzt. In dem hier vorgestellten Ansatz wird also davon ausgegangen, daß Vertrauen eine Voraussetzung für Autonomie ist. Denn die begrifflich notwendige Einsicht, daß in die Urteilsgrundlagen zu vertrauen ist, um den Denkprozeß beginnen zu können, wird als ein Moment der Freiheit verstanden, das die Autonomie des Subjekts erst ermöglicht. Einen zumindest ähnlichen Ansatz findet man bei Keith Lehrer. In seinem Buch „Self-Trust. A Study of Reason, Knowledge, and Autonomy" gründet Lehrer Vernunft und Wissen auf Vertrauen. Bei ihm stellt allerdings Selbstvertrauen die Grundlage von Wissen und Urteilen dar (Lehrer 1997b): Your reasonableness and your life of reason depend on whether you are worthy of your own trust. [...] what makes me worthy of my trust is my capacity to evaluate my beliefs and desires, and that is
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the role of metamental ascent. That is transcendendence to a life of reason. This is not a deprecation of feeling, belief, and desire, for they supply us with information to evaluate and are essential to us. [...] The positive evaluation of belief, I have called acceptance, and the positive evaluation of desire, I have called preference. The objective of acceptance is to accept something if it is worth accepting as true and to avoid acceptance if it is not. The objective of preference is to prefer what has merit and to avoid preferring of what does not. (Lehrer 1997b, 3)
Etwas weiter unten heißt es dann: The life of reason begins with self-trust. [...] I cannot reply to an external sceptic nor to the sceptic within my own head without self-trust, f...] I must appeal to what I accept as premisses, I have nothing better. So I must justly ignore the challenge of replying to the sceptic without trusting what I accept. The first step in the life of reason is self-trust. I trust myself in what I accept and prefer; [...]." (Lehrer 1997b, 5) „Ihre Vernünftigkeit und Ihr Leben als jemand, der vernünftig ist, hängen davon ab, ob Sie Ihres eigenen Vertrauens wert sind. ... was mich meines Vertrauens als wert erweist, sind meine Fähigkeit, meine Meinungen und Wünsche auszuweiten, und genau dies ist die Rolle eines metamentalen Aufstiegs. Das ist Transzendenz zu einem vernünftigen Leben. Es ist nicht eine Entwertung von Gefühlen, Annahmen oder Wünschen, weil diese uns mit Informationen fur die Auswertung versehen und so wesentlich für uns sind. ... Die positive Evaluation von Meinungen habe ich Akzeptanz genannt, und die positive Evaluation von Wünschen Präferenz. Der Zweck von Akzeptanz ist es, etwas zu akzeptieren, wenn es es wert ist als wahr anerkannt zu werden und die Akzeptanz zu verweigern, wenn es es nicht ist. Der Zweck von Präferenz ist es, etwas zu präferieren, das einen Wert hat, und die Präferenz zu verweigern, wenn es keinen Wert hat." „Das Leben dessen, der vernünftig ist, beginnt mit Selbstvertrauen. ... Ich kann weder einem Skeptiker noch dem Skeptiker in meinem eigenen Kopf antworten, ohne darauf zu vertrauen, was ich akzeptiere. Der erste Schritt im Leben dessen, der vernünftig ist, ist Selbstvertrauen. Ich vertraue mir selbst in dem, was ich akzeptiere und in dem, was ich präferiere.
Da Lehrer sich in seinen Arbeiten auch zur Frage der Autonomie äußert, müssen die systematischen Zusammenhänge, die Lehrer aufstellt, genauer betrachtet werden, um sie mit den hier vertretenen systematischen Annahmen besser vergleichen zu können. Die folgenden Ausfuhrungen dienen mithin dem Vergleich der konzeptionellen Verknüpfungen von Vernunft, Vertrauen und Autonomie bei Lehrer und in dem hiesigen Ansatz. Lehrer geht davon aus, daß man akzeptieren muß, daß man sein eigenes Vertrauen in die Weise wert ist, wie man Schlußfolgerungen zieht. Schließlich gilt das eigene Vertrauen auch dem vernünftigen Vorgehen hinsichtlich der Weise, wie man akzeptiert, präferiert oder urteilt. Dafür müsse man es aber letztlich präferieren, sich seines Vertrauens selbst wert zu sein. Am Ende laufen seine Überlegungen darauf hinaus, daß ich mir meines Vertrauens durch einen Prozeß des Schlußfolgerns wert bin, der selbst wiederum meines Vertrauens wert ist. (Lehrer 1997b, 21) Da diese Überlegungen keinen Beweischarakter haben sollen, sondern lediglich erläuternden Charakter, findet Lehrer die Zirkularität der Erklärung auch nicht weiter besorgniserregend oder seine Erläuterung unterlaufend. Daß ich etwas für vernünftig halte, ist aber auch bei Lehrer nicht hinreichend dafür, von Wissen zu sprechen, selbst dann nicht, wenn man recht hätte mit der vernünftigen Annahme. Daher hält er fest, daß ich nur dann weiß, daß etwas, was ich akzeptiere wahr ist, wenn meine persönliche Rechtfertigung, etwas zu akzeptieren zu Wissen wird, weil die Rechtfertigung durch keinen Irrtum aufgehoben wurde. (Lehrer 1997b, 35)
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Personal justification undefeated by error converts into knowledge and wisdom. ... S knows that p at t if and only if S is justified in accepting that p at t in a way that is undefeated.
Und weiter unten: Wisdom concerning preference is undefeated justified preference, just as knowledge concerning acceptance is undefeated justified acceptance. (Lehrer 1997b, 44-47) (Persönliche Rechtfertigung, die durch keinen Irrtum aufgehoben ist, wird zu Wissen und Weisheit. ... S weiß, daß p zu einer Zeit t, genau dann wenn S darin gerechtfertigt ist, in einer nicht für ungültig erklärten Weise zu akzeptieren, daß p zu einer Zeit t. ... Weisheit ist, was Weisheit anbelangt, nicht für ungültig erklärte, gerechtfertigte Präferenz, genau wie Wissen, was Akzeptanz anbelangt, nicht für ungütig erklärte, gerechtfertigte Akzeptanz ist.)
Der Unterschied zu dem hier vorgestellten Ansatz besteht in erster Linie in Lehrers Betonung des Selbstvertrauens als Ausgangspunkt vernünftigen Denkens. Weil man keine ersten Prämissen angeben kann, auf denen Wissen und Weisheit beruhen, wird das Subjekt bei ihm ähnlich wie bei Descartes zum systematischen Ausgangspunkt für Wissen und Weisheit. Lehrer ersetzt die Selbstevidenz des cartesischen Cogitos durch die Prämisse des Selbstvertrauens. Für das selbstvertrauende Ich als Ausgangpunkt der Vernunft und des Erkenntnisprozesses bleibt jedoch die Frage zu beantworten, wie das Subjekt das Selbstvertrauen in Bezug auf sich selbst und seine Fähigkeiten erlangt. Was erlaubt es ihm, sich selbst als Prämisse zu setzen, ohne die Fähigkeit, einen solchen Akt zu vollziehen, erworben zu haben und ohne eine Bestätigung seiner eigenen Fähigkeiten erhalten zu haben? Fähigkeiten gelten erst dann als solche, wenn sie zu richtigen oder akzeptierten Resultaten fuhren. Wer oder was die Richtigkeit bestimmt und die Ergebnisse als zutreffende akzeptieren muß, damit das Subjekt seine eigenen kognitiven Fähigkeiten als solche begreifen lernt, ist eine Frage, die Lehrer nur insofern beantwortet, als er annimmt, daß das Subjekt Stück für Stück anfängt, sich ein eigenes Evaluationssystem aufzubauen, das vor allen Dingen deshalb Gültigkeit besitzt, weil es in keiner Weise durch die Aufdeckung von Irrtum oder Gegenevidenzen für ungültig erklärt worden ist. Kognitive Fähigkeiten lassen sich ohne positive oder negative Rückmeldung anderer Personen oder dem Gelingen oder Mißlingen von Handlungsversuchen in der Welt nicht erwerben. Dadurch haben sowohl die Anderen als auch die dingliche Widerständigkeit, an die wir stoßen, Anteil am Erwerb kognitiver Fähigkeiten. Vertrauen in die Anderen und die dingliche Umgebung sind also auch Bedingungen des Denkens, weil wir sie benötigen, um Erfahrungen zu machen und um begreifen zu lernen, wann wir etwas falsch gemacht haben. Davon zu unterscheiden ist allerdings das Vertrauen in die Urteilsgrundlagen, das einsetzten muß, um Urteilen, Begründen und Schließen zu können. Dieses zuletzt genannte Vertrauen gehört zum Begründungsprozeß selbst dazu. Es ist nicht nur unabdingbar dafür, daß wir Urteilen, Begründen, Denken erlernen können, sondern am Ende bzw. am Anfang eines Begründungsprozesses unabdingbarer Bestandteil des Prozesses selbst. Bestandteil dieses Prozesses sind auch die Urteilsgrundlagen, auf die das Vertrauen bezogen werden muß. Diese Grundlagen werden vorgefunden. Zu ihnen können wir uns als denkende Individuen nicht in ein kritisches Verhältnis setzen, deswegen müssen wir auch auf sie vertrauen. Selbstvertrauen bezieht sich demnach auf unsere eigene (Denk-)Fähigkeiten und auf unsere eigenen Handlungserfolge. Die für Denken, Begründen und Urteilen erforderlichen
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unabdingbaren Grundlagen kann das Subjekt jedoch nicht ausschließlich aus sich selbst heraus beziehen, sondern erwirbt sie mit seiner Sprache und deren inhärenten Weltbezug. Für Lehrer ist jedoch Selbstvertrauen Ausgangspunkt von Urteilen und Erkennen. Er gründet es auf die Fähigkeit {capacity), die eigenen Annahmen und Wünsche auszuwerten: If I am worthy of my trust concerning what I accept and prefer, I can find an argument for the reasonableness of both. (Wenn ich meines Vertrauens hinsichtlich dessen, was ich akzeptiere und präferiere wert bin, kann ich ein Argument für die Vernünftigkeit von beiden finden.)
Die Frage, wie eine Person zu ihrem Selbstvertrauen gelangt, erhält dadurch zentrale Bedeutung. Da es das Selbstvertrauen ist, das es mir erlaubt, nicht zu akzeptieren, daß Descartes' dämonischer täuschender Gott eine tatsächliche Möglichkeit ist, wohl aber anzuerkennen, daß die Sachverhalte, über die mich dieser Gott täuschen könnte, Tatsachen sind (Lehrer 1997b, 6), ist die Frage zu stellen, woher dieses Selbstvertrauen kommt. Diese Frage erhält dadurch zusätzliches Gewicht, daß Lehrer die Erste-PersonPerspektive auch bezüglich des Präferenz- oder Beurteilungssystems betont.4 Das Ich zieht ein solches System heran, um Wissen und Weisheit zu erlangen: knowledge and wisdom are relativized to a persons's system of evaluation, but whether a system is defeated by error depends on the match between that system and reality. (Lehrer 1997b, 27) (Wissen und Weisheit sind bezüglich des Evaluationssystems einer Person relativiert, aber ob ein System durch Irrtum zum Scheitern gebracht wird, hängt von dem Zusammenpassen dieses Systems mit der Realität ab.)
Autonomie bedeutet dann, den eigenen (reflektierten) Präferenzen, deren Autorin oder Ursprung ich selbst bin, zu folgen. Daß ich Autorin meiner Präferenzen bin, läßt sich nun wiederum nicht weiter begründen, Präferenz hat bei Lehrer insofern die selbstreferentielle Form (PA): Ich präferiere über die „Autorenpräferenz" zu verfugen, über die ich hinsichtlich einer Handlung A verfüge, weil ich es präferiere, über sie zu verfügen. In der Rekonstruktion Lehrers erscheint die Autorenpräferenz als transzendentale Bedingung des Denkens und Erkennens. Was eine Person berechtigt, ihren eigenen Urteilsfähigkeiten zu vertrauen, ist nach Lehrer der Umstand, daß die Person, um für sich selbst in bezug auf ihre Urteilsfähigkeit vertrauenswürdig zu sein, der autonome Autor der Evaluation der eigenen Wünsche und Annahmen sein muß: My evaluation of my evaluations, like the evaluation of my beliefs and desires, must take place within me; and for them to make me trustworthy, for them to make me worthy of my trust, they must be mine. I must be their autonomous author. (Lehrer 1997b, 157-158)
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Präferenz wird von Lehrer auch noch in Zusammenhang mit der Liebe herangezogen, um zu erläutern, inwiefern Autonomie trotz Hingabe an einen Anderen möglich ist. Lehrer führt aus, daß Liebe die Hingabe an einen anderen Menschen beinhaltet und damit in dem Maße, in dem die Hingabe erfolgt, eine Aufgabe der Eigenständigkeit, weil das eigene Leben zum einen durch die Hingabe an den oder die Andere bestimmt wird und zum anderen durch die Wünsche und Bedürfnisse des oder der Anderen, die es zu erfüllen gilt. Er vertritt die Auffassung, daß dieses Spannungsverhältnis zu lösen ist, wenn man den Gedanken einführt, daß es eine Autonomie gibt, sich hinzugeben. Diese Autonomie nennt er Präferenz. Vgl. K. Lehrer, 1997a, 107-121.
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Autorschaft oder Autonomie wird damit bei Lehrer zur Voraussetzung für Selbstvertrauen, das das eigentliche Fundament für Wissen und Urteilsfähigkeit sein soll. Den Begriff der Autonomie versucht Lehrer dann mit Hilfe des Begriffs der Präferenz zu bestimmen. Er wählt diesen Ansatz und nicht den Kantischen Autonomiebegriff, weil dieser über die „Selbstsetzung" von Regeln oder Maximen bestimmt ist, und sich daher für die Diskussion um das Verhältnis von Liebes- und Autonomiebegriff beispielsweise nicht eigne.5 Wie bereits dargelegt, wird in dem hier vorgestellten Ansatz dagegen davon ausgegangen, daß Vertrauen Voraussetzung für Autonomie ist. Begründet wurde das damit, daß die begrifflich notwendige Einsicht, daß in die Urteilsgrundlagen zu vertrauen ist, um den Denkprozeß beginnen zu können, ein Moment der Freiheit darstellt, das eine Autonomie des Subjekts erst ermöglicht. Zudem besteht Subjektivität dem hier vertretenen Ansatz nach nicht in einem rationalen Selbst plus einem empirischen Subjekt.6 Das rationale oder vernünftige Selbst ist vielmehr auch durch historische Voraussetzungen geprägt, zu denen es sich aber, da die historischen Voraussetzungen die Logik des Begründens und Zweifeins bereits enthalten, in dem oben erläuterten Sinne ins Verhältnis setzen kann, weil zum einen der Zweifel zur Vernunft gehört und das Vertrauen zum anderen einsetzen muß. Das Vertrauen selbst ist nicht begründbar und das bedeutet, daß es insofern vernunfitresistent ist. Dennoch läßt sich die Einsicht in das erforderliche Vertrauen nicht auf eine logische Resignation reduzieren, sondern umfaßt letztlich eine positive Annahme, die in ihrer Unbegründbarkeit eine gefühlsmäßige Haltung ist. Das so beschriebene Selbst ist, indem es vernünftig ist, auch auf ein Gefühl angewiesen.7 Wir als Erkenntnissubjekte werden durch das Vertrauen und den kognitiven, logischen Zwang bestimmt. Das Subjekt läßt sich nicht auf seine kognitiven Grundlagen beschränken. Denn mit dem Zwang der Anerkennung oder des Vertrauens in die Existenz von etwas, das 5
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Das Problem von Vereinigung und Autonomie hinsichtlich Liebe stellt sich für Lehrer wie folgt dar: Extreme Liebe resultiert aus dem Wunsch von Liebender und Geliebtem, daß die Wünsche und die Bedürfnisse des jeweils anderen erfüllt werden mögen. In dieser Bestimmung ist der Konflikt zwischen äußerster Liebe und Autonomie bereits enthalten. Denn es ist naheliegend, daß man zur Sklavin der Wünsche des Anderen würde, weil man sie erfüllen möchte und dennoch vielleicht diese Wünsche gerade nicht erfüllen möchte. Wie läßt sich dieses Dilemma vermeiden und der Begriff der autonomen Liebe formulieren? Nach Lehrer ist das Verhältnis von Präferenz, Autonomie und äußerster Liebe konsistent denkbar. Da wir die Befriedigung von Wünschen bevorzugen, auch wenn es sich um eine Präferenz für die Befriedigung der Wünsche der Anderen handelt, steckt die Autonomie in der Präferenz, das zu tun, was wir tun. Das Ideal besteht für Lehrer dann darin, eine gegenseitige autonome Liebe zu bestimmen, die auf der Autonomie des Liebenden und der Geliebten (und umgekehrt) beruht. (AL) S bevorzugt A aufgrund (gegenseitiger) autonomer Liebe für T dann und nur dann, wenn S autonomerweise A bevorzugt, weil T autonomerweise A bevorzugt. Lehrer weist darauf hin, daß alles davon abhängt, ob S A nur deswegen bevorzugt, weil T A bevorzugt oder weil ich bevorzuge zu tun, was ich bevorzuge zu tun. (Lehrer 1997a, 111) Wobei diese Trennung auch bei Lehrer nicht als statische gedacht und dargestellt ist. Indem er berücksichtigt, daß das Subjekt seinen Evaluationshorizont erst nach und nach aufbaut, findet auch das empirische Subjekt in seinem Ansatz Berücksichtigung. In dem vorgegebenen Rahmen ist es mir leider nicht möglich, auch auf eine ausführliche Diskussion einzugehen, inwiefern Vertrauen ein Gefühl ist. Vgl. dazu u. a.: E.-M. Engelen 2003.
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die Kriterien, auf die zu vertrauen ist, vermittelt, kann nicht allein auf ein Cogito als Erkenntnisgrundlage verwiesen werden. Abschliessend soll daher noch einmal festgehalten werden, daß Vertrauen vernünftiges und kritisches Denken ermöglicht. Vernünftiges und kritisches Denken setzen daher Vertrauen voraus. Vernünftiges Denken wird dadurch ermöglicht, daß Vertrauen in die Grundlagen des Denkens gegeben sein muß, wenn ein Zweifel überhaupt formulierbar sein soll. Damit ist für vernünftiges, d. h. begründendes Denken, ein Fundament gegeben, von dem aus es begonnen werden kann. Die Frage, unter welchen Umständen Denken, Schlußfolgern, Begründen an ihr Ende gekommen sind und Vertrauen einsetzen muß, läßt sich also dahingehend beantworten, daß das Vertrauen einsetzen muß, wenn man mit den Begründungsforderungen die Grundlagen des Begründens erreicht hat, die sich nicht weiter begründen lassen. Dann muß das Vertrauen einsetzen. Für kritisches Denken gilt zudem, daß Vertrauen in die Grundlagen des Denkens und Urteilens vorhanden sein muß, die den verbindlichen Rahmen der Kritik darstellen. Kritik läßt sich nur üben, wenn es eine Grundlage gibt, die diese Kritik ermöglicht. Auszeichnen lassen sich dies Grundlagen nur dadurch, daß auf sie vertraut werden muß. Dadurch erhalten sie auch ihre Objektivität. Vertrauen als Gefühl ist damit fundamental, nicht jedoch für Keith Lehrer, für den Gefühle lediglich Informationslieferanten im Aufstieg zur Vernunft sind: That is transcendendence to a life of reason. This is not a deprecation of feeling, belief, and desire, for they supply us with information to evaluate and are essential to us. (Lehrer 1997b, 3)
Lehrer beginnt demnach mit Selbstvertrauen, das erst die Transzendenz zur Vernunft ermöglicht, von wo aus auch Gefühle als Informationsträger relevant für den Urteilsprozeß sein können. Dagegen sollte hier gezeigt werden, daß Vertrauen die Objektivität von Urteilsgrundlagen erst erzeugt. Die Objektivität von Urteilsgrundlagen kann damit nicht im Bereich der Subjektivität des einzelnen Subjekts angesiedelt sein, weil es die Urteilsgrundlagen nicht allein aus sich selbst erzeugen kann. Und dennoch muß das Subjekt sich den Urteilsgrundlagen verhalten können, wenn ihm Autonomie zugeschrieben werden können soll. Die Einsicht des urteilenden Subjekts in das erforderliche Vertrauen ermöglicht diese Autonomie.
Literaturverzeichnis Eva-Maria Engelen, Erkenntnis und Liebe. Zur fundierenden Vernunft, Göttingen 2003.
Rolle des Gefühls bei den Leistungen der
Harry Frankfurt, „Autonomy, Necessity and Love", in: ders., Necessity, Volition, and Love, Cambridge 1999, 146-154. Keith Lehrer, „Love and Autonomy", in: R. E. Lamb (Hg.), Love Analyzed, Boulder Colorado/Oxford 1997a, 107-121. Keith Lehrer, Self-Trust. A Study of Reason, Knowledge and Autonomy, Oxford 1997b.
PAUL GUYER
Transzendentaler Idealismus und die Grenzen der Erkenntnis
Kants Absicht in der Kritik der reinen Vernunft war eine Kritik „des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien" (KdrV, A xii).1 Kants Projekt klingt ganz ähnlich wie das Projekt John Lockes in seinem Essay concerning Human Understanding, der fast einhundert Jahre früher geschrieben wurde: Locke zufolge war es sein „Purpose to enquire into the Original, Certainty, and Extent of humane Knowledge, together with the Grounds and Degrees of Belief, Opinión, and Assent" (EHU, I.i.2).2 Wie Kant dachte Locke, daß die Reichweite und also die Grenzen der menschlichen Erkenntnis durch die Untersuchung unseres eigenen Erkenntnisvermögens bestimmt werden können: „were the Capacities of our Understanding once discovered", dann würde „the Horizon [be] found, which sets the Bounds between the enlightned and dark Parts of Things; between what is, and what is not comprehensible by us" {EHU, I.i.7). Gewiß hat Kant eine Beziehung zwischen seinem Projekt und dem Lockeschen gesehen; der „berühmte Locke" ist der erstgenannte Philosoph in der Kritik {KdrV, A ix). Kant hat jedoch Lockes eigene Untersuchung unseres Erkenntnisvermögens als eine unzureichende Physiologie des menschlichen Verstandes" abgelehnt {KdrV, A x). Unter dem Namen „Physiologie" kann er aber nicht das allgemeine Projekt einer Bestimmung der Grenzen der menschlichen Erkenntnis durch die Untersuchung unseres eigenen Erkenntnisvermögens zurückweisen wollen; Kants Problem mit Lockes Physiologie war eher, daß sie empirisch war, d. h. daß sie versucht hat, die Grenzen der menschlichen Erkenntnis aus einer bloß empirischen Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens zu ziehen (siehe KdrV, B 127). Im Gegensatz dazu dachte Kant, daß er eine „transzendentale Erörterung" {KdrV, B 40) unseres Erkenntnisvermögens liefern könne, und damit auch eine transzendentale anstatt einer empirischen Bestimmung der Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Kants Deutung der Methodologie Lockes, die dieser zur Bestimmung der Grenzen der menschlichen Erkenntnis anwendet, als empirisch war ganz richtig, denn Lockes Argumente 1
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KdrV = Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Raymund Schmitt, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1990. EHU = John Locke, Essay concerning Human Understanding, hg. von P. H. Nidditch, Oxford 1975.
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für die Bestimmung der menschlichen Erkenntnis beruhen zum größten Teil auf seinen Einschätzungen der Reichweite und der Fähigkeiten der menschlichen Sinne - Einschätzungen, die selbst ganz und gar empirischer Natur sind. Im Gegensatz dazu zieht Kant die Grenzen der menschlichen Erkenntnis aufgrund seiner transzendentalen Untersuchung der Bedingungen ihrer Möglichkeit; Kant zufolge kann die Notwendigkeit des Raumes und der Zeit als der apriorischen Formen der sinnlichen Anschauung und ebenso die Notwendigkeit der Kategorien des Verstandes als der apriorischen Formen allen Denkens nur erklärt werden, wenn diese Formen der Anschauung und des Denkens ausschließlich auf unsere Erfahrung von Gegenständen und nicht auf die Gegenstände selbst, d. h. wenn sie also auf Erscheinungen und nicht auf die Dinge, wie sie an sich selbst sind, angewendet werden. Obwohl Lockes Bestimmung der Grenzen der menschlichen Erkenntnis gewiß übereilt war, beruht jedoch Kants eigene, transzendentale Bestimmung dieser Grenzen auf Notwendigkeitsansprüchen, auf die er selbst kein Recht hat. Dennoch stellt Kants eigene Auffassung empirischer Erkenntnis und ihrer Prinzipien ein weit überzeugenderes Bild der Grenzen solcher Erkenntnis dar als die Auffassung Lockes, weil Kant glaubt, daß die Reichweite und das Vermögen unserer Sinne durch die empirische Wissenschaft selbst unbegrenzt erweitert werden können. Obwohl für Kant keine vollständige empirische Erkenntnis der sinnlichen Welt möglich ist, gibt es dennoch keinen Grund zu glauben, daß irgendeine spezifische Stufe im Fortschritt der empirischen Erkenntnis deren letzte Grenze darstellt. Dies ist die bleibende Lehre über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis, die wir von Kant übernehmen sollen.
I. Locke: Die empirischen Grenzen der menschlichen Erkenntnis Locke wird gewöhnlich als der Begründer des philosophischen Empirismus und der Publizist der empirischen Wissenschaft der „Royal Society" betrachtet. Er ist - natürlich - ein Empirist, der glaubte, daß alle unsere Erkenntnis sowohl aus den „several distinct Perceptions of things [that] Our Senses, conversant about particular sensible Objects, do convey into the Mincf' (EHU, II.i.3) als auch aus „the Perceptions of the Operations of our own Minds within us, as it is employ'd about the Ideas it has got" aus der Empfindung (II.i.4) stammt. Der Satz, daß alle unsere Erkenntnis aus der sinnlichen Wahrnehmung und aus der Erfahrung der weiteren Wirkungen des Gemüts auf unsere Empfindungen stammt, ist aber bloß die Prämisse von Lockes Argument in seinem Essay, das Ergebnis des von dieser Prämisse ausgehenden Arguments ist, daß die Grenzen unserer Sinne auch die Grenzen der Erkenntnis, die wir mit wissenschaftlichen Methoden erreichen können, bestimmen, weil alle unsere Erkenntnis auf sinnliche Wahrnehmung gegründet ist. Lockes Essay ist damit ebensowohl eine Warnung gegen die Anmaßungen der neuen Wissenschaft wie auch Propaganda für sie. Lockes Einschätzung der Grenzen der menschlichen Erkenntnis beruht auf seiner Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten:3 Unsere Erkenntnis der Eigenschaften materieller Substanzen ist zum größten Teil auf die Erkenntnis ihrer sekundären
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Natürlich hat Locke diese Unterscheidung mit anderen Denkern der Zeit, wie Galileo, Descartes, und Boyle geteilt.
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Qualitäten beschränkt; weil aber die sekundären Qualitäten nur die Wirkungen der kausalwirksamen primären Qualitäten sind, und die letzteren aufgrund der Grenzen unserer Sinne größtenteils vor uns verborgen sind, ist sowohl unsere Erkenntnis der kausalen Verbindungen der Eigenschaften irgendeiner einzelnen Substanz wie auch unsere Erkenntnis der Verbindungen zwischen den Eigenschaften unterschiedlicher Substanzen notwendigerweise auf fragmentarische und unzuverlässige Verallgemeinerungen beschränkt, die wir aufgrund unserer Beobachtungen sekundärer Qualitäten vornehmen können. Um Lockes Empirismus zu verstehen, ist es wichtig zu sehen, daß die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten auf sinnlicher Wahrnehmung beruht und deren Grenzen ausdrückt. Locke stellt die These, daß alle wahrnehmbaren Qualitäten der Gegenstände auf den primären Qualitäten - ,£olidity, Extension, Figure, and Motion" ihrer kleinsten Teilstücke gegründet sind, als etwas dar, daß durch Beobachtung und Schlußfolgerung aus der Beobachtung erkannt werden kann. Daß jene Qualitäten „are utterly inseparable from Body, in what estate soever it be; such as in all the alterations and changes it suffers" erkennen wir, weil „Sense constantly finds" jene Qualitäten „in every particle of Matter, which has bulk enough to be perceived, and the Mind", das nur von dem, was es beobachtet, weiterdenken kann, und deshalb jene Qualitäten „inseparable from every particle of Matter, though less than to make it self singly be perceived by our Senses" (EHU, II.viii.9) findet. Obwohl der Bezug auf „the Mind" es so klingen läßt, als ob Locke es fur eine begriffliche Wahrheit hält, daß jedes Teilstück der Materie primäre Qualitäten hat, denkt er tatsächlich daß „the Mind" dieses Ergebnis aus den Beobachtungen der Sinne extrapoliert. Selbst wenn wir etwas visuell Wahrnehmbares, wie ein Weizenkorn, welches visuell wahrnehmbare primäre Qualitäten hat, zerteilen bis es nicht länger wahrnehmbar ist, würden wir - Locke zufolge - noch immer annehmen, daß es primäre Qualitäten hat, weil „division (which is all that a Mill, or Pestel, or any other body, does upon another, in reducing it to insensible parts) can never take away either Solidity, Extension, Figure, or Mobility from any Body, but only makes two, or more distinct separate Masses, of that which was but one before"; und die Prämisse, daß alles was ein „Mill, or Pestel" tun kann, darin besteht, einen Körper zu zerteilen, selbst durch Beobachtung begründet werden muß. Darüber hinaus scheint es mindestens wahrscheinlich, daß Locke auch die These, daß Körper nur durch Impuls und Kontakt wirken, auf Beobachtung gegründet hat, und ebenso die These, daß die einzigen kausalwirksamen Eigenschaften von Körpern, die die Ergebnisse eines solchen Impulses und Kontakts bestimmen, primäre Qualitäten sind, und folglich alle anderen Eigenschaften der Dinge, wie ihre sekundären Qualitäten, ihre Farben, ihr Geschmack und dergleichen, Produkte ihrer primären Qualitäten sein müssen.4 Lockes Behauptung, daß alle Körper, selbst solche, die nicht wahrnehmbar sind, primäre Qualitäten haben, und alle ihre
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Obwohl sein Satz, wie es in der vierten und fünften Auflage des Essay dargestellt ist - nämlich daß ,Jiodies produce Ideas in us [...] manifestly by impulse, the only way which we can conceive Bodies perate in" (EHU, Il.viii.l 1) - wie irgendeine begriffliche Wahrheit klingen mag, hat Locke keine Quelle für eine solche begriffliche Wahrheit gegeben; und seine längere Darstellung dieses Punktes in den früheren Auflagen des Essay - es sei „impossible to conceive, that Body should operate on what it does not touch, (which is all one as to imagine it can operate where it is not) or when it does touch, operate any other way than by Motion" - klingt wie eine Schlußfolgerung aus der Beobachtung der wahrnehmbaren Körper.
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Wirkungen mechanische Produkte des Impulses und Kontakts dieser primären Qualitäten sind, scheint demnach so gemeint zu sein, daß sie gänzlich auf Beobachtung und vernünftigem Folgern daraus beruht. Doch obwohl wir durch sinnliche Beobachtung erkennen sollten, daß Körper durch den Impuls wirken und unsere Wahrnehmung sekundärer Qualitäten daher durch primäre Qualitäten der kleinsten Teile der Körper verursacht ist, bringt die Begrenztheit der Schärfe und der Reichweite unserer sinnlichen Wahrnehmung unvermeidliche Grenzen für unsere eigentliche Erkenntnis der sekundären Qualitäten der Gegenstände und ihrer Kausalverbindungen mit sich. Nach den schon zitierten Absätzen behauptet Locke erstens, daß die primären Qualitäten der kleinsten Teile der „Bodies of an observable bigness" unsere Wahrnehmungen der primären Qualitäten solcher Körper bewirken (EHU, Il.vii. 12) und daß dieselben Qualitäten unsere Jdeas of secondary Qualities'" bewirken, aber dann, zweitens, daß in beiden Fällen die Teile und ihre Qualitäten, die wir als Ursachen aller unserer Ideen voraussetzen, weit unter die Schwelle unserer Sinnen fallen {EHU, II.viii.13). Obwohl wir angeblich sicher sein können, daß besondere Qualitäten wie z. B. die „blue Colour" und „sweet Scent" eines Veilchens durch die primären Qualitäten dieser Blume bewirkt werden, ergibt sich aus der Nicht-Wahrnehmbarkeit der kleinsten Teile der Materie, daß wir keine Erkenntnis davon haben können, wieso genau oder wie die kleinsten Teile dieser Blume die Wahrnehmung ihrer besonderen Qualitäten verursachen. Die Nicht-Wahrnehmbarkeit der Grundbestandteile der Materie ist die Basis für die Grenze unserer Erkenntnis von physischen Körpern, wie sie Locke in seiner Erörterung der Substanz in Essay Buch II, Kapitel xxii, in seiner Erörterung von zureichenden und unzureichenden Ideen in Buch II, Kapitel xxxi, und in seiner Erörterung der Reichweite der menschlichen Erkenntnis in Buch IV, Kapitel iii zieht. Im ersten dieser Kapitel stellt Locke seine These „Powers [...] make a great part of our complex Ideas of Substances" {EHU, II.xxiii.10) als eine Folge der Grenzen dar, die unsere Sinne der Entdeckung der primären Qualitäten ihrer kausalwirksamen Teile setzen: ,,[0]ur Senses failing us, in the discovery of the Bulk, Texture, and Figure of the minute parts of Bodies, on which their real Constitutions and Differences depend, we are fain to make use of their secondary Qualities, as the characteristical Notes and Marks, whereby to frame Ideas of them in our Mind, and distinguish them one from another" {EHU, II.xxiii.8). In den folgenden Kapiteln erörtert er weiter, daß es unsere Unfähigkeit, durch unsere Sinne die genauen primären Qualitäten der besonderen Arten der Substanzen zu entdecken, es mit sich bringt, daß wir keine deduktive oder „scientifical" Erkenntnis ihrer kausalen Kräfte haben können, und daher auch keine eigentliche Erkenntnis der notwendigen Koexistenz der makroskopischen Kräfte irgendeiner besonderen Substanz oder der notwendigen Wirkungen einer Art von Substanzen auf andere haben können. Den ersten Punkt macht Locke in Buch II, Kapitel xxxi und in Buch IV, Kapitel iii deutlich. Im ersten Kapitel sagt er, unsere komplexe Idee von jeder Substanz sei unzureichend, weil wir keine „distinct perception at all [...] no Idea of its Essence" haben können, obwohl diese wesentliche Beschaffenheit die Ursache dafür sei, daß irgendeine besondere Substanz die spezifische Konjunktion von an ihr beobachteten sekundären Qualitäten oder Kräften besitzt. So z. B. im Fall des Goldes, „that particular shining yellowness; a greater weight than anything I know of the same bulk; and a fitness to have its Colour changed by the touch of Quicksilver" {EHU, II.xxxi.6). Im zweiten Kapitel sagt er noch ein-
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mal, daß die Unwissenheit, die die Grenzen unserer Sinne unserer Erkenntnis von primären Qualitäten einer Substanz auferlegen, uns von der eigentlichen Erkenntnis der notwendigen Koexistenz ihrer Qualitäten abhalte: „For not knowing the Root they spring from, not knowing what size, figure, and texture of Parts they are, on which depend and from which result those Qualities which make our complex Idea of Gold, 'tis impossible we should know what other Qualities result from, or are incompatible with the same Constitution of the insensible parts of Gold" (EHU, Iv.iii.l 1). Später in diesem Kapitel sagt Locke auch, daß unsere Unkenntnis der besonderen primären Qualitäten der kausalwirksamen Teile der Substanzen uns die deduktive Erkenntnis ihrer Wirkungen aufeinander verwehre. An einer Stelle schreibt er: If a great, nay far the greatest part of the several ranks of Bodies in the Universe, scape our notice by their remoteness, there are others that are no less concealed from us by their Minuteness. These insensible Corpuscles, being the active parts of Matter, and the great Instruments of Nature, on which depend not only all their secondary Qualities, but also most of their natural Operations, our want of precise distinct Ideas of their primary Qualities, keeps us in an incurable Ignorance of what we desire to know about them. I doubt not but if we could discover the Figure, Size, Texture, and Motion of the minute Constituent parts of any two Bodies, we should know without Trial several of their operations one upon another, as we do now the Properties of a Square, or a Triangle (EHU, IV. iii.25) -
aber die Grenzen unserer Sinne halten uns von solcher Erkenntnis ab, und also können wir „their operations one upon another" mit der Notwendigkeit und Allgemeinheit der eigentlichen Wissenschaft nicht erkennen. Locke macht klar, daß die Grenzen unserer Sinne uns sowohl die Erkenntnis der eigentlichen allgemeinen wie auch die der notwendigen Kausalverbindungen verschließt: „whilst we are destitute of Senses acute enough, to discover the minute Particles of Bodies, and to give us Ideas of their mechanical Affections, we must be content to be ignorant of their properties and ways of Operation; nor can we be assured about them any farther, than some few Trials we make, are able to reach." Aber ob solche Versuche „will succeed again another time", bemerkt er weiter, „we cannot be certain" {EHU, IV.iii.25).5 Lockes Zweifel hier ist nicht derselbe, den David Hume später als Einwand gegen die Erfahrungserkenntnis vorbringt. Humes Punkt ist ganz allgemein: Wie groß die Anzahl der Beobachtungen von Gegenständen einer bestimmten Art auch immer sein mag, die Beobachtungen beweisen nichts in bezug auf die unbeobachteten Mitglieder dieser Klasse. Lokke zufolge könnten wir dagegen allgemeine Folgerungen über die kausalen Kräfte aller Beispiele dieser Art ziehen, wenn wir nur Erfahrungserkenntnis von den primären Qualitäten der Teile der Art von Substanz hätten; da wir aber diese Teile nicht beobachten können, und a fortiori nicht bestätigen können, daß alle makroskopisch ähnlichen Beispiele einer Art von Substanz mikroskopisch ähnlich sind, können wir nicht folgern, daß alle Beispiele einer scheinbar einzigen Art von Substanz dieselben kausalen Kräfte haben müssen. Locke glaubt nicht allein, daß die Schärfe unserer Sinne unzureichend für die Kleinheit der kausalwirksamen Teile der Gegenstände ist, sondern auch, daß ihre Reichweite unzureichend für die Ausdehnung des Weltalls, und deshalb für die Beobachtung vieler Substanzen
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Siehe auch EHU, II.xxxi.12, IV.iii.16, und IV.vi. 11.
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ungeeignet ist, die das Verhalten der wahrnehmbaren Substanzen beeinflussen. „When we consider the vast distance of the known and visible parts of the World, and the Reasons we have to think, that what lies within our Ken, is but a small part of the immense Universe, we shall then discover an huge Abyss of Ignorance" (EHU, IV.iii.24), nicht nur hinsichtlich von Arten der Substanzen in den weitabliegenden Gegenden des Weltalls, sondern auch hinsichtlich des Einflusses dieser Substanzen auf das Verhalten der wahrnehmbaren Substanzen in unserer eigenen Region des Weltalls {EHU, IV.vi.l 1). Unsere Idee der Größe des Weltalls selbst stammt zwar aus der sinnlichen Beobachtung, aber das Nachdenken über dieselben Sinne, die uns diese Idee von Größe geben, bringt uns auch dazu, die Unzulänglichkeit unserer Sinne für eine definitive Erkenntnis von Substanzen in jenen weitabliegenden Gegenden des Weltalls und ihren Wirkungen auf das Verhalten der wahrnehmbaren Substanzen anzuerkennen. In all diesen Argumenten ist es Lockes These, daß die Grenzen unserer Sinne unvermeidliche Grenzen der Möglichkeit unserer Erkenntnis setzen, weil alle unsere Erkenntnis in Ideen begründet sein muß, die aus unseren Sinnen stammen. Der fromme Locke glaubt, daß die Schärfe unserer Sinne von Gott genau so bestimmt ist, daß sie in unserer besonderen Umgebung maximal nützlich sind {EHU, Il.xxiii. 12). Da Gott uns mit unendlicher Weisheit und Güte behandelt hat, haben wir keinen Grund zu glauben, daß die Grenzen unserer Sinne neu kalibriert werden könnten oder sollten. Locke zufolge sind die Grenzen unserer Sinne und daher die Grenzen unserer Erkenntnis von Gott gegeben.
II. Kant: Die transzendentalen Grenzen der menschlichen Erkenntnis Kants Argumente für die Beschränkung der menschlichen Erkenntnis durch die Beschaffenheit der menschlichen Subjektivität stützen sich nicht auf irgendwelche empirischen Annahmen über die Grenzen der menschlichen Sinne. Sie sind transzendental in der spezifisch kantischen Bedeutung, d. h. sie ergeben sich aus der Erklärung der Möglichkeit der substantiellen oder synthetischen Erkenntnis a priori (siehe KdrV, B 40, A 85/B 117). Kants Argument ist, daß wir Erkenntnis gewisser substantieller oder synthetischer allgemeiner und notwendiger Wahrheiten haben; daß solche allgemeine und notwendige Wahrheiten a priori erkannt werden müssen; daß wir substantielle Erkenntnis a priori nur von unseren eigenen Formen der Vorstellung und den Vorstellungen von Dingen gemäß dieser Formen haben können; und also schließlich, daß die Erklärung der Möglichkeit unserer Erkenntnis der substantiellen und nicht bloß definitorischen Notwendigkeiten unserer Erkenntnis diese Notwendigkeiten auf unsere eigenen Vorstellungen beschränkt, und daher Erkenntnis darüber, wie Dinge in sich selbst sein mögen, nicht zuläßt. Die Plausibilität eines jeden solchen Beweises beruht auf dem ursprünglichen Anspruch auf Erkenntnis der substantiellen notwendigen Wahrheit und außerdem auf der Annahme, daß solche Erkenntnis nur durch ihre Deutung als bloßer Ausdruck der wesentlichen Formen der menschlichen Subjektivität erklärt werden kann. Aber die Annahmen über Notwendigkeit in jedem der für die Grenzen der Subjektivität zentralen Argumente Kants sind ebenso zweifelhaft wie Lockes Annahme, daß die Grenzen unserer sinnlichen Schärfe gottgegeben und unveränderlich sind. Kant legt dar, daß sein Beweis dafür, daß die menschliche Erkenntnis auf bloße Erscheinung beschränkt ist, ganz und gar auf der tranzendentalen Idealität der raumzeitlichen For-
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men der Gegenstände der Erfahrung beruht, so daß die Beschränkung aller weiteren Gedankenformen auf bloße Erscheinungen sich daraus ergibt, daß alle weiteren Gedankenformen Erkenntnis nur durch ihre Anwendung auf Gegenstände im Raum und in der Zeit liefern können. In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik schreibt Kant: Daß Raum und Zeit nur Formen der sinnlichen Anschauung [...] sind, daß wir ferner keine Verstandesbegriffe, mithin auch gar keine Elemente zur Erkenntnis der Dinge haben, also sofem diesen Begriffen korrespondierende Anschauung gegeben werden kann, folglich wir von keinem Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur sofem es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntnis haben können, wird im analytischen Teile der Kritik bewiesen; woraus denn freilich die Einschränkung aller nur möglichen spekulativen Erkenntnis der Vernunft auf bloße Gegenstände der Erfahrung folgt. (KdrV, B xxvi-xxvi)
Natürlich war es ein bleibender Beitrag Kants zu zeigen, daß Begriffe nur dann Erkenntnis liefern können, wenn sie auf Anschauungen angewandt werden, so daß jede Eigenschaft, die für Anschauung wesentlich ist, zugleich für alle Erkenntnis wahr sein muß. Wenn Kant also wirklich bewiesen hätte, daß Raum und Zeit nur Beschaffenheiten der Erscheinung sind, dann hätte er damit auch gezeigt, daß alle unsere Erkenntnis auf Erscheinung beschränkt ist. Aber in der Tat beschränkt er sich nicht allein auf dieses Argument. Er bietet ein weiteres Argument fiir die Beschränkung unserer Erkenntnis auf bloße Erscheinung an, das von der Prämisse einer unabhängigen Notwendigkeit ausgeht, nämlich von der Prämisse der Notwendigkeit der Einheit der Apperzeption selbst, von der er glaubt, daß sie nur durch die Annahme erklärt werden kann, daß wir mithilfe der Begriffe unseres Verstandes Ordnung unter unseren eigenen Vorstellungen herstellen können - eine Ordnung, die jedoch nur für diese Vorstellungen gültig ist. Die Struktur dieses Arguments ist parallel zu der seines Arguments, das die transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit aus der Notwendigkeit ableitet, aber die Prämissen der beiden Argumente sind verschieden. Kant legt das Argument für die transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit selbst auf zwei unterschiedliche Weisen an. In der zweiten Auflage der Kritik unterscheidet Kant diese zwei Arten des Arguments als die „metaphysische" und „transzendentale" Erörterung - eine Unterscheidung, die sich - obwohl er dies nicht eigentlich erwähnt - mit den „synthetischen" und „analytischen" Methoden der Prolegomena im Einklang befindet.6 In der metaphysischen und synthetischen Beweisart beginnt Kant nicht mit der Annahme, daß wir Erkenntnis a priori der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten von Raum und Zeit haben. Er argumentiert eher, daß die Vorstellung irgendeines alltäglichen Gegenstandes in Raum und Zeit auf der Erkenntnis a priori gewisser allgemeiner und notwendiger Wahrheiten über Raum und Zeit beruht, einer Erkenntnis, die lediglich durch die Annahme, Raum und Zeit selbst seien bloße Formen der Anschauung und nicht Dinge an sich selbst oder deren Eigenschaften, erklärt werden kann. Im Fall des Raumes sagt er, erstens, daß wir einzelne äußerliche Gegenstände voneinander oder von uns selbst nicht durch ihre Stellen im Raum (d. h. ihre unterschiedlichen Stellen im Raum) unterscheiden können; also muß die Vorstellung des Raumes „allen äußeren Anschauungen" zu Grunde liegen (KdrV, A 23-4/B 38). Dann argumentiert er, daß jeder besondere Raum, oder auch der Raum, der durch irgend einen besonderen Gegenstand erfüllt ist, notwendigerweise als Teil eines größeren,
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Siehe Prolegomena, § 4, 4:274.
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umgebenden Raumes vorgestellt wird; daraus folgt, durch Wiederholung, daß wir den Raum als einen „einigen allbefassenden Raum" notwendigerweise vorstellen müssen {KdrV, A 25/ B 39). Die Notwendigkeit gewisser Eigenschaften des Raumes selbst, und folglich auch die apriorische Erkenntnis, die wir von ihm besitzen, muß noch weiter durch die Kopernikanische Voraussetzung erklärt werden, daß die Form des Raumes ein Ausdruck unserer eigenen Form der Anschauung und nicht eine Eigenschaft der Dinge an sich selbst ist. Das „transzendentale" und analytische Argument über den Raum beginnt im Gegensatz dazu mit der ausdrücklichen Annahme, daß wir synthetische Erkenntnis a priori besitzen, nämlich synthetische Erkenntnis a priori von geometrischen Sätzen, die die Struktur des Raumes and der Gegenstände im Raum beschreiben, und versucht nicht, die Existenz solcher Erkenntnis a priori von irgendeiner bloß empirischen Erkenntnis herzuleiten. Aber dann geht es wie zuvor weiter mit dem Argument, daß solche synthetische Erkenntnis a priori nur durch eine Anschauung a priori der Form des Raumes erklärt werden kann, und daß „eine äußere Anschauung [...] die vor den Objekten selbst vorhergeht, und in welcher der Begriff der letzteren a priori bestimmet werden kann" nur „dem Gemüte beiwohnen" kann „als so fern sie bloß im Subjekte, als die formale Beschaffenheit desselben, von Objekten affiziert zu werden", liegt {KdrV, B 41), und also „gar keine Eigenschaft irgend einiger Dinge an sich, oder sie in ihrem Verhältnis aufeinander" vorstellt {KdrV, A 26/B 42). Um zu dem Ergebnis der transzendentalen Idealität zu kommen, behauptet Kant, daß wir keine Erkenntnis a priori der Notwendigkeit weder von ,,absolute[n] noch relative[n] Bestimmungen", die in Dingen an sich selbst und nicht nur in unseren Vorstellungen liegen, haben können, und folgert daher aus unserer vermeintlichen Erkenntnis a priori der Notwendigkeit des Raumes und seiner geometrischen Struktur: „Der Raum ist nichts anderes, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist" {KdrV, A 26/B 42). Warum? Warum folgert er nicht - was eine natürliche Alternative zu sein scheint - dass, weil ihre Stelle im Raum und der Besitz der räumlichen Beschaffenheiten notwendige Bedingungen für unsere Anschauung aller äußeren Objekte sind, alle Objekte, die wir wahrnehmen können, wirklich im Raum verortet und räumlich strukturiert sein müssen? Wäre es nicht die beste Erklärung unserer Anschauung solcher Objekte, daß sie unsere Bedingungen für ihre Wahrnehmung wirklich erfüllen? Kants Antwort auf diese Frage beruht auf seiner Deutung der Notwendigkeit, die wir in unserer Erkenntnis a priori von Raum und Räumlichkeit zu erkennen glauben. Der Schlüssel zu Kants Argument liegt darin, daß er sich nicht auf die bedingte oder de dicto Notwendigkeit beschränkt, daß alle Gegenstände, die wir - wirklich wahrnehmen, die Bedingungen unserer Formen der Anschauung - in der Tat - erfüllen, weil alle Gegenstände die wir wahrnehmen können, diese Bedingungen erfüllen müssen. Er denkt eher, daß er die de re oder absolute Notwendigkeit der Räumlichkeit aller räumlichen Gegenstände behaupten und diese Annahme im Fall unserer Vorstellungen rechtfertigen kann, weil diese unseren eigenen Formen der Anschauung gemäß hervorgebracht werden, und daher in irgendeinem Sinne räumlich sein müssen-, aber daß es nicht gerechtfertigt sei, solche notwendige Räumlichkeit anderen Gegenständen als denen unserer Vorstellungen zuzuschreiben, und es also verneint werden müsse, daß solche Gegenstände räumlich sind, um das Ergebnis zu vermeiden, daß sie nur zufälligerweise räumlich sind - ein Ergebnis, denkt er, das die vermeintliche Notwendigkeit der Räumlichkeit in ihrem ganzen Umfang unter-
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graben würde. Daß Kant in der Kritik der reinen Vernunft so denkt, ist augenscheinlich nur in seiner einleuchtenden Bemerkung über sein Argument für den transzendentalen Idealismus in der „transzendentalen Ästhetik", wo er fragt: Läge nun in euch nicht ein Vermögen, a priori anzuschauen; wäre diese subjektive Bedingung der Form nach nicht zugleich die allgemeine Bedingung a priori, unter der allein das Objekt dieser (äußeren) Anschauung selbst möglich ist; wäre der Gegenstand (der Triangel) etwas an sich selbst ohne Beziehung auf euer Subjekt: wie könntet ihr sagen, daß, was in euren subjektiven Bedingungen einen Triangel zu konstruieren notwendig liegt, auch dem Triangel an sich selbst notwendig zukommen müsse? (KdrV, A 48/B 65)
Hier nimmt Kant an, daß wenn wir dächten, daß sowohl unsere Vorstellungen wie auch die Gegenstände selbst räumlich sind, wir dann nicht behaupten könnten, daß die Gegenstände selbst notwendig räumlich sind, obwohl wir immerhin sagen könnten, daß unsere Vorstellungen von ihnen notwendig räumlich sind. Weil aber - wie Kant klarerweise voraussetzt unsere Erkenntnis a priori es mit sich bringt, daß alles Räumliche notwendigerweise räumlich ist, können andere Gegenstände als unsere Vorstellungen gar nicht räumlich sein, und unsere räumlichen Vorstellungen von solchen Gegenständen können keine Erkenntnis dieser Gegenstände liefern, wie sie an sich selbst sind. Die Beschränkung der Gültigkeit unserer Erkenntnis a priori auf unsere eigenen Vorstellungen folgt aus Kants Annahme, daß alles, was von irgendwelchen Gegenstände a priori erkannt wird, notwendig wahr, wahr de re, sein muß. Kant macht den Charakter seiner grundlegenden Annahmen ganz klar in der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, wo er schreibt: Die reine Mathematik und namentlich die reine Geometrie kann nur unter der Bedingung allein objektive Realität haben, daß sie bloß auf Gegenstände der Sinne geht, in Ansehung deren aber der Grundsatz feststeht: daß unsere sinnliche Vorstellung keineswegs eine Vorstellung der Dinge an sich selbst, sondern nur auf der Art sei, wie sie uns erscheinen [...]. Die Sinnlichkeit, deren Form die Geometrie zum Grunde legt, ist das, worauf die Möglichkeit äußerer Erscheinungen beruht; diese also können niemals etwas anderes enthalten, als was die Geometrie ihnen vorschreibt. Ganz anders würde es sein, wenn die Sinne die Objekte vorstellen müßten, wie sie an sich selbst sind. Denn da würde aus der Vorstellung vom Räume, die der Geometer a priori mit allerlei Eigenschaften desselben zum Grunde legt, noch gar nicht folgen, daß alles dieses samt dem, was darauf gefolgert wird, sich gerade so in der Natur verhalten müsse. Man würde den Raum des Geometers für bloße Erdichtung halten und ihm keine objektive Gültigkeit zutrauen, weil man gar nicht einsieht, wie Dinge nothwendig mit dem Bilde, das wir uns von selbst und voraus von ihnen machen, übereinstimmen müßten.7
Hier sagt Kant ganz offen, daß Erkenntnis a priori der geometrischen Eigenschaften der Dinge an sich unmöglich ist, weil nur die Eigenschaften unserer eigenen Vorstellungen, aber nicht die Eigenschaften der Dinge an sich notwendig sein können. Geometrische Eigenschaften aber sind, so glaubt er, in allen ihren Gegenständen notwendig; und so können sie gar nicht Eigenschaften der Dinge an sich selbst sein.
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Prolegomena, § 13, Anmerkung I; 4:287.
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Natürlich ist Kants Prämisse in diesem Argument zweifelhaft. Radikale Empiristen wie Hume8 und J. S. Mill haben bezweifelt, daß wir berechtigt sind, irgendwelche notwendige Wahrheiten über die Räumlichkeit der äußeren Gegenstände oder über die besondere Struktur ihrer Räumlichkeit zu behaupten. Und spätestens seit Moses Mendelssohns Versuch über die Evidenz (1762),9 haben selbst weniger radikale Denker zugestanden, daß es zwar eine Art von Notwendigkeit innerhalb von formalen mathematischen Systemen gibt, daß aber jede, für sich selbst unzweifelhafte Behauptung, ein solches System beschreibe irgendeinen äußeren Gegenstand richtig, als zufallig betrachtet werden muß. Aber eine bloß zufallige Notwendigkeit, derzufolge von uns wahrgenommene Gegenstände die formalen Bedingungen unseres eigenen Systems des Vorstellens befriedigen müssen, ist genau das, was Kant verneint. Sein Argument für den transzendentalen Idealismus beruht eher auf der Annahme, daß die Notwendigkeit, die wir a priori erkennen können, de re und nicht de diclo, absolut und nicht relativ sein muß. Das ist der einzige Grund, warum er denken mußte, daß die Möglichkeit der Erkenntnis a priori auf unsere eigenen Vorstellungen beschränkt werden muß. Obwohl Kant, wie wir gesehen haben, glaubt, daß die Beschränkung der Gültigkeit jedweder Formen unseres Denkens auf der transzendentalen Idealität der Anschauungsformen beruht, liefert er in der Tat ein unabhängiges Argument für die transzendentale Idealität der reinen Begriffe des Verstandes; doch macht dieses Argument genau dieselbe Art von Annahme über die Notwendigkeit, die in seinem Argument für die transzendentale Idealität des Raumes wirkt. Dieses Argument ist das zentrale Argument in der „transzendentalen Deduktion" der Kategorien, die Kant mit der Annahme beginnt, daß wir eine Erkenntnis der Einheit oder numerischen Identität unserer selbst in allen unseren Vorstellungen haben, eine Erkenntnis die synthetisch ist, weil sie eine Verbindung zwischen verschiedenen Vorstellungen behauptet, die aber a priori sein muß, genau deshalb, weil sie notwendig ist und somit nicht abhängig von etwas, das bloß zufällig von allen Gegenständen unserer Vorstellungen gilt. Dann behauptet er, diese transzendentale Einheit der Apperzeption a priori müsse, weil sie synthetisch ist, eine Synthese der Inhalte unserer Apperzeption voraussetzen. Er behauptet ferner, eine solche Synthese habe nach apriorischen und nicht bloß empirischen Begriffen stattzufinden, nämlich gemäß den reinen Begriffen des Verstandes. Kant gibt die klarste Darstellung dieses Arguments im dritten Abschnitt der Deduktion in der ersten Auflage, der mit der Prämisse anfangt, dass wir uns „a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen [bewußt sind], die zu unserem Erkenntnis jemals gehören können, als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen"; er behauptet dort weiter, erstens: „Diese synthetische Einheit setzt aber eine Synthesis voraus, oder schließt sie ein" und, zweitens, „soll jene a priori notwendig sein, so muß letztere auch eine Synthesis a priori sein" (KdrV, A 116-188), was wiederum die Kategorien a priori des Verstandes erfordert (A 119). Kant schließt dieses Argument mit der 8
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In der Kritik der praktischen Vernunft (5:13), behauptet Kant, daß Hume nicht behauptet habe, die Grundsätze der Mathematik seien empirisch. Aber in seinem Treatise of Human Nature (Buch I, Teil 2, Artikel 5) behauptet Hume genau dieses. Mendelssohns Beitrag zur Streitfrage der Berlinschen Akademie über die Methoden der Mathematik und Philosophie. Mendelssohns Beitrag hat den ersten Preis erhalten, Kants Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral nur den zweiten.
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Behauptung, daß „das Prinzipium der notwendigen Einheit der reinen (produktiven) Synthesis der Einbildungskraft vor der Apperzeption der Grund der Möglichkeit aller Erkenntnis, besonders der Erfahrung" ist (A 118). Nun könnte man vielleicht Kants Schluß als Behauptung einer bloß bedingten Notwendigkeit deuten, nämlich der Notwendigkeit, daß die Gegenstände unserer Vorstellung eine Synthesis unserer Vorstellungen erlauben müssen, wenn wir überhaupt eine Apperzeption haben sollen. Solch eine bedingte Notwendigkeit impliziert nicht, daß wir unserer Vorstellung immer eine Synthese gemäß den Kategorien auferlegen können. Kant nimmt jedoch an, daß wir das immer tun können. Wenn seine Behauptung, daß die notwendige Einheit der reinen Synthesis der Einbildungskraft der Apperzeption vorhergeht, dies nicht zureichend klar macht, wird es doch augenscheinlich in seiner Lehre der transzendentalen Affinität, wo er behauptet, daß „es unmöglich wäre, daß Erscheinungen von der Einbildungskraft anders apprehendiert werden, als unter der Bedingung einer möglichen synthetischen Einheit dieser Apprehension." Daß es „etwas ganz Zufalliges sein [könne], daß sich Erscheinungen in einem Zusammenhang der menschlichen Erkenntnisse schickten", lehnt er ausdrücklich ab (KdrV, A 121). Er sagt, daß „nur dadurch, daß ich alle Wahrnehmungen zu einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperzeption) zähle, [...] ich bei allen Wahrnehmungen sagen [kann]: daß ich mir ihrer bewußt sei. „Es muß also ein[en] objektive[n], d. i. vor allen empirischen Gesetzen der Einbildungskraft a priori einzusehendefn] Grund" für die Einheit unserer Vorstellungen geben (A 122). Kant nennt diesen „objektiven Grund" die transzendentale „Affinität" der Erscheinungen, und behandelt sie als etwas, das wir unseren Vorstellungen auferlegen, nicht als etwas, das in den Gegenständen selbst liegt: „So übertrieben, so widersinnig es also auch lautet, zu sagen: der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur, und mithin der formalen Einheit der Natur, so richtig, und dem Gegenstande, nämlich der Erfahrung angemessen ist gleichwohl eine solche Behauptung" (A 127). Es ist möglicherweise aufgrund dieser Zitate nicht klar, daß Kant, ohne die transzendentale Idealitat des Raumes und der Zeit vorauszusetzen, zu beweisen meint, daß die den Kategorien entspringende wie auch die raumzeitliche Ordnung nur für Erscheinungen und nicht für Dinge an sich selbst gültig ist. Daß dies jedoch seine Absicht ist, wird unzweifelhaft am Ende der Deduktion in der zweiten Auflage der Kritik deutlich. Hier lehnt er die Möglichkeit ab, daß die Kategorien „subjektive, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zum Denken wären, die von unserem Urheber so eingerichtet worden, daß ihr Gebrauch mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahrung fortläuft, genau stimmte (eine Art von Präformationssystem der reinen Vernunft)". Denn in einem solchen Falle gilt: „Ich würde nicht sagen können: [z. B.] die Wirkung ist mit der Ursache im Objekte (d. i. notwendig) verbunden, sondern ich bin nur so eingerichtet, daß ich diese Vorstellung nicht anders als so verknüpft denken kann; welches gerade das ist, was der Skeptiker am meisten wünscht" {KdrV, B 167-8). Mit anderen Worten: Kant lehnt hier noch einmal die bloß bedingte Notwendigkeit ab, daß wenn wir eine Erfahrung der Einheit der Apperzeption in unseren Vorstellungen von Gegenständen haben können, dann diese Gegenstände unter das Gesetz der Kausalität fallen müssen. Er nimmt eher eine unbedingte Notwendigkeit der Unterwerfung der Gegenstände unter das Gesetz der Kausalität an, was selbst wiederum erklärt werden kann, wenn Kausalität nur in unseren eigenen Vorstellungen, und nicht in den Gegenständen unserer Vorstellungen liegt, wie sie in sich selbst sind. Wie in der Deduk-
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tion der ersten Auflage ist dieser Schluß am Ende von der Prämisse hergeleitet, daß wir Erkenntnis a priori des Faktums der notwendigen Einheit der Apperzeption haben, und nicht bloß Erkenntnis a priori des Konditionals, daß wenn wir Einheit der Apperzeption erfahren sollen, die Gegenstände der Erfahrung unter den Kategorien stehen müssen. Wie im Falle der Annahme Kants von der notwendigen Raumzeitlichkeit der Gegenstände der sinnlichen Anschauung, ist es keinesfalls klar, daß seine strenge Auffassung der notwendigen Einheit der Apperzeption berechtigt oder auch nur plausibel ist. Es mag wohl der Fall sein, daß ich eine Verbindung zwischen allen Vorstellungen, die ich „meine" heißen kann, anerkennen muß, d. h., zwischen allen selbstbewußten Vorstellungen; aber es ist keinesfalls klar, daß ich alle meine Vorstellungen „meine" nennen können muß. Möglicherweise gibt es Gemütszustände, die verschiedene der Bedingungen, Vorstellungen zu sein, erfüllen, die aber dem Selbstbewußtsein nicht zugänglich sind oder nicht in Verbindung mit anderen, selbstbewußten Vorstellungen stehen. Wenn das so ist, dann fallt Kants Beweis dafür, daß die Ordnung der Natur unseren Vorstellungen durch uns selbst auferlegt und auf diese Vorstellungen eingeschränkt ist, in sich zusammen. Deshalb bringt Kant zwei verschiedene Argumente für die Beschränkung unserer Erkenntnis auf Erscheinungen vor, von denen das erste die Raumzeitlichkeit der Gegenstände der Erkenntnis und das andere ihre Unterwerfung unter Kategorien betrifft. In beiden Fällen ist jedoch die Form seines Arguments dieselbe. Es handelt sich um eine Folgerung von der unbedingten Erfüllung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung in den Gegenständen jener Erfahrung auf den Schluß, daß nur Erscheinungen und nicht Dinge an sich selbst diese Bedingungen erfüllen können. Kants Beweise der Beschränkung unserer Erkenntnis auf Erscheinungen sind also transzendental und nicht empirisch, weil sie auf einer Annahme der a priori erkannten Notwendigkeit beruhen. Aber in beiden Fällen ist Kants ursprüngliche Annahme der Notwendigkeit zweifelhaft, und es ist keinesfalls klar, daß Kants transzendentale Beschränkung der Erkenntnis besser begründet ist als Lockes empirische Beschränkung.
III. Kant: Die Aufhebung der empirischen Grenzen der Erkenntnis Kant selbst hat natürlich das Mißlingen seiner eigenen transzendentalen Argumente für die Grenzen der menschlichen Erkenntnis nicht anerkannt. Er hat jedoch die Schwäche von Lockes empirischem Beweis der Beschränkung der Erkenntnis durch die natürliche Schärfe unserer Sinne wohl verstanden. Seiner Auffassung der empirischen Wahrnehmung zufolge, können die Grenzen unserer Sinne durch die empirische Wissenschaft erweitert werden. Darüber hinaus macht er in seiner allgemeinen Theorie der Naturwissenschaft klar, daß es keinen besonderen Punkt gibt, an dem eine gegenwärtige Beschränkung als unüberwindlich betrachtet werden muß, und dies, obwohl die Ergebnisse der empirischen Wissenschaft zu jedem besonderen Zeitpunkt auf die schon beobachteten und aus der Wahrnehmung hergeleiteten Hypothesen begrenzt sein müssen. Kant unternimmt den ersten Schritt zur Revidierung der Lockeschen Auffassung der empirischen Grenzen der menschlichen Erkenntnis in seiner Erörterung des „Postulats" der Wirklichkeit, d. h. der Regel für den empirischen Gebrauch des Begriffs der Wirklichkeit. Diese Regel besagt: „Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung)
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zusammenhängt, ist wirklich" (KdrV, A 218/B 265). Wie die folgende Erörterung klar macht, bedeutet die Forderung eines Zusammenhangs mit der Empfindung als materiale Bedingung der Erfahrung, daß unsere empirische Erfahrung des Wirklichen nicht auf diejenigen Beschaffenheiten, die unseren Sinnen unmittelbar gegeben sind - also auf Lockeschen sekundären Qualitäten - beschränkt ist, sondern daß sie sich auf alles ausdehnt, was mit dem in der Empfindung unmittelbar Gegebenen durch empirische Gesetze verbunden werden kann - also, auf die Lockeschen primären Qualitäten. Daher schreibt Kant: Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man bewußt ist, zwar nicht eben unmittelbar, von dem Gegenstande selbst, dessen Dasein erkannt werden soll, aber doch Zusammenhang desselben mit irgendeiner wirklichen Wahrnehmung, nach den Analogien der Erfahrung, welche alle reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt darlegen. (KdrV, A 225/B 272)
Diese Behauptung könnte so verstanden werden, daß jede Erkenntnis des Daseins äußerer Gegenstände auf einem Schluß von Wahrnehmungen als bloßen Ereignissen im inneren Sinn beruht. Aber solch eine Deutung ist durch die „Widerlegung des Idealismus", die Kant in der Erörterung des Postulats der Wirklichkeit in der zweiten Auflage der Kritik eingefugt hat, ausgeschlossen, weil dort ein solches Kartesianisches Bild der Erkenntnis der äußeren Gegenstände ausdrücklich abgelehnt wird. Kants weitere Bemerkungen machen klar, daß er meint, daß wir kausale Gesetze benötigen, um von den makroskopischen Eigenschaften der Gegenstände, die wir im jetzigen Zustand unserer Sinne ohne Hilfe wahrnehmen können, zu anderen Eigenschaften, die wir nicht so unmittelbar wahrnehmen können, übergehen zu können: So erkennen wir das Dasein einer alle Körper durchdringenden magnetischen Materie aus der Wahrnehmung des gezogenen Eisenfeiligs, obzwar eine unmittelbare Wahrnehmung dieses Stoffes uns nach der Beschaffenheit unserer Organe unmöglich ist. Denn überhaupt würden wir, nach Gesetzen der Sinnlichkeit und dem Kontext unserer Wahrnehmungen, in einer Erfahrung auch auf die unmittelbare empirische Anschauung desselben stoßen, wenn unsere Sinne feiner wären [...]. {KdrV, A 226/B 273).
Kant zufolge sind die Grenzen unserer empirischen Erkenntnis nicht durch die Beschaffenheit unserer Organe bestimmt; diese Grenzen sind vielmehr durch das bestimmt, was wir entsprechend der Beschaffenheit unserer Organe unmittelbar wahrnehmen können und durch dasjenige, was wir mit Hilfe der kausalen Gesetze, die wir entdecken können - wie der Gesetze des Magnetismus - verbinden können. Unsere Folgerungen aus der Verbindung unserer wirklichen Wahrnehmungen mit solchen kausalen Gesetzen können als das dargestellt werden, was wir beobachten könnten, wenn unsere Sinne feiner wären. Während Lokke zufolge Behauptungen über das, was wir mit feineren Sinnen wahrnehmen könnten, bloße Spekulationen und nur als Ausdrücke der wirklichen Grenzen unserer Sinne zu verstehen sind (siehe EHU, IV.iii.23), sind solche Ansprüche Kant zufolge selbst Ergebnisse empirischer Erkenntnis. Der zweite Schlüsselpunkt in Kants Ablehnung von Lockes Auffassung der Grenzen der empirischen Erkenntnis ist, daß es Kant zufolge keine feststehende Grenze der kausalen Gesetze, die wir entdecken können, gibt und folglich auch keine Grenze für die empirische Erkenntnis der Wirklichkeit, die wir aus unseren unmittelbaren Wahrnehmungen durch kausale Gesetze herleiten können. Diese Idee ist zentral im Bild der regulativen Prinzipien
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der empirischen Erkenntnis in dem Anhang zur „transzendentalen Dialektik" der ersten Kritik und in der Einleitung der dritten Kritik. Kant behauptet, daß die Vernunft uns ein Streben nach maximaler „Mannigfaltigkeit", „Affinität" und „Einheit" in unserer Erkenntnis der Naturgesetze auferlegt, and nimmt an, daß wir - auch wenn ihre endgültige Befriedigung unmöglich ist - immer näher zur Befriedigung dieser Erkenntnisideale kommen können. Er wählt als Beispiel den Begriff der elliptischen Umläufe der himmlischen Körper, und sagt, daß „nach Anleitung jener Prinzipien [wir] auf Einheit der Gattungen dieser Bahnen in ihrer Gestalt [kommen], dadurch aber weiter auf Einheit der Ursache aller Gesetze ihrer Bewegung (die Gravitation)." Nachdem wir einmal einen allgemeinen kausalen Begriff der Gravitation eingeführt haben, fährt Kant fort, werden wir von da aus nachher unsere Eroberungen ausdehnen, und auch alle Varietäten und scheinbare Abweichungen von jener Regel aus demselben Prinzip zu erklären suchen, endlich gar mehr hinzufügen, als Erfahrung jemals bestätigen kann, nämlich, uns nach den Regeln der Verwandtschaft selbst hyperbolische Kometenbahnen zu denken, in welchen diese Körper ganz und gar unsere Sonnenwelt verlassen, und, indem sie von Sonne zu Sonne gehen, die entfernteren Teile eines für uns unbegrenzten Weltsystems, das durch eine und dieselbe bewegende Kraft zusammenhängt, in ihrem Laufe vereinigen. (KdrV, A 663/B 691).
Hier ist zunächst zu bemerken, daß wir mit Hilfe dieses Kausalgesetzes, das von unserer Erfahrung wahrnehmbarer Körper hergeleitet ist und durch sie bestätigt wird, wohlbegründete Hypothesen über das Verhalten der Körper bilden können, die jenseits der Grenzen unserer Sinne liegen (in diesem Falle wegen ihrer Entferntheit, nicht wegen ihrer Kleinheit). Solche Hypothesen mögen die Grenzen unserer gegenwärtigen Fähigkeit, sie zu bestätigen, überschreiten, aber sie sind nicht, wie Locke gedacht hat, reine Spekulationen; sie sind „durch eine und dieselbe bewegende Kraft" mit unseren wohlbegründeten Erklärungen von leicht wahrnehmbaren Phänomena verbunden. Wenn Kant in diesem Zitat auf die Entferntheit der Teile des Weltsystems Bezug nimmt, enthält dies zwei Gründe, nicht nur einen Grund, warum jede Idee der Vollständigkeit hinsichtlich der empirischen Erkenntnis ein bloßes Ideal bleiben muß: Das Ziel der Vollständigkeit in der Hierarchie der Kausalgesetze ist Kant zufolge immer bloß ideal (obwohl er nicht erklärt, warum wir keine absolute „Grundkraft" entdecken können, siehe KdrV, A 649/B 677); darüber hinaus ist der Umfang der Gegenstände der empirischen Wissenschaft notwendig unbegrenzt, wegen der notwendigen Unendlichkeit des Raumes und der Zeit selbst. Obwohl es zu jedem besonderen Zeitpunkt eine Grenze unseres wissenschaftlichen Fortschritts geben muß bedeutet diese Unendlichkeit selbst nun aber, daß keine besondere Grenze unserer wissenschaftlichen Untersuchung jemals Bestand haben kann. Zu jedem besonderen Zeitpunkt gibt es eine Grenze für den Umfang der Gegenstände, die wir entdeckt und mit den unmittelbarsten Gegenständen unserer Wahrnehmung durch kausale Gesetze verbunden haben; aber die Struktur des Raumes selbst bringt es mit sich, daß kein Bereich, der die gegenwärtige Grenze unserer Erkenntnis sein mag, eine endgültige Grenze vorgibt. Es gibt keinen Grund, warum der Umfang unserer Erkenntnis später nicht erweitert werden sollte. Unser gegenwärtiger Zeitpunkt wird auch die gegenwärtige Grenze unserer wissenschaftlichen Untersuchungen fixieren. Da es aber keinen wesentlichen Unterschied zwischen einem Zeitpunkt und dem nächsten gibt, haben wir keinen Grund zu folgern, daß die gegenwärtige Grenze unserer wissenschaftlichen Untersuchungen auch die
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endgültige ist. Nachdem die naturbestimmten Grenzen unserer sinnlichen Schärfe und der Reichweite unserer Sinne bereits durch die Hinzufügung kausaler Folgerungen zu unmittelbaren Beobachtungen überwunden sind, kann es keine weitere notwendige Grenze für den Fortschritt der wissenschaftlichen Untersuchung geben, obwohl natürlich zu jedem besonderen Zeitpunkt unser wirklicher Fortschritt durch unsere zufallige Stelle im Raum und in der Zeit begrenzt wird.10 Kant dachte, daß er Lockes empirische Theorie der Grenzen der menschlichen Erkenntnis durch einen transzendentalen Beweis solcher Grenzen ersetzt hat. Kants transzendentale Theorie der Grenzen unserer Erkenntnis beruht auf Ansprüchen über notwendige Wahrheiten, die einer genauen Prüfung nicht standhalten können. Dennoch liefert Kants Theorie der empirischen Erkenntnis und empirischen Wissenschaft eine gründliche Revidierung von Lockes Auffassung der Grenzen unserer Erkenntnis, die, da sie unabhängig von Kants transzendentalem Idealismus ist, nicht den Einwänden dieser fragwürdigen Theorie ausgesetzt ist."
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Man könnte zwar die natürliche Unbegrenztheit des Fortschritts der naturwissenschaftlichen Erkenntnis selbst als eine Art Grenze betrachten, d. h. eine Grenze in Beziehung auf das Verlangen unseres Vernunftvermögens nach dem Unbedingten in aller Erkenntnis. Aber weil dieses Verlangen natürlich nicht berechtigt ist, scheint es besser, diesen weiteren Schritt nicht zu gehen. 1 ' Ich danke herzlich meiner Kollegin Prof. Dr. Ulrike Heuer für ihre Hilfe bei der Übersetzung.
PETER ROHS
Die Ontologie des zeitlichen Werdens und das Selbst
Ich möchte für die These plädieren, dass der Philosophie des Geistes die Ontologie des zeitlichen Werdens zugrunde gelegt werden sollte. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass sich auf diese Weise Klärendes ergibt sowohl für die Frage nach dem ontologischen Status des Mentalen als auch für das Verständnis seiner epistemischen und praktischen Funktionen. Der Ausdruck „Ontologie des zeitlichen Werdens" ist gebildet in Analogie zu Searles Wendung „Ontologie der ersten Person" (Searle 1993, 88). Wie ich zeigen möchte, haben erste Person und zeitliches Werden Erhebliches miteinander zu tun. Der Rekurs auf das zeitliche Werden scheint mir aber für eine ganze Reihe von Problemen aus der Philosophie des Geistes noch grundlegender zu sein als der auf die erste Person. „Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen", heißt es in Schillers Sprüchen des Konfuzius. Das zeitliche Werden ist der aus der unmittelbaren Erfahrung jedermann vertraute Prozess, dass ständig andere Zeitpunkte gegenwärtig werden und dann „pfeilschnell entfliegen" und vergehen. Grünbaum und andere haben nun mit (wie mir scheint) überzeugenden Gründen dargetan, dass dieser Aspekt der Zeit subjektiven Ursprungs sein muss. Grünbaum spricht von dem „anthropozentrischen Jetzt" (Grünbaum 1970, 486). Das Jetzt und sein Entfliegen können nicht in Sinnesdaten gegeben sein, die Erfahrung davon kann auch nicht kausal erklärt werden (wie etwa bei sekundären Qualitäten), weil der Prozess keine räumliche Struktur hat und es deshalb dabei keine Bahn und keine Geschwindigkeit gibt. Die Physik kennt daher das zeitliche Werden nicht; sie beschreibt alles, was sie überhaupt beschreibt, so, dass dabei auf diese modalen Aspekte der Zeit nicht Bezug genommen wird. Aus der Perspektive der Physik stellt es sich also als eine Illusion dar, dass das Jetzt pfeilschnell entfliegt. In einem Beileidsbrief vom 21.3.1955 nach dem Tode seines Freundes Besso hat Einstein geschrieben: „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion." (Jammer 1995, 71) Anders als gläubige Physiker sollten gute Philosophen diese Scheidung aber doch als real akzeptieren. Aber auch in der neueren Philosophie hat es eine intensive Debatte gegeben über den Realitätsgehalt dieser modalen Zeitbestimmungen. Prior hat seit 1957 seine sogenannte „autonome Zeitlogik" entwickelt, in der von präsentischen Propositionen ausgegangen wird und die Formen für Vergangenheit und Zukunft mit Hilfe von Operatoren gebildet werden. Dem liegt zugrunde die Überzeugung, dass die Scheidung dazwischen eben doch nicht nur
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eine hartnäckige Illusion ist, sondern durchaus etwas Wichtiges zum Gegenstand hat. Auch in Schillers Sprüchen des Konfuzius werden sie alle drei unterschieden: Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, Ewig still steht die Vergangenheit. - Die Vertreter der diese Scheidung ernst nehmenden Position bezeichnet man als „tenser". Ihnen gegenüber stehen die „detenser", die sich Einsteins gläubigen Physikern anzugleichen versuchen und deshalb von zeitlosen Propositionen ausgehen und diese dann sekundär über Koordinaten auf Zeitpunkte beziehen nach dem Schema „p zu t". In dem von Oaklander und Smith herausgegebenen Sammelband The New Theoty ofTime wird die Debatte zwischen diesen beiden Parteien als die wichtigste in der gegenwärtigen Philosophie der Zeit bezeichnet. Die „General Introduction" beginnt sogar mit der Aussage, dass „some philosophers have even regarded it as the profoundest issue in all of philosophy" (Oaklander/Smith 1994, 1; es wird George Schlesinger zitiert). Ich zähle mich selbst durchaus zu diesen „some philosophers", weil ich denke, dass es um eine ganz grundlegende Frage geht - nicht nur für die Philosophie der Zeit. Auf die verschiedenen in dieser Debatte vorgebrachten Argumente will ich hier nicht eingehen. Für mich ist ausschlaggebend für die Position der „tenser", dass der dreifache Schritt der Zeit essentiell ist für das Leben des Geistes. Es geht also nicht nur um die Frage, ob sich ein Satz wie „die Sonne wird bald untergehen" ohne Bedeutungsverlust übersetzen lässt in einen Satz, dessen Beziehung auf die Zeit allein über Koordinaten läuft. Die radikalere These, die z. B. von Heidegger in seinem Kant-Buch von 1929 vertreten worden ist, lautet, dass wir ohne das Sein in Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit gar keine Gedanken und Sätze zustande bringen und noch weniger handeln könnten. Zu Kants transzendentalem Idealismus gehört die These, dass die Zeit eine Anschauungsform des inneren Sinnes ist. Kant behauptet dies uneingeschränkt für alle Aspekte der Zeit; die Unterscheidung zwischen den modalen Bestimmungen und denen, die für die Physik relevant sind, ist ihm unbekannt. Die angeführte These, dass das Jetzt etwas Anthropozentrisches ist, legt es aber nahe, diese Unterscheidung in die kantische Theorie einzuführen und die These der Anschauungsform auf den als anthropozentrisch ausgewiesenen Aspekt zu restringieren. Was die Physiker von der Zeit in Anspruch nehmen, kann insbesondere dann nicht auf eine Anschauungsform zurückgehen, wenn es einen dynamischen Zusammenhang gibt zwischen Eigenschaften der Zeit und Masseverteilungen, wie in der Allgemeinen Relativitätstheorie angenommen wird. Die modalen Aspekte der Zeit aber gehören zu einer Anschauungsform des Selbstbewusstseins. Jede Bezugnahme im Selbstbewusstsein auf sich selbst ist an diese Anschauungsform gebunden und nur durch sie möglich. Dies hat die Konsequenz, dass das zeitliche Werden die zeitliche Fundamentalstruktur des sogenannten „Bewusstseinsstromes" darstellt. In Umkehrung der zitierten Wendung von Grünbaum habe ich dies als die „Nunczentrizität des Geistes" bezeichnet. Die These von der Anthropozentrizität des Jetzt ist ein Satz aus der Philosophie der Zeit, aus dem sich ein Prinzip für die Philosophie des Geistes ergibt: die These von der Nunczentrizität des Selbst. Dieser Zusammenhang erklärt auch, weshalb der Searleschen Ontologie der ersten Person die Ontotogie des zeitlichen Werdens zugrunde gelegt werden sollte: Jede direkte Bezugnahme in der ersten Person geht durch diese Anschauungsform. Unser eigenes Wirklichsein erfahren wir als ein wesentlich gegenwärtiges.
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Dagegen spielen Zeitkoordinaten für das Selbstbewusstsein selbst keine Rolle. Das Selbstbewusstsein benötigt keine Uhren. Was ergibt sich aus dieser Auffassung nun für den ontologischen Status des Geistes? Kant hat aus seiner Konzeption gefolgert, dass wir im Selbstbewusstsein auch uns selbst nur als Erscheinung erfassen können. Der innere Sinn, dessen Form die Zeit sein soll, stelle auch uns selbst nur so, wie wir uns erscheinen, nicht wie wir an uns selbst sind, dem Bewusstsein dar (KrV B 153). Dies kann durchaus auch dann beibehalten werden, wenn wie skizziert die These von der Anschauungsform auf die modalen Zeitbestimmungen restringiert wird. Es wird sogar erst dann, so meine ich, in seiner eigentlichen Bedeutung klar. Der Erscheinungscharakter des Geistes besteht in seiner Nunczentrizität. Das Erscheinungsein bedeutet also im Fall des Geistes etwas völlig anderes als im Fall physikalischer Gegenstände, bei denen es keine Nunczentrizität und überhaupt keine von einer Anschauungsform abhängige Idealität gibt. Es gilt sowohl: Kein Jetzt ohne Geist - die Anthropozentrizität des Jetzt - als auch: Kein Geist ohne Jetzt - die Nunczentrizität des Geistes. Diese reflexive Struktur, dass es ein Selbst nur als gegenwärtig gibt, also nur aufgrund einer Anschauungsform des Selbstbewusstseins, hat viel zu tun mit dem, was Fichte als das Sich-Setzen des Ich bezeichnet. Der traditionelle Grundsatz „operari sequitur esse" gilt in diesem Falle nicht; Sein und Referieren auf sich (Sich-Zusehen) fallen hier zusammen. Wie Fichte betont (und z. B. Mohr in seiner Interpretation Fichtes hervorhebt, Mohr 2001), impliziert dies eine grundsätzliche Kritik an einem Substanzen-Dualismus. Es gibt keine Seelensubstanz, die unabhängig von jeder mentalen Tätigkeit dieser zugrunde läge. Schon Kant hat diese Konsequenz gezogen. Was immer als Substanz gelten soll - sicher gehört dazu die realistische Vorstellung, dass das Betreffende unabhängig davon existiert, dass jemand auf es referiert. In diesem Sinn jedenfalls gibt es keine Seelensubstanz. Mit der Seelensubstanz war außerdem gemeint, dass die Seele unabhängig von materiellen Gegebenheiten wie einem Gehirn existiert. Nach Kant und Fichte ist auch diese Unabhängigkeit nicht gegeben. Fichte möchte beweisen - und zwar aus Gründen, die dem Selbst immanent sind, nicht etwa aus physiologischen Gründen dass es ein Ich ohne organischen Körper nicht geben kann (Mohr 2001 und Frischmann/Mohr 2001). Zugleich beanspruchen aber sowohl Kant wie Fichte, den „seelenlosen Materialismus" widerlegt zu haben. Die Alternative zwischen Substanz-Dualismus und materialistischer Identitätstheorie ist also nicht vollständig. Die spezifische Form der Unabhängigkeit des Mentalen, die in dem Sich-Setzen liegt, muss mit der Abhängigkeit von materiellen Bedingungen zugleich bestehen können. Ich möchte diese Verträglichkeit aufgrund der Konzeption der Anschauungsform plausibel machen. In der neueren Philosophie des Bewusstseins sind antimaterialistische Argumente formuliert worden aufgrund der Subjektivität von Qualia (dazu Heckmann 1999). Man hat zu zeigen versucht, dass die spezifische Subjektivität solcher Qualia in materialistischen Theorien nicht eingefangen werden kann. Das Nageische „wie es ist, jemand zu sein" entziehe sich einem solchen Zugriff. Mir scheint nun, dass in diesem Sinn Gegenwart als „ElementarQuale" bezeichnet werden darf: Sie ist wegen der Nunczentrizität das elementarste spezifisch Subjektive. Wenn es keine Referenz auf das Selbst an dieser Anschauungsform vorbei gibt, gehört dieses Quäle unerlässlich zu Subjektivität. Bei der Diskussion der Farbqualia hat eine Rolle gespielt, dass man sich eine Person vorstellen kann, die in einer rein schwarz-
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weißen Umgebung aufwächst und nie andere Farben kennenlernt. Die Farbqualia sind also etwas Kontingentes. Dass dagegen eine Person ohne die Erfahrung von Gegenwart und ihrem Entfliegen aufwächst, ist nicht möglich, wenn sie überhaupt Selbstbewusstsein haben soll. Außerdem hat man bei diesem Elementar-Quale die antireduktionistischen Argumente, die von Prior, Bennett, Gale, Bieri und anderen formuliert worden sind. Sie zeigen, dass es sich nicht auf eine modalitätsneutrale physikalische Begrifflichkeit reduzieren lässt. Wenn diese Argumente zutreffen, ist die Anschauungsform des Selbstbewusstseins selbst ein Moment des Geistes, an dem demonstriert werden kann, dass es nicht materialistisch erklärbar sein kann. Ob Kant die Anschauungsformen in seinem Sinn für aus Gehirnstrukturen erklärbar gehalten hat, oder ob er eine solche Erklärung für unmöglich gehalten hat, ist nicht deutlich. Jedenfalls kann es in diesem Fall keine solchen Argumente für die Irreduzibilität geben wie im Fall der restringierten Anschauungsform, weil Raum und Zeit selbst zur materiellen Wirklichkeit gehören müssen. Die modalen Zeitbestimmungen dagegen gehören wie gesagt nicht zur physikalisch beschreibbaren Wirklichkeit. Hier bringt die Anschauungsform also dieser gegenüber etwas wesentlich Neues. Auch der Geist muss dann etwas Neues sein, wenn er nunczentrisch ist. Mc Ginn hat in seinem Buch „Wie kommt der Geist in die Materie? Das Rätsel des Bewusstseins" mit zahlreichen Argumenten die These zu untermauern versucht, dass unser Geist nicht so eingerichtet ist, dass er erkennen könnte, wie das Gehirn den Geist hervorbringt. Er spricht dabei selbst von einer „Mysteriumsthese". Aufgrund des skizzierten Gedankenganges möchte ich eine demgegenüber modifizierte These vorschlagen: Unser Geist ist so eingerichtet, dass nicht erkannt werden kann, wie das Gehirn den Geist hervorbringt. In einem wichtigen Sinn ist dies keine „Mysteriumsthese" mehr, denn es wird eine erkennbare Eigenschaft des Geistes - die Nunczentrizität - dafür verantwortlich gemacht, dass nicht erkannt werden kann, wie das Gehirn den Geist hervorbringt. Es ist gerade der Umstand, dass der Geist eine Erscheinung seines eigenen Selbstbewusstseins ist, der dies ausschließt. Solange man mit physikalischen Mitteln operiert, kommt man nicht zum Geist hin, weil man nicht zum Jetzt kommt. Wenn man Begriffe verwendet, die erst aufgrund der Anschauungsform möglich werden, ist man über das Gehirn hinaus und bereits beim Geist. Wie das Gehirn den Geist hervorbringt, kann also weder an der Anschauungsform vorbei noch durch sie hindurch erkannt werden; es kann also gar nicht erkannt werden. Das impliziert aber weder, dass der Geist eine eigene Substanz ist, noch, dass es keine materiellen Bedingungen für ihn gibt. Dies gilt ja analog auch für die Qualia: Offenkundig hat das Sehen von Farben materielle Bedingungen. Trotzdem kann es sein, dass die Eigenart solcher Qualia in materialistischen Theorien nicht erfasst werden kann. Die subjektive Komponente, für die paradigmatisch das Sich-Setzen steht, und die objektive Bedingtheit im Materiellen sind also so miteinander verbunden, dass weder von der einen noch von der anderen Seite her eine Auflösung möglich ist. Ohne die Anschauungsform des Selbstbewusstseins ist man gar nicht auf Mentales bezogen, mit ihr ist man über das rein physikalisch Beschreibbare immer schon hinaus. In diesem Sinn ist unser Geist so eingerichtet, dass nicht erkannt werden kann, wie das Gehirn den Geist hervorbringt. Fichte behauptet nicht nur, dass ein Ich sich selbst setzt, sondern auch, dass sein Wesen im Tätigsein bestehe und dass, was eine Handlung ist, sich nicht weiter explizieren lasse, sondern jedermann aus der inneren Erfahrung des Handelns vertraut sein müsse. Es heißt
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sogar, dass wir ohne dies Verstehen von Handlungen selbst nicht handeln und nicht einen Fuß vor den anderen setzen könnten. Handlungsverben sind Begriffe, die in die Ontologie des zeitlichen Werdens gehören. Es liegt auf der Hand, dass zum Handeln das SichVoraussein in der Zukunft, das Heideggersche Vorlaufen gehört. Schon Absichten und Wünsche sind normalerweise zukunftsbezogen, und zwar auf die zögernd - manchmal aber auch allzu schnell - hergezogen kommende, nicht lediglich auf modalitätsfrei erfassbare spätere Zeitpunkte. Aber auch der Vorgang des Handelns selbst ist nur durch das zeitliche Werden möglich. Handlungen sind Prozesse, die sich von anderen Prozessen dadurch unterscheiden, dass das zeitliche Werden innerlich in sie integriert ist. Das intuitive Bewusstsein vom Handeln - Fichte spricht dabei von einer intellektuellen Anschauung - ist nur aufgrund der Anschauungsform möglich. Rein sinnlich - gleichsam in behavioristischer Perspektive auf uns selbst - könnte uns, wie er sagt, höchstens eine passive Folge von Vorstellungen gegeben sein. Ich bliebe dabei bloß leidend, der ruhende Schauplatz, auf welchem Vorstellungen durch andere Vorstellungen abgelöst werden. Dass Handlungen überhaupt in die Zeit fallen, ist trivial - auch nach Kant könnten sie also nur durch die Anschauungsform des inneren Sinnes erfasst werden. Da aber ihm zufolge diese Anschauungsform die Zeit uneingeschränkt umfasst, wäre dies kein Spezifikum für Handlungen. Beliebige Prozesse könnten uns nur über diese kantische Anschauungsform gegeben sein. Dies wird anders, wenn wie vorgeschlagen die Anschauungsform auf den modalen Aspekt der Zeit restringiert wird. Dann kann sehr wohl gelten, dass Handlungen unter diese Anschauungsform des Selbstbewusstseins fallen und Bewegungen im Sinn der Physik dies nicht tun. Schon Fichte fasst übrigens die Zeit als Anschauungsform der intellektuellen Anschauung (Fichte 1982, 136), aber auch von ihm wird kein Unterschied gemacht zwischen den verschiedenen Aspekten der Zeit. Die der Ontologie des zeitlichen Werdens gegenüberstehende modalitätsfreie Ontologie der physikalisch beschriebenen Wirklichkeit kann als „Ereignisontologie" bezeichnet werden. Ereignisse sollen dabei so verstanden sein, dass sie, wie verschiedentlich vorgeschlagen, über Raumzeitgebiete individuiert werden. Dann gilt: „Jedes beliebige raumzeitliche Gebilde in der Welt ist ein und genau ein physikalischer Gegenstand." (Stoecker 1992, 231) Zu physikalischen Gegenständen gehört aber auch noch, dass sie Zustände im physikalischen Sinn des Wortes haben - also Eigenschaften, durch die alle gleichzeitigen objektiven festgelegt sind. Die Menge der möglichen Eigenschaften eines gegebenen Systems macht (zusammen mit der zugehörigen logischen Struktur) ein Gebilde aus, das als „Zustandsraum" bezeichnet wird. Die zeitliche Entwicklung eines solchen Gegenstandes wird durch eine Zustandsfunktion beschrieben, die angibt, in welchem Zustand er sich zu verschiedenen Zeitpunkten befindet. Die Gesetze geben an, welche Wege im Zustandsraum möglich sind. Dass Handlungen in die Ontologie des zeitlichen Werdens gehören, bedeutet nun, dass sie keine Ereignisse in diesem Sinne sind und dass mit einer Angabe einer Abfolge von Zuständen das Eigentliche einer Handlung nicht erfasst wird. Handlungen sind qua Handlungen nicht durch Zustandsfunktionen beschreibbar. Handlungsverben sind dafür unumgänglich notwendig. Das von Fichte vorausgesetzte ursprüngliche Handlungsbewusstsein manifestiert sich darin, dass wir Handlungsverben verstehen können. Dabei kommt es wesentlich an auf den Unterschied zwischen Handlungsverben und Zustandsfunktionen. Die einen gehören in die Ontologie des zeitlichen Werdens, die anderen in die Ereignisontologie.
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In der Umgangssprache verwenden wir freilich auch Handlungsverben bei der Beschreibung von Vorgängen in der unbelebten Natur - der Wind schüttelt die Bäume usw. Zum Verstehen von Handlungen im Sinne Fichtes gehört auch, dass man weiß, dass es sich in diesen Fällen nicht wirklich um Handlungen handelt. Derartige Vorgänge könnten mit den begrifflichen Mitteln der Ereignisontologie beschrieben werden. Für die entwickelte Naturwissenschaft ist charakteristisch (wenn wir von der Biologie absehen), dass die Handlungsverben aus ihr verschwinden. Für Personen jedoch sind Handlungsverben und damit die Ontologie des zeitlichen Werdens unverzichtbar. Manche Biologen versichern, dass sich auch das Verhalten von Tieren nicht ohne sie beschreiben lässt - aber das ist ein anderes Thema. Ich behaupte aber nicht, dass ausschließlich Personen unter die Zuständigkeit der Ontologie des zeitlichen Werdens fallen, sondern nur, dass sie es jedenfalls tun. Ein weiterer wichtiger Zug von Fichtes Konzeption, an den angeknüpft werden sollte, ist, dass die intellektuelle Anschauung (das unmittelbare Bewusstsein, dass ich handele) ihm zufolge nicht isoliert im Bewusstsein vorkommt, sondern stets mit einer sinnlichen Anschauung verknüpft ist. Der Philosoph komme, so heißt es ( F W I, 464 f.), nur indirekt durch einen Schluss zur isolierenden Kenntnis dieser Anschauung. Ich könne mich nicht handelnd finden, ohne ein Objekt, auf das ich handele, in einer sinnlichen Anschauung vor mir zu haben. Aber offenbar muss nicht nur das Bewusstsein eines Objekts, auf das gehandelt wird, mit dem des Handelns verknüpft sein, - auch das Bewusstsein der leiblichen Seite gehört notwendig dazu (gerade nach Fichtes Leibtheorie). Auch dies ist eine sinnliche Anschauung. Das Selbstbewusstsein enthält also nach Fichte so, wie es unmittelbar auftritt, sinnliche und intellektuelle Momente miteinander verbunden. Sie können nur nachträglich mit Hilfe indirekter Schlüsse isoliert werden. Ich möchte diese Auffassung so verstehen, dass es sich bei demjenigen, das Gegenstand einer der isolierten Anschauungen wäre, um Aspekte eines einheitlichen Selbstbewusstseins handelt. Ein Aspekt ist ein anschaulicher Zug eines singulären oder generellen Sinnes. Eine Anschauungsform führt also automatisch zu einem Aspekt der angeschauten Sache, sie zeigt sich in einem solchen Aspekt. Das Gegenwärtigsein ist so ein Aspekt der Referenz im Selbstbewusstsein. Ein Aspekt ist also weder ein eigener Gegenstand noch eine generelle Eigenschaft. W o referiert wird, gibt es auch eine Gegebenheitsweise - speziell auch bei anschaulichen Bezugnahmen. Ein Zug daran, wie ich mir selbst gegeben bin, ist das Jetzt und sein pfeilschnelles Entfliegen. Sofern das Ich aber keine Substanz ist - die unabhängig vom Referieren existierende Seelensubstanz gehört nach Fichte in den Dogmatismus sondern ein Gegenstand einer Anschauung, die im normalen Selbstbewusstsein gar nicht isoliert vorkommt, muss es als Aspekt gelten, als Aspekt des Selbstbewusstseins, dessen Anschauungsform die modalen Zeitbestimmungen liefert. Man kann zwei Arten von Entitäten-Dualismus unterscheiden, eine cartesische und eine nicht-cartesische, eher an Strawsons Begriff der Person gemahnende. Die letztere entspricht aber auch dem Ansatz von Kant und Fichte, insofern es auch dort keine Seelensubstanz gibt und die mentalen Eigenschaften nur relativ zum Selbstbewusstsein als Erscheinung vorliegen. Die Nähe seiner Konzeption zu der von Kant hat Strawson selbst betont. Bei Descartes haben wir zwei Typen von Substanzen. Eine res extensa ist vollständig physikalisch beschreibbar, eine res cogitans hat, da sie nicht räumlich ausgedehnt ist, gar keine physikalischen Eigenschaften. Die nicht-cartesische Form von Entitäten-Dualismus
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besteht darin, dass es einerseits Entitäten gibt, die vollständig physikalisch beschreibbar sind, und andererseits solche, die zwar physikalische Eigenschaften haben, aber nicht vollständig physikalisch beschreibbar sind, für die es also keine Zustände im physikalischen Sinne gibt. Unsere Bewusstseinszustände, unsere Gedanken und Empfindungen werden, wie Strawson sagt, genau demselben Ding zugeschrieben, dem auch eine physikalische Situation und physikalische Eigenschaften zugeschrieben werden (Strawson 1959, 89; dt. 1972, 114). Auch dies fuhrt zu einer dualistischen Position, wenn zusätzlich angenommen wird, dass es mentale Eigenschaften erstens wirklich gibt und diese zweitens nicht auf physikalische reduziert, d. h. in physikalische Zustandsräume einbezogen werden können. Das „Ding", dem beide Sorten von Eigenschaften zugeschrieben werden können - Strawson bezeichnet es dann als Person - kann dann nicht vollständig physikalisch beschrieben werden, im Gegensatz zu anderen Dingen, bei denen dies möglich ist. Die vollständig physikalisch beschreibbaren Entitäten stehen hier nicht solchen gegenüber, die gar keine physikalischen Eigenschaften haben, sondern solchen, die nicht vollständig physikalisch beschreibbar sind. Bei normalen Handlungsverben z. B. ist klar, dass sie nur Personen in diesem Sinn zugeschrieben werden können. Eine res cogitans allein könnte nicht spazieren gehen oder einen Brief schreiben. Zugleich gilt aber, dass Handlungen wie gesagt mehr sind als Folgen von Zuständen. Eine res cogitans wird als Träger mentaler Eigenschaften nicht gebraucht und kommt dafür auch, wie Strawson ausführt, nicht in Frage. Das „a" in „a denkt" referiert auf eine Person, nicht auf eine res cogitans, aber natürlich auch nicht auf ein Gehirn. Wenn Bewusstseinszustände überhaupt Personen zugeschrieben werden müssen, dann auch das Selbstbewusstsein. Eine Person ist sich ihrer selbst bewusst. Zu diesem Selbstbewusstsein gehört aber die Anschauungsform. Die Nunczentrizität betrifft also die Person. Dass wir auch uns selbst nur als Erscheinung erkennen, besagt dann, dass die mentalen Eigenschaften, die wir uns selbst (und natürlich auch anderen) zuschreiben, uns nur durch diese Anschauungsform hindurch zugänglich sind und es sie ohne diese gar nicht geben würde. Das Sich-Setzen und die materielle Bedingtheit des Selbstbewusstseins und des Sich-Setzens selbst sind also ohne weiteres miteinander verträglich. Wie aber steht es mit dem „reinen Ich", dem kantischen „stehenden und bleibenden Selbst" und ähnlichen solchen Gebilden? Geraten wir mit ihnen nicht doch auf cartesische Bahnen? Wird es nicht, wenn man überhaupt so etwas annimmt, eine leere Floskel, beschönigend hinzuzusetzen, sie dürften nicht als Substanzen angesehen und „hypostasiert" werden? Es gilt, mit der Kritik Kants und Fichtes am Substanzendualismus und der Auffassung, dass das Ich nur für sich existiert, ernst zu machen. Deswegen sollte man der Strategie folgen, die Fichte hinsichtlich der intellektuellen Anschauung einschlägt: Er gesteht zu, dass sie im normalen Erkennen gar nicht als isolierte vorkommt, meint aber, dass der Philosoph so etwas annehmen müsse, um, wie er sich ausdrückt, die Tatsachen des Bewusstseins zu erklären (FW I 464). Dass ich mich als tätig erfahre, erzwinge eine Art der Anschauung, die zwar untrennbar mit der von bloßen Zustandsfolgen verwoben ist, aber doch für theoretische Zwecke von dieser unterschieden werden muss. Es werden also bestimmte Aspekte am Selbstbewusstsein unterschieden, um so bestimmte epistemische Leistungen verständlich zu machen. Was Kant mit Ausdrücken wie „transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins" (KrV B 132) benennt, muss als Aspekt des Selbstbewusstseins verstanden werden, mit des-
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sen Hilfe die objektive Einheit gegebener Vorstellungen in Urteilen (KrV B 142) einsichtig gemacht werden soll. Gerade dass das Selbstbewusstsein nicht einfach vorhandene Entitäten wiedergibt, sondern mit seiner Anschauungsform erst das Sein des Selbst ermöglicht, erlaubt derartige Differenzierungen. Die Nunczentrizität enthält Strukturen, die für das Verständnis der epistemischen Funktionen unentbehrlich sind. Ich will darauf hier nicht weiter eingehen, sondern mich damit begnügen, aus Heideggers Kant-Buch die These zu zitieren, dass die ursprüngliche Zeit auch das Vermögen der reinen Synthesis ermöglicht (Heidegger 1929, 178). Insbesondere die Urteilssynthesis hat in ihrer elementaren Form präsentischen Charakter, sie liefert das „ist" mit Präsensbedeutung. Die zeitlosen Propositionen, mit denen die „detenser" operieren, sind demgegenüber abkünftig. Bei Strawson heißt es: „Der Begriff der Person ist logisch primär gegenüber dem des individuellen Bewusstseins. Der Begriff der Person ist nicht als der Begriff eines beseelten Körpers oder einer in den Körper eingebetteten Seele zu analysieren. Das bedeutet nicht, dass der Begriff eines reinen individuellen Bewusstseins nicht logisch sekundär existieren könnte, wenn man ihn für wünschenswert hält oder er sich als wünschenswert erweist." (a. a. O. 103, dt. 133) Die Gründe für eine solche sekundäre Analyse sind ftinktionalistischer Art, und sie führen auch nicht zu einem Substanzendualismus. Wir erkennen auch uns selbst nur als Erscheinung, aber wir können an diesem Erscheinungsein durchaus verschiedene Aspekte unterscheiden - insbesondere die aus der Nunczentrizität sich ergebenden. Trotzdem können Kant und Fichte mit Recht für sich in Anspruch nehmen, dass ihre Theorie kein „seelenloser Materialismus" ist. Dafür reicht der Dualismus im nichtcartesischen Sinne - dass also Personen Entitäten sind, die sich nicht vollständig physikalisch beschreiben lassen, für die also keine physikalischen Zustände bestehen können. Mit der Irreduzibilität des zeitlichen Werdens - des „Elementar-Quale" - und der Wesentlichkeit desselben für alles Mentale ist dies gesichert. Auch Freiheit fordert keinen cartesischen Interaktionismus, sondern nur, dass es Prozesse gibt, die in physikalischen Begriffen nicht vollständig erklärt werden können. Die Formulierung strikter physikalischer Gesetze setzt voraus, dass für das, was unter sie fallen soll, Zustände definiert werden können. Personen erfüllen diese Bedingung nicht. Wenn man Handlungen erklärt, muss man dabei auf Personen referieren und mentale Prädikate und Handlungsverben verwenden. Gesetze, die mit solchen Hilfsmitteln formuliert sind, implizieren keinen Prädeterminismus. Und wenn Handlungsverben nicht auf Zustandsfolgen zurückgeführt werden können, sondern einen Aspekt enthalten, der nur in intellektueller Anschauung gegeben sein kann, dann kann man Handlungen nicht mit Gesetzen erklären, die einen Prädeterminismus implizieren würden. Dass eine kausale Einwirkung des Selbst auf den Körper nicht erfasst werden kann, entspricht sowohl der These Strawsons, dass sich eine Person nicht in Seele und Körper analysieren lässt, als auch der These Mc Ginns, dass unser Geist so verfasst ist, dass nicht erklärt werden kann, wie die Materie ihn hervorbringt. Wenn man die Kausalbeziehung mit Verben beschreibt, ist man über den entscheidenden Punkt schon hinweg und im Bereich der Ontologie des zeitlichen Werdens. Wenn man die Kausalität mit Hilfe von physikalischen Zuständen und Gesetzen für Zustandsfunktionen beschreibt, bleibt man im Bereich der Ereignisontologie und kommt nicht zum Geist hin. Wenn die Seele keine Substanz ist, kann sie auch keine Ursache sein. Das schließt aber nicht aus, dass es eine Kausalität aus Freiheit
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gibt, eine Art von Kausalität also, die nicht in physikalischen Begriffen erfasst werden kann. Wenn Personen handeln, liegt eine Form des Wirkens vor, die nur mit Begriffen der Ontotogie des zeitlichen Werdens erfasst werden kann. Was reine Zustandsfolgen von Handlungen unterscheidet, wissen wir nur durch unser Selbstbewusstsein und dessen Anschauungsform. Mir scheint es fast trivial zu sein - wenn nicht das Jetzt pfeilschnell entflöge, könnten wir nicht handeln und nicht einmal einen Gedanken fassen.. Zum Schluss möchte ich noch auf zwei Punkte kurz eingehen, die mit der Opposition von Ontologie des zeitlichen Werdens und Ereignisontologie zu tun haben - die essentielle Individualität von Personen sowie ihre spezifische diachrone Identität. Wenn Ereignisse über Raumzeitgebiete individuiert werden, ist wie erwähnt jedes solche Gebiet ein eigenes Individuum. Individualität wäre so nicht etwas besonders Erhebliches. Personen individuieren sich über ihr Selbstbewusstsein. Durch es ist entschieden, was ein Individuum ist. Gebiete enthalten unendlich viele Teilgebiete in sich; eine Person kann aber schlechterdings keine zweite in sich enthalten. Bei ihr gibt es auch keine ontologische Relativität wie bei Quines Hasen. Man könne einen solchen Term mit gestückelter Referenz, wie er sagt, nicht ohne seine Individuationsprinzipien beherrschen (Quine 1975, 47 f.). Man müsse wissen, wo ein Hase aufhört und ein anderer beginnt. Dahinter könne man durch reine Ostension nicht kommen, auch wenn sie noch so beharrlich durchgeführt wird. Im Selbstbewusstsein aber weiß jeder ganz genau, wo er selbst aufhört und ein anderer anfangt. Für die Personalität gilt das selbst in Fällen, wo die Individuierung über Gebiete problematisch wird (wie bei siamesischen Zwillingen). Durch das Verstehen von Selbstbewusstsein weiß man dann auch bei anderen, was eine individuelle Person ist. Es gibt da keine ontologische Relativität. Die diachrone Identität von Personen wird gegenwärtig intensiv diskutiert (vgl. die von Quante 1999 und Sturma 2001 herausgegebenen Sammelbände). In ihrem Beitrag zu dem Band von Sturma unterscheidet Martine Nida-Rümelin eine realistische und eine nichtrealistische Auffassung dieser Identität (Nida-Rümelin 2001). Bei der letzteren können alle empirischen Fakten letztlich identitätsneutral beschrieben werden (ebd. 202), so dass Fragen der diachronen Identität konventionell entschieden werden können. Bei Personen dagegen sei die Frage der diachronen Identität grundsätzlich nicht konventionell zu beantworten. Ihre ausschlaggebende These ist, dass transtemporale Selbstzuschreibungen von empirischen Kriterien diachroner Identität unabhängig sein müssen (ebd. 212). Ich möchte diese beiden Auffassungen von diachroner Identität den beiden genannten Ontologien zuordnen und insbesondere mit der Anschauungsform des Selbstbewusstseins rechtfertigen, dass die diachrone Identität von Personen nicht sekundär über Relationen zwischen Personenstadien konstituiert werden kann. Umgekehrt scheint mir die Referenz auf Personenstadien abgeleitet zu sein von der ursprünglichen im Selbstbewusstsein. Diese besondere Weise der diachronen Identität hat damit zu tun, dass - wie Kants berühmte Wendung lautet - ein einheitliches Ich denke alle meine Vorstellungen muss begleiten können (KrV B 131 f.). Der Prozess dieses Begleitens nimmt, wie mir schon anschaulich evident zu sein scheint, das zeitliche Werden in Anspruch. Er ist nicht eine einfache Zustandsfolge. Ohne das Entfliegen des Jetzt gibt es nicht die durchgängige diachrone Identität des Ich denke, ohne diese aber gar keinen verknüpfenden Geist und keinen verknüpften Gedanken. Die der Philosophie des Geistes zugrunde gelegte Ontologie sollte darum die des zeitlichen Werdens sein.
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Kolloquium 3 Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Moral als Thema der Ethik
HANS LENK
Einleitung Das Gesamtthema1 unseres Kongresses „Grenzen und Grenzüberschreitungen" ist gerade hinsichtlich moralischer und politischer Fragen von außerordentlicher Brisanz, wie zumal die weithin herrschende Inanspruchnahme des sogenannten technokratischen Imperativs belegt. Dazu nur zwei Bemerkungen: Edward Teller, der sogenannte Vater der Wasserstoffbombe, hatte bereits 1975 in einem Interview mit Bild der Wissenschaft behauptet, der technische und wissenschaftliche Mensch solle „alles das, was er herstellen kann, auch herstellen, alles das, was er machen kann, auch machen" und sich dabei keine Grenzen setzen insbesondere soll er das Gemachte auch anwenden. (Er hat das wohl damals nicht ausdrücklich auf die Entwicklung der Wasserstoffbombe selbst bezogen - oder doch?) Was die Grundlagenforschung angeht, so lehnen auch jüngere hervorragende Physiker - z. B. die deutschen Nobelpreisträger Mössbauer und von Klitzing, so in unserer Studentenzeitschrift Ventil (1994, Nr. 94) - jegliche Verantwortung und somit auch deren Begrenzung hinsichtlich der Forschung ab. In der Grundlagenforschung habe der Wissenschaftler keine Verantwortung - anders als bei der Anwendung.
Das Thema des Kolloquiums über „Gebote und Verbote: Grenzen und Grenzüberschreitungen in moralischen Kontexten" würde natürlich dazu verfuhren, ein spezielles Kolloquium zu den Fragen der deontologischen Logik bzw. der Normenlogik durchzuführen - etwa hinsichtlich der Fragen, ob alles, was nicht verboten ist, damit automatisch erlaubt ist im rechtlichen oder im ethischen Sinne. Diese eher technischlogischen Fragen werden wir natürlich hier nicht behandeln, denn hier geht es um ein Thema, das eher die Allgemeinheit angehen soll und auch eben brisante Themen aufgreifen soll. Wir werden also nicht deontologische Logik betreiben, obwohl das ein spannendes Feld ist und ich mich direkt daran erinnere, daß ich in einem Buch früher über „Normenlogik" (1974) einmal das so genannte „deontologische Sechseck" aufgestellt habe, das in Anlehnung an das logische Quadrat in der Logik die Verhältnisse gerade zwischen Erlaubtheit, Verboten und Geboten zu thematisieren versucht. Stattdessen lassen Sie mich in meiner Einfuhrung auf das Gesamtthema unseres Kongresses eingehen.
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Der zweite, in der jüngsten Zeit2 besonders brisante Bereich ist natürlich jener der Bioethik und reproduktiven Medizin bzw. gentechnologischen Veränderung von Erbanlagen durch Eingriffe in die DNS-Struktur, z. B. durch künstliche Rekombination von Basenpaaren, Genen, Gentransfer usw., was technisch nicht nur bei Ratten (Krebs), Mäusen, Schafen und Ziegen bzw. Kühen möglich ist, sondern mit derzeit noch großen Unsicherheiten und Risiken prinzipiell auch beim Menschen. Gibt es hier „absolute" Grenzen? Während manche Philosophen wie z. B. Dworkin den erwähnten technokratischen Imperativ sogar auf den Menschen selbst beziehen und meinen, künftig müsse der Mensch auch seine eigene Evolution und Weiterentwicklung selber in die Hand nehmen: Das Rumoren von genbiologischen sog. Menschen- und Technologieparks hat ja Dank einiger Feuilletonjournalisten und -philosophen sogar ein Ferienrauschen im deutschen Blätterwald erzeugt und entsprechende nicht gerade fachkompetente Informationen, Reaktionen und Kritiken provoziert. Robert Spaemann meint in seinem Buch „Grenzen" (Stuttgart 2001)3: „Diese gen- und evolutionstechnologische (H. L.) Emanzipation von der Natur aber ist dialektisch. Sie liefert den Menschen dem naturwüchsigen Trieb blinder Naturbeherrschung aus. Der homme de l'homme, der Mensch als Produkt der Phantasie anderer Menschen, dem die Demut einer vernünftigen Kreatur abhanden gekommen ist, das ist die Horrorvision schlechthin. Die Emanzipation des Geistes von der natürlichen Gestalt des Menschen, dieser neue Spiritualismus ist die heimtückischste Form des Naturalismus. Sittliche Vernunft gibt es nur als erinnerte Natur. Sie setzt dem naturwüchsigen Machen Grenzen", ja, sie - die Vernunft - ist „Grenzen ziehende Vernunft" (ebd., II). Damit ist das thematische Stichwort gegeben: Moral und ethische Überlegung, traditionell gesprochen: „sittliche Vernunft", ist eine grenzenziehende Aktivität, Disziplin, Konstruktbildung oder eben eine absolute Instanz. Was nun aber? (Wenn sie „dem naturwüchsigen Machen Grenzen" „setzt", so ist das natürlich nur metaphorisch beschrieben: Wie „macht" das die Vernunft? Wie läßt sich eine solche Grenzziehung oder -Setzung (insbesondere wenn es sich nicht um Willkürsetzungen handelt) näher analysieren und umreißen? Das ist eine analytische Frage, die natürlich mehrere unterscheidende und differenzierende analytische Klärungen voraussetzt. Plausibel erscheint, daß Moral und entsprechend moralische Abhebung und somit Ethik mit Grenzziehungen und Grenzsetzungen oder Begrenzungen bzw. Fragen danach4 zu tun hat - selbst dann, wenn es sich nicht um absolute natur- oder gottgegebene Grenzen handeln sollte. Fragen des moralischen Realismus, also der (absoluten) Wahrheit oder Falschheit von moralischen Geboten, „committments", Verantwortungen usw. stehen ebenso zur Debatte angesichts der analytischen Vorklärungen wie die Möglichkeit einer kulturübergreifenden 2
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Vgl. zum neuesten (auch internationalen!) Überblick den Schlußbericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Recht und Ethik der modernen Medizin: Stammzellforschung und die Debatte des Deutschen Bundestages zum Import von menschlichen embryonalen Stammzellen"; Berlin 2002 (s. a. Schlußbericht: Bundestagsdrucksache 14/9020). das allerdings das Thema der Grenzziehungen nicht methodologisch oder überhaupt thematisch und detailliert fachbezogen aufgreift. So fragt Johannes Reiter (Die genetische Gesellschaft, Limburg-Kevelar 2002, 114), der die Bioethikdebatte als Kulturkampf bezeichnet, explizit: „Wo lassen sich dann aber der Wissenschaft Grenzen setzen, wer bleibt noch Subjekt der Menschenwürde?"
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„Universalmoral" (etwa in Gestalt einer kulturübergreifenden Minimalmoral, wie ich sie 1966 beim Deutschen Kongreß für Philosophie angesichts der Problematik der Neutralität der Metaethik bereits skizziert und gefordert hatte (also einige Zeit vor Küngs „Weltethos")). Das philosophische Grundverständnis von vernünftig begründeter Moral, also Ethik (was pace Luhmann nicht nur auf die alteuropäische Tradition beschränkt war, sondern gerade auch in China und Indien differenzierte Moralsysteme mit universellem Anspruch hervorbrachte), gründet sich plausiblerweise auf die Intuition, daß alle Menschenwesen moralisch zu achtende Partner seien. (Bekanntlich gehen jainistische, hinduistische und buddhistische Ethiken noch weit darüber hinaus und fordern die „Ehrfurcht" und NichtSchädigung (Ahimsa) aller lebendigen Kreaturen - wie es im Abendland nur die verdeckte Tradition der Tierethik, besonders bei Albert Schweitzer5 mit seiner konkret humanitären Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben jeglicher Art, betonte. Kants Intuitionen waren bekanntlich noch anders. In seiner Metaphysik der Sitten (§17) gestand er moralischen Status und die entsprechende Achtung eines moralischen Partners nur den Wesen zu, die selber Pflichten und Verantwortung übernehmen und tragen können, also alleine den Menschen. (Unsere gesamte Rechtssprechung hat spätestens seitdem diesen anthropozentrisch-tierfeindlichen Zug: Tiere waren „Sachen" und wie solche zu behandeln, also nur im Interesse und zu Diensten des Menschen. Erst neuerdings haben sich die Legislative und gar die Verfassungsänderer durchgerungen, auch Tieren einen rechtlich-ethischen Schutz zu gewähren; nach langen Kämpfen gelangte der Tierschutz6 nunmehr in unser Grundgesetz.) Die Überlegungen zur grenzenübergreifenden Universalmoral stützen sich darauf, daß in praktisch allen Kulturen - mit gewisser differenzierender Sonderrolle der buddhistischen Sicht des Lebens als eines zu überwindenden Leidens - das Leben als hohes oder höchstes Gut, jedenfalls als zu schützendes Rechtsgut gilt und daß überall institutionen- und familienbzw. clan- oder stammessichernde Normen, Regeln, Vorschriften und Teilinstitutionen vorhanden sind. Deshalb kann man - wie ich es 1966 tat - von einer funktionalen institutionensichernden Minimalmoral solcher Sicherungsnormen sprechen, die als Grundlage oder Parallelität in allen Kulturen vorhanden ist und dementsprechend genutzt werden kann zu einer Ausbildung dringend notwendiger kulturübergreifender Moralinstitutionen und -regeln - möglichst mit rechtsverbindlicher Weiterfuhrung oder Ausgestaltung. Zudem breitet sich die ins Universalistische gerichtete, traditionell „abendländisch genannte" westliche Kultur mit ihrem wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt zur Daseinserleichterung überall hin aus und trägt auf dem Rücken auch ihre funktionalen Wertintuitionen mit. (Trotz aller Rückschläge durch Kriege und neuerdings Terrorismen dürfte sich sozusagen empirisch eine entsprechende allgemeinmenschliche Moral allmählich durchsetzen, selbst wenn von vielen Vertretern anderer Kulturen dies als eine Art moralische Überfremdung oder quasi Kolonisierung empfunden wird.) Die Entwicklung der allgemeinen Menschenrechtsideen liefert in diesem Zusammenhang natürlich ein wichtiges Transmissionsmoment, obwohl auch hier der abendländischwestliche Ursprung kritisiert wurde und immer noch wird - zum Teil fälschlich.7 Im Zuge 5 6 7
Vgl. z. B. Lenk, H, Albert Schweitzer - Ethik als konkrete Humanität, Münster 2000. Die Schweizer Verfassung nahm ca. ein Dutzend Jahre früher gar die „Würde" der Tiere als Schutzgut auf. Von chinesischer Seite aus wurden die allgemeinen Menschenrechte als „westliche Werte" bezeichnet: Demgegenüber seien „asiatische" - wie auch „afrikanische" - Werte und ihre jeweiligen Traditionen
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der Internationalisierung und Globalisierung sowie der Politik der Menschenrechte durch die UNO und entsprechende internationale Organisationen wird sich die Ausbreitung dieser universalistisch orientierten Regelungen weiterhin fortsetzen. Tendenziell kennt also diese menschheitsorientierte Moral und die entsprechenden Rechtsintuitionen keine Grenzen. Moral und Ethik haben natürlich auch interne Selbstbegrenzungen. Nicht alles Handeln, Denken, Begründen kann moralischen Wertungen unterzogen werden. Das Kriterium des Moralisch-Ethischen ist, daß das Wohl bzw. Wehe anderer Menschen bzw. Lebewesen durch Handlungen und menschengemachte Strukturen, Prozesse, Resultate betroffen sein muß, damit von moralischen Werten und Wertungen die Rede sein kann. (In der ökologischen Ethik mancher Provenienz mag dies dann auf die meisten weiteren Lebewesen und Ökosysteme ausgedehnt werden, ändert aber nichts grundsätzlich an der kriterialen Ausrichtung.) Auch technisch-pragmatisch scheinen Grenzen und Begrenzungen der Moralität bzw. Verantwortlichkeit zu existieren bzw. zu beachten oder zu ziehen zu sein: Verantwortlichkeit muß z. B. für den entsprechenden Bereich des Handlungsmöglichen dimensioniert sein: Obwohl durch die gewachsene Handlungsmacht (wie besonders Hans Jonas und unabhängig ich selber 1979 betonten8) die Verantwortlichkeit für Aktionsresultate in dem Maße gewachsen ist, wie die Auswirkungsmöglichkeiten technisch multiplizierter Handlungen und Prozesse zugenommen haben, kann niemand sinnvoll für Alles und gar für NichtVorhersagbares verantwortlich gemacht werden.9 Wie kann man jemanden verantwortlich machen über die Grenzen seines voraussichtlichen Handlungsergebnisses hinaus? Das Problem der Grenzziehung bei Verantwortlichkeiten ist wohl noch nicht gelöst, selbst wenn Versuche zur Differenzierung unterschiedlicher Typen und Arten von Verantwortlichkeiten bestehen und die Fragen der Verantwortungsdistribution auch in Modellen (ähnlich wie der Spieltheorie und ökonomischen Distribuierbarkeit) erörtert worden sind. Verantwortlichkeit kann nicht unbegrenzt sein - jedenfalls was den jeweiligen Akteur angeht (und sei es ein kollektiver Akteur), da schon strategische Wechselwirkungen und kumulative unterschwellige Auswirkungen von Aktivitäten zu entsprechenden Folgen fuhren, die eigentlich „zu verantworten" wären, aber keinem einzelnen Akteur allein zugeschrieben werden können, sondern Ausfluß kumulativer, strategischer und u. U. sich aufschaukelnder
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zum Teil anders gelagert - mit besonderen Akzenten auf den Vorrang der Gemeinschaft oder Gruppe vor dem Einzelnen. Doch ist z. B. im Konfuzianismus und Neokonfuzianismus (etwa bei XunZi) wie bei Konfuzius selber nicht nur die Goldene Regel in Bezug auf den Einzelnen konzipiert, sondern es sind auch Prinzipien der individuellen Menschenrechte klar gesehen. MoZi hat sogar die allgemeine Menschenliebe Jahrhunderte vor Christus als höchste moralische Leitregel vertreten und gefordert. Jonas, H., Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979; Lenk, H., Pragmatische Vernunft, Stuttgart 1979, 73. Freilich entsteht aus der Paradoxie der gewachsenen Handlungsmöglichkeiten und der NichtVorhersehbarkeit von Auswirkungen unserer angestoßenen Aktionen in komplexen und globalisierten Systemen die differenzierter zu beurteilende Frage, ob der Mensch nicht für sehr viel mehr verantwortlich zu machen ist, als er teilweise und zu bestimmten Zeiten voraussehen und bewußt planen kann. Zumal bei den menscheninduzierten Klimawandlungen bzw. beim Ozonloch- und Fluor-Chlor-KohlenwasserstofF- sowie Kohlendioxidproblem entstehen solche Verantwortlichkeiten, welche die kollektiven Hauptakteure der Veränderungen, die hochindustriellen Gesellschaften und deren politische Repräsentanten und Verantwortlichen, besonders in die Pflicht nehmen.
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Rückwirkungen sind. Grenzen und Begrenzungen der Verantwortlichkeit sind wichtige Probleme, die der genaueren analytischen Durchdringung und Ausarbeitung harren - gerade auch hinsichtlich der begrifflichen Kohärenz und pragmatischen Durchführbarkeit. Als ein weiterer Punkt scheint mir derzeit angesichts der immer stärker bürokratisierten und zu formellen Regelungen sowie globalisierten Erscheinungen, Konkurrenzen, kollektiven und institutionellen Gesamtregelungen tendierenden Zeit Folgendes besonders wichtig: Im Zuge der Entwicklung institutioneller, formeller und kollektiv-rechtlicher sowie staatlicher Regelungen scheint der Aspekt der individuellen Moral bzw. des Schutzes der Einzelnen oft aus dem Blickfeld zu geraten. Hinter Regelungen und Bürokratismen sowie strategischen Interessenspielen und formalen Regelungen von Konkurrenzen hat es die einfache Humanität schwer. Sie droht „untergebuttert", übersehen oder ignoriert zu werden. Deswegen erscheint nicht nur die Entwicklung einer humanitätssichemden institutionellen Moral im Sinne der Entwicklung institutioneller und korporativer Verantwortlichkeit unter Wahrung dieser Humanitätsgesichtspunkte dringlich, sondern auch eine Akzentuierung der Wichtigkeit humaner Umgangsweisen, humanitärer Maßnahmen und humanistischer Traditionen der Achtung und Beachtung des einzelnen Menschen. Dies gilt zumal auch an den Grenzen von Recht und Moral - man denke an Probleme der Apparate- und Intensivmedizin. Ist z. B. die Verantwortlichkeit des Arztes unter solchen Gesichtspunkten konkreter Humanität faktisch und moralisch auch dann gefordert, wenn an der Grenze der Legalität der Satz „in dubio pro patiente" bzw. „in dubio pro humanitate concreto" zu beachten ist, selbst dann, wenn einmal der formelle Buchstabe des Gesetzes nicht in jeder Einzelheit beachtet werden kann, wenn es darum geht, „unmenschliches" Leiden eben gerade im Interesse des Kranken zu vermeiden? Kann z. B. der Arzt unter dem Gesichtspunkt der „konkreten Humanität"10 in extremen Einzelfällen die vom Recht gezogene Grenze bei der u. U. negativ-aktiven oder passiven Sterbehilfe etwa überschreiten und so seine allgemeinhumanitäre und berufsethosgebundene Verantwortlichkeit dem Buchstaben des Gesetzes im außerordentlich extremen Fall vorordnen? Faktisch sind solche Fälle in Kliniken und bei Großunfallen Realität: z. B. Triage-Entscheidungen oder eben leidensminimierende Aktionen bei terminalen Patienten auf der Intensivstation. Sind also Grenzüberschreitungen im humanitären Interesse irgendwie ethisch zu rechtfertigen - selbst wenn der Buchstabe des Gesetzes es generell zu Recht anders geregelt hat? Eine zweifellos brisante Frage, die m. E. in der biomedizinischen Ethik noch nicht genügend diskutiert ist und die Entwicklung der „konkreten Humanitätsethik" auch in der Weise erfordert, daß der entscheidende Arzt eine Verantwortlichkeit wirklich eigenständig wahrnimmt und nicht nur an formelle Vorschriften und Regelungen delegiert. Auch hier, glaube ich, kann Albert Schweitzers einerseits überpenible Ethik der Ehrfurcht vor existierendem Leben aller Arten und überhaupt (zumindest als eine Art von „Kompassethik" im „Dschungel" des Lebens) mit seiner pragmatischen Hemdsärmeligkeit und mutigen Eigenverantwortlichkeit andererseits als Vorbild dienen: Als die Katzen und Kätzchen in Lambarene überhand nahmen, übernahm es der Philosoph der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben selbst, das zwingend Notwendige zu tun und Kätzchen möglichst leidensfrei zu töten - und diese Überwindung und Versündigung kostende Aufgabe nicht einem Bediensteten zu überlassen.
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Vgl. Lenk, H., Konkrete
Humanität,
Frankfurt/M. 1998.
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Grenzen, Grenzziehungen, Grenzsetzungen und Grenzüberschreitungen sind fiir das ethisch-moralische Handeln und Denken eine ständige Herausforderung, ganz unabhängig davon, ob es sich um absolute Moral im Sinne eines moralischen Realismus oder um mit Allgemeinverbindlichkeitsanspruch der menschengemachten Regeln handelnde Konzeptionen und Begründungen handelt. Sie sind durch die Entwicklung der modernen hochindustrialisierten Gesellschaft und der weltweiten Auswirkungen von Aktionen, Planungen, Strukturierungen - also mit der ungeheuerlich gewachsenen Aktions- und Wirkungsmacht menschlicher Maßnahmen und Einwirkungen - erheblich gewachsen. Die Problematik ist brisant. Dabei steht auch die Gesamtkonzeption einer allgemein-humanistischen bzw. humanitären Ethik und Moralorientierung bzw. Begründung auf dem Tapet, nicht nur die von Robert Spaemann zu Recht ironisierte „universale Optimierungsstrategie" gleichsam spieltheoretisch vorgehender konsequentialistischer und utilitaristisch vorgehender Ethiken, die „der Technik nicht Grenzen" setzen, sondern „sich selbst als Technologie, als Anweisung zur Herstellung wertvoller und wünschenswerter Zustände" verstehen: „Seither gibt es einen Ethikboom." „Angewandte Ethiker11,, werden immer mehr gebraucht. Sie sind nützlich, weil sie gegenüber technischer Betriebsblindheit (immerhin, H. L.) an Akzeptanzkriterien erinnern und so Akzeptanz für das sichern, was auf die Länge ohnehin geschieht. Sie helfen, das Tempo von Veränderungen sozialverträglich zu regulieren (Spaemann, 2001, 12).12 Freilich hat Spaemann insoweit recht: Wenn nur die „Zukunftschance" als „entscheidendes Kriterium für die Beurteilung einer Ethik" gilt (wie er es dem Küngschen Projekt „Weltethos" vorhält), sind die eigentlichen Grundintuitionen des Moralischen und Ethischen (seien diese nun absolut, theonom oder konkret-human) bereits tendenziell verloren, weil instrumentalisiert und funktionalisiert: „Eine Ethik, die nicht bereit ist, auf der Verliererseite zu stehen, verdient den Namen nicht." Dieses mutige Wort des Meisters des elementaren Denkens in unser Ohr und ins Stammbucht der pragmatischen Ethik! Dazu aber die Frage: Wo ist die (oder eine jeweilige) Grenze zwischen Sieger- und Verliererseite in Sachen Ethik zu ziehen? Gibt es eine solche überhaupt?
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' Man ist natürlich - wenn schon ironisiert wird - gedrängt zu fragen: Wie und wann werden die „immer mehr gebrauchten" „angewandten Ethiker" angewandt? Der vielfach in Anspruch genommene Protest gegen die Instrumentalisierung „angewandter Ethiker" und „angewandter Wissenschaftler" sollte auch dieser Terminologie in unserer bereits recht verkommenen Sprachkultur entgegentreten. 12 Spaemann kann sich nicht verkneifen, ein wenig über die Grenzen kollegial wohlwollender Untersteilbarkeit hinaus zu gehen, indem er schreibt: „Da sie statt des Guten immer das Beste wollen, gilt für sie wie einst fur Lenin, der ja auch das Beste wollte - : ,Uns ist alles erlaubt'."
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Arten und Ursprünge ethischer Grenzen
Ethik, vor allem angewandte Ethik, soll Grenzen setzen. Das wird immer wieder von ihr gefordert gerade auch in öffentlichen Stellungnahmen. Warum verlangen die Menschen eigentlich nach Grenzen ihres Handelns? Wollen Sie nicht, im Gegensatz dazu, auch Grenzerfahrungen machen, Grenzen überschreiten, hinausschieben? Sind nicht gerade heute „Visionen" gefragt, die Grenzen hinter sich lassen und in Neuland des bisher Unvorstellbaren vorstoßen? Der visionäre Gedanke, der Grenzen in Frage stellt und die Welt aus neuen Blickwinkeln betrachtet, gehört sicher auch zur Philosophie. Aber es hat den Anschein, als gehöre er nicht der Ethik, sondern anderen Gebiete der Philosophie an, vielleicht der Ontologie oder der Ästhetik. Die Ethik dagegen hat, so scheint es, den konservativen Part zu spielen. Ob das so ist, hängt sicher vom Verständnis der Ethik ab und von dem Typus der Ethik, den man für überzeugend hält. Es lässt sich aber kaum bezweifeln, dass in der Tradition der philosophischen Ethik das Aufzeigen von Grenzen und die Forderung, sie einzuhalten, eine große Rolle gespielt hat. Dabei geht es nicht nur um die Grenzen gegenüber anderen Menschen, sondern auch gegenüber der Menschheit als ganzer - etwa im Tötungsverbot oder im Kannibalismustabu - und gegenüber dem Übermenschlichen, wenn es denn für existent und erfahrbar gehalten wurde. Dass Menschen nach Grenzen des Handelns und Verhaltens verlangen, hat verschiedenartigste Gründe, darunter psychologische, soziale und kulturgeschichtliche (1) Psychologische Gründe haben es mit dem Finden und Bewahren einer Identität zu tun, die mit bestimmten Lebensweisen und Gewohnheiten verbunden ist, mit der Abgrenzung von anderen, vor allem von anderen Gruppen, aber auch mit der Entlastung von Entscheidungen, von Schuldgefühlen, Gewissensqualen etc. (2) Soziale Gründe für Grenzen des Handelns haben es ebenfalls mit der Abgrenzung von anderen Gruppen zu tun, auch mit der Trennung des Öffentlichen vom Privaten und vor allem mit der Bewahrung der Integrität des Einen gegenüber dem Anderen, seiner Psyche, seines Körpers und seines Eigentums. Auch die Entlastungsfunktion hat ihre soziale Komponente: Grenzen als soziale Verhaltensregeln sichern Erwartungen, schützen vor Enttäuschungen und Konflikt, garantieren Kommunikation und Kooperation. Dafür müssen die Leidenschaften und das „Mehr-haben-Wollen", die Pleonexie, eingegrenzt und beschränkt werden.
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(3) Kulturgeschichtlich schließlich haben Grenzen des Verhaltens, vor allem in Gestalt von Tabus, tiefreichende Wurzeln. Die Verletzung von Tabus, von Grenzen der Stellung des Einzelnen in der Gruppe und der Gruppe im sozialen und natürlichen Kosmos, hatte in bestimmten Kulturen katastrophale Folgen für den Einzelnen, die Gruppe oder sogar den Kosmos selber. Selbstüberschreitung, Hybris und vor allem Verletzung dessen, was höheren Mächten zustand, musste verhindert werden. In der Geschichte der Ethik, so kann man sehr vereinfachend sagen, wurden die Tabugrenzen zunächst durch göttliche Gebote und später durch unbedingte Imperative der Vernunft ersetzt. Wie man bei Tabus nicht nach Begründung fragen darf, bei göttlichen Geboten auf diese Frage nur eine begrenzte Antwort erhält, so kann man Vernunftgebote nur bei Strafe eines Widerspruchs in Frage stellen und ihre Übertretung ist kategorisch verboten - auch wenn von den Folgen nur der innere Würdeverlust bekannt ist. Es gibt allerdings auch andere Traditionen und Richtungen der Ethik, in denen Grenzen im Sinne kategorischer Verbote zumindest nicht im Mittelpunkt stehen. In Tugend-, Güterund Wertethiken ist zwar keineswegs alles erlaubt, aber die Grenzen des Handelns ergeben sich aus den notwendigen Schritten zur Realisierung der Güter. Sie sind also eher sekundäre Bedingungen des Guten als dieses selber. Ich werde im Folgenden zunächst erörtern, welche Arten von Grenzen in der Ethik eine Rolle spielen (I). Dann kehre ich zu der Frage zurück, wie verschiedene Typen von Ethik Grenzen, vor allem moralisch gebotene Grenzen des menschlichen Handelns, bestimmen und begründen. Dabei geht es zunächst um die Ethiktypen, die primär von Grenzen ausgehen (II), danach um diejenigen, die von positiven Gütern auf notwendige Grenzen schließen (III). Am Schluss werde ich die Konsequenzen dieser Unterschiede anhand eines Beispiels der angewandten Ethik erörtern, nämlich dem erlaubten Umgang mit menschlichen Embryonen (IV). I. Über die Grenzen des Handelns in Form von Verboten, Geboten und Erlaubnissen wurde schon Einiges gesagt. Grenzen heißt hier, dass bestimmte Möglichkeiten des Handelns, die dem Handelnden auch zugänglich wären, als moralisch falsch bezeichnet und ihre Übertretungen mit Sanktionen versehen werden - zumindest durch Erregung des Schuldbewusstseins. Von Grenzen kann man hier natürlich auch im Sinne des Umkreises der Handlungen und ihrer Mittel und Gegenstände sprechen, der von dem anderer Personen unterschieden und gegenseitig gesichert wird. Die Frage, wem gegenüber Handlungen abgegrenzt werden müssen, hat es mit einer anderen ethischen Grenzfrage zu tun, nämlich mit der nach dem „moralischen Status". Welchen Betroffenen gegenüber müssen Handlungen begrenzt werden? Nur gegenüber den eigenen Gruppenmitgliedern oder nur solchen Menschen, die ihre Optionen selber begrenzen, oder allen Menschen - und wer zählt dazu? - oder auch gegenüber nichtmenschlichen Lebewesen? Es handelt sich hier also um eine Grenzziehung bzw. Unterscheidung zwischen den von einer Handlung Betroffenen - nämlich zwischen solchen, denen man Ansprüche auf schonende, richtige, respektvolle Handlungen einräumt, und anderen, die solche Ansprüche
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nicht haben. Dabei lässt das auf Grenzen verpflichtete Handeln natürlich Stufen der Rücksichtnahme zu. Eine weitere Art von Grenzen in der Ethik sind die zwischen verschiedenen Sitten-, Werte- und Rechtsgemeinschaften. Gruppen, Völker, Staaten, Kulturen unterscheiden sich nach den Werten, die das Handeln der Individuen bestimmen und den Rechtsordnungen, die bei ihnen gültig sind. Die Frage, wie durchlässig oder undurchlässig diese Grenzen sein sollen, wird vor allem im Zeitalter der Bildung größerer Rechtsräume zu einem dringenden moralischen und rechtlichen Problem, wie die Debatte über das Stammzellenimportgesetz in Deutschland gezeigt hat. Grenzen zwischen verschiedenen Werten, Gütern, auch Rechten gibt es natürlich auch innerhalb solcher Wertgemeinschaften, wenn nicht alle Güter oder Werte gleichzeitig realisiert werden können oder wenn Rechte und Pflichten sich wechselseitig beschränken, so dass sie nicht alle zugleich Berücksichtigung finden können. Daraus resultieren die ethischen Probleme der Kollisionen, Konflikte und Abwägungen zwischen Gütern, Rechten und Pflichten. Schließlich kann man „Grenze" auch ganz vom begrifflichen Unterscheiden her verstehen. Begriffliche Unterscheidungen zwischen moralischen Ansprüchen, aber auch zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch einer Handlung können diffizile Grenzziehungen verlangen. Das gilt schon für die Gegenstände oder Betroffenen der Handlungen, wenn es sich um Prozesse, Entwicklungen, Graduierungen handelt. Begriffliche Abgrenzungen und ethische Unterscheidungen, die angemessen und nicht willkürlich sind, stehen hier in einem umstrittenen Verhältnis der Abhängigkeit, vielleicht sogar der wechselseitigen Abhängigkeit voneinander. Im folgenden Vergleich der Bedeutung von Grenzen in verschiedenen Ethiktypen geht es vorrangig um Handlungsgrenzen in Gestalt von Verbots- und Erlaubnisregeln. Die übrigen Arten von Grenzen, vor allem die Frage nach dem moralischen Status, werden vor allem im letzten Abschnitt (IV) eine Rolle spielen. II. Welche Bedeutung haben ethische Grenzen, vor allem Grenzen des erlaubten Handelns, in verschiedenen Ethiktypen? Ich beginne mit den ethischen Traditionen, in denen Grenzen im Zentrum stehen, sowohl was Gewicht wie Begründung angeht. Das sind sicher Tabuethiken (1), Verbots- und Gebotsethiken (2) und Pflichtenethiken (3). (1) Tabus sind die klassische Form, Grenzen zu ziehen und zu sichern, die von unbedingter Bedeutung und Geltung sind. Ihre Verletzung zieht unmittelbar katastrophale Folgen für den Täter, seine Gruppe, aber auch objektive Güter wie die soziale, religiöse, sogar kosmische Ordnung nach sich. Tabus können und dürfen nicht begründet werden. Wer nach Gründen fragt, erkennt sie als Tabus nicht mehr an, und wer sie begründen will, gibt sie als solche schon auf. Es gibt viele verschiedene Arten von Tabus und verschiedene Weisen ihrer Einfuhrung, nicht nur durch religiöse Autoritäten, sondern offenbar auch durch kollektive Scheu, Ab-
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scheu oder Faszination.1 In der Geschichte der Sitten und der Ethik sind viele Tabus gelokkert und aufgegeben worden, in der Moderne vor allem im Bereich der Sexualität und der Kleidung. Offenbar sind aber sowohl Tabus selber, wie Argumente, die auf Tabus verweisen, auch in der Gegenwart nach wie vor von Bedeutung. Grenzen des Privaten und des Öffentlichen, des Werks- und des Feiertagsverhaltens, auch der Benutzung bestimmter Symbole, werden als Tabugrenzen betrachtet und behandelt. In der angewandten Ethik werden Tabuargumente vor allem in zwei Formen verwandt: Zum einen argumentiert man mit „Hemmschwellen", die etwa durch Lockerung des Tötungstabus abgebaut würden. Wenn dabei der soziale Nutzen von Tabus und die Dammbruchgefahr den Hintergrund bilden, haben wir es freilich schon nicht mehr mit einem reinen Tabuargument zu tun. Aber die These, nur Tabus könnten Grenzen gegen Schädigung durch gewaltsames Handeln aufrechterhalten, setzt auf die nach wie vor bestehende starke emotionale und nahezu körperliche Bindung durch unbefragte Grenzen, die man nur bei Schaden für die eigene Identität und bei Strafe von Gewissensqualen überschreitet. Im Gegensatz zu dieser starken Bindungskraft steht die Brüchigkeit von Tabus, wenn sie als unnötige Fesseln empfunden werden und wenn sie auf unglaubwürdigen Grenzziehungen beruhen. In einer auf Prinzipien der Autonomie und der gemeinsamen Gesetzgebung basierenden Gesellschaft dürfen sich nämlich gesetzliche Grenzziehungen in all den Fällen nicht der Rechtfertigung entziehen, in denen sie als willkürliche Eingrenzungen legitimer Interessen oder anerkannter Güter betrachtet werden können. Nehmen wir das Beispiel der aktiven Sterbehilfe: Der autonome, irreversible und nachvollziehbare Wunsch, von einem aussichtslosen Leiden oder würdelosen Leben befreit zu werden, kann nicht einfach durch Hinweis auf ein Tabu abgewiesen werden. Hier müssen Grenzziehungen schon mit anderen Argumenten begründet werden - und die These, dass nur Tabus wirksame Hemmschwellen sind, bedarf zumindest empirischer Stützung. Das andere Argument, das in der angewandten Ethik Tabus sozusagen „beerbt", bezieht sich auf die identitätsstiftende Kraft unbefragter Lebensformen. In einer Welt, in der bestimmte Praktiken der künstlichen Fortpflanzung und der Selektion des Nachwuchses erlaubt seien, könne man, so wird oft behauptet, nicht mehr menschlich leben. Hier wird fraglose Übereinstimmung in Lebensformen als Basis einer Werte- und Traditionsgemeinschaft in Anspruch genommen. In der modernen demokratischen Gesellschaft steht aber nahezu ständig zur Diskussion, was zu diesen Übereinstimmungen zählt und was nicht. Gerade im Bereich der Sexualität und der Reproduktion sind die Grenzen dessen, was von unbezweifelten Übereinstimmungen getragen wird, in unablässiger Bewegung. Das betrifft inzwischen auch die Begriffe, die den Kernbestand der Grundrechte ausmachen: Leben, Personalität und Menschenwürde. Tabus allein werden hier zu keiner legitimen und dauerhaften Entscheidung fuhren können, wenngleich der Appell an die Vorstellungskraft hinsichtlich humaner Lebensformen sicher ein legitimer Zug der Debatte ist. (2) Kommen wir zu den Verbots- und Gebotsethiken. Natürlich sind auch Tabus Verbote, aber hier geht es um Verbote, die mit Begründungen versehen sind. Solche Begründungen können sich auf die Autorität der Urheber der Gebote, auf legitime Verfahren, oder auf verschiedene Arten unterstellter oder faktischer Zustimmung der Normadressaten stützen. 1
Zur Geschichte und Theorie des Tabus vgl. K. Seibel. Zum Begriff des Tabus. Eine soziologische Perspektive, Diss. Frankfurt/M. 1990.
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Die Autorität kann sich auf Offenbarung und ihre Interpreten oder auf religiöse und politische Herrschaft in den verschiedenen Arten der Legitimationen stützen, wie sie etwa Max Weber unterschieden hat.2 In den modernen Staaten gehören zur Herrschaft kraft „Satzung" verschiedene Verfahren der Legitimierung von Verboten und Geboten. Ihre Legitimation speist sich aus verschiedenen Quellen: 1. aus der Neutralität, Willkürfreiheit und Verlässlichkeit; 2. aus ihrer Funktionalität für die Sicherung bestimmter Werte wie Gleichheit, Unparteilichkeit, Fairaess und bestimmte Formen der Mitbestimmung; 3. aus der unterstellten Zustimmung zu den Geboten. Sie setzen dem Individuum, sowohl dem „gewöhnlichen" wie dem mit Herrschaft betrauten, Grenzen seiner Willkür mit dem Anspruch, zugleich seine eigene vernünftige Überlegung oder seine objektiven Interessen zu repräsentieren. Dass Verbote bestimmter Handlungen im Interesse des Adressaten liegen, gehört auch zu den Begründungen geoffenbarter oder kraft Autorität verhängter Gebote. Aber zum einen kann auch ein anderer Zweck damit verfolgt werden - etwa die Ehre Gottes, die wahre Weltordnung oder der „absolut gültige" Wille des Herrschers. In den Fällen, in denen solche Grenzziehungen unerforschlich sind oder schlicht Ausdruck eines absoluten Willens, kommen sie der Grenzziehung durch Tabus sehr nahe. Die unterstellten Gründe, aus denen Individuen Grenzziehungen durch legitime Autoritäten akzeptieren sollten, sind in der neuzeitlichen Ethik und Rechtsphilosophie im Wesentlichen von zwei verschiedenen Arten: Es sind entweder Gründe, die jedem Menschen als einem natürlichen, aber mit instrumenteller Vernunft selbstgesteuertem Wesen eigen sind vor allem Selbsterhaltung und vorteilhafte Kooperation - , oder solche, die in seiner Vernünftigkeit selber liegen. Grenzen der ersten Art sind solche, die jedes Individuum auch von jedem möglichen Kooperationspartner verlangen würde. Darauf beruhen seit Hobbes vor allem Vertragstheorien des Rechts und der Ethik. Grenzen der zweiten Art hängen mit der Fähigkeit zusammen, sich als Vernunftwesen selbst zum Zweck zu haben und andere als Selbstzweckwesen nach allgemeinen Regeln zu behandeln. Sie dominieren in der Kantischen Tradition. Es gibt einige notorische Probleme mit dieser Art der Begründung von Grenzen des Handelns, die in der modernen Diskussion vor allem der angewandten Ethik mit neuer Schärfe bewusst geworden sind. Zum einen die Frage, wer zu den Vernunftwesen oder möglichen Kooperationspartnern gehört, denen solche Gebote und Verbote zugute kommen sollen. Aus Überlegungen des Vorteilstausches ist schwer plausibel zu machen, dass man Wesen, die nur mit geringer Wahrscheinlichkeit jemals Kooperationspartner werden, als Adressaten der Einschränkung eigener Handlungen betrachten soll. Und auch die Überlegung, dass man selber ein solches Wesen hätte sein können, setzt voraus, den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem ein menschliches Wesen überhaupt geschädigt werden kann. Diesen Zeitpunkt können aber auch die Theorien des Selbstzweckcharakters und der Nichtinstrumentalisierbarkeit von Vernunftwesen nur schwer bestimmen. Entweder binden sie ihn an den aktualen Vernunftgebrauch - dann laufen sie ebenso Gefahr, Menschen auszuschließen, die nach vielen Rechtstraditionen selbstverständlich Nutznießer von Grenzzie2
Max Weber, „Politik als Beruf', in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. v. J. Winckelmann. 5. Aufl. Tübingen 1988, 507 ff. Vgl. ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 5. revidierte Auflage, hg. v. J. Winckelmann. Studienausgabe Tübingen 1976, 1. Kapitel, vor allem §§ 2-10.
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hungen sein sollten. Oder sie binden die Vernunft an eine biologische Gattungszugehörigkeit oder einen bestimmten Grad der Entwicklung zu einem vernünftigen Wesen - beides folgt aber nicht aus der Struktur der Vernunft selber. Die zweite Schwierigkeit, mit der die Theorie der unterstellten Zustimmung zu kollektivautonomen Grenzziehungen durch Verfahren heute konfrontiert ist, liegt in Folgendem: Nur ein Bruchteil der Grenzziehungen in modernen Rechtsstaaten kann wirklich als Bedingung der Kooperation oder der Nichtinstrumentalisierung verstanden werden. Eine Fülle von Verboten und Geboten folgt aus anderen Gütern oder Werten, die in einer modernen Gesellschaft realisiert werden sollen. Arbeit, Bildung, Freizeit, Mobilität, Formen des Konsums und der Unterhaltung müssen durch gemeinsame Veranstaltungen ermöglicht bzw. gesichert werden, die den Bürgern Verhaltensweisen vorschreiben und Lasten auferlegen. Zu diesen Einschränkungen kann Zustimmung nicht „transzendental", sondern nur durch bestimmte Formen der Meinungserkundung unterstellt oder erworben werden. Dafür aber kommt es darauf an, den Wert der angestrebten Ziele und Güter zu rechtfertigen, die Grenzen des Verhaltens nötig machen. Die gebotenen Grenzen des Verhaltens sind also sekundäre Folgen der Güter. Bevor ich auf die Ethiken eingehe, die dieses Verhältnis in das Zentrum ihrer Konzepte rücken, sei aber noch ein Blick auf das Verhältnis von Pflichten und Grenzen geworfen. (3) Auch Pflichten sind Gebote und Verbote, bestimmte Handlungen auszuüben bzw. zu unterlassen, also Grenzen des erlaubten Handelns. Sie beziehen sich allerdings in der Regel nicht auf einzelne Handlungen, sondern auf Handlungstypen. Außer verbotenen Handlungen und gebotenen Unterlassungen enthalten sie aber auch positive Güter, zu deren Realisierung oder Erhaltung sie beitragen. Dazu gehören alle - mit Kant gesprochen - auf fremde Glückseligkeit zielenden Pflichten,3 aber auch solche, die gemeinsame Güter wie die äußere Sicherheit, den inneren Frieden oder ein bestimmtes kulturelles Niveau schützen sollen.4 Das Gebot, bestimmte Leistungen zu erbringen, ist also eine Konsequenz aus den angestrebten Gütern und ein Mittel, sie zu erreichen. Leiten wir also in der Pflichtenethik die Grenzen von den Gütern ab statt umgekehrt? Die Frage ist nicht für jede Pflichtenethik gleich zu beantworten. Das zeigt sich bereits bei einem Blick auf das Verhältnis zwischen den Gütern der Tugenden und den Pflichten. Aristoteles leitet zweifellos die Pflichten von den Tugenden ab, wenn er im 5. Buch der Nikomachischen Ethik die meisten Tugenden als Handlungsweisen erklärt, auf die der Andere und die Gemeinschaft ein Recht haben, so dass sie also nicht bloß lobenswerte, schöne und edle Handlungsweisen sind, sondern auch Pflichten.5 Kant dagegen bestimmt in der Metaphysik der Sitten die Tugenden von den Pflichten und diese von der Abwehr des Einflusses unvernünftiger Impulse auf das menschliche Verhalten her.6 Man kann also entweder die Grenzen, das Abzuwehrende, in den Vordergrund einer Pflichtenlehre stellen, oder die
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I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil, „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre", Akademie-Textausgabe, Bd. VI., Berlin 1968, 393. Vgl. J. Waldron, „Can Communal Goods be Human Rights?", in: ders., Liberal Rights. Collected Papers 1981-1991, Cambridge/New York/Oakleigh 1993, 339-369. Vgl. Nikomachische Ethik 1129 b 20 ff., 1130 b 22 ff. Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie Textausgabe Bd. VI (o. Anm. 3) 394.
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Güter, seien es die lobenswerten Handlungen und Haltungen (Tugenden) oder andere zu realisierende Werte. In der modernen Ethik wiederholt sich diese Alternative in der Debatte um Konsequentialismus oder Wertethik auf der einen Seite und Deontologie auf der anderen. Lassen sich die Güter, einschließlich des zentralen Werts des menschlichen Lebens, allein aus unseren Pflichten zum Respekt gegen andere Menschen ableiten - wie Thomas Scanion in seinem Buch What We Owe to Each Other argumentiert hat?7 Oder folgt der gebotene Respekt umgekehrt aus dem von fast allen Menschen positiv erfahrenen Wert des menschlichen Lebens? Ist etwa das Eigentum primär der positive Wert, den eigenen Willen in Sachen zu legen und sie einem ungestörten selbstgesetzten Zweck zuzuführen? Oder haben wir, wie Fichte sagt, eine Pflicht, den anderen die Grenzen aufzuzeigen, jenseits derer sie schuldhaft in unsere eigene Sphäre eindringen würden?8 Es läge nahe, bei dieser Frage auf die Hegeischen Reflexionen über die Dialektik von Etwas und Anderem, Für sich und Für anderes, positives und negatives Setzen und Überschreiten von Grenzen einzugehen.9 Das Resultat der Hegeischen Begriffsbestimmung der Grenzen und Bestimmtheiten des Rechts10 ist für die moderne Diskussion durchaus von Bedeutung: Grenzen lassen sich danach nur aus einem Gesamtsystem der Freiheit und der Gerechtigkeit bestimmen, und sie sind von diesem System her in einer Hierarchie der Gewichtigkeit und der „Durchlässigkeit" (z. B. striktes Recht versus Billigkeit) zu begreifen. Hier geht es mir aber um die Bedeutung der Grenzen in verschiedenen Ethik-Typen. III. Um das Verhältnis zwischen Grenzen, d. h. Einschränkungen des Handelns und positiven Gütern bzw. Werten weiter zu klären, wende ich mich zunächst denjenigen Typen der Ethik zu, die Grenzen als Folgen bzw. Mittel der Realisierung positiver Güter oder Werte verstehen und begründen. Der Kürze halber beschränke ich mich auf Tugend- (1) und Wertethiken (2).
(1) Über das Verhältnis von Tugenden und Geboten bzw. Verboten ist vorhin schon Einiges gesagt worden. Nehmen wir eine klassische positive Tugendlehre wie die Aristotelische, so spielen Grenzen in zwei verschiedenen Bedeutungen eine Rolle: Zum einen darf natürlich auch der Tapfere, Großzügige, Beherrschte bestimmte Dinge nicht tun bzw. bestimmte Gefühlsregungen nicht zeigen. Zum anderen kann man die Mesotes-Lehre als Finden der Grenze zwischen dem richtigen Maß und dem Übermaß bzw. Mangel bestimmter handlungslei-
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T. M. Scanion, What We Owe to Each Other, Cambridge/Mass., London, 1998. J. G. Fichte, „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre", § 12 (Sämtliche Werke, hg. v. I. H. Fichte, III, 127). G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Erstes Buch. Zweites Kapitel, B. b) Bestimmung, Beschaffenheit und Grenze. In seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vgl. dazu L. Siep (Hg.), G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Reihe „Klassiker auslegen", Bd. 9. Berlin 1997.
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tender Emotionen verstehen." Das Lernen der Tugenden muss zudem durch gesetzliche oder erzieherische Verbote befördert werden. Ziel ist aber eine Einstellung, in der das richtige Maß nicht durch die Anwendung von Regeln, sondern durch die Wahrnehmung der Weise getroffen wird, wie in bestimmten Situationen die Affekte und Handlungsrichtungen zu proportionieren sind. Im Vordergrund stehen dabei die zu verwirklichenden Güter, darunter vor allem die Tugenden selber. Auch bei Aristoteles geht es aber um ein „Gesamtgut", das aus einer wechselseitigen Ergänzung von Tugenden beim umfassend Gerechten12 und ethisch Klugen (phronimos) resultiert, oder das ein Ganzes von Zwecken darstellt wie beim Glück (eudaimonia) des Einzelnen oder dem Wohl der Polis. Daraus ergeben sich die notwendigen Regeln und Grenzen. Allerdings ist bereits die Bestimmung und Abgrenzung der Güter, wie sich bei den Tugenden zeigt, nicht unabhängig von Grenzen - Grenzen des richtigen Maßes und der Unterscheidung vom Schlechten, das gute Gesetze verbieten müssen. (2) Werfen wir zuletzt noch einen Blick auf Wertethiken anderer Art. Mit der Tugendethik haben wir schon einen Spezialfall von Wertethiken erörtert. Generell kann man Wertethiken in solche eines aggregierten Gesamtwertes, wie im klassischen Utilitarismus, und solche eines Systems von nicht- oder nur teilweise quantifizierbaren und addierbaren besonderen Werten (Tugendethik, materiale Wertethik etc.) unterscheiden. Dazu kann auch die Verwirklichung von Rechten gehören. Für eine Ethik der Nutzenmaximierung ergeben sich die Grenzen des Handelns aus dem Beitrag einer jeden Handlung oder Handlungsregel zu der vorhersehbaren Optimierung der Zu- und Abnahme von Freud und Leid bei allen Betroffenen. Dabei sind sowohl die positiven Güter wie die negativen Handlungsverbote von Bedeutung. Zum einen sind Freuden, zu denen man beitragen soll, und Leid, das man verhindern soll, in vielfacher Weise positiv bzw. qualitativ zu bestimmen, sei es auf Grund kollektiver Erfahrungen oder privater Präferenzen. Das Gleiche gilt für die Arten zu vermeidenden Leides. Auf der anderen Seite soll in jedem Fall Leid durch die Zufügung von Schmerz oder die Frustration von Wünschen vermieden werden. Dafür sind Verbote von Handlungen und Handlungsweisen nötig. Allerdings ist dem Utilitarismus immer wieder vorgeworfen worden, keine unbedingten Verbote anzuerkennen, da extrem schlechte Folgen jedes Gebot außer Kraft setzen können. Zumindest in Extremsituationen haben die Güter offenbar einen Primat vor den Grenzen. Für die übrigen nicht quantifizierbaren Wertethiken kommt es darauf an, ob Werte Inhalt eines offenen Prozesses von Bewertungen und Werterfahrungen sind, oder ob sie a priori erkannt werden können. Ferner können sich Wertethiken nach dem Grad der Erkennbarkeit und dem Verhältnis von Werten und Unwerten zueinander unterscheiden. Sind Werte a priori erkennbar und lassen sich Handlungen, die Werte verhindern oder Unwerte herbeiführen, deutlicher erkennen als das Gegenteil, so werden negative Grenzziehungen und Verbote im Vordergrund stehen. Ist Werterkenntnis aber von Erfahrungen abhängig und stehen dabei positive Werte im Vordergrund, dann wird die Begrenzung des Handelns erst eine Folge der Erkenntnis und Beförderung von Werten bzw. eines guten, wertvollen Zustands sein. 11
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Zur aristotelischen Lehre von der Mesotes, der „Mitte" bzw. dem richtigen Maß der Affekte beim Handeln vgl. U. Wolf, „Über den Sinn der aristotelischen Mesotes-Lehre", in: O. Höffe, Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, (Klassiker auslegen Bd. 2), Berlin, 83-108. Nikomachische Ethik 1129 b 26 ff.
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IV. Anstelle eines allgemeinen Vergleichs der Stärken und Schwächen der erörterten Ethiktypen will ich einen Blick auf die gegenwärtige Diskussion über den Umgang mit dem beginnenden menschlichen Leben werfen. In der öffentlichen und in der philosophischen Diskussion stehen sich hier deutlich ethische Positionen gegenüber, die entweder von Grenzen, primär von Verboten, ausgehen oder aber von Gütern bzw. Werten. Nehmen wir als Beispiel die Embryonenforschung, so steht für die einen das Verbot der Zerstörung oder Instrumentalisierung des menschlichen Lebens im Vordergrund, für die anderen der Fortschritt in der Erkenntnis der Entwicklung des gesunden und kranken menschlichen Körpers sowie die dadurch vielleicht mögliche Hilfe für schwere Massenkrankheiten.13 Die Vertreter der strengen Begrenzung der menschlichen Handlungsfreiheit am biologischen menschlichen Leben - von seinen ersten Anfängen an - halten die Güterabwägungen zwischen dem Wohl der Kranken und dem Verbrauch eines im Labor hergestellten Embryos nicht für zulässig. Damit werde etwas Unbedingtes, das menschliche Leben und seine Würde, gegen bedingte Güter abgewogen. Die Begründung für das Verbot der Beendigung menschlichen Lebens wird dabei teils mit Tabuargumenten, teils mit Begriffen der Person, der Menschenrechte, der Mitgliedschaft jedes Gattungsangehörigen in der Rechtsgemeinschaft usw. geliefert. Die in diesen Argumenten enthaltenen Güter und Zwecke werden von den „Güterabwägungsethiken" - wie man sie vereinfachend nennen kann - nicht bezweifelt. Die Menschenwürde, der Lebensschutz, die Sicherheit der Schwachen vor der Gefahr, von den Starken - in diesem Fall den Mündigen, an der Gesetzgebung aktiv Beteiligten - von der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen zu werden, gelten ihnen ebenfalls als hochrangige Güter und Werte. Dafür sind Grenzziehungen und Verbote nötig. Umstritten ist allenfalls, ob die Entlastung und die Identitätsstiftung durch Tabus oder ähnliche absolute Verbote in einer modernen Gesellschaft noch als Güter zu betrachten sind. Der eigentliche Dissens, um den Primat der Verbote oder der Güterabwägung geht bekanntlich um etwas anderes, nämlich um den Status des beginnenden menschlichen Lebens. Es geht also um eine Grenzziehung im Hinblick auf den moralischen Status. Hier stehen sich zunächst die Position der absoluten und der graduellen Zuschreibung von Leben, Individualität, Menschenwürde und Schutzrechten gegenüber. Es geht also um die zunächst theoretische Grenzziehung im Bereich des biologischen und ontologischen Status, der seinerseits Grundlage eines moralischen Status, d. h. eines Anspruchs auf Grenzen des Verhaltens gegenüber dem Träger ist. Auf dieser Ebene lässt sich der Streit derzeit nicht mit Argumenten entscheiden, die alle Positionen überzeugen. Er beruht auf einem noch grundsätzlicheren Dissens über das begriffliche Verfahren der Bestimmung eines solchen Status. Offenbar gibt es zumindest drei verschiedene Verfahren, die den unterschiedlichen Positionen zugrunde liegen: 13
Vgl. dazu auch L. Siep, „Kriterien und Argumenttypen im Streit um die Embryonenforschung in Europa2, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Berlin 2002, 179-195; ferner - vor allem zu den juristischen Argumenten - R. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, München 2002. Zur öffentlichen Debatte vgl. J. Nida-Rümelin. Ethische Essays, Frankfurt/M. 2002. Vierter Teil. „Bioethik und Menschenwürde: Dokumentation einer Debatte", 405-469.
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(1) Das erste bestimmt den Beginn des menschlichen Lebens naturwissenschaftlich und setzt diesen biologischen Begriff des Menschen mit dem gleich, dem unsere ethischen und rechtlichen Traditionen moralische Ansprüche zumessen. Freilich sind naturwissenschaftliche Begriffe und ihre Gegenstände überwiegend selber graduell. So gilt in diesem Falle nicht die Eizelle ab dem Eindringen des Spermas als der Beginn des Lebens, sondern erst nach Abschluss der Verschmelzung, also dem Entstehen des neuen Genoms. Es ist also nicht die Entwicklungskontinuität der Zelle, sondern die der Erbanlagen und der beginnenden Selbststeuerungsfahigkeit der Zelle, die für den Beginn des Lebens maßgeblich sein soll. In jedem Fall aber bemüht sich dieses Verfahren der Begriffsbildung um einen außerhalb der Ethik in der Biologie liegenden archimedischen Punkt, dem der moralische Status zugeordnet wird. (2) Das zweite Verfahren geht hingegen davon aus, dass der moralische Status aus dem abzuleiten ist, was sich Moral- und Rechtssubjekte gegenseitig als Ansprüche konzedieren. Entweder versteht man Rechte und Pflichten als vernünftige Verhältnisse von Personen, also Wesen, die - mit Kant gesprochen - der Zurechnung fähig sind und sich selbst unter allgemeine vernünftige Gesetze stellen.14 Oder man geht von Wesen aus, die einander Leid ersparen und zu gegenseitigem Vorteil miteinander kooperieren wollen, wie im Utilitarismus oder den Vertragstheorien der Moral. In beiden Fällen kann man entweder das Vorhandensein dieser Fähigkeiten oder aber die aktive Potenz, sich zu einem solchen Wesen zu entwickeln,15 zur Bedingung des moralischen Status machen. Im letzteren Fall wird man wiederum biologische Argumente zur Stützung heranziehen. (3) Das dritte Verfahren geht davon aus, dass die Zuschreibung eines bestimmten moralischen Status sowohl vom ethisch-praktischen Umgang wie von theoretischen Erkenntnissen abhängt. So waren offenbar in der Vergangenheit Theorien der Beseelung sowohl von den Sitten im Umgang mit dem frühen menschlichen Leben bestimmt wie von religiösen oder metaphysischen Erklärungen des Lebensbeginns. In der Gegenwart sind die letzteren als wissenschaftliche Erklärungen der biologischen Prozesse zwar entkräftet. Trotzdem spricht Vieles für eine solche graduelle Betrachtungsweise: Die Sitten und Rechte im Umgang mit dem beginnenden Leben - die künstliche Herstellung von Embryonen, die Erlaubnis zur Verhinderung ihrer Einnistung und die begrenzte Erlaubnis zum Abbruch bestehender Schwangerschaften - legen eine Verbindung mit theoretischen Erklärungen der graduellen Entwicklung, Differenzierung und Verselbständigung des menschlichen Lebens nahe. Der Wandel in den praktischen Einstellungen reflektiert den zunehmend kontrollierten und zweckgebundenen Umgang mit der menschlichen Sexualität und Fortpflanzung. Sexualität und Reproduktion wurden durch die (biochemische) Empfängnisverhütung entkoppelt. Die Störungen der menschlichen Reproduktion werden durch die assistierte Befruchtung technisch ausgeglichen. Frauen wird gestattet, eine für sie gegenwärtig oder in ihren Folgen unzumutbare Schwangerschaft abzubrechen. Der natürliche Vorgang der Reproduktion wird also in hohem Maße geplant und teilweise technisch gesteuert, um damit bestimmte Zwecke und Güter zu erreichen, Leiden und Belastungen aber zu verhindern. Von daher erscheint auch der Status eines zu bestimmten 14
Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie-Textausgabe Bd. VI (vgl. o. Anm. 3), 223.
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Zum sog. Potenzialitätsargument vgl. W. Lenzen, Liebe, Leben, Tod. Eine moralphilosophische Stuttgart 1999, 152 ff., 278 ff.
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Zwecken erzeugten frühen Embryos vor der gewollten - oder verweigerten - Einpflanzung als grundsätzlich verschieden von dem eines menschlichen Wesens, das im Mutterleib auf dem Wege zur Geburt ist oder gar schon geboren wurde. Die drei genannten Verfahren, den Status der menschlichen Rechtsträger zu bestimmen, sind selber noch keine ethischen Theorien. Aber sie sind auch nicht gänzlich unabhängig von Ethiktypen. Ethiken, die Gütern und Werten einen Vorrang vor Grenzen und Verboten geben, werden eher zu dem dritten Verfahren der Statusfestlegung tendieren. Wer Ethik dagegen primär als Begrenzung menschlichen Handelns gegenüber Rechten anderer versteht, wird eher zu einem der beiden ersten Verfahren neigen. Das entscheidet allerdings noch nicht darüber, ob man eher von einer biologischen Statusbestimmung ausgeht oder aus den Vernunft- oder nutzenethischen Prämissen selber den moralischen Status zu bestimmen sucht. Die beiden zuerst erörterten Verfahren gehen von einer Trennung der biologischen und ethischen Perspektive aus, die sie dann nachträglich verbinden. Es fragt sich, ob der Einheit unserer Lebenswelt als Basis der Ethik nicht eher eine aus der menschlichen Praxis stammende, zugleich beschreibende und wertende Sicht der natürlichen und technischen Prozesse gerecht wird. Sicher kann der moralische Status eines Wesens nicht gänzlich von unserem Umgang mit ihm abhängen. Aber der Wandel von Praktiken und Lebensformen ändert auch die ethische Sichtweise. So ist etwa mit der Milderung der Knappheit auch die Ungleichheit zwischen Ständen und Geschlechtern abgebaut und die Kontrolle des Individuums durch die Gruppe gelockert worden. Wenn entsprechend ein gewisses Maß an zweckorientiertem, planendem und herstellendem Umgang mit dem frühesten menschlichen Leben vor seiner Bestimmung zur Geburt durch die Implantation ethisch zulässig erscheinen sollte, dann müssen allerdings zwei Probleme bewältigt werden: 1. Die Zugehörigkeit zu den Nutznießern des Rechtsschutzes darf nicht nach dem Kooptations- oder Klubmodell vergeben werden. Vielmehr muss sie ebenfalls an überzeugende Stufen der biologischen Entwicklung gekoppelt werden. 2. Das Wert- und Güterkonzept darf keinen starken Wertobjektivismus implizieren, der ohne Rücksicht auf autonome oder antizipierte Interessen über den Wert menschlichen Lebens entscheidet. Dass nach der Nidation nur noch das Gut der mütterlichen Gesundheit mit dem des embryonalen Lebens konkurrieren kann, steht außer Frage. In den Fragen des Lebensanfanges, wie in der Ethik generell, geht es ebenso um die Realisierung von Gütern und Werten wie um die Bewahrung von Grenzen, die wechselseitige Ansprüche sichern. Verbots- und Pflichtenethiken kommen nicht ohne die Annahme guter und darum erstrebenswerter Zustände aus.16 Umgekehrt gehört zu den höchstrangigen Gütern, die Tugend- und Wertethiken zu verwirklichen fordern, ohne Zweifel der Rechtsschutz. Man kann vermuten, dass autonome, mit der Verschiebung von Grenzen vertraute Individuen, die sich die Realisierung von Gütern auch unter unbestreitbaren Risiken zutrauen, eher zu Güter- als zu Verbotsethiken tendieren werden. Aber das ist eine historische Prognose, die den ethischen Grundlagenstreit nicht erübrigt.
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Vgl. dazu F. v. Kutschera, Grundlagen der Ethik, 2. Aufl. Berlin/New York 1999, 265.
DIETER BIRNBACHER
Grenzen von Grenzen: Schwierige Grenzziehungen in der angewandten Ethik
1. Einleitung Grenzen zu ziehen ist eine der zentralen Aufgaben der Moral. Gleichgültig, wie eine Moral im einzelnen näher beschaffen ist, ihrem Begriff wird sie nur gerecht, wenn sie bestimmte Handlungsweisen als moralisch unzulässig aus dem Bereich der wählbaren Verhaltensoptionen ausgrenzt. Eine Moral ist nicht zu denken ohne ein Moment des Normativen und der damit einhergehenden Kennzeichnung bestimmter Handlungen oder Handlungsweisen als moralisch falsch, unzulässig oder verboten. Nur so wird die Moral ihren Funktionen als soziales Regelsystem gerecht: den gesellschaftlichen Funktionen der Verhaltenskoordinierung und den individuellen Funktionen der Verhaltens Orientierung. In gesellschaftlicher Hinsicht kann die Moral nur dadurch, dass sie eine Grenze zwischen Verbotenem und Erlaubten zieht und diese Grenze mit den ihr eigentümlichen äußeren und inneren Sanktionen sanktioniert, ihren Beitrag leisten zur Schaffung und Aufrechterhaltung von sozialem Vertrauen, zur Minderung von Angst und Unsicherheit, zur gewaltlosen Konfliktbewältigung und zur Eröffnung von Chancen problemloser Kooperation zum wechselseitigen Vorteil. In individueller Hinsicht kann sie nur dadurch, dass sie bestimmte Handlungsoptionen als unwählbar ausgrenzt, ihren Beitrag leisten zu individueller Orientierungssicherheit, Identitätsfindung und Charakterbildung. Für die Ethik als die philosophische Theorie der Moral gilt dies nicht mit derselben Eindeutigkeit. Nicht jede Ethik ist normativ in dem Sinne, dass sie moralische Normen postuliert oder begründet. Für die Ethikkonzeptionen etwa von Spinoza oder Schopenhauer ist es geradezu programmatisch, sich als „Ethik ohne Moral" (Bertrand 1992, 183) auf keinerlei Normsetzung, allenfalls auf Wertsetzung einzulassen. In der Angewandten Ethik, um die es mir im folgenden geht, ist derartige normative Zurückhaltung allerdings nicht nur de facto selten, sondern auch kontraproduktiv. Wer sich als Angewandter Ethiker mit Realproblemen statt mit Theorieproblemen beschäftigt und nicht nur im akademischen Elfenbeinturm, sondern in den öffentlichen und mehr oder weniger institutionalisierten „bereichsethischen Diskursen" (Kaminsky, i. E.) mitwirkt, sieht sich mit Recht der Erwartung gegenüber, sich nicht nur als theoretischer Metaethiker, sondern auch als praktischer Moralist zu betätigen. Die ihm zugedachte Rolle ist nicht nur die des Analytikers, der bei der Klärung von Begriffen, Argumenten und Positionen und bei der option presentation Hilfe leistet, sondern auch
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bei der Entwicklung von begründeten, tragfahigen und realitätsgerechten moralisch substanziellen Regelungsvorschlägen. Mein Thema sind einige der Schwierigkeiten und Begrenzungen, mit denen Versuche einer begründeten Normierung im Zusammenhang mit realen Problemlagen konfrontiert sind. Ethische Grenzziehungen stoßen ihrerseits auf Grenzen, und die Angewandte Ethik tut gut daran, diese Grenzen im Auge zu haben, bevor sie sich den Kopf an ihnen einrennt. Wenn - mit Wittgenstein - die Ergebnisse der Philosophie die Entdeckung der Beulen ist, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat (Philosophische Untersuchungen § 119), so kann nicht das unwichtigste Ergebnis ethischer Reflexion die Entdeckung der Beulen sein, die sich die Angewandte Ethik beim Anrennen gegen ihre eigenen Grenzen geholt hat und weiterhin holt.
2. Grenzen des Grenzziehungsmodells Nach Wittgenstein holt sich der Verstand „Beulen" immer dann, wenn er von falschen, irreführenden oder missverständlichen Bildern oder Modellen seiner Gegenstände ausgeht und sich dann heillos in deren Paradoxien verfangt. Ein solches falsches und irreführendes Bild ist das einer schlechthin eindeutigen und wohldefinierten Grenze zwischen dem moralisch Zulässigen und dem moralisch Unzulässigen. Dieses Bild ist falsch, was die gesellschaftliche Realität der Moral betrifft, und es ist unplausibel, was die von einer Ethik postulierte ideale Moral betrifft. In dem faktisch gespielten Sprachspiel der Moral operieren wir mit einer stärker differenzierten Skala von Bewertungen als den grobkörnigen Beurteilungskategorien der traditionellen Ethik. Wir verfugen bei der Beurteilung der moralischen Qualität von Handlungen über ein Kontinuum von Bewertungen, das mehr Abstufungen erlaubt als die Dichotomie von moralisch Richtig und moralisch Falsch, moralisch Gut und moralisch Schlecht. Zwischen dem moralisch Falschen und dem moralisch Richtigen liegen Zwischentöne: das moralisch Bedenkliche und Zweifelhafte (das näher beim moralisch Falschen liegt) und das moralisch Passable und Akzeptable (das näher beim moralisch Richtigen liegt). Nicht nur zwischen dem eindeutig Unzulässigen und dem Zulässigen befindet sich ein Übergangsfeld, sondern jenseits des eindeutig Gebotenen ordnen wir eine zusätzliche Kategorie an, die des moralisch Supererogatorischen, dessen, was als moralisch vorbildlich gelten muss, aber angesichts des Maßes an Selbstverleugnung, das es erfordert, nicht geboten werden kann. Nicht nur die Moral, auch die Ethik hat gute Gründe, sich durch die vereinfachenden Typisierungen der deontischen Logik nicht irreführen zu lassen. Eine solche Irreführung liegt z. B. dann vor, wenn eine Ethik zwischen dem moralisch Gebotenen und dem moralisch Verbotenen eine Grenze zieht, die keinerlei Zwischenstufen zulässt und damit moralisches Handeln zu einer Art Gratwanderung macht, bei der jedes - und auch das geringfügigste - Abweichen vom schmalen Pfad der Tugend einen Fehltritt bedeutet. Nur das Beste ist - gewissermaßen - gut genug, um nicht bereits als Pflichtverletzung zu gelten. Paradoxerweise hat sich gerade nicht der vielfach des Rigorismus bezichtigte Kantianismus, sondern der in dieser Hinsicht unverdächtigere Utilitarismus dieser Form des ethischen Purismus schuldig gemacht. Selbst noch einige gegenwärtige Vertreter des Utilitarismus (z. B. Shaw 1999) halten daran fest, dass von mehreren möglichen Handlungen die moralisch optimale
GRENZEN VON GRENZEN: SCHWIERIGE GRENZZIEHUNGEN IN DER ANGEWANDTEN ETHIK
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Handlung nicht nur die allein gebotene, sondern auch die allein zulässige ist, so dass alle weniger als optimalen Handlungen als moralisch unzulässig gelten müssen. Dies ist schwer zu akzeptieren angesichts der Tatsache, dass auch moralisch suboptimale Handlungen unter realistischen Bedingungen vielfach immer noch so anspruchsvoll und ihre Ausfuhrung so moralisch vorbildlich sein können, dass es abwegig scheint, sie nur deswegen, weil sie das zu verwirklichende Gut nicht maximal realisieren, als moralisch unzulässig zu disqualifizieren. Die den Opfern einer Naturkatastrophe geleistete Hilfe wird dadurch nicht weniger verdienstvoll, dass man sich auch etwas mehr an Hilfe hätte vorstellen können. Mehr Hilfe zu leisten wäre vielleicht noch verdienstvoller gewesen. Aber das entwertet die faktisch geleistete Hilfe nicht. Auf keinen Fall wird sie nur dadurch, dass sie das Optimum verfehlt, moralisch unzulässig oder zweifelhaft. In der Angewandten Ethik stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dem moralisch Suboptimalen - bzw. dem, was sich aus der jeweiligen eigenen moralischen Perspektive als moralisch suboptimal darstellt - immer wieder ganz konkret: Welche Haltung nehmen wir gegenüber Praktiken, Regelungen und den sie stützenden moralischen Auffassungen ein, die nach eigenen moralischen Grundsätzen moralisch alles andere als perfekt sind, die aber u. a. deshalb Realität sind, weil sie aus der Sicht anderer moralischer Auffassungen Optima bzw. relative Optima - relativ zu den geltenden Bedingungen - darstellen? Diese Frage stellt sich insbesondere in Bereichen, in denen sich (noch) keine feste Normen herausgebildet haben und in denen der „kontroverse Moralbereich" (Bernard Gert) umfangreicher ist als der Bereich des allseits als zulässig und allseits als unzulässig Beurteilten. Auch hier ist es vielfach adäquater, statt von einer einfachen Dichotomie von einem Kontinuum der moralischen Vorzugswürdigkeit auszugehen und Praktiken und Regelungen nicht bereits deswegen als moralisch unakzeptabel zu verurteilen, weil sie aus jeweils eigener Sicht moralisch suboptimal sind. Auch wenn man eine bestimmte Praxis aus moralischen Gründen ablehnt, muss diese Ablehnung nicht auf ein so scharfes Verdikt wie das der moralischen Unzulässigkeit zurückgehen. Sie kann auch schlicht darauf beruhen, dass eine alternative Praxis moralisch überlegen wäre und sie nur die zweitbeste und nicht die beste Option darstellt. Nehmen wir als Beispielfall die in Gesellschaft und Angewandter Ethik seit langem bestehende Kontroverse über die Kriterien der Verteilung knapper Organtransplantate. Wer in dieser Kontroverse egalitaristischen Position zuneigt, wird konsequenterweise Vorschläge ablehnen, die eine Verteilung nach sozialen oder anderen konsequentialistischen Kriterien oder nach bestimmten Vorstellungen von ausgleichender Gerechtigkeit vorsehen, also etwa nach der sozialen Lage, nach der Erfolgsaussicht oder der Länge der Wartezeit. Das heißt jedoch nicht, dass er diese alternativen Kriterien als schlechthin unzulässig verwerfen muss. Er kann und sollte sich selbst eher so verstehen, dass er bei der Frage der Gewichtung der in Frage kommenden Kriterien eine bestimmte Gewichtung für moralisch optimal hält. Dass andere Gewichtungen aus dieser Sicht suboptimal sind, heißt nicht, dass sie schlechthin intolerabel sind. Das Bild eines moralischen Wertungskontinuums entspricht auch geläufigen Denkweisen sehr viel besser als das Bild einer zwischen moralisch Zulässig und moralisch Unzulässig eindeutig gezogenen Grenze. Um im Beispiel zu bleiben: Wir werfen es den Mitgliedern des Bundestags nicht als moralischen oder intellektuellen Widerspruch vor, dass sie im Transplantationsgesetz einerseits die sogenannte Widerspruchsregelung verworfen haben, nach
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der Organe von Hirntoten auch ohne deren ausdrückliche Einwilligung oder die Einwilligung der Nahestehenden entnommen werden können, dass sie es aber andererseits zulassen und sogar fördern, dass aus Ländern wie Belgien und Österreich stammende Organe auf deutsche Patienten übertragen werden, die nur dank der in diesen Ländern großzügigeren Regelung in so großer Zahl zur Verfügung stehen, dass sie ins Ausland exportiert werden können. Der moralische „Schönheitsfehler" bei der Gewinnung eines Teils der transplantierten Organe gilt als aufgewogen durch die Chancen, durch den Import dieser Organe den hierzulande bestehenden Organmangel zu kompensieren. Das ist aber nur konsistent und verständlich, wenn die Ablehnung der alternativen Praxis als eine moralisch schwache Ablehnung aufgefasst wird. Eine analoge Abwägung von moralischen Bedenken und moralischen Chancen würde eindeutig als unzulässig betrachtet, läge die Quelle der importierten Organe nicht in Österreich, sondern in China, und stammten die Organe von den zahlreichen in der Volksrepublik China Hingerichteten. Das Gebot der intellektuellen Aufrichtigkeit erfordert in diesem Fall, diese nur schwache Ablehnung der abgelehnten Handlung oder Praxis, mit der man zweckbezogen kooperiert, auch ausdrücklich einzugestehen. Nur dann darf die complicity, die darin besteht, dass man die Früchte einer Praxis erntet, die man gleichzeitig ablehnt, und zum Zweck der Ernte dieser Früchte mit den Akteuren direkt kooperiert, als moralisch unproblematisch gelten. Sehr viel problematischer ist es, wenn man wie in der Bundestagsdebatte um den Import embryonaler Stammzellen geschehen - , einerseits die Gewinnung embryonaler Stammzellen im Namen eines so hochrangigen Prinzips wie dem der Menschenwürde moralisch verurteilt und gleichzeitig Kooperationen mit denen, die sich eines so schweren Vergehens schuldig machen, aus pragmatischen Gründen befürwortet.
3. Grenzen des ethischen Urteils Auch wenn man das Bild starrer moralischer Dichotomien durch das Bild eines moralischen Kontinuums ersetzt, bleiben viele der mit moralischen Grenzziehungen verbundenen Probleme bestehen. Nach der Kontinuumsauffassung multiplizieren sich diese Probleme sogar, da sie nunmehr nicht mehr nur die Zuordnung einer Handlung oder einer Praxis zu zwei oder drei Kategorien, sondern ihre Verortung auf einer mehrstufigen und alternativenreicheren Skala der moralischen Wertung betreffen. Eine in der Praxis immer wieder quälende Schwierigkeit, die sich für moralische Wertungen ungeachtet der Differenziertheit ihrer Abstufungen ergibt, betrifft die epistemische Seite des moralischen Urteils: Unsere Wertungen und Beurteilungen, und damit auch die durch Gesetze, Richtlinien und Empfehlungen vollzogenen Grenzziehungen sind zumeist alles andere als sicher. Ich meine dabei die Sicherheit im subjektiven und nicht im objektiven Sinne. Auch wenn es eine irgendwie objektive Grenze des moralisch Zulässigen geben sollte, wäre nicht garantiert, dass sich diese Grenze mit der nötigen Bestimmtheit und Sicherheit erkennen lassen. Es gibt Grenzen der Sicherheit, aber auch der Genauigkeit unserer moralischen Beurteilungen - gleichgültig, ob diese intuitiv, prinzipiengeleitet oder im Sinne eines „Überlegungsgleichgewichts" auf der Grundlage eines Abgleichs zwischen Prinzipien und Einzelfallurteil getroffen werden. Diese Unsicherheit korreliert nicht direkt mit dem faktischen Pluralismus der im privaten und öffentlichen Diskurs zu der jeweiligen Regelungsma-
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terie geäußerten Meinungen. Aber man wird doch vermuten dürfen, dass sie durch die faktische Meinungsvielfalt eher gestützt als geschwächt wird. Es fallt leichter, seiner Sache ganz sicher zu sein, wenn alle derselben Auffassung sind. Es fällt schwerer, sicher zu sein inmitten eines Pluralismus der moralischen Meinungen, bei dem gleichermaßen respektable Beurteiler zu verschiedenen Schlussfolgerungen kommen. Bleiben wir noch einmal bei dem Beispiel der Verteilungskriterien für Organtransplantate: Auch diejenigen, die eine der vielen in dieser Frage möglichen Positionen dezidiert und mit Überzeugung vertreten, dürften ihrer Sache dennoch kaum je so sicher sein, dass sie nicht gelegentlich doch von Zweifeln heimgesucht werden. Es fällt leicht, sich mehr oder weniger dezisionär auf ein allgemeines Prinzip festzulegen. Es fallt schwer (zumindest wenn man ehrlich mit sich selbst ist), die einmal angenommene Position auch gegen eindeutig abweichende Einzelfallintuitionen festzuhalten. Viele, die der Berücksichtigung von Kriterien des social worth, der Bedeutung des Überlebens eines Patienten für andere, eine kategorische Absage erteilen, kommen doch zumindest ins Nachdenken bei der Frage, ob man nicht eine junge Frau mit mehreren versorgungsbedürftigen Kindern, aber geringfügig schlechterer Erfolgsaussicht, gegenüber einem Junggesellen ohne versorgungsbedürftige Angehörige, aber mit geringfügig höherer Erfolgsaussicht den Vorzug geben sollte. Viele, die die Berücksichtigung von Kriterien der Abgeltung von Verdiensten kategorisch ablehnen, werden bedenklich, wenn es um die Frage geht, ob ein Patient, der bereits eine Niere oder einen Teil seiner Leber für einen Familienangehörigen gespendet hat und aufgrund einer Erkrankung des Restorgans transplantionsbedürftig wird, ceteris paribus bevorzugt werden sollte. Die Ambivalenzen, die sich in diesen Fällen auf der Ebene des Subjekts bemerkbar machen, zeigen sich auch auf gesellschaftlicher Ebene. Während die geltenden Richtlinien eine Bevorzugung etwa nach der familiären Situation unmissverständlich ausschließen und lediglich den prospektiven individuellen Nutzen, aber nicht den prospektiven Nutzen Dritter ins Kalkül ziehen, ist eine Priorisierung nach der familiären Situation nicht nur im faktischen Verhalten von Transplantationsmediziern vor dem Transplantationsgesetz nachweisbar (Schmidt 1996, 125 f.), sondern trifft auch in der Bevölkerung, etwa unter Dialysepatienten auf eine beträchtliche Akzeptanz (Schmid et al. 2001, 92 f.).
4. Grenzen der Folgenabschätzung Gravierender für die Praxis angewandt-ethischer Grenzziehungen als die subjektiven Unsicherheiten und Ambivalenzen sind die objektiven Unsicherheiten, die sich aus der Abhängigkeit vieler konkreter Grenzziehungen von Folgenkalkülen und Folgenabschätzungen und damit von nicht immer leicht zu prognostierenden Veränderungen in der realen Welt ergeben. Je konkreter die Grenzziehungen sind, um die es bei den vom Angewandten Ethiker verlangten Beurteilungen geht, desto mehr hängen diese Beurteilungen in der Regel von riskanten und im Zeitverlauf schnell überholten Folgenabschätzungen ab. Insbesondere angesichts der sich fortsetzenden Dynamik der wissenschaftlich-technischen Entwicklung haben solche Abschätzungen vielfach eine kurze Halbwertszeit und bewirken, dass sich etwa im Bereich der biomedizinischen Forschung kaum je dauerhafte und gegen Revision gefeite Festlegungen treffen lassen. Kategorische Verdikte, die zunächst auf dem Hinter-
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grund bestimmter Zukunftsszenarien plausibel sein mögen, erweisen sich wenige Jahre später, angesichts neu am Horizont auftauchender Innovationen als überprüfungsbedürftig. Ein Beispiel ist das international so gut wie einhellige Verdikt über die Keimbahnintervention und seine faktische Aushöhlung durch die Zulassung der Transplantation des Zellkerns einer Eizelle (in vitro ovum nuclear transplantation, IVONT) (vgl. Richter / Schmid 1996, 19 f.). Das Bild, von dem das generelle Verdikt über die Keimbahnintervention geleitet war, hat sich im Zuge des Fortgangs der biomedizinischen Technik als einseitig erweisen. Im nachhinein erweist sich das Verdikt über die Keimbahnintervention als zu grobkörnig, um den zum Teil wenig vorhersehbaren Entwicklungen der Technologie gerecht zu werden. Nicht nur im Bereich der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen, auch im Bereich der gesellschaftlichen Bewertungen muss die ethische Urteilsfindung mit Überraschungen rechnen. Die „Fieberkurve" der öffentlichen Akzeptanz von zunächst umstrittenen Neulandtechnologien verläuft weitgehend entlang der Bilanz ihres Erfolgs oder Misserfolgs. So hat etwa die gesellschaftliche Akzeptanz der In-vitro-Fertilisation trotz anfanglicher Ablehnung kontinuierlich zugenommen, in genauer Entsprechung zu der Erfahrung, dass diese Methode sowohl für die mit ihr zur Welt gekommenen Kinder als auch für die beteiligten Paare und die Gesellschaft als ganze nicht risikoreicher ist als eine normale Geburt und dass die Risiken dieses Verfahrens durch die durch sie eröffneten Chancen, das Leid unfreiwillig kinderloser Paare zu lindern, mehr als aufgewogen wird. Damit jedoch wird die öffentliche Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz zu einer dynamischen und schwer vorauszuberechnenden Größe. Bezogen auf die gegenwärtig umstrittene Verwendung von Stammzellen aus menschlichen Embryonen lässt sich zumindest vermuten, dass die Akzeptanz dieser Verwendung in demselben Maße zunehmen und abnehmen wird, in dem sich ihre Anwendungen als therapeutisch erfolgreich oder erfolglos herausstellen. Es ist schwer vorzustellen, dass eine Verwendung dieser Zellen auch dann noch von einer substanziellen Mehrheit aus Gründen des Lebens- und Würdeschutzes abgelehnt wird, wenn sie sich bei der Behandlung verbreiteter degenerativer Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Alzheimerdemenz als erfolgreich und anderen Behandlungsverfahren überlegen erweisen. Die ethische Beurteilung muss sich angesichts dieser doppelten Dynamik offenhalten für neue Tatsachen und darf sich nicht zu schnell und zu früh auf abschließende Urteile pro oder kontra festlegen. Der Angewandte Ethiker wird nicht darauf setzen können, dass seine Urteile mehr als vorläufige Geltung beanspruchen können. Angewandte Ethik im Praxissinn ist keine Doktrin, sondern eine Tätigkeit, ein Prozess. In welchem Maße sich der Ethiker auf die Dynamik der Tatsachen einstellen muss, hängt allerdings auch davon ab, welche Ethik er der jeweiligen Beurteilung zugrunde legt. In der Regel implizieren konsequenzialistische Ethiken eine stärkere Abhängigkeit des normativen Urteils von Sachinformationen als deontologische, und eine Risiko-Ethik, die die Akzeptabilität von Risiken u. a. von der faktischen Akzeptanz der Risiken abhängig macht, eine stärkere Abhängigkeit von gesellschaftlichen Fakten als eine Risiko-Ethik, die sich eher als kritisches Korrektiv faktischer Risiko-Akzeptanzen versteht. Unter diesem Gesichtspunkt ist bedeutsam, dass in den letzten Jahren auch in der deutschen Angewandten Ethik ein deutlicher Trend zu konsequenzialistischen Argumentationen festzustellen ist. Die Kritik etwa an umstrittenen reproduktionsmedizinischen Verfahren wie
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ICSI oder Präimplantationsdiagnostik bedient sich zunehmend folgenorientierter Überlegungen, in dem ersten Fall mit Verweis auf die langfristigen Risiken für das aus der Anwendung des Verfahrens resultierende Kind, im zweiten Fall mit dem Verweis auf das mögliche Umsichgreifen einer „Selektionsmentalität" in Bezug auf den eigenen Nachwuchs. Demgegenüber befinden sich kategorische Argumente, nach denen bestimmte Entwicklungen unabhängig von Folgeerwägungen zulässig oder unzulässig sind, unverkennbar auf dem Rückzug. Das erklärt, dass es es in vielen Debatten innerhalb der Angewandten Ethik mittlerweile weniger um die ethische Bewertung der Praktiken A und B geht (über diese besteht vielfach Konsens) als vielmehr um die empirisch-prognostische Einschätzung, wie wahrscheinlich Praxis B aus Praxis A folgt und in welchem Umfang ein Übergang von A zu B gesellschaftlich und politisch steuerbar ist. Ein Beispiel ist die Debatte über eine begrenzte Zulassung der aktiven Sterbehilfe. Zwar gibt es einige Teilnehmer an der Debatte, die im Sinne eines streng deontologischen Prinzips als wesentlichen Grund gegen die Zulassung der aktiven Sterbehilfe die intrinsische moralische Verwerflichkeit der aktiven Tötung ins Feld fuhren. Aber eine wachsende Zahl von Ärzten, Philosophen und Theologen, die eine solche Zulassung ablehnen, haben dafür primär folgenorientierte Gründe, die sich im Prinzip empirisch, etwa anhand des „holländischen Experiments" wenn nicht verifizieren und falsifizieren, so doch zumindest stützen und schwächen lassen. Damit jedoch verlagert sich die Debatte von einer genuin normativen auf eine empirische Ebene und betrifft nicht mehr die intrinsische Verwerflichkeit der aktiven Tötung, sondern die Zweckdienlichkeit politischer Strategien und die Chancen einer Vermeidung von Missbräuchen durch institutionelle Sicherungen. Die zentrale Frage lautet nicht mehr: Ist aktive Sterbehilfe an sich moralisch unzulässig?, sondern: Kann oder muss die Tatsache, dass in den Niederlanden nicht nur eine gesetzlich geregelte Praxis der aktiven Sterbehilfe auf ausdrückliches Verlangen existiert, sondern gleichzeitig auch eine gesetzlich nicht geregelte der aktiven Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen, so interpretiert werden, dass damit die Talsohle des „slippery slope" von der erwünschten Praxis A zu der unerwünschten Praxis B bereits erreicht ist? Bestätigt die Tatsache, dass diese beiden Praktiken in den Niederlanden nebeneinander existieren, die Befürchtungen der Gegner von A (vgl. z. B. Keown, 1995, 287), oder sind die beiden Praktiken, wie die Befürworter meinen (vgl. Kuhse 1992), kausal unabhängig? Hat erst die begrenzte Zulassung der Praxis A die Praxis B ermöglicht, oder existierte die Praxis B bereits lange vor der Zulassung der Praxis A, so dass die Zulassung der Praxis A die Praxis B zwar nicht geschwächt, aber auch nicht gefördert hat? Hier ist allerdings eine wichtige Einschränkung zu machen: Es ist vielfach nicht klar, ob sich hinter einigen Risikoargumenten nicht letztlich doch kategorische Vorbehalte verbergen. Viele in der öffentlichen Debatte vorgetragene Risiko- und insbesondere viele Dammbruchargumente sind als solche zu wenig plausibel, um nicht den Gedanken nahezulegen, dass sie eher als (missverständliche) Ausdrucksformen kategorischer Ablehnungshaltungen verstanden werden müssen. Es ist wenig plausibel, dass, falls die Präimplantationsdiagnostik zugelassen würde, es in unserer Gesellschaft zu einem allgemeinen Verfall des Lebensschutzes käme. Es ist wenig plausibel, dass, falls der menschliche Embryo nicht von Anfang an umfassend geschützt würde, eine Zwangseuthanasie bei pflegebedürftigen Alten um sich griffe. Wer solche Befürchtungen vorträgt, sollte deshalb möglicherweise eher so verstanden
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werden, dass er im Grunde kategorische Positionen vertritt, diese jedoch angesichts der abnehmenden Akzeptanz dieser Positionen in der Form von Risikoargumenten vortragen zu müssen meint.
5. Grenzen der Berufung aufs Bestehende Wer Handlungsoptionen Grenzen zieht, schränkt Freiheit ein und muss seine Grenzziehung begründen. Moralische Begründungen von Freiheitsbeschränkungen sind besonders gute Begründungen, aber auch besonders anspruchsvolle: Zumindest nach der in unserer Kultur vorherrschenden universalistischen Moralvorstellung müssen moralische Argumente so beschaffen sein, dass sie Aussichten haben, im Prinzip jedem Verständigen einsichtig gemacht werden zu können. Insbesondere müssen moralische Argumente so beschaffen sein, dass sie Aussichten haben, auch diejenigen zu überzeugen, die für die moralisch begründeten Beschränkungen von Optionen mit Einschnitten ihrer persönlichen Freiheit bezahlen müssen oder in anderer Weise negativ betroffen sind. Durch einen universalistischen Moralbegriff werden einer ethischen Grenzziehung enge Grenzen gesetzt. Um die Aussicht darauf, von allen Verständigen akzeptiert zu werden, nicht unglaubwürdig werden zu lassen, dürfen solche Grenzziehungen lediglich an Fähigkeiten appellieren, über die jedermann zumindest in einem gewissen Maße verfügt, etwa an Vernunft, Erfahrung und Empathie. Sie dürfen sich nicht bloß auf Tradition und Herkommen oder auf bestimmte nicht-universal anerkannte Autoritäten berufen, aber auch nicht auf das in der Gesellschaft oder in der Natur kontingenterweise Bestehende, Gewachsene und Vertraute. Das Seiende ist nicht eo ipso das Vernünftige, und nichts verbürgt, dass das, was besteht, seinerseits Kriterien der ethischen Rechtfertigbarkeit genügt. Weder die faktisch eingespielten und akzeptierten Verfahrensweisen der Kultur noch die Strukturen der kultivierten oder unkultivierten Natur taugen als Standards ethischer Grenzziehung. Eine Konsequenz daraus ist, dass es bei der Begründung ethischer Grenzen nicht damit getan ist, auf die mit bestimmten etablierten sozialen Rollen verknüpften Grenzen zu verweisen. Der Verweis auf etablierte Rollenverständnisse kann immer dann keine angemessene Begründung für eine Grenzziehung sein, wenn zusammen mit der fraglichen Grenzziehung auch die zur Begründung herangezogene Rollendefinition zur Debatte steht. Ein einschlägiges Beispiel ist die in der biomedizinischen Ethik geführte Diskussion darum, ob der Arzt einem Patienten eine prädiktive Diagnose mitteilen darf, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit therapeutischen oder präventivmedizinischen ärztlichen Maßnahmen steht. Konservative Mediziner argumentieren dagegen mit dem Hinweis, dass die Mitteilung einer Diagnose um der Diagnose willen - d. h. ohne therapeutische oder prophylaktische Konsequenzen - nicht Teil des „ärztlichen Auftrags" sei und für einen Arzt, der dem Ethos seiner Profession verpflichtet sei, deshalb nicht in Frage komme. Offenkundig begeht dieses Argument eine petitio. Denn natürlich geht es in dieser Diskussion nicht nur um die Frage, ob das herkömmliche ärztliche Ethos die Mitteilung nicht therapeutisch oder prophylaktisch relevanter Befunde verbietet oder zulässt, sondern es geht um die Frage, ob sich dieses Ethos möglicherweise so weiterentwickeln sollte, dass es die Erlaubnis so einer solchen Diagnosemitteilung umfasst. Historisch gewachsene Rollendefinitionen vermögen Grenzziehungen niemals von sich aus zu begründen, sondern stets nur auf dem Um-
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weg über die Gründe, die sie motivieren, und die Funktionen, die sie gesellschaftlich übernehmen. Diese Gründe sind vielfach gute und tragfähige Gründe, aber nicht durchweg und nicht unter allen Bedingungen. Derselben Kritik, bereits das Seiende als solches für vernünftig zu halten, unterliegen auch viele Formen des ethischen Naturalismus. Auch hier wieder kommt die Berufung auf das Gegebene und Bestehende dem tiefen Bedürfnis nach Erhaltung des Gewohnten und Vertrauten entgegen, taugen aber nicht als Basis von ethischen Grenzziehungen, die für andere mit gravierenden Einschränkungen ihrer Freiheit der Lebensgestaltung einhergehen. Explizit und implizit naturalistische Argumente richten sich gegenwärtig vor allem gegen eine Anwendung technischer Mittel zur Veränderung der natürlichen Ausstattung des Menschen. Das Problem ist akut, denn viele der Mittel und Verfahren, die ursprünglich zu therapeutischen, korrigierenden oder kompensierenden Zwecken entwickelt worden sind, lassen sich auch zum Zweck der Steigerung von Fähigkeiten, Eigenschaften und Entwicklungspotentialen einsetzen. In der Fachdiskussion spricht man vom Prozac-Effekt: Prozac ist ein Antidepressivum, das auch bei psychisch Gesunden wirkt, nämlich als Stimmungsaufheller. Als solches wird es inzwischen mehr nachgefragt denn als Medikament. Die Frage, die Fälle wie Prozac aufwerfen, lautet: Warum soll die Verwendung einer technischen Innnovation zur Therapie, Korrektur oder Kompensation von Defiziten - gemessen an einer wie immer definierten Marke der „Normalität" - als erlaubt gelten, die Verwendung derselben Innovation zur Steigerung von Fähigkeiten und Möglichkeiten aber nicht? Warum soll die Grenzziehung so getroffen werden, dass sie zwischen therapeutischen und nicht-therapeutischen Anwendungen liegt und nicht anderswo? Warum stößt das Projekt eines Gen-Doping ceteris paribus auf mehr Vorbehalte als das Projekt der somatischen Gentherapie? Kann man den Einbau von elektronischen Impulsgebern im Gehirn zur Verbesserung der Gedächtnisleistung ablehnen, wenn man den Einbau von Chips zur Therapie des Morbus Parkinson zulässt? Welche Gründe gibt es, die Gehirnimplantate, die es demnächst auch weitgehend gelähmten Patienten erlauben sollen, durch bloße Gedankenanstrengung einen Mauszeiger über einen Bildschirm zu bewegen (vgl. Brooks 2002, 240), nicht auch Gesunden verfugbar zu machen? Eine mögliche Antwort darauf lautet, dass in der Regel die Ceteris-paribus-Bedingung nicht erfüllt ist und den individuellen und gesellschaftlichen Risiken aus der technischen Überbietung der Natur nur bei den therapeutischen Anwendungen eine angemessene Nutzenerwartung gegenübersteht. Aber diese Antwort vermag nicht ganz zu befriedigen. Erstens ist noch nicht ausgemacht, ob der Nutzen etwa einer Verbesserang des Gedächtnisses durch Implantate wirklich so viel geringer ist als der therapeutische Nutzen, vor allem da er eine bedeutend größere Zahl von Menschen betreffen könnte. Zweitens ist die RisikoNutzen-Relation aber nicht das, worum es demjenigen, der technische Verbesserungen der menschlichen Natur ablehnt, geht. Dieser sieht ja nicht in den Risiken, sondern in den verbessernden Eingriffen selbst - bzw. in den ihnen zugrunde liegenden Intentionen - ein moralisches Problem, unabhängig von jedem Kalkül der individuellen und gesellschaftlichen Kosten. Nicht erst die Folgelasten dieser Eingriffen scheinen moralisch problematisch, sondern diese Eingriffe selbst. In der Ausgabe vom 8. Februar 2002 berichtet das Wissenschaftsmagazin Science unter dem Titel „Part Man, Part Computer" über das Vorhaben Kevin Warwicks, eines Professors
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für Kybernetik an der Universität Reading, sich einen Computerchip in den Mittelnerven des Handgelenks einsetzen zu lassen, um auf diese Weise die in die Hand und aus der Hand fließenden Impulse ableiten und an einen Computer zu übermitteln. Die Operation wurde am 14. März 2002 ausgeführt. Das Experiment soll u. a. dazu dienen herauszufinden, ob es dem Computer gelingt, die aus dem Handgelenk kommenden Signale Bewegungen, Empfindungen und Stimmungen (die sich in Veränderungen der Hand niederschlagen) zuzuordnen und ob ein Roboter, an den der Computer die Signale weiterleitet, diese wiederum in Bewegungen umsetzen kann. Außerdem will Warwick diese Signale in seinen eigenen Nerven zurückspielen, um zu sehen, ob sich dadurch die ursprünglichen Bewegungen und Empfindungen auslösen lassen. Falls dies gelingt, soll seine Frau ein entsprechendes Implantat erhalten und Signale mit ihm austauschen. Im Hintergrund dieser Experimente steht die Vision eines computergestützt funktionierenden Menschen - eines Menschen, der ausgefallene Funktionen durch die Symbiose mit einem Computer ersetzt, kompensiert oder vorhandende Funktionen erweitert. Neben einer Reihe von skeptischen Stimmen aus der Wissenschaft zitiert das Magazin auch die ethischen Bedenken des New Yorker Politikwissenschaftlers Langdon Winner. Winner hält die geplanten Experimente für hochgradig moralisch bedenklich. Die natürlichen Fähigkeiten der Informationsverarbeitung dadurch zu verbessern, dass man das Nervensystem an einen Computer anschließt, bedeute „eine grundlegende Veränderung des Wesens des Menschen" (vgl. Vogel 2002, 1020). Zweifellos ist der Einbau eines Chips zur Steigerung der Möglichkeiten, Bewegungsabläufe in den Extremitäten zu steuern, ein Schritt, der über die Ersetzung oder Kompensation verlorengegangener Funktionen hinausgeht. Die Technik dient hier nicht mehr dazu, eine ausgefallene Funktion durch künstliche Aggregate zu substituieren (wie bei der künstlichen Gehörschnecke oder dem künstlichen Gehörnerv) oder einen pathologisch entgleisten Prozess durch einen künstlichen Impulsgeber zu korrigieren (wie bei den sogenannten „Gehirnschrittmachern"). Der Anschluss des implantierten Chips an einen Computer bzw. Roboter diente vielmehr dazu, eine bisher nicht verfugbare Option verfügbar zu machen: die „Fernsteuerung" einer Extremität von außerhalb des Körpers. Wie immer man diese Option beurteilen mag - ich kann mir die Aussicht, von einem oder mittels eines Roboters „ferngesteuert" zu werden, kaum als besonders angenehm vorstellen - , handelt es sich doch eindeutig um eine „enhancing" und nicht mehr nur um eine therapeutisch korrigierenden oder substituierende Körpertechnologie. Kann man Versuche wie den Warwicks, die natürliche Beschaffenheit des Menschen durch funktionsverbessernde künstliche Maßnahmen gezielt zu verändern, moralisch ablehnen, wenn man ähnliche Eingriffe zu therapeutischen, korrigierender und kompensierender Eingriffen zulässt oder sogar fordert? Beidemal handelt es sich um technische Eingriffe, die künstliche Aggregate an die Stelle natürlicher setzen. Beidemal wird die Natur, so wie wir sie vorfinden, technisch überboten. Wo liegt die Differenz? Man wird sich zur Begründung kaum auf die Naturgegebenheit oder die Normalität der „natürlichen" Ausstattung des Menschen berufen können. Natürlichkeit ist keine Legitimationskategorie. Auch eine Naturteleologie hilft an diesem Punkt nicht weiter. Denn erstens ist fraglich, ob die Redeweise von Naturzwecken überhaupt sinnvoll ist. Zwecke sind undenkbar ohne Zwecksetzungen. Wer aber soll das Subjekt dieser Zwecksetzungen sein? Dadurch, dass die Natur eine Vielzahl von bewusstseinsfahigen Wesen enthält, hat sie als
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solche noch kein Bewusstsein, das als Basis seiner wie immer gearteten Intentionalität fungieren könnte. Zweitens stellt sich die Frage, wie sich Naturzwecke identifizieren lassen. Die Natur ist ein Gesamtsystem aus Teilen mit zum Teil gegensätzlichen Tendenzen. Warum etwa sollen Mängelkorrekturen, nicht aber Verbesserungen am Bauplan der Schöpfung den Zwecken der Natur entsprechen? Uind drittens bliebe selbst dann, wenn es so etwas wie Zwecke der Natur gäbe und diese feststellbar wären, die Frage offen, weshalb wir diesen Zwecken folgen sollten. Auch dann, wenn man von der Natur sagen könnte, dass sie Zwekke verfolgt oder auf bestimmte Zwecke hin angelegt ist, folgt daraus nicht, dass man diese Zwecke gutheißen oder als für den Menschen verbindlich betrachten muss. Alternativ kann man „Natürlichkeit" im Sinne von Normalität verstehen und behaupten, dass wir uns in unserem Handeln an dem Natürlichen im Sinne des „Normalen" orientieren sollten. In diesem Fall wäre allerdings offenkundig, dass die Berufung auf das Natürliche einen logischen Zirkel beinhaltet. Was als „normal" gilt, ist seinerseits nichts anders als das Resultat einer wertenden Definition: Das Normale ist von vornherein das Richtige, Angemessene und Akzeptable. Die Aussage, dass bestimmte Verhaltensweisen „unnatürlich" sind, wiederholt dann lediglich, dass sie unakzeptabel sind, begründet dieses Urteil aber nicht. Insbesondere das alltagsmoralische Denken hält trotz dieser Begründungsschwierigkeit an der moralischen Relevanz der Unterscheidung zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit weitgehend fest - wobei allerdings die Grenze zwischen Natürlich und Künstlich je nach Kontext in unterschiedlicher Weise gezogen wird. Wie immer „natürlich" und „künstlich" in ihrem jeweiligen Kontext verstanden werden, das Natürliche wird dem Künstlichen, das Vorgegebene dem Gemachten vorgezogen. Negativ bewertete Zustände, die auf menschliche Intervention zurückgehen, werden als gravierendere Übel bewertet, als wenn sie natürlichen Ursprungs sind; natürliche Gefahren werden weniger gefurchtet und eher hingenommen als anthropogene Risiken, vielfach auch dann, wenn sie sich durch menschliches Eingreifen verhindern lassen (omission bias); die Verwirklichung positiv bewerteter Zustände im Zuge des Naturverlaufs wird als günstiges Schicksal oder Gottesgeschenk begrüßt, gleichzeitig aber gezielte menschliche Interventionen zur Verwirklichung derselben Zustände verworfen. Dennoch aber lässt sich die Grenze zwischen den moralisch Erlaubten und dem moralisch Verbotenen wohl kaum mit der Grenze des Bestehenden, des Natürlichen oder des als normal Geltenden zur Deckung bringen. Technische Eingriffe, durch die bestimmte menschliche Eigenschaften oder Fähigkeiten verbessert oder vervollkommnet werden und mittels derer der Mensch seine eigene Natur über den historisch erreichten Stand der natürlichen Evolution hinaus weiterentwickelt, sind nicht eo ipso und unabhängig von ihren konkreten Risiken moralisch bedenklich. Wenn diese Versuche moralisch kritikwürdig sind, dann entweder wegen ihrer offensichtlichen Untauglichkeit, die angezielten Zwecke zu erreichen (dieser Kritik sind insbesondere so gut wie alle bisherigen Versuche einer gezielten Eugenik ausgesetzt) oder wegen der mit ihnen verbundenen Risiken für das betroffene Individuen, für andere oder für die Gesellschaft als ganze. Veränderungen der menschlichen Natur zum Besseren könnten nur dann als inhärent moralisch kritikwürdig gelten, wenn die menschliche Natur sakrosankt wäre oder wenn ein vorgegebenes „Wesen" des Menschen aufweisbar wäre, das menschlicher Selbstentfaltung und Selbstgestaltung Grenzen setzte.
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Wie sollte sich aber eine Sakrosanktheit der vorgefundenen menschlichen Natur begründen lassen? Die Freiheit des Menschen als „Freigelassenen der Schöpfung" besteht gerade auch in der Freiheit, seine eigene Natur zum Gegenstand planvoller Gestaltung zu machen. Diese Freiheit erstreckt sich auf seine geistige wie auf seine körperliche Seite. Was die letztere betrifft, so gehört zur Autonomie des Menschen nicht nur die Freiheit, körperliche Beeinträchtigungen medizinisch zu korrigieren, sondern auch die Freiheit, seine naturgegebene Physis zu verändern, etwa durch Sport, Kosmetik und Körperdesign. Dass diese Selbsttranszendierungen, soweit andere betroffen sind, mit einer erheblichen Verantwortung zusammengehen, versteht sich von selbst. Diese Verantwortung ist jedoch kein spezifisches Merkmal und trifft korrigierende oder kompensierende Formen von Selbstgestaltung nicht weniger. Kann ein irgendwie vorgegebenes „Wesen" des Menschen als Standard dienen? Eine Wesensdefinition des Menschen ist entweder empirisch begründet und umfasst dann die Merkmale, die den Menschen erfahrungsgemäß kennzeichnen und von der übrigen Natur unterscheiden, oder sie stellt eine Norm auf, die sagt, wie der Mensch sein soll. In beiden Fällen ist von der Wesensdefinition keine überzeitliche Gültigkeit zu erwarten. Im ersten Fall ist die Wesensdefinition abhängig vom Stand der historischen Erfahrung, im zweiten Fall von den jeweils kulturell und historisch vorherrschenden normativen Menschenbildern. Zudem ist von einer rein empirischen Wesensdefinition von vornherein keine irgendwie geartete legitimierende oder kritische Funktion zu erwarten. Dass der Mensch so ist, wie er ist, kann für sich genommen nicht zeigen, dass er anders werden soll oder nicht anders werden darf. Ein im empirischen Sinne wahres Menschenbild gebietet oder verbietet nichts. Dass der Mensch infolge „genchirurgischer" Eingriffe möglicherweise zu einem „neuen Wesen" wird (Benda 1985, 231) oder dass funktionssteigernde apparative Einbauten das Wesen des Menschen verändern, wie es im Zusammenhang mit Warwicks Selbstversuchen befürchtet wird, besagt nichts darüber, ob die Veränderungen als Fortschritt und Vervollkommnung oder als Rückschritt und Regression betrachet werden müssen. Versteht man den Begriff der Wesensdefinition andererseits in einem normativen Sinn, d. h. als ein ideales Menschenbild oder eine Leitidee dessen, wie der Mensch sein soll, und verwirft eine technische Selbststeigerung als mit diesem Bild unvereinbar, so ist fraglich, ob damit für die Praxis viel gewonnen ist. Geht man von dem aufklärerischen und im der westlichen Welt vorherrschenden Ideal aus, nach dem sich der Mensch als Individuum wie als Gattung zu einem möglichst autonomen und individuierten, seine natürlichen Neigungen möglichst souverän steuernden und zugleich sozial verantwortlichem Wesen entwickeln soll, ist schwer zu sehen, warum eine mögliche Vervollkommnung seiner physischen Natur mit diesem Ideal weniger vereinbar sein soll als die traditionell aus diesem Ideal hergeleitete geistige und moralische Vervollkommnung. Man kann darüber streiten, ob man dieses weithin geteilte Ideal zugleich auch als Verpflichtung akzeptieren möchte und ob man heute noch so unbefangen wie John Stuart Mill im 19. Jahrhundert sagen kann, dass „die Pflicht des Menschen bezüglich seiner eigenen Natur dieselbe ist wie sein Pflicht bezüglich der Natur aller übrigen Dinge, nämlich nicht, ihr zu folgen, sondern sie zu verbessern" (Mill 1984, 53). Aber auch wenn man nicht so weit geht, eine Pflicht zur Selbstvervollkommnung zu fordern, so wird man doch „künstliche" Verbesserungen der menschlichen Natur zumindest soweit für erlaubt halten müssen, als sie mit den Idealen von Autonomie, Individuation, Selbststeuerung
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und sozialer Verantwortung nicht in Konflikt geraten. Zumindest solange dieses Ideal nicht gefährdet ist, kann es nicht unzulässig sein, die technischen Hilfsmittel, die heute zur Kompensation und Korrektur von angeborenen oder erworbenen Benachteiligungen entwickelt werden, darüber hinaus auch zur Steigerung von Fähigkeiten über das von der Natur vorgesehene Maß hinaus einzusetzen.
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Lebensgüter, nicht moralische Pflichten
1. Was sind Pflichten und warum verpflichten sie? Tun wir manchmal etwas, weil es unsere Pflicht ist? Sicher, wenn darunter Rollenpflichten verstanden werden. Wir haben Verträge gemacht und diese Verträge verpflichten uns etwa, früh am morgen an unserem Arbeitsplatz zu erscheinen. Häufig, oder jedenfalls nicht selten, würden wir lieber später dort auftauchen. Aber dann sagt uns unsere Pflicht, eine mit dieser Arbeitsstelle verbundene Pflicht, daß wir müssen. In diesem Fall handelt es sich um eine rechtlich festgelegte und sanktionsgestützte Pflicht. Nicht alle Rollenpflichten sind von dieser Art. Für alle Rollenpflichten kann man aber sagen, oder man kann sie definitorisch so festlegen, daß sie mit einer formellen (explizit-rechtlichen) oder informellen sozialen Sanktion verbunden sind. Wir befolgen sie hauptsächlich, wenn auch nicht nur, deshalb, weil wir diese Sanktionen vermeiden wollen. Die Rollenpflichten geben ein klares Modell von Pflichten insofern ab, als bei ihnen klar ist, wieso man sie befolgen soll, oder worin der Grund besteht, sie zu befolgen. Der Grund besteht darin, daß man die Sanktion vermeiden will, oder daß es unangenehm ist, die Sanktion tatsächlich oder möglicherweise auf sich zu nehmen. Auch die Existenz der Rollenpflichten selbst ist leicht erklärbar: sie verdankt sich der praktischen Notwendigkeit, daß viele Leute häufig zu einem Handeln gezwungen werden müssen, das sie ohne diesen Zwang nicht in gleicher Weise vollziehen würden. Ohne die Pflicht, morgens am Arbeitsplatz zu erscheinen, würden viel weniger Leute morgens am Arbeitsplatz erscheinen. Warum die Rollenpflichten befolgt werden, wie auch, warum sie überhaupt existieren, ist damit klar. Sie sind Hilfskonstruktionen gegen die menschlichen Schwächen. So ähnlich scheint es auch bei den moralischen Pflichten zu sein. Auch diese Pflichten scheinen uns zu etwas zu zwingen, was wir ohne sie nicht tun würden, und sie scheinen wegen dieser Schwäche zu existieren. Ein Unterschied zwischen den moralischen und den Rollenpflichten ist, daß die ersteren häufig allgemeiner sind. Nicht zu lügen gilt klarerweise als moralische Pflicht. Nicht zu lügen, gilt auch als Pflicht des Arztes, im allgemeinen. Allerdings kann in einer speziellen Behandlungssituation der Zwang entstehen, entweder doch zu lügen oder die Wahrheit zu verschweigen. Insofern modifiziert die Berufs- oder Rollenpflicht die moralische Pflicht, die dementsprechend allgemeiner ist. Ein anderer - und meist als der als wichtigste angesehene - Unterschied scheint darin zu liegen, daß die moralische Pflicht nicht notwendig an soziale Sanktionen gebunden ist. Zwar werden bestimmte Moral-
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verstoße häufig auch sozial sanktioniert, aber auf das moralische Verhalten hat das in einem wohlverstandenen Sinn keinen Einfluß. Daß und warum es keinen Einfluß hat, ist von zentraler Bedeutung für den Begriff der moralischen Pflicht. Die eben gemachte Behauptung ist mißverständlich, denn moralisches Verhalten ist großteils eine Sorte von sozialem Handeln, und soziales Handeln wird zu einem nicht geringen Teil sanktionierend gesteuert. Wie weitgehend, ist eine offene Frage, die auch davon abhängt, was man unter „Sanktion" genauer versteht. Wie wir eben gesehen haben, sind moralische Pflichten auch Bestandteil von Rollen, etwa als Berufspflichten, die ihrerseits mit sozialen Sanktionen verbunden sind. Dennoch entspricht es unserem üblichen Verständnis von moralischen Pflichten, daß sie zu befolgen nicht oder nicht nur darauf beruht, daß man entsprechende soziale Sanktionen vermeiden will. Vielleicht gibt es einen weiteren Begriff der Sanktion, wonach es nicht-soziale moralische Sanktionen gibt. Klar scheint aber zunächst, daß beim Handeln von jemanden, der eine Lüge nur deshalb vermeidet, weil er die Sanktion vonseiten anderer vermeiden will, etwa das Risiko, von seinem Vorgesetzten entdeckt und entlassen zu werden, etwas ,moralisch gesehen' nicht in Ordnung ist. Weniger klar ist, was dabei nicht in Ordnung ist. Denn es kann entweder nicht in Ordnung sein, daß er die moralische Pflicht nicht aus dem richtigen Motiv heraus vollzieht obwohl er durchaus der moralischen Pflicht gehorcht und in diesem Sinn auch moralisch handelt. Oder es kann - weitergehend - nicht in Ordnung sein, daß er der moralischen Pflicht nicht gehorcht, weil dazu ein Motiv des Befolgens der Pflicht um ihrer selbst willen gehört, so daß überhaupt kein moralisches Handeln vorliegt, sondern nur ein äußerlich gesehen moralähnliches. Kant hat die zweite Lesart vertreten, indem er zwischen ,pflichtmäßigem' Handeln und dem Handeln ,aus Pflicht' unterschied, und nur das zweite als moralisches Handeln einstufte (GMS, 1. Abschnitt). Doch nicht allen ist offenkundig, warum das moralische Handeln begrifflich so gefaßt werden muß, damit man es nur für ein Handeln, das aus sich selbst heraus moralisch motiviert ist, verwenden kann. Keinesfalls darf das nur eine Definitionsfrage sein, denn dann wäre ja offen, wie man sich entscheidet. Die Alternativen scheinen die folgenden zu sein. Wenn wir uns den moralischen Pflichten von den Rollenpflichten her nähern und zu sehen versuchen, wo sie sich von ihnen unterscheiden, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, sie sind den Rollenpflichten ähnlich in dem Sinn, daß sie auf eine Form des sozialen Zwangs zurückgehen, der in ihrem Fall eine allgemeinere Form von Zwang sein müsste. Oder, sie sind den Rollenpflichten nicht ähnlich, insofern die Motivation aus einem Erkennen der Pflichten heraus entspringt, und dann bestenfalls aus einem in diesem Erkennen enthaltenen Zwang. Beide Alternativen haben dunkle Aspekte. Auf der einen Seite: gibt es diese Art der allgemeineren Sanktion für die moralischen Pflichten? Gibt es sie, wenn wir einmal die sonst üblichen sozialen Sanktionen, vor allem die der Rollenpflichten, gleichsam aus dem Bild abziehen? Und warum gibt es sie? Warum sollte es sie geben? Worauf kann sie beruhen? Auf der anderen Seite: wieso erzeugt ein Erkennen der Pflichten einen Zwang, eine Motivation oder beides in bestimmter Verbindung? Die Rede von einem .inneren Zwang' ist zwar beliebt, aber das sagt nicht, daß sie sinnvoll ist. Die beliebtesten Annahmen sind meist die fiktivsten. Bis zu diesem Punkt bin ich weitgehend deskriptiv vorgegangen. Ich habe beschrieben, wie man die Pflichten sehen könnte oder wie die Rollenpflichten beschaffen sind. Bei einem
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so allgemeinen Begriff wie dem der ,moralischen Pflichten' reicht es aber nicht aus, ein verbreitetes Verständnis zu schildern, es ist nötig, zu einem normativen Verständnis überzugehen. Ohne dieses Übergehen ist die Frage, wie sich moralische Pflichten von anderen sozialen Pflichten unterscheiden, nicht zu klären. Ein solches Übergehen ist allerdings folgenreich: es bedeutet nämlich, daß wir in eine Argumentation zur Wahrheitsfähigkeit moralischer Pflichten übergehen. Das ist der Unterschied zwischen der deskriptiven und der normativen Einstellung: in der ersten reden wir über die Gegenstände, ohne ihre eigene Normativität zu thematisieren, in der zweiten reden wir über die Gegenstände unter Rücksichtnahme auf ihre eigene Normativität. Wir reden dann beispielsweise über die Meinungen anderer unter Einbezug der Gründe, warum sie richtig sein könnten. „Was sind moralische Pflichten?" könnte man dieser neuen, normativen Betrachtung nach verstehen als „was sind rationalerweise moralische Pflichten?", oder „wovon kann man in rationaler Einstellung sagen, daß es moralische Pflichten sind?". Diese Umschreibung folgt der verbreiteten Annahme, daß Rationalität (Vernunft) ein umfassenderer Begriff ist als Moral, so daß man sich moralischen Dingen gleichsam von außen nähern kann, indem man sich ihnen rational nähert. Wenn man diese Unterstellung nicht teilt, ist eine einfache Umschreibung schwierig, die das Prädikat „moralisch" eindeutig verwenden würde. Wir sollten dennoch die Möglichkeit einräumen, daß die Rationalität nicht umfassender ist als die Moral. Die Frage, was rationalerweise moralische Pflichten sind, gibt sofort einen Hinweis darauf, warum Pflichten verpflichten, bzw. warum Pflichten nötig sind. Nämlich: weil es Gründe gibt, Pflichten zu befolgen. Und nötig, weil wir die Gründe meist nicht, oder nicht hinreichend, kennen. Nach der eben betrachten Unterscheidung können das rationale oder selbst moralische Gründe sein, in jedem Fall aber sind es Gründe. Den Begriff des Zwangs allerdings nur auf der Ebene von Gründen einzustufen, würde voraussetzen, daß die reale Existenz von Menschen wesentlich auf der Ebene von Gründen stattfindet, was die Bedeutung des Rests verkennt. Daß der Zwang der Pflichten nur ein Zwang von Gründen ist, ist deshalb unwahrscheinlich. Menschen sind handelnde, bedürftige und verletzliche Wesen, und ein Zwang spricht sie deshalb nicht nur rational, sondern auch vielfaltig anders an. Wie zwingen Pflichten aber dann? Eine Alternative haben wir bereits gesehen: über Sanktionen. Der Einwand blieb jedoch, daß diese Erklärung nicht angemessen ist für moralische Pflichten. Die andere Alternative war: über das Erkennen der Pflichten, und damit letztlich aufgrund der Beschaffenheit der Pflichten selbst. Der Einwand war, daß diese Erklärung dunkel ist hinsichtlich des Entstehens von Zwang. Die Dunkelheit hat sich eben noch verstärkt, insofern der moralische Pflichtenzwang nicht einfach nur ein Gründezwang sein kann. Das würde, wie eben argumentiert, der Bedeutung der Moral nicht gerecht. Die Moral ist nicht nur ein Argumentationsspiel, oder eine Sammlung von Gründen, oder ein Menge von Urteilen. Beide Alternativen sind exklusive und zusammen erschöpfende Alternativen, wenn man die Unterscheidung von extern und intern lokalisiertem Zwang verwendet. Ist die Dunkelheit in beiden Alternativen also nicht zu beheben, dann gibt es entweder keine Pflichten, oder Pflichten, wenn es sie gibt, zwingen nicht. Meiner Meinung nach ist das der Fall.
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2. Die sanktionistische Analyse von Pflichten Die Tradition, in der Pflichten als soziale Sanktionsinstrumente gefaßt werden, ist die Hobbessche, und sowohl bei Hobbes wie im Rechtspositivismus von J. Austin, H. Kelsen und H. Hart, in dem ebenfalls der Sanktionsgedanke im Vordergrund steht, ist die Unterscheidung von Moral und juridischem Recht verloren gegangen. Den Rechtspositivisten geht es um juridische Rechte und ihre Verankerung in einer konkreten Gesellschaft, wozu sie, in Abgrenzung zu den sogenannten ,Naturrechtlern', auf die Rückführung auf eine Moral verzichten wollen. Daß sie selbst von ,Recht' und nicht von ,Moral' sprechen, ist meines Erachtens insofern belanglos, als auch an das Recht aus unserem Selbstverständnis heraus moralische Ansprüche gestellt werden, die diese Theorie erst einmal erfüllen muß. Wie würde eine sanktionistische Analyse der moralischen Pflichten aussehen und wie würde der Eindruck beantwortet, daß es sich bei ihr weniger um eine der Moral als vielmehr um eine dem juridischen Recht angemessene Analyse handelt? Betrachten wir dazu den Vorschlag von P. Stemmer, der kürzlich eine Analyse dieser Art vorgeschlagen hat (Stemmer 2000; 2002). Nach Stemmer müssen moralische Pflichten die folgenden drei Bedingungen erfüllen: sie müssen (i) in ihrer tatsächlichen sozialen Geltung im Interesse aller sein; (ii) autonom in dem Sinne sein, daß diese Rückführung auf die Interessen von jedem rational akzeptiert wird oder akzeptiert werden sollte; (iii) sanktionsbewehrt sein, um individuelle Befolgensschwächen zu beheben und eine höhere Sicherheit des von wechselseitigen Erwartungen abhängigen Normbefolgens zu garantieren (Stemmer 2002, 56-67). Man könnte das auch die Interessen-, die Autonomie- und die Sanktionsbedingung nennen. Eine sofort naheliegende Frage lautet, warum die Sanktionsbedingung nötig ist. Reicht als Erklärung des Zwangs in den moralischen Pflichten nicht bereits, daß man erkennt, daß sie (nehmen wir an) im Interesse aller sind? Das wäre doch ein Grund, und Gründe allein können in bestimmtem Sinn zwingen, also den Zwang von moralischen Pflichten ausmachen. Eine solche Analyse schlagen beispielsweise K. Baier (1966) und W. D. Falk (1948) vor. Wie die meisten Vertreter der Hobbesschen Tradition ist jedoch auch Stemmer der Meinung, daß eine Einsicht in die allgemeine Korrelation der Pflichten mit den Interessen deshalb nicht ausreicht, weil nicht alle Individuen, oder sogar die wenigsten, die Interessen aller sich soweit zum eigenen Interesse machen, daß ein solcher Grund, wenn er für sie überhaupt bestünde, sie zwingen würde. Die meisten Hobbesianer vertreten eine ,Wunschtheorie' von praktischen Gründen, wonach die bloße Einsicht in die Lage der Interessen allein noch nicht hinreicht, um einen effektiven Grund, oder auch (damit verbunden oder gleichbedeutend) ein effektives Motiv abzugeben, um entsprechend zu handeln. Die Sanktionsbedingung soll dieser empirischen Annahme Rechnung tragen. Mein Einwand gegen Stemmers Analyse lautet, daß sie erstens verdächtig inkohärent ist, und daß sie zweitens unvollständig ist. Die Unvollständigkeit sieht man erst, wenn man den Verdacht der Inkohärenz gesehen hat. Der Einwand der Unvollständigkeit deutet entweder auf eine alternative Erklärung der Pflichten, etwa diejenige Kants oder neokantischer Versuche, oder auf eine Theorie der Moral, in der Pflichten keine oder jedenfalls keine große
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Rolle spielen. Ich denke, daß das letztere zutrifft. Meines Erachtens sollten wir die Pflichten als zentralen Moralbegriff aufgeben. Weil das in der Moralphilosophie auch bedeutet, daß wir zentrale Gedanken von Hobbes und Kant aufgeben müssen, ist ein solches Aufgeben natürlich nicht einfach. Warum es dennoch nötig ist, will ich im folgenden zeigen. Ein Verdacht der Inkohärenz der drei Bedingungen liegt nicht offen zutage, weil es ja beispielsweise ganz vernünftig scheint, daß man mit einem Unbekannten, wenn man mit ihm eine wichtige Verabredung trifft, zugleich eine zusätzliche Abmachung trifft, was eintreten sollte, wenn er die Verabredung nicht einhält. Wenn es beide Seiten etwas ,kostet', die Verabredung zu brechen, so wird das Einhalten der Verabredung sicherer werden. Diese Überlegung ist dann nicht völlig unsinnig, wenn nicht völlig ausgeschlossen ist, daß Sanktionen im Fall des Brechens der Verabredung auch wirksam werden. Nur wenn das ausgeschlossen wäre, wie gegenüber dem Besitzer von Gyges Ring (in Piatos Ringparabel), wäre die Sanktionsbedingung überflüssig. Zu beachten ist jedoch die Art unserer Fragestellung. Wir fragen nicht, deskriptiv, welche Art von Verhaltenssystem die Moral ist, oder wie effektive Sozialnormen in einer Gesellschaft aussehen, oder aussehen können, sondern welche Moral, normativ betrachtet, akzeptabel oder wirksam sein sollte. Oder anders: wir fragen, welche Moral aufgrund welcher entweder in ihr inhärenten oder für sie anzuführenden Gründe eine wirksame Moral sein kann, oder welche es ist.1 Dieser Frage kommt die Hobbessche Analyse auch ein Stück entgegen, mit der Behauptung, daß die Moralnormen im Interesse aller Mitglieder sind. Fragen wir aber jetzt genauer, was Ursprung des Zwangs der moralischen Pflichten sein soll, so liegt dieser Ursprung nicht in den Sanktionen der anderen, sondern in den Interessen, oder den Gründen für Moral, und damit beginnt die mögliche Inkohärenz des Modells sichtbar zu werden. Dabei ist allerdings eine Lesart des Hobbesschen Modells auszuschließen, die in der Analyse Stemmers tendenziell mitgemeint ist und häufig sogar explizit vertreten wird. Wenn wir sie beachten, wird die Inkohärenz vermieden. Zwei verschiedene Lesarten des Modells sind das aufgeklärte und das stellvertretende. In der aufgeklärten Lesart müssen die Gründe für die Sanktionsbewehrtheit der Pflichten den Gesellschaftsmitgliedern nicht nur verständlich sein, sie müssen sie auch teilen, eben im Sinn von (i)-(iii). In der stellvertretenden Lesart müssen die Gründe nicht verstanden und geteilt werden, es ist etwa nur nötig, daß Sanktionen wirksam sind. Der Unterschied hinsichtlich des Ursprungs des moralischen Zwangs ist der folgende: bei einem Verständnis der rationalen Gründung von Normen und Sanktionen in den allgemeinen Interessen beruht der moralische Zwang letztlich auf der Einsicht in die rationale Ausgewiesenheit der Normen und der Sanktionen, ohne dieses Verständnis beruht der Zwang nur auf den Sanktionen, oder auf der Möglichkeit von Strafe. Daraus ist zu folgern, daß das Rückfuhren des moralischen Zwangs auf Sanktionen nur in der stellvertretenden Lesart des Modells gilt, nicht in der aufgeklärten.
Die normative Frage muß nicht so verstanden werden, daß sie auf eine ideale Moral gerichtet sein muß, die gegenwärtig nicht existiert oder nie realisierbar ist. Die normative Frage kann ebenso auf die bestehende Moral gezielt sein, und sollte es schon deshalb, weil die bloße Existenz der bestehenden Moral nahelegt, daß es für sie auch gute Gründe gibt, wenn man nicht unplausiblerweise unterstellt, daß Gründe für die Existenz von sozialen Phänomenen keine Rolle spielen.
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Für die aufgeklärte Lesart der Analyse ist die Frage, inwieweit Sanktionen in der Moral nötig sind, von untergeordneter, und keineswegs der zentralen Bedeutung, die das sanktionistische Element für die Rechtspositivisten, oder auch für Stemmer tatsächlich hat (s. 2002, bes. 38-40,45-51). Der externe Zwang, sofern er in der Moral zusätzlich nötig ist, beruht ja dann immer auf einem internen Zwang, nämlich den aus den Interessen entspringenden Gründen. Das Ausmaß und die Art des externen Zwangs muß mit Gründen, die sich auf die Interessen beziehen, legitimiert werden, und ist so berechtigt, wie diese Gründe es zu belegen vermögen. Der ,Zwang' der Sanktionen ist deshalb letztlich ein rationaler Zwang im Sinn der Gründe, die auf Interessen zurückgehen. Der moralische Zwang ist ein Gründezwang, dies seinerseits verstanden als Zwang durch die zu erfüllenden Interessen. An diesem Punkt entsteht die Lücke. Die Vertreter des Hobbesschen Modells müssten sagen können, warum eine Einsicht in den Sachverhalt, daß die moralischen Normen allgemein vorteilhaft sind für die Interessen, auf sie einen Gründezwang ausübt. Ein solches Unterfangen scheint kaum möglich ohne selbst bereits moralische Individuen oder die Akzeptanz moralischer Einsichten vorauszusetzen, denn die Interessen aller Menschen oder Lebewesen für praktisch relevant anzusehen ist wohl bereits eine moralische Einstellung. Wie vorhin betont, vertreten die Hobbesianer auch meist eine Wunschtheorie praktischer Gründe, in der eine solche Annahme vermieden wird. Wenn damit nicht der Wunsch unterstellt wird, sich die Interessen aller zu relevanten Gründen zu machen, so ist auf diese Weise die Lücke ebenfalls nicht zu überbrücken. Die Hobbesianer können also nicht sagen, warum der in den allgemeinen Interessen ansetzende Gründezwang ein Zwang ist, oder (einfacher gesagt) warum allgemeine Interessen Gründe sind, die jeden einzelnen zwingen oder ansprechen. Der Hobbesianer benötigt eine Erklärung, die er nicht geben kann. Es könnte als Ausweg scheinen, daß sowohl die Inkohärenz wie die darauffolgende Lükke durch die stellvertretende Lesart des Modells vermeidbar wären. Aber das ist nicht der Fall, denn die Inkohärenz tritt auch bei denen zutage, die das Modell stellvertretend formulieren, also bei den Philosophen. Wenn eine Inkohärenz in einem Modell besteht, so ist es unerheblich, wieviele Leute davon wissen. Inkohärenz ist ein epistemischer Mangel, dessen negative Qualität durch weitere Folgen nicht beeinflusst wird. Im übrigen nähme der Versuch einer rationalen Verteidigung der stellvertretenden Lesart schnell wiederum offene Züge von Inkohärenz an: denn rationales Argumentieren wendet sich an eine unbegrenzte Menge von Teilnehmern und kann nicht auf ,Eingeweihte' oder ,Stellvertreter' begrenzt werden.
3. Moralische Kritik Um sowohl einen Blick zurück wie einen nach vorne werfen zu können, ist es auch hilfreich, die Auffassung des Zwangs in moralischen Pflichten aufgrund von Sanktionen mit der Art des Zwangs zu konfrontieren, die in unserer Alltagsmoral tatsächlich üblich ist. Damit soll nicht gesagt werden, daß die Alltagsmoral selbst das letzte Argument für alle philosophischen Probleme mit der Alltagsmoral wäre. Es soll nur darauf verwiesen werden, wie weit die sanktionistische Analyse von der Alltagsmoral entfernt ist, und was nötig wäre, um den Zwang moralischer Pflichten zu erklären, so wie die Alltagsmorall zunächst einmal beschaffen ist. Damit ist natürlich offen, ob das tatsächlich geht.
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Die übliche Form von moralischen Sanktionen in der Alltagsmoral ist die der ,moralische Kritik'. In der moralischen Kritik äußert man gegen sich oder andere ein negatives moralisches Urteil und die Sanktion besteht in, oder ergibt sich aus, diesem Urteil. Begleitend oder in Folge des Urteils können moralische Affekte wie Betroffenheit, Empörung, Ekel, Entsetzen, Verärgerung, Wut eine Rolle spielen, und aus diesen Affekten können weitere soziale Sanktionen folgen. Die Grundlage aller Folgen ist jedoch das moralische Urteil, oder der moralische Vorwurf, auf den sich die Kritik auch emotionslos reduzieren kann. Die Folgen, einschließlich der Affekte, sind Zugaben zur Kritik und nicht deren Inhalt. Ohne diese kognitive Voraussetzung der Kritik werden alle Folgen bedeutungslos. Und das ist es, was in der sanktionistischen Analyse übersehen wird. Sie will (oder muß) nämlich das moralische Urteil durch die Folgen des Urteils ersetzen. Moralische Urteile sind jedoch Gegenstand von Überzeugungen, und Überzeugungen können durch überzeugungsunabhängige Sanktionen nicht ersetzt werden. Wenn wir beobachten, wie moralische Sanktionen im Alltag wirken, ist das sofort klar. Soziale Sanktionen verschiedenster Art können sowohl nur verhängt wie wirksam angenommen werden, wenn sie auch kognitiv akzeptiert werden. Der Sanktionierende kann nur sanktionieren, wenn er glaubt, daß das richtig ist, und der Sanktionierte kann eine Sanktion nur dann annehmen, wenn er an ihre Berechtigung glaubt. Zur Wirksamkeit der moralischen Sanktion gehört in gewisser Weise, daß der Sanktionierte fähig und bereit ist, sich selbst zu sanktionieren, den Vorwurf der anderen sich selbst gegenüber zu erheben. Andernfalls bleibt es bei einem äußerlichen Strafgeschehen, das unerklärlich lassen würde, warum die moralische Kritik eine tiefergehende Wirkung entfalten kann als jede äußerliche Drohung.2 Wir können hier festhalten, daß die praktische Relevanz der Alltagsmoral von einem Richtigkeitsbewußtsein mit spezifisch moralischen Inhalt abhängt und ohne sie nicht wirksam wäre. Das ist es jedenfalls, was die Alltagsmoral typischerweise ausmacht, und sowohl vom juridischen Recht wie von Klugheitsnormen unterscheidet. Die Hobbesianer sind zwar meist bereit, diese Diagnose zu teilen, sie sehen aber keine Möglichkeit, von einem rationalen Standpunkt aus die Alltagsmoral anders als unter den Aspekten von Klugheit und Recht zu rekonstruieren. Eine Weise, die Hobbesianer zu kritisieren, bestehet deshalb darin, völlig klar zu machen, was sie tatsächlich tun: die Moral eher auflösen als sie rekonstruieren. 4. Die Schwierigkeit mit Kant Aus dem, was der Hobbesschen Analyse des moralischen Zwangs und der Moral generell fehlt, läßt sich darauf schließen, was eine erfolgreichere Erklärung zeigen müßte. Was die bisherige Analyse nicht berücksichtigt, ist die Einsicht in ein Richtigkeitsbewußtsein mit moralischem Inhalt. Wenn wir nach dieser Einsicht, oder nach diesem moralischen Bewußtsein, in deskriptiver Einstellung fragen, sind wir einfach auf die moralischen Überzeugungen des Alltags verwiesen. Sie sind unsere Beispiele für ein moralisches Bewußtsein. Da wir aber nicht eigentlich wissen wollen, was im Alltag für moralisches Bewußtsein gehalten
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Der rationale Zusammenhang zwischen dem Ausüben von Sanktionen und dem Überzeugtsein von deren Richtigkeit ist vermutlich schwächer als der zwischen dem Akzeptieren von Sanktionen und der Richtigkeit. Dennoch ist er vorhanden.
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wird (weil wir das bereits hinreichend wissen), fragen wir in normativer Einstellung, also nach einer rationalen Version des moralischen Bewußtseins, einer auf Gründen beruhenden. Welche Gründe könnten das sein, die nicht auf Interessen zurückführen? Die zwei allgemeinst möglichen Antworten sind: es können nur entweder Gründe sein, die auf die Vernunft in einem vorgängigen, also unabhängig von den Interessen zu verstehenden Sinn zurückgehen, oder Gründe, die auf die Moral selbst zurückgehen, genauer auf ein (mehrere) notwendige(s) Element(e) in der Moral, und damit in jeder konkreten Moral. Derjenige Philosoph, der eine Moraltheorie entwickelt hat, die beide Anworten in Verbindung umfaßt, ist natürlich Kant. Sich auf seine Theorie ausfuhrlicher einzulassen, ist ein schwieriges und vor allem zeitraubendes Unterfangen, so daß ich es hier vermeiden will. Statt dessen will ich mich begnügen, auf eine zentrale Schwierigkeit hinzuweisen, die eine kantianische Analyse der moralischen Pflichten nicht beantworten kann. Diese Schwierigkeit hat mit dem Zusammenhang der Begriffe , Vernunft' und ,Moral' zu tun. Wie eben geschildert, muß eine normative Analyse des moralischen Bewußtseins dieses Bewußtsein, genauer die Überzeugungskraft in diesem Bewußtsein, auf die Vernunft zurückfuhren, was in einem naheliegenden Verständnis heißt, auf die Fähigkeit, Gründe zu geben. Diese Fähigkeit ist sicher eine so zentrale menschliche Fähigkeit, daß man sowohl sagen kann, in irgendeinem plausiblen Sinn, daß sie ,wesentlich' ist für Menschen, wie daß sie .notwendig' ist. Ohne diese Fähigkeit ist ein Mensch zwar genetisch ein Mensch, aber er kann nicht das, was Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet. Dasselbe gilt allerdings auch für die Moral, so daß von daher plausibel erscheint, wenn beides in einer zusammenhängenden Analyse, wie Kant sie gibt, entweder sehr eng miteinander verbunden oder sogar identisch ist.3 Das in dieser Analyse entstehende Problem ist aber nicht unähnlich mit dem Konflikt, der (wie wir sahen) zwischen der aufgeklärten und der stellvertretenden Lesart des Hobbesschen Modells besteht. Kants Analyse leidet unter demselben Problem, sie hat, meines Erachtens, dieses Problem nicht offensichtlich gelöst. Dabei ist, im Unterschied zum Hobbesianismus, zwar von vornherein klar, daß die Analyse der Moral nicht stellvertretend gemeint ist, sondern aufgeklärt. Nicht klar ist jedoch, inwieweit das im Rahmen eines in sich kohärenten Gedankengangs möglich ist. Wiederum betrifft das die Art und Weise, wie die Moral und die Vernunft, oder wie die Gründe, aus denen man moralisch handelt, und Gründe überhaupt, zusammenpassen sollen. Wie von vielen, besonders aber von A. Schopenhauer, bemerkt worden ist, hat Kants Vernunftanspruch keineswegs eindeutig aufgeklärte, sondern eher autoritäre Züge.4 In dem Augenblick, in dem die Vernunft substantiviert und den einzelnen vorgeordnet wird, entsteht ein strukturell durchaus ähnliches Verhältnis zwischen vernünftigen Menschen und der 3
Die eben vollzogene Überlegung ist allerdings direkter im 1 .Buch der Nikomachischen Ethik nachzulesen, in dem Aristoteles als besonders menschlich die spezifischen ethischen und dianoethischen Tätigkeiten herausstelt.
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Siehe: Schopenhauer, Preisschrift über das Fundament der Moral, 1840, bes. § 4. Neuere Kritiker sind Anscombe (1958), Williams (1985, 178-192) und Tugendhat (1993, 7.Vorl.). Ähnlich wie Schopenhauer kritisieren sie ein Festhalten an einer theonomen Moral. Teilweise (Anscombe) scheinen sie auch bereit, die Pflichten als zentrale moralische Elemente aufzugeben. Manche (Tugendhat) setzen allerdings auf die Hoffnung des Kontraktualismus.
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Vernunft wie zwischen Gläubigen und Gott in einer theologischen Gebotstheorie der Moral. An die Stelle des traditionellen Begriffs ,Gott' ist nur ein abstrakterer Begriff getreten, der freilich auch zur Folge haben soll, daß die vernünftigen Menschen an der Vernunft inhaltlich partizipieren und den Inhalt der Gebote selbst herausfinden können sollen. Der Unterschied ist allerdings eher graduell. Gegenüber Kants Texten stellt sich das Problem der Verbindung von Moral und Vernunft anhand der Frage, was es heißt, ,aus Pflicht' zu handeln (GMS, 1. Abschnitt). Wir können Kant darin leicht folgen, daß das den Pflichten nur entsprechende Handeln, wie das des Kaufmanns, nicht verdient, ,moralisch' genannt zu werden. Soll nun aber positiv gesagt werden, aus welchem Motiv dann moralisch gehandelt wird, so haben die weiteren Antworten Kants (GMS, 399-402) alle ihre Probleme. Erstens, um der Pflicht willen - eine offensichtlich zu kurze Auskunft. Zweitens, um eines ,Prinzip des Wollens' willen, sprich einer Maxime. Wiederum eine zu knappe Angabe, weil nicht jedes Prinzip moralische Qualität haben kann. Drittens um des Gesetzes willen, wonach die konkreten Maximen vernünftig werden, und viertens der Achtung wegen, die diesem Gesetz gebührt. Zwar sagt Kant deutlich, daß wir dem Gesetz nicht nur unterworfen sind, sondern es uns selbst auferlegen (GMS, 402 Fn.), aber solange dieser paradoxe Doppelcharakter nicht einsichtig ist, solange vor allem unklar bleibt, wie man aus der Vernunft Pflichten erzeugt, bleibt der autoritäre Aspekt der Pflichten bestehen. Man kann auch sagen, daß der autoritäre Aspekt deshalb bestehen bleibt, weil einfach behauptet wird, es gebe ein Gesetz, das Inbegriff der Vernunft ist und das bestimmte konkrete Pflichten gebietet. Kant ist außerstande, dies im Detail zu zeigen, aber er behauptet es mit großer Gewissheit. Das ist aber die typische Form eines Glaubens, weshalb Kant strukturell gesehen einen Vernunftglauben vertritt, ähnlich wie andere vor und nach ihm einen Gottesglauben vertreten. Daß diese Glaubenseinstellung seiner eigenen Argumentation widerspricht, ändert nichts an ihrem Charakter. Die Züge des Vernunftglaubens treten in Kants dominanter Argumentation sowohl in der Grundlegung wie in der Kritik der praktischen Vernunft hervor, soweit sie an die Rede vom ,Gesetz' und die Unterscheidung von Form und Inhalt gebunden ist.5 Das für Kant typische Aufklärungsproblem der Moral läßt sich deshalb in etwa so formulieren. Aus zwei Gründen heraus scheint ausgeschlossen, daß der allgemeine Anspruch der praktischen Vernunft, zugespitzt in einem praktischen ,Gesetz', zu einem Moralmotiv wird. Erstens setzt dieser Gedanke nämlich voraus, daß alle Menschen, indem ihnen ihr konkretes Tun verständlich aus einem einzigen praktischen Gesetz heraus entspringt, Philosophen sein müssten, oder daß sie jedenfalls ein wesentlich höheres Maß an rationalem Selbstverständnis aufbringen müssten, als das bei durchschnittlichen Menschen der Fall ist oder sein kann. Und zweitens würde der Gedanke bedeuten, daß die entsprechende Moral mit der uns bekannten Moral ebensowenig zu tun hätte wie das Strafsystem der Kontraktualisten. Ein Gelingen der Kantischen Begründung würde die uns bekannte Moral auflösen. Wir würden dann nämlich der Vernunft wegen handeln und nicht der anderen Menschen wegen. Eine solche Moral wäre nicht weniger unmenschlich wie die Strafmoral, es würde die Menschen der Vernunft unterwerfen.
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Bes. GMS 420-421,427; KpV Analytik §§ 4-5.
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5. Drei Moralen Man kann das Scheitern der Kontraktualisten auf den folgenden Punkt bringen: wenn wir Gründe dafür wollen, warum die moralischen Pflichten befolgt werden sollen, dann ist mit dem Besitz von Gründen einerseits nicht vereinbar, daß wir schlicht einem sozialen Zwang ausgesetzt werden, andererseits ist es nicht ausreichend, daß die Pflichten ,in unserem Interesse' sind.6 Analog wäre an eine kantianische Begründung die Forderung zu stellen, daß die von ihr genannten Gründe das moralische Handeln nicht bis zur Unkenntlichkeit verändern. Da es in normativer Sicht problematisch ist, sich auf eine Definition von Moral festzulegen, können wir nur negativ fordern, daß die Moral nicht in ein bloßes Argumentationsspiel aufgelöst werden darf, oder daß der Zwang von Pflichten nicht nur einer von Gründen sein darf, ohne Bezugnahme auf Eigenschaften, wie sie in einer anthropologischen Interpretation der Moral naheliegen: Bedürftigkeit, Sicherheit, Orientierung, Kooperation, usw. Zugespitzt kann man also fordern, daß moralische Gründe irgendwie anthropologisch gehaltvoll sein müssen, um als solche gelten zu können. Betrachten wir dazu drei verschiedene Moralmodelle. Die Interessenmoral. Diese Moral entspricht dem Kontraktualismus. In ihr verfolgen die Menschen ihre Projekte, um ihre Interessen zu befriedigen. Erfolgreiche Akteure in dieser Moral sind diejenigen, deren Interessen möglichst weitgehend erfüllt werden. Die Akteure können stolz auf ihren Erfolg sein, wenn es ihnen gelingt, bestimmte ihrer Interessen zu erfüllen, oder niedergeschlagen, wenn das mißlingt. Stolz und Niedergeschlagenheit sind Gefühle, die beim Erkennen des Erfolgs bzw. Mißerfolgs meist, wenn auch nicht notwendig, eintreten. Man sieht sich und andere als erfolgreich oder erfolglos. Beispielsweise ist jemand erfolgreich, wenn er gesund, reich und frei ist. Gesundheit, Reichtum und Freiheit sind typische Interessen. Die konventionelle Idealenmoral. In dieser Moral haben die Menschen nicht nur Interessen, sondern auch Ideale. Diese Ideale beziehen sich auf ihre Projekte und auf sie selbst. Die Menschen sehen nicht nur darauf, daß ihre Interessen befriedigt werden, sondern auch, daß sie ihre Ideale aktiv verfolgen. Sie sind ebenfalls stolz, wenn sie im Sinn ihrer Ideale erfolgreich sind. Sie schätzen (entsprechend) auch andere nach demselben Maßstab, dem Erfolg unter denselben Idealen. Abgesehen davon haben sie ein Gefühl des Schätzens derer, die Ideale verfolgen, selbst dann, wenn sie nicht oder noch nicht erfolgreich sind. Sie schätzen sich selbst, oder verlieren dieses Schätzen nicht, auch wenn sie eine Niederlage erlitten haben, oder wenn sie erfolglos sind. Sie schätzen entsprechend auch andere, selbst wenn sie nicht oder noch nicht erfolgreich sind.7
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Daß dieser letztere Grund zunächst eher einleuchtend erscheint, hat damit zu tun, daß er einerseits nicht selbst moralisch voraussetzungsvoll wirkt, andererseits im Alltag häufig benutzt wird, also sehr vertraut klingt. Allerdings muß man auch bedenken, daß selten besonders klar ist, was unsere Interessen sind, oder daß wir das, was wir im Alltag für unsere Interessen halten, nicht als unerschütterlich annehmen würden. Mit der Rede von Schätzen will ich die Rede von Achten umgehen, weil ich vermute, daß sie in dieser konventionellen Moral noch nicht angebracht ist. Allerdings ist schwer zu zeigen, trotz Kant, was genau die Rede von Achten umfasst.
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In dieser Moral sind Menschen nicht bereits erfolgreich, wenn sie gesund, reich und frei sind. Manche sind nicht nur gesund, sondern sportlich oder eitel, manche nicht nur reich, sondern Kunstsammler oder Mäzenaten, noch andere nicht nur frei, sondern fähig, ihr Leben zu gestalten oder zu riskieren. Diese Menschen handeln auf verschiedene Weisen anders als diejenigen in der Interessenmoral, was nicht heißt, daß ihre Ideale von außen betrachtet, also mit unseren Augen, ,gute' Ideale sein müßten. Sie besitzen teilweise Kriterien, mit denen sie Ideale selbst beurteilen, eben wiederum Ideale, die ihnen ebenfalls vorgegeben sind. In dieser Moral besitzt man freilich keine Methode, um die Ideale selbst systematisch zu prüfen, anzunehmen oder abzulehnen. Die autonome Idealenmoral. In dieser Moral haben Menschen Interessen, wie das der Gesundheit, Ideale, wie das Ideal, ein Ferraribesitzer zu sein, und außerdem sind sie fähig, ihre Ideale nicht-konventionell zu beurteilen, sie anzunehmen oder abzulehnen. ,Nichtkonventionell' heißt, daß sie dazu nicht wiederum ein Ideal einfach übernehmen müssen, ohne es seinerseits nicht beurteilen zu können. Man kann auch sagen, daß die Menschen dieser Moral autonom sind, denn sie können die Kriterien, nach denen sie ihr Leben leben, aus eigener Kraft beurteilen und verfolgen, oder anders, sie können ihr Leben autonom leben. Autonom verfolgte Ideale sind solche, in denen der Akteur ein eigenständiges Urteil über die Richtigkeit der Ideale gefallt hat. Ich nenne diese drei Schilderungen solche jeweils einer ,Moral', ohne daß dabei das für eine Moral Typische, nämlich bestimmte Beziehungen zu anderen, erwähnt wurde. Diese Beziehungen sind aber in der jeweiligen Moral enthalten und könnten leicht beschrieben werden. Wichtiger sind nämlich die Voraussetzungen, unter denen die sozialen Beziehungen möglich sind. Die sozialen Beziehungen in diesen Modellen sind jeweils solche auf der Grundlage von Interessen, konventionellen Idealen und autonomen Idealen. Unsere Alltagsmoral ist dem Selbstverständnis nach weitgehend eine des dritten Modells, auch wenn die Praxis mehr oder weniger stark von den beiden anderen Modellen geprägt sein mag. Ideale - und das dritte Modell ist insgesamt ein komplexes Ideal - sind aber damit verträglich, daß sie nicht vollständig realisiert werden. Soweit handelt es sich allerdings nur um eine phänomenale Beschreibung, nicht um eine normative. Eine normative Rekonstruktion wird wichtig, wenn es entweder darum geht, die Reichweite der jeweiligen Modelle genauer zu ermitteln, oder die Verträglichkeit von Begriffen mit konkreten Voraussetzungen zu prüfen. Eine naheliegende Frage ist dann: ist ein Gefühl der Achtung, des Achtens seiner selbst und anderer, mit der Interessenmoral vereinbar? Eine andere Frage ist: welche Voraussetzungen sind nötig, damit man von autonomen Idealen sprechen kann? Beide Fragen hängen insofern zusammen, als die Rede von Autonomie, die für autonome Ideale unverzichtbar ist, mit der Interessenmoral vereinbar oder unvereinbar sein kann. Dennoch will ich die erste Frage, und damit das Interessenmodell, nicht weiter diskutieren. Die Rückschlüsse auf dieses Modell, und auf den Kontraktualismus, aus einer plausiblen Theorie autonomer Ideale liegen aber auf der Hand. Wichtiger ist es, eine solche Theorie zu entwickeln.
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6. Notwendiges Selbst und Lebensgüter Die Kantische Erklärung für die Autonomie von Idealen, oder generell von Autonomie, sieht etwa so aus. Das Kriterium für Autonomie ist Vernunft, in einer naheliegenden Interpretation also die Fähigkeit, Gründe zu haben. Damit ein bestimmtes Ideal ein autonomes Ideal ist, muß es im Licht meiner Gründe haltbar sein, oder aus meinen Gründen folgen. Die Gründe sind (das ist die spezielle Anforderung des Gesetzes) allgemeine Gründe, oder haben die Eigenschaft der Allgemeinheit in dem Sinn, daß sie nicht nur für mich, sondern für jedermann gelten. Nur in der Orientierung an Gründen, die nicht nur für mich, sondern für jedermann gelten, kommt meine Autonomie zum Ausdruck, und nur sofern ich meine Ideale danach überprüfe und umorientiere, daß sie mit den Idealen aller anderen vereinbar sind, handle ich autonom. Ausdruck dieser Selbstkorrektur ist die Moral, so daß ich nur autonom handle, indem ich moralisch handle. Am problematischsten in diesem Gedankengang ist die Unschärfe bezüglich der Verbindung von Autonomie und Gründen.8 Kants Texte sind meines Erachtens mehrdeutig dazu, ob Gründe nur notwendig oder auch hinreichend sind für Autonomie.9 Ungeachtet dieser Mehrdeutigkeit ist aber vor allem die Annahme unplausibel, unsere Autonomie bestünde nicht in einem individuellen und persönlichen Selbst, einem individuellen und persönlichen Verfügen über Gründe, sondern in einem allgemeinsten Selbst, das wir mit allen anderen Vernunftwesen teilen. Unser eigentliches' Selbst ist danach unser .vernünftiges' Selbst, und dieses Selbst wäre bei allen Menschen dasselbe Selbst und bestünde in der Allgemeinheit der Gründe. Ganz abgesehen von der schwierigen ontologischen Seite dieser Annahme ist auch die damit verbundene Auflösung des persönlichen Selbst schwer akzeptabel. Wenn wir hingegen annehmen, daß wir jeweils persönlich verschiedene Wesen sind und autonomes Handeln ein Handeln aus Eigenschaften ist, die wir unverzichtbar mit uns persönlich verbinden, dann ist weder diese Auflösung des persönlichen Selbst akzeptabel, noch die unpersönliche Auffassung von Autonomie. Ein angemesseneres Verständnis von Autonomie ist dann zwar an unser alltägliches Verständnis gebunden, wonach Autonomie an eine Fähigkeit geknüpft ist, die besser oder schlechter ausgeübt werden kann, ohne daß diese Fähigkeit die Konsequenz hätte, mit einem persönlichen Selbst unvereinbar zu sein. Weder Autonomie, noch vermutlich praktische Vernunft, sind dann wesentlich durch die Eigenschaft der Allgemeinheit gekennzeichnet. Das ist nicht so mißzuverstehen, daß es kein objektives Element in der Autonomie gäbe. Ohne ein objektives Element wäre Autonomie selbst undenkbar - und Kant hat auf diesen Zusammenhang zurecht hingewiesen. Er hat nur Objektivität zu schematisch gefaßt. 8
Hilfreich für diese Zusammenhänge ist Frankfurt 1999, Meyers 1995, sowie Scanion 1998, Kap.5. Frankfurt insbesondere hat am eindrücklichsten klar gemacht, daß sich über Autonomie nicht reden lässt, ohne zugleich Annahmen über ein Selbst zu machen. Aufgrund dieser Verbindung läßt sich (wie ich gleich zeigen will) Kants Rationalismus im praktischen Handeln am schnellsten sichtbar machen.
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Denn obwohl er sich explizit dazu ausspricht, daß das Befolgen des Gesetzes das Handeln begrenzt, soll die Vernunft konstitutiv sein für das Handeln, was eine stärkere Relation bedeutet als eine notwendige Bedingung. Siehe: Die Menschheit als Zweck, „der, wir mögen Zwecke haben welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke ausmachen soll" (GMS 431). Und dagegen: „Wenn es ein solches [Gesetz] ist, so muß es (völlig a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden sein." (GMS 426).
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Wenn wir von der Idee ausgehen, daß Autonomie das Kriterium für ein Handeln aus Motiven ist, die wir unverzichtbar mit unserem Selbst verbinden, dann setzt diese Idee Objektivität insofern voraus, daß nicht völlig zur Wahl steht, welche Motive wir mit unserem Selbst verbinden. Wenn wir die Eigenschaften unseres Selbst schlicht wählen könnten, ähnlich wie wir zwischen verschiedenen Losen wählen können, wäre unverständlich, was an diesen Eigenschaften, oder welche unter ihnen, ,unverzichtbar' sein soll. Unverzichtbarkeit ist nur ein anderer Ausdruck für Notwendigkeit, und offensichtlich ist der Begriff des Selbst, in normativer Einstellung, ohne Notwendigkeit nicht zu gebrauchen. Ein Selbst ist per se ein notwendiges Selbst, ein Selbst, das wir nicht umhin können, zu haben. Jedenfalls liegt ein solches notwendiges Selbst am Grund unseres konkreten Selbst, also desjenigen Selbstverständnisses, das wir vage von uns haben, solange wir leben. Ein solches notwendiges Selbst ist gewissermaßen das Ziel unserer direkten oder indirekten Beziehungen zu uns selbst, dasjenige, von dem wir direkt oder indirekt zu ermitteln versuchen, ob wir es sein wollen oder nicht sein wollen.10 Das notwendige Selbst ist außerdem der Ursprung jeder praktischen Notwendigkeit, und damit auch, sofern es sie gibt, der moralischen Pflichten. Ähnlich wie Kants ,Gesetz' ist diese Annahme eines notwendigen Selbst, oder (anders gesagt) die Annahme, daß wir auf eine bestimmte Weise .notwendige Wesen' sind, eine formale und transzendentale Annahme, die sich als Einsicht in die praktische Notwendigkeit aufgrund der Alternativen ergibt. Diese Annahme ist durch unser Selbstverständnis als praktisch Handelnde belegt, in Verbindung mit der Einsicht, daß die beiden denkbaren Alternativen keine wirklichen Alternativen sind. Die eine Alternative: wir haben kein Selbst, es gibt kein Subjekt des Handelns, sondern Handeln ist nur eine Serie von Kausalereignissen.11 Das ist eine konsequente, aber im Alltag nicht lebbare, sondern rein ,philosophisch-skeptizistische' Position. Die andere Alternative: wir wählen willkürlich, es gibt keine objektiven Kriterien für die Wahl.12 Auch das scheint eine konsequente, möglicherweise aber inkohärente Position. Von einer Wahl ohne Gründe ist unklar, warum man sie überhaupt vollziehen soll, und damit, ob es eine Wahl sein kann. Angesichts dieser Alternativen wird aber jedenfalls sichtbar, daß die Annahme eines notwendigen Selbst gewissermaßen lebensnotwendig' ist - ohne diese Annahme wüssten wir nicht, warum wir überhaupt leben sollen. Und wem das harmlos erscheint: die gesamte Reflexivität in Bezug auf unser Leben wäre ebenfalls sinnlos. Autonomie umfaßt also ein notwendiges Selbst, oder ein Element der Notwendigkeit. Diese Annahme stellt sicher, daß Autonomie eine persönliche Eigenschaft ist, daß jemand, der autonom handelt, aus sich persönlich heraus handelt, und nicht aufgrund einer Struktur, die alle Menschen teilen. Soweit fehlt allerdings die inhaltliche Objektivität, die Kant meinte über das Postulat eines moralischen Gesetzes ebenfalls gewinnen zu können. Damit definitiv klar ist, worüber wir dabei reden: es handelt sich dabei um den eigentlichen Inhalt dessen, womit ein notwendiges Selbst zu tun haben sollte. Dieser Inhalt besteht in nichts 10
Indirekte Beziehungen zum Selbst sind alle diejenigen, in denen man sich über Handlungen oder Projekte entscheidet, deren Vollziehen Rückwirkungen auf die eigene Person haben wird. Da sich die persönlichen Eigenschaften nur beschränkt direkt beeinflussen lassen, sind diese indirekten Wirkungen die wichtigeren. 1 ' Das ist, leicht überspitzt formuliert, die Position Humes, vielleicht auch Davidsons. 12 Das ist die Auffassung Sartres in manchen seiner Texte.
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anderem als den Gütern eines menschlichen Lebens, oder allem, was in einem menschlichen Leben ein Gut sein kann. Die Moral, oder eine bestimmte Ordung der sozialen Beziehungen, ist ein unverzichtbares Gut, aber nicht das einzige - es ist ein Gut unter anderen Gütern.13 Man könnte deshalb zusammenfassend von den Lebensgütern sprechen, wobei offen bleiben muß, was alles unter diese Kategorie fallt. Wenn das Selbst dasjenige ist, was eigentlich objektiv und notwendig ist, dann sind die Lebensgüter ,quasi-objektiv', oder abgeschwächt notwendig. Abgeschwächt deshalb, weil sie uns nicht in derselben Weise zwingen, sie zu verfolgen. Ohne ein Selbst wäre das Handeln völlig unmöglich. Ohne Moral kann offensichtlich gehandelt werden, ebenso wie ohne einen Beruf oder ohne Musik, ja selbst ohne Gesundheit. Moral, Berufe, Musik und Gesundheit sind Lebensgüter, die zu mißachten für kein menschliches Leben folgenlos ist. Insofern üben sie einen Zwang oder eine Notwendigkeit auf uns aus. Dieser Zwang ist durchaus unterschiedlich, ohne Gesundheit lebt sich schlechter als ohne Musik. Die Lebensgüter bieten ein unübersichtliches Feld für Entscheidungen und Verhaltensweisen, in dem sich jeder unausweichlich bewegen muß, wenn er sein Leben lebt. In dieser Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Lebensgüter scheint die inhaltliche Objektivität leicht verloren zu gehen, wie das in vielen aristotelischen Betrachtungen der Lebensgüter häufig der Fall ist. Die Offenheit in dem, was Lebensgüter sind oder was an einem anerkannten Lebensgut gut ist, widerspricht aber der Objektivität der Lebensgüter ebensowenig, wie analog die Offenheit der empirischen Realität nicht der Objektivität dessen, was empirisch der Fall ist, widerspricht. Offenheit ist ein subjektiver Begriff. Das empirisch Gegebene kann unterschiedlich interpretiert und erklärt werden und es besteht eine prinzipielle Offenheit, wie man es interpretiert. Analog können die Lebensgüter unterschiedlich interpretiert werden, ohne daß ihre Objektivität dabei infrage gestellt wäre. Gesundheit, beispielsweise, ist nicht beliebig interpretierbar. Was bedeutet nun, angesichts der Lebensgüter, Autonomie? Kant war der Meinung, daß die Autonomie mit dem Moralischsein zusammenfallt. Abgesehen davon, daß er das mithilfe seines Vernunftbegriffs nicht zeigen konnte, und abgesehen auch davon, daß diese Identifikation die restlichen Lebensgüter ungebührlich vernachlässigt, hat er insofern recht, als ein völlig inhaltslos verstandenes Vernünftigsein, ein bloß formales Beherrschen von Gründen, kein hinreichendes Merkmal von Autonomie sein kann. Wir kennen viele weitgehend konventionell lebende Menschen, die durchaus ein ,überlegtes', also formal-vernünftiges Leben fuhren. Und wie wir wissen, lassen sich für Opportunismus, Angepaßtheit, Gehorsam und Unterwürfigkeit in der jeweiligen Situation leider nur zu viele Gründe anfuhren. In Fortsetzung des Kantschen Gedankens, aber in Opposition zu seinem zu engen Verständnis der Lebensgüter ist die bessere Antwort deshalb die folgende: Autonomie ist ein Bewußtsein der notwendigen persönlichen Aneignung der Lebensgüter, und natürlich die reale Aneignung selbst. Was das bedeutet, ist leicht zu verstehen an einem relativ einfachen Lebensgut wie Gesundheit. Jemand ist autonom gesund, wenn er aus eigenem Handeln heraus gesund ist, orientiert nur an dem, was sich objektiv über Gesundheit sagen läßt. Gesundheit ist insofern ein einfaches Lebensgut, als der Interpretationsspielraum, was echte Gesundheit ist, relativ gering ist. Größere Risiken im Umgang mit Gesundheit, wie sie Er13
Die Moral ist mit den sozialen Beziehungen auch nicht identisch, die sozialen Beziehungen bieten mehr, oder haben andere Wertaspekte neben den moralischen.
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fahrungsprozesse unausweichlich umfassen, sind deshalb bei Gesundheit selten.14 Autonom einen Beruf auszuüben ist hingegen viel schwieriger. Autonomie bezieht sich beim Beruf nämlich nicht nur auf das eigenständige Beherrschen eines konventionellen Berufs, etwa Taxifahren, sondern auf das Beherrschen von Tätigkeiten, die ihrerseits überhaupt autonomiefahig sind, oder die Lebensgüter sind, was sich für viele konventionelle Berufe bezweifeln läßt, und sicher für Taxifahren. Um einen Beruf autonom auszuüben, sind deshalb Erfahrungen mit einer Vielzahl von Berufen und Tätigkeiten nötig, und generell ist für Autonomie Lebenserfahrung eine Voraussetzung. Autonomie ist keine lebensferne formale Fähigkeit, sondern eine nur im aktiven Leben konkret zu erringende persönliche Eigenschaft. Autonomie ist letztlich ein Zustand, in dem man real nachweisen muß können, inwiefern man in seinem Leben durch eigenes Handeln bestimmte Lebensgüter erfolgreich erringt oder errungen hat. Entgegen Kants Gleichsetzungen ist also erstens Autonomie nicht dasselbe wie Vernunft. Denn es spricht nichts dafür, den praktischen Vernunftbegriff so eng zu fassen, daß er mit dem notwendigerweise immer inhaltlichen Bewußtsein der Lebensgüter zusammenfallt. Menschen können vernünftig sein, ohne auch bereits autonom sein zu müssen. Und weiter sind zweitens Vernunft und Moral, sowie Autonomie und Moral, nicht gleichzusetzen. Es spricht nichts dafür, vernünftige Menschen mit moralischen zu identifizieren und Autonomie auf die Moral zu begrenzen. Moral ist ein Lebensgut unter anderen, und alle können nur persönlich, also autonom angeeignet werden. Die Moral kann autonom sein, aber auch Gesundheit, Berufe und Musik können autonom sein. Nur wenn man, wie Kant, eine hedonistische Auffassung von den Lebensgütern (,Glückseligkeit') hat, ist man in Gefahr, das zu übersehen.
7. Moral als Lebensgut Alle praktischen Gründe entspringen letztlich aus Lebensgütern. Solche Gründe sind normativ oder (gleichbedeutend) gebieten in dem Sinn, daß sie etwas Wertvolles ausdrücken. 15 „X ist gut" ist deshalb hinreichend für die folgenden beiden Formulierungen: „es gibt einen Grund, x herbeizuführen" und „x sollte herbeigeführt werden". Daß es gesund ist, Wasser zu trinken, ist hinreichend dafür, daß es einen Grund gibt bzw. geboten ist, Wasser zu trinken. Die Normativität der Gründe ergibt sich aus, oder besteht in, der Realisierung oder Nichtrealisierung von etwas Wertvollem. Der Grund, etwas Gutes zu realisieren, besteht darin, daß es etwas Gutes ist. Nennen wir das im folgenden die Wertkonzeption von Gründen. Gegen eine solche Wertkonzeption könnte eingewandt werden, daß sie einfach davon ausgeht, man verfüge über Werturteile. Wenn man weiß, was gut ist, hat man Gründe, das ist sicher richtig. Aber wie weiß man, ohne Gründe, was gut ist? Gegen diesen Einwand scheinen mir zwei Punkte bedenkenswert. Erstens, wir reden nicht über beliebige Werturteile, sondern über Urteile im Sinn von Lebensgütern. Lebensgüter sind diejenigen Güter, die mit 14
15
Ausnahmen sind identitätsverändernde Krankheiten, riskante Operationen und Entscheidungen im hohen Alter. J. Raz nennt diese mit Piaton und Aristoteles verbundene Rückführung aller praktischen Gründe das .klassische Modell'. Siehe: Raz 1999, Kap.2. Im folgenden stehen .Gründe' immer fflr .praktische Gründe'. Die Beziehung zu theoretischen Gründen bleibt hier ausgespart.
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dem typischen Leben von durchschnittlichen Menschen verbunden sind. Während Kant dachte, das Gesetz als Inbegriff der Vernunft wäre das Allgemeinste und die Glückseligkeit irreduzibel individuell, ist vielmehr das notwendige Selbst irreduzibel individuell und die Lebensgüter sind allgemein, oder haben Züge weitgehender Allgemeinheit. Gesundheit bedeutet für die meisten Menschen in gewissem Sinn dasselbe, ähnlich bei Freiheit, produktiver Arbeit oder sozialen Beziehungen. Diese Güter müssen sich nicht auf dieselbe Weise realisieren lassen, sie werden zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Personen verschieden verstanden. Aber sie müssen eine gemeinsame, zu entdeckende ,Logik' teilen. Diese Logik ist Bestandteil unserer Lebenserfahrung mit diesen Gütern. In der Lebenserfahrung kann sie herausgefunden werden.16 Man verfugt nach diesem Verständnis der Lebensgüter über Werturteile so, wie man generell über Urteile verfügt. Diese Konzeption ist sowenig mit einem Wertintuitionismus verbunden, wie die empirische Erfahrung mit einer Sinnesdaten-Theorie verbunden sein muß. Sie kann problemlos einräumen, das ist der zweite Punkt, daß die Werturteile ihrerseits auf Gründen beruhen. Nicht nur sind Werturteile Gründe für etwas, sie beruhen ihrerseits auf Gründen. Das beste Verständnis der empirischen Erfahrung ist ein kohärentistisches, deshalb wäre ein wertintuitionistischer Vorwurf gegen die Lebensgüter antiquiert. Dennoch lassen diese Antworten auf die Einwände eine Lücke bestehen, sofern wir nicht annehmen wollen, daß die Erfahrung der Lebensgüter und die sonstige Erfahrung völlig gleich ist, oder solange wir den Unterschied zwischen dem Normativen und Empirischen nicht streichen wollen. Die Idee des notwendigen Selbst kann diese Lücke füllen. Als Menschen sind wir nicht frei, unser Leben beliebig zu leben. Die Lebensgüter haben eine kategorische Struktur, insofern es außerhalb ihrer keinen Standpunkt gibt, dem gegenüber sie anhand von hypothetischen Imperativen gebieten könnten. Außerhalb der Lebensgüter gibt es kein Leben, und innerhalb gibt es deshalb keine Alternative, soweit die objektive Struktur dieser Güter reicht. Unser notwendiges Selbst zwingt uns in ein Leben, das im besten Fall in der Aneignung der Lebensgüter besteht. An diesem Punkt stoßen wir in ähnlicher Weise an ein Verhältnis, das Kant mit der paradoxen Formulierung des sich-Gebens des Gesetzes zu beantworten suchte (GMS 431-433; KpV § 8). Wie kann man sich einem objektiven Gesetz noch freiwillig unterstellen? Es wie einen Gott erkennen wäre vielleicht eine Möglichkeit, aber Kant hat nicht gezeigt, wie man das Gesetz erkennen kann. Demgegenüber ist es eine offenere Frage, wie man die Lebensgüter erkennen kann. Wir alle haben Erfahrungen mit diesen Gütern und wir können sie zur Diskussion stellen, um das jeweils Wichtigste dieser Güter herauszufinden. Aufgrund menschlicher Kreativität werden wir individuell an den Lebensgütern immer auch etwas Einzigartiges entdecken, aber es kommt mehr darauf an, ihre kategorische Eigenheit zu klären. Aus ihr entspringt, in Verbindung mit dem notwendigen Selbst, die praktische Notwendigkeit. Was das Lebensgut der Moral betrifft, bedeutet diese Sichtweise mehrerlei, Angenehmes und Unangenehmes. Zunächst, was ich eher unter das Angenehme verbuchen würde, die 16
Ähnlich wie man in anderen Erfahrungsprozessen ebenfalls die Struktur eines Gegenstands im Laufe eines längeren, erprobenden Umgangs mit ihm herausfindet. Die Erfahrung muß dem Gegenstand angemessen sein, und die den Lebensgütern angemessene Erfahrung ist nicht eine einseitig theoretische, etwa psychologische oder kulturanthropologische, sondern die eines konkreten Lebensvollzugs.
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Aufgabe von Pflichten. Kant selbst hätte meines Erachtens ebenfalls den Pflichtbegriff aufgeben müssen, hätte er seine Idee ernst genommen, daß die Vernunft selbstkonstitutiv ist, oder das eigentliche Selbst vernünftig ist. Verhält es sich so, dann kann sich das Selbst nicht zwingen, weil keine Alterantive besteht dazu, auf eine Weise zu sein oder sich zu entwickeln. Kant hat aus verschiedenen Gründen diese Folgerung nicht gezogen, sondern an einem dualistischen Personenverständnis festgehalten, wohl auch deshalb, weil er meinte, ohne Zwang nicht auskommen zu können. Ein sich selbst auferlegter Zwang ist aber nur noch metaphorisch ein Zwang. Und eine Pflicht, hinter der keine unabhängige Sanktionsgewalt steht, wie die Drohung Gottes oder der Gesellschaft, ist keine Pflicht, sprich moralischer Zwang. Aufklärung als Handeln aus sich selbst heraus ist mit Pflichten nicht vereinbar. Der tiefgreifende Gegensatz zwischens deontischer und antiker Moral wird zwar häufig konstatiert, aber kaum mit der Konsequenz verbunden, auf den Pflichtbegriff ganz zu verzichten. Das mag auch daran liegen, daß man den Pflichtbegriff unter der Hand so umdefiniert hat, daß er mit,Regel' oder ,Anweisung' gleichgesetzt wird. In Teilen der Moralphilosophie werden Pflichten stillschweigend mit ,Gründen' identifiziert.17 Im Alltag werden unter moralischen Pflichten wohl nur noch Konventionen und Gepflogenheiten verstanden, die eine Art von empirischer Regelmäßigkeit im tatsächlichen Handeln darstellen, nicht aber ideale Normen, die gleichsam über der Gesellschaft schwebten und sie anleiten würden. Niemand würde allein deshalb handeln, weil es Pflicht ist - also unabhängig davon, daß er selbst gute Gründe zu kennen meint, warum das, was Pflicht ist, getan werden sollte. Daran zeigt sich deutlich genug, daß die Rede von Pflichten nur noch als Deckmantel für die praktisch eigentlich wirksame Rede von Gründen dient. Da Pflichten selbst keine Gründe sind, ist es deshalb naheliegend, sie mit der traditionellen Zwangsmoral, an die sie gebunden waren, auch ganz bewußt aufzugeben. In einer Lebensgut-Moral müssen die Gründe für moralisches Handeln vom Lebensgut selbst ausgehen, es muß also klar vor Augen stehen, daß die Moral auf eine bestimmte Weise gut ist. Sie kann nur gut sein in ihrer Rolle im Rahmen sozialer Beziehungen. Ein Freund der Pflichten könnte dann so argumentieren, daß die sozialen Beziehungen nur gedeihen, wenn die Pflichten befolgt werden, so daß auch die Lebensgut-Moral Pflichten umfassen müsste. Die mittlere Prämisse beruht aber wieder auf einem zu einfachen Verständnis. Vermutlich sind in jeder Gemeinschaft explizite Verständnisweisen dessen nötig, was die einzelnen der Gemeinschaft schulden bzw. die Gemeinschaft den einzelnen. Aber diese Verständnisweisen sind nicht die Moral, sondern bestenfalls eine öffentliche Anzeige der Moral, die in den moralischen Einstellungen besteht. Die Gemeinschaft benötigt einen Verständigungsbegriff, und im weiteren sogar ein reichhaltigeres Verständigungsvokabular, um ihr moralisches Verständnis öffentlich zu artikulieren. In einer aufgeklärten Gemeinschaft ist das nur noch mittels Wertbegriffen möglich, wofür etwa der Diskurs über die ,Würde' des Embryo beispielhaft ist.
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Das gilt insbesondere für die von B. Herman, M. Baron und anderen geführte Diskussion über die Verträglichkeit des Handelns ,aus Pflicht' mit altruistischen Motiven. Spielen die Pflichten nur noch eine Begrenzungs- oder Kontrollfunktion gegenüber primären Motiven, wie nach Herman (1993) und Baron (1995), so sind sie nur noch Gründe. Siehe: zur Diskussion auch Guevara 2000, Kap.l. Sowie StruttonLake 2000 kritisch zu Pflichten als Gründe.
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Im Vergleich zur Vernunftmoral hat die Lebensgut-Moral - um nun zur unangenehmen Seite zu kommen - zwei notorische Schwachpunkte. Erstens besteht kein klarer Vorrang, wie in der Vernunftmoral, des Lebensguts Moral vor anderen Lebensgütern. Die Moral könnte hinter anderen Lebensgütern, etwa einer Berufstätigkeit, zurücktreten müssen, ihre Gründe könnten im Konfliktfall die schwächeren sein. Zweitens herrscht, ebenfalls im Unterschied zur Vernunftmoral, kein begrifflich garantierter Universalismus. Die sozialen Beziehungen könnten in ihrer Werthaftigkeit verschieden gestaffelt sein, wie ja auch konkret die meisten ihrer Freunde für wichtiger finden wie die Fremden. Ob die so bestehende Werthierarchie sozialer Beziehungen unserem gegenwärtigen Verständnis universaler Rechte entspricht, ist offen, und hängt von einer differenzierteren Theorie der sozialen Beziehungen ab. Mit den Pflichten geben wir also auch die Vorstellung auf, es gebe eine Art Verbindung, die alle Menschen so verbindet, daß die Normen der Verbindung in Form klarer Pflichten artikuliert werden können. Diese Vorstellung ist eine Fiktion, die sich einem Zwangsregime verdankte. Wie alle Zwangsregime hatte sie grosse Vorteile. Aber unfähig zu diesem Zwang finden wir uns in einer moralischen Gemeinschaft vor, von der wir nur hoffen können, daß sich in ihr entdecken läßt, was universale soziale Beziehungen sind. Literaturverzeichnis G. E. M. Anscombe (1958), „Modern Moral Philosophy", in: Philosophy, 33, 1-19. M. Baron (1995), Kantian Ethics Almost Without Apology, Ithaca-London. K. Baier (1966), „Moral Obligation", in: American Philosophical Quarterly 3.3, 210-226. W. D. Falk (1948), .„Ought' and Motivation", in: Proceedings of the Aristotelian Society 48,492-510. H. Frankfurt (1999), „Necessity, Volition, and Love", in: H. Frankfurt, Necessity, Volition, and Love, Cambridge. B. Herman (1993), The Practice of Moral Judgment, Cambridge/MA. D. Guevara (2000), Kant's Theory of Moral Motivation, Boulder. I. Kant(GMS), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785. I. Kant (KpV), Kritik der praktischen Vernunft, 1788. D. T. Meyers (1995), „Self-Respect and Autonomy", in: R. S. Dillon (ed.), Dignity, Character and SelfRespect, New York / London. J. Raz (1999), Engaging Reason. On the Theory of Value and Action, Oxford. T. Scanlon (1998), What We Owe to Each Other, Cambridge/MA. A. Schopenhauer (1840), Preisschrift über die Grundlage der Moral, Stockholm. P. Stemmer (2000), Handeln zugunsten anderer, Berlin. P. Stemmer (2002), „Der Begriff der moralischen Pflicht", in: A. Leist (Hg.), Moral als Vertrag? Probleme des moralphilosophischen Kontraktualismus, Berlin. P. Strutton-Lake (2000), Kant, Duty and Moral Worth, London. E. Tugendhat (1993), Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. B. Williams (1985), Ethics and the Limits of Philosophy, London.
Kolloquium 4 Barrieren des Verstehens und Erklärens
PIRMIN STEKELER-WEITHOFER
Einleitung 1. Denken heißt Überschreiten In der Rede des Bundespräsidenten wurde der Kongress nicht zu Unrecht unter ein Motto Ernst Blochs gestellt. Es lautet: „Denken heißt überschreiten". Der Spruch ist in gewissem Sinn eine Antwort auf Heideggers Frage „Was heißt Denken?" Beim ersten Lesen sagt er uns, dass wir im Nachdenken immer Barrieren überschreiten, gegebene Grenzen transzendieren, und wenn auch bloß in unserer Vorstellung, durch symbolische Repräsentation. Denn nur indem wir uns im Bild repräsentieren, wie es wäre, sie zu überschreiten, reflektieren wir auf die Grenzen des Gegebenen. Beim zweiten Lesen enthält der Spruch eine bedingte Aufforderung. Er heißt uns, ein Thema dadurch denkend zu erschließen, dass wir das (prima facie) Gegebene zunächst denkend und dann vielleicht auch handelnd überschreiten. Diese Doppelbetrachtung gilt auch für das Nachdenken über Barrieren des Verstehens und Erklärens. Allein schon deren Nennung und damit die Anerkennung, dass es sie gibt, ist partieller Übertritt über Grenzen, wenigstens probeweise, möglicherweise, nämlich über diejenigen Barrieren, welche darauf beruhen, dass wir uns der Grenzen des unmittelbaren Verstehens und der vorhandenen Erklärungsformen nicht hinreichend bewusst sind. Zur näheren Bestimmung des Bereiches, in dem die folgenden Vorträge sich einem speziellen Teilthema zuwenden, ist zunächst zu sehen, dass die Rede von Grenzen eher eine objektive, die Rede von Barrieren eher ein subjektive Perspektive nahe legen. Außerdem handelt es sich bei den Grenzen oder Barrieren des Erklärens und Verstehens um Probleme, deren Beziehung zu einander selbst von einigem Interesse ist. Seit Wilhelm Dilthey, HansGeorg Gadamer oder Georg Henrik von Wright ist es z. B. üblich, der Praxis des wissenschaftlichen Erklärens nach den Mustern der technisch-prognostischen Naturwissenschaften eine Praxis des hermeneutischen Verstehens gegenüberzustellen. In dieser übrigens schon von Goethe oder Hegel vertretenen Betrachtungsart wird das scheinbar engere Erklären als Antwort auf die Frage nach einem kausalen Warum? durch das weitere Verstehen entgrenzt, also durch Antworten auf die Frage nach einem umfassenderen phänomenologischen Wie?.
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Dies gilt insbesondere für das Erklären und Verstehen menschlicher Handlungen. Die korrespondierende Idee verstehender Geistes- und Sozialwissenschaften steht heute in einer gewissen Nachfolge Ludwig Wittgensteins. Dessen Kritik an einer bloßen Orientierung am kausalen Erklärungsmodell verlangt eine differenzierende Eingrenzung der Provinz des theoretischen Erklärens. Die Folgen dieser philosophischen Kritik für die Idee einer Sozialwissenschaft wurde bekanntlich von Peter Winch weiter entwickelt. Man kann allerdings die Blickrichtung ebenso gut auch umkehren und ein unmittelbares Verstehen (im engeren Sinn) durch ein komplexeres Erklären entgrenzen, das dann sowohl interpretierende Explikation im Sinne einer Antwort auf eine Was- und Wie-Frage, als auch kausale Explanation im Sinne einer Antwort auf eine Warum-Frage sein kann. In dieser Perspektive setzt das Erklären ein Vor-Verstehen voraus und trägt - hoffentlich - dazu bei, dieses Vorverständnis in qualifizierter, vernünftiger, Weise zu verbessern oder zu erweitern. In beiden Perspektiven aber muss der Ort des Erklärens relativ zum Verstehen im engeren bzw. im weiteren Sinn angemessen begriffen werden. Dieser Ort ist beide Male begrenzt: Im einen Fall ist das Erklären eingebettet in das weitere Verständnis. Im anderen Fall ist es spezielle Erweiterung oder Vertiefung eines zunächst unmittelbareren und dabei vielleicht sogar relativ zu bestimmten Problemlagen unproblematischeren, in diesem Sinn basaleren Verstehens. Dieses schließt immer auch ein Sich-Verstehen-Auf, also ein Können, eine Kompetenz ein. Dabei erweist sich das wissenschaftliche Erklären immer als eine spezielle Teilpraxis in der Gesamtpraxis menschlicher Welterschließung, also in einer Praxis des Verstehens im weitesten Sinn. Zu dieser gehört insbesondere die Praxis gemeinsamer Verständigung über das, was wir mit den großen Worten „Welt" und „Natur" grob umreißen. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Betrachtung, der sich natürlich eine Unzahl feinerer Differenzierungen der vielfaltigen Gebräuche der Wörter „Verstehen", „Erklären", „Explikation", „Explanation", „kausal" etc. anschließen könnte und je nach konkreter Problemlage anschließen müsste, nenne ich im Folgenden einige zentrale Aspekte der objektiven Grenzen und der subjektiven Barrieren des Verstehens und des Erklärens und artikuliere dazu einige Kernthesen.
2. Verstehen ist perspektivisch begrenzt Verstehendes Erfassen von Welt in Wahrnehmung und Anschauung ist immer begrenzt und zwar eben durch den Aspekt der Situiertheit der Person und deren Perspektivität. Zu diesem Aspekt gehört die lokale und temporale Begrenztheit je meines und je unseres Wahrnehmungs- und Auffassungsbereichs, aber auch die Begrenztheit unserer bisherigen Erfahrungen und des verbal vermittelten Wissens. Hinzu kommt die je individuell durch natürliche Anlagen und kultürliche Bildung bzw. deren Fehlen begrenzte Kompetenz des angemessenen Umgangs mit begrifflich bzw. theoretisch verfasstem Wissen - und damit je meiner und unserer Auffassungsweisen. Diese allgemeinen, weil jede Person auf die eine oder andere Weise betreffenden, Grenzen des Verstehens werden gerade dann zu subjektiven Barrieren, die wir nicht überschreiten können, wenn sie nicht bemerkt oder anerkannt werden. Zu den Barrieren des Verstehens gehört damit insbesondere die Missachtung oder Unterschätzung der schwierigen Perspektiventransformationen, wie sie für jedes transsituative und transpersonale Verständnis und Urteil konstitutiv sind. Andererseits übertreibt eine gewisse Verste-
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PIRMIN STEKELER-WEITHOFER
hensskepsis die Höhe dieser Barrieren. Denn die Einsicht, dass unmittelbare Verstehensgefühle noch kein echtes Verstehen ausmachen und dass der Aspekt der Perspektivität des Verstehens nie ganz verschwindet, wie sie in Alex Burris Beitrag unter anderem zur Sprache kommt, kann selbst zu einer überschwänglichen Deutung ,echten Verstehens' fuhren. Eine solche skeptizistische Deutung orientiert sich genau wie ihre dogmatische Gegenposition an einem transzendenten bzw. irrealen Begriff des vollkommenen bzw. absoluten Verstehens, das aus tautologischen Gründen nie erreichbar ist. Wir können uns nie an die Stelle einer anderen Person setzen. Wir können mit ihr immer ,nur' eine gemeinsame', sozusagen ,kovariante' Wir-Perspektive und Wir-Erfahrung entwickeln, in welcher die Varianten der je eigenen Ich-Perspektiven und subjektiven Erfahrungen ,aufgehoben' sind. Diese Überschreitung unserer eigenen subjektiven Perspektive geschieht auf der Basis einer hinreichend gemeinsamen Begrifflichkeit und eines hinreichend gemeinsamen, nie absoluten, Wissens. In diesem Sinn ist es das Denken, in dem wir ein gemeinsames, als solches zugleich perspektiven-plurales und perspektiven-kovariantes Verstehen ermöglichen und entwickeln. Dies gilt zunächst für das Verstehen von Gegenwart im weiteren Sinne. Es gilt in verstärktem Maß für Verstehen von Vergangenem, und zwar insbesondere für Verstehen der Auffassungsarten anderer Menschen zu anderen Zeiten. Hier besteht die Kontrolle, ob der Perspektiventausch geglückt ist, nicht, wie in der Gegenwart, im faktischen Gelingen von Verständigung, etwa nach allerlei reflektierenden Beurteilungen gelungener bzw. misslungener Kooperationsversuche, sondern in unserer eigenen Beurteilung unserer eigenen Rekonstruktionen. Wissen ist immer (potentiell) gemeinsames Wissen. Prüfung von Wissen ist immer Prüfung der Qualität möglicher Wissensübermittlung auf der Grundlage der Praxis eines gemeinsamen Zeichengebrauchs, vorzugsweise in gesprochener und geschriebener Sprache. Vorausgesetzt ist beim Einzelnen natürlich immer die empraktische Kompetenz des rechten Umgangs mit Sprache und Zeichen im Urteilen und Handeln. Kooperation und Wissenskontrolle enthalten dabei (unter anderem) immer auch Nachfragen und Antworten und damit eine Praxis der gegenseitigen und dann vielleicht auch gemeinsame Beurteilung der Richtigkeit' der Perspektivenwechsel, welche, wie im Grunde schon gesagt, für jede ,objektive' bzw. ,trans-subjektive' Wahrheit konstitutiv sind. Die besondere Tätigkeit des Interpretierens entgrenzt das unmittelbare Verstehen. Und doch ist zu beachten, dass beim Interpretieren nur wir Leser selbst uns gegenseitig kontrollieren. Dies tun wir anhand der Texte. Der Autor kontrolliert uns dabei nicht mehr - wenn wir von den Fällen absehen, in denen er an unseren Deutungsdiskursen über seine Texte teilnimmt. Manchmal sind dann sogar seine eigene Äußerungen nicht wesentlich gewichtiger für die Interpretation des Gesagten oder Geschriebenen als die eines guten Lesers. Denn es ist der Autor keineswegs immer selbst der zuverlässigste Leser seiner Texte. Am Ende muss der Text ohne die Deutungshilfe des Autors in den Grenzen des Möglichen, also innerhalb der Grenzen des ,guten Verstehens', verstanden werden. Wir berufen uns dabei auf allgemeine Normen guter Interpretation. In dieser Tatsache zeigt sich eine Grenze des Verstehens im ,unmittelbaren' Sinn der Einfühlung oder auch direkter kommunikativer und kooperativer Verständigung, die zugleich auf eine Grenze des sinnvollen Appells an eine Autorintention verweist.
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Die Rede von der (relativen!) Autorität der ersten Person artikuliert, andererseits, eine gewisse Grenze rein werkimmanenter Interpretation. Aber häufig, wenn wir von einer Rekonstruktion der Autorintention sprechen, geht es nur darum, einzelne Texte im Lichte des Gesamtkorpus der Äußerungen des Autors unter angemessener Berücksichtigung der Äußerungssituation zu lesen. Dabei muss diese Situation selbst typisiert werden. Das heißt, sie ist in ihrer transsubjektiven Typik zu repräsentieren - was einzelne Datierungen keineswegs ausschließt. Aber der Appell an eine ganz und gar einzelne Situation, also ohne Berücksichtigung der Möglichkeit eines ko-varianten Bezugs auf sie von unterschiedlichen Perspektiven, je nach dem, wer spricht, hilft nirgends und nie weiter. Ein Teilaspekt der Grenzen des (unmittelbaren und entwickelten) Verstehens betrifft die implizit schon erwähnten Normen guter Interpretation, etwa die hinreichende Beherrschung von Syntax und Semantik auf verschiedenstem Niveau, von der Normalsprache über die Fachsprache in Technik und Wissenschaft zu den freien Sprachschöpfungen der Kunst, Dichtung und Philosophie, oder die Beherrschung des angemessenen Umgangs mit rhetorischen Tropen wie (analogische) Metapher, Metonymie, Synekdoche oder Ironie. Ein weiterer Aspekt betrifft die Ebene der Kompetenz zum vernünftigen und erfahrenen Urteil und die ,moralische' Kompetenz zum freien, also nicht bloß durch Drohung und Anreiz gesteuerten, kooperativen Handeln. Zu dieser Sphäre des Handelns gehört auch die Kompetenz, (richtige) praktische Folgerungen aus dem rechten Verständnis von Situationen, Kontexten und Texten zu ziehen. In allen diese Sphären oder Aspekten sind unsere Fähigkeiten begrenzt. Barrieren des unmittelbaren Verstehens, so wie sie damit grob skizziert sind, sind Grenzen, die es durch Bildung zu überschreiten gilt: durch Entgrenzung einer zu engen Textbasis, durch eine gemeinsam entwickelte und kontrollierte Kunst der Textinterpretation, durch eine ebenfalls kulturell entwickelte Normierung grammatischer Regelungen in Hoch- und Schriftsprachen, und insgesamt in einer komplexen Praxis des vernünftigen Handelns als Folge des vernünftigen Redens. Nur über Entgrenzungen scheinbar unmittelbaren Verstehens entwickeln wir ein besseres Verständnis. Auf der anderen Seite ist eine Skepsis überschwänglich, die an jedem Verstehen zweifelt. Denn sie beruft sich in irreführender Weise auf einen impliziten Truismus, nämlich auf die Trivialität, dass kein reales Verstehen und kein reales Wissen perfekt, infallibel oder absolut ist. Nichts in der Welt ist perfekt. Kein Urteil ist infallibel. Kein realer Wissensanspruch ist absolut. Aus diesen offenkundigen Tatsachen lässt sich keineswegs ein gutes Argument für einen Verstehens- oder Wissens-Skeptizismus formen.
3. Erklärungen entgrenzen ein unmittelbares Verständnis Barrieren des Erklärens sind spezieller als Barrieren des Verstehens. Dies ist so, weil Erklärungen spezielle Techniken sind, die dem Verstehen dienen, das unmittelbare Verstehen entgrenzen. Im unmittelbaren Verstehen, etwa wenn wir bemerken, dass ein bestimmtes Ereignis stattfindet, oder etwas Bestimmtes eine Tatsache ist, wird nur festgestellt, dass etwas der Fall ist oder geschieht, etwa auch, dass etwas Bestimmtes gesagt oder getan wurde. Es wird noch nichts dazu gesagt, warum es der Fall ist oder warum etwas gesagt oder getan wurde.
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Auf die letzte Frage gibt es verschiedenartige Antworten, etwa normative, die auf die allgemeine (ggf. auch moralische) Richtigkeit der Handlung und die Kompetenz des Handelnden verweisen, teleologische, die besondere oder einzelne Zwecksetzungen ins Spiel bringen, oder auch kausale, welche auf typische, sich irgendwie wiederholende, Verhaltensprozesse abstellen. Die Frage, wie sich diese Erklärungen gegenseitig begrenzen, ist schwieriger, als die apriorischen Auskünfte des modernen wissenschaftlichem' Naturalismus wahr haben wollen, welche die kausalen Erklärungen für universal halten, ohne die damit in der Regel verbundene changierende Vagheit im Umgang mit Ausdrücken wie „kausale Erklärung" oder auch „Verursachung" näher zu bedenken. Denn nur im Fall natur-kausaler Erklärungen stellen wir invariante Zusammenhänge in typischen, ggf. an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten verlässlich reproduzierbaren oder sich immer (unter bestimmten Umständen) reproduzierenden Prozessen dar. Dabei ist es selbst eine Barriere des Verstehens, und zwar des rechten Verständnisses von Erklärungen, wenn man glaubt, jede eigentliche' Erklärung müsse bzw. könne rein von der dritten, der ,kausalen', Form sein. Richtig ist nur, dass die ersten beiden Formen der Erklärung von Geschehnissen in der außermenschlichen bzw. unbelebten Natur nicht zur Anwendung kommen können. Ich nenne im Folgenden nur grob einige Aspekte oder Dimensionen, in denen Grenzen im Erklären und Grenzen des Erklärens zu betrachten sind: Grenzen im Erklären betreffen neben der Unterscheidung zwischen normativen und teleologischen Erklärungen von Handlungen einerseits, den immer noch sehr verschiedenartigen kausalen Erklärungen von Instantiierungen typischer Naturprozesse andererseits auch die Unterscheidung zwischen begrifflicher Explikation und realwissenschaftlicher Explanation. Erstere enthalten u. a. rein sprachliche Erklärungen, aber sie sind nicht auf diese beschränkt. Denn terminologische, logische und theoretische Erklärungen sind selbst auf eine Kenntnis der intendierten Erfahrungsbereiche und der richtigen Projektion von Sprache auf Erfahrung angewiesen und damit auf ein Gesamt geteilten Wissens, das eine Art relative begriffliche Grundlage darstellt für empirische Aussagen. In dieser Grandlage finden bestimmte empirische Erklärungen ihre jeweilige .transzendentale', d. h. ,präsuppositionale' Grenze. Einzelwissenschaften, die diese allgemeine Tatsache nicht sehen, sind in der Regel provinziell eingeschlossen in den Barrieren ihrer eigenen impliziten Voraussetzungen oder Vorbeurteilungen. Eben daher gibt es Grenzen der Anwendbarkeit unserer Lieblingsformate für (kausale oder andere) Erklärungen. Logisch-mathematische Formate setzen zum Beispiel die sinnvolle Möglichkeit der Schematisierung voraus. Wie weit das in den Lebens- und Humanwissenschaften geht, ist offen. Das ist der Themenkomplex, in den Brigitte Falkenburgs Überlegungen zu situieren ist. Grenzen von Erklärungen gibt es auch in Bezug auf das Anwendungs- und Projektionsproblem idealtypischer Erklärungen, und zwar in allen Wissenschaften, nicht nur den mathematisierten Naturwissenschaften. Gewisse Grenzen realer kausaler Erklärungen rühren daher, dass theoretische Naturgesetze ideale Regelsysteme sind, deren Anwendungen immer anzupassen sind an Relevanzbetrachtungen und Messgenauigkeiten. Sie selbst artikulieren nur auf der Basis erfahrener Urteilskraft in bezug auf ihren rechten Gebrauch eine Art Summe von Erfahrungen. Diese sind insofern in sich reflektiert, als sie die guten Erfahrungen enthalten, die wir mit diesen oder jenen Erklärungen oder ,Gesetzen' im Gebrauch gemacht haben und machen. Diese Erfahrungen sind und bleiben bei allem Fortschritt immer
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endlich und begrenzt. Die Grenze der dadurch relevanten Zeitlichkeit je konkreter Erklärungen ist nicht zu überschreiten, es sei denn durch eine ,metabasis eis allo genos', also durch einen Übertritt in spekulative science fiction. Die Position des so genannten Naturalismus bzw. Realismus, der im Grundsatz die Aussagen der Naturwissenschaften für absolut wahr und das, was sie aussagen, als objektive Wirklichkeit allem scheinbar bloß subjektiven Glauben und insbesondere unserer Rede über geistige Fähigkeiten gegenüber stellt, ist in aller Regel von dieser transzendenten, metaphysischen, Art. Damit wird auch schon die Rolle des Interesses klarer. Denn dieses begrenzt, was überhaupt als einer Erklärung würdig auftritt. Es gibt entsprechende Barrieren der realen Entwicklung von wissenschaftlichen Erklärungen. Diese können darauf beruhen, dass unsere Relevanzbeurteilungen in der einen oder anderen Weise provinziell bleiben, einen bestimmten Horizont nicht überschreiten. Das ist das Thema, dem sich Martin Carrier in exemplarischer Form annimmt: Wer die Form der Suche nach Erklärungen natürlicher oder sozialer Phänomene und nach einem Verständnis von entsprechenden Prozessen davon abhängig macht, was sich angesichts einer gegebenen (z. B. technischen, ökonomischen oder politischen) Nachfrage relativ unmittelbar verwerten lässt, verhindert einen Fortschritt, der längerfristiger Vorbereitung durch nicht unter unmittelbarem Verwertungsdruck stehende Grundlagenforschung bedarf. Oft kann man nämlich noch nicht einmal davon ausgehen, dass man schon weiß, wonach man sinnvoll suchen kann. Ein gewisses freies Spiel der Forschung ist eben deswegen nötig, weil man nur so den Bereich der Fragen und Probleme über die genannte Barriere hinaus entwickeln kann. Am Ende kommen wir auch hier wieder zurück zur wichtigsten Grenze allen Erklärens, die Ortsgrenze des Hier und die Zeitgrenzen des Jetzt im Bezug auf jedes reale Wissen, im Bezug auf materiale Begriffe, auf messende Kontrolle und auf die Methoden weiterer Forschung, die wir in der Wissenschaft, anders als im Roman, nie überschreiten können und nie in die Richtung einer absoluten Betrachtung von Nirgendwo zu überschreiten versuchen sollten.
MARTIN CARRIER
Interessen als Erkenntnisgrenzen? Die Wissenschaft unter Verwertungsdruck
1. Der Primat der angewandten Wissenschaft In der öffentlichen Wahrnehmung tritt die Rolle der Wissenschaft bei der Erkenntnis von Welt und Wirklichkeit hinter ihren Beitrag zur Wirtschaftsforderung zurück. Wissenschaft wird weniger deshalb geschätzt oder gefördert, weil sie uns etwa über die Beschaffenheit der Welt um uns herum aufklärte, sondern weil sie einen Faktor der Wohlstandssicherung darstellt. Entsprechend genießt vielfach die angewandte Wissenschaft Vorrang vor der Grundlagenforschung. Nicht die Erkenntnis der Naturphänomene steht im Vordergrund, sondern deren Kontrolle. Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Technik wird traditionell durch das sog. Kaskadenmodell wiedergegeben. Danach erwächst technischer Fortschritt aus den Ergebnissen epistemisch ausgerichteter Untersuchungen. Angewandte Forschung stellt sich als Rückgriff auf Erkenntnisse der Grundlagenforschung zum Zweck der Lösung praktischer Aufgaben dar. Nach dieser Vorstellung geht der angewandte Wissenschaftler wie ein Ingenieur vor. Auf der Basis des etablierten Wissens werden konkrete Aussagen oder theoretische Modelle für technische Anlagen und Verfahren hergeleitet. Das Kaskadenmodell besagt also, daß die Förderung auf Erkenntnis gerichteter Grundlagenforschung der beste Weg zu technologischer Neuerungen ist. Der Vorrang der angewandten Wissenschaft hat die Angleichung weiter Teile naturwissenschaftlicher Universitätsforschung an Industrieforschung zur Folge. Nicht selten wird Universitätsforschung durch Drittmittel aus der Industrie in ihrer Beschaffenheit festgelegt. Dieser Angleichungsprozeß setzt sich durch institutionelle Verflechtungen fort. In den USA kaufen sich Industrieunternehmen in Universitäten ein oder bilden Forschungsverbünde mit ihnen (wie die University of California at Berkeley mit der Chemiefirma Novartis). Umgekehrt gründen amerikanische Universitäten Unternehmen zur wirtschaftlichen Verwertung ihrer Entdeckungen. Selbst Universitätsforschung ist zum Teil auf die Entwicklung marktfähiger Verfahren gerichtet. So entstehen Forschungsverbünde zwischen Industrieunternehmen und Universitäten wie das von der Universität Bielefeld koordinierte „Kompetenznetzwerk Genomforschung an Bakterien", das neben Universitätsinstituten auch staatliche Forschungseinrichtungen und biotechnologische Firmen umfasst. Das Anwendungsinteresse prägt weite Bereiche heutiger Wissenschaft nachdrücklich. Dieser Primat der Anwendungen setzt die Wissenschaft zunehmend unter Druck, kurzfristig brauchbare Lösungen für konkrete Probleme zu liefern. Die Wissenschaft wird als erstes
INTERESSEN ALS ERKENNTNISGRENZEN?
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konsultiert, wenn Rat in praktisch relevanten Frage gewünscht wird. Dies gilt in gleicher Weise für ökonomische Herausforderungen (etwa für Maßnahmen zur Belebung des Wirtschaftswachstums), für Umweltfragen (wie die Erderwärmung oder den Abbau der Ozonschicht) oder für biologische Risiken (wie AIDS oder BSE). Die Reputation der Wissenschaft hängt davon ab, daß sie verläßliche, handlungsrelevante Empfehlungen zu geben versteht. Es ist daher der Untersuchung wert, ob dieser Verwertungsdruck auf die Wissenschaft eine Gefahrdung des wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens mit sich bringt. Die starken Nutzungsinteressen könnten die epistemischen Werte untergraben, auf denen die Zuverlässigkeit und Tragweite wissenschaftlichen Wissens beruhen. Grund zur Besorgnis besteht durchaus. Wegen der engen Verflechtung von Wissenschaft und Technik prägt die Orientierung am praktischen Nutzen weite Teile der Forschung. Die Konzentration auf die Entwicklung marktfähiger Produkte hat naheliegenderweise Auswirkungen auf die Forschungslandschaft als Ganze. Die Vermutung ist, daß nur technologisch interessante Problemfelder bearbeitet oder die Ergebnisse allein nach Maßgabe ihrer technologischen Verwertbarkeit beurteilt werden. Das starke Anwendungsinteresse könnte demnach das Untersuchungsspektrum verengen und einen Mangel an Sorgfalt bei der Geltungsprüfung mit sich bringen. Die Frage ist also, welche Konsequenzen das Streben nach Beherrschung von Naturphänomenen für die Wissenschaft hat und ob es einen Gegensatz zum Streben nach Erkenntnis bildet.
2. Die Überforderung der angewandten Wissenschaft Aus der Wissenschaft selbst wird nicht selten das Bedenken artikuliert, Anwendungsforschung gefährde das methodologische Niveau der Wissenschaft. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat 2000 in seinem Memorandum zur „Zukunft der Forschung" der Befürchtung Ausdruck verliehen, der Nutzungsdruck auf die Wissenschaft könnte eine Vernachlässigung epistemischer Standards zur Folge haben: Wissenschaft wird zunehmend auch durch die gesellschaftlichen Interessengruppen in Anspruch genommen. Damit wächst die Gefahr der Instrumentalisierung oder der Relativierung von Maßstäben und Verfahren der der Forschung inhärenten Qualitätssicherung. (Stifterverband 2000, 1.8)
Der von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf die Wissenschaft ausgeübte Nutzungsdruck untergrübe danach die Prüfverfahren, die den Kern erstrangiger Forschung ausmachen. Das Verwertungsinteresse unterhöhlte das Erkenntnisstreben. Es versteht sich, daß das Erfordnis der Einwerbung von Forschungsmitteln und des beständigen Erschließens neuer Finanzquellen Anreize zur Voreiligkeit mit sich bringt. Tatsächlich finden sich Beispiele dafür, daß unzulänglich gestützte Vorstellungen in der Öffentlichkeit geäußert und als wissenschaftliche Erkenntnis ausgegeben werden. Darüber hinaus fordert ein anderer Mechanismus den methodologischen Niedergang. Die aus dem politischwirtschaftlichen Bereich an die Wissenschaft herangetragenen Nutzungsanforderungen üben einen erheblichen Druck hin zu praktischen Erfolgen und funktionierenden Anwendungen aus, durch den die Wissenschaft in Richtung immer komplexerer Sachbereiche getrieben wird. Die zu bearbeitenden Problemstellungen lassen sich dann nämlich nicht nach Maßgabe der disziplinaren Machbarkeit auswählen. Anders als in epistemisch geprägten Zusammenhängen ist weder die Tragfähigkeit von Idealisierungen noch die Übersichtlichkeit und Kon-
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trollierbarkeit von Situationen als Auswahlkriterium für Forschungsprojekte geeignet. Der Grund ist, daß die praktisch relevanten Fragen meistens nicht die einfachen Fragen sind. Durch den Zwang zur Komplexität wird die Wissenschaft tendenziell überfordert und könnte mit der Ausbildung provisorischer Erkenntnisstrategien reagieren. Danach provozierte der Anwendungsdruck methodologische Veränderungen, die sich in Abweichungen von den in der Grundlagenforschung zum Tragen gebrachten Verfahren und Regeln niederschlügen. Dabei sind vor allem die beiden Aspekte der Theorienstrukturen und der Beurteilungsmaßstäbe einschlägig. Hinsichtlich der Theorienstrukturen liegt die Vermutung nahe, daß Anwendungsdominanz die Formulierung lokaler Modelle begünstigt und damit eine vergleichsweise parzellierte Theorienlandschaft zur Folge hat. Bei den Beurteilungsmaßstäben könnte man erwarten, daß es für die Annahme eines Lösungsvorschlags hinreichte, wenn dieser die Kontrolle einzelner Sachverhalte ermöglichte und insofern als Grundlage zielgerichteter Eingriffe taugte. Eine umfassende Klärung der Sachlage würde nicht ernsthaft angestrebt; die Entschlüsselung von Kausalketten und deren Integration in übergreifende theoretische Zusammenhänge gälte als nachrangig. Hinweise auf die Überforderung der Wissenschaft und die Vorläufigkeit angewandter Erkenntnisstrategien finden sich durchaus. So stellen sich weite Teile der empirischen Sozialwissenschaften als Ansammlungen von jeweils eng begrenzten Modellbildungen dar, die höchstens durch ein schwaches inhaltliches Band miteinander verknüpft werden. Das gilt für große Bereiche der kognitiven Psychologie ebenso wie für die Wirtschaftswissenschaften. Die Anteil der jeweils spezifischen, auf die Besonderheiten der Sachlage bezogenen Annahmen ist groß, und es sind diese, die die Erklärungslast der betreffenden Modelle tragen. Neben diesen Mangel an theoretischer Vernetzung tritt eine Beschränkung auf kontextualisierte Kausalbeziehungen. Dabei handelt es sich um stark voraussetzungsgeladene Verkettungen von Ursache und Wirkung, bei denen der Kausalmechanismus undurchschaut bleibt (s. u. 4). Neben die lokalen Modelle und die kontextualisierten Kausalbeziehungen tritt der hohe Anteil an Realexperimenten als ein drittes Merkmal angewandter Wissenschaft. In Realexperimenten werden die betreffenden Objekte während ihres praktischen Einsatzes untersucht. Solche Experimentalstrategien sind Ausdruck der Grenzen der theoretischen Durchdringung des betreffenden Sachbereichs; sie dienen entsprechend der Gewinnung von Erkenntnissen, nicht der Überprüfung von theoretischen Ansprüchen. Ein mögliches Übergewicht solcher Baconischer, von der Heuristik dominierten Erkenntnisstrategien wäre als Anzeichen der Überforderung der Wissenschaft zu werten. Ein Beispiel ist die ökologische Optimierung von Mülldeponien. Die Vielzahl der einschlägigen chemischen Reaktionen und deren Wechselwirkung mit jeweils spezifischen Bodenstrukturen erlauben die Klärung vieler für den Betrieb wesentlicher Fragen oftmals erst unter den Bedingungen der real operierenden Deponie (Krohn 1997). Ein weiteres Beispiel ist die Softwareentwicklung. Kein Einzelner und auch keine kleine Gruppe überschaut mehr die Abläufe komplexer Datenverarbeitungsprogramme in ihrer Gesamtheit. Die Folge ist, daß Änderungen und Anpassungen an einer Stelle unvorhergesehene Auswirkungen an anderer Stelle haben. Die Abgabe solcher Programme an die Kunden weist daher Züge eines Realexperiments auf: Man läßt die Programme beim Anwender reifen. Man schließt also aus den auftretenden Beschwerden auf die Fehler und versucht diese stückweise und durch Ein-
INTERESSEN ALS ERKENNTNISGRENZEN?
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zelmaßnahmen zu beheben. Weite Bereiche anwendungsdominierter Forschung bleiben nachhaltig von Erkenntnisstrategien von Versuch und Irrtum geprägt.
3. Aussichten einer selbständigen angewandten Wissenschaft Angewandte Wissenschaft scheint damit durch Mehrzahl methodischer Charakteristika gekennzeichnet, die als Ausdruck einer Überforderung durch Verwertungsinteressen aufgefaßt werden können und einen Anfangsverdacht auf methodologische Nachlässigkeit begründen. Dagegen wäre die vom Kaskadenmodell vorgesehene einseitige Abhängigkeit der angewandten Wissenschaft von der Grundlagenforschung im Grundsatz geeignet, den epistemischen Anspruch hochrangiger Wissenschaft zu bewahren und insbesondere die Grundlagenforschung gegen das Risiko einer Deformation durch Nutzungsanforderungen zu sichern. Da nämlich Grundlagenforschung Voraussetzung einer anhaltend erfolgreichen Praxis der Technologieentwicklung ist, geht sie der Anwendungsforschung sowohl sachlich als auch zeitlich voran. Technik beruht auf wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber Grundlagenwissen kann nicht in vorab festgelegten Schritten gewonnen werden. Fundamentale Einsichten stellen sich eben nicht nach Plan ein. Sie sind unvorhersehbar und lassen sich nicht herbeizwingen. Zudem ist die Bedeutsamkeit eines Forschungsresultats für künftige Anwendungen vorab nicht verläßlich abzuschätzen. Daher muß Grundlagenforschung auf breiter Basis betrieben werden, ohne dabei auf spezifische Anwendungen abzuzielen. Engte man den wissenschaftlichen Fokus auf bestimmte technologische Entwicklungen ein, so trocknete man den Boden aus, auf dem der technologische Fortschritt langfristig gedeiht (vgl. Kitcher 2001, 138-140). Durch die Konzentration auf praktische Probleme raubte man der Wissenschaft langfristig die Fähigkeit, praktische Probleme zu lösen. Bei der im Kaskadenmodell angenommenen einseitigen Abhängigkeit der angewandten Wissenschaft von der Grundlagenforschung setzt die Suche nach Kontrolle das Streben nach Wissen voraus. Die Grundlagenforschung wäre gesichert. Aber das Kaskadenmodell ist in Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaft stark umstritten. So vertritt Nancy Cartwright die Ansicht, die fundamentalen Gesetze der Physik verfehlten weite Bereiche selbst des physikalischen Geschehens. Ein Beispiel Neuraths aufgreifend weist sie darauf hin, daß die Newtonsche Mechanik kein theoretisches Modell für den Fall eines Tausend-Schilling-Scheins vom Turm des Wiener Stephansdoms anzugeben gestattet. Die Grundgesetze der Physik bieten keine signifikante Hilfestellung bei der Vorhersage, wo der Geldschein am Ende den Boden berühren wird (Cartwright 1994, 318). In Cartwrights Vorstellung einer „gefleckten" (dappled) Wirklichkeit, nähert man sich der Eigenschaftsfülle der Einzelereignisse nur durch eine Vielzahl lokaler Theorien, die gleichsam auf eigenen Füßen stehen und nicht auf universelle Grundgesetze der Natur zurückgehen. Umfassende Theorieansätze verlieren die Verbindung zu den Phänomenen. Das Flickwerk, nicht die Pyramide, symbolisiert die Anordnung der Prinzipien in der Naturwissenschaft (Cartwright 1994,322-323). Der Stoßrichtung nach ähnlich, wenn auch mit andersartigen Gründen, verteidigt der Physiker Sylvan Schweber die Entkopplung von Wirklichkeitsschichten und das Bestehen „objektiver Emergenz" zwischen den betreffenden Eigenschaften. Die verschiedenen Stufen der Organisation der Materie werden durch Theorien wiedergegeben, die von einander weit-
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gehend entkoppelt sind. Die Elementarteilchenphysik ist für die Atomphysik oder die Festkörperphysik weitgehend ohne Belang (Schweber 1993, 35-36, 38). Diese alternative Position sieht ein vom Kaskadenmodell abweichendes Verhältnis von Grundlagen und Anwendungen vor. Angewandte Wissenschaft hat es in aller Regel mit komplexen Problemen zu tun, bei deren Lösung Grundlagentheorien dann versagten. Anwendungsforschung wäre danach in beträchtlichem Ausmaß auf sich selbst gestellt und gleichsam auf eigene theoretische Rechnung zu betreiben. Die Botschaft lautet stattdessen: wenn man praktische Probleme lösen will, muß man zu praktischen Problemen forschen. Es gibt nur einen geringen Transfer an verwertbaren Einsichten von den Eigenschaften der grundlegenden Bausteine zum Verhalten komplexer Systeme. Folge dieser Sichtweise ist einerseits, daß die Beschaffenheit der Grundlagenforschung der angewandten Wissenschaft näher ist als ansonsten unterstellt. Die angeführten methodologischen Bedenken stützen sich zum Teil auf den angenommenen Gegensatz zwischen dem vereinheitlichten Theoriengebäude der Grundlagenforschung und der Sammlung unterschiedlicher, eng begrenzter Modellbildungen der angewandten Wissenschaft. Nach dieser alternativen Sicht stellt sich eben auch Grundlagenforschung unter Umständen als Sammlung heterogener, lokaler Modelle dar. Tatsächlich kann eine abgeschwächte Fassung der Position Cartwrights inzwischen als weithin akzeptierte Auffassung der Theorienstrukturen in der epistemischen Wissenschaft gelten. In dieser Auffassung wird zugestanden, daß übergreifende Theorien zwar konkrete Phänomene zu erfassen vermögen, daß sie dafür aber des Rückgriffs auf Hilfshypothesen bedürfen, die an die jeweiligen Situationsumstände angepaßt sind. Modelle vermitteln danach zwischen übergreifenden Theorien und konkreten Phänomenen, müssen sich dafür aber auf einen divergenten Satz von zusätzlichen Annahmen stützen. In dieser sowohl von der semantischen Theoriensicht als auch von Ian Hacking oder Margaret Morrison vertretenen alternativen Vorstellung von Theorienstrukturen in der epistemischen Wissenschaft (Hakking 1983, 216-219; Morrison 1998, 70-81) erscheint der Kontrast zwischen angewandter und epistemischer Forschung weit weniger markant. Selbst wenn es angewandte Forschung nur zu eng umgrenzten, problemspezifischen Lösungsansätzen brächte, fiele sie damit noch nicht klar hinter die epistemische Forschung zurück. Andererseits geht durch die Einschränkung oder Aufgabe des Kaskadenmodells die Sicherung der Grundlagenforschung verloren. Ich hatte darauf verwiesen, daß im Rahmen des Kaskadenmodells angewandte Forschung am besten durch die Förderung der Grundlagenforschung vorangetrieben wird. Wenn aber das Kaskadenmodell aufgegeben wird, dann ist angewandte Wissenschaft in der Lage, für sich selbst Sorge zu tragen, was bei dem erkennbaren Vorrang der Verwertungsinteressen zur Folge haben könnte, daß Grundlagenforschung in den Hintergrund tritt.
4. Angewandte Wissenschaft und kontextualisierte Kausalbeziehungen Diese Erörterung zeigt, daß die Beziehung zwischen epistemischer und angewandter Wissenschaft umstritten ist. Daher scheint es vielversprechend, konkrete Fälle zum Gegenstand der Betrachtung zu machen und auf diese Weise ein klareres Bild zu gewinnen. Dazu gehe ich näher auf die kontextualisierten Kausalbeziehungen ein, die als einer der Charakterzüge angewandter Wissenschaft vorgestellt wurden (s. o. 2). Der Sache nach sind Kausalbezie-
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hungen in der Regel Teil komplexer kausaler Netzwerke. Ein Ereignis bringt nicht allein aus sich selbst, sondern über eine Kette von vermittelnden Zwischenschritten eine Wirkung hervor. Kausalität operiert mit Ereignisverkettungen oder Prozessen. Weiterhin ist unter Umständen das Zusammenwirken einer Mehrzahl solcher Ereignissequenzen für die Erzeugung des Effekts erforderlich. Die epistemische Haltung dringt auf Verstehen und entsprechend auf Entschlüsselung dieses Netzwerks von Ereignisketten. Für die pragmatische Haltung steht das Eingreifen im Vordergrund. Sie konzentriert sich daher auf die Formulierung von stark voraussetzungsgebundenen Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die jedenfalls unter „normalen" Umständen für die Erzeugung der Wirkung hinreichen. Das Autofahren ist ein Beispiel. Eine einschlägige Ursache-Wirkungs-Verknüpfung lautet: Durch Drehen des Zündschlüssels startet man den Motor. Diese Zündschlüsseldrehung hat allerdings nur dann die genannte Wirkung, wenn tatsächlich die vorausgesetzte Abfolge von Teilvorgängen eintritt. Ihrem eigenen kausalen Vermögen nach versagt die Drehung kläglich vor der Herausforderung, einen Verbrennungsmotor in Gang zu setzen. Sie schließt zunächst nur einen Stromkreis, der seinerseits eine Zahl von Prozessen anstößt, die vom Ansaugen des Treibstoffs über das Funkensprühen der Zündkerzen bis zur Umsetzung ruckartiger Kolbenbewegungen in einen gleichmäßigen Rundlauf reichen. Diese zusätzlichen Erfordernisse läßt die genannte Kausalverknüpfung unerwähnt; sie sind stillschweigend einbezogen. Die Zündschlüsseldrehung ist für sich genommen keineswegs hinreichend für den Start des Motors. Sie ist lediglich ein Auslöser oder „Trigger" des Motorenstarts. Dieser Zusammenhang von Zündschlüsseldrehung und Motorenstart ist ein Beispiel einer kontextualisierten Kausalbeziehung. Solche Beziehungen bestehen nur dann, wenn der ganze Rest des zugehörigen kausalen Netzwerks auf eine stillschweigend vorausgesetzte Weise operiert. Die Richtigkeit kontextualisierter Kausalbeziehungen beruht also auf einer Vielzahl von ungenannten Voraussetzungen. Dies hat zwei Folgen. Erstens sind solche Kausalbeziehungen mit Ausnahmen behaftet. Ihre Geltungsgrenzen sind nämlich offenbar dann erreicht, wenn eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt ist. Bei nassen Zündkerzen nützt alles Drehen des Zündschlüssels nichts. Zweitens tragen kontextualisierte Kausalbeziehungen wenig zur Aufklärung des Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung bei. Sie liefern kein Verständnis der zugrundeliegenden Ereignisverkettungen und Kausalprozesse. Die Konzentration auf kontextualisierte Kausalbeziehungen wird als Kennzeichen der „praktischen Wissenschaften" wahrgenommen. Der Geschichtsphilosoph Robin Collingwood hat diese pragmatische Zugangsweise bereits 1940 durch den Verzicht auf die umfassende Identifikation des betreffenden Ursachengefuges charakterisiert. Wenn ich finde, daß ich durch bestimmte Mittel ein Ergebnis erzielen kann, dann mag ich mir darüber im Klaren sein, daß ich es nicht erzielt hätte, wenn nicht eine große Zahl von Bedingungen erfüllt wäre. Aber solange ich das Ergebnis erziele, kümmere ich mich nicht darum, welches diese Bedingungen sind. Und wenn sich eine von ihnen ändert und das Ergebnis daraufhin ausbleibt, dann will ich immer noch nicht wissen, was alle diese Bedingungen sind. Ich will nur die eine kennen, die sich geändert hat. (Collingwood in: Fox Keller 2000, 142)
Die praktischen Wissenschaften sind danach durch einen verengten Fokus gekennzeichnet. Erkenntnis wird nur insoweit angestrebt wie sie für den erfolgreichen Eingriff unerläßlich ist. Dabei liegt die Ansicht zugrunde, gezielte Interventionen seien auf einer derart bruch-
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stückhaften Wissensbasis zuverlässig möglich. Eine technologische Praxis muß sich danach nicht auf ein Verständnis der zugrundeliegenden Zusammenhänge stützen.
5. Biotechnologie und Lebenswissenschaften Im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte haben sich die sog. Lebenswissenschaften zu einem Schwerpunkt angewandter Forschung entwickelt. Biologische Prozesse sind in einem Ausmaß dem technologischen Zugriff unterworfen worden, das noch vor einem halben Jahrhundert undenkbar schien. Eine führende Rolle spielt dabei die Molekulargenetik oder die Gentechnologie. Charakteristisch für diese ist die Annahme einer festen und eindeutigen Verknüpfung von Gen und organismischem Merkmal oder zwischen Gen und Protein. Auf der Grundlage solcher Verknüpfungen nährt die Gentechnologie die Hoffnung oder Furcht gezielter Eingriffe in das Lebensgeschehen, die ihrerseits zuvor ungeahnte Optionen für die Therapie von Krankheiten eröffnen. Die Grundlage gentechnischer Eingriffe sind vielfach kontextualisierte Kausalbeziehungen. Ein Beispiel ist die Identifikation von „Eyeless", dem sog. Mastergen der Augenentwicklung. Dieses Eyeless-Gen tritt bei Drosophila auf, der gemeinen Taufliege, besitzt aber sowohl bei Mäusen als auch beim Menschen homologe Gegenstücke. Eyeless steuert die Morphogenese der Fliegenaugen; Mutationen mit Funktionsverlust führen zu Störungen bei deren Ausbildung oder gar zu deren Fehlen. Aus dieser Folge des Augenverlusts bei Gendefekt erklärt sich die mißverständliche Bezeichnung „Eyeless". Wird das homologe Mäusegen durch gentechnische Manipulation in Drosophila zur Expression gebracht, so induziert es die Bildung von Komplexaugen wie bei der Fliege, nicht von Linsenaugen wie bei der Maus. Zwar ist der Einsatz von „Eyeless" hinreichend, um in einem geeigneten Gewebeumfeld Augen entstehen zu lassen. Durch entsprechende Stimulation von Eyeless kann man Augen in Beinen oder Flügeln von Fliegen erzeugen. Dies ist der Grund dafür, Eyeless als Mastergen der Augenentwicklung zu bezeichnen. Gleichwohl gibt Eyeless nur das Startsignal für eine Genkaskade, die mehrere tausend weitere Gene umfasst und die erst in ihrer Gesamtheit die Augenmorphogenese steuert. Dies zeigt sich bereits an dem erwähnten Umstand, daß das homologe Mäusegen in Fliegengewebe die Bildung von Fliegenaugen in Gang setzt. Eyeless ist ein Trigger, der für seine Wirksamkeit des richtigen kausalen Umfelds bedarf und ohne dieses folgenlos bleibt (Fox Keller 2000, 96-97). Seiner kausalen Rolle nach ist Eyeless dem Zündschlüssel vergleichbar. Denn wenn man ein Zündschloss aus einem rassigen Sportwagen ausbaut und in einen gemächlich dahintukkernden Lastwagen einsetzt, dann wird die Drehung des Zündschlüssel den Lastwagenmotor in Gang setzen, nicht den Sportwagen. Zentral ist, daß die Identifikation von Eyeless die Steuerung der Augenmorphogese erlaubt, ohne daß die zugrundeliegenden Prozesse entschlüsselt und theoretisch verstanden wären. Auf solche Befunde stützen sich Unabhängigkeitserklärungen der Technologie von der Theorie, die im biotechnologischen Lager verkündet werden. Hintergrund ist die verbreitete Einschätzung, daß die Lebenswissenschaften gegenwärtig einem Umbruch von der Genomik zur Proteomik unterworfen sind. Die Genomik war danach von der Vorstellung des genetischen Determinismus beherrscht, demzufolge sämtliche Eigenschaften einer Zelle und eines Organismus durch die Gene fixiert sind. Dagegen tritt neuerdings die Denkschule, daß
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viele Zelleigenschaften Ergebnis der verwickelten Wechselwirkung von Proteinen sind. Zwar sind Proteine Genprodukte, unterliegen aber gleichwohl ihren eigenen Regularitäten, welche nicht in der DNA niedergelegt sind. Prinzipielle Beschränkungen der Tragweite des Genoms ergeben sich dabei daraus, daß äußere Faktoren, die entsprechend dem Einfluß des genetischen Codes einer Zelle entzogen sind, über die Expression von Genen dieser Zelle entscheiden können.1 In diesem Übergang zur Proteomik sieht der Biologie Richard Strohman eine „kommende Kuhnsche Revolution" (Strohman 1997, 194). Ähnlich ist für Evelyn Fox Keller das Jahrhundert des Gens gerade abgelaufen, da der Graben zwischen genetischer Information und biologischer Funktion deutlich sichtbar geworden sei (Fox Keller 2000, 8). Der zentrale Gesichtspunkt ist, daß diese These der begrifflichen und theoretischen Unzulänglichkeit der Genomik nicht selten mit einem pragmatischen Festhalten am Genbegriff einhergeht. Auch Fox Keller selbst sieht in den Genen weiterhin einen „Handgriff' für biologische Interventionen. Durch genetische Manipulation lassen sich reproduzierbar Wirkungen hervorrufen, auch wenn die Verläßlichkeit der relevanten Ursache-WirkungsBeziehungen auf spezifische Experimentalbedingungen eingegrenzt ist (Fox Keller 2000, 141-142). Die gleiche Trennung zwischen wissenschaftlicher Adäquatheit und technologischer Wirksamkeit wird nachdrücklich von William Bains verteidigt, der als Consultant für Biotechnologiefirmen tätig ist. Danach ist der genetische Determinismus in der Biowissenschaft zugegebenermaßen fragwürdig, in der Biotechnologie dagegen fraglos beizubehalten. Die Annahme eines engen Zusammenhangs von Gen und organismischer Eigenschaft stellt, obgleich sachlich ohne Berechtigung, einen Hebel dar, um die Black Box des Lebens zu öffnen. Gene sind Werkzeuge, und in der Biotechnologie geht es darum, Dinge herzustellen und praktisch relevante Resultate zu erzielen. Wissenschaftliche Wahrheiten sind dafür nicht erforderlich. Das zeigt sich unter anderem darin, daß man lange Zeit falsche oder gar keine Vorstellungen vom Wirkungsmechanismus von Sulfonamiden, Aspirin oder Penicillin hatte. In der Technologie kommt es auf die Herstellung wirksamer Produkte an, und dazu bedarf es der Identifikation von Schaltern, Hebeln und Handgriffen, nicht auf wissenschaftlichen Wahrheiten über die zugrundeliegenden Prozeß Verläufe. Philosophen und Epistemologen stiften in der Biotechnologie nur Verwirrung (Bains 1997). Gemeinsames Element aller dieser Urteile ist die Auffassung, daß sich Biotechnologie auf kontextualisierte Kausalbeziehungen stützt, deren Adäquatheit weitgehend unabhängig von der Korrektheit tieferreichender Theorien ist. Insbesondere ist danach erfolgreiche Intervention nicht auf die Entschlüsselung der einschlägigen Kausalmechanismen angewiesen. Können und Wissen sind entkoppelt. Das Interventionsvermögen kann auch ohne Wahrheitsverpflichtung gesichert und gesteigert werden.
Der genetische Determinismus ist von zwei grundsätzlichen Schwierigkeiten geplagt. Erstens korrelieren genetische und morphologische oder behaviorale Ähnlichkeit nicht hinreichend gut miteinander. Zum Beispiel stimmen Männer in genetischer Hinsicht stärker mit AfFenmännchen überein als mit Frauen (was bei allem Respekt vor der feministischen Sache maskulinen Verhaltensweisen nicht wirklich gerecht wird). Umgekehrt sind sog. Zwillingsspezies genetisch klar verschieden, morphologisch hingegen nur schwer unterscheidbar. Hinzu tritt zweitens der genannte Gesichtspunkt, daß die Expression von Genen durch Proteine gesteuert wird, die zwar zum Teil vom Genom der betreffenden Zelle hervorgebracht werden, die aber zum anderen Teil auch von außen eindringen oder durch äußere Signale aktiviert werden (Strohman 1997, 195-197; Fox Keller 2000, 100).
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6. Biowissenschaft als Grundlage der Biotechnologie Der Schluß ist, daß sich in der Tat Hinweis auf die genannte Haltung der „praktischen Wissenschaften" finden. Einige angewandte Forschungsprojekte beschränken sich auf die bloße Erzeugung eines Effekts. Bei Erfolg des Eingriffs, werden keine weiteren Fragen gestellt. Die Beschränkung auf kontextualisierte Kausalbeziehungen ist ein Indiz für den befürchteten methodologischen Niedergang: keine Aufklärung von Kausalmechanismen wird angestrebt, keine Einbettung der Verallgemeinerung in das System des Wissens wird zu erreichen gesucht. Die Nachfolgefrage ist, ob diese praktische Haltung in der angewandten Wissenschaft tatsächlich vorherrscht. Eine verläßliche Antwort verlangte eine ausführliche Untersuchung einschlägiger Forschungsvorhaben (die wir in Bielefeld im Rahmen zweier jeweils von der VW-Stiftung und der DFG geförderter Projekte tatsächlich durchfuhren). Aber eine vorläufige Antwort kann gleichwohl gegeben werden. Einzelbeobachtungen und ein grundsätzliches Argument legen nämlich übereinstimmend nahe, daß die Beschränkung auf kontextualisierte Beziehungen die angewandte Wissenschaft nicht insgesamt dominiert. Eine einschlägige Einzelbeobachtung ist, daß wir tatsächlich Zeuge des erwähnten biowissenschaftlichen Umbruchs sind, nämlich der Ersetzung der Genomik durch die Proteomik. Wenn es zutrifft, daß die Genomik weiterhin als Grundlage der Biotechnologie dienen kann und wenn die Biotechnologie das Spektrum der Forschungsfragen festlegt, dann sollte eine solche Revolution nicht eintreten. Da die Genomik die biotechnologische Praxis unterstützt - wie aus dem biotechnologischen Lager versichert wird - sollte die Genomik unerschüttert stehen. Die Tatsache, daß sich gleichwohl ein begrifflicher Umbruch vollzieht, verdeutlicht, daß es bei angewandter Wissenschaft nicht bloß um kontextualisierte Kausalbeziehungen geht. Eine große Zahl weiterer Beobachtungen weist in die gleiche Richtung. Biotechnologische Forschungsprojekte streben häufig an, das Netzwerk von Verallgemeinerungen und Kausalmechanismen zu identifizieren, das für eine gegebene Kausalbeziehung von Belang ist. Zum Beispiel greift die Entwicklung neuer Medikamente häufig auf fortgeschrittenes Wissen über die zugrundeliegenden Zellprozesse zurück. Medikamente werden gezielt entwickelt, indem man Einsichten in die molekularen Grundlagen der betreffenden Krankheit zum Tragen bringt. In solchen Fragen ist Fortschritt nicht selten eine Folge der Aufklärung molekularer Mechanismen, deren Fehlfunktion der Krankheit zugrundeliegt. Das Geschichte der Antibiotika führt die einschlägigen Zusammenhänge besonders deutlich vor Augen. Dieser Forschungsansatz war zweifelsfrei durch das praktische Problem der Verbesserung von Heilverfahren motiviert. Weiterhin wurde der erste Schritt in diesem Gebiet ohne tiefere Kenntnis getan. Alexander Fleming entdeckte 1928 die antibiotische Wirkung von Penicillin durch Zufall. Stoffe mit ähnlich antibiotischer Wirkung können durch schematische Reihenuntersuchungen gefunden werden, die wiederum kein Verständnis der zugehörigen biologischen Vorgänge verlangen. Für den nächsten Schritt ist jedoch der Rückgriff auf solches biologisches Wissen unerläßlich. Der Einsatz von Antibiotika führt nämlich (evolutionsbiologisch erwartbar) zur Resistenzbildung. Die Wirksamkeit des Antibiotikums sinkt ab, weil Bakterienvarianten selektiert werden, deren molekulare Struktur weniger anfällig für den Einfluß des Antibiotikums ist. Zum Beispiel wirken einige Antibiotika durch Störung des Aufbaus der Bakterienzellwand. Resistente Bakterien greifen
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dafür auf Peptide einer leicht geänderten Struktur zurück, so daß die Moleküle des Antibiotikums diese Peptide nicht mehr hinreichend fest zu binden vermögen. Die Entschlüsselung des Wirkmechanismus des Antibiotikums und des Prozesses der Resistenzbildung erlaubt dann die Entwicklung von Gegenmaßnahmen. Man modifiziert nämlich die Moleküle des Antibiotikums auf solche Weise, daß die Affinität zu den Zellwandpeptiden wieder steigt und die ursprünglich Wirksamkeit wieder erreicht wird. Dies ist ein typisches Muster. Kontextualisierte Kausalbeziehungen wie die antibiotische Wirksamkeit von Penicillin eröffnen in der Tat erste Eingreifoptionen in ein Krankheitsgeschehen. Aber wenn Störungen auftreten, reichen solche einfachen Beziehungen nicht mehr aus. Dann nämlich setzen zusätzliche Einflüsse irgendeine der stillschweigenden Voraussetzung außer Kraft, auf denen die Geltung der Beziehung beruht, so daß diese nicht zum Tragen kommt. Die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Wirksamkeit eines Verfahren bei Auftreten von Störfaktoren erfordert ein theoretisches Verständnis der einschlägigen Kausalmechanismen. Auf dem avancierten technologischen Niveau, um das es heute geht, gibt es keine Möglichkeit, Kontrolle von Wissen zu trennen.
7. Anwendungsinnovation, oder die Reintegration der Technik in die Wissenschaft Die Tragweite dieser Schlußfolgerung ist nicht auf die Antibiotikaforschung beschränkt, nicht einmal auf die Biotechnologie insgesamt. Vielmehr weist angewandte Forschung aus methodologischen Gründen über sich hinaus, und dies ist das zuvor erwähnte Grundsatzargument. Das Fehlen eines vertieften Verständnisses beeinträchtigt nämlich letztlich auch die technologischen Chancen. Umgekehrt eröffnet die Entschlüsselung von Kausalmechanismen einen größeren Spielraum für Eingriffe als die Angabe stark voraussetzungsbehafteter Korrelationen zwischen Ursache und Wirkung. Ebenso erschließen sich durch theoretische Vereinheitlichung Querverbindungen zu weiteren Prozessen, die wiederum andersartige Interventionsoptionen eröffnen. Die Formulierung einer übergreifenden Theorie verbessert die Chancen, diejenigen Stellen einer Ursachenkette zu identifizieren, an denen ein zielführender, gegen Störeinflüsse abgesicherter und nebenwirkungsarmer technischer Eingriff ansetzen kann. Gute Theorien sind eminent praktisch. Einerseits trifft es sicher zu, daß angewandte Forschung durch die Natur ihrer Aufgabenstellung dazu verfuhrt wird, bei kontextualisierten Kausalbeziehungen stehenzubleiben. Man will wissen, welche Hebel umzulegen und welche Knöpfe zu drücken sind, damit sich die gewünschten Wirkungen einstellen. Theoretisches Verständnis wird nicht angestrebt. Andererseits erliegt angewandte Wissenschaft nicht - oder jedenfalls nicht stets - dieser Versuchung zur Beschränkung. Dafür gibt es einen guten Grund. Herausforderungen der angewandten Wissenschaft werfen nicht selten Grundlagenfragen auf; jene Herausforderungen sind ohne Behandlung auch grundlegender Fragen häufig gar nicht angemessen zu bewältigen. Daher ist Grundlagenforschung auch eine Folge erfolgreicher angewandter Forschung. Innovative Erklärungsansätze mit Grundlagenrelevanz werden nicht selten auch von der angewandten Wissenschaft hervorgebracht. Ich bezeichne dieses Phänomen als Anwendungsinnovation. Es beinhaltet, daß im Zuge der Formulierung nutzungsrelevanter Ansätze theoretisch signifikante Neuerungen entwickelt werden.
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Tatsächlich befassen sich weite Bereiche der Lebenswissenschaften aus einer applikativen Perspektive mit Fragen von grundlegender Tragweite und unterscheiden sich dadurch sowohl von ingenieurwissenschaftlichen, auf die Entwicklung unmittelbar marktfähiger Verfahren gerichteten Ansätzen, als auch von Disziplinen wie Astrophysik und Paläontologie, die aus theoretischer Neugierde betrieben werden. Ein Beispiel für Forschung auf dieser mittleren Ebene ist die Aufklärung der genetischen und enzymatischen Steuerungsprozesse bei der Zellteilung. Dabei handelt es sich einerseits um grundlagenrelevantes Wissen über den Vermehrungszyklus von Zellen, das aber andererseits zugleich Eingriffsoptionen in entartete Zellteilungsprozesse eröffnet (Eberhard-Metzger 2001). Die betreffenden Untersuchungen wurden aufgrund des Nutzungsinteresses an der Behandlung von Krebskrankheiten vorangetrieben und entsprechend kürzlich mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Gleichwohl eröffneten sie fundamentale Einsichten in den Mechanismus der Zellvermehrung. Ähnlich wurde die für die Molekularbiologie revolutionäre Konzeption der Prionen im Zuge der Aufklärung von Erkrankungsursachen und Infektionsketten formuliert. Die Vorstellung infektiöser Proteine, deren Vermehrung ohne Beteiligung von RNA bzw. DNA vonstatten geht, wurde Anfang der 1980er Jahre im zweifelsfrei anwendungsdominierten Zusammenhang der Aufklärung von Erkrankungsursachen und Infektionsketten artikuliert. Am Anfang stand die bei Schafen auftretende Krankheit Scrapie sowie das CreutzfeldJakob-Syndrom im Vordergrund (Prusiner 1984); später trat BSE ins Zentrum des Interesses (Prusiner 1995). Auch diese Forschungen sind fraglos von hoher Grundlagenrelevanz und stellen gegenwärtig im Bereich der BSE-Bekämpfung zugleich ihre Anwendungstauglichkeit unter Beweis. Anwendungsinnovativität ist keineswegs ein exklusives Kennzeichen der heutigen Wissenschaft. Vielmehr durchzieht die Vorstellung, theoretisches Wissen sei bei der Bewältigung praktischer Probleme hilfreich, die gesamte Wissenschaftliche Revolution. Zwar konnte diese Vorstellung zunächst kaum eingelöst werden, sie wird aber ab dem 19. Jahrhundert zunehmend Wirklichkeit. Eines der Musterbeispiele ist Sadi Carnots Abhandlung „Zur bewegenden Kraft des Feuers" von 1820. Das erklärte Ziel dieser Abhandlung bestand in der Analyse und Verbesserung der Dampfmaschine. Im Zuge dieser Behandlung führte Carnot die zentralen thermodynamischen Konzeptionen von Kreisprozeß und Wirkungsgrad ein, die bis zum heutigen Tag ihre Signifikanz behalten haben. Dieses historische Beispiel einer Anwendungsinnovation läßt erkennen, daß die Behauptung lediglich sein kann, die Wissenschaft der Gegenwart sei durch einen stärkeren Anwendungsbezug charakterisiert, als dies früher der Fall war. Anwendungsinnovativität bringt gerade nicht das vertraute Muster zum Ausdruck, daß die Technologieentwicklung auf wissenschaftliches Wissen zurückgreift. Zwar findet sich dieses Kaskadenmuster durchaus. Man stößt immer wieder darauf, daß technologische Neuerungen bekannte physikalische Prinzipien auf eine zuvor nicht geläufige Weise zum Tragen bringen. Meine These ist aber, daß auch umgekehrt Naturerkenntnis aus der Meisterung technischer Herausforderungen erwächst. Letztlich geht die Entstehung der Wissenschaft als systematisch betriebene Erkenntnisproduktion auf die genannte Dynamik zurück, durch welche Fragestellungen von der Anwendung zu den Grundlagen getrieben werden. Das grundlegende Erkenntnisinteresse war auch historisch nur selten dominant. Es ging stets um Wissen, das für das Leben taugt. Die wissenschaftliche Methode trägt mit ihren strikten
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Anforderungen an die Annehmbarkeit von Hypothesen dazu bei, die Verläßlichkeit auch praxisrelevanten Wissens sicherzustellen. Theoretische Vereinheitlichung und die Entschlüsselung von Kausalmechanismen zählen zu den traditionellen methodologischen Verpflichtungen der Wissenschaft; sie bestimmen wesentlich das Verständnis von Erkenntnis. Wir verstehen ein Phänomen, wenn wir es in ein nomologisches Netzwerk einzubetten vermögen, und wir erfassen eine Kausalbeziehung, wenn wir dem Mechanismus Rechnung tragen können, der von der Ursache zur Wirkung fuhrt. Die gleichen Vorzüge zeichnen auch praxisrelevantes Wissen aus. Wie erwähnt, werden technische Eingriffe durch die theoretische Integration einer Verallgemeinerung oder die Aufklärung vermittelnder Prozesse erleichtert. Umgekehrt stellen die Geltungseinschränkungen kontextualisierter Kausalbeziehungen ein ernsthaftes Hindernis für deren Übertragung auf andere Sachverhalte dar. Theoretisch verstandene Beziehungen können viel einfacher verallgemeinert und auf andersartige Bedingungen angewandt werden. Solche Beziehungen sind daher gerade aus praktischem Blickwinkel nützlicher. Deshalb hat die Wissenschaft von Nutzungsdruck und Anwendungsinteresse methodologisch wenig zu befurchten. Vereinheitlichung und Kausalanalyse sind für reine und angewandte Wissenschaft zugleich charakteristisch, weil diese methodologischen Vorzüge sowohl Verstehen als auch Eingreifen fordern. Wenn man angewandte Fragen optimal behandeln will, darf man sie nicht allein als angewandte Fragen behandeln. Die wissenschaftliche Methode stützt daher die Respektabilität angewandter Wissenschaft als ein auch auf Erkenntnisgewinnung gerichtetes Unternehmen. Das Phänomen der Anwendungsinnovativität stellt daher eine partielle Rehabilitierung des Kaskadenmodells dar. Zwar ist Cartwright Recht darin zu geben, daß konkrete Probleme oft mit eng begrenzten Theorieansätzen behandelt werden müssen, die auf diese Probleme zugeschnitten sind. Aber es gilt eben auch, daß sich solche begrenzten Ansätze erweitern und zu umfassenderen Theorien werden können, die auch für Grundlagenfragen von Belang sind. Dieser zweite Gesichtspunkt einer natürlichen Tendenz zur Verbreiterung des Erklärungsanspruchs paßt in einer Hinsicht gut zum Kaskadenmodell, kontrastiert jedoch mit diesem in einer anderen Hinsicht. Die Übereinstimmung mit dem Kaskadenmodell ergibt sich daraus, daß praktische Antworten am besten durch Untersuchung theoretischer Fragestellungen gegeben werden. Der Gegensatz zum Kaskadenmodell liegt darin, daß die Theorie der Anwendung nicht vorangehen muß. Das Kaskadenmodell besagt, daß der wirksamste Weg zum Fortschritt in angewandter Wissenschaft in der Förderung der Grundlagenforschung besteht. Ich habe plausibel zu machen versucht, daß die Befruchtung häufig auch in umgekehrter Richtung erfolgt.
8. Schluß Zwar ist es daher richtig, daß angewandte Wissenschaft eher zu einer Aufweichung methodologischer Standards tendiert als Grundlagenforschung. Gleichwohl verhindern gemeinsame epistemische Verpflichtungen deren methodologischen Kollaps. Die Vorherrschaft praktischer Vorhaben ist sicher in mehrerlei Hinsicht dem Erkenntnisstreben abträglich. Die Tagesordnung der Wissenschaft wird von technologischen Problemen beherrscht, und der hohe Anteil privatwirtschaftlich betriebener Forschung gefährdet die öffentliche Zugäng-
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lichkeit des Wissens. Die Anwendungsdominanz hat also spürbare Auswirkungen auf die Auswahl der Sachverhalte, mit denen sich Wissenschaft befaßt, und sie fördert im Zuge einer teilweise exzessiven Auslegung des Begriffs des Industriegeheimnisses eine Abschottung der Forschung, die einen schroffen Gegensatz zu der traditionellen Verpflichtung einer breiten Verfügbarkeit von Forschungsergebnissen bildet. Gleichwohl bedroht diese Anwendungsdominanz letztlich nicht die Seriosität der Wissenschaft als ein dem Erkenntnisgewinn verpflichteten Unternehmen. Der Grund ist, daß in der angewandten Wissenschaft Zuverlässigkeit nicht weniger wichtig ist als in der reinen Forschung. Methodologische Werte wir Vereinheitlichung und Kausalanalyse sind bewährte Mittel auch für die Erfüllung dieses praktischen Zwecks. Es versteht sich, daß angewandte Wissenschaft zusätzlichen praktischen Anforderungen gerecht werden muß (wie Effizienz, Kostengünstigkeit oder Umweltfreundlichkeit). Aber bei den epistemischen Werten besteht zwischen beiden kein Gegensatz. Am Ende wird das Streben nach Kontrolle die Verpflichtung zur Erkenntnisgewinnung nicht in den Schatten stellen. Literaturverzeichnis William Bains, „Should We Hire an Epistemologist?", in: Nature Biotechnology
15, 1997, 396.
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15, 1997,
BRIGITTE FALKENBURG
Grenzen der physikalischen Erklärung
Erhard Scheibe zum 75. Geburtstag
1. Physikalische Erklärung Unser Alltag ist voller Phänomene, deren Zustandekommen durch die Gesetze der Physik erklärt wird - die Wurfparabel, die ein Stein beschreibt; die konzentrischen Wellen, die der Stein erzeugt, wenn er ins Wasser fallt; optische Naturerscheinungen wie der Regenbogen; der Sachverhalt, daß ein Jahr, das kein Schaltjahr ist, 365 Tage dauert; der Stromverbrauch der technischen Geräte, die wir täglich verwenden; oder die Funktionsweise medizinischer Diagnostikverfahren wie der Kern-Spin-Tomographie. Erklärungen sind Antworten auf Warum-Fragen. Sie geben die Gründe und Ursachen dafür an, warum ein Sachverhalt so ist, wie er ist, oder warum etwas so geschieht, wie es geschieht. Warum wird es hell im Raum? Weil ich den Lichtschalter betätigt habe; weil der elektrische Strom nicht abgeschaltet ist; weil der Glühdraht in der Glühbirne intakt ist; weil der Strom den Glühdraht so stark erhitzt, daß dessen Atome Lichtquanten emittieren. Warum gibt es nach dem Regen manchmal einen Regenbogen? Weil die Sonne manchmal wieder scheint, während es zugleich noch regnet; weil Sonnenstrahlen dabei in einem bestimmten Winkel auf Regentropfen treffen und das weiße Licht durch Brechung daran so in die Spektralfarben zerlegt wird, daß konzentrische farbige Kreisringe entstehen. Physikalische Erklärungen geben Gründe und Ursachen an, die man auf die Gesetze der Physik zurückführt. Oft erzählen sie kausale Geschichten, in denen Aussagen über konkrete Sachverhalte oder Geschehnisse unter physikalische Gesetze subsumiert werden. Dies tun sie aber, wie Nancy Cartwright gezeigt hat, im allgemeinen nicht nach dem DN-Schema der wissenschaftlichen Erklärung (Cartwright 1983). Die logische Struktur physikalischer Erklärungen ist nicht so transparent wie die Klassiker der Wissenschaftstheorie behaupteten. Die kausalen Geschichten der Physik entfalten meist recht komplizierte Bedingungsgefüge (Cartwright 1993; Falkenburg und Schnepf 1998; Mackie 1980). Sie verweisen auf Mechanismen wie die Lichtbrechung; auf Kräfte wie die Gravitation oder den Elektromagnetismus und ihr Zusammenwirken; auf mikroskopische Eigenschaften der materiellen Dinge wie die Magnetisierbarkeit des Spins von Atomkernen; auf Gesetze wie die Maxwell-Gleichungen, das Ohmsche Gesetz, die Plancksche Strahlungsformel; und auf die Anwendungsbedingungen solcher Gesetze, die im allgemeinen nur angenähert erfüllt sind. Diese Erklärungsin-
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stanzen liefern im Normalfall keine lückenlose Deduktion des zu erklärenden Geschehens; nur soviel sei an dieser Stelle zum Thema DN-Erklärung gesagt. Die Physik zielt auf Objektivierung, auf die Angabe von Gründen und Ursachen, die unabhängig von unserem Eingriff ins Geschehen sind und die in der Natur der Sache selbst liegen. Dabei sieht man vom Einfluß menschlicher Handlungen ab. Daß ich den Lichtschalter betätige, spielt in der physikalischen Erklärung dafür, warum es im Raum hell wird, keine Rolle. Solche Objektivierung wird seit Galilei dadurch erreicht, daß die Naturerscheinungen mathematisiert und technisiert werden. Physiker bauen sich Beobachtungsinstrumente; sie benutzen Meßverfahren, denen standardisierte Maßeinheiten und -systeme zugrundeliegen; sie fuhren unter kontrollierten Bedingungen Experimente mit reproduzierbaren Ergebnissen durch. Messungen und Experimente sind wiederum die Kontrollinstanzen für physikalische Gesetze; und diese drücken funktionale Zusammenhang zwischen physikalischen Größen wie Ort, Zeit, Masse, Energie, Ladung oder Temperatur aus. Jeder Wert einer physikalischen Größe wie „Masse" entspricht einer Klasse von standardisierten Phänomenen - etwa der Klasse aller Körper, die bei Messung mit der Balkenwaage gleich schwer sind. In den verschiedenen Teilgebieten der Physik gibt es für Größen wie die Masse unterschiedliche Meßverfahren, deren Anwendungsbereiche sich überlappen. Dies ermöglicht die (uneinheitliche) operationale Definition physikalischer Größenskalen für Länge, Zeit, Masse, Energie, Temperatur und andere Größen anhand von Ketten solcher Meßverfahren. Physikalische Erklärungen reichen damit im Prinzip so weit wie die Sprache der physikalischen Größenskalen; und diese beruht auf mathematischen Methoden hier und Meßverfahren dort. Bisher habe ich recht unspezifisch von Gründen und Ursachen als Erklärungsinstanzen in physikalischen Erklärungen gesprochen. Es gibt aber natürlich verschiedenartige Antworten auf Warum-Fragen, und mit ihnen unterschiedliche Erklärungstypen. Für die Physik sind drei traditionelle Arten von Erklärungsinstanzen oder Gründen typisch: 1. Die Angabe von Ursachen, oder: die Rekonstruktion einer kausalen Geschichte, auf die ein Ereignis eines bestimmten Typs zurückzufuhren ist. So wird die Entstehung einer Teilchenspur in einer Nebelkammer wie folgt erklärt: Ein geladenes Teilchen ionisiert einzelne Wasserdampf-Moleküle; diese werden zu Kondensationskernen für Tröpfchen; so entsteht eine Sequenz benachbarter Wassertröpfchen. Hier ist eine Ereignissequenz das Explanandum, seine kausale Geschichte ist das Explanans. Die Ereignissequenz (bzw. ein Foto davon) ist beobachtbar; die kausale Geschichte wird mittels physikalischer Gesetze rekonstruiert. - Anders als die Philosophen haben Physiker eine ontologische Sicht des Explanandum: sie betrachten nicht Propositionen, sondern Sachverhalte als das, was zu erklären ist. Dem zu erklärenden Sachverhalt entspricht eine kontingente Aussage als Explanandum im wissenschaftstheoretischen Sinne. 2. Die ontologische Reduktion, oder: die Angabe der Komponenten, aus denen etwas besteht. Z. B. besteht weißes Licht aus farbigen Spektralkomponenten; der Nebel in der Nebelkammer besteht aus Wasserdampf-Molekülen; Moleküle bestehen aus Atomen; Atome bestehen aus Elektronen und Atomkernen. Hier ist ein physikalisches Phänomen wie weißes Licht oder Nebel das (wiederum ontologisch verstandene) Explanandum, und seine Bestandteile fungieren als ontologisches Explanans; es handelt sich dabei um die Relate
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einer Teile-Ganzes-Beziehung. Die ontologische Reduktion kann iteriert werden. Moleküle werden ihrerseits zum Explanandum; man nimmt Atome und deren Konstituenten als Explanans hinzu (Elektronen; Protonen, Neutronen; Quarks). Der quantitative Aspekt der ontologischen Reduktion sind Erhaltungssätze und Summenregeln für physikalische Größen wie die Ladung. Sie besagen, inwieweit sich die Eigenschaften eines physikalischen Systems aus denjenigen seiner Bestandteile erklären; sie sind experimentell überprüfbar. 3. Die theoretische Reduktion, oder: die Einbettung von physikalischen Gesetzen in eine axiomatische Theorie. Z. B. lassen sich Galileis Fallgesetz und die Keplerschen Gesetze näherungsweise als Spezialfälle in Newtons Gravitationstheorie einbetten. Hier ist das Explanans ein physikalisches Gesetz, das Explanandum ein umfassenderes Gesetz. Die Theorienreduktion zielt auf Erklärung im Sinne von theoretischer Vereinheitlichung (Friedman 1974), oder: auf die „Tieferlegung der Fundamente" im Sinne von Hilberts axiomatischer Methode (Hilbert 1918). - Bei der Theorienreduktion sind Explanandum und Explanans physikalische Gesetze; auch dieser Fall entspricht allerdings nicht dem DN-Schema der Erklärung (vgl. Scheibe 1976 [=2001, 324 ff.]; 1997, 23 ff.) Die Erklärungen der Physik bestehen also nicht einfach darin, kontingente Aussagen unter Gesetzesaussagen zu subsumieren. Sie zielen auf etwas weitaus Komplizierteres, nämlich auf die Rekonstruktion eines gesetzmäßigen Bedingungsgefüges, das im konkreten Naturgeschehen am Werk ist. Da schon aufgrund der Nicht-Abschirmbarkeit der Gravitation im Naturzusammenhang letztlich alle Vorgänge miteinander verschränkt sind, verträgt sich dieses Ziel nicht wirklich mit der wissenschaftstheoretischen Standardauffassung, daß physikalische Theorien aus gesetzesartigen Aussagen bestehen, die über nicht-korrelierte gleichartige Einzelfalle generalisieren (vgl. Scheibe 2001, Teil IV). Physikalische Theorien liefern dynamische Systembeschreibungen, die das konkrete Bedingungsgefiige erfassen sollen, welches in einem spezifischen physikalischen Geschehen im Einzelfall am Werk ist. Dieses Bedingungsgefüge gilt es in separate Bedingungen zu entfalten; hierauf zielen die experimentelle Analyse von Naturerscheinungen unter Laborbedingungen und die mathematische Analyse der experimentellen Ergebnisse. Wenn Physiker eine Erklärung für einen konkreten Sachverhalt oder einen theoretischen Zusammenhang suchen, so gehen sie nicht deduktiv-nomologisch, sondern analytisch vor - sie analysieren einen gegebenen Problemkomplex mit ihren experimentellen und theoretischen Methoden. Dabei befolgen sie im wesentlichen die Regeln, die schon Descartes im Discours de la Méthode aufgestellt hatte: Sie zerlegen ein Problem in so viele leichter lösbare Teilprobleme wie möglich und nötig; sie lösen die Teilprobleme der Reihe nach und setzen komplexe Lösungen aus einfachen zusammen; sie zielen auf eine möglichst vollständige Erklärung, die möglichst umfassend und allgemein anwendbar sein soll (vgl. 2.-4. Regel; Descartes 1634, 15). Das problemanalytische Vorgehen der Physiker steht in der naturphilosophischen Tradition einer Analyse und Synthese der Phänomene. Man sieht dies noch am Sprachgebrauch von Physikern wie Niels Bohr, der in der Quantenphysik Grenzen der experimentellen Analyse und Synthese diagnostizierte. Die oben genannten Erklärungstypen sind nichts für moderne hartgesottene Logiker und Empiristen. Sie wurzeln in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie; sie sind mehr oder weniger deckungsgleich mit Varianten der resolutiv-kompositiven Methode, die schon Galilei und Newton im Einklang mit den Regeln des Cartesischen Discours benutzten, um die neuzeitliche Physik zu begründen (Losee 1993). Galileis experimentelle Methode
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zielt auf eine Zerlegung physikalischer Phänomene in Komponenten wie Wurf- und Fallbewegung; in Schwerebewegung und Bremsung durch den Luftwiderstand; in zu untersuchenden Effekt und vernachlässigbare Störung. Die Zerlegung der Phänomene zielt auf Identifikation der kausal relevanten Faktoren, die in die Rekonstruktion der kausalen Geschichte eines Geschehens eingehen. Newton wiederum forderte, in der Physik auf die „wahren Ursachen" der Phänomene zu schließen und gleichartige Wirkungen durch gleichartige Ursachen zu erklären (Newton 1726, Buch III, Regulae). Beides zielt auf theoretische Vereinheitlichung der Phänomene - wobei die „Phänomene" für ihn das waren, was wir heute präziser phänomenologische Gesetze nennen, nämlich die Kepler-Gesetze der Planetenbewegungen und Galileis Fallgesetz. Bis heute kombiniert man in der Physik die genannten Erklärungsinstanzen typischerweise miteinander. Kausale Geschichten rekurrieren oft auf mikroskopische Materiekonstituenten und deren Wechselwirkungen; die Gesetze der subatomaren Wechselwirkungen werden dabei so weit wie möglich theoretisch vereinheitlicht. Wo die theoretische Reduktion nicht gelingt, etwa im Schnittfeld der gegenwärtigen Quantenfeldtheorien der Elementarteilchen und der allgemein-relativistischen Kosmologie, unterstellt man, sie könne gelingen. Nach diesem Vertrauensprinzip untersucht man derzeit in der Teilchenastrophysik die kosmische Strahlung mit den experimentellen und theoretischen Methoden der Teilchenphysik. Dabei hat man extrem hochenergetische Teilchen gefunden, von denen man vermutet, daß sie aus fernen Regionen des Universums stammen, und will nun ihre Herkunft klären. Die Grundidee ist dabei heute wie im 17. Jahrhundert, möglichst umfassende kausale, ontologische und theoretische Erklärungen zu gewinnen - und mit ihnen umfassende Einsicht in die Gesetze, denen das vergangene, gegenwärtige und künftige Naturgeschehen unterliegt. Die Theorien des 20. Jahrhunderts lehren allerdings, daß die Erklärungskraft der Physik ihre Grenzen hat.
2. Erklärungsgrenzen Eine Erklärung ist vollständig, wenn sie den zu erklärenden Sachverhalt relativ zu irgendwelchen Ursachen oder Gründen, die wir nicht mehr für erklärungsbedürftig halten, lückenlos erklärt. Beim gegenwärtigen Wissenstand kann die Physik erschöpfende Auskunft auf viele Warum-Fragen geben - ich erinnere an die eingangs angeführten Erklärungen, warum es manchmal einen Regenbogen gibt oder warum es hell wird im Raum, wenn man den Lichtschalter betätigt. In vielen Fällen sind physikalische Erklärungen bei näherem Besehen allerdings leider nicht lückenlos. Die oben genannten Erklärungsinstanzen können kausale, ontologische und grundlagentheoretische Defizite aufweisen. Physikalische Erklärungen reichen faktisch letztlich doch nicht so weit wie eingangs im Prinzip über sie behauptet wurde - nämlich so weit wie die Sprache der Physik, die auf mathematischen Methoden hier und Meßverfahren dort beruht. Was die axiomatischen Grundlagen physikalischer Begriffe betrifft, ist diese Sprache nicht einheitlich - obwohl man für Größenbegriffe wie Länge, Masse, Zeit erfolgreich physikalische Größenskalen konstruiert, die über die bestehenden Inkommensurabilitäten hinwegtragen. Schon innerhalb der klassischen Physik gibt es Grenzen der Erklärung. Sie betreffen insbesondere den thermodynamischen Zeitpfeil und das deterministische Chaos. Im ersten
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Fall gelingt zwar die ontologische Reduktion der Wärme auf molekulare Bewegung; die Temperatur eines (idealen) Gases entspricht der mittleren kinetischen Energie der Gasmoleküle. Die theoretische Reduktion der Thermodynamik auf die kinetische Theorie gelingt jedoch nicht so weitgehend, daß damit auch die Richtung des Zeitpfeils erklärt wäre. Im zweiten Fall genügen winzige Differenzen in den Anfangsbedingungen eines chaotischen Systems, um zu extrem unterschiedlichen Systementwicklungen zu führen. Da die Entwicklung komplexer physikalischer Systeme den Gesetzen des deterministischen Chaos unterliegt und die äußeren physikalischen Bedingungen, unter denen sie steht, nie exakt bekannt sind, läßt sich die künftige Entwicklung komplexer Systeme im allgemeinen nicht vorhersagen; umgekehrt läßt sich ihr gegenwärtiger Zustand auch nicht eindeutig aus vergangenen Zuständen erklären. Das Erklärungsdefizit beruht hier „nur" auf Unkenntnis der exakten Anwendungsbedingungen von Gesetzen, die im Prinzip deterministisch sind. Die kausalen Geschichten, die man für klassische chaotische Systeme rekonstruiert, weisen dennoch irreduzible kausale Lücken auf. Die gravierendsten Erklärungsdefizite hängen mit der Quantenphysik zusammen. Atome und ihre Bestandteile unterliegen der Quantenmechanik oder einer anderen Quantentheorie, und damit der Heisenbergschen Unschärferelation. Man kann den Ort und Impuls subatomarer Teilchen nicht in ein-und-demselben Experiment scharf messen; nach einer Ortsmessung weisen die Werte einer Impulsmessung eine erhebliche Streuung auf, und umgekehrt. Im Gegensatz zu den klassischen Theorien der Physik kann eine Quantentheorie die Ergebnisse von Messungen prinzipiell nicht erklären. Sie liefert keinen kausalen Mechanismus, der wenigstens grundsätzlich Auskunft darüber gibt, wie ein bestimmtes Meßresultat zustandekommt. Stattdessen enthält sie neben den üblichen Bewegungsgleichungen einer physikalischen Dynamik zusätzlich ein Postulat (das Projektionspostulat), das den Anschluß an eindeutige, objektive Meßresultate und an die Sprache der klassischen Physik ad hoc herstellt. Für viele Größen macht die Quantenmechanik nur Aussagen über die Wahrscheinlichkeit von Meßergebnissen; das einzelne Meßresultat ist typischerweise nicht vorhersagbar. Sie ist eine irreduzibel probabilistische Theorie. Ihre zentrale theoretische Größe, die Wellenfunktion v|/, hat keine direkte physikalische Deutung, sie liefert nur abstrakte Wahrscheinlichkeitsdichten für die möglichen Meßwerte physikalischer Größen. Dabei ist sie nicht mit der klassischen Ignoranzdeutung der Wahrscheinlichkeit vereinbar, wie man zeigen kann. (Die Bohmsche Theorie, die versucht, die Ignoranzdeutung mittels einer Stochastik verborgener Parameter zu retten, tut dies um den Preis nicht-lokaler Kopplungen, die nicht mit den Kausalitätsbedingungen der relativistischen Physik vereinbar sind.) Im einzelnen lassen die Erklärungsinstanzen der Physik bei der Quantentheorie folgendes zu wünschen übrig: 1. Die kausalen Geschichten, die uns die Quantentheorie allein oder zusammen mit der klassischen Physik über die Entstehung physikalischer Phänomene erzählt, sind meist unvollständig. Sie sagen uns nicht, wie ein objektives Meßergebnis zustande kommt, wenn vor der Messung eine quantenmechanische Superposition vorlag. Sie erlauben es nicht, die Spin-Orientierungen, die man in einem EPR- Experiment an einem korrelierten Photonenpaar mißt, auf die Vergangenheit der Photonen zurückzuführen. Sie geben keine Auskunft, warum ein radioaktives Atom zu einem bestimmten Zeitpunkt zerfällt. Auch die quantentheoretische Erklärung von Teilchenspuren ist lückenhaft. Man kann nachträglich rekonstruieren, wie eine konkrete Teilchenspur entstand und welche quantentheoretischen Prozesse
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sich entlang der Spur zugetragen haben. Die Quantentheorie erklärt uns aber nicht, warum im Einzelfall exakt diese und keine andere Spur zustande kam, die nach den Erhaltungssätzen für subatomare Größen ebenfalls erlaubt wäre, z. B. eine Elektron-Spur anstelle einer Myon-Spur. Was makroskopisch wie die Spur eines Teilchens aussieht, geht auf eine nichtdeterminierte mikroskopische Wirkungsausbreitung zurück (Falkenburg 1995). 2. Die ontologische Reduktion der materiellen Dinge auf subatomare Materiebestandteile, die den Gesetzen der Quantentheorie unterliegen, hat ebenfalls ihre Schönheitsfehler. Sie erklärt die Zusammensetzung eines Atoms aus quantisierten Größen, aber sie erlaubt es nicht, die Träger dieser physikalischen Eigenschaften zu individuieren. Subatomare Teilchen sind ununterscheidbar. Elektronen, Protonen, Neutronen oder Quarks haben keine Raum-ZeitBahnen, sie lassen sich nur durch ihre dynamischen Erhaltungsgrößen als Materiekonstituenten nachweisen. Die ontologische Reduktion materieller Dinge auf ihre suabtomaren Bestandteile stößt hier auf Grenzen der Separierbarkeit. Dazu kommt eine gravierende Erklärungslücke im gesamten ontologischen Reduktionsprogramm. Die Quantentheorie kann nicht erklären, warum Atome in materiellen Dingen lokalisiert sind. Sie prognostiziert, daß Quantenobjekte, an denen keine Ortsmessung vorgenommen wird, räumlich zerfließen; die Wahrscheinlichkeitsdichte eines Teilchens nimmt nach der Schrödinger-Gleichung der Quantenmechanik im Lauf der Zeit die Gestalt einer ebenen Welle an. Warum also sind Atome im makrokopischen Atomverband lokal? (Schaffen sie es im makroskopischen Verband, sich gegenseitig zu lokalisieren? Falls ja: was wird hier ontologisch auf was reduziert?) 3. Die theoretische Reduktion gelingt bei alledem nur bruchstückweise. Die Quantenphysik beruht auf einem uneinheitlichen Konglomerat von klassischen und nicht-klassischen Gesetzen. Mit „Quantenphysik" meine ich hier nicht die gegenwärtigen Quantentheorien per se, sondern deren Verwendung in der physikalischen Praxis - den Gebrauch, den man von ihnen in der Atom-, Kern- und Teilchenphysik oder in der Festkörperphysik macht. Dabei wendet man quantentheoretische Gesetze auf Quantenphänomene an, die in Meßgeräten und Experimentierapparaturen lokalisiert sind und objektive Werte für klassische Meßgrößen wie Ort, Impuls, Masse etc. aufweisen - mit Meßfehlern, die viele Größenordnungen über der Heisenbergschen Unschärferelation liegen. Die betreffenden Meßtheorien haben keine kohärente axiomatische Basis. Aus einer Quantentheorie lassen sich per se weder lokalisierte Phänomene noch objektive Meßresultate herleiten; darum sind klassische Meßgesetze unverzichtbar für die Analyse der experimentellen Phänomene. Um die verwendeten quantentheoretischen Gesetze an eine klassische Meßtheorie anzuschließen, benutzt man eine Vielzahl quasi-klassischer Grenzfalle und semi-klassischer Modelle, deren Konstruktion auf dem stillschweigenden Gebrauch von Brückenprinzipien wie dem Bohrschen Korrespondenzprinzip beruht. All diese Sachverhalte sind grundsätzlich gut bekannt; ich stelle sie hier nur überblickshalber zusammen. Grundsätzlich neu daran ist gegenüber den Erklärungsdefiziten der klassischen Physik, (1) daß die kausalen Erklärungslücken nicht mehr mit der Annahme von Unwissen-plus-Determinismus vereinbar sind, (2) daß die ontologische Reduktion an entscheidenden Stellen ins Wanken gerät und (3) daß aus diesem Grund nun die theoretischen Inkohärenzen mit semantischen Inkonsistenzen einherkommen - in der Form, daß die Quantentheorie ihre Anwendungsbedingungen nicht nur nicht erklärt, sondern ohne das Projektionspostulat mit ihnen sogar unvereinbar ist. Der Versuch, den Meßprozeß im Rahmen einer
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einheitlichen Quantentheorie der Messung zu begründen, verletzt die Bedingung der semantischen Konsistenz, wie Peter Mittelstaedt gezeigt hat. Während die formale Quantentheorie ohne Projektionspostulat mit der probabilistischen Deutung der Wellenfunktion semantisch konsistent ist, besteht eine semantische Inkonsistenz zwischen der quantentheoretischen Beschreibung des Meßprozesses und der Annahme, daß objektive Meßergebnisse eintreten können (Mittelstaedt 1995, 1997, 2000). Das Skandalon der Quantentheorie ist danach gerade nicht ihr probabilistischer Charakter, sondern die Nicht-Objektivierbarkeit der Meßergebnisse. Gegenüber der klassischen Physik haben sich damit die Erklärungsdefizite drastisch verschärft. Immer liegt das Problem darin, daß man die dynamische Entwicklung eines Systems zwar relativ zu gegebenen Anfangsbedingungen vollständig erklären kann, aber dennoch nicht weiß, warum sich das System gerade so und nicht anders entwickelt. Im Fall des deterministischen Chaos ist dies noch ganz harmlos, die kontingenten Anwendungsbedingungen der physikalischen Dynamik sind nur unbekannt. Im Fall des thermodynamischen Zeitpfeils wird es schon etwas ernster; hier sind die korrekten Anwendungsbedingungen der kinetischen Theorie dafür, daß die Entropie wie erwartet wächst, extrem unwahrscheinlich. Im Fall des quantentheoretischen Meßergebnisses wird es vollends mysteriös, denn aus der Dynamik eines Quantensystems folgt, daß objektive Meßergebnisse unmöglich sind. In allen drei Fällen muß man sich mit einer unvollständigen Erklärung des Systemverhaltens zufriedengeben. Das gegenwärtige Theoriengefüge der Physik ist also lückenhaft und uneinheitlich. Es erinnert an die postmoderne Architektur; klassische Bauten stehen neben nicht-klassischen Konstruktionen; teils sind sie ordentlich ineinander verfugt, teils nur lose verknüpft. Die Bruchstellen darin können durch Theorienreduktion derzeit nicht vollständig geschlossen werden. Wie Erhard Scheibe in seinem Werk zur Reduktion physikalischer Theorien zeigt, benötigt man zum philosophischen Verständnis dieser Architektonik eine Theorie der Reduktion, die selbst uneinheitlich ist. Sie umfaßt sehr unterschiedliche Reduktionstypen, die oft kombiniert auftreten - Verallgemeinerung, Äquivalenz, Verfeinerung, Erweiterung sowie diverse Varianten der approximativen Reduktion (Scheibe 1997, 1999). Die Brüche zwischen klassischen und quantentheoretischen Systembeschreibungen lassen sich am schwersten überbrücken - wen wundert es angesichts der indizierten ontologischen und semantischen Probleme, die zu nicht-eliminierbaren Inkommensurabilitäten im Sinne von Thomas Kuhn führen. Wie die nicht-enden-wollende Debatte um die Quantentheorie lehrt, stößt man hier auf hartnäckige Erklärungsgrenzen. Die Ansätze zu einer theoretischen und ontologischen Vereinheitlichung, die man seit Jahrzehnten in unterschiedliche Richtungen verfolgt, kamen bislang stets mit neuen Erklärungsdefiziten und Frakturen einher. Dennoch gelingt es, die physikalischen Größenskalen für Länge, Zeit und Masse mit großem empirischem Erfolg über die bestehenden Inkommensurabilitäten hinweg zu konstruieren. Sie reichen vom subatomaren Gebiet bis in den kosmologischen Bereich, und sie begründen die Anwendungen der physikalischen Grundlagenforschung in Wissenschaft und Technik unbeschadet der aufgezeigten Erklärungsgrenzen. Die gegenwärtigen Quantentheorien sind die empirisch erfolgreichsten und präzisesten Theorien der Physik überhaupt. Beispielsweise liefert die Quantenelektrodynamik eine Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment bis auf 8 Stellen hinter dem Komma. Und quantenmechanische Modelle werden von der Halbleiter-Physik bis zur Nanotechnologie benutzt, ohne daß die exotischen Züge
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des quantentheoretischen Meßprozesses auch nur im Geringsten stören würden. Im Gegenteil scheitert der Bau von Quantencomputern bislang nur daran, daß Quantenphänomene durch Dekohärenz noch viel zu leicht und schnell in klassisches Verhalten umkippen. Darum ist nun zu fragen: Wen eigentlich quälen die innerphysikalischen Erklärungsdefizite? Was hängt denn ab von lückenlosen kausalen Geschichten, ordentlicher Ontologie und vollständiger Reduktion in der Physik? Mir fallen hierzu zwei Antworten ein - eine ganz alltägliche und eine philosophiegeschichtliche. Zum einen ist es immer unbefriedigend, wenn die Warum-Fragen von neugierigen Kindern, Physikern oder Philosophen mit der bequemen Erwachsenen-Antwort „Das ist eben so " abgewürgt werden. Die weißen Flecken und unüberwindbaren Grenzen in der Landkarte der Physik sind terra incognita-, und diese gilt es zu erforschen. Verbote stacheln da nur weiter an. Zum anderen bedeuten die hartnäkkigen Hindernisse in dieser terra incognita jedoch, daß nun das alte rationalistische Erkenntnisideal an seine Grenzen stößt, welches der Physik seit Galilei, Descartes und Newton zugrundeliegt: das Ideal einer vollständigen Entzifferung der mathematischen Lettern, in denen das Buch der Natur geschrieben ist. Vor allem die Quantentheorie - bzw. die physikalischen Sachverhalte, die ihr zugrunde liegen aber nicht nur sie errichtet Barrieren für unser Verständnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die kausalen, ontologischen und theoretischen Erklärungsdefizite der modernen Physik indizieren prinzipielle Schranken für die Anwendbarkeit der resolutiv-kompositiven Methode, auf der die oben genannten Typen physikalischer Erklärung beruhen. Dies hat vor allem Niels Bohr bemerkt. Er gründete seine Komplementaritätsphilosophie auf diesen Gedanken (Bohr 1927) und diagnostizierte später, daß man im Gebiet der Quantentheorie auf Grenzen der experimentellen Analyse und Synthese stößt (Bohr 1955, 130 u. 135; vgl. auch Chevalley 1991, 373 ff.). Die kausalen und ontologischen Defizite der Quantenphysik brachte er immer wieder damit in Verbindung, daß das Plancksche Wirkungsquantum eine natürliche Schranke für die experimentelle Zerlegung der subatomaren Phänomene in immer kleinere Komponenten bedeutet: (i) Nach Einsteins Lichtquantenhypothese gibt es kleinste Energieportionen der Größe E=hv, (ii) nach Heisenbergs Unschärferelation lassen sich Ort und Impuls vereint nicht genauer messen als bis auf Streuungen ihrer Meßwerte von der Größe ApAq > r\/2; (iii) für subatomare Prozesse, bei denen Wirkungen von der Größenordnung der Planckschen Konstante übertragen werden, ist die Wechselwirkung zwischen untersuchtem System und Meßapparatur nicht mehr vollständig analysierbar. Bohr hat mit dieser Diagnose letztlich nur den status quo der Quantentheorie beschrieben und keine Erklärung dafür gegeben, warum dies so ist. Man kann seinen Gedanken dennoch weiterspinnen, indem man sagt, daß die resolutiv-kompositive Methode der Physik - oder die physikalische Analyse und Synthese der Phänomene - dort an prinzipielle Grenzen stößt, wo die endlichen Werte der Naturkonstanten eine Rolle spielen. Dies gilt auch für die Lichtgeschwindigkeit. Sie setzt der Informationsübertragung zwischen Prozessen, die sich räumlich entfernt von einander abspielen, eine Schranke; denn Signale können sich nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Dies begrenzt nicht nur den Ereignishorizont des Universums im Großen, sondern auch die Möglichkeiten einer Signalübertragung im Gebiet der Quantentheorie und damit auch die kausale Analyse der nicht-lokalen Korrelationen im EPR-Experiment. (Da sich aber umgekehrt durch EPR-Korrelationen keine
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Signale übertragen lassen, sind die Quantentheorie und die kausale Struktur des Lichtkegels widerspruchsfrei miteinander vereinbar.) Bohrs Gedanke, daß es natürliche Grenzen der experimentellen Analyse und Synthese gibt, die durch die endlichen Werte der Naturkonstanten bestimmt sind, wurde in der Philosophie der Physik bislang kaum aufgegriffen. Vertreter der empiristischen Wissenschaftstheorie wie van Fraassen ziehen die Grenzen der Naturerkenntnis traditionellerweise ohnehin viel enger, sie machen sie an der empirischen Beobachtungsbasis von Theorien in einem sehr striktem Sinne fest. In der rationalistischen Tradition wiederum ist die Vorstellung ziemlich unpopulär, es könne überhaupt prinzipielle Grenzen unserer Erkenntnis geben, die es unmöglich machen, die Naturgesetze vollständig zu erkennen. Bohrs Gedanke greift die Kantische Idee auf, daß es Erkenntnisgrenzen gibt, die durch unsere Erkenntnismöglichkeiten bedingt sind. Diese Erkenntnisgrenzen sind im Fall der Quantentheorie aber kontingent und nicht durch irgendwelche Erkenntnisbedingungen a priori in Kants Sinne festgelegt. Mit Kants Theorie der Natur kommt man darum an dieser Stelle auch nicht so recht weiter.
3. Barrieren sind dazu da, überwunden zu werden Wie geht man nun in der physikalischen Grundlagenforschung mit den quantentheoretischen Grenzen der kausalen Analyse und der ontologischen Reduktion um? Offenkundig stellen sie keine unüberwindlichen Forschungsbarrieren dar. Sie haben weder die erfolgreiche Suche nach immer kleineren subatomaren Materiekonstituenten behindert, noch haben sie dazu gefuhrt, daß man nun künftig alle theoretischen Vereinheitlichungsversuche im Schnittfeld von Teilchenphysik und Kosmologie, bzw. Quantenfeldtheorie und Einsteinscher Theorie der Gravitation unterließe. Im subatomaren Gebiet werden zwar die Kriterien für die Separabilität von Materiebestandteilen sowie die Unterscheidungsmerkmale für Teilchen und Felder mehr und mehr aufgeweicht (vgl. Falkenburg 1995), und dies mag Philosophen stören, die Schwierigkeiten haben, sich von den Denkschemata einer klassischen Ontologie zu lösen - die Physiker stört es bei ihrer weiteren Erkundung der terra incognita nicht. Mit Grenzen kann man leben, wenn man weiß, wie man sie umgehen kann. In der physikalischen Grundlagenforschung gibt es mehrere Strategien, die theoretische Vereinheitlichung unbeschadet aller kausalen und ontologischen Erklärungsdefizite der Quantentheorie voranzutreiben. An dieser Stelle kommt das physikalische Gegenstück zur analytischen Vorgehensweise beim Problemelösen ins Spiel, nämlich das synthetische Vorgehen bei der Konstruktion einheitlicher Theorien. Es beruht eigentlich darauf, nach Strategien zu suchen, wie man die theoretischen Lösungen kombinieren kann, die sich in den disparat nebeneinanderstehenden Teilgebieten der Physik bislang bewährt haben. Dabei geht es um die Konstruktion neuer Theorien und Modelle nach möglichst allgemeinen physikalischen Prinzipien. An dieser Stelle möchte ich zwei grundsätzlich verschiedene Strategien herausheben, die sehr unterschiedlichen Allgemeinheitsgrad haben. Sie zielen auf die Universalität physikalischer Theorien in einem schwächeren bzw. stärkeren Sinne. Eine physikalische Theorie ist universell gültig im schwächeren Sinne, wenn ihre Gesetze überall innerhalb des Universums gültig sind, für jedes konkrete Einzelsystem. Dies ist sozusagen eine „lokale" Sicht der Allgemeingültigkeit. Daneben gibt es noch eine „globale" Sicht der Allgemeingültigkeit, nämlich die Anwendbarkeit der physikalischen Gesetze auf
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das Universum insgesamt. Im ersten Fall geht es um die Beschreibung von physikalischen Systemen innerhalb des Universums, im zweiten Fall um die Beschreibung des Universums als eines physikalischen Systems. Die gegenwärtigen Ansätze zur Begründung einer Theorie der Quantengravitation entsprechen dem ersten Fall; die Versuche, Quantenkosmologie zu betreiben, entsprechen dem zweiten. Die erste Sicht, d. h. die lokale Auffassung von universeller Gültigkeit, ist hier um einiges bescheidener. Sie entspricht der Strategie, die physikalischen Begriffe einer Theorie auf begrenzte Systeme anzuwenden, die zum Gegenstandsbereich einer anderen Theorie gehören. Die physikalischen Größenskalen werden so in Gebiete ausgedehnt, in denen der Gebrauch der bewährten Größenbegriffe eigentlich nicht mehr abgesichert ist. Dies geschah in der Theorienentwicklung der Physik immer wieder, und es hat sich als extrem fruchtbar für die Entwicklung neuer Theorien erwiesen - von der Begründung der Quantentheorie bis zur heutigen Thermodynamik schwarzer Löcher und zum Konzept der Hawking-Strahlung. Hawking übertrug thermodynamische Begriffe wie Temperatur und Entropie auf schwarze Löcher, also auf Objekte der allgemeinen Relativitätstheorie, und das quantentheoretische Konzept der Energiefluktuationen auf die thermodynamische Strahlung solcher Gebilde. Zur selben Strategie gehören die verschiedenen neueren Ansätze zur Begründung der Quantengravitation (Smolin 2000). Sie zielen auf eine Gravitationstheorie, die lokal universell gültig ist, und das heißt: bei der eine gekrümmte Raumzeit lokal quantisiert wird, oder bei der umgekehrt quantentheoretische Systembeschreibungen nicht mehr an die übliche (pseudo-) euklidische Hintergrundmetrik geknüpft sind. Neben den dynamischen Größen der Physik werden dafür auch Raum und Zeit quantisiert. Dies greift letztlich Bohrs Gedanken auf, daß die fundamentalen Naturkonstanten natürliche Grenzen für die physikalische Analyse setzen. Die Ansätze zur Vereinheitlichung von Gravitations- und Quantentheorie sind nämlich mit der Annahme verknüpft, daß es in der Physik keine kleineren Längen, Massen und Zeiten als die Größeneinheiten gibt, welche die sogenannte Planck-Skala begründen. Die Planck-Länge, Planck-Masse und Planck-Zeit sind natürliche Größeneinheiten, die sich aus der Lichtgeschwindigkeit, dem Planckschem Wirkungsquantum und der Gravitationskonstante berechnen lassen. Die Planck-Skala liegt jedoch weit unterhalb der Schwelle des derzeit experimentell Verfügbaren. Die Planck-Länge beträgt etwa 10"33 cm. Sie ist um 20 Größenordnungen kleiner als der Protonradius - und damit relativ zu den Quarks im Proton so winzig, wie diese relativ zu uns. Bis Experimente zeigen können, ob diese theoretische Ansätze Sinn machen, darf der rationalistische Traum von der vollständigen Analyse und Synthese der Phänomene noch eine Weile weitergeträumt werden. Vielleicht wird er ja eines Tages dadurch erfüllt, daß man in dieser Größenordnung tatsächlich auf unhintergehbare Grenzen der Teilung von Raum und Zeit stößt! Die zweite Sicht, also die globale Auffassung der universellen Gültigkeit, ist noch weitaus spekulativer. Sie fuhrt zum Versuch, Quantenkosmologie zu betreiben, d. h. unter Einschluß der Quantentheorie eine Entwicklungsgeschichte des Universums zu entwerfen. Die Ansätze zur Quantenkosmologie sind allesamt mit extremen begrifflichen Schwierigkeiten beladen - vom Zeitbegriff, der in der Quantentheorie die Rolle eines ausgezeichneten Parameters spielt und in der allgemeinen Relativitätstheorie nicht, über den quantentheoretischen Meßprozeß bis zum Konzept einer quantenmechanischen Wellenfunktion des Universums. Ich kann hierauf nicht mehr näher eingehen und möchte nur noch eine grundsätzliche Be-
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merkung zu diesem starken Konzept der universellen Gültigkeit physikalischer Gesetze machen. Es verträgt sich nicht gut mit dem Charakteristikum physikalischer Erklärungen, Bedingungsgefiige zu explizieren, die in einem konkreten Zusammenhang gegeben sind und im Hinblick auf ihre kausal relevanten Einzelelemente analysiert werden. Das schwächere Konzept der universellen Gültigkeit physikalischer Gesetze ist im Einklang mit dieser Sicht der physikalischen Erklärung, das stärkere nicht. Daß die Ansätze zur Quantenkosmologie an viel gravierenderen konzeptuellen Problemen leiden als die zur Quantengravitation, verwundert aus diesem Blickwinkel nicht.
4. Grenzen des Physikalismus Wenn man bedenkt, wie lückenhaft das Theoriengebäude der Physik derzeit ist und wie uneinheitlich selbst die zugehörige Theorie der Reduktion ausfallt, nehmen sich die genannten Vereinheitlichungsversuche als mutig, wenn nicht unerschrocken aus. Die Geschichte der neuzeitlichen Physik lehrt allerdings, wie stark solche Versuche die theoretische Naturerkenntnis immer wieder vorangebracht haben. Man muß hier nur an die Komplimente erinnern, die sich Einstein und Bohr gegenseitig bezüglich ihres artistischen Geschicks bei der Begründung der Quanten- bzw. Relativitätstheorie machten! Einstein sprach Bohr „höchste Musikalität auf dem Gebiete des Gedankens" zu, während Bohr umgekehrt Einsteins „Meisterschaft der Koordinierung anscheinend sich widersprechender Erfahrungen" bewunderte (Einstein 1955, 17; Bohr 1955, 119). Angesichts der Erklärungsdefizite, die sich schon innerhalb der Physik zeigen, ist dennoch große Vorsicht bezüglich der Verallgemeinerbarkeit physikalischer Erklärungen außerhalb der Physik geboten. Physikalische Erklärungen weisen grundsätzlich kausale, ontologische und theoretische Lücken auf; und dies liegt letztlich daran, daß die Anwendungsbedingungen physikalischer Gesetze teils unbekannt und teils unverstanden sind. Bei den Versuchen, diese Erklärungslücken zu stopfen, stößt man auf sehr grundsätzliche konzeptuelle Probleme, und diese hängen engstens mit den unverstandenen Anwendungsbedingungen der betreffenden Theorien zusammen. Die derzeitige Tendenz vieler Naturwissenschaftler und Philosophen zu einer physikalistischen Weltsicht, oder: der gegenwärtig vorherrschende Naturalismus, ist durch diese lückenhafte Erklärungsbasis meines Erachtens nicht gerechtfertigt. Lassen Sie mich deshalb abschließend noch eine Warnung bezüglich der Verallgemeinerung physikalischer Erklärungen auf außerphysikalische Gebiete aussprechen. Die größten Erklärungsdefizite und die unsichersten Prognosen gibt es heute innerhalb wie außerhalb der Physik auf dem Gebiet der komplexen Systeme, etwa in der Klimaforschung. Dies liegt daran, daß man das Bedingungsgefiige, in dem ein komplexes System steht, nicht genau kennt und auch nicht kennen kann. Die möglichen physikalischen Mechanismen sind in vielen Hinsichten klar und gut erforscht; aber ihre Grade und die Art und Weise ihres Zusammenwirkens sind oft höchst unklar. Genauso unklar ist die Grenze zwischen den Gültigkeitsbereichen der klassischen Physik und der Quantentheorie. Quantenphänomene lassen sich nicht einsperren; sie können ziemlich groß sein; wie groß sie genau sind und wann und wo ihre Kohärenzbedingungen erfüllt sind, weiß man nicht. Es wurden schon erfolgreich Interferenzexperimente mit Fullerenen durchgeführt; und in EPRExperimenten hat man schon über eine Distanz von mehreren Kilometern hinweg Spin-
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Korrelationen an Photonenpaaren gemessen, die sich in Glasfaserkabeln ausbreiten. D i e nicht-lokalen und indeterministischen Züge der Quantentheorie s o w i e die Besonderheiten des Meßprozesses sind also nicht unbedingt nur exotische Spezialprobleme, die sich aus anderen Gebieten der Physik säuberlich heraushalten lassen. M a n sollte sich insbesondere vor weitreichenden Schlüssen bezüglich der grundsätzlich deterministischen Natur makroskopischer Prozesse hüten, auch w e n n die Physik komplexer Systeme aus guten Gründen heute das Modell des deterministischen Chaos zugrundelegt. W a s die Anwendungsbedingungen dieses Modells sind und w i e gut sie bei den untersuchten Systemen erfüllt sind, ist nur teilweise bekannt. D i e Behauptung, so ein komplexes System w i e beispielsweise unser Gehirn verhalte sich klassisch, seine Funktionsweise lasse sich mittels der Gesetze der Physik grundsätzlich erklären, und seine Zustandsentwicklung sei einschließlich unserer Bewußtseinszustände i m Prinzip vollständig durch „die Naturgesetze" bestimmt, ist nicht mehr - und nicht weniger - als eine spekulative Arbeitshypothese innerhalb eines konkreten naturwissenschaftlichen Forschungsprogramms.
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ALEX BURRI
Grenzen des Verstehens
1. Erklären und Verstehen Worin unterscheiden sich Erklären und Verstehen? Eine mögliche Antwort lautet: hinsichtlich ihres Gegenstandsbereichs. Dieser Antwort zufolge sind die Phänomene, die wir zu erklären versuchen, anderer Art als diejenigen, die wir zu verstehen trachten. So könnte man zum Beispiel behaupten, das Erklären beziehe sich auf natürliche Phänomene, während das Verstehen kulturelle Phänomene zum Gegenstand habe. Ich bezweifle allerdings, daß sich die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur in hinreichend klarer Form treffen läßt. Zudem ist unklar, ob sich eine wie auch immer gezogene Grenze zwischen Natur und Kultur effektiv mit der Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen decken würde. Fruchtbarer scheint mir hingegen der Vorschlag, daß das Verstehen intentionale Systeme im Sinne Dennetts zum Gegenstand hat - also Systeme, deren Verhalten wir uns durch die Zuschreibung von intentionalen Zuständen wie Wünschen, Absichten und Überzeugungen verständlich machen (vgl. Dennett 1981, 15). Zu den intentionalen Systemen gehören neben den Menschen ohne Zweifel auch höhere Säugetiere und möglicherweise sogar komplexe Artefakte wie etwa Schachcomputer. Es wäre allerdings falsch, aus dieser These den Schluß zu ziehen, im Gegensatz zum Verstehen habe das Erklären ausschließlich nicht-intentionale Systeme zum Gegenstand. Denn nicht alles, was ein intentionales System tut oder was ihm widerfahrt, läßt sich durch die Zuschreibung von Wünschen und Überzeugungen erhellen. Wenn ich beispielsweise aus dem Fenster springe, so werde ich unweigerlich zu Boden fallen - und zwar unabhängig davon, ob ich letzteres will oder nicht. Falls also, wie ich das vorschlage, intentionale Systeme mitsamt ihren Handlungen, Äußerungen und Erzeugnissen die Domäne des Verstehens sind, so besitzt das Verstehen keinen ihm exklusiv zugeordneten Gegenstandsbereich. Vielmehr können alle intentionalen Systeme auch Erklärungen unterworfen werden. Zumindest im Prinzip gilt aber auch das Umgekehrte. Denn im Rahmen eines animistischen Weltbildes wird das „Verhalten" von Bäumen und Steinen, die nach unserer heutigen Auffassung keine intentionalen Systeme sind, ebenfalls durch die Zuschreibung von Wünschen und Überzeugungen erklärt. Hinsichtlich des Gegenstandsbereichs läßt sich die Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen mit anderen Worten nicht ohne weiteres treffen. Auf die Frage, worin sich Erklären und Verstehen unterscheiden, lautet eine zweite mögliche Antwort: hinsichtlich ihrer Methode. Man könnte zum Beispiel eine These vertreten,
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wonach das Verstehen auf Einfühlung beruhe, während sich das Erklären auf die Beobachtung und die hypothetisch-deduktive Methode stütze. Meines Erachtens ist dieser Vorschlag jedoch unangemessen. So zeigt die gegenwärtige Debatte zwischen der sogenannten Simulation theory und der sogenannten theory-theory, daß der Gegensatz von Einfühlung und Theorie auch innerhalb der Domäne des Verstehens wirksam werden kann und somit für die Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen nicht charakteristisch ist. Die dritte mögliche Antwort ist diejenige, die ich favorisiere. Sie besagt, daß der Unterschied zwischen Erklären und Verstehen letztlich in den Prinzipien zu finden ist, auf die wir beim Erklären bzw. Verstehen zurückgreifen. Ihr zufolge erklären wir uns ein einzelnes Ereignis oder eine ganze Klasse von Ereignissen mit Hilfe von Kausalgesetzen, während wir uns das Verhalten intentionaler Systeme mit Hilfe von Rationalitätsprinzipien verständlich machen. Wie sich noch zeigen wird, besitzen Kausalgesetze und Rationalitätsprinzipien jedoch einen unterschiedlichen Status. Meines Erachtens unterscheiden sich Erklären und Verstehen hinsichtlich ihrer formalen Struktur und damit auch hinsichtlich ihrer Methode aber nicht voneinander. In beiden Fällen beruht unser Vorgehen nämlich auf einer logischen Deduktion. Sowohl beim Erklären als auch beim Verstehen dienen uns gewisse allgemeine Aussagen und gewisse Randbedingungen als Prämissen, aus denen wir die Beschreibung des zu Erklärenden bzw. zu Verstehenden im Sinne des Hempel-Oppenheim-Schemas (vgl. Hempel und Oppenheim 1948, 249) logisch ableiten.
2. Kausalgesetze und Rationalitätsprinzipien Betrachten wir eine im Rahmen der klassischen Mechanik leicht vereinfachte Erklärung dafür, daß ein bestimmter Körper (k) eine bestimmte Beschleunigung (a*) erfährt: (Li)
f=m-a
(C,) M(k) = m* (C2) F(k) = f* A(k) = P/m* = a* Aus der Gesetzesaussage (Li) und den beiden Randbedingungen (Cj) und (C2) - sie besagen, daß der Körper k eine Masse von m* hat und daß eine Kraft von f* auf ihn einwirkt kann die Beschreibung des zu erklärenden Phänomens („k erfahrt eine Beschleunigung von a*") logisch deduziert werden. Und eben darin besteht dessen Erklärung. Ein analoges Muster treffen wir auch im Falle des Verstehens an. Wie machen wir uns zum Beispiel den Umstand verständlich, daß Peter zur Straßenbahnstation rennt? Etwa so: (Ri)
Wenn [S will, daß q, und S glaubt, daß (nur wenn p, dann q), und S in der Lage ist, p zu tun], dann tut S p
(Ci)
Peter will die nächste Straßenbahn erreichen
(C2) Peter glaubt, daß er die nächste Straßenbahn nur dann erreicht, wenn er zur Straßenbahnstation rennt (C 3 )
Peter ist in der Lage, zur Straßenbahnstation zu rennen Peter rennt zur Straßenbahnstation
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Aus dem Rationalitätsprinzip (Ri) und den drei Randbedingungen (Cj) bis (C3) läßt sich die Beschreibung des Phänomens deduzieren, das wir uns verständlich zu machen versuchen. Und genau darin besteht das Verstehen. Obwohl unser Vorgehen in beiden Fällen dieselbe Struktur aufweist, gibt es zwischen ihnen einen relevanten Unterschied: Während das Kausalgesetz (Li) eine empirische Verallgemeinerung ist, gilt das Rationalitätsprinzip (Ri) apriori. Wenn sich die in (Ri) erwähnten propositionalen Einstellungen nämlich nicht in der Art und Weise zueinander verhielten, wie (R|) das besagt, wären die betreffenden propositionalen Einstellungen gar keine Wünsche und Überzeugungen. Nun behauptet namentlich Paul Churchland, daß es sich bei einem Rationalitätsprinzip wie (R,) ebenso um eine empirische Hypothese handelt wie bei einem Kausalgesetz (vgl. Churchland 1981, 68-71). Ich denke, das ist falsch. Empirisch ist nicht (Ri) selbst, sondern die damit verbundene, zusätzliche Annahme, daß ein intentionales System wie Peter effektiv Wünsche und Überzeugungen besitzt. Aber daß Wünsche und Überzeugungen, falls sie überhaupt vorhanden sind, in dem von (R,) spezifizierten Sinne miteinander interagieren, folgt aus unseren Begriffen des Wunsches und der Überzeugung und ist mithin keine empirische Hypothese oder Verallgemeinerung. Rationalitätsprinzipien besitzen mit anderen Worten einen ähnlichen Status wie die Axiome der Euklidischen oder Riemannschen Geometrie. Auch sie gelten a priori, doch ist die Frage, welches der betreffenden Axiomensysteme den physikalischen Raum bzw. die physikalische Raumzeit korrekt beschreibt, eine empirische. 3. Rationalitätsprinzipien und
Ceteris-paribus-K\ause\n
In Anlehnung an Davidson und Fodor wird gerne betont, daß die Rationalitätsprinzipien im Gegensatz zu den Kausalgesetzen der Physik nur ceteris paribus gültig sind (vgl. Davidson 1970, 217-219 sowie Fodor 1974, 110-112 und 1987, 4-6). Sie gelten anders gesagt nicht ohne Ausnahme, sondern nur im Normalfall, wobei sich die Ausnahmen nie erschöpfend spezifizieren lassen. Auf das Rationalitätsprinzip (Ri) trifft das ohne weiteres zu. Wenn, um beim obigen Beispiel zu bleiben, die Gehsteige vereist sind oder Peter einen schweren Koffer zu tragen hat, wird er vermutlich nicht zur Straßenbahnstation rennen - es sei denn, die nächste Straßenbahn sei für ihn das einzige Mittel, um den Zug noch zu erreichen, der ihn pünktlich zum Flughafen bringt usw., usf. Nun gibt es jedoch auch Rationalitätsprinzipien, für welche die Ceteris-paribusEinschränkung offensichtlich nicht gilt. Hier zwei Beispiele: (R2)
W e n n S befürchtet, daß p, dann wünscht S , daß nicht-p
(R3)
E s ist nicht der Fall, daß ( S glaubt, daß p, und S glaubt, daß nicht-p)
Ein möglicher Einwand gegen (R3) könnte wie folgt lauten: Nehmen wir an, Peter glaube mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von 0,5, daß es morgen regnen wird; dann wird er ex hypothesi mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von 0,5 auch glauben, daß es morgen nicht regnen wird. Mir scheint ein derartiger Einwand aber deshalb verfehlt, weil eine mit der subjektiven Wahrscheinlichkeit von 0,5 verknüpfte „Überzeugung" kein Zustand des
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Glaubens ist. Um eine Proposition im eigentlichen Sinne des Wortes zu glauben, muß die mit ihr verbundene subjektive Wahrscheinlichkeit (deutlich) über 50% liegen. Daß zumindest einige Rationalitätsprinzipien ausnahmslos gelten, ist aufgrund des bisher Gesagten darum nicht verwunderlich, weil sie einen apriorischen Status besitzen. Das wirft allerdings die Frage auf, weshalb einige Rationalitätsprinzipien umgekehrt nur ceteris paribus gültig sind. Wie ist das, eingedenk ihres apriorischen Status, überhaupt möglich? Der Grund liegt meines Erachtens darin, daß die Methode des Verstehens gewissen Anwendungsgrenzen unterworfen ist, jenseits derer sie keine brauchbaren Ergebnisse mehr liefert. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Organismus eines Menschen, den wir prima facie für ein intentionales System halten, wegen einer Krankheit stark beeinträchtigt ist. So ist das Verhalten fortgeschrittener Parkinson- oder Alzheimer-Patienten mitunter nicht mehr verstehbar, sondern bestenfalls noch im Rahmen einer neurologischen Theorie erklärbar. In solchen Fällen sind jedoch nicht die Rationalitätsprinzipien falsch, sondern die mit ihnen verknüpfte empirische Annahme, daß der Patient zum relevanten Zeitpunkt propositionale Einstellungen besitzt und somit tatsächlich ein intentionales System ist. Es wäre dementsprechend unangemessen, ein bloß ceteris paribus geltendes Rationalitätsprinzip eine „Idealisierung" zu nennen oder den Unterschied zwischen Rationalitätsprinzipien und physikalischen Kausalgesetzen darin zu sehen, daß erstere im Gegensatz zu letzteren Idealisierungen seien. Denn zum einen existieren selbst in der Physik Gesetze, die wie diejenigen der kinetischen Gastheorie nur annäherungs- bzw. idealerweise gelten (vgl. Burri 1995, 283-287). Und zum anderen beschreibt ein Rationalitätsprinzip, das innerhalb seiner Anwendungsgrenzen erfolgreich angewendet wird, das betreffende intentionale System nicht bloß annäherungsweise richtig, sondern richtig tout court.
4. Intentionale Systeme Zu Beginn habe ich behauptet, Erklären und Verstehen würden sich nicht primär in ihrem Gegenstandsbereich unterscheiden; im Prinzip könne man jedes System als intentionales System betrachten, während umgekehrt alle intentionalen Systeme auch naturwissenschaftlichen Erklärungen unterworfen seien. Soeben habe ich jedoch geltend gemacht, daß das Verstehen, zum Beispiel bei Erkrankungen des Gehirns, an Grenzen stößt und daß wir das betreffende System deshalb anders auffassen müssen. Wir betrachten es dann nicht mehr länger als intentionales System, welches mit Hilfe von Rationalitätsprinzipien verstanden werden kann, sondern nur noch unter einem neurologischen oder gar rein physikalischen Gesichtspunkt. Aber unter welchen Umständen ist ein System wirklich intentional? Wann kann man ihm zu Recht propositionale Einstellungen zuschreiben? Dennetts Antwort, der ich mich anschließe, lautet im wesentlichen: Ein System ist dann ein genuines intentionales System, wenn sich sein Verhalten mit Hilfe der intentionalen Strategie, d. h. durch die Zuschreibung von Rationalitätsprinzipien und propositionalen Einstellungen, erfolgreicher prognostizieren läßt als mit jeder anderen verfügbaren Strategie. „Erfolgreicher" kann dabei zweierlei bedeuten: Entweder liefert uns die intentionale Strategie, also die Methode des Verstehens, zutreffende Prognosen, die keine andere Strategie hervorzubringen vermag, oder dann lassen sich die auf das Verhalten des Systems zutreffenden Prognosen mit Hilfe der intentiona-
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len Strategie wesentlich einfacher gewinnen als mit Hilfe jeder anderen Strategie (vgl. Dennett 1981, 22-27). Im ersten Fall ist die intentionale Strategie den anderen also in puncto Kraft bzw. Anwendungsbreite überlegen, im zweiten Fall hingegen in puncto Einfachheit bzw. Handhabbarkeit. Dieses Kriterium, das die Grenzen der intentionalen Strategie und damit des Verstehens festlegt, ist offensichtlich ein empirisches. Wo die intentionale Strategie erfolgreicher funktioniert als etwa die physikalische oder die neurologische, steht mit anderen Worten nicht a priori fest. Und das ist wiederum der Grund dafür, weshalb die Anwendung der intentionalen Strategie auf unbelebte Systeme, wie wir sie von animistischen oder mythologischen Weltbildern her kennen, nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Nur funktioniert sie, wie wir heute wissen, bei solchen Systemen eben weniger erfolgreich als konkurrierende Strategien. Und in dem Sinne behält die Behauptung, daß sich Erklären und Verstehen hinsichtlich ihres Gegenstandsbereichs nicht prinzipiell voneinander unterscheiden, ihren Geltungsanspruch bei.
5. Verständigungsprobleme Die eben erwähnte Grenze, an welche die intentionale Strategie, die Methode des Verstehens, in ihrer praktischen Anwendung stößt, ist gewissermaßen eine äußere. Sie trennt die echten intentionalen Systeme von allen anderen, weniger komplexen Systemen und limitiert damit den maximalen Bereich, innerhalb dessen das Verstehen seinen Platz hat. Das heißt allerdings nicht, daß das Verstehen nicht auch innerhalb seines Anwendungsfeldes an gewisse Grenzen stößt - an innere Grenzen, wenn man so will. In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Fragen nachgehen: Welcher Art sind diese inneren Grenzen? Und sind sie ebenso empirischer Natur wie die eben skizzierte äußere Grenze? Daß wir selbst im Vollbesitz der relevanten Rationalitätsprinzipien nicht alles verstehen, was wir eigentlich verstehen können sollten, ist eine Erfahrung, die wir im Umgang mit anderen Menschen fast täglich machen. Das gilt namentlich für den Bereich der verbalen Kommunikation. Um die sprachlichen Äußerungen unserer Mitmenschen zu verstehen, bringen wir bewußt oder unbewußt ebenfalls eine Reihe von Rationalitätsprinzipien zur Anwendung. Ein Beispiel ist: (R4)
Wenn ein Sprecher der deutschen Sprache einen deklarativen (und keine indexikalischen Ausdrücke enthaltenden) Satz „ p " mit behauptender Kraft äußert, so glaubt er, daß p
Das gelegentliche Scheitern der intentionalen Strategie innerhalb ihres eigenen Anwendungsbereichs kann viele Ursachen haben, und vermutlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese Ursachen zu verorten und zu klassifizieren. Als besonders hilfreich erscheint mir in diesem Zusammenhang der Begriff der Konversationsmaxime, den Grice in die Diskussion eingeführt hat. Laut Grice wird ein dem Informationsaustausch dienendes Gespräch durch eine Reihe von Konversationsmaximen gesteuert, deren absichtliche oder unabsichtliche Verletzung unter anderem auch zu Verständigungsproblemen oder gar zu Verständigungszusammenbrüchen fuhren kann. Die Gricesche Klassifikation dieser Konversationsmaximen, welche sich nach Kantischem Muster der vier Kategorien der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität bedient (vgl. Grice 1975, 26 f.), liefert uns ein nütz-
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liches Schema, um den verschiedenen Arten von Verständigungsproblemen auf die Spur die zu kommen. Es sind: - quantitative Verständigungsprobleme, bedingt durch ein Zuviel oder Zuwenig an übermittelter Information; - qualitative Verständigungsprobleme, bedingt durch falsche Behauptungen oder das Fehlen angemessener Gründe; - relationale Verständigungsprobleme, bedingt durch einen fehlenden oder unvollständigen Bezug zum Kontext; - modale Verständigungsprobleme, bedingt durch Dunkelheit des Ausdrucks, Mehrdeutigkeit, Weitschweifigkeit oder Unordnung in der Reihenfolge der übermittelten Information. Nun lassen sich offensichtlich nicht aus allen Verständigungsproblemen, die sich durch die Verletzung der Griceschen Konversationsmaximen ergeben können, genuine Grenzen des Verstehens gewinnen - und darum geht es uns ja hier. So bildet zum Beispiel die Weitschweifigkeit auch in ihrer extremen Form keine grundsätzliche Verständigungsbarriere. Sie mag den Hörer bzw. Interpreten zwar ermüden oder gar dazu fuhren, daß er das Interesse an der Fortsetzung des Gesprächs verliert, doch hindert sie ihn im Prinzip nicht daran zu verstehen, was der Sprecher ihm mitteilen will.
6. Quantitative Grenzen des Verstehens In anderen Fällen kann aus einem bloßen, vorübergehenden Verständigungshemmnis aber eine echte Verständigungsschranke werden. Das trifft insbesondere dann zu, wenn die quantitativen und qualitativen Stolpersteine, die sich aus den Griceschen Maximen ergeben, eine kritische Größe übersteigen. Aufgrund unserer kognitiven Beschränkungen wären wir zum Beispiel nicht dazu in der Lage, einen meilenlangen Satz oder einen Satz mit einem 27stelligen Prädikat (vgl. Wittgenstein 1921, § 5.5541) korrekt zu parsen, geschweige denn, ihn zu verstehen (vgl. Fodor 1983, 121). In einem derartigen Fall würde die strukturelle und inhaltliche Fülle an übermittelter Information unsere kognitive Verarbeitungskapazität schlicht und einfach sprengen. Natürlich kommen solche überaus komplexen Mitteilungen in unserer Kommunikationspraxis schon allein deshalb nicht vor, weil die von uns zu interpretierenden Sprecher denselben kognitiven Beschränkungen unterliegen wie wir selbst und dementsprechend auch keine 27stelligen Prädikate oder meilenlangen Sätze verwenden. Es ist aber zumindest denkbar, daß wir einmal mit hochintelligenten Wesen in Kontakt treten, deren sprachliche Äußerungen wir wegen ihrer Länge und syntaktischen Komplexität aus quantitativen Gründen nicht verstehen können. Dementsprechend halte ich Davidsons Behauptung, daß etwas, das wir prinzipiell nicht zu verstehen vermögen, gar keine Sprache bzw. sprachliche Äußerung sei (vgl. Davidson 1974, 185 f.), für falsch. Schließlich wäre es im eben erwähnten Szenario durchaus möglich, daß es uns auch nach wiederholten Versuchen nicht gelänge, dem verbalen Verhalten der hochintelligenten Außerirdischen einen Sinn abzugewinnen, während es diesen umgekehrt leicht fiele, unsere aus ihrer Sicht höchst primitive Sprache zu erlernen. In einem solchen Fall wäre es offensichtlich vermessen und
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hoffnungslos anthropozentrisch, wenn wir Davidson folgten und die Außerirdischen nicht als genuine intentionale Systeme und genuine Sprecher einer uns unverständlichen Sprache betrachteten (vgl. dazu auch Cherniak 1986, 8 f. und Nagel 1986, 94-99). Von einem bestimmten Punkt an wird ein Zuviel an Information also von einem bloßen Verständigungshemmnis zu einer echten Grenze des Verstehens. Wo dieser Punkt genau liegt, läßt sich aber meines Erachtens nicht a priori feststellen, sondern ist eine empirische Frage. Der Umstand, daß unser Geist bzw. unser Gehirn eine endogene Struktur besitzt - ja sogar besitzen muß, wenn wir lernfähige Wesen mit Wünschen und Überzeugungen sein sollen - fiihrt automatisch dazu, daß die Informationsmenge, die wir überhaupt zu verarbeiten und zu verstehen vermögen, und die Klasse der Überzeugungen, zu denen wir überhaupt gelangen können, gewissen Beschränkungen unterliegt (vgl. Fodor 1983, 125). Wo diese Grenze verläuft, hängt jedoch von kontingenten und somit nur empirisch bestimmbaren Faktoren ab - nicht zuletzt davon, um welche endogenen Strukturen es sich dabei handelt. Ob wir dazu in der Lage sind, die quantitativen Grenzen unserer kognitiven Fähigkeiten zu bestimmen, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Es ist nämlich durchaus möglich, daß die Antwort auf die Frage, welchen Komplexitätsgrad oder welche Menge von Information wir gerade noch zu verarbeiten und zu verstehen vermögen, ihrerseits nicht im Bereich des uns kognitiv Zugänglichen liegt.
7. Qualitative Grenzen des Verstehens Eine der Griceschen Konversationsmaximen verlangt von den Kommunikationsteilnehmern, nichts zu sagen, was sie für falsch halten. In der Tat kann eine Lüge das Verstehen erschweren - namentlich dann, wenn sich die absichtlich falsche Behauptung nicht kohärent in die Überzeugungen des Interpreten einbetten läßt. Mich interessiert in diesem Zusammenhang allerdings eine andere Frage: Wie verhält es sich mit falschen Behauptungen, die nicht der Lüge, sondern falschen Überzeugungen entspringen? Wenn jemand einige wenige falsche Überzeugungen zum Ausdruck bringt, aber mit den Meinungen des Interpreten ansonsten im großen und ganzen übereinstimmt, wird dieser wohl keine Mühe haben, ihn zu verstehen auch wenn der Interpret die vom Sprecher geäußerten Meinungen nicht teilt. Aber wie verhält es sich, wenn die Überzeugungen des Sprechers in größerem Umfang von denjenigen des Interpreten abweichen? Können wir jemanden wirklich verstehen, dessen Weltbild sich deutlich von dem unsrigen unterscheidet? Subjektiv betrachtet glauben wir jemanden um so besser zu verstehen, je vollständiger sich dessen Überzeugungen mit den unsrigen decken. Bei tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten können hingegen Zweifel darüber aufkommen, ob der andere gewisse Schlüsselwörter überhaupt gleich verwendet wie wir, ob er mit anderen Worten überhaupt dieselbe Sprache spricht wie wir. Und das ist ein Indiz für das Vorliegen einer echten qualitativen Verständnisgrenze. Nun hat allerdings Davidson immer wieder betont, es sei aus methodologischen bzw. interpretationstechnischen Gründen gar nicht möglich, einem Sprecher mehrheitlich falsche Überzeugungen zuzuschreiben. Würden wir laut Davidson nämlich nicht davon ausgehen, daß der Sprecher im großen und ganzen richtige Meinungen kundtut, könnten wir zumindest in der Situation der radikalen Interpretation gar nicht erst damit beginnen, ihn zu interpretie-
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ren. Denn um den Gehalt seiner Überzeugungen überhaupt bestimmen zu können, müssen wir ihm bei vielen seiner sprachlichen Äußerungen unterstellen, etwas Wahres zu sagen. Und das beraubt uns gerade der Möglichkeit, die Mehrzahl der Sprecherüberzeugungen als „falsch" zu bezeichnen. Schließlich muß man den Gehalt einer Überzeugung bereits kennen, bevor man von ihr behaupten kann, sie sei falsch. Der Gehalt läßt sich aber wie gesagt nur auf dem Umweg über die Wahrheit ermitteln. Dementsprechend kann es Davidson zufolge so etwas wie qualitative Verständnisgrenzen gar nicht geben. Die Sache ist aber sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht nicht so eindeutig, wie Davidson sie darstellt. Erstens befinden wir uns in der alltäglichen Kommunikationspraxis so gut wie nie in der Situation der radikalen Interpretation. Vielmehr gehen wir fast immer davon aus, unser Gesprächspartner spreche dieselbe Sprache wie wir. Und weil der Witz der Kommunikation selten darin besteht, einem Gesprächspartner Dinge mitzuteilen, die er bereits weiß, die trivialerweise wahr sind oder die als völlig unkontrovers gelten, bleibt das Problem der falschen Überzeugungen im Alltag durchaus bestehen. Daß ein Sprecher eher problematische und allgemeine Thesen äußert als Gemeinplätze und Beobachtungssätze, welche in Quines und Davidsons Szenario der radikalen Übersetzung die entscheidende Rolle spielen, liegt in der Natur der Kommunikation. Folglich müssen wir in der Praxis den Gehalt der Sprecheräußerungen wohl oder übel als vorgegeben, d. h. als konventionell festgelegt betrachten. Und wenn sie unseren eigenen Überzeugungen dann im großen Umfang widersprechen, stellt sich bei uns schnell das Gefühl ein, wir würden den Sprecher nicht wirklich verstehen. Zweitens halte ich Davidsons Überlegungen auch im Grundsatz für problematisch. Denn es gibt keine apriorische Garantie dafür, daß es uns stets gelingen wird, einen Sprecher in der Situation der radikalen Interpretation zu verstehen. Ohne Zweifel beruht die erfolgreiche Interpretation eines uns völlig fremden Sprachbenutzers auf der intersubjektiven Übereinstimmung von Überzeugungen und damit auf dem, was Davidson in diesem Zusammenhang unter „Wahrheit" verstanden haben will. Doch kann man nicht von vornherein ausschließen, daß unsere Interpretationsbemühungen erfolglos bleiben - und zwar nicht nur aus den bereits genannten quantitativen Gründen, sondern eben auch dann, wenn die Überzeugungen des Sprechers deutlich von denjenigen des Interpreten abweichen. Das wirft allerdings die Frage auf, ob ein derartiger Fall überhaupt eintreten kann. Ist es überhaupt möglich, daß ein Sprecher bzw. ein intentionales System zahllose falsche Überzeugungen besitzt? 8. Massiver Irrtum Es gibt sowohl semantische als auch erkenntnistheoretische Gründe, die gegen die Möglichkeit eines massiven Irrtums sprechen. Auf semantischer Seite macht zum Beispiel Wittgenstein geltend, daß die sogenannten Mooreschen Propositionen wie „Dies ist eine Hand" oder „Die Erde hat schon lange vor meiner Geburt existiert" nicht vernünftig bezweifelt werden können. Er begründet dies unter anderem wie folgt: „Wenn ich zweifeln wollte, daß dies eine Hand ist, wie könnte ich da umhin zu zweifeln, daß das Wort ,Hand' irgendeine Bedeutung hat?" (Wittgenstein 1969, § 369; vgl. auch §§126 und 456). Mooresche Propositionen und die mit ihnen einhergehenden Überzeugungen haben mit anderen Worten nicht den Status von Hypothesen, welche sich als falsch erweisen könnten, sondern eher den Status
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von konstitutiven Regeln, welche ein sinnvolles Sprechen über Hände, die Erde etc. überhaupt erst möglich machen (vgl. Wittgenstein 1969, § 95). Alternativ dazu könnte man mit Wittgenstein auch sagen, daß Mooresche Propositionen Tatsachen ausdrücken, die „in das Fundament unseres Sprachspiels eingegossen" (Wittgenstein 1969, § 558) sind. Dagegen ist wenig einzuwenden. Nur bleibt fraglich, inwieweit die Mooreschen Propositionen unser Überzeugungssystem als Ganzes hinreichend zu stabilisieren und gegen eine Proliferation von Irrtümern zu schützen vermögen. Auf erkenntnistheoretischer Seite gehört es zu den Grundannahmen aller sogenannten reliabilistischen Positionen, daß die Entstehung einer falschen Überzeugung nicht die Regel sein kann, sondern außergewöhnlicher Umstände bedarf. Doch selbst wenn der Reliabilismus richtig sein sollte, kann man sich Situationen vorstellen, in denen eine Verkettung oder Überlagerung außergewöhnlicher Umstände dafür sorgt, daß ein intentionales System zu zahllosen falschen Überzeugungen kommt. So erwähnt Wittgenstein in einem anderen Zusammenhang das fiktive Beispiel eines Königs, der unter anderem im Glauben erzogen worden ist, die Welt habe mit ihm zu existieren begonnen (vgl. Wittgenstein 1969, §§92 und 262). Wenn jedoch selbst die Negationen Moorescher Propositionen zu einem Überzeugungssystem gehören können, sind zweifelsohne auch Weltbilder denkbar, die sich grundlegend von dem unsrigen unterscheiden. Entscheidend ist nun der folgende Punkt: Die Ursachen dafür, daß jemand wie der Wittgensteinsche König zahllose grundfalsche Überzeugungen hat, liegen typischerweise in der ferneren Vergangenheit - etwa in einer völlig verqueren Erziehung. Sollten wir dann in der Situation der radikalen Übersetzung auf einen derartigen Sprecher treffen, so dürfte es uns kaum mehr möglich sein, jene Ursachen noch zu eruieren. Und da uns falsche Überzeugungen erst wirklich verständlich werden, nachdem wir die Ursache ihrer Entstehung ausfindig gemacht haben, kann uns die Interpretation des Sprechers in einem solchen Fall prinzipiell mißlingen. Daraus schließe ich, daß es, Davidson zum Trotz, qualitative Grenzen des Verstehens gibt, also Grenzen, die auf ein Übermaß an falschen Überzeugungen zurückzuführen sind. Die Frage, welchen Status derartige Grenzen besitzen, ist hingegen schwerer zu beantworten als diejenige nach dem Status der quantitativen Grenzen. Da der Gehalt einer sprachlichen Äußerung mit ihren Wahrheits- oder genauer gesagt Behauptbarkeitsbedingungen zusammenhängt (vgl. Burri 1998, 227-229), ist es allerdings naheliegend anzunehmen, daß die qualitativen Grenzen eher semantisch-apriorischer als empirischer Natur sind. Ihren genauen Verlauf zu bestimmen, dürfte jedoch so gut wie unmöglich sein - und zwar einerseits deshalb, weil wir Überzeugungen schlecht zählen und damit das Verhältnis von wahren und falschen Überzeugungen kaum bestimmen können, und andererseits deshalb, weil alles andere als klar ist, welche inferentiellen Beziehungen für den Gehalt einer Überzeugung konstitutiv sind und welche nicht. Es gibt, wie ich hoffe plausibel gemacht zu haben, mehrere Arten von substanziellen Verstehensgrenzen. Allerdings läßt sich, so habe ich zumindest andeutungsweise klarzumachen versucht, über sie nicht wesentlich mehr sagen, als daß sie existieren.
GRENZEN DES VERSTEHENS
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Kolloquium 5 Glauben und Wissen
WOLFGANG KLUXEN
Einleitung Die Organisatoren dieses Kongresses haben mich beauftragt, die Moderation des religionsphilosophischen Kolloquiums zu übernehmen, für das sie das Thema Glauben und Wissen festgelegt haben. Von ihnen wurden auch die Redner ausgewählt, die ich nun vorzustellen habe, was eine leichte Aufgabe ist: Wenn nicht allen, so doch den meisten sind ihre Namen bekannt. Außerdem habe ich einige Bemerkungen zum Thema zu machen, eine kurze Einleitung zu meiner Sicht dessen, was nun zur Verhandlung ansteht. „Glauben und Wissen" ist ein altes Thema, bei dem wir gewöhnlich an einen religiösen Glauben denken, und zwar, gemäß der bei uns fortwirkenden Tradition, vorzugsweise an den christlichen. Das Thema kommt auf durch die Begegnung mit der antiken Philosophie, in einer ersten Gestalt bei Justin dem Märtyrer, der enttäuscht von der platonischen Philosophie ist; sie kann ihr Versprechen nicht halten, zur Gottesschau zu fuhren, und eben das tut die Verheißung des Glaubens. Glaube ist Überschreitung der Grenze, auf welche die Vernunft in ihrem Prozeß stößt, das Ganze von Welt und Dasein in ihrem Begriff zu fassen. Aber es ist sehr die Frage, welchen Sinn diese Grenzüberschreitung hat. Bei Justin liest sich das so, als sei der Glaube die Erfüllung des Strebens der Philosophie. Ist er vielleicht eine höhere Art von Wissen, das durch die Offenbarung erschlossen wird und in inhaltlichen Sätzen formuliert werden kann ? Ist es möglich, diese Sätze in Wissensformen einzufangen und so die Grenze hinauszuschieben ? Glauben ist ja nicht bloßes Meinen, das bei Piaton doxa heißt und über das hinaus man zur episteme fortschreiten muß; Glaube ist als eine vertrauende Gewißheit, die pistis heißt, gegeben, und fuhrt zur das Wissen überschreitenden und zugleich umfassenden Weisheit, sophia, und es findet sich auch der Name gnosis für die vom Glauben beförderte Erkenntnisweise. Das hat sich allerdings nicht durchgesetzt, da unter der Bezeichnung Gnosis eine Menge von Irrlehren auftraten; es zeigt sich, daß der religiöse Glaube von einer Gemeinde getragen wird, die einen Kanon heiliger Schriften und eine Glaubensregel besitzt, über deren Einhaltung sie wacht, womöglich durch autorisierte Instanzen. Wenn Glaube Wissen ist, jedenfalls nicht ein rein theoretisches.
KOLLOQUIUM 5 - EINLEITUNG
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Die Gegenposition, ebenfalls frühchristlich vertreten, ist die, daß Glaube überhaupt kein Wissen ist. Die geglaubten Inhalte sind nicht einsichtig, sie stehen sogar in Widerspruch zu dem, was die Vernunft uns zu wissen ermöglicht. Wir glauben, was und weil der Inhalt absurd ist, und sind dessen gewiß, was unmöglich ist: so die bekannten Äußerungen von Tertullian. Das ist natürlich übersteigernde Rhetorik, und ihr Autor hat sich nicht durchgesetzt. Aber ähnliche Aussagen wird man auch in späteren Zeiten finden, wo gegen den Anspruch rationaler Auslegung der Glaubenslehre oder deren Übermächtigung durch die Philosophie Position bezogen wird. Umgekehrt läßt sich das von einer dezidiert nichtgläubigen Philosophie her gegen die eigentlich dogmatischen Inhalte sagen: In der englischen Aufklärung des 17 Jahrhunderts sprach man von folly and superstition, und das galt nicht nur dem Aberglauben, dem Ritualismus und kirchlichen Ansprüchen. Geschichtlich folgenreich durchgesetzt hat sich in der christlichen Geschichte eine Einstellung, deren klassische Formel Anselm von Canterbury geprägt hat: Fides quaerens intellectum, der Glaube sucht Einsicht zu gewinnen, und gerade Anselm macht den Versuch, sola ratione Glaubenswahrheiten zu beweisen. Der genannte Satz gibt ein wesentliches Motiv der Scholastik, die allerdings nicht mehr dem bei Anselm noch maßgeblichen Konzept einer integrierenden Weisheit folgt. In einem Prozeß, den ich die „Verwissenschaftlichung aller Theorie" genannt habe, treten die profanen Wissenschaften, die jetzt die „natürlichen" heißen, da sie auf evidente Prinzipien gegründet sind, als selbständige hervor. Ihnen tritt dann die Theologie entgegen als Wissenschaft eigener Art, die ihre Prinzipien in den Glaubensaussagen hat, in denen die Offenbarungsinhalte, die ihrerseits „übernatürlich" heißen, verbindlich formuliert sind. Wenn freilich „natürlich" wißbare Wahrheiten in der Offenbarung enthalten sind, so sind sie wissenschaftlich demgemäß zu behandeln. Sie können „gewußt" werden, und das schließt den Glauben aus, der nicht als solcher Wissen ist. Die Theologie bedient sich dann der Philosophie und setzt ihr die Grenze. Sie verläuft demgemäß innerhalb der als Wissenschaft von der Offenbarungswahrheit konstituierten Theologie. Ich spreche hier von einer Synthese, und dies ist ein Modell der Zuordnung, das man als solches der Harmonie von Glaube und Wissen lesen kann. Es schließt prinzipielle Konflikte aus - alle Wahrheit stammt aus der einen Quelle, von Gott - , aber es schließt nicht aus, daß auf denselben Glauben verschiedene Theologien aufbauen, daß philosophisch verschiedene Modelle der Metaphysik als mit ihm vereinbar gelten. Von ihm aus kann eine eigenständige Wahrheit der „natürlichen" Wissenschaften anerkannt werden, sofern diese sich an ihre Grenzen halten. Bekanntlich hat es trotzdem folgenreiche Konflikte gegeben, im Mittelalter mit der von den Arabern vertretenen Weltsicht, neuzeitlich mit den Naturwissenschaften von Galilei bis Darwin. Die Theologie hat sich darauf einstellen und die klassischscholastische Gestalt des Modells abwandeln müssen. Gleichwohl ist es nicht obsolet: Es liegt noch immer der Position zu Grunde, die der gegenwärtige Papst in der Enzyklika mit dem Titel Fides et ratio vertritt. Freilich gibt es im christlichen Bereich auch ein Fortwirken des Weisheitskonzeptes, am eindrucksvollsten wohl bei Nikolaus von Cues, in dessen Einheitsdenken die Unterscheidung von Theologie und Philosophie keine Rolle spielt. Aber das Wissen verliert die Gewißheit, die nur der Glaube unbedingt hat. Nicht nur in der Grenzüberschreitung der docta ignorantia ist das Fall, sonst im konjekturalen Charakter aller Wissenschaft. Das hängt wohl
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WOLFGANG KLUXEN
weniger mit der nominalistischen Verunsicherung durch das Omnipotenzprinzip zusammen - sofern man das für gegeben hält - als mit der aristotelischen Überzeugung, daß in der Naturerkenntnis nur ein „zumeist" erreichbar sei. Das hat nun die arabischen Aristoteliker nicht gehindert, ein umfassendes Weltbild, mit Einschluß der Metaphysik, von einheitlichem Duktus mit wissenschaftlichem Anspruch zu entwerfen, dem die Scholastik ihr Synthese-Modell kritisch gegenüberstellte. Doch dem Wahrscheinlichkeitsdenken widerspricht erst grundsätzlich die moderne Naturwissenschaft, die den Anspruch auf unverbrüchliche Gewißheit erhebt. Erst dann wird sich im Zuge und im Verfolg der Aufklärung der Gedanke einer wissenschaftlichen Weltanschauung fassen lassen, die jede andere Instanz als die Wissenschaft für unmaßgeblich, für durch Fortschritt zu ersetzen und schließlich für schädlich hält. Das ist nur eine, wenn auch fortwirkende Facette der Aufklärung, der innerhalb ihrer eine Kritik entspricht, welche das Wissen einschränkt, um dem Glauben Platz zu machen, die in ihrer Fortführung das Thema von Glaube und Wissen philosophisch aufnimmt, die Grenze also innerhalb der Philosophie zu setzen unternimmt. Der Hintergrund dieses Vorgangs ist sicher die religiöse Radikalisierung des subjektiven Glaubens, wie sie in der Reformation zu finden ist, etwa im sola fide-Prinzip der Luther'sehen Rechtfertigungslehre. Es hat dann in der Theologie des 16. Jahrhunderts eine intensive Auseinandersetzung mit dem Problem in der analysis fidei gegeben, besonders bei den damals europäisch intellektuell fuhrenden spanischen Jesuiten, und man hat Grund zu der Vermutung, daß der junge Descartes durch seine Lehrer in La Fleche, die in dieser Lehre geschult waren, bereits Anregungen für seine spätere analysis scientiae erhalten hat. Aber philosophisch blieb die Frage nach dem Glauben offen, und die Positionen des Deutschen Idealismus sind für uns ebenso historisch wie die der klassischen Scholastik. Historisch scheint uns auch die philosophische Position der Araber, mit der sich die Scholastik auseinandergesetzt hat, aber die aktuellen Kontakte mit der islamischen Kultur veranlassen einen neuen Blick darauf. Wer mit arabischen Intellektuellen spricht, wird zu hören bekommen, im Islam habe es Aufklärung früher gegeben als in Europa, und das Wesentliche habe man von dort gelernt, sogar die griechischen Vorläufer nur durch diese Vermittlung zur Kenntnis bekommen. Es ist wohl nötig, das zu prüfen und festzustellen, was es im islamischen Umkreis mit der Philosophie und der Aufklärung auf sich hat. Friedrich Niewöhner, einer der wenigen deutschen Philosophen mit Kenntnis arabischer und hebräischer Texte, ist zu einem Beitrag aus diesem Problemkomplex eingeladen. Zur Frage nach Glaube und Wissen in einer Wissenschaftswelt, die sich als maßgeblich für Weltsicht und Weltorientierung versteht und darin eine Erbschaft der Aufklärung anzutreten glaubt, wird Hermann Lübbe das Wort nehmen. Wir erwarten von ihm, daß auch die aktuellen sozialen und politischen Aspekte des Themas in den Blick genommen werden. Wie sehr sie aktuell sind, hat die Frankfurter Friedenspreisrede von Jürgen Habermas gezeigt, der sie unter den Titel „Glaube und Wissen" gestellt hat, überraschend für seine früheren Leser. Ein dritter Beitrag sollte spezifisch dem Thema „Glaube" gewidmet sein, mit eher theoretischer Absicht. Wir wünschten als Redner einen Philosophen, der auch mit der katholischen Tradition vertraut ist, wenngleich ihm das spezielle Thema zu bestimmen freistand. Das hat Friedo Ricken übernommen, der zum Abschluß dieses Kolloquiums sprechen wird.
HERMANN LÜBBE
Die Religion und das Ende der wissenschaftlichen Weltanschauung
Meine Absicht ist zu zeigen, daß modernisierungsabhängig die kulturelle und damit auch die politische Bedeutung des wissenschaftlichen Wissens als eines Mediums der Aufklärung im Verhältnis zur Religion abnimmt. Genau komplementär zu diesem kulturevolutionären Prozeß behaupten sich gerade im Kontext hochentwickelter Zivilisation aufklärungsferne religiöse Traditionen mühelos, revitalisieren sich sogar oder treten in gänzlich neuer Gestalt hervor. Nichtsdestoweniger kommt es nicht zu einer Rückentwicklung in voraufgeklärte zivilisatorische Lebensverhältnisse, wie Aufklärungsromantiker befurchten möchten. Just die neuen Bekenntnisfreudigkeiten, ja Fundamentalismen und religionskulturellen Sonderwelten von Immigranten, desgleichen die neue Esoterik in Bildungs- und IntellektuellenMilieus erzwingen in ihrer pluralistisch präsenten Widerständigkeit gegenüber den Zumutungen kognitiver Aufklärung eine umso rigorosere Geltung der Prinzipien praktischpolitischer Aufklärung mit ihren Regeln rechtlich gesicherter Koexistenz heterogener religiöser Welt- und Lebensanschauungen. Zur historisch-politischen Veranschaulichung dieser Zusammenhänge erzähle ich zunächst zwei Geschichten. Diese Geschichten spielen im Preußen des 19. Jahrhunderts, enden aber in den USA oder lenken doch den Blick auf sie. Also: Gemäß der „Zeittendenz" mit Aufklärungshintergrund war es in der Reformära Preußens nicht zuletzt der König selbst, der die beiden seit der Reformation getrennten Kirchen der Lutheraner einerseits und der Reformierten andererseits in einer evangelischen Unionskirche zusammenführen wollte. „Irenisch" sollten „dogmatische Gegensätze, das Produkt unfruchtbaren Theologengezänks" relativiert werden. „Aufklärung und Pietismus, Erweckung wie idealistische Theologie wiesen aus unterschiedlichen Motiven in diese Richtung".1 In einer Proklamation vom 27. September 1817, in Vorbereitung der Jahrhundertfeier der Reformation, „richtete der König an die Christen der beiden evangelischen Bekenntnisse den Aufruf, das Reformationsfest gemeinsam zu begehen und dabei das Abendmahl gemeinsam nach den biblischen Einsetzungsworten einzunehmen, wobei die Lutheraner sich statt des Gebrauchs der Hostie der reformierten Sitte des Brotbrechens fugen sollten"2. Zu So Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. 432. 2
Bürgerwelt und starker Staat, München 1983,
Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band I. Reform und Restauration 1830, zweite, verbesserte Auflage, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, 466.
1789-
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HERMANN LÜBBE
den besonderen persönlichen Anliegen des Königs gehörte dabei eine vereinheitlichende Reform der Gottesdienstagenden - ein konfliktträchtiges Anliegen, wie man versteht, wenn man sich die in letzter Instanz anthropologisch begründete besondere Bedeutung von Symbolen und Riten, symbolischen Handlungen also, für die traditional vermittelte Erfahrbarkeit von Zusammengehörigkeit über Räume und Zeiten hinweg vergegenwärtigt.3 Auf die theologischen und kirchenverfassungspolitischen Details der Auseinandersetzungen um die Kirchenunion kommt es hier nicht an. Im Resultat kam es zu Widerständen insbesondere von herkunftstreuen Altlutheranern, die sich in einigen marginalen, aber signifikanten Extremfallen auch mit den beträchtlichen Repressionsmitteln des spätabsolutistischen Staates nicht brechen ließen.4 Im schlesischen Dorfe Hönigern war schließlich die Aufbietung von Militärgewalt nötig, um den Altlutheranern eine Kirche zu entreißen. Konfessionelle Separationsfreiheit war im Staatskirchenregime nicht verstattet. Auswanderungsfreiheit wurde schließlich gewährt. „Auf Spreekähnen fuhren über 1000 von ihnen Choräle singend durch Berlin auf dem Wege nach Amerika".5 Gern stellt man sich vor, daß es Choräle des Erzlutheraners Paul Gerhardt waren, die von den Altgläubigen, als sie Berlin passierten, in Schloßnähe angestimmt wurden. Damit war, wie ein prominenter liberaler und eben deswegen von Traditionsrespekt geprägter Theologe des 19. Jahrhunderts es ausgedrückt hat, „das Lutherthum als Secte", als staatsfreie religiöse und soziale Kommunität konstituiert und fand Jenseits des Meeres eine Freistätte"6. Man machte sich die Sache zu einfach, wenn man fände, bei den fraglichen traditionsorientierten Modernisierungswiderständlern müsse es sich wohl um Subjekte manifester Emanzipationsinkompetenz, milieuabhängigen oder sonstwie bedingten, womöglich „selbstverschuldeten" Unvermögens handeln, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen"7. Immerhin ergriffen auch Intellektuelle bedeutenden Ranges die Partei der Altgläubigen - so kein Geringerer als der Philosoph Henrik Steffens, der in einem Akt der öffentlichen Bekundung von Solidarität mit entlassenen altlutherischen Pfarrern seinerseits um Entlassung aus seiner Breslauer Professur bat.8 Die Konzession, die Unbereitschaft der fraglichen Glaubenstraditionalisten, sich aus ihrer Vergangenheitsverhaftung einen reformpolitisch eröffneten „Ausgang" in größere Modernität weisen zu lassen, könne „selbstverschuldet" sein, ist bei näherem Zusehen gegenstandslos. „Selbstverschuldet" hatte ja Kant diejenige „Unmündigkeit" genannt, deren „Ursache" Vgl. dazu und speziell auch zur Rolle Schleiermachers in den theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen um die Unionskirche. Vgl. dazu Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 385. „Kampf gegen die Agende des Königs". 4
Vgl. dazu das Kapitel „Die schlesischen Altlutheraner" bei Emst Rudolf Huber, Deutsche geschichte
seit 1789. Band II. Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830-1850,
Verfassungs-
zweite, verbesserte Aufla-
ge, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968, 272-275. 5 6
Thomas Nipperdey, a. a. O. (vgl. Anm. 1), 433. So Carl August Hase, Kirchengeschichte.
Lehrbuch
zunächst für akademische
Vorlesungen,
neunte,
verbesserte Auflage Leipzig 1867, 586f. 7
8
So Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" (1784), in: ders., Schriften
von
1783-1788, hg. v. Arthur Buchenau und Ernst Cassirer. Berlin 1922, 167-176, 169. Statt dessen wurde er freilich nach Berlin befördert - ein beschwichtigungspragmatisch plausibler Akt zur Dämpfung des Unwillens, den der spätabsolutistische kirchenpolitische Modernisierungszwang ausgelöst hatte. Vgl. dazu Ernst Rudolf Huber, a. a. O. (vgl. Anm. 4) 273.
D I E RELIGION UND DAS ENDE DER WISSENSCHAFTLICHEN WELTANSCHAUUNG
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nicht „Mangel des Verstandes" sei, vielmehr ein Mangel „des Mutes", und Kant hatte sich nicht geniert gefunden, diesen aufklärungsbehindernden Mangel an Mut mit dem Exempel jenes Gläubigen zu illustrieren, der sich auf seinen „Seelsorger" verläßt, der für ihn „Gewissen" habe, so daß er sich, bequem, von der Verpflichtung entlastet findet, sich „selbst zu bemühen"9. Ersichtlich paßt diese Kantische Charakteristik bequemlichkeitsbedingter frommer Aufklärungsresistenz auf die schlesischen Altlutheraner gar nicht. Diese hatten ja schließlich Mut bewiesen und wichen notgedrungen erst vor der Militärgewalt, und sie ließen sich diesen Mut auch etwas kosten, nämlich die Heimat, und sie erwiesen sich als mobil genug, sich eine neue Heimat jenseits des Ozeans zu suchen. Eben dieser Mut und diese Mobilität kamen nun den Institutionen der in der Neuen Welt bereits etablierten politischen Aufklärung zugute. Man erkennt: An diesen Fall eines Beitrags zur politischen Aufklärung durch Unbereitschaft, sich den Zumutungen einer politisch verbindlich gemachten Emanzipation zu unterwerfen, hatte Kant gar nicht gedacht, und bis heute tun es zumeist diejenigen auch nicht, die aus Kants berühmtem Aufklärungs-Essay ihrerseits ein kanonisiertes Traditionsgut gemacht haben. Selbstverständlich lehrt die skizzierte Geschichte des Auszugs der modernisierungsresistenten Altlutheraner aus Reform-Preußen nicht, daß der Grundtext der verfassungsrechtlich in den USA verbindlich gemachten religionspolitischen Aufklärung, nämlich der 1791 in Kraft getretene erste Zusatzartikel zur Verfassung von 178710, ein Text vollkommener Konvenienz mit dem Geist des Altluthertums sei. Der Zusammenhang ist ein gänzlich anderer, aber er ist aufklärungspolitisch wirkungsvoll. Es ging darum, sich einer Obrigkeit zu entziehen, die zu Modernisierungszwecken politisch dispositiv machen wollte, was man in traditional vermittelter Glaubensgewißheit selber gerade für indisponibel hielt. Die USA boten die nächstliegende, wenn auch jenseits des Ozeans gelegene Chance genau dieser politischen Emanzipation, also der Verschaffung von Freiheit, über Teilnahme oder Nichtteilnahme an Prozessen der Emanzipation aus tradierten Gewißheiten selbst bestimmen zu können. Genau dieser Selbstbestimmungswille, als Kern der politischen Aufklärung mit ihrem verbürgten Vorrang der Freiheit vor der Modernität, prägte bekanntlich nicht unerhebliche Anteile der nordamerikanischen Immigranten. Die Verfassung, wie sie dann gerade auch religionsrechtlich sich in den USA durchsetzen sollte, lag dabei zunächst gar nicht im Horizont dessen, was sie erhofften oder wünschten. Im Gegenteil: Wo religiöse Gruppen von homogener Prägung regional dominant waren, beherrschten sie auch religionspolitisch die Szene, und es ist nicht einfachhin traditionaler Puritanismus, Kongregationalismus oder gar Katholizismus, den wir im ersten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung wiederfinden, vielmehr das pragmatische Interaktionsresultat dieser und weiterer unvereinbarer Konfessionen, die sich zur sozialen Koexistenz gezwungen sahen und damit politisch auf rechtlich sanktionierte Koexistenzregeln angewiesen. Religionsgeschichtlich betrachtet handelt es sich insofern bei der amerikanischen Religionsfreiheit um ein Resultat ,ungeplanter Demokratisierung der Religion', wie Michael Zöller das genannt hat." Wohlgemerkt: Die Kraft der Geltung der religionsrechtlichen Koexistenzregeln, die die Pluralität des religiösen Le9 10
11
Immanuel Kant, a. a. O. (vgl. Anm. 7). In deutscher Übersetzung abgedruckt bei Horst Mewes, Einfiihrung in das politische System der USA, Heidelberg 1986, 265. Michael Zöller, Washington und Rom. Der Katholizismus in der amerikanischen Kultur, Berlin 1995, 27.
210
HERMANN LÜBBE
bens möglich machen, erwächst dabei nicht aus einem Aufklärungsprozeß fortschreitender Bedeutsamkeitsverluste religiöser Orientierungen, vielmehr im Gegenteil aus fortdauernder, ja sich über Erweckungsbewegungen sogar intensivierender kultureller und politischer Lebendigkeit emanzipationsresistenter religiöser Zugehörigkeitsverhältnisse.12 James Madison sah sich realistischerweise veranlaßt, es für möglich zu halten, daß in der einen oder anderen religiösen Gruppe sich auch politisch destruktive Tendenzen entwickeln könnten. Aber er vertraute auf die moderierenden Wirkungen des Zwangs zur Kooxistenz im Pluralismus der Union: „Die Vielfalt der Sekten, die die ganze Konföderation durchziehen, schützt die Nationalversammlung gegen jede Gefahr von dieser Seite".13 Man erkennt: Die amerikanische politische Aufklärung ist in ihrem verfassungsrechtlichen Resultat strikter Trennung von Staat und religiöser Gemeinschaftsbildung eine religionsfreundliche Aufklärung. Sie enthält keinerlei laizistischen Elemente. Ihr Sinn wäre mißverstanden, wenn man ihr nach Analogie der politisierten religiösen Aufklärung europäischer Prägung Absichten der Privatisierung der Religion unterstellte. Der erste Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung, konstatiert Robert N. Bellah, „does not mean and has never meant the American State has no interest in or concern for religion, or churches either, for that matter, and it certainly does not mean religion and politics have nothing to do with each other"14. „Die religiöse Kultur Amerikas repräsentiert politisch, rechtlich und sozial einen Sonderweg"15, und nicht zuletzt in denjenigen religionskulturellen Beständen, die in den USA wie auch in Europa seit einigen Jahrzehnten unter dem Konzept der „Civil Religion" thematisiert werden16, manifestiert sich der amerikanische Sonderweg - von der inschriftlichen Bekundung des Gottvertrauens auf jeder Ein-Dollar-Note bis hin zu den in Europa nicht nur in laizistischen Traditionen, vielmehr auch und gerade in Staaten staatskirchenrechtlicher Privilegierung einiger religiöser Gemeinschaften undenkbaren präsidialen Gebete im Kontext öffentlicher Amtstätigkeit.17 Zivilreligion - das ist diejenige öffentlich präsente Religion, die die Bürger und ihre politischen Repräsentanten, weil sich die bürgerliche und die religiöse Existenz gewiß unterscheiden, aber doch nicht trennen lassen, mitrepräsentieren, nämlich in einem Staat, der das religiöse Leben durch seine gewährleistete vollständige Freilassung schützt und eben deswegen vom Interesse der also Freigelassenen sich getragen weiß. Für Aufklärungswächter, die die Religion, bevor sie wirklich freigelassen 12 13
14
15 16
17
Vgl. dazu exemplarisch Edwin Scott Gaustad, The Great Awakening in New England, New York 1957. Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, Die Federalist Papers, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig. Darmstadt 1993, 100. Robert N. Bellah, „Religion and the Legitimation of the American Republic", in: Robert N. Bellah, Phillip E. Hammond, Varieties of Civil Religion, San Francisco 1980, 3-23, 7. So Michael Zöller, a. a. O. (vgl. Anm. 11), 2. Zum Thema der Zivilreligion vgl. die Aufsatzsammlung von Heinz Kleger, Alois Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986 sowie zur Analyse allenfalls vergleichbarer religionskultureller Bestände in Deutschland das Kapitel „Exkurs über ,Zivilreligion'" in meinem Buch Religion nach der Aufklärung, Graz, Wien, Köln 2 1990, 306-327. Vgl. dazu Klaus-M. Kodalle, „Zivilreligion in Amerika: Zwischen Rechtfertigung und Kritik", in: ders. (Hg.), Gott und Politik in USA. Über den Einfluß des Religiösen. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt/M. 1988, sowie meinen Aufsatz „Der neue Groß-Terror und die Gebete des amerikanischen Präsidenten. Politik und Religion", in: Hermann Lübbe, Aufklärung anlaßhalber. Philosophische Essays zu Politik, Religion und Moral, Gräfelfing 2001, 94-103.
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DIE RELIGION UND DAS ENDE DER WISSENSCHAFTLICHEN WELTANSCHAUUNG
wird, erst modernitätsfahig machen möchten, gibt es hier gar kein Betätigungsfeld, und so erklärt sich auch die in den USA immer wieder einmal laut werdende Kritik an den Aktivitäten aufklärungsbeflissener europäischer Sektenjäger.18 Das amerikanische System hat sich ersichtlich als geeigneter erwiesen, Modernität und religiöse Kultur kompatibel zu halten. Das hat man inzwischen auch in Europa bemerkt und oft beschrieben.19 Die Faktoren der tiefgreifenden Differenzen zwischen den religionspolitischen Traditionen der USA einerseits und der Mehrzahl der europäischen Länder andererseits bilden eine kontingente Gemengelage. Einer der Faktoren ist die Begünstigung und Festigung politischer Aufklärung durch den Mehrheitswillen einer Bürgerschaft, die sich von den Zumutungen einer Modernisierung freizuhalten vermochte, die auch und sogar vorrangig die Religion modernisierungshalber dispositiv halten wollte. Das ist hier das Thema, und zur Veranschaulichung des Wirkungszusammenhanges, der gerade die Unbereitschaft, die religiösen Gewißheiten Tendenzen kognitiver Aufklärung auszusetzen, zum Medium der Bekräftigung der Fälligkeiten politischer Aufklärung werden läßt, sei zunächst die angekündigte zweite Geschichte erzählt. Auch sie spielte sich in Preußen ab, nämlich als Episode in der Geschichte des Landtags. Im Haus der Abgeordneten sollte am 23. und 26. Februar 1883 eine speziell die Universitätsbudgets betreffende Haushaltsdebatte stattfinden. Stattdessen ereignete sich ein Weltanschauungsdiskurs - ausgelöst durch Berichte über das öffentliche Bekenntnis eines Professors von besonderer Prominenz zum Darwinismus. „Während das hl. Offizium des Kopernikus Anhänger mit Feuer und Kerker verfolgt, ruht Charles Darwin in Westminster Abbey" - so hatte Emil Du Bois-Reymond eine Rede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften geschlossen. 20 Das ist ein Satz, in dem sich rhetorisch der Triumph der kognitiven Aufklärung über alle religiös motivierten Versuche, ihr Grenzen zu setzen, manifestiert.21 Näherhin war es ein Satz zur Bekräftigung des erfolgreichen Endes im Kampf um die uneingeschränkte öffentliche Anerkennung des Rechts der theoretischen Neugierde. 22 Weniger als hundert Jahre zuvor hatte Kant noch sich spätabsolutistisch mit dem bescheidenen Vorschlag begnügt, die Philosophischen Fakultäten staatlich als Stätten der Aufklärung durch uneingeschränkt freie Forschung zu privilegieren, im Unterschied nämlich zu den Oberen Fakultäten in ihrer Rückbindung an staatlich sanktio18
Vgl. dazu Gerhard Besier, Erwin K. Scheuch (Hg.), Die neuen Inquisitoren.
Religionsfreiheit
und Glau-
bensneid, Teile I und II. Zürich, Osnabrück 1999. 19
Vgl. dazu exemplarisch das Kapitel „Die Christianisierung Amerikas und die Dechristianisierung Europas im 19. und im 20. Jahrhundert" bei Hartmut Lehmann, Protestantisches Säkularisierung,
20
Christentum im Prozeß
der
Göttingen 2001, 159-179.
„Darwin und Kopernikus. Ein Nachruf", aus dem in der Friedrich-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 25. Januar 1883 statutengemäß verlesenen Bericht über die seit der letzten gleichnamigen Sitzung eingetretenen Personalveränderungen, in: Reden von Emil Du Bois-Reymond
in zwei
Bänden,
zweite, vervollständigte Auflage. Mit einer Gedächtnisrede von Julius Rosenthal hg. v. Estelle Du BoisReymond. Zweiter Band. Leipzig 1912, 243-248, 246. 21
Zur ausführlicheren Darstellung der wissenschaftskulturellen Bedeutung Du Bois-Reymond vgl. meine Abhandlung „Wissenschaft und Weltanschauung. Ideenpolitische Fronten im Streit um Emil Du BoisReymond", in: Hermann Lübbe, Die Aufdringlichkeit vom Historismus
22
bis zum Nationalsozialismus,
Vgl. dazu Hans Blumenberg, Die Legitimität theoretischen Neugierde".
der Geschichte.
Herausforderungen
der
Moderne
Graz, Wien, Köln 1989, 257-274. der Neuzeit, Frankfurt/M. 1966, 201ff.: „Der Prozeß der
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HERMANN LÜBBE
nierte Normen einschließlich der in diese Normen eingegangenen kognitiven Prämissen.23 Es geschehe „zum Schaden der Regierung selbst", wenn „die Wahrheit" nicht ungehindert „an den Tag kommen" könne.24 Nichts ist nützlicher als die Wahrheit - das mußte in der Tat schließlich den Prozeß der kognitiven Aufklärung irresistibel machen, je mehr die Wissenschaften von der ärztlichen Kunst bis zur Agronomie und vom Bergbau bis zur Navigation zu einem Element unserer realen Lebensvoraussetzungen wurden. Entsprechend hatte ja, in Preußen, auch Wilhelm von Humboldt gefunden, die Universitäten und ihre Wissenschaften stünden „immer in enger Beziehung auf das praktische Leben und die Bedürfnisse des Staates" und unterzögen sich „praktischen Geschäften" für ihn.25 Im Widerspruch zur Freiheit der Wissenschaft steht diese Nutzenerwartung eines aufklärungsbereiten Staates keineswegs, und wie demgemäß die Wissenschaftsfreiheit den Wissenschaftsnutzen mehrt - das erläuterte Humboldt mit dem schönen Satz, die Wissenschaft gieße eben „dann ihren wohltätigsten Segen" aus, wenn sie ihren Nutzen „gewissermaßen zu vergessen scheint"26. Soweit die freie Wissenschaft sich durch ihren längst unverzichtbaren Nutzen empfiehlt, sind dem Professor Konfessoreneigenschaflten im Regelfall nicht mehr abverlangt, und auch die Empörung über Du Bois-Reymonds öffentliches Bekenntnis zu Darwin, die in der erwähnten Berliner Parlamentsdebatte vom Februar 1883 laut wurde, war von Erfahrungen der Unaufhaltsamkeit des Fortschritts der Wissenschaften mitgeprägt und damit von der Vergeblichkeit des Eifers der Glaubenshüter, die vermeintlich glaubensgefährdenden Annahmen der Wissenschaftler über die Welt, in der wir leben, akademisch sekret und unauffällig zu halten. Eben darauf lief nämlich die Meinung des Abgeordneten Adolf Stoecker, Hof- und Domprediger zu Berlin, hinaus, der die Wissenschaftsfreiheit keineswegs einschränken wollte - das könne „ein Protestant gar nicht" - , aber dem berühmten Du BoisReymond doch nahelegte, die Darwinschen Evolutionshypothesen mit ihren die Gläubigen provozierenden Befremdlichkeiten im „Kolleg", aber doch bitte nicht „bei öffentlichen Feierlichkeiten" vorzutragen. - Das war ein Versuch, die Wissenschaften, deren Fortschritt unaufhaltsam geworden war, unter Aspekten ihrer Aufklärungswirkungen immerhin an das pragmatische Prinzip der Skandalvermeidung zu binden. Demgegenüber war es dann, konsequenter, der Führer des katholischen Zentrums, Ludwig Windthorst nämlich, der uneingeschränkt auf dem Skandalcharakter der Hypothesen Darwins beharrte, nämlich auf ihrer 23
24 25
26
Als Vorschlag zur akademischen Institutionalisierung wissenschaftlicher Aufklärung läßt sich Kants Spätschrift von 1798, „Der Streit der Fakultäten", auffassen, in: Immanuel Kants Werke, hg. v. Ernst Cassirer. Band VII. Berlin 1922, 311-431. - Zur Interpretation dieser universitätstheoretischen Hauptschrift Kants vgl. Günther Bien, „Kants Theorie der Universität und ihr geschichtlicher Ort", in: Historische Zeitschrift 219/3 (1974), 551-577, sowie meinen Aufsatz „Fortschritt durch Wissenschaft. Humboldts Universität", in: Hermann Lübbe, Modernisierung und Folgelasten. Trends kultureller und politischer Evolution, Berlin, Heidelberg, New York 1997, 341-353, 347f. Immanuel Kant, a. a. O. 330. Wilhelm von Humboldt, „Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin", in: Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, Darmstadt 1956, 375-386, 384. So Humboldt in seiner Antrittsrede in der Berliner Akademie der Wissenschaften (vom 19. Januar 1809), in: Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band III, 219-221, 220.
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Unvereinbarkeit mit dem ,ewig geltenden Offenbarungsinhalt', was eben einschlösse, daß „nicht die Kirche [...] sich nach der Wissenschaft zu richten" habe, vielmehr umgekehrt „die Wissenschaft" nach „göttlicher Offenbarung und göttlicher Institution". Als Protagonist des Prozesses kognitiver Aufklärung, gewiß, trat damit der Zentrumsführer nicht hervor, wohl aber und eben deswegen als politischer Anwalt überfälliger Mehrheit der Freiheit. Er verlangte nämlich „eine freie Universität", eine Universität also in nichtstaatlicher Trägerschaft, die in ihrer Kirchentreue kein Ort glaubenswidriger Lehren sein werde. Das war nun ein Gebrauch des Wortes „Freiheit", der allen Staatsfrommen absolutistischer Tradition stechend ins Ohr dringen mußte. „Die Herren schweigen" konstatierte entsprechend Windthorst ironisch: „Sonst für die Freiheit begeistert, aber für diese Freiheit sind sie stumm". Man erkennt die Zusammenhänge: Eben aus der Inanspruchnahme des Rechts zur Zurückweisung einer für unzumutbar, nämlich glaubenswidrig gehaltenen kognitiven Aufklärung resultiert eine Bekräftigung des Willens zu politischer Aufklärung - im fraglichen Falle also zum politischen Engagement für eine Ordnung des Gemeinwesens mit dem Recht freier Selbstorganisation schulischer und universitärer Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen. „Schöne Freiheit" wird der Altaufgeklärte sagen, der hier Selbstbestimmungsrechte, die sich der politischen Aufklärung verdanken, für Zwecke der Abwehr zugemuteter kognitiver Aufklärung in Anspruch genommen sieht. Indessen: Inzwischen gibt es ja gerade in modernen, hochentwickelten Gesellschaften Einrichtungen in großer Zahl, die von genau jener Freiheit getragen und erfüllt sind, für deren Mehrung Windthorst 1883 im Berliner Abgeordnetenhaus eintrat. In den USA gibt es sie ohnehin, aber inzwischen bekanntlich auch in Deutschland. Der Ruf der Schulen in kirchennahen Trägerschaften ist im Regelfall ausgezeichnet. Die fraglichen Schulen können die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen kaum bedienen, und für viele freie Universitäten gilt Analoges. Wie sich auch in diesen freien Universitäten die Wissenschaften entwickeln sollten - das hat trivialerweise Windthorst nicht voraussehen können. Inzwischen ist ja die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in allen hochentwickelten Ländern noch weithin verbreitete Meinung, Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie seien kognitiv inkompatibel, nur noch marginal präsent - in den USA bei den traditional primär protestantisch geprägten so genannten Creationisten zum Beispiel27, oder auch, fast überall in der Welt, bei den Zeugen Jehovas. Der spätere Kardinal Ratzinger hingegen fand, als er noch als Professor schrieb, bereits 1969, die Schöpfung, an die der Christ glaubt, schließe doch gar nicht aus, daß innerhalb ihrer jene Entwicklung des Lebens auf der Erde stattfinde, die die Evolutionstheorie beschreibt28. Das dürfte die Mehrheitsmeinung heutiger katholischer Theologen sein, und auch an katholischen Universitäten, in Eichstätt zum Beispiel, steht entsprechend der Darwinismus schlechterdings nicht mehr in Verdacht, Gehalt einer gewißheitsdestruktiven kognitiven Aufklärung zu sein. Johannes Paul II höchstselbst bekräftigte 1980 in einer Kölner Rede von herausragendem kirchengeschichtlichen Rang die Gegenstandslosigkeit der Besorgnis einer 27
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Vgl. dazu exemplarisch Marcel C. La Follette (Hg.), Creationism, Science, and the Law. The Arkansas Case, Cambridge (Mass.), London 1983. Joseph Ratzinger, „Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie", in: Wer ist eigentlich Gott?, hg. v. Hans Jürgen Schultz. München 1969, 232-244.
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Gefährdung der Integrität des Glaubens durch Fortschritte der Wissenschaft und macht überdies geltend, die Kirche wirke heute als Hüterin des Glaubens und als Verteidigerin der Geltungsansprüche wissenschaftlicher Vernunft gleichermaßen.29 Es wird noch, abschließend, davon die Rede sein müssen, wieso im Vergleich zur wissenschaftskulturellen Lage speziell noch des europäischen 19. Jahrhunderts jene kognitiven Aufklärungen, die mit dem Fortschritt der Wissenschaften verbunden sind, kulturell nur noch marginal irritierend wirken. Das hat, noch einmal, Ludwig Windthorst und die ganze Kulturkampfgenossenschaft, die er politisch repräsentierte, nicht voraussehen können. Sehr wohl aber hat er die Freiheiten nachhaltig wirksam beschrieben und in Anspruch genommen, von denen Glaubensgemeinschaften in Minderheitenrollen in der modernen Welt fortdauernd abhängig sind - die Freiheiten politischer Aufklärung eben von der generellen Freiheit der Religion bis zu den speziellen Freiheiten kommunitätsspezifischer Selbstorganisation religiöser Kommunitäten in Vereinen, Schulen und Universitäten sogar. Mit dem Exempel der USA hat Windthorst im Abgeordnetenhaus zu Berlin nicht argumentiert, und das lag auch damals für Katholiken in Preußen nicht nahe. Aber inzwischen ist dieses Exempel unübersehbar geworden, und auch für die europäischen Katholiken enthält es eine Lehre. Wäre es denn denkbar, daß die Katholiken auch ohne die Institutionen der politischen Aufklärung amerikanischen Musters zur größten aller religiösen Denominationen in den USA hätten heranwachsen können? Das ist, unter anderem, die Geschichte, die man erzählen muß, um verständlich zu finden, wieso die römische Kirche, die noch unter Pius XII sich der formlichen Akzeptanz der allgemeinen Freiheit der Religion strikt verweigert hatte30, nur zehn Jahre später, nämlich beim II. Vatikanischen Konzil mit seiner starken Präsenz des Episkopats der amerikanischen Katholiken, die Religionsfreiheit ausdrücklich anerkannte und ihre Erhebung zu einem allgemeinen bürgerlichen Recht verlangte.31 - In der Zusammenfassung bedeutet das: In der modernen Welt mit ihren sozial und regional expandierenden wechselseitigen Abhängigkeiten intensivieren sich zugleich Erfahrungen einer irreversiblen Pluralität politischer, kultureller und näherhin auch religiöser Lebensverhältnisse, und die Institutionen der politischen Aufklärung als Bedingungen der Selbsterhaltung in der Koexistenz mit analog interessierten Anderen, und nicht zuletzt Minderheitenerfahrungen verschaffen dieser Empfehlung Nachdruck. Dabei erfolgt die Institutionalisierung der fraglichen Koexistenzregeln nach trivialer politischer Pragmatik selbstverständlich konsensuell oder doch - und das sogar meistens - mehrheitsabhängig. Aber der Zweck solcher Einigung ist nicht der Konsens selber, vielmehr das Recht, als Dissenter zu leben, und sei es, wie im Falle der Creationisten, im Dissentertum der Verweigerung kognitiver Aufklärung, die uns Wissenschaftler oder auch Intellektuelle ansinnen.
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Vgl. dazu die Ansprache an Wissenschaftler und Studenten im Kölner Dom am 15. November 1980, in: Predigten und Ansprachen von Papst Johannes Paul II bei seinem Pastoralbesuch in Deutschland [...] 15. bis 19. November 1980, Bonn o. J. 26-34. In einer Weihnachtsansprache 1953 vor römischen Juristen, vgl. Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius'XII, hg. v. Arthur Fridolin Utz und Joseph Fulko Groner. Freiburg in der Schweiz 2 1954, Nr. 3978,2049. Vgl. Die Konzilserklärung über Religionsfreiheit, lateinischer und deutscher Text, hg. v. Jeröme Hamer OP und Yves Congart OP. Paderborn 1967, 25ff.
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Die Frage bleibt, wieso in Europa Programme kognitiver Aufklärung die religiöse Kultur stärker bedrängt und geprägt haben als in der Neuen Welt und dann in den USA. Als Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage läßt sich ein Diktum von Karl Marx nutzen. Es lautet: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik".32 Dieser Satz, den man im Kontext der Gründungsgeschichte der USA gar nicht recht zu verorten wüßte und in der europäischen Gegenwart ebenso wenig, wird aus der Erfahrung europäischer Philosophen und sonstiger Intellektueller plausibel, die sich noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein von Maßgaben administrativer Zensur bedrängt, ja schikaniert fanden, die somit als mißliebig gewordene Privatdozenten oder auch als entlassene Professoren Zuflucht in der Schweiz oder in den USA suchten und fanden oder sich auch, wie der erwähnte Steffens, mit dem Schicksal der schlesischen Altlutheraner identifizierten und keinen Zweifel an der dauerhaften Zukunftsunfähigkeit politischer Zustände hatten, die Tausende von Bekenntnisdissidenten in die Emigration zwangen. Auch die „Judenfrage" konnte es nahelegen zu finden, daß „die Kritik der Religion" die „Voraussetzung aller Kritik" sei, und Karl Marx zog dabei die denkbar radikalste aller Konsequenzen: „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum".33 Generalisiert ließ sich daraus das Programm entwickeln, die hier und da bereits mehr oder weniger und am radikalsten in den USA realisierte Religionsfreiheit durch die Befreiung des Menschen „von der Religion" zu überbieten.34 In der Tat: Hält man die Religion für ein Fixativ kultureller und politischer Voraufgeklärtheit („Opium des Volks"35), dann geht die intellektuelle Emanzipation von der Religion der politischen Befreiung voraus, während zugleich umgekehrt diese politische Befreiung die Angewiesenheit des breiten Volkes auf die illusionären Tröstungen der Religion beseitigt und damit die Religion endgültig absterben läßt. Gewiß: Das sind, in einem Extremfall, intellektuelle Protuberanzen deutschen Aufklärungsradikalismus, dessen ideologische und politische Wirkungsgeschichte hier nicht das Thema ist.36 Auch sei die extreme Wirklichkeitsfremdheit des ReligionsbegrifFs, mit dem die radikale Religionskritik operiert, hier nicht weiter zur Evidenz gebracht und erklärt. Deutlich ist, daß es für diesen intellektuellen Aufklärungsradikalismus mit seinem Programm religionskritischer Bewußtseinspurgierung in den USA gar kein politisch relevantes Publikum hätte geben können und erst recht nicht in der Formation einer großen politischen Partei. In abgeschwächter Weise gilt das auch für das weniger radikale kognitive Aufklärungsprogramm der „bürgerlichen Religionskritiker in Europa"37. Für die deutsche kulturelle Öffentlichkeit war nach 1871 die hier „bürgerlich" genannte Religionskritik in aufklärender Absicht sogar repräsentativer als die radikalisierte Religionskritik der zitierten 32
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Karl Marx, „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung", in: Karl Marx, Die Frühschriften, hg. v. Siegfried Landshut. Stuttgart 1955,207-224, 207. Karl Marx, „Zur Judenfrage", in: a.a.O. (vgl. Anm. 32), 171-207, 202. A.a.O. 198. A.a.O. (vgl. Anm. 32), 208. Vgl. dazu meinen Aufsatz „Politik und Religion nach der Aufklärung", in: Hermann Lübbe, Politik nach der Aufklärung. Philosophische Aufsätze. München 2001, 39-74, 44—52. Vgl. dazu das Kapitel „Weltverbesserung aus ,wissenschaftlicher Weltanschauung'" in meinem Buch Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel, Stuttgart 1963, 127-172.
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marxistischen Prägung, und mit ein paar Strichen sei die Quintessenz des Programms dieser kognitiv radikalen, politisch aber moderaten bürgerlichen Religionskritik skizziert. Es handelte sich darum, die Religion als Hindernis vorbehaltloser kognitiver Rezeption des modernen naturwissenschaftlichen Wissens unwirksam zu machen. Daß die Religion als dieses Hindernis tatsächlich wirksam war und wirksam gehalten wurde, beweisen ja die zitierten Auftritte Stoeckers und Windthorsts in den Debatten des Preußischen Abgeordnetenhauses Ende Februar 1883. Als aufklärungspolitische Antwort auf diese Lage bot es sich an, die wissenschaftliche Aufklärung zum Zweck eines Vereins religiös vollemanzipierter Subjekte zu machen. Die einschlägigen Bestrebungen führten 1906 zur Gründung des Deutschen Monistenbundes. Der deutsche Erz-Darwinist Ernst Haeckel zu Jena fungierte als Ehrenpräsident. Die Bekenntnisäquivalenz seines Wissens von der Welt, in der wir leben, brachte Haeckel sprechend mit der Kennzeichnung „Glaubensbekenntnis eines Naturforschers" zum Ausdruck.38 Auch der sehr erfolgreich gewordene Titel des Spätwerks von David Friedrich Strauß paßt in diese Zusammenhänge: „Der alte und der neue Glaube".39 Der Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald hielt „monistische Sonntagspredigten", in ersatzkirchlicher Absicht konsequenterweise zur Hauptgottesdienstzeit.40 Ernst Haeckel gelang mit seinem Jahrhundertwendenbuch „Die Welträtsel"41 der mit Abstand größte populärwissenschaftliche Erfolg der deutschen Buchgeschichte. Sogar in den kleinen Bibliotheken der Dorfschullehrer fand sich der Titel und wirkte als geistige Waffe im Kampf gegen die geistliche Schulaufsicht. Aufklärungsbereite Museumsbesucher wurden angeleitet, die paläontologisch erschlossenen Relikte unserer naturgeschichtlichen Herkunft als „Schöpfungsurkunden" zu lesen. Eine nachhaltige Wirkung hat diese Bewegtheit, aus der kognitiven Aufklärung ein über Wissenschaftspopularisierung exekutiertes kulturelles Programm zu machen, nicht gehabt, und das Faktum, daß im real existent gewesenen Sozialismus die „wissenschaftliche Weltanschauung" schließlich sogar in Buchgestalt als Ersatzbibel bei der Jugendweihe fungierte42, verstärkt noch den Vergangenheitscharakter der skizzierten Episode unserer Wissenschaftskulturgeschichte. Wieso ist das Programm der kognitiven Aufklärung als Religionskritik gescheitert? Residuale Traditionalisten dieses Aufklärungsprogramms werden finden, es habe sich erledigt, weil es erfolgreich war, und es bietet sich an, die zitierten Äußerungen Ratzingers oder auch des Papstes43 als Dokumente der Kapitulation der Religion nach ihren vergeblichen Versuchen zu lesen, die Fortschritte der wissenschaftlichen Aufklärung aufzuhalten. Aber damit hätte man, was sich aufklärungsgeschichtlich inzwischen ereignet hat, mißverstanden. Die
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Ernst Haeckel, Gemeinverständliche Werke, hg. v. Heinrich Schmidt. Fünfter Band: „Vorträge und Abhandlungen", Leipzig und Berlin 1924, 407-444, 441. David Friedrich Strauß, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis (1872), Leipzig 1923. Wilhelm Ostwald, Monistische Sonntagspredigten, Leipzig 191 lff. Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, 341.-360. Tausend. Leipzig 1918. Vgl. Weltall, Erde, Mensch. Ein Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft, Redaktion: Gisela Buschendorf, Horst Wolfgramm, Irmgard Radant. Leipzig 1954, mit einem Vorwort von Walter Ulbricht. Vgl. Anm. 28 und Anm. 29.
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Lebendigkeit religiöser Kultur in den USA 44 ließe sich ohnehin nicht als Zustand eingestandener Übermächtigung durch Geltungsansprüche wissenschaftlicher Aufklärung verständlich machen. Aber auch auf die aktuelle religionskulturelle Lage in den hochentwickelten Ländern diesseits des Ozeans paßt das nicht. Was sich stattdessen ereignet hat, sieht man im Rückblick auf ein Programm der Aufklärung des religiös besetzten Bewußtseins mit den Mitteln der Wissenschaft, bei dem aus heutiger Perspektive, statt freundlich-aufgeklärte Lichtbringerabsichten, weltfremde Naivität auffallig wird, die sich ihrerseits freilich historisch erklären ließe. Das vorzufuhren wäre nicht von Interesse, wenn es sich um ein beliebiges Dokument vergangener Aufklärungsnaivität handelte. Es stammt aber aus sehr prominenter Feder, nämlich aus der von Rudolf Carnap, der seiner Wissenschaftsphilosophie unverdrossen einen Kampfauftrag zuschrieb, nämlich den des „Kampfes [...] gegen Aberglauben, Theologie, Metaphysik, traditionelle Moral, kapitalistische Ausbeutung der Arbeiter usw.". Und beim „Aberglauben", dem religiösen nämlich, war Carnap sich ganz sicher, worum es sich dabei handelt, nämlich im Kern „um theoretische Fragen", um die „Annahme" zum Beispiel, „daß Gebete und Amulette Hagelschauer oder Eisenbahnunfalle verhüten" könnten. Das eben könne „wissenschaftlich widerlegt werden", schrieb Carnap verblüffenderweise und wies damit der wissenschaftlichen Philosophie entsprechende Aufklärungsaufgaben zu.45 Naiv und weltfremd ist ein so exemplarisch erläutertes Programm wissenschaftlicher Aufklärung, indem es unterstellt, mit der aufklärungspraktischen Auflösung der Gebetspraxis einen Beitrag zur Weltverbesserung leisten zu können. Eben das wäre aber doch nur dann der Fall, wenn der fromme Schrankenwärter oder auch der technisch hochqualifizierte Bremsenspezialist, den man sonntags als Teilnehmer von Gottesdiensten hat beobachten können, annähme, Gebete eigneten sich als Äquivalente für getreue Schrankenbedienung und die Mitwirkung im Kirchenchor als Ersatzdienstleistung für ein überfalliges eisenbahntechnisches Testprogramm. Wäre denn Carnap jemals einem Schrankenwärter oder Professorenkollegen von der Technischen Universität begegnet, auf den diese Beschreibung zutreffen könnte? Was wissen wir also, wenn wir nun vom Professor für wissenschaftstheoretisch basierte Aufklärung uns haben sagen lassen, daß Gebete und Amulette, wissenschaftlich nachweisbar, analog zu Schranken oder Hochleistungsbremsen keinesfalls unfallgefahrmindernd wirken? Wir wissen, daß dem professoralen Aufklärungspropheten die lebenspraktische Rationalität im Wirklichkeitsverhältnis der Beter und Kirchenchorsänger verborgen geblieben sein muß. Die philosophische Idee, das individuelle und kollektive Wirklichkeitsverhältnis der Menschen durch Bindung an Reifezeugnisse kognitiver Aufgeklärtheit, die von Experten für die Methodologie der Begründung theoretischer Aussagen ausgestellt werden, entfaltet ihrerseits Wirkungen sektiererischer Selbstbornierung mit unvermeidlichen Weltfremdheitsfolgen. Im harmlosesten Fall geraten darüber Philosophen in den Geruch der Sonderbarkeit, und im weniger harmlosen Fall sind sie zu ordinierten Lehrern des ideologiepolitisch machthabenden Aufklärungsaberglaubens geworden, daß es gesellschaftsrevolutionär nötig und möglich sei, das individuelle und kollektive Leben auf eine verbindliche 44 45
Vgl. dazu Anm. 14 sowie Anm. 19. Das Carnap-Zitat findet sich bei Rainer Hegselmann, „Otto Neurath - empirischer Aufklärer und Sozialreformer", in: Rainer Hegselmann (Hg.), Otto Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, Frankfurt/M. 1979, 7-78, 60.
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„Gesamtauffassung von Natur, Gesellschaft und Mensch, einschließlich von Regeln für das Verhalten des Menschen in der gesellschaftlichen Praxis" zu gründen46 und daß es Instanzen der Aufklärungsfursorge geben müsse, die eine solche wissenschaftlich begründete „Gesamtauffassung" zu hüten, fortzubilden und zu lehren hätten. Nichts steht entgegen, auch darauf den mit neuem Sinn versetzten vielzitierten Aufklärungssatz von Horkheimer und Adorno anzuwenden, wonach „die vollends aufgeklärte Erde [...] im Zeichen triumphalen Unheils" strahle.47 Aber von vollendeter Aufklärung kann ja, gemäß dem uminterpretierten Sinn des zitierten Satzes, zum Glück gar keine Rede sein. Programme, das politische und kulturelle gesellschaftliche Leben grundlegend neu auf der Basis traditionssouverän gewordener und verbindlich gemachter, wissenschaftlich approbierter Weltanschauungen zu errichten, sind ausnahmslos gescheitert oder sind nur noch relikthaft als Petrefakte emanzipatorischer gesellschaftsrevolutionärer Praxis auf Cuba oder in Nordkorea zu besichtigen. Weltpolitisch machtvoll stellt sich hingegen das System der halbierten, nämlich politisch begrenzten Aufklärung dar, und seine expansive Stärke verdankt es nicht zuletzt der zivilreligiösen Zustimmung der Angehörigen von Kommunitäten, die sich des uneingeschränkt gewährleisteten Rechts erfreuen, sich in ihrer Lebenspraxis religiös oder sonstwie aufklärungsdesinteressiert zu orientieren. Gewiß: Das begünstigt auch die erwähnten „Creationisten"48, und ihre kulturpolitischen Aktivitäten in der Absicht, den biblischen Schöpfungsbericht im Biologieunterricht öffentlicher Schulen als Äquivalent für die Evolutionstheorie anerkennungsfahig zu machen, veranlaßte sogar Nobelpreisträger zu Warnungen vor destruktiven Wirkungen, die das für die Voraussetzungen einer produktiven nationalen Wissenschaftskultur haben könnte. Nichtsdestoweniger zeigt sich, daß mit dem Grad der Modernität moderner Gesellschaften überall die alten Aufklärungskonflikte aus vermeintlicher kognitiver Inkompatibilität von „wissenschaftlichen Weltauffassungen" einerseits und religiösen Orientierungen andererseits kulturell marginalisiert werden oder überhaupt erlöschen. Und noch einmal ist zu sagen, daß diese neue Lage manifester Gegenstandslosigkeit von Programmen weltanschaulicher Aufklärung mit den Mitteln der Wissenschaft nicht allein Rückzügen der Religionsgemeinschaften von alten Aufklärungsfronten zuzuschreiben ist. Faktoriell wichtiger sind Wandlungen in der kulturellen Präsenz der Wissenschaften selbst, und näherhin handelt es sich dabei um Wandlungen, die aus der Erfolgsdynamik der Wissenschaften resultieren. In ihrer wissenschaftskulturellen Quintessenz besagen diese Wandlungen: Die kognitiven Gehalte modernen wissenschaftlichen Wissens sind ihrer fortschreitenden Lebensweltferne wegen überwiegend glaubensindifferent und damit bekenntnisunfähig geworden. Bücher, die religiöse Orientierungen einerseits und popularisiertes wissenschaftliches Wissen andererseits unter dem Titel „Der alte und der neue Glaube"49 veröffentlichten, würden heute anachronistisch wirken. Je mehr die Wissenschaften sich in die Dimensionen des sehr Großen, des sehr Kleinen und des sehr Komplizierten hineinarbeiten, umso weniger lassen sie 46
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So in den Erläuterungen des Artikels „Weltanschauung" in: Philosophisches Wörterbuch, hg. v.Georg Klaus und Manfred Buhr, neu bearb. und erw. Aufl. Band 2. Leipzig 1974, 1287-1289. Max Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufldärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988, 9. Vgl. Anm. 27. Vgl. Anm. 39.
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sich in lebenspraktisch relevanter Weise auf lebensweltliches Wissen zurückbeziehen, und eben das ist der Grund der außerordentlichen Karriere, die der Begriff der Lebenswelt philosophiegeschichtlich inzwischen hinter sich hat50 und mit ihm bis in die Sozialwissenschaften hinein die Analysen zur sozial gestützten Konstitution unserer Lebenswelten, die in unserer individuellen Lebenspraxis stets schon geleistet sein muß, bevor wir wissenschaftsfahig werden.51 Es wäre sinnwidrig zu sagen, daß lebensweltliche Orientierungen durch „wissenschaftliche Weltauffassungen" aufklärungspraktisch emendiert oder gar abgelöst würden, und auch für konstitutive religiöse Implikationen lebensweltlicher Orientierungen gilt das. Exemplarisch heißt das: Der Schöpfungsglaube, über den sich Menschen religiös zur diskursiv zustimmungsunabhängigen Vorgegebenheit der Welt und unseres Daseins in ihr in eine rationale, nämlich die lebenspraktische Anerkennungsbedürftigkeit dieser zustimmungsunabhängigen Vorgegebenheiten zur Evidenz bringenden Beziehung setzen52, bleibt von der Differenz vorkommender Angaben über das Alter des Kosmos unberührt - handle es sich nun um die nach den Geschlechterkatalogen des Alten Testaments berechneten biblischen knappen sechstausend Jahre oder um die etwa um das Dreimillionenfache der biblischen Zeitangaben höher liegenden Abschätzungen der modernen Kosmologie. Wer das verstanden hat, versteht damit zugleich die Lächerlichkeit der Unternehmung, in Absichten kognitiver Aufklärung zur Durchsetzung einer „wissenschaftlichen WeltaufFassung" die kosmologischen Milliardenzahlen gegen die dürftigen mythischen Tausender der Bibel aufzubieten. Die gänzlich störungsfreie Divergenz der sozialen Örter wird sichtbar, an denen einerseits, nämlich in den Einrichtungen der Wissenschaft, jene Milliardenzahlen genannt, fortgeschrieben oder auch etwas zurückgenommen werden, und andererseits, nämlich in Kirchen oder Synagogen, Adams Nachfahren über einige Generationen hinweg rituell deklamiert werden. Sogar ein und derselben Person ist beides in unterschiedlichen Lebenslagen möglich, und gleichfalls ist es möglich, daß Creationisten die Kosmologen für Teufelsdiener halten oder daß umgekehrt einige Kosmologen den Zeiten nachtrauern, in denen die richtige wissenschaftliche Weltauffassung gemäß vermeintlich praktischen Konsequenzen vollendeter kognitiver Aufklärung bis in die Jugendweihe hinein mit einem sanktionierten politischen Geltungsprivileg ausgestattet war. In der modernen Welt mit ihren funktionsfähigen Institutionen politischer Aufklärung, die sich, wie geschildert, nicht zuletzt den Interessen der kognitiv Aufklärungsdesinteressierten verdankt, kann sich somit unbeschadet der Aufklärungswirkungen tätiger theoretischer Neugier im Kontext moderner Wissenschaftspraxis religiöse Kultur erhalten, sogar aus Gründen, die hier nicht das Thema sind, neu verlebendigen und fortentwickeln. Auch fundamentalistisch radikalisiertes Bekennertum gewinnt Auffälligkeit, und es wäre ein Mißverständnis zu finden, hierbei handle es sich um ein Phänomen kultureller Vormodernität, das sich unter den Wirkungen fortschreitender wissenschaftlicher Aufklärung schließlich auflö50
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Vgl. dazu als einen exemplarischen älteren Titel Gerd Brand, Die Lebenswelt. Eine Philosophie des konkreten Apriori, Berlin 1971. Vgl. dazu das Kapitel „Theoretische Einstellung" bei Alfred Schütz, Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Band 2. Frankfurt/M. 1984, 176ff. Vgl. dazu Trutz Rendtorff", „Religion ,nach' der Aufklärung. Argumentationen fiir eine Neubestimmung des Religionsbegriffs", in: Religion als Problem der Aufklärung. Eine Bilanz aus der religionstheoretischen Forschung, hg. v.Trutz Rendtorff. Göttingen 1980, 185-201, 192.
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sen werde. Eine solche Gesetzmäßigkeit kultureller Evolution gibt es nicht und auch die religionskulturellen Gegebenheiten im so genannten Westen blieben unverstanden, wenn man sie mit Hilfe dieser vermeintlichen Gesetzmäßigkeit zu interpretieren versuchte. Für die tatsächlichen Gegebenheiten schärft man den Sinn im Blick auf das Sektenwesen. Nicht, daß die Menschen, die sich von den Groß- und Hochkirchen abgewendet haben, sich ausnahmslos in der Welt der Sekten wiederfanden. In seinen quantitativen Dimensionen ist das religiöse Leben in den kleinen Glaubensgemeinschaften gesamthaft eher marginal geblieben. Aber in seiner Bekenntnisfreudigkeit ist es markant und signifikant. Die inzwischen auf allen Kontinenten präsenten Zeugen Jehovas, gewiß, sind, soziologisch beschrieben, eher im oberen Teil des Gesellschaftsmilieus unterhalb der Mittelklassen erfolgreich. Aber als Vermittler der Kommunikation mit den Engeln zum Beispiel betätigen sich heute auch Intellektuelle und Wissenschaftler ersten Ranges. Geschätzte Professoren alt-europäischer Universitäten treten als Neo-Buddhisten hervor. Auch die Konversion zum Islam ist erwiesenermaßen mit modernen Bildungswelten uneingeschränkt kompatibel. Analoges gilt für alle Klein-Religionen, deren Gemeinschaften sich über Effekte psychischer Stabilisierung empfehlen. Die Scientologists sind nicht zuletzt in wirtschaftsnahen Kreisen erfolgreich, und die neuen Formen der traditionsreichen, nämlich aus den Zeitaltern der Aufklärung und der Romantik stammenden Zuwendung zu den religiösen Kulturen Süd- und Ostasiens breiten sich im Jugend-Milieu aus. Entsprechend haben diese neuen religiösen Kulturen mit ihren scharf geschnittenen, eben sektiererischen Bekenntnis- und Riten-Profilen auch die Aufmerksamkeit der Politik, ja der Regierungen gefunden. Die Parlamente haben zu Beobachtungszwecken Enquete-Kommissionen gebildet und erwägen Gesetze zum Schutz gegen psychische und soziale Schädigungen durch sektiererisch verengte Lebensorientierungen. Die Groß-Kirchen haben Sektenbeauftragte in Tätigkeit gesetzt, und komplementär dazu rufen, wie schon erwähnt53, vor allem niederländische und US-amerikanische Stellen, die über eine größere Erfahrung mit den Realitäten des Bekenntnispluralismus verfugen, zur Gelassenheit im Umgang mit den neuen Glaubensradikalismen auf. Noch einmal: In ihren quantitativen Dimensionen sind diese neuen Formen sektiererischbekenntnisfreudiger Religiosität keineswegs kulturrevolutionierend. Aber schaut man aus ihrer Perspektive auf die Groß-Kirchen, so wird erkennbar, daß sich auch innerhalb dieser die Pluralität des religiösen Lebens mehrt - mehr Randkirchenzugehörigkeit einerseits und, komplementär dazu, neue Bekenntnisfreudigkeit andererseits. Es gibt Engelwerke, nämlich katholisch, oder auch, evangelisch, Evangelikaie, denen die Kirchentage allzu bekenntnisunscharf geworden sind. Das Opus Dei hat Papstunmittelbarkeit erlangt und sein Gründer gelangt zur Ehre der Altäre. Reverend Reeves ruft in den USA die vier größten protestantischen Denominationen dazu auf, über ihre lobenswerten sozialen Aktivitäten hinaus endlich auch wieder Bekenntnisfreude zu zeigen. Stätten von Marienerscheinungen, die ja nicht ein religionskulturevolutionäres Relikt, vielmehr ein Phänomen moderner religiöser Kultur sind, lösen Massenwallfahrten aus. Im katholischen Brasilien gewinnen Sekten protestantisch geprägter Glaubenstradition Attraktion im lebensfuhrungspraktisch sich disziplinierenden Aufsteigermilieu. „Pluralisierung" ist eine geläufige und zutreffende Kennzeichnung der damit anskizzierten Tendenzen. Aber im religiösen Lebenszusammenhang bedeutet eben Pluralisierung 53
Vgl. dazu Anm. 18.
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abgrenzende Unterscheidung von jeweils anderen - nach Lebensform und Moral, nach Frömmigkeitsriten und in letzter Instanz nach Bekenntnisprofilen. In der Zusammenfassung heißt das: Modernitätsspezifisch nimmt kulturell die Fülle unterscheidbarer bekenntnisförmiger Orientierungen, die man nicht zur Disposition von Diskursen gestellt wissen möchte, zu und nicht etwa ab, wie transzendentalorientierte Konsensromantiker kulturevolutionstheoretisch vermuten wollten.
FRIEDO RICKEN
Erfahrung, Interpretation, Zustimmung Zur Rationalität des religiösen Glaubens
1. Zwei Voraussetzungen Eine Epistemologie des religiösen Glaubens, so könnte man verlangen, muß beginnen mit einer Erläuterung des Terminus ,Religion'. Dieser Erwartung kann ich nur durch eine undifferenzierte negative Bestimmung entsprechen: Religion ist nicht Metaphysik. Der Unterschied wird deutlich, wenn wir den Preis auf das selige Leben des Unbewegten Bewegers im zwölften Buch der Aristotelischen Metaphysik (XII 7,1072bl4—30) vergleichen mit dem Gebet um Vergebung, Erbarmen und Heil im 51. Psalm. Cicero wendet sich gegen den deistischen Gottesbegriff Epikurs; fur ihn gehören Kult, Ehrerbietung und Gebet (cultus, honores, preces) zum Wesen der Religion (De nat. deorum I 3), und Augustinus unterscheidet zwischen den Fragen, was Gott an sich und was Gott für ihn und er für Gott ist (Conf. I 4,4; 5,5). „Die metaphysischen Gottesbeweise" sind nach Pascal „so abseits vom Denken der Menschen und so verwickelt, daß sie wenig betroffen machen [...]. Während jene, die Gott durch den Mittler erkannt haben, ihr Elend erkennen" (Pensées, Frg. 543 Br/190 La). Schleiermachers Zweite Rede will die Religion von den Schlacken der Metaphysik und Moral befreien. Eine zweite Voraussetzung muß ausdrücklich genannt werden. „Jeder", so formuliert Aristoteles sie am Anfang der Nikomachischen Ethik, „beurteilt das richtig, was er kennt [...] Darum ist ein junger Mensch kein geeigneter Hörer für die politische Wissenschaft. Denn er ist unerfahren in der Praxis des Lebens; die Untersuchung geht aber von dieser aus und behandelt diese" (I 1, 1094b27-1095a4). Was hier von der Moralphilosophie gesagt ist, gilt in weitaus höherem Maß von der Religionsphilosophie. Sie ist Reflexion auf eine Lebensform und als solche nur dem möglich, der mit ihr vertraut ist. Religionsphilosophie ist nur aus der Innenperspektive möglich, und diese kann immer nur die Innenperspektive einer bestimmten geschichtlichen Form der Religion sein. Damit wird ein religiöser Synkretismus als Lebensform nicht ausgeschlossen; wogegen diese Voraussetzung sich wendet, ist ein Philosophieren über die Religion als solche, denn damit würde eine leere Abstraktion an die Stelle des zu reflektierenden Phänomens gesetzt. Die folgenden Überlegungen fragen daher ausschließlich nach den epistemischen Grundlagen des jüdischchristlichen Glaubens.
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2. Der besondere Charakter der religiösen Epistemologie Die religionsphilosophische epistemologische Reflexion verfolgt nicht zuletzt apologetische Zwecke. Der religiöse Glaube, so lautet der Einwand, entspricht nicht den Rationalitätsstandards, die wir auf anderen Gebieten anlegen. Eine Antwort darauf ist, den religiösen Glauben mit Hilfe einer allgemein anerkannten Erkenntnisform zu deuten. „Genau dieselben Kriterien", so schreibt Richard Swinburne, „welche die Naturwissenschaftler benutzen, um zu ihren eigenen Theorien zu kommen, bringen uns dazu, über diese Theorien hinaus zu einem Gott zu gehen, der alles im Dasein erhält" (Swinburne 1996, 2). Der Glaube an Gott beruht nach Swinburne auf einer zweifachen Grundlage: auf der religiösen Erfahrung und auf einer kosmologischen Hypothese. Dabei hängt die Gültigkeit der Erfahrung ab vom Grad der Wahrscheinlichkeit der Hypothese. Der Akt des religiösen Glaubens ist eine bedingte Zustimmung; wenn mit anderen Gründen gezeigt wird, daß die Wahrscheinlichkeit der theistischen Hypothese sehr gering ist, kann die religiöse Erfahrung keinen Anspruch auf Gültigkeit mehr erheben (vgl. Swinburne 1991, 291). William P. Aiston entwickelt in Perceiving God (1991) eine differenzierte Theorie der alltäglichen Wahrnehmungsurteile und überträgt sie auf die religiöse Erfahrung. Er versucht auf diese Weise zu zeigen, daß die mystische der alltäglichen Wahrnehmung in ihrem epistemischen Wert in keiner Weise nachsteht. In einer Interpretation des Calvinischen Sensus divinitatis wendet Alvin Plantinga (2000) seine Theorie des Warrant auf den theistischen Glauben an: Eine Meinung wird dadurch zum Wissen, daß sie von einem richtig funktionierenden Erkenntnisvermögen hervorgebracht worden ist; der Mensch habe ein Vermögen eigens für die Gotteserkenntnis: den Sensus divinitatis, der die Wahrheit des Glaubens an Gott garantiere. In einer späteren Arbeit (1999) hat Aiston derartige Versuche der Parallelisierung als zu einseitig kritisiert und die Unterschiede der Epistemologie des religiösen Glaubens gegenüber anderen Gebieten der Erkenntnistheorie herausgearbeitet. In anderen Bereichen könne die Reflexion von allgemein geteilten Überzeugungen ausgehen. Wir sind überzeugt, daß unsere unter normalen Umständen gebildeten Wahrnehmungsurteile zuverlässig sind; viele Naturwissenschaften orientieren sich an einem gemeinsamen Paradigma. Auf die religiösen Überzeugungen trifft das nicht zu. Hier gibt es keine Menge von Urteilen, von denen allgemein angenommen wird, sie seien zuverlässig gebildet und entsprächen den epistemischen Anforderungen. „Eine bedeutende Zahl von Menschen lehnen alle religiösen Überzeugungen ab, und unter denen, die das nicht tun, gibt es eine breite Vielfalt, in der religiöse Überzeugungen angenommen werden. Zudem fühlen sich auch Gläubige oft nicht vollkommen sicher in dem, was sie glauben" (Aiston 1999, 238). Eine Epistemologie des religiösen Glaubens müsse die unterschiedliche epistemische Situation der Individuen berücksichtigen. Ein überzeugter Christ hat Grundlagen für seinen Glauben, welche dem Nichtgläubigen unzugänglich sind; die Glaubensbegründung wird entsprechend der Konfession oder theologischen Richtung verschieden sein. Für den, der meint, eine religiöse Erfahrung gemacht zu haben, stellen sich andere epistemologische Fragen als für den, der das nicht annimmt. Die Reflexion auf den Glauben hat beim überzeugt Glaubenden eine andere Funktion als beim Zweifelnden. „Bei Wahrnehmungs- und anderen Common senseÜberzeugungen gibt es keinen wirklichen Zweifel, keinen Mangel an Vertrauen, daß die Dinge so sind, wie man annimmt. Auch unterscheiden die Menschen sich nicht beträchtlich in den Gründen für ihre Überzeugung" (Aiston 1999, 244).
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Die aus anderen Bereichen der Erkenntnis übernommenen Modelle, so das negative Ergebnis, werden der Eigenart der religiösen Überzeugung nicht gerecht. Bedeutet das, daß der religiöse Glaube keinen Anspruch auf Rationalität erheben kann? Oder läßt sich zeigen, daß wir es hier zwar mit einer spezifischen, von anderen unterschiedenen, aber dennoch berechtigten Form der Urteilsbildung zu tun haben? Ist der religiöse, genauer der christliche Glaube, wenn auch in einem spezifischen Sinn, vernünftig? Ich beginne, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, mit einer Auflistung von Gesichtspunkten (vgl. Aiston 1999, 240 f.), die hier zu berücksichtigen sind. (1) Die Schriften des Alten und des Neuen Testaments. Sie sind eine oder die einzige letzte Instanz, auf die jede Begründung innerhalb des christlichen Glaubens zurückgreifen muß. (2) Die Tradition. Sie interpretiert die Schrift, und sie formuliert aufgrund der Schrift verbindliche Glaubenssätze. (3) Die religiöse Erfahrung. Beispiele sind die Berichte der Mystikerinnen und Mystiker und die anderen vielfältigen Formen der religiösen Erfahrung, wie sie etwa William James in den Varieties ofReligious Experience (1902) beschreibt. (4) Die Ergebnisse der historischen Forschung. Das Christentum behauptet, daß Jesus von Nazareth eine historische Person ist; die historische Forschung darf zumindest diese Möglichkeit nicht ausschließen. (5) Die natürliche oder philosophische Theologie. Das mindeste, was sie leisten muß, ist der Aufweis, daß der in Schrift und Tradition implizierte Gottesbegriff nicht in sich widersprüchlich ist.
3. Notwendige Bedingungen der Rationalität Die erste, elementare Forderung der Rationalität besteht in der internen Widerspruchsfreiheit dieser Daten. Die Aussagen der Schrift dürfen einander nicht widersprechen; die Tradition muß bei der Auslegung der Schrift gültigen hermeneutischen Regeln folgen; die religiösen Erfahrungen müssen sich in den von Schrift und Tradition vorgezeichneten Rahmen einfügen. Die Glaubensüberzeugung des einzelnen wird durch die genannten Gesichtspunkte gerechtfertigt. Das bedeutet nicht, daß er auf alle zurückgreifen muß. Er oder sie kann seinen oder ihren persönlichen Glauben etwa ausschließlich aus bestimmten Stellen der Schrift begründen. Was dagegen verlangt wird, ist, daß diese Überzeugung sich ohne Widerspruch in das Ganze des Glaubens einfügt. Eine zweite Forderung ist die externe Widerspruchsfreiheit, d. h. die Vereinbarkeit des Ganzen der fides quae mit unserem sonstigen Wissen. Es war bereits die Rede davon, daß die im System des Glaubens vorausgesetzten historischen Tatsachen den Ergebnissen der historischen Forschung nicht widersprechen dürfen. Schwieriger ist die Frage der Vereinbarkeit zwischen Glauben und Naturwissenschaft. Sie ist ohne Philosophie nicht zu lösen; zu reflektieren wäre etwa auf den Charakter und den Geltungsbereich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Es handelt sich aber nicht um eine Frage, die ausschließlich den religiösen Glauben betrifft, sondern sie begegnet uns bereits als das Problem, wie sittliches Bewußtsein und Naturwissenschaft vereinbar sind.
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Ein religiöser Glaube ist, mit einer Formulierung von Basil Mitchell, „ein Glaube, durch den wir leben" (,„a faith to live by'"); er ist ein umfassender und praktischer Sinnentwurf des menschlichen Daseins (Mitchell 1980, 138), und dazu reicht die bloße Widerspruchsfreiheit nicht aus. Das widerspruchsfreie System braucht, um das leisten zu können, einen Bezug zur Wirklichkeit. Die natürliche Theologie kann ihn nicht herstellen. Selbst wenn sie die Existenz Gottes überzeugend aufweisen könnte, so bliebe doch eine Kluft zwischen ihrem Gottesbegriff und der biblischen Botschaft, denn diese Botschaft läßt sich mit den Mitteln der natürlichen Theologie nicht beweisen. Die Charakterisierung der Bibel als offenbart oder inspiriert ist eine theologische, also nur aus dem System begründbare Aussage; historische Beweise sind hier nicht möglich. Wie ist ein Wirklichkeitsbezug des in sich widerspruchsfreien Systems der fides quae möglich?
4. Wechselseitige Interpretation Wir müssen von einem Ganzen ausgehen, das als Ganzes nicht mehr in einem deduktiven Sinn begründet werden kann. Peter Winch zieht einen erhellenden Vergleich zwischen einem religiösen Glauben und einer wissenschaftlichen Untersuchung: „which, to be sure, seeks explanations but is not itself to be explained" (Winch 1993,112). Der religiöse Glaube sucht nach Erklärungen, aber er ist nicht selbst Gegenstand der Erklärung; seine Vernünftigkeit besteht in seiner Kraft zu erklären; danach wird er, wie das Ganze einer Wissenschaft, beurteilt; er kann dem Leben dadurch Sinn geben, daß er es deutet. Wie aber können wir uns dieser sinngebenden Kraft vergewissern? Es bedarf eines wechselseitigen Prozesses der Interpretation: die Schrift muß durch das Leben und das Leben durch die Schrift gedeutet werden. „Das Christentum", so beschreibt Wittgenstein diesen wechselseitigen Prozeß, „ist keine Lehre, ich meine, keine Theorie darüber, was mit der Seele des Menschen geschehen ist und geschehen wird, sondern eine Beschreibung eines tatsächlichen Vorgangs im Leben des Menschen. Denn die .Erkenntnis der Sünde' ist ein tatsächlicher Vorgang, und die Verzweiflung desgleichen und die Erlösung durch den Glauben desgleichen" (Werkausgabe Bd.8, 488). Wir haben die Schrift verstanden, wenn wir wissen, von welchen tatsächlichen Vorgängen im Leben des Menschen sie handelt, und wir verstehen diese tatsächlichen Vorgänge, wenn wir sie im Licht der Schrift sehen; sie erhalten in dieser Sicht eine neue Dimension. Um bei Wittgensteins Beispielen zu bleiben: Die Erkenntnis der Sünde erhält ihren Sinn durch die Erlösung, und die Botschaft von der Erlösung bleibt ein leeres Wort ohne die Erkenntnis der Sünde. Die sinngebende Kraft des biblischen Textes kann erst im Prozeß dieser wechselseitigen Interpretation erfahren werden, aber dazu muß man sich zunächst auf diesen Prozeß einlassen, und wir müssen fragen, was uns dazu bewegen kann. Voraussetzung einer jeden Interpretation ist ein positives Vorurteil; Gadamer nennt es „den , Vorgriff der Vollkommenheit'" (Gadamer 1965, 277 f.), und die analytische Philosophie spricht vom Principle of Charity. Von einem Text einen umfassenden Sinnentwurf zu erwarten und davon auszugehen, nur das Leben könne lehren, diesen Text zu verstehen, erfordert einen außerordentlich starken Vorgriff der Vollkommenheit; es bedeutet, dem Text vorgängig zum eigenen Verstehen höchste Autorität zuzubilligen. Wenn wir mit der augustinischen Formel credo ut intelligam zwischen Glauben und Verstehen unterscheiden, dann ist der starke Vorgriff der Vollkom-
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menheit der Akt des Glaubens, der Voraussetzung des Verstehens ist. Die Theologie fordert und rechtfertigt diesen Vorgriff, indem sie von Offenbarung und Inspiration spricht, aber das ist lediglich eine interne Begründung der Autorität. Eine externe Begründung müßte auf die Begriffe Tradition, Lebensform und Gemeinschaft zurückgreifen. Die Interpretation beginnt nicht mit dem Individuum; sie hat eine lange Geschichte in der Glaubensgemeinschaft. Die Tradition berichtet von den Erfahrungen, welche die Gemeinschaft in ihrer Geschichte mit diesem Text gemacht hat und wie die vom Text vorgegebene Lebensform sich bewährt hat, und die Gemeinschaft leitet den einzelnen, nicht zuletzt in der religiösen Erziehung, an, diese Erfahrungen zu machen.
5. Zum Begriff der Erfahrung Diese grobe Skizze bedarf einer vielfaltigen Differenzierung. Ich beginne mit dem Begriff der Erfahrung. Als Rahmen bieten sich folgende Unterscheidungen an: Wir können den Gesichtspunkt der Zeit berücksichtigen oder von ihm abstrahieren. (1) Beispiele für den ersten Gebrauch sind die Rede von einer Erfahrung, die wir gemacht haben, oder von Lebenserfahrung. Es handelt sich um ein Wissen (im weiten Sinn), das wir im Lauf der Zeit erworben haben; wir machen positive, ermutigende oder negative, schmerzliche, enttäuschende Erfahrungen, oder wir machen einfach die Erfahrung, wie man bestimmte Situationen meistert. (2) Für den anderen Begriff der Erfahrung gebraucht Aristoteles das Wort pathos. Es bezeichnet einen Eindruck oder eine Empfindung, den ein seelisches Vermögen erleidet. (2a) Handelt es sich um das Wahrnehmungsvermögen, so sprechen wir von Wahrnehmung; (2b) einen Eindruck auf das Strebe- oder Begehrungsvermögen bezeichnen wir als Affekt oder Emotion. Swinburne definiert die religiöse Erfahrung (experience) als eine Erfahrung, „die dem Subjekt eine Erfahrung von Gott (entweder nur daß er da ist oder daß er etwas tut oder hervorbringt) oder eines anderen übernatürlichen Gegenstands zu sein scheint (epistemisch)" (Swinburne 1991, 246). Dieser Begriff orientiert sich am Vorbild der Sinneswahrnehmung (2a); Gott ist ein Gegenstand, der wahrgenommen wird. Nach Aiston ist in der unmittelbaren religiösen Erfahrung oder „mystischen Wahrnehmung" (mystical perception) Gott in derselben Weise gegeben, wie die Gegenstände unserer Umgebung unserem Bewußtsein in der Sinneswahrnehmung gegenwärtig oder gegeben sind. ,,[M]ystical experience can be construed as perception in the same generic sense of the term as sense perception" (Aiston 1991, 66). Die Möglichkeit solcher Erfahrungen und ihre Bedeutung für den religiösen Glauben soll hier nicht bestritten werden; aber ich behaupte, daß sie, sei es daß eine Person sie selbst gemacht hat oder sei es daß sie dem Zeugnis anderer glaubt, keine notwendige Bedingung für die Rechtmäßigkeit einer religiösen Überzeugung sind. Nach Wittgenstein sind nicht diese, sondern Erfahrungen im Sinne von (1) und (2b) notwendige Bedingungen, um einen Menschen von der Existenz Gottes zu überzeugen, und sie zeigen nicht lediglich deren Wahrscheinlichkeit, sondern sie zwingen uns zum Glauben. „Das Leben kann zum Glauben an Gott erziehen. Und es sind auch Erfahrungen, die dies tun; aber nicht Visionen, oder sonstige Sinneserfahrungen [...], sondern z. B. Leiden verschiedener Art. Und sie zeigen uns Gott nicht wie ein Sinneseindruck seinen Gegenstand, noch lassen sie uns ihn vermuten. Erfahrungen, Gedanken, - das Leben kann uns diesen
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Begriff aufzwingen" (Werkausgabe Bd.8, 571). Der Glaube an die Botschaft der Bibel ist nur als Resultat eines Lebens möglich. „Das Christentum gründet sich nicht auf eine historische Wahrheit, sondern es gibt uns eine (historische) Nachricht und sagt: jetzt glaube! Aber nicht, glaube diese Nachricht mit dem Glauben, der zu einer geschichtlichen Nachricht gehört, - sondern: glaube, durch dick und dünn und das kannst Du nur als Resultat eines Lebens". Die historische Nachricht will den Menschen etwas sehen lassen, und nur das Leben kann ihm die Erfahrungen vermitteln, die ihn dazu befähigen. Wittgenstein spricht deshalb von Stufen des Verstehens. Nicht alle Wahrheiten der historischen Religion können von jedem Glaubenden eingesehen werden. „Für den jetzt auf der niedrigem Stufe Stehenden ist diese Lehre, die auf der höheren Bedeutung hat, null und nichtig; sie kann nur falsch verstanden werden, und dabei gelten diese Worte für diesen Menschen nicht". Wittgenstein bringt persönliche Beispiele. Die Lehre von der Gnadenwahl bei Paulus sei auf seiner Stufe Irreligiosität (ebd., 494); er könne Jesus nicht „Herr" nennen (vgl. 1 Kor 12,3), weil „ich nicht glaube, daß er kommen wird, mich zu richten; weil mir das nichts sagt. Und das könnte mir nur etwas sagen, wenn ich ganz anders lebte". Dagegen neige ihn etwas „zu dem Glauben an die Auferstehung Christi hin" (ebd. 495). Religiöser Glaube, und damit fuhren Wittgensteins Reflexionen zu Pascal, setzt die Erfahrung des menschlichen Elends voraus: „Menschen sind in dem Maß religiös, als sie sich nicht so sehr unvollkommen, als krank glauben. Jeder halbwegs anständige Mensch glaubt sich höchst unvollkommen, aber der religiöse glaubt sich elend' (ebd., 513). Die Wahrheit der christlichen Religion zeigt sich nach Pascal daran, daß sie das Elend und die Widersprüchlichkeit des Menschen kennt, deutet und ihm Erlösung verheißt. Ein Entwurf für die Gliederung der Pensées lautet: „Erster Teil. Daß unsere Natur verderbt ist, an Hand der Natur selbst. Zweiter Teil: Daß es einen Heiland [réparateur] gibt, an Hand der Schrift" (Frg. 60 Br/6 La)."Wenn eine Religion wahr sein soll, muß sie unsere Natur kennen. Sie muß die Größe und die Kleinheit und den Grund von beiden erkannt haben. Wer hat ihn außer der christlichen erkannt?" (Frg. 433 Br/215 La). „Das Elend zeugt die Verzweiflung, der Dünkel zeugt die Hoffart. Die Menschwerdung zeigt dem Menschen die Größe seines Elends durch die Größe des Heilmittels, die notwendig war" (Frg. 543 Br/190 La). „Die wahre Natur des Menschen, sein wahres Heil, die wahre Tugend und die wahre Religion; das sind Dinge, deren Kenntnis untrennbar ist" (Frg. 442 Br/393 La). Auf dieselbe Erfahrung verweist John Henry Newman: Die „breite und tiefe Grundlage" der Religion ist „das Bewußtsein der Sünde und Schuld, und ohne dieses Bewußtsein gibt es für den Menschen, wie er ist, keine echte Religion. Andernfalls ist sie nur eine Fälschung und hohl; und das ist der Grund, weshalb die sogenannte Religion der Zivilisation und Philosophie eine so große Farce ist" (Newman 1985, 258 (400)). Noch deutlicher als Wittgenstein betont Newman, daß der religiöse Glaube von der je eigenen Lebenserfahrung abhängt. Allgemeine Gründe bleiben so lange abstrakt und leer, als sie nicht durch persönliche Erfahrungen auch emotional angeeignet sind, und in diesem Sinn können Gründe für den Glauben immer nur persönliche Gründe sein. Der Glaube ist begründet, aber die intersubjektive Rechtfertigung stößt an Grenzen. Wenn es um Gründe für die Religion geht, so heißt es in der Grammar of Assent, dann „ist Egotismus echte Bescheidenheit. Beim religiösen Suchen kann jeder von uns nur für sich selbst sprechen, und für sich selber hat er ein Recht zu sprechen. Seine eigenen Erfahrungen sind genug für ihn
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selbst, aber er kann nicht für andere sprechen: er kann nicht das Gesetz aufstellen; er kann nur seine eigenen Erfahrungen zu dem gemeinsamen Bestand psychologischer Tatsachen hinzubringen. Er weiß, was ihn selbst befriedigt hat und befriedigt; wenn es ihn befriedigt, wird es wahrscheinlich auch andere befriedigen; wenn es, wie er glaubt und sicher ist, wahr ist, wird es sich auch bei anderen Geltung verschaffen, denn es gibt nur eine Wahrheit" (Newman 1985, 248 (384 f.)).
6. Der , Vorgriff der Vollkommenheit' Newman würde Wittgenstein zustimmen, daß der Glaube nur „als Resultat eines Lebens" möglich ist. Das setzt jedoch, wie wir sahen, voraus, sich mit einem starken „, Vorgriff der Vollkommenheit'" zunächst einmal auf die Glaubensbotschaft einzulassen. Dieser in der fides quaerens intellectum implizierte Vorgriff der Vollkommenheit ist mehr als eine für die Hermeneutik eines Textes notwendige methodische Voraussetzung; er ist nicht nur ein Vorgriff der Vollkommenheit für den Text, sondern auch ein Vorgriff der Vollkommenheit für unser Leben. Wir gehen davon aus, daß unser Leben als Ganzes sinnvoll ist und daß es eine Deutung gibt, die uns den Sinn des Ganzen zeigt; wir gehen davon aus, daß unser Leben als Ganzes gelingen wird und daß der Text uns den Weg dorthin zeigt. Aber wodurch ist dieser Vorgriff der Vollkommenheit für unser Leben gerechtfertigt? Die Antwort lautet: durch eine Erfahrung. Im ersten Artikel der Quaestio über die Existenz Gottes fragt Thomas von Aquin, ob es an sich bekannt sei, daß Gott sei („Utrum Deum esse sit per se notum"). Er lehnt das ontologische Argument ab, gesteht aber zu, daß wir von Natur aus eine konfuse Gotteserkenntnis haben, insofern „Gott das Glück des Menschen ist: der Mensch ersehnt nämlich von Natur aus das Glück, und was von Natur aus vom Menschen ersehnt wird, wird von Natur aus von ihm erkannt" (S. th. I q.2 a.l ad 1). Thomas spricht von einer emotionalen Erfahrung, also einer Erfahrung der Art (2b), die ein Vorgriff der Vollkommenheit ist. Die Sehnsucht nach dem Glück impliziert die konfuse Erkenntnis Gottes und damit den Vorgriff auf ihre Erfüllung, denn Gott ist Gegenstand der Sehnsucht und nach der teleologischen Sicht des Thomas Garant dafür, daß sie ihr Ziel erreicht: „naturale desiderium nihil est aliud quam inclinatio inhaerens rebus ex ordinatione primi moventis, quae non potest frustrari" (In I Ethic.lect.2 nr.21). Von einer anderen Erfahrung, die wir als Vorgriff der Vollkommenheit aus einer anderen Perspektive deuten dürfen, spricht Wittgenstein in seiner Lecture ort Ethics: „I will mention another experience straight away which I also know and which others of you might be acquainted with: it is, what one might call, the experience of feeling absolutely safe. I mean the state of mind in which one is inclined to say ,1 am safe, nothing can injure me whatever happens'" (Wittgenstein 1965, 8). Die Vollkommenheit, die hier emotional erfahren wird, ist die absolute Geborgenheit; wir können zum Vergleich etwa Psalm 91 oder Rom 8,31-39 heranziehen.
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7. Analogie der Erfahrung Aber wie verhält der so beschriebene Vorgriff auf die Vollkommenheit' des eigenen Lebens sich zum biblischen Text? Weshalb brauchen wir den Text, wenn wir diesen Vorgriff emotional erfahren? Eine erste Antwort findet sich in Wittgensteins Lecture. Die „Erfahrung der absoluten Sicherheit ist mit den Worten beschrieben worden, daß wir uns in Gottes Hand geborgen fühlen [...]. In der ethischen und religiösen Sprache verwenden wir also, wie es scheint, ständig Gleichnisse". Die Gleichnisse, welche der Text uns an die Hand gibt, dienen dazu, die Erfahrung auszudrücken. „Aber ein Gleichnis", so fahrt Wittgenstein fort, „muß ein Gleichnis für etwas sein. Und wenn ich eine Tatsache durch das Mittel eines Gleichnisses beschreiben kann, muß ich auch imstande sein, das Gleichnis wegzulassen und die Tatsachen ohne es zu beschreiben. Sobald wir nun in unserem Fall versuchen, das Gleichnis wegzulassen und schlicht die zugrundeliegenden Tatsachen wiederzugeben, merken wir, daß es keine derartigen Tatsachen gibt" (Wittgenstein 1965, 10). Die Erfahrung der absoluten Sicherheit, so möchte ich Wittgenstein in einem ersten Schritt interpretieren, kann nur durch das Gleichnis ausgedrückt werden; das Gleichnis ist die einzige Möglichkeit, die Erfahrung auszudrücken. Aber was das Gleichnis ausdrückt, ist keine absolute Geborgenheit; es drückt die Erfahrung einer Geborgenheit aus, aber diese Erfahrung ist nicht die Erfahrung einer absoluten Geborgenheit. Lassen wir dieses Problem zunächst offen; ich werde darauf zurückkommen. Ein Gleichnis, darin sehe ich einen zweiten Zusammenhang zwischen dem biblischen Text und dem Vorgriff auf Vollkommenheit, dient nicht nur dem Ausdruck einer Erfahrung; es dient auch dazu, diese Erfahrung hervorzurufen; es ist ein Bild, das eine emotionale Erfahrung auslöst; es ist eine Anleitung, Erfahrungen zu machen. Damit ist ein Aspekt des Phänomens Gebet angesprochen: Der Beter der Psalmen vollzieht die Erfahrungen nach, die in diesen Texten zum Ausdruck kommen. Der Vorgriff der Vollkommenheit, darin liegt die dritte Aufgabe des biblischen Textes, bleibt abstrakt, wenn er nicht mit den Ereignissen des Lebens vermittelt wird. Es muß deutlich werden, wie die einzelnen Ereignisse sich trotz des gegenteiligen Anscheins in ein sinnvolles Ganzes einfügen, und das wollen die biblischen Erzählungen und Gleichnisse zeigen. Die Tatsache, die das Gleichnis beschreibt, so Wittgenstein in der Lecture, kann nicht ohne das Gleichnis beschrieben werden. „Die Gleichnisse des N. T.", so schreibt er an anderer Stelle, „lassen jede beliebige Tiefe des Verstandes zu. Sie sind ohne einen Boden" (Werkausgabe Bd.8, 501). Das Gleichnis, so möchte ich diese beiden Aussagen interpretieren, drückt eine Erfahrung aus, die immer eine menschliche, endliche Erfahrung und niemals die Erfahrung des Absoluten ist, aber diese Erfahrung läßt ,jede beliebige Tiefe" zu. Sie wird das Absolute nicht erreichen, aber sie kann sich in einem unendlichen Prozeß auf das Absolute hin bewegen, indem sie in ihre eigene Tiefe vordringt. Erfahrungen können flach oder tief sein, und es läßt sich keine Grenze angeben, bis in welche Dimension eine Erfahrung hineinreicht. Mitleid, die verschiedenen Formen der Liebe, Empörung über ein Unrecht, Schuldbewußtsein, Vertrauen, Hoffnung können oberflächlich sein oder in eine unbegrenzte Tiefe gehen. Ein klassisches Beispiel für diese , Analogie der Erfahrung' ist der Einfluß des Hohenliedes auf die jüdische und christliche Mystik, um nur Origenes, Bernhard von Clairvaux, Johannes van Ruusbroec und Teresa von Avila zu nennen (vgl. Katz 1983, 6-13). Das Hohelied ist eine Sammlung von Liedern in der Tradition der ägyptischen und syrischen Lie-
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beslyrik, wahrscheinlich aus dem 5. oder 4. Jh. v. Chr. Die orientalischen Liebeslieder beschreiben eine menschliche Erfahrung. Der biblische Text und die in ihm ausgedrückte Erfahrung ist Ausgangspunkt eines Weges. Wir können auch hier, in einem abgewandelten Sinn, von einer fides quaerens intellectum sprechen: Der biblische Text, die Botschaft des Glaubens, soll vom toten Buchstaben und vom bloßen Wort zu einer lebendigen Erfahrung werden. Der mystische Weg ist der Weg in die Tiefendimension der im Text beschriebenen menschlichen Erfahrung. Es wird nicht eine Erfahrung durch ein biblisches Bild ausgedrückt oder interpretiert; vielmehr ist der biblische Text Ausgangspunkt des Weges der Erfahrung. Zwischen der im Hohenlied beschriebenen menschlichen Erfahrung und der mystischen Erfahrung etwa der Teresa von Avila besteht das Verhältnis der Analogie: der Ähnlichkeit und der Unähnlichkeit. 8. Zustimmung Der religiöse Glaube ist, um einen Ausdruck von Wittgenstein zu gebrauchen, ein „Bezugssystem" (Werkausgabe Bd.8, 540), ein Rahmen, ein Entwurf, eine Idee, wie wir uns und unser Leben verstehen. Ist diese Charakterisierung ausreichend? Basil Mitchell fragt, wie ein theistischer religiöser Glaube sich von einem nichtreligiösen Bezugssystem unterscheidet, von dem eine Person in demselben Grad überzeugt ist wie der Gläubige von seiner religiösen Weltsicht, und er weist auf einen wichtigen Unterschied hin: „Faith in God for the Jew, the Christian or the Muslim, is not simply a commitment to a religious philosophy of life; it is a trusting reliance upon God" (Mitchell 1980, 140). Die Tradition unterscheidet deshalb zwischen credere Deum, dem Fürwahrhalten von Propositionen über Gott, und credere in Deum, dem Vertrauen auf Gott (Thomas von Aquin, S. th. II II q.2 a.2). Der theistische religiöse Glaube ist also mehr als die Zustimmung zu einer Interpretation oder die Annahme eines Bezugssystems; er ist die Beziehung zu einer Person. Ausdruck des Glaubens ist das Gebet, und das Gebet richtet sich an eine Person. Was bisher über den religiösen Glauben gesagt wurde, ist allenfalls eine Auslegung des credere Deum-, dem credere in Deum wird es offensichtlich nicht gerecht. Aber wie kommen wir vom Glauben als Entscheidung für ein Bezugssystem zum Glauben als personaler Beziehung, als Vertrauen auf eine Person? Ich skizziere drei nicht adäquat voneinander verschiedene Wege; sie unterscheiden sich durch die Erfahrung oder das Phänomen, von dem sie ausgehen. 8.1 Für Kant ist das Fürwahrhalten der Existenz Gottes ein reiner praktischer Vernunftglaube. Wichtig in unserem Zusammenhang, auch als Kritik an Swinburne, ist Kants Unterscheidung zwischen der Hypothese und dem Postulat der Existenz Gottes. Die Hypothese, daß Gott existiert, beruht auf einem Schluß der theoretischen Vernunft, und Kant hebt hervor, daß dieser Schluß „immer unsicher und mißlich ist" und daß wir es dabei nicht weiter bringen können „als zu dem Grade der für uns Menschen allervernünftigsten Meinung" (KpV, Akad.-Ausg. Bd.5, 142). Aber der religiöse Glaube ist mehr als eine Meinung; der Begriff einer vernünftigen Meinung ist zu schwach, um das Phänomen des religiösen Glaubens zu beschreiben. Um einer Person vertrauen und zu ihr beten zu können, muß ich sicher sein, daß sie existiert. Im Unterschied zur Hypothese ist das Postulat Gegenstand einer unbedingten Zustimmung, weil hier die Annahme der Existenz Gottes notwendig mit dem Bewußtsein des Sittengesetzes verbunden ist; es ist ein theoretischer (als solcher aber nicht
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erweislicher) Satz, der „einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt" (ebd., 122, Hervorh. F. R.). Weil der reine Vernunftglaube an die Existenz Gottes im sittlichen Bewußtsein gründet, ist er der Glaube an einen Gott, der die Gesinnung des Menschen kennt und in diesem Sinn eine personale Beziehung zum Menschen hat: „Er muß allwissend sein, um mein Verhalten bis zum Innersten meiner Gesinnung in allen möglichen Fällen und in aller Zukunft zu erkennen" (ebd., 140). Als Garant des höchsten Gutes ist Gott Adressat des Vertrauens. Kants Vernunftglaube ist also nicht nur ein credere Deum, sondern auch ein credere in Deum. Dennoch gibt Kant keine Antwort auf unsere Frage, wie wir von einem Bezugssystem zu einer personalen Beziehung kommen. Sein Ausgangspunkt ist nicht das Bezugssystem einer historischen Offenbarungsreligion, sondern das a priori unbedingt geltende praktische Gesetz. Das Datum des sittlichen Bewußtseins, von dem er ausgeht, bedarf nicht der Interpretation durch einen Offenbarungsglauben; es ist vielmehr ausschließlich die praktische Vernunft, welche zu der beschriebenen personalen Gottesbeziehung hinfuhrt. 8.2 Nach Thomas von Aquin ist der Glaube ein Akt des Intellekts und des Willens. Er beruht auf Gründen, aber diese sind nicht hinreichend, um den Intellekt zur Zustimmung zu bestimmen: „intellectus credentis determinatur ad unum non per rationem, sed per voluntatem" (S. th. II II q.2 a. 1 ad 3). Was aber bewegt den Willen dazu, dem Intellekt die Zustimmung zu befehlen? Dazu müssen wir zunächst einen Blick auf die Analyse des Glaubensaktes werfen. Thomas unterscheidet in dem einen Akt zwischen credere Deo, credere Deum und credere in Deum (S. th. II II q.2 a.2). Die Unterscheidung ergibt sich aus der unterschiedlichen Beziehung ein und desselben Aktes auf sein Objekt. Credere Deum und credere Deo beziehen sich auf den Glauben insofern er ein Akt des Intellekts ist. Credere Deum gibt das Materialobjekt an: Alle Aussagen, denen der Glaubende zustimmt, beziehen sich auf Gott. Credere Deo bezeichnet das Formalobjekt des Intellekts, d. h. den formalen Grund (formalis ratio), weshalb der Intellekt den Glaubensaussagen zustimmt. In einer deduktiven Wissenschaft ist dieser formale Grund die Tatsache, daß eine Aussage bewiesen ist; das Formalobjekt des Glaubens ist die veritas prima, denn der Glaube stimmt einer Aussage „nur deshalb zu, weil sie von Gott offenbart ist" (S. th. II II q.l a.l). Aber der Intellekt wird zu seiner Zustimmung nicht durch Gründe, sondern durch den Willen bestimmt. Die Glaubenszustimmung kann also nicht darauf beruhen, daß der Glaubende weiß, daß eine Aussage von der Ersten Wahrheit offenbart ist und deshalb nicht falsch sein kann, denn dann würde der Intellekt durch den formalen Grund und nicht durch den Willen zur Zustimmung bestimmt. Er muß Gründe dafür haben, daß die Aussage offenbart ist, aber diese Gründe sind nicht ausreichend, um den Intellekt zur Zustimmung zu bestimmen; dazu bedarf er des Willens. Aber was bestimmt den Willen, die Zustimmung zu befehlen? Darauf antwortet der Aspekt des credere in Deum. Er drückt aus, daß Gott, die Erste Wahrheit, das Ziel des Willens ist. Der Wille befiehlt die Zustimmung, weil die Erste Wahrheit sein Ziel ist und weil es Gründe dafür gibt, daß in den Sätzen der Schrift die Erste Wahrheit spricht. Der Glaubende vertraut darauf, daß ihm in den Sätzen der Schrift Gott begegnet und daß so seine Suche nach der Wahrheit ihr Ziel erreicht hat. Unsere Frage ist: Wie kommen wir vom Bezugssystem des religiösen Glaubens zu einer personalen Beziehung? Thomas antwortet: Die Entscheidung für das Bezugssystem ist bereits eine personale Beziehung. Wir entscheiden uns für das Bezugssystem (credere Deum),
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weil wir einer Person glauben (credere Deö), und wir glauben dieser Person, weil die Beziehung zu dieser Person das letzte Ziel unseres Willens ist (credere in Deum). Das ist jedoch noch nicht das letzte Wort des Thomas zur Glaubenszustimmung. Eine philosophische Epistemologie kann das Problem, wie ein Mensch zum Glauben kommt, nicht lösen; hier gibt es nach Thomas nur eine theologische Antwort. Keine äußere Ursache, weder die Glaubensverkündigung noch die Wunder, ist hinreichend, „denn von denen, die ein und dasselbe Wunder sehen und dieselbe Predigt hören, glauben einige und einige glauben nicht. Und deshalb muß man eine andere, innere Ursache annehmen, die den Menschen in dem, was zum Glauben gehört, innen zur Zustimmung bewegt" (S. th. II II q.öa.l). Thomas bezeichnet sie als „inneren Instinkt des einladenden Gottes" (interiori instinctu Dei invitantis; S. th. II II q.2 a.9 ad 3). Das natürliche Glücksstreben des Menschen, so könnte man diese theologische Aussage epistemologisch interpretieren, ist bereits eine konfuse personale Beziehung, denn „Gott ist das Glück des Menschen" (S. th. I q.2a.l ad 1). Wir dürfen hier Thomas von Augustinus, etwa dem Anfang der Confessiones (I 1,1) her lesen: „ruhelos ist unser Herz, bis daß es seine Ruhe hat in dir". Die Offenbarung hat die Aufgabe, diese konfuse Beziehung zu klären. Der Mensch, so argumentiert Thomas, muß sein letztes Ziel erkennen, damit er seine Handlungen und Absichten auf es ausrichten kann (S. th. I q.l a.l). Der „innere Instinkt des einladenden Gottes" ist das Gespür für eine Entsprechung. Der Glaubende spürt: Wovon die Schrift spricht, das ist es, was ich in meinem Glücksstreben suche. Im Gottesbild der Schrift werden die Züge der Person deutlich, die er in seinem Glücksstreben nur konfus wahrnimmt. Der Wille bestimmt den Intellekt zur Zustimmung, weil das credere Deum das Ziel vorstellt, zu dem er aufgrund seines Wesens hingezogen wird. 8.3 Wie Thomas lehrt Pascal, daß Gründe nicht ausreichen, um den Menschen zur Glaubenszustimmung zu bewegen. „Gott [...] begründet die Religion im Geiste durch Gründe und im Herzen durch die Gnade" (Frg. 185 Br/172 La). Das Herz ist fiir Pascal der Ort der Entscheidung, und es sind zwei Erfahrungen, welche die Entscheidung herausfordern. Gott läßt die Seele fühlen, „daß er ihr einziges Gut ist, daß ihr Friede in ihm ist, daß sie nur soweit glücklich sein wird als sie ihn liebt [...]. Dieser Gott läßt sie fühlen, daß sie in sich diesen Bodensatz der Eigenliebe hat, der sie verdirbt und daß er allein uns davon heilen kann" (Frg. 544 Br/460 La). Er „ist ein Gott, der sie im Innern ihr Elend und seine unendliche Barmherzigkeit spüren läßt" (Frg. 556 Br/449 La). Beide Erfahrungen sind Formen der Liebe und als solche Beziehungen zu einer Person, und das Herz muß sich zwischen ihnen entscheiden. „Ich sage, daß das Herz von Natur aus das höchste Wesen liebt, und es liebt sich selbst von Natur aus, je nachdem, wem es sich hingibt, und es verhärtet sich nach eigener Wahl gegen das eine oder das andere" (Frg. 277 Br./423 La). Das Evangelium macht uns diese Erfahrungen ausdrücklich bewußt, und es sagt uns, wie wir uns entscheiden sollen. „Nichts anderes hat Jesus Christus die Menschen gelehrt, als daß sie sich selbst liebten, daß sie Sklaven, Blinde, Kranke, Unglückliche und Sünder wären, daß es notwendig war, daß er sie befreite [...] und heilte, und daß das geschehen würde, wenn sie sich selbst haßten und ihm nachfolgten durch das Elend und den Tod am Kreuz" (Frg. 545 Br/271 La). Pascal dringt vor zur Mitte des religiösen Glaubens, wo jeder Versuch einer Erklärung an seine Grenzen kommt: der Einheit von Gotteserfahrung und Schuldbewußtsein, von Erfahrung, Entscheidung und Liebe, von dem, was der Mensch tut, und dem, was ihm geschenkt
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wird. „Ist die Vernunft der Grund", so fragt Pascal seine Gegner, „daß ihr euch selbst liebt?" (Frg. 277 Br/423 La). Ebensowenig sind Gottesliebe und Glaube „eine Gabe der Vernunft" (Frg. 279 Br/588 La). „Es ist das Herz, das Gott spürt, und nicht die Vernunft" (Frg. 278 Br/424 La). Einfache Menschen glauben, ohne Überlegungen anzustellen. „Gott gibt ihnen die Liebe zu ihm und den Haß auf sich selbst. Er neigt ihr Herz zum Glauben" (Frg. 2 8 4 Br/380 La).
Literaturverzeichnis William P. Alston, Perceiving God- The Epistemology of Religious Belief, Ithaca/London 1991. William P. Alston, „The Distinctiveness of the Epistemology of Religious Belief, in: Godehard Brüntrup/Ronald K. Tacelli, The Rationality of Theism, Dordrecht 1999, 237-254. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 21965 (Bde.l und 2 der Gesammelten Werke, Tübingen 1986). William James, The Varieties of Religious Experience - A Study in Human Nature, New York 1902 (Reprint 1985). Steven T. Katz, Mysticism and Religious Tradition, Oxford 1983. Basil Mitchell, „Faith and Reason: A False Antithesis?", in: Religious Studies 16(1980), 131-144. John Henry Newman, An Essay in Aid of a Grammar of Assent, hg. v. Ian Ker, Oxford 1985 (Reprint 2001) - Die Seitenangaben in Klammem beziehen sich auf die Originalausgabe von 1870. Alvin Plantinga, Warranted Christian Belief Oxford 2000. Richard Swinburne, The Existence of God, Oxford 1991. Richard Swinburne, Is There a God?, Oxford 1996. Peter Winch, „Discussion of Malcolm's Essay", in: Norman Malcolm, Wittgenstein: A Religious Point of View?, London 1993. Ludwig Wittgenstein, „A Lecture on Ethics", in: The Philosophical Review 1A (1965), 3-11. Ludwig Wittgenstein, „Vermischte Bemerkungen", Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt/M. 1990.
Kolloquium 6 Grenzen als Thema in der Philosophie des Mittelalters
LUDGER HONNEFELDER
Einleitung Grenze und Grenzen sind gerade deshalb ein geeignetes Stichwort für einen Kongreß der Philosophie, weil sie nicht einen Problembestand bezeichnen, der in schöner Eindeutigkeit die Verschiedenheit der philosophischen Disziplinen und Schulen und den Wechsel der Epochen durchzieht, sondern weil sie auf ein Charakteristikum der Philosophie verweisen, das sich als solches in der größten Verschiedenheit zeigt, ohne doch die Eigenschaft eines Kennzeichens der Philosophie zu verlieren. Wie zeigt sich dieses Charakteristikum in der mittelalterlichen Philosophie - so lautet die Frage des folgenden Symposiums. In welcher Weise sind Grenzen ein Thema der Philosophie im Mittelalter und inwiefern sind sie es als ein Thema der Philosophie? Schon die Frage versteht sich nicht von selbst. Denn daß das Mittelalter Philosophie gekannt - oder zumindest in der Weise gekannt hat, in der Antike und Neuzeit von Philosophie sprechen, ist ja alles andere als unbestritten. Sind nicht Offenbarungsglaube und Theologie die diese Epoche bestimmenden Größen, und zwar so sehr, daß von einer - zumindest für ein heutiges philosophisches Bewußtsein relevanten - Epoche der Philosophie kaum gesprochen werden kann? Daß Offenbarungsglaube - in jüdischer, islamischer und christlicher Form - und darauf bezogene Theologie charakteristische, ja dominante Größen der Epoche sind, ist nicht zu bestreiten. Fraglich ist die daraus gezogene Schlußfolgerung geringerer philosophischer Relevanz. Wählt man das Thema der Grenzen, scheint sich geradezu die gegenteilige Schlußfolgerung aufzudrängen. Denn offensichtlich fordert die Begegnung der Philosophie mit dem so heterogenen Anderen des Offenbarungsglaubens nicht nur Unterscheidung durch Grenzziehung, sondern auch Erfahrung von Grenzen, die ohne dieses Andere gar nicht in das philosophische Bewußtsein gerückt wären und die dieses philosophische Bewußtsein nicht nur zu einer neuen Vergewisserung seiner selbst und seines Eigenstandes geführt, sondern zu einem Gutteil auch zu einer Auseinandersetzung mit den Themen genötigt haben, die seine neuzeitliche und moderne Gestalt charakterisieren.
KOLLOQUIUM 6 - EINLEITUNG
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Wer eine Einlösung der Behauptung verlangt, sei - gleichsam zur Einstimmung auf die folgenden Vorträge - auf drei Beispiele verwiesen. I. Es ist die antike Philosophie, die die Philosophie in ihrer theoretischen Gestalt nicht nur entdeckt, sondern sie zugleich auf eines ihrer maßgeblichen Themen verweist, nämlich auf die Frage, was es mit dem Ganzen des Kosmos oder der Welt auf sich habe. Doch erst der Glaube an die Möglichkeit ihrer Erschaffung aus dem Nichts veranlaßt dazu, die Frage so zu verändern, daß sich die Frage nach dem Ganzen mit der Frage nach dem Sein so verbindet, daß das Nichts als Grenze in das Bewußtsein der Philosophie fällt. Warum ist überhaupt etwas, so faßt später Leibniz die Frage, und nicht viel mehr nichts? Was sind die Gründe für diese Transformation der Frage der Ersten Philosophie? Da die Frage der Theologie aus theologischen Gründen nicht in der Theologie verbleiben kann (denn der Glaube fordert seine Rechenschaftsablage vor der Vernunft), wird die Grenze des Nichts - wie man an De ente et essentia des Thomas von Aquin zeigen könnte - zum Thema der Philosophie.
II. Aber auch die praktische Philosophie, die aus dem Versuch der Beantwortung der zweiten großen Frage der antiken Philosophie entsteht, nämlich der Frage nach dem Ganzen des gelungenen menschlichen Lebens, erfahrt in ihrer mittelalterlichen Rezeption eine entscheidende Erweiterung ihrer Fragestellung und ihrer einzelnen Themen. Wenn nämlich die Frage nach dem Ganzen des gelungenen menschlichen Lebens schon in der antiken Philosophie, wie sich zeigen ließe, der Frage nach dem Ursprung des Bösen ihre Entstehung verdankt, so ist es wiederum die Kontrasterfahrung des Offenbarungsglaubens, die das mittelalterliche Denken zwingt, die bislang übliche Erklärung der Kontingenz aus der Kosmologie - nämlich als Folge der Difformität der Materie in der sublunarischen Welt - ebenso wie die Reduzierung des moralisch Bösen auf die Willensschwäche als unzureichend zu erkennen und - wie man an Johannes Duns Scotus zeigen könnte - die bessere Erklärung in der Freiheit eines Willens zu suchen, der als Vermögen ursprünglicher Selbstbestimmung gedacht werden muß, was zwangsläufig, wie Kants Erörterung erkennen läßt, die Frage nach dem radikal Bösen zur Folge hat. Damit läßt die mittelalterliche Philosophie eine zweite Erfahrung der Grenze in ihrer ganzen Radikalität in das philosophische Bewußtsein fallen, die Erfahrung des Bösen als Schuld, und zwar als die kontingente Tat eines freien Willens.
III. Nicht nur theoretische und praktische Philosophie sind als Beispiele zu nennen, sondern auch ihr Organon und damit der Standard der Rationalität. Daß die Frage nach der ratio der auctoritas die mittelalterlichen Denker zum methodischen Einsatz des distinguo und damit zur Entdeckung der Grenzziehung als Methode fuhrt, lernt jeder Student der mittelalterlichen Philosophie schon nach der Lektüre weniger Texte. Wenn Offenbarungsglaube als Folie der Geltung eine Rolle spielt, wird die Frage nach der Einsicht in ihren Grenzen zu der
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LUDGER HONNEFELDER
eigentlichen Frage. Erst die Möglichkeit, sich einen God's Eye View vorzustellen - so wird von Kant bis H. Putnam und M. Dummett deutlich - gibt der Frage nach den Grenzen der Vernunft ihre präzise Bedeutung und läßt den Geltungsbereich wissenschaftlicher Aussagen zum Thema der Reflexion werden. Zugleich wird die schon in der antiken Philosophie betriebene Erweiterung der Grenzen der apodeiktischen Wissenschaft noch einmal erheblich radikalisiert: Denn wenn Geschichte ebenso wie Natur als Resultat einer ebenso freien wie kontingenten Selbstbestimmung gedacht werden muß, kann sie nicht mehr - wie die antike historia - aus dem wissenschaftlichen Wißbaren ausgeschlossen werden, viel mehr muß nach der ihr eigenen Rationalität gefragt werden. Die artes werden in in ihren geisteswissenschaftlichen wie in ihren naturwissenschaftlichen Teilen zur scientia, deren Vollzug Forschung ist. Man könnte die Liste der Kontexte fortsetzen, die die Grenzen zum Thema der mittelalterlichen Philosophie machen - im Bereich der Erfahrung, im Bereich des Wissens und im Bereich der Sprache. Eben damit sind jedoch bereits die Themen der drei Vorträge dieses Symposiums genannt.
THEO KOBUSCH
Die Grenzen der theoretischen Vernunft
Der Anspruch, die Grenzen der theoretischen Vernunft aufzeigen und ihren vergegenständlichenden und verdinglichenden Charakter deutlich machen zu können, ist so unmittelbar mit der modernen Transzendentalphilosophie, mit der klassischen Deutschen Philosophie, mit Nietzsche und Heidegger verbunden, daß, wer davon spricht, fast notwendig an diesen Kontext gebunden zu sein scheint. Um diese - auch sprachliche - Fessel gewissermaßen aufzusprengen, soll im Folgenden gezeigt werden, daß es eine jahrhundertelange Tradition der Kritik an der Konzeption der theoretischen Vernunft gegeben hat, ja sogar daß diese Konzeption immer von einer solchen Fundamentalkritik begleitet wurde. In dieser Absicht soll im 1. Abschnitt das Denken des Kirchenvaters Gregor von Nyssa unter dem Vorzeichen der Aristoteleskritik, genauer: der Kritik des aristotelischen Vernunftbegriffs betrachtet werden. Der zweite Abschnitt verfolgt die Kritik an der neugierigen, theoretischen Vernunft vom Standpunkt der Philosophie als Lebensform oder geistiger Übung, ehe im 3. die Mystik, die selbst Philosophie des inneren Menschen zu sein beansprucht, als Kritik der theoretischen Vernunft interpretiert wird.
1. Kritik an der aristotelischen Vernunftkonzeption: Gregor von Nyssa. Die Geschichte der Aristoteleskritik in der Spätantike ist noch nicht geschrieben. In ihr müßte die kritische Haltung gegenüber der aristotelischen Konzeption der theoretischen Vernunft einen besonderen Platz erhalten. Während in der paganen Philosophie, besonders bei den Neuplatonikem, die Kritik fast immer gemäßigt ausfallt und vielfach mit einer breiten Bewegung der Rezeption aristotelischer Gedanken verbunden ist, ist die Ablehnung im Rahmen der „christlichen Philosophie" - die sich seit dem 4.Jahrhundert selbst auch so nennt - besonders deutlich. Niemand hat indes in diesem Zusammenhang einen so wachen Blick für die Grenze der menschlichen Natur und des menschlichen Bewußtseins entwickelt - für das die Stoiker den Begriff der Epinoia geprägt hatten - wie der Kirchenvater Gregor von Nyssa. Als seine philosophisch bedeutsame, das griechische Denken überholende Entdeckung wird vielfach und mit Recht seine Konzeption der Unendlichkeit angesehen1. Diese war jedoch nur dadurch ermöglicht worden, daß Gregor sich der ontologischen Grenzen der menschlichen Natur im Vgl. E. Mühlenberg, Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa, Göttingen 1966.
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THEO KOBUSCH
allgemeinen und der Grenzen der Erkenntnisfahigkeit im besonderen bewußt war. „Jedes Ding, das in den eigenen Grenzen seiner Natur bleibt, existiert genau so lange, wie es innerhalb der eigenen Grenzen bleibt"2. Das Feuer verliert seinen Charakter als Feuer, wenn es ins Wasser kommt und umgekehrt, und so das Trockene und das Nasse und alles, was da ist. Diese Vorstellung von festen vorgegebenen ontologischen Grenzen entspricht durchaus dem neuplatonischen Denken sonst. So berichtet z. B. Jamblich von einer philosophischen Lehrmeinung, nach der der Seele „eine ihr eigene Grenze ihres Wesens" verliehen wurde3. Auch die Götter, deren Wesen durch Identität und Invarianz gekennzeichnet ist, werden durchgängig durch „eine Grenze" (évi öpcp) zusammengehalten, die sie niemals verlassen4. Dementsprechend sieht es der Neuplatoniker als höchste Stufe der Tugend an, „in den Grenzen der Schöpfung zu verbleiben, durch die alles artmäßig unterschieden ist"5. Im Sinne dieses neuplatonischen Grenz- und Maßverständnisses hat auch nach Gregor von Nyssa die menschliche Seele ihre feste ontologische Ordnung, obgleich der Wille sie sowohl dem göttlichen wie auch dem tierischen Zustand annähern kann6. Wie aber die objektiv gegebenen sinnlichen und intelligiblen Wesen ihre je eigene Ordnung und Grenze haben, so gibt es auch für die subjektiven Vermögen der menschlichen Seele eine je unübersteigbare Grenze: der Gegenstand des Auges ist nur das Sichtbare und nicht auch der Ton, das Gehör schmeckt nicht, der Tastsinn redet nicht usw. Schließlich muß auch das intellektive Vermögen, das Gregor das „begreifende Denken" nennt, als in sich begrenzt gedacht werden, so daß es nicht über sich hinaus gelangen kann, sondern „immer in sich bleibt"7. Gregor bezeichnet dieses in sich begrenzte intellektive Vermögen mit einem Ausdruck, der - anders als die Begriffe der Seele und des Geistes - das spezifisch menschliche Bewußtsein in seiner Endlichkeit kennzeichnet, nämlich mit dem Begriff der Epinoia. Die Epinoia hat Gregor im Sinne der aristotelischen Vernunftkonzeption als das „inventive methodisch gesicherte Wissen des Unbekannten" definiert, das von einem intuitiv erfaßten Gedanken ausgeht und das daraus Folgende mit dem zuerst Erkannten zusammenfugt. Wie insbesondere die Auseinandersetzung mit Eunomius zeigt, ist die Epinoia nach Gregor auch als die diskursive, sprachbegabte menschliche Vernunft zu verstehen, die schlechthin alles zu erfassen sucht8. In diesem Sinne sucht sie 2
Gregor von Nyssa, In Ecclesiasten Homiliae or. 7, hg. v. P. Alexander, Gregorii Nysseni Opera = GNO V, Leiden 1962,411,19.
3
Vgl. Jamblich, „De anima", in: Ioannis Stobaios, Eclogae Physicae et Ethicae, Vol. I, hg. v. C. Wachsmuth, Berlin 1958, 365,22 ff. Jamblich, De mysteriis 114. Hierocles, In Aureum Pythagoreorum Carmen Commentarius 27, hg. v. F. G. Koehler, Stuttgart 1974, 121,14.
4 5
6
7 8
Gregor Nyss., Contra Eunomium III 118, GNO II, hg. v. W. Jaeger, Leiden 1960,43,22: nevoúarii; tcaiá TO icpot|Yoi)(ievov év zoiq iSíoii; öpoi£ tfji; epúasax;. Nach CE II 86, GNO II 252,4 ist von einem Sicherheben über die „gemeinsamen Grenzen der Natur", soweit es möglich ist, die Rede. Zur Unvermischbarkeit der intelligiblen Ordnungen bei Gregor vgl. Commentarius in Canticum Canticorum or.15, GNO VI, hg. v. H. Langerbeck, Leiden 1960, 446,1 ff und die Anm. von H. Langerbeck. Gregor von Nyssa, In Ecclesiasten Homil. 7, GNO V 412,3 ff. Vgl. T. Kobusch, „Name und Sein. Zu den sprachphilosophischen Grundlagen in der Schrift Contra Eunomium des Gregor von Nyssa", in: El, Contra Eunomium V enla Producción Literaria De Gregorio De Nisa (VI. Coloquio Internacional sobre Gregorio de Nisa), hg. v. L. Mateo-Seco / J. L. Bastero, Pamplona 1988, 247-268, hier 255.
D I E GRENZEN DER THEORETISCHEN VERNUNFT
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die zeitunterworfene, die zeitlich bedingte - auf dem Weg der Analyse das dem jeweils Gefundenen Zugrundeliegende zu erforschen und läßt sich dabei antreiben durch das, was Gregor mit Plotin die „theoretische Neugierde" (7toXtmpaYn.o(yüVT|) nennt9. Gregor hat die maßlosen Ansprüche dieser aristotelisch verstandenen, diskursiven, neugierigen, analytisch vorgehenden menschlichen Vernunft zurückgewiesen. Was die menschliche Vernunft erlebt, wenn sie auf der Suche nach dem Zeit- und Raumlosen über das hinausgeht, was ihren zeitgebundenen Gedanken zugänglich ist, das hat Gregor in einem eindrucksvollen Bild zu veranschaulichen versucht: Wie ein auf einem glatten, steil abfallenden Felsen sitzender Mensch, der mit der Fußspitze das Wasser berührt, keinen Halt für den Fuß und keine Angriffsfläche für die Hand findet, so ergeht es auch der neugierigen, sich über ihre Grenzen hinaus vorwagenden menschlichen Vernunft, die nichts - keinen Ort, keine Zeit, kein Maß findet, was sie zur Erkenntnis der unfaßbaren, göttlichen Natur als Orientierungspunkt benutzen könnte10. Das Element des Neugierigen kennzeichnet die endliche Vernunft in ihrer Hast nach dem jeweils Neuen und Anderen, die alles begrifflich festlegt und insofern auch immer an bestimmter Stelle „stehenbleiben zu müssen" glaubt11. Die theoretische Erkenntnis des göttlichen Wesens im Sinne des aristotelischen Vernunftbegriffs stellt daher in den Augen Gregors eine unangemessene Verdinglichung und Verobjektivierung des Unerfaßbaren dar. Das Wesen Gottes ist der neugierigen Vernunft der aristotelischen Philosophie schlechterdings entzogen. Gregor spricht in diesem Sinne öfter von dem oi7toXu7ip 0.5 ist dabei selbstverständlich zu berücksichtigen, denn im Fall, daß jeder Befragte wahrscheinlicher irrt als richtig urteilt (p* < 0.5), wird die Majorität natürlich wahrscheinlicher irren als die Minorität. Im übrigen wird eine Majorität auch wahrscheinlicher richtig urteilen als ein Individuum, wenn sie schon wahrscheinlicher urteilt als jede Minorität (ein Individuum ist gleichsam die kleinste vorstellbare Minorität). Bei aller allgemeinen Plausibilität der Ergebnisse bleibt es letztlich Condorcets Verdienst, diese Zusammenhänge mathematisch bewiesen zu haben. Natürlich sind die Annahmen von Condorcets Modell in der Realität nie wirklich gegeben. Auch unter Experten werden Wissensstand und Kompetenz variieren. Da wir in der Regel jedoch nicht feststellen können, welche Experten hinsichtlich Wissen und Kompetenz überlegen sind, beschreibt Condorcets Modell oft angemessen die epistemische Situation, in der zu urteilen ist. Interessant erscheint dabei, daß es einer besonderen Wahrheitsnähe des Expertenurteils gar nicht bedarf, um ein Primat des Majoritätsvotums zu begründen. Es muß gar nicht angenommen werden, daß Experten mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 %, 95 % oder 90 % die Wahrheit treffen, sondern bescheidene 50+x % reichen zu diesem Zweck aus. 4. Eine probabilistische Interpretation von Expertenvoten Mit Condorcets Modell wurde eine rationale Begründung des Majoritätsprimats gewonnen, die jedoch noch keine hinreichende Bestimmung enthält, in welcher Weise die größere Wahrscheinlichkeit der Majoritätsmeinung im Denken und Handeln von Entscheidern berücksichtigt werden sollte. Eine erste Möglichkeit hierfür ergibt sich aus einem Modell einer klar separierten Abfolge epistemischer und praktischer Entscheidungen. Das heißt, ein Akteur wird zunächst anhand eines Expertenvotums entscheiden, welcher Expertengruppe er glauben schenkt (= epistemische Entscheidung). Anschließend wird er auf dieser Grundlage und in Kenntnis weiterer Handlungsbedingungen eine Handlungsentscheidung treffen (= praktische Entscheidung). Dieses Verfahren dürfte den Regelfall der expertenbasierten Entscheidung darstellen. Seine Rechtfertigung beruht auf dem Begriff der epistemischen Rationalität. Dieser auch als Erkenntnisrationalität bezeichnete Rationalitätstyp bezieht sich auf unseren Umgang mit der Wahrheit oder dem Fürwahrhalten.1 Er bemißt sich an dem Bestreben, durch Erkenntnisaktivitäten wahre Ansichten zu gewinnen und falsche zu vermeiden.2 Vgl. z. B. Foley (1987: 155): „Epistemic rationality is distinguished from other kinds of rationality by its truth-directed goal." 2
Vgl. Gosepath (1992: 108): „Bei epistemisch-rationaler Meinungsbildung sollen relevante, wahre Meinungen maximiert und sowohl irrelevante als auch falsche Meinungen minimiert werden."
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RUDOLF SCHÜSSLER
Bei fehlender Erkenntnissicherheit empfiehlt sich daher die Maximierung der Wahrscheinlichkeit, wahre Aussagen anzunehmen und falsche abzuweisen. Sofern es um die Entscheidung geht, eine von mehreren konkurrierenden Expertenmeinungen für wahr zu halten (mehr mag „glauben schenken" hier nicht heißen), ist unter Condorcets Bedingungen nur das Fürwahrhalten der Majoritätsmeinung epistemisch rational. Allerdings gilt es auch die Möglichkeit der Urteilsenthaltung zu berücksichtigen. Es gibt kein zwingendes epistemisches Gebot, angesichts der Frage „A oder non-A?" immer eine von beiden Seiten für wahr zu halten. Wer Urteilsenthaltung bevorzugt, kann sich im Handeln z. B. an Glaubensgraden für die eine oder andere Seite orientieren. Solche Glaubensgrade können aus dem Verhältnis von Expertenvoten gewonnen werden. Man glaubt dann z. B. entsprechend dem Votenverhältnis 60/40 mit dem Grad 0.6 an die Wahrheit einer Aussage. Auf dieser Grundlage können Handlungsentscheidungen nach dem Prinzip der Erwartungsnutzenmaximierung gefallt werden. Bei der Maximierung des Erwartungsnutzens werden Glaubensgrade, oder wie sie auch genannt werden: subjektive Wahrscheinlichkeiten, mit dem Wert der Folgen multipliziert, die sich aus Handlungen ergeben. Ein solches Vorgehen erfordert, daß Expertenbefragungen mit Hilfe zusätzlicher quantifizierter Folgenbetrachtungen in Handlungsanweisungen überführt werden. Eine Expertenbefragung schränkt folglich nicht mehr unmittelbar die wählbaren Handlungsalternativen ein, bevor eine Handlungswahl stattfindet, sondern ist Teil eines Entscheidungsprozesses, der epistemische und praktische Aspekte bei der Handlungswahl gleichzeitig berücksichtigt. Angesichts des mathematischen Enwicklungsstandes der modernen Wahrscheinlichkeitsund Entscheidungstheorie mag es so scheinen, als ob allein ein probabilistisches Vorgehen einen methodisch zeitgemäßen Umgang mit Expertenmeinungen gestatte. Es gibt jedoch gewichtige Gründe, die für das traditionelle zweistufige Verfahren sprechen. Die Theorie subjektiver Wahrscheinlichkeiten ist mathematisch stark, aber sie hat viele Probleme ausgeklammert, die sich im Umgang mit Unsicherheiten ergeben. Im juridischen wie im technischen Bereich besitzt z. B. die Kategorie des Urteils, das jenseits vernünftigen Zweifels steht, eine große praktische Bedeutung. Die moderne („bayesianische") Entscheidungstheorie hat sich jedoch nur unzureichend mit der Frage beschäftigt, ab welchem Glaubensgrad wir einer Aussage rational zustimmen müssen (d. h. nicht mehr vernünftig zweifeln können). Sie sagt auch nichts darüber aus, ob durch ein Kollektivurteil oder durch kollektive Normierung festgelegt werden darf, was vernünftig zu bezweifeln ist, oder ob hierüber allein die subjektiven Glaubensgrade und Schwellensetzungen von Individuen Auskunft geben. Ohne befriedigende Antwort auf diese Fragen sollte die Möglichkeit einer sequentiellen Staffelung epistemischer und praktischer Entscheidungen nicht gering geschätzt werden. Schließlich trägt sie dazu bei, die Komplexität realer Entscheidungsprozesse erheblich zu reduzieren. Mein Plädoyer zeigt an, daß im folgenden beide dargelegten Modelle des Umgangs mit Expertenvoten zu berücksichtigen sind. Diese Aufgabe wird allerdings dadurch erleichtert, daß beide Modelle im Hinblick auf einige wesentliche Prämissen übereinstimmen. Sowohl das sequentielle als auch das probabilistische Modell unterstellen in idealisierender Annäherung: (a) Gleichartigkeit der Akteure, und (b) eine Urteilssicherheit von p* > 0.5.
319
RATIONALITÄT UND EXPERTENSTREIT
Für das sequentielle Modell wurde dies anhand von Condorcets Überlegungen gezeigt. Für das probabilistische Modell lassen sich (a) und (b) ebenfalls unschwer belegen. Gleichartigkeit folgt unmittelbar aus der angenommenen Entsprechung eines Votenverhältnisses von 60/40 und eines Glaubensgrades von 0.6. Ein solcher Glaubensgrad entsteht zudem nur, wenn Voten als Prima-facie-Gründe für die Zustimmung zu einer Meinung gelten können. Das können sie aber nur, wenn die Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit eines Einzelvotums größer als 0.5 ist. Damit verfugen wir über zwei Grundprämissen des rationalen Umgangs mit Expertenvoten, anhand derer die epistemische Legitimität einer Bevorzugung der Majoritätsmeinung kritisch geprüft werden kann.
5. Das Verzweigungsproblem Es gibt ein grundlegendes Problem bei der Expertenbefragung, das Schwierigkeiten für die Annahmen der Gleichartigkeit der Akteure und einer „positiven" Urteilskompetenz (d. h. Urteilskompetenz > 0.5) mit sich bringt. Dieses Problem entsteht nur bei einem bestimmten Typus von Urteilssituation, der jedoch in sehr vielen Fällen von Expertenbefragungen vorliegt. In idealtypischer Vereinfachung urteilen meinungsverschiedene Experten dabei aufgrund unvereinbarer sachlicher Hintergrundüberzeugungen. Das kann z. B. der Fall sein, wenn die Experten auf der Grundlage verschiedener Theorien oder sogar verschiedener wissenschaftlicher Paradigmen urteilen. In manchen Fällen reicht es sogar aus, wenn bei genereller Akzeptanz einer einheitlichen Grundtheorie verschiedene Kausalerklärungen bevorzugt werden. Unter diesen Bedingungen tritt die folgende, schematisierte Situation ein: Urteilsbasis
Expertenurteil
P
Theorie/Prozeß I (Bündel I)
vy in allen möglichen Welten wahr ist, dann ergibt sich auch dies aus den semantischen Eigenschaften der in ti —> v^ enthaltenen Ausdrücke. Letzten Endes geben dies selbst AposterioriPhysikalisten zu. Denn sie vertreten die These, daß sich alle mentalen Begriffe de facto auf physische Eigenschaften beziehen - auch wenn dies dem kompetenten Sprecher, sagen wir, des Deutschen nicht bekannt sein muß. Lektion 4: Wenn das Mentale über dem Physischen superveniert, dann determinieren gegeben die semantischen Eigenschaften mentaler Prädikate - die physikalischen Umstände allein, welche mentalen Prädikate auf welche Gegenstände zutreffen. 4. Was ergibt sich aus all dem für die Frage, ob metaphysische Supervenienz reduktive Erklärbarkeit impliziert bzw. ob es metaphysische Supervenienz auch ohne reduktive Erklärbarkeit geben kann? Wenn das Mentale über dem Physischen superveniert, muß ich dann, wenn ich über alle physischen Tatsachen und alle grundlegenden physischen Gesetze informiert bin, allein deshalb schon in der Lage sein, für jede mögliche physische Situation anzugeben, welche Gegenstände in dieser Situation welche mentalen Eigenschaften besitzen? Wie wir gesehen haben, reicht selbst vollständiges physikalisches Wissen dafür nicht in allen Fällen aus auch wenn man das Wissen der kompetenten Sprecher einer Sprache mit hinzu nimmt. Insofern haben die Aposteriori-Physikalisten Recht. Selbst wenn mein physikalisches Wissen vollständig ist, kann es sein, daß ich nicht a priori wissen kann, welche Wesen in einer physikalisch vollständig beschriebenen Situation welche mentalen Eigenschaften besitzen. Auf der anderen Seite haben aber auch die Apriori-Physikalisten in gewissem Sinne Recht: Vollständiges physikalisches Wissen zusammen mit vollständigem semantischen Wissen reicht immer aus, um diese Frage zu beantworten. Nur: Daß sich etwas allein aus semantischen Tatsachen ergibt, heißt eben leider nicht, daß ich es a priori wissen kann. Selbst den kompetenten Sprechern einer Sprache sind nicht alle semantischen Tatsachen bekannt.
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ANSGAR BECKERMANN
Und was bedeutet dies für Levines Argument der Erklärungslücke? Nun, der Kern dieses Arguments ist nicht die These, daß aus der vollständigen physikalischen Beschreibung einer Situation nicht folgt, auf welche Wesen in dieser Situation welche mentalen Prädikate zutreffen, sondern daß aus der vollständigen physikalischen Beschreibung einer Situation nicht folgt, wie sich die physikalischen Zustände, in denen die Wesen in dieser Situation sind, für diese Wesen anfühlen. Und welche Bedeutung diese Tatsache für die Frage hat, ob das Mentale über dem Physischen superveniert, hängt davon ab, wie man sich die Semantik von Ausdrücken wie „hat Zahnschmerzen" und „hat den Eindruck von etwas Rotem" vorstellt. Levine, Chalmers und viele andere gehen offenbar davon aus, daß diese Ausdrücke ganz klassisch über die Angabe charakteristischer Merkmale analysiert werden können. Und sie gehen davon aus, daß das entscheidende Merkmal jeweils ist, daß das entsprechende Wesen in einem Zustand ist, der sich auf eine ganz spezifische Weise anfühlt. Für Levine und Chalmers gilt deshalb: Wenn aus den physikalischen Tatsachen und Gesetzen nicht für jedes Wesen logisch folgt, daß sich ein bestimmter physischer Zustand für dieses Wesen so-und-so anfühlt, dann determinieren die physikalischen Umstände allein nicht, ob das Wesen Schmerzen oder den Eindruck von etwas Roten hat. Also supervenieren in diesem Fall die mentalen nicht über den physischen Eigenschaften. Papineau, Block und Stalnaker stellen sich die Semantik der Ausdrücke „hat Zahnschmerzen" und „hat den Eindruck von etwas Rotem" dagegen ganz anders vor. Für sie sind diese Ausdrücke Eigenschaftsnamen, die bestimmte Eigenschaften - de facto physikalische Eigenschaften - starr bezeichnen. In ihren Augen treffen diese Ausdrücke auf ein Wesen dann und nur dann zu, wenn dieses Wesen die bezeichneten Eigenschaften besitzt - ganz unabhängig vom Vorhandensein charakteristischer Merkmale und also auch ganz unabhängig davon, ob das Haben dieser Eigenschaften für das Wesen mit bestimmten qualitativen Erfahrungen verbunden ist. Das Prädikat „hat Schmerzen" bezeichnet also eventuell das Feuern von C-Fasern ganz unabhängig davon, ob sich das Feuern von C-Fasern schmerzhaft anfühlt - so wie „Gödel" Gödel bezeichnet ganz unabhängig davon, ob Gödel die Gödelschen Gesetze entdeckt hat. Wenn aus den physikalischen Tatsachen und Gesetzen nicht für jedes Wesen logisch folgt, daß sich bestimmte physische Zustände für dieses Wesen so-und-so anfühlen, ist das für Papineau, Block und Stalnaker also gänzlich unerheblich. Denn wie sich bestimmte Zustände anfühlen, hat ihrer Meinung nach mit dem Zutreffen der Ausdrücke „hat Zahnschmerzen" und „hat den Eindruck von etwas Rotem" nichts zu tun. Als Namen für bestimmte - de facto physische - Eigenschaften treffen diese Ausdrücke in ihren Augen auf ein Wesen genau dann zu, wenn es die bezeichneten physischen Eigenschaften hat. Und wenn das für alle mentalen Begriffe gilt, dann superveniert das Mentale über dem Physischen selbst dann, wenn es im Sinne Levines eine Erklärungslücke geben sollte. Es kommt hier also entscheidend auf die Semantik mentaler Prädikate an. Und in diesem Punkt scheinen mir Levine und Chalmers näher an der Wahrheit als Papineau, Block und Stalnaker. Doch dies zu diskutieren wäre der Stoff für einen anderen Aufsatz. Danksagung: Besonderen Dank schulde ich Christian Nimtz und Michael Schütte - Christian Nimtz für die äußerst hilfreichen kritischen Bemerkungen zu einer früheren Version dieses Aufsatzes und Michael Schütte für die vielen Anregungen, die ich bei der Lektüre seiner Dissertation gewonnen habe.
IDENTITÄT, SUPERVENIENZ UND REDUKTIVE ERKLÄRBARKEIT
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ACHIM STEPHAN
Phänomenale Eigenschaften, Phänomenale Begriffe und die Grenzen Reduktiver Erklärung
Vor einem halben Jahrhundert, etwas genauer: im Jahre 1958, ermunterte uns Herbert Feigl zu dem folgenden Gedankenexperiment: Suppose we could predict the detailed chemical structure of an entirely new perfume which will be manufactured in Paris in the year 1995. Suppose, furthermore, that we could equally exactly predict the neurophysiological effects of this perfume on the mucous membranes of a human nose, as well as the resulting cortical processes in the person thus smelling the perfume. Could we then also predict the quality of the experienced fragrance? (Feigl 1958; 1967, 48-49)
Üblicherweise - so Feigl damals - falle die Antwort auf seine Frage negativ aus, weil angenommen werde, daß es sich bei dem in Frage stehenden Duft um eine „emergente Neuartigkeit" handele. Und solche Neuartigkeiten, so glaubte man, seien nicht vorhersagbar. Aber so Feigls Antwort - Physikalisten brauchten keineswegs derart pessimistisch zu sein (ich zitiere weiter): For given the presuppositions of our questions it should also be possible to predict the answers to questionnaire items like „Is the fragrance more similar to Chanel 5 or to Nuit d'Amour?" That is to say, we should be able to predict the location of the quality in the topological space of odors, provided we have a sufficiency of psychophysiological correlation laws to make this particular case one of interpolation or (limited) extrapolation. (Ebd., 49)
Feigl hielt also eine Antwort auf die Frage: „Wird der bis dahin ungerochene Duft der neuartigen Substanz S dem Geruch von Substanz A oder dem Geruch von Substanz B mehr ähneln?" prinzipiell für möglich. Und damit dürfte er auch eine Antwort auf die folgende Frage für möglich gehalten haben: „Welchen bereits bekannten Gerüchen wird der Duft der neuartigen Substanz S am nächsten kommen?" Extrapolieren wir noch ein wenig mehr, so sollte es im Prinzip auch Antworten auf die folgende Frage geben: „Welcher bereits bekannten phänomenalen Qualität wird die durch Vorkommnis V (Substanz, Ereignis, Prozeß) ausgelöste am nächsten kommen?" Nehmen wir an, aus Feigls Überlegungen wäre ein Forschungsprogramm entstanden: das Feigl-Programm. Bei erfolgreichem Verlauf verfugten wir dann nicht nur über beliebig viele psychophysiologische Korrelationsbeziehungen, vielmehr wären wir sogar in der Lage, aufgrund der bereits bestehenden Korrelationen künftige korrekt vorherzusagen: selbst historisch neuartige Erlebnisse könnten in die verschiedenen topologischen Räume phänomenaler Erlebnisse eingebettet werden. Zwischen den verschiedenen phänomenalen
D I E GRENZEN REDUKTIVER ERKLÄRUNG
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Zuständen und ihren neuronalen Korrelaten hätten wir folglich ein Netz von Brückengesetzen etabliert, das den gesamten phänomenalen Raum aufspannen würde. - Dürften wir dann nicht berechtigterweise der Meinung sein, wir hätten alle wesentlichen Probleme, die sich um phänomenale Qualitäten ranken könnten, gelöst? Phänomenale Qualitäten also reduktiv eingebettet? Sicher gibt es den einen oder anderen Kollegen, der ein erfolgreich abgeschlossenes Feigl-Programm so einschätzen würde; unbestritten größer ist jedoch die Zahl deijenigen, die den Eindruck haben, als fange die philosophische Arbeit dann erst an. Und ein Großteil dieser Kollegen ist wiederum der Meinung, daß das Problem der phänomenalen Qualitäten nur dann gelöst wäre, wenn wir eine reduktive Erklärung für sie angeben könnten. Und genau diese scheint aus prinzipiellen Gründen nicht zur Verfugung zu stehen. Im folgenden möchte ich das argumentative Terrain, auf dem wir uns hier befinden, etwas genauer unter die Lupe nehmen. Ich werde zunächst diskutieren, was sinnvollerweise unter einer reduktiven Erklärung verstanden werden sollte und wie deren Gebrauchsanleitung aussieht. Im Anschluß daran stelle ich einige Beispiele aus der neueren Hirnforschung vor, in denen das Vorhandensein bzw. die Abwesenheit bestimmter phänomenaler Zustände - prima facie - zufriedenstellend reduktiv erklärt werden kann. Es stellt sich dann die Frage, worin genau die Unterschiede in den philosophisch geforderten und den wissenschaftlich gegebenen Erklärungen liegen. Im abschließenden Teil wende ich mich noch kurz einigen philosophischen Lösungsangeboten für das Problem der phänomenalen Eigenschaften zu. Diesen Vorschlägen werde ich kritisch gegenüberstehen.
Reduktive Erklärungen In den letzten Jahren sind verschiedene Vorschläge unterbreitet worden, den Begriff der reduktiven Erklärung zu präzisieren bzw. eine Art Gebrauchsanweisung zur Verfugung zu stellen, nach der man zu einer reduktiven Erklärung gelangen könnte. In diesen Vorschlägen werden im wesentlichen Ideen aufgegriffen, die C. D. Broad in den zwanziger Jahren im Rahmen seiner Diskussion emergentistischer Positionen entwickelte und als mechanische Erklärungen bezeichnete (vgl. dazu Stephan 1999, 32—44 sowie Beckermann 2002). Reduktive Erklärungen sollten nicht mit Theorie-Reduktionen verwechselt werden, wie sie einst Ernest Nagel in The Structure of Science (1961, chapter 11) vorgeschlagen hatte. Wenden wir uns also zunächst der Frage zu, was genau unter einer reduktiven Erklärung zu verstehen ist. Die Frage nach reduktiven Erklärungen stellt sich üblicherweise, wenn wir verstehen wollen, weshalb eine bestimmte Entität eine bestimmte Eigenschaft hat, und zwar eine Eigenschaft, die in der Regel nur dem Systemganzen zugeschrieben wird. In trivialen Fällen genügt die einfache Addition der entsprechenden Eigenschaften der Komponenten: So ergibt sich das Gewicht eines Daches aus dem Gewicht der Ziegel, der Balken und der anderen verwendeten Materialien, aus denen es besteht. Die weitaus interessantere Eigenschaft des Daches, nämlich Schutz vor Regen zu bieten, läßt sich dagegen nicht ganz so einfach erklären. Denn hier kommt es entscheidend darauf an, wie die einzelnen Bestandteile arrangiert sind. Erst die richtige Organisation der entsprechenden Teile garantiert diese Eigenschaft des ganzen Systems. Eine solche Eigenschaft gilt dann als reduktiv erklärt, wenn unter Einbeziehung der Bestandteile des fraglichen Systems, unter Berücksichtigung
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ihres Arrangements, ihrer Wechselwirkungen und Eigenschaften vollständig erklärt werden kann, weshalb das System die genannte Eigenschaft hat. Noch komplizierter gestalten sich solche Erklärungen für die systemischen Eigenschaften dynamischer Systeme, insbesondere für Lebewesen. Der Gegenstand einer reduktiven Erklärung ist folglich eine spezifische Eigenschaft oder eine spezifische Verhaltensweise eines systemischen Ganzen. Um deutlich zu machen, daß es sich dabei um die Eigenschaften (oder Verhaltensweisen) eines Ganzen handelt, werden diese auch häufig als Makro-Eigenschaften oder als höherstufige Eigenschaften bezeichnet. Das Ziel einer reduktiven Erklärung besteht nun darin, die höherstufige Eigenschaft allein durch Rekurs auf die Bestandteile des Systems, deren Eigenschaften und Dispositionen, sowie deren Arrangement zu erklären (oder gegebenenfalls vorherzusagen). Dazu müssen wir (i) wissen, welche Eigenschaften die Bestandteile des Systems haben (bzw. wie sich diese verhalten), wenn sie Bestandteile genau eines solchen Systems sind, sagen wir eines Systems mit der Mikrostruktur MS(S) = < C\, ... Cn; R> (hier stehe Q für eine Komponente und R für die spezifische Anordnung aller Systembestandteile); und (ii) muß bekannt sein, welche höherstufige Eigenschaft (bzw. welches Verhalten) mit genau diesem kollektiven Verhalten der Systembestandteile einhergeht. Nun wäre die reduktive Erklärung jedoch ad hoc und unbefriedigend, wenn sich Forderung (i) allein aus dem Studium von Systemen desselben Typs ergäbe, wenn wir folglich nur Gesetze der folgenden Sorte zur Verfügung hätten: Ist C\ Element des Systems S mit der Mikrostruktur , dann zeigt C, Verhalten/Eigenschaft E\. Gesetzmäßigkeiten dieses Typs könnten selbst einen versteckten holistischen Charakter haben, nämlich dann, wenn sich die Q in S anders verhalten als in anderen Systemen, und dies nicht auf ihre Eigenschaften und wechselseitigen Einflüsse zurückgeführt werden kann. Es ist deshalb eine zentrale Anforderung an reduktive Erklärungen, daß sich das Verhalten (bzw. die Eigenschaften) der Cj in S aus den allgemein für sie geltenden einfachen Gesetzen und aus den Interaktionsgesetzen ergibt. Darauf hat Ansgar Beckermann wiederholt in seinen Arbeiten hingewiesen. (Einfache Gesetze erhält man z. B., wenn man Neurone isoliert studiert und immer nur eine Variable variiert, Interaktionsgesetze, wenn man ihre gegenseitigen Wechselwirkungen studiert.) Angenommen nun, aus den einfachen Gesetzen und den Interaktionsgesetzen folgte, wie sich alle Bestandteile eines bestimmten Systems verhielten, so ist noch offen, wie wir von da zur höherstufigen Eigenschaft gelangen. Ansgar Beckermann zufolge bedarf es dazu allgemeiner Kompositionsgesetze (oder Brükkenprinzipien), aus denen hervorgeht, wie sich S als Ganzes verhält (bzw. welche Eigenschaften S als Ganzes hat), wenn sich seine Teile auf eine bestimmte Weise verhalten (vgl. 2002, 130). Nach Joseph Levine und Jaegwon Kim ist hingegen entscheidend, daß wir die zu erklärende Eigenschaft bzw. das zu erklärende Verhalten in der richtigen Weise begrifflich präparieren. So fordert Kim als ersten Schritt auf dem Weg zu einer reduktiven Erklärung: Funktionalisiere die Eigenschaft, die reduziert werden soll, d. h. charakterisiere die Eigenschaft anhand ihrer kausalen Rolle. Diese Charakterisierung soll in Begriffen der Eigenschaften der Basisebene vorgenommen werden. (2002, 156)
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Gesucht ist offenbar eine minutiöse Beschreibung genau dessen, was wir bereits unter einem anderen Begriff kennen, einem Begriff, der sich direkt auf die höherstufige Eigenschaft bezieht, wobei uns ein gröberes Muster als Hinweis auf eine Instantiierung der Eigenschaft dient. Beide Vorschläge - sowohl die Angabe der Kompositionsgesetze als auch die begriffliche Präparierung - haben das gleiche Ziel: nämlich den Übergang von der partikularen Ebene zur systemischen Ebene herzustellen. Schlagen sie fehl, so scheitert die angestrebte reduktive Erklärung. Bevor wir uns nun einigen einfachen Beispielen aus der wissenschaftlichen Praxis zuwenden, will ich noch daraufhinweisen, daß die Forderung nach reduktiven Erklärungen in zwei Richtungen erhoben werden kann; diesen entsprechen die beiden folgenden Aufgaben: (A 1) Gegeben sei, daß System S die höherstufige Eigenschaft E hat. Gib' eine reduktive Erklärung für E an! D. h., zeige unter Berücksichtigung der Mikrostruktur MS(S) = < C\, ... Cn; R >, der einfachen Gesetze für die C\ und den zwischen den Q geltenden Interaktionsgesetzen, daß ein System mit der angegebenen Mikrostruktur E haben muß! Verwende dazu entweder adäquate begriffliche Präparierungen oder Kompositionsgesetze. (A 2) Gegeben sei ein System S mit der Mikrostruktur MS(5) = < C\, ... Cn; R >. In Frage steht, ob S die höherstufige Eigenschaft E hat. Falls ja, so ist dies durch eine reduktive Erklärung zu zeigen. Es dürfte inzwischen klar geworden sein, daß das Feigl-Programm nicht auf die Angabe reduktiver Erklärungen abzielte, sondern sich mit nicht weiter zu erklärenden Korrelationsbeziehungen zwischen physiologischen und psychischen Eigenschaften begnügte, was ja durchaus im Geiste der Reduktionstheorie war, die zu jener Zeit Ernest Nagel formulierte.
Beispiele aus der reduktiven Praxis Betrachten wir nun einige Beispiele aus der neueren Hirnforschung für Erklärungen des Vorliegens bzw. Nicht-Vorliegens bestimmter phänomenaler Eigenschaften, die in einem weiteren Sinne des Wortes auch als reduktiv bezeichnet werden könnten. 1. Stellen Sie sich die folgende experimentelle Situation vor: Sie sitzen vor einem Schirm, der in der Mitte einen kleinen schwarzen Punkt aufweist, und halten Ihre Augen auf diesen Punkt fixiert. Werden Ihnen seitlich davon für etwa eine zwanzigstel Sekunde Objekte (eine Tasse oder ein Löffel) gezeigt, so genügt bereits dieser kurze Augenblick, um einen visuellen Eindruck der gezeigten Objekte zu erhalten und diese adäquat zu benennen. Die Fixierung auf den Punkt und die Kürze der Darbietung stellt dabei sicher, daß sie ihre Augen nicht zu dem gezeigten Objekt wenden. Nun gibt es jedoch Personen, die zwar unauffällig reagieren, wenn ein solches Objekt auf der rechten Seite des Schirmes erscheint, aber seltsam reagieren, wenn auf der linken Schirmseite ein Gegenstand gezeigt wird. Auf die Frage, was sie sehen, antworten sie: „Nichts!" - Aufgefordert, unter dem Tisch mit der linken Hand nach einem Objekt zu greifen, das demjenigen entspreche, das gerade gezeigt wurde, finden viele dennoch das richtige Objekt, ohne es freilich benennen zu können (vgl. Rita Carter 1999, 43 f f ) .
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Dieses merkwürdige Verhalten wurde erstmals von Roger Sperry bei seinen sogenannten Split-brain-Patienten entdeckt, also bei Personen, bei denen das Corpus callosum aus medizinischen Gründen durchtrennt wurde. Ausgehend von der Annahme, daß bei gesunden Personen die beiden Hemisphären in einem regen Austausch stehen, und visuelle Informationen, die zunächst in die rechte Hemisphäre gelangen, auch den Sprachzentren zur Verfugung stehen, die sich bei Rechtshändern in der Regel in der linken Hemisphäre befinden, zog Sperry den Schluß, daß durch die Trennung der Hemisphären aus dem linken Schirmbereich keine Information mehr zum Sprachzentrum gelangen konnte. Die Benennung des dargebotenen Objektes war folglich nicht mehr möglich. Gleichzeitig zeigt das Auffinden des Objektes mit der linken Hand, die durch die rechte Hemisphäre gesteuert wird, daß visuelle Information weitergeleitet wurde, die sogar ausreichte, das gesehene Objekt zu klassifizieren, wenn auch nicht sprachlich. (Die Frage, ob das „gesehene" Objekt zwar bewußt wahrgenommen, aber nicht bezeichnet werden konnte, oder ob es gar nicht erst bewußt wahrgenommen werden konnte, ist aufgrund der vorliegenden Daten nicht eindeutig zu beantworten; es scheint jedoch, als käme es gar nicht erst zu einer bewußten Wahrnehmung.) Nun darf die hier vorliegende Erklärung durchaus auch das Etikett „reduktiv" für sich beanspruchen, wenn auch in einem erweiterten Sinn. Das höherstufige Verhalten, das in diesem Fall mißlingende Wahrnehmen (oder Benennen) gezeigter Gegenstände, wird zurückgeführt auf eine Anomalie in der Organisation des Gehirns und des damit einhergehenden Funktionsausfalls. Referiert wird auf das Fehlen einer Struktur, die offenbar nötig ist, um eine bestimmte Leistung zu garantieren. Die hier zur Debatte stehende Aufgabe hat demnach die folgende Form: (A3) Gegeben seien hinreichend ähnliche Systeme S und S* sowie deren Mikrostrukturen MS(5) und MS(S*). Systeme des Typs S haben die höherstufige Eigenschaft E, Systeme des Typs S* haben sie nicht. Erkläre unter Berücksichtigung von MS(5) und MSOS"*), warum S* E nicht hat! Erklärungen dieses Typs sind Legion im Bereich der Klinischen Neurowissenschaft. Jede Läsion, die mit einer bestimmten (psychischen oder motorischen) Ausfallerscheinung verbunden ist, fugt bei der Suche nach den zuständigen Gehirn-Arealen ein weiteres Mosaiksteinchen hinzu. Und dennoch handelt es sich bei Erklärungen dieses Typs nicht um reduktive Erklärungen im strikten Sinne: Denn aus dem bloßen Verweis auf Gehirnareale, deren Läsion zum Verlust höherstufiger Eigenschaften führt, geht nicht hervor, wie diese Areale, wenn sie intakt sind, zur Instantiierung jener Eigenschaften beitragen. Interaktionsgesetze und Kompositionsgesetze finden hier keine Anwendung. 2. Häufig wird mit dem Verstehen eines Systems auch assoziiert, daß man gezielt bestimmte Effekte auslösen kann. Auch hier kann die moderne Neuroforschung mit Ergebnissen aufwarten: Stimuliert man einen bestimmten Teil der Amygdala, so kommt es zu typischen Angstreaktionen: einem Gefühl der Panik, das mit einem Fluchtreflex kombiniert ist; stimuliert man einen anderen Teil, so berichten Versuchspersonen von einem „warmen, schwebenden Gefühl" und verhalten sich ausgesprochen freundlich - sie sind beschwichtigt. Aktivitäten in einer dritten Region der Amygdala führen zu Wutausbrüchen (vgl. Carter 1999, 90).
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Hier nun ist es offenbar gelungen, Einblick in bestimmte Auslösemechanismen zu erhalten und diese auch zu bedienen. Die entsprechende Aufgabe würde folglich lauten: (A 4) Gegeben sei System S mit der Mikrostruktur MS(5). Verändere MS(S) so, daß S die höherstufige Eigenschaft E instantiiert. Doch damit, d. h. mit dem Wissen, wie man bestimmte phänomenale Zustände auslöst, ist natürlich noch kein Wissen verbunden, was diese phänomenalen Zustände genau zu denen macht, die sie sind. Die Fähigkeit des Manipulierens impliziert nicht das Zur-VerfügungHaben reduktiver Erklärungen. Wir können sehr viele technische Geräte bedienen, ohne zu wissen, warum und wie sie funktionieren. 3. Betrachten wir abschließend noch die Möglichkeit, komplexe Emotionen zu analysieren, z. B. einen Zustand, in dem sich Freude, Schuldgefühle, Zuneigung und Gereiztheit mischen. Wir haben dafür - so weit ich weiß - kein eigenes Wort, und doch dürften Sie leicht in der Lage sein, das Vorkommen dieser Gefühlslage nachzuempfinden. Stellen Sie sich vor, sie erhalten einen Geburtstagsgruß von einem Freund, dessen Geburtstag Sie ignoriert hatten. Sie freuen sich über die Aufmerksamkeit, die Ihnen entgegengebracht wird, Ihr altes Gefühl der Zuneigung wird geweckt. Zugleich erinnern Sie sich dabei aber daran, daß Sie beschlossen hatten, wegen Ihrer hohen Arbeitsbelastung, mit der Gereiztheit verbunden war und ist, den Geburtstag des Freundes einfach zu übergehen, und so haben sie auch noch Schuldgefühle (vgl. Carter 1999, 83). Obwohl diese Analyse ganz überzeugend klingen mag, stiftet sie keine reduktive Erklärung. Statt dessen wird nur eine funktionale Einbettung angeboten, die einigermaßen verläßlich zur entsprechenden Emotion fuhren könnte. Die Erklärung, warum das Mischgefühl „Freude-Schuld-Zuneigung-Gereiztheit" aufgetreten ist, berücksichtigt lediglich andere höherstufige Eigenschaften - Gefühle, die selbst erklärungsbedürftig bleiben. Die hier zugrunde liegende Aufgabe läßt sich somit wie folgt formulieren: (A 5) Gegeben sei System S, dessen höherstufige Eigenschaften E und Gj. Erkläre unter Berücksichtigung der Gj warum S auch E hat!
Mögliche Gegensatzklassen und die Relevanz der reduktiven Erklärung Um einen besseren Zugang zu dem zu erlangen, was das philosophische Problem der phänomenalen Qualitäten ausmacht, greife ich im folgenden eine Unterscheidung auf, die ursprünglich von Bas van Fraassen im Rahmen seines pragmatischen Modells der wissenschaftlichen Erklärung eingeführt wurde, ohne mich freilich damit auf sein Modell festlegen zu wollen. In The Scientific Image skizziert van Fraassen eine Theorie der Warum-Fragen. Geht man - wie er - davon aus, daß Erklärungen in der Regel Antworten auf Warum-Fragen sind (vgl. 1980, 134), so ist entscheidend, welche Antworten von spezifischen Warum-Fragen eingefordert werden. Im Besonderen sind dabei die folgenden Faktoren bestimmend: • der Gegenstand der Frage (the topic of the question) • die Gegensatzklasse (the contrast class), d. h., die Menge von alternativen Antworten, die die Frage haben könnte und die auszuschließen sind; sowie • die explanatorische Relevanz (explanatory relevance), die die Hinsicht betrifft, in der eine Antwort gefordert wird (vgl. 1980, 141-142).
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Insbesondere das, was als explanatorisch relevant gilt, kann dabei von Kontext zu Kontext differieren: In a given context, several questions agreeing in topic but differing in contrast-class, or conversely, may conceivably differ further in what counts as explanatorily relevant. Hence we cannot properly ask what is relevant to this topic, or what is relevant to this contrast-class. Instead, we must say of a given proposition that it is or is not relevant (in this context) to the topic with respect to that contrast-class. (Ebd., 142)
Van Fraassens Einteilung eignet sich in hervorragender Weise auch zum Vergleich der verschiedenen Lösungsvorschläge, die derzeit auf dem Qualia-Markt angeboten werden. Betrachten wir dazu noch einmal die Frage nach einer reduktiven Erklärung in Bezug auf phänomenale Eigenschaften: Der Gegenstand der Frage ist die (höherstufige) phänomenale Eigenschaft (oder das Makroverhalten) des Systems: Warum hat Person P angesichts der gerade in ihr ablaufenden physiologischen Vorgänge die phänomenale Eigenschaft E — z. B. das Geschmackserlebnis einer reifen Ananas? Die Gegensatzklasse besteht aus den möglichen Alternativen: Warum hat P zu dieser Zeit nicht die phänomenale Eigenschaft E* - z. B. das Geruchserlebnis einer lange nicht geleerten Bio-Tonne? Oder: Warum ist P zu dieser Zeit nicht frei von allen phänomenalen Erlebnissen? Von explanatorischer Relevanz sind in der Qualia-Debatte allein reduktive Erklärungen. Diese sind gefordert. So sollte die Antwort natürlich nicht lauten: P hat das Geschmackserlebnis einer reifen Ananas, weil er gerade in eine reife Ananas gebissen hat. Dies wäre keine reduktive Erklärung! Gefragt ist vielmehr nach einer Antwort auf die Frage, warum das spezifische Feuern der Neurone und Ausschütten von Neurotransmittern usw., das durch einen Biß in eine reife Ananas in unserem Gehirn vonstatten geht, gerade so und nicht anders erlebt wird. Und die Antwort sollte sich auf die neurophysiologischen Vorgänge beziehen. Das ist die Aufgabe.
Das Problem der phänomenalen Eigenschaften Nachdem wir besprochen haben, wie eine reduktive Erklärung phänomenaler Eigenschaften auszusehen hätte, können wir uns nun dem philosophischen Problem zuwenden, das mit dieser Aufgabe verbunden ist. Dieses läßt sich durch die folgenden Behauptungen beschreiben: (1)
Das Problem, um das es geht, ist die Frage, ob phänomenale Erlebnisse reduktiv erklärt werden können.
(2)
Reduktive Erklärungen erfordern eine Präparierung der zu reduzierenden Eigenschaften über ihre kausalen oder funktionalen Rollen bzw. die Angabe von allgemeinen Kompositionsgesetzen.
Die zentrale Frage ist daher, ob phänomenale Eigenschaften in der für reduktive Erklärungen erforderlichen Weise funktionalisiert werden können, oder ob sie sich solchen Funktionalisierungen widersetzen. Jaegwon Kim ist in dieser Hinsicht eher skeptisch: „To get to the point without fuss, it seems to me that the felt, phenomenal qualities of our experiences, or
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qualia, are intrinsic properties if anything is." (1998, 102) Insofern Qualia also intrinsische (und das heißt für Kim: nicht-relationale) Eigenschaften sind, scheinen sie nicht zu den Entitäten zu gehören, die erfolgreich für reduktive Erklärungen präpariert werden können: Sie lassen sich nicht über kausale Rollen individuieren. Wenigstens ist es das, was auch Joseph Levine als Grund angibt: What seems to be responsible for the explanatory gap, then, is the fact that our concepts of qualitative character do not represent, at least in terms of their psychological contents, causal roles. ... Thus, to the extent that there is an element in our concept of qualitative character that is not captured by features of its causal role, to that extent it will escape the explanatory net of a physicalistic reduction. (Levine 1993, 134)
Meine Vermutung ist, daß sich genau aus diesem Grund auch keine allgemeinen Kompositionsgesetze formulieren lassen, aus denen hervorgeht, welche spezifischen phänomenalen Eigenschaften ein bestimmtes System hat; also: (3)
Phänomenale Qualitäten entziehen sich jedweder Form der erforderlichen Präparierung und es lassen sich keine allgemeinen Kompositionsgesetze formulieren, aus denen hervorgeht, welche spezifischen phänomenalen Eigenschaften ein bestimmtes System hat.
Insofern sich phänomenale Erlebnisse der erforderlichen Präparierung entziehen, fügen sie sich nicht nahtlos in die physische Welt ein: Es klafft die berühmte explanatorische Lücke und zwar nicht aus empirischen, sondern aus begrifflichen Gründen. Akzeptiert man den generellen theoretischen Rahmen (d. h., sucht man keine Zuflucht im Eliminativismus oder im Substanz-Dualismus), so stehen derzeit vor allem vier Strategien zur Verfügung: Erstens kann man die oben skizzierte Situation, d. h. die Behauptungen (l)-(3), in ihrer jetzigen Form akzeptieren und einräumen, daß die explanatorische Lücke nicht zu schließen ist. Dann vertritt man eine emergentistische Position bezüglich der phänomenalen Eigenschaften. In diesem Fall wird es allerdings schwierig, für die qualitativen Phänomene einen angemessenen Platz im Kausalgefüge der Natur zu finden (vgl. dazu Kim 1993 und 1998 sowie Stephan 1997 und 2002). Zweitens kann man die Behauptungen (1) und (2) akzeptieren, aber Behauptung (3) zurückweisen, indem man zu zeigen versucht, daß sich phänomenale Qualitäten doch adäquat über ihre funktionale Rolle präparieren und damit reduktiv erklären lassen. Dieser Weg wird u. a. von Michael Pauen (2002) im Anschluß an Austen Clark beschritten. Drittens kann man dafür argumentieren, daß phänomenale Qualitäten als Eigenschaften materieller Systeme konzipiert werden können, ohne daß sich dabei eine explanatorische Lücke auftut, obwohl man zugesteht, daß qualitative Phänomene nicht adäquat über ihre funktionale Rolle erfaßt werden können. Diesen Weg beschreiten derzeit einige der sogenannten New-Wave Materialisten, indem sie der Typen-Identitätstheorie zu einer Neuauflage verhelfen (vgl. McLaughlin, 2002). Interessanterweise stimmen die New-Wave Materialisten mit den Emergentisten darin überein, daß sie die Erklärungslücke für unvermeidlich halten, wenn man versucht, qualitative Eigenschaften reduktiv zu erklären. Beide akzeptieren demnach die Behauptungen (2) und (3). Die New-Wave Materialisten bestreiten jedoch
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Behauptung (1) und favorisieren statt dessen einen identitätstheoretischen Ansatz. Diesem wende ich mich in der Form zu, die David Papineau vertreten hat. Und schließlich kann man viertens die These vertreten, daß sich phänomenale Eigenschaften reduktiv erklären lassen, ohne daß man sie in ein funktionales Korsett zwängt. Dies scheint der Weg zu sein, den Frank Hofmann einschlägt, wenn er eine repräsentationalistische Theorie phänomenalen Bewußtseins vorschlägt. Hier wird Behauptung (2) zurückgewiesen, während (1) und (3) akzeptiert werden.
Scheiternde Lösungsversuche Ich beginne mit David Papineaus Lösungsvorschlag, der in „Mind the Gap" (1998) eine ganz schlicht erscheinende Antwort auf die Frage anbietet, weshalb es zu keinem Problem phänomenaler Qualitäten in der Philosophie des Geistes kommt: „Ich denke, daß der Physikalismus überhaupt keine Probleme mit der Erklärung dafür hat, warum bewußte Zustände mit Gehirnzuständen einhergehen. Mein Hauptgrund dafür ist, daß der Physikalismus am besten als eine These über die Identität von bewußten und materiellen Eigenschaften aufzufassen ist und daß Identitätsbehauptungen keine Erklärung benötigen." (1998, 373; 2002, 222) Und die Identitätsthese sollte dann vertreten werden, wenn die Korrelationsthese, derzufolge jedem Typ eines sensorischen Zustandes ein Typ eines physischen oder funktionalen Zustandes eineindeutig mit nomologischer Notwendigkeit zugeordnet ist, empirische Bestätigung findet. Denn dann biete die Typen-Identitätstheorie die beste Erklärung für das Bestehen jener Korrelationsthese (vgl. McLaughlin 2002, 208 f.). Auf die Frage: „Warum hat Person P angesichts der gerade in ihr ablaufenden physiologischen Vorgänge die phänomenale Eigenschaft E — z. B. das Geschmackserlebnis einer reifen Ananas?" antwortet Papineau folglich: „Weil das Instantiieren jener physiologischen Vorgänge mit dem Haben des Geschmackserlebnisses einer reifen Ananas identisch ist." Sind Sie zufrieden? Die Frage nach den Gegensatzklassen, also nach der Frage, warum gerade dieses und kein anderes Geschmackserlebnis mit jenen neurophysiologischen Vorgängen einhergeht, glaubt Papineau gekonnt zur Seite schieben zu können. Wenn bewußte mentale Eigenschaften mit materiellen Eigenschaften identisch sind, dann gebe es nichts weiter zu erklären: Es gibt kein Rätsel hinsichtlich der Frage, weshalb materielle Eigenschaften bewußte Eigenschaften ,hervorbringen'. Das ist so, weil Identitäten keiner Erklärung bedürfen. Wenn die ,zwei' Eigenschaften in Wirklichkeit eine sind, dann ist es nicht so, daß die materielle Eigenschaft die bewußte Eigenschaft hervorbringt' - sie ist die bewußte Eigenschaft. Und wenn sie es ist, dann gibt es kein Rätsel, warum sie ist, was sie ist (2002, 231).
Natürlich wäre es unsinnig, nach den Gründen für eine Identität fragen zu wollen. Handelt es sich bei einer Entität, die uns als zweierlei „Ding" erscheint, de facto nur um eins, so gibt es in der Tat für ihr „Eins-Sein" keinen Grund zu nennen. Das ist aber gar nicht die zur Debatte stehende Frage. Levine hat in seinem legendären „Explanatory gap"-Artikel (1983) doch nicht gefragt, warum Schmerzen mit dem Feuern von C-Fasern identisch sind, wenn sie miteinander identisch sind, sondern warum sich das Feuern der C-Fasern so anfühlt, wie es sich anfühlt, während sich das Feuern anderer Neuronenverbände ganz anders anfühlt, bzw. warum es sich überhaupt irgendwie anfühlt, während sich das Feuern anderer Neuro-
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nenverbände nicht irgendwie anfühlt. Das stand und steht zur Debatte, und darauf jedenfalls bleibt uns Papineau eine Antwort schuldig. Betrachten wir nun Versuche, Behauptung (3) zurückzuweisen. Diesen Vorschlägen ist gemeinsam, daß sie ein neues Angebot für eine vollständige funktionale Charakterisierung phänomenaler Eigenschaften unterbreiten. Entscheidend ist dafür, daß es zu einer Veränderung unserer bisherigen Begriffe phänomenaler Eigenschaften kommt. Austen Clark hat in seinem Artikel „I am Joe's Explanatory Gap" (1994) an einem auf John Locke zurückgehenden Beispiel gezeigt, wie stark begriffliche Veränderungen die Möglichkeit reduktiver Erklärungen beeinflussen können. So war es für John Locke noch außerordentlich schwer zu verstehen, was die Makroeigenschaften von Wasser realisiere (vgl. 1690, bk II, ch XXIII, 26): „Locke thought there was an explanatory gap both for sensations and for water. He thought it was just as difficult to explain how particles cohere as to explain how particles produce a sensation of yellow" (1994, 8).Die Fortschritte, die in den dazwischenliegenden Jahrhunderten bezüglich der reduktiven Erklärung der Eigenschaften von Wasser erzielt worden seien, könnten jedoch nicht ausschließlich den Theorieentwicklungen in den Naturwissenschaften zugeschrieben werden; zugleich habe sich nämlich unser Begriff von Wasser entscheidend verändert. Und erst diese Veränderung habe eine vollständige reduktive Erklärung der Makroeigenschaften von Wasser ermöglicht. Erst nachdem man aufhörte, Wasser als eine elementare Substanz aufzufassen, und den „Substanz"-Begriff so änderte, daß es möglich wurde, Wasser, Eis und Wasserdampf als ein und dieselbe „Substanz" aufzufassen, wurden die entsprechenden reduktiven Erklärungen möglich. In seinem kürzlich erschienenen Aufsatz „Invertierte Schmerzen" (2002) greift Michael Pauen diese Idee auf und versucht u. a. am Beispiel von Furchtzuständen deutlich zu machen, wie sich unser Begriff von Furcht so verändern könnte, daß in der Folge Furchterlebnisse adäquat in funktionalen Beschreibungen erfaßt und damit reduktiv erklärt werden könnten. Als positives Beispiel dienen ihm evolutionspsychologische Modelle der Emotionen wie das von Robert Plutchik (vgl. 1993), die die bereits vorhandenen funktionalen Implikationen unseres Alltagsbegriffs der Furcht weitgehend bestätigen und weiter konkretisieren. Pauen verweist hier insbesondere auf die Erhöhung von Puls, Blutdruck und der Atemfrequenz (2002, 289). Entscheidend ist nun für Pauen, daß die entsprechenden körperlichen Reaktionen nicht einfach nur lose mit Furchtzuständen oder ihren phänomenalen Eigenschaften assoziiert sind, sondern als konstitutive Bestandteile dieser Zustände betrachtet werden können. So spreche einiges dafür, daß Herzpochen nicht einfach nur in einem kontingenten Zusammenhang mit der davon unabhängigen phänomenalen Qualität steht, vielmehr handelt es sich offenbar um einen direkten Bestandteil der phänomenalen Erfahrung selbst. Die phänomenale Qualität eines Furchtzustandes ändert sich also unmittelbar dadurch, daß das Herz mehr oder weniger stark pocht, daß die Fluchttendenz mehr oder minder groß ist oder aber die eigenen Gedanken mehr oder minder stark darauf konzentriert sind, einen Ausweg aus der Situation zu finden. (2002, 289)
Nun bestreite ich nicht, daß man die mit einem emotionalen Zustand verbundenen physiologischen Zustände als konstitutive Bestandteile dieser Zustände ansehen kann. Ebensowenig will ich bestreiten, daß man das phänomenale Erleben eines pochenden oder rasenden Herzens als einen konstitutiven Bestandteil des phänomenal erlebten Furchtzustandes ansehen kann. Was ich allerdings bestreite, ist, daß man den physiologischen Zustand eines pochen-
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den Herzens als einen konstitutiven Bestandteil des phänomenal erlebten Furchtzustandes ansehen kann. Aber selbst wenn es einen Grund für diese Annahme gäbe, folgte daraus nicht, daß eine Erklärung der funktionalen Implikationen eines Furchtzustandes eine reduktive Erklärung der mit ihm einhergehenden phänomenalen Qualitäten überflüssig macht. Vielleicht sehen Sie die Analogie zu dem anfangs diskutierten Beispiel des Mischgefühls aus Freude, Schuldgefühl, Zuneigung und Gereiztheit. Selbst wenn es so sein sollte, daß eine Furchtempfindung nichts weiter wäre als eine Mischung verschiedenster Körpersensationen, so ginge mit dieser Analyse keine reduktive Erklärung einher. Denn dann bedürften die phänomenalen Erlebnisse, die mit einem stark pochenden Herzen und mit Schweißausbrüchen einhergehen, einer reduktiven Erklärung. Diese müßten ihrerseits über ihre funktionale oder kausale Rolle adäquat charakterisiert werden. Doch läßt sich dadurch festlegen, wie sich ein stark pochendes Herz aus der Perspektive der ersten Person anfühlt? Ob es sich im Zustand der Furcht genau so anfühlt wie im Zustand freudiger Erregung? Oder wie nach einem anstrengenden Dauerlauf? Muß es sich so anfühlen, wenn die entsprechenden neurophysiologischen Vorgänge stattfinden? Mir scheint, als würde man beim angestrebten Versuch der reduktiven Erklärung phänomenaler Eigenschaften vor einem ähnlichen Problem stehen wie die semantischen Physikalisten und Behavioristen, als sie Mitte des letzten Jahrhunderts versuchten, mentales Vokabular durch ausschließlich physikalisches Vokabular zu ersetzen. Sicher, es mag gelingen, phänomenale Konstituenten eines Furchtgefühls herauszuarbeiten. Diese selbst bleiben jedoch weiterhin erklärungsbedürftig. Ich sehe nicht, wie die basalen Konstituenten wie die der Empfindung eines klopfenden Herzens in eine funktionale Analyse unserer Alltagsbegriffe phänomenaler Zustände sollten Eingang finden können. Abschließend gehe ich noch kurz auf einen Vorschlag ein, den Frank Hofmann in seinem eindrucksvollen Buch Natur und Begriff des Bewußtseins unterbreitet hat: nämlich These (2) zu verwerfen und phänomenale Eigenschaften auf modifizierte Weise reduktiv zu erklären. Nachdem er - contra Kim und Levine - dafür argumentiert hat, daß der erste Schritt auf dem Weg zu einer reduktiven Erklärung nicht immer eine begriffliche Funktionalisierung sein muß, sondern daß es nur darauf ankommt, die zentralen Merkmale des Phänomens adäquat zu charakterisieren (2002, 216; vgl. dazu auch Tye 1995), schlägt Hofmann selbst das folgende modifizierte Schema der reduktiven Erklärung von phänomenalem Bewußtsein vor (2002, 220): 1. Schritt: Benennung der zentralen Merkmale (1) Phänomenale Zustände sind die Zustände mit y (dazu gehören vermutlich: introspektive Zugänglichkeit, Subjektivität, Transparenz, phänomenale Beziehungen (Qualia-Räume), kausale Wirksamkeit, einzelne Korrelationsbeziehungen u. a.) 2. Schritt: Nachweis der zentralen Merkmale beim Explanans (2) Repräsentationale Zustände der Art B sind die Zustände mit \|/.
3. Schlußfolgerung: Identitätsaussage (3) Phänomenale Zustände = repräsentationale Zustände der Art B.
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Einmal angenommen, das modifizierte Schema läßt sich gut begründen, d. h. repräsentationale Zustände der Art B haben tatsächlich alle zentralen Merkmale phänomenaler Zustände, haben wir damit eine reduktive Erklärung phänomenaler Eigenschaften gewonnen? Nicht in dem von mir eingeführten Sinne. Denn die repräsentationalen Eigenschaften sind selbst höherstufige Eigenschaften, sie gehören derselben Ebene an w i e die reduktiv zu erklärende Eigenschaft. Hier wird folglich die explanatorische Relevanzbedingung verletzt, die mit der Forderung nach einer reduktiven Erklärung verbunden war, nämlich eine Erklärung anzubieten, die sich auf das Verhalten und die Eigenschaften der Bestandteile des Systems bezieht und daraus das Vorliegen der höherstufigen Eigenschaft herleitet. Daß dies im Falle phänomenaler Eigenschaften nicht gelingen dürfte, macht allerdings auch Hofmann in seiner Kritik des neurobiologischen Internalismus deutlich (vgl. 2002, 8 2 - 9 1 ) . Fazit: Warum-Fragen, die das Spezifische phänomenaler Eigenschaften thematisieren, bleiben weiter ohne Antwort. Sie markieren die Grenzen des reduktiv Erklärbaren.
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ACHIM STEPHAN
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HOLM TETENS
Das Mentale in naturalistischer Perspektive und die Grenzen unseres Wissens
In der Philosophie des Geistes dominiert heute die naturalistische Perspektive auf das Mentale. Dem Naturalismus wird immer wieder vorgeworfen, sich unkritisch einer vermeintlichen, in Wahrheit jedoch falsch verstandenen Objektivität 1 der Naturwissenschaften zu unterwerfen. Diesen Vorwurf halte ich für ungerechtfertigt. Kritisieren sollte man die Naturalisten nicht dafür, die Naturwissenschaften zu ernst zu nehmen, sondern umgekehrt dafür, sie nicht ernst genug zu nehmen. Denn: Im Mittelpunkt der Naturwissenschaft vom Mentalen steht die Erforschung des Gehirns. Über das Gehirn wissen wir immer mehr. Je mehr wir über das Gehirn wissen, desto erkennbarer wird allerdings auch, wie schwierig es ist, etwas über das Gehirn zu wissen, und wie wahrscheinlich es ist, dass wir gewisse relevante Dinge niemals über das Gehirn wissen werden. Das Wissen über das Gehirn ist zugleich ein Wissen über vermutlich unübersteigbare Grenzen unseres Wissens vom Gehirn. Es ist eigentümlich und verblüffend, wie wenig sich dieses Wissensbegrenzungswissen bei den Philosophen des Geistes herumgesprochen hat. Zwar könnte man zunächst den gegenteiligen Eindruck gewinnen, denn die Zahl derjenigen Philosophen wächst an, die behaupten, niemals würden wir verstehen und erklären können, „wie der Geist in die Materie kommt" 2 . Diese These lebt allerdings im wesentlichen davon, dass die Philosophen Erklärungsstandards einfordern, die sehr viel mit metascience of science fiction und sehr wenig mit realer Wissenschaft zu tun haben. Wer die Meßlatte für wissenschaftliche Erklärungen nur hoch genug hängt, kann immer den Eindruck erwecken, zwischen dem, wie erklärt werden müßte, und dem, wie die Wissenschaften oder die Philosophie tatsächlich etwas erklären, klaffe ein unüberwindbarer Abgrund. Jedenfalls hat die von vielen Philosophen beschworene Erklärungslücke zwischen der physischen Welt und dem Mentalen erstaunlich wenig mit den Grenzen zu tun, mit denen sich die Hirnforscher selber tagtäglich herumplagen. Dabei lohnt es sich, die Debatte in der Philosophie des Geistes einmal im Lichte dieser empirischen Grenzen unseres Wissens über das Gehirn zu kommentieren. Genau das soll im folgenden geschehen
2
Vgl. zum Beispiel Franz von Kutschera, Die falsche Objektivität, Berlin/New York: 1993. Vgl. Collin McGinn, Wie kommt der Geist in die Materie? Das Rätsel des Bewußtseins, 2001.
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1. Zur Methodologie der Naturwissenschaften vom Mentalen und der Streit der Philosophen des Geistes Die Philosophie des Geistes wirkt erschöpft. Alle möglichen Spielarten des Dualismus, des psycho-physischen Parallelismus, des Epiphänomenalismus, des reduktiven oder nichtreduktiven Materialismus, um nur an die Hauptauffassungen schlagwortartig zu erinnern, sind unter den ständigen Einwänden der jeweiligen Gegenpositionen unzählige Male hin und her gewendet worden. Natürlich, umsonst war das nicht. Wie fast immer in der Philosophie ist auch in der Philosophie des Geistes unser Wissen um begrifflich kohärente inferentielle Zusammenhänge zum Teil enorm angewachsen. Jeder kann heute besser als noch vor zwanzig Jahren wissen, welche Voraussetzungen und welche Konsequenzen er in Kauf nehmen muß, will er eine bestimmte These in der Philosophie des Geistes kohärent mit Argumenten stützen. Trotzdem: Einig sind sich die Philosophen des Geistes weniger denn je. Bei aller theoretischen Phantasie, die Philosophen aufzubieten wissen, um ein Problem selbst noch mit den ungewöhnlichsten Thesen zu lösen, irgendwann gehen sogar den Philosophen die Ideen aus. Der logische Raum überhaupt denkbarer Positionen ist irgendwann ausgeschöpft. Die Philosophie des Geistes scheint mir an diesem Punkt angekommen zu sein. Ihr Vorrat an wirklich neuen Ideen scheint endgültig zur Neige gegangen zu sein. Freilich, immer kann ein Philosoph des Geistes noch mit einer Subtilität überraschen. Die eine oder andere Position läßt sich immer noch ein Stück raffinierter begründen oder kritisieren. Logisch zwingend läßt sich dem Philosophieren kein Ende setzen. Aber wer sich von der Rhetorik des offiziellen Philosophiebetriebs nicht blenden läßt, wird nicht übersehen können, wie sehr sich inzwischen die Thesen und Argumente in der Philosophie des Geistes wiederholen und im Kreise drehen. Gerade in solchen Phasen scholastischer Stagnation schielen Philosophen gerne neidisch nach den fortschrittsverwöhnten Naturwissenschaften. Wenn sich die Philosophie nur an die Fersen der Naturwissenschaften heftet, wird sie dann nicht von der Fortschrittsdynamik der Naturwissenschaften mitgerissen? Das glauben vor allem die Naturalisten unter den Philosophen des Geistes und erhoffen sich Wunder von den Naturwissenschaften vom Mentalen. Doch worauf warten die Philosophen des Geistes eigentlich? Was erträumen sie sich von denjenigen Naturwissenschaften, die sich des Themas Geist und Bewußtsein angenommen haben? Mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschen vor allem die Neurobiologie, die Neuroinformatik, die Psychologie, die Künstliche Intelligenz menschliches Verhalten und Erleben. Wie jede empirische Wissenschaft sind auch diese Naturwissenschaften vom Mentalen mit einer Fülle empirischer Daten konfrontiert, die sie teilweise vorfinden, vor allem jedoch mehr oder weniger mühsam selber erheben. Es sind in erster Linie vier Arten von Daten, denen die Naturwissenschaften vom Mentalen gerecht werden müssen: 1. neurophysiologische Daten und die aus dem übrigen Organismus stammenden physiologischen Daten; 2. physikalisch beschreibbare Daten aus der Umwelt eines menschlichen Organismus; 3. das von außen beobachtbare Verhalten von Menschen; darunter fallen auch die verschiedenen Arten symbolischer Interaktionen zwischen Personen, insbesondere die zwischen Personen
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ausgetauschte Rede, darunter die Instruktionen der Forscher an ihre Versuchspersonen während neurobiologischer oder psychologischer Experimente; 4. die „introspektiven" Berichte einer Person über die ihr bewußten eigenen mentalen Zustände.
Diese Daten treten nicht isoliert voneinander auf. Unzweifelhaft hängen sie miteinander zusammen. Die Daten realisieren eine dynamische Struktur, über die sie miteinander zusammenhängen. Und es ist die wichtigste Aufgabe der Naturwissenschaft vom Mentalen, diese Struktur zwischen den Daten aufzudecken. In der Regel beschreiben Naturwissenschaften durch ein theoretisches, mehr oder weniger abstraktes, oftmals rein mathematisches Modell die Struktur, von der sie glauben, dass sie den Phänomenen und deren Veränderungen in einem Wirklichkeitsausschnitt zugrunde liegt. Diese Struktur kann dabei durchaus auch unbeobachtbare Komponenten, ja sogar solche umfassen, bei denen alle Analogien zu den uns vertrauten, anschaulichen Dingen des Alltags versagen. Seit der Quantenmechanik haben wir uns auf diese Möglichkeit eingestellt. Letztlich ist für die Wahl des theoretischen Modells allein ausschlaggebend, ob die Daten so in das Modell der Struktur eingefügt werden können, dass 1. auf einmal mit Hilfe des Strukturmodells von Daten auf Daten geschlossen werden kann, wie es ohne das Modell nicht möglich wäre, und 2. sich die erschlossenen Daten dann auch tatsächlich beobachten lassen.
Das theoretische Modell sollte empirisch adäquat sein. Ganz aus dem Häuschen geraten die Forscher, wenn sie sich mit Hilfe des Modells Daten erschließen, an die vorher noch nie jemand gedacht hatte, und das Experiment diese Voraussage wahr macht. Und natürlich legen es die Forscher von Anfang an darauf an, die im Modell sichtbar werdenden inferentiellen Abhängigkeiten zwischen Daten technisch zu nutzen. Wenn das Modell erlaubt, vom Datum D auf das Datum D* zu schließen, sehen sich die Forscher glänzend bestätigt, sobald es ihnen gelungen ist, D* herbeizufuhren, indem sie D herstellen. Wenn es wirklich perfekt in den empirischen Wissenschaften vom Mentalen liefe, dann müßten wir eines Tages über ein logisch durchsichtiges und möglichst einfach zu handhabendes Modell einer Struktur verfugen, in die sich die vier oben erwähnten Arten von Daten so empirisch adäquat einbetten lassen, dass diese Daten maximal dicht inferentiell miteinander vernetzt sind3. Es müßte insbesondere möglich sein, aus neurophysiologischen Daten und Daten aus der Umwelt eines menschlichen Organismus empirisch adäquat darauf zu schließen, was die entsprechende Person tut oder was sie erlebt, oder auch umgekehrt aus Verhaltensbeobachtungen und introspektiven Erlebnisberichten auf das zu schließen, was sich im Gehirn und im übrigen Organismus abspielt. Mehr jedoch als empirisch adäquate und außerdem technisch anwendbare Schlüsse vom Verhalten und Erleben auf physiologische Prozesse und umgekehrt, mehr also als empirisch wahre psycho-physische Korrelationsbehauptungen ist beim besten Willen von einer naturwissenschaftlichen Erforschung des Mentalen nicht zu erwarten.
Das bedeutet: Sind D und D' solche Daten, dann würde man stets weitere Daten Di,..., Dn finden, so dass gilt: Da D und Di,..., D„ und da diesen Daten die Struktur S zugrunde liegt, folgt daraus D'.
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Sind solche Korrelationen Wasser auf die Mühlen der Dualisten, der Parallelisten, der Epiphänomenalisten oder der Materialisten? Nun, jeder der Kontrahenten dürfte sich hüten, solche Korrelationsbehauptungen in Zweifel zu ziehen, so weit reicht die Autorität der empirischen Wissenschaften inzwischen allemal. Ansonsten wird jeder Dualist, Parallelist, Epiphänomenalist und Materialist diese Korrelationsbehauptungen jeweils für sich gut schreiben. Der Dualist wird und kann sie deuten als empirische Belege für seine These, dass das Mentale und das Physische kausal miteinander wechselwirken. Der psycho-physische Parallelist wird sie gerade nicht kausal lesen; für ihn beschreiben sie nur, welche physischen Zustände mit welchen mentalen Zuständen gleichzeitig oder auch nacheinander auftreten, ohne dass sie direkt kausal aufeinander einwirken. Ein Materialist wiederum kann sie als empirische Belege dafür heranziehen, welche mentalen Zustände sich mit welchen physischen Zuständen identifizieren lassen oder über welche physischen Zustände die mentalen supervenieren. Die Korrelationsbehauptungen lassen sich deshalb mit den verschiedenen Positionen in der Philosophie des Geistes vereinbaren, weil die Philosophen mit Begriffen wie Ursache/Wirkung, Identität, Reduktion, Supervenienz und anderen arbeiten und sie jeweils auf unterschiedliche Weise auffassen. Die Wissenschaften können ihnen dabei nicht helfen. Nehmen wir nur den Begriff der Kausalität. Zwar reden auch Wissenschaftler oft von „Ursache" und „Wirkung", wie wir alle es tun. Aber wenn man auf eine genauere Explikation drängt, wird man die unterschiedlichsten Antworten von Wissenschaftlern hören und viele werden zugeben, dass sie gar nicht präzisieren können, was genau sie mit den Ausdrücken „Ursache" und „Wirkung" meinen. Im Zweifelsfall werden die Wissenschaftler einer Diskussion mit Philosophen über den Kausalitätsbegriff einfach aus dem Wege gehen. Sie verzichten lieber auf das kausale Vokabular. Ein solcher Verzicht tut ihnen nicht weh. Man kann wissenschaftliche Theorien ganz offensichtlich ohne die Begriffe „Ursache" und „Wirkung" gut verstehen, sogar so gut, dass man wissenschaftliche Theorien ohne diese Begriffe aufstellen kann. (Ich habe ja selber gerade angedeutet, wie man die wissenschaftliche Forschung beschreiben kann, ohne solche philosophischen Begriffe wie „Ursache/Wirkung" und andere in den Mund zu nehmen.) Zu wenigen Philosophen kommen Zweifel, ob sie nicht Begriffe, Konzepte und Anforderungen an die Wissenschaft herantragen, die dort nichts zu suchen haben. Um ein weiteres wichtiges Beispiel aus der Philosophie des Geistes zu nennen: Ist es mehr als nur mit notorisch unklaren Begriffen formulierte metascience of science fiction, wenn Philosophen von einer wissenschaftlichen Erklärung auf einmal verlangen, es dürfe keine „mögliche Welt" „vorstellbar" sein, in der das Explanans ohne das Explanandum auftritt? Wo außer in philosophischen Seminaren zur Modallogik wird so etwas sonst in der Wissenschaft von einer Erklärung verlangt? Der Streit der Philosophen des Geistes lebt in nicht unbeträchtlichem Ausmaß vom exzessiven Gebrauch solcher Begriffe wie „Ursache", „Wirkung", „mögliche Welt", „vorstellbar", während die Naturwissenschaften vom Mentalen auf diese Begriffe gar nicht angewiesen sind und mit den psycho-physischen Korrelationsbehauptungen lediglich Ergebnisse beisteuern, die sich zu den kontroversen Positionen in der Philosophie des Geistes neutral verhalten.
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Der daraus zu ziehende Schluß liegt auf der Hand: Die Naturwissenschaften vom Mentalen werden niemals mit empirischen Entdeckungen aufwarten können, durch die der Streit der Philosophen des Geistes definitiv entschieden werden könnte. Deshalb werden Durchbrüche in den Naturwissenschaften vom Mentalen keiner der vielen mehr oder weniger subtil ausgearbeiteten und dialektisch raffiniert verteidigten Positionen in der Philosophie des Geistes zum endgültigen Sieg verhelfen. Diejenigen Philosophen des Geistes, die gespannt auf das entscheidende Resultat aus den Naturwissenschaften vom Mentalen warten, warten vergeblich.
2. Von Grenzen bei der Erforschung des Gehirns Verliefe die naturwissenschaftliche Erforschung des Mentalen optimal, dann würden sie uns auf der Basis eines einheitlichen, mathematisch und logisch durchsichtigen Modells einer Struktur mit einem inferentiell ganz dicht und lückenlos gewobenen Netz von psychophysischen Korrelationen versorgen. Aber wie gut läuft es denn in den Naturwissenschaften vom Mentalen? Nun, das Netz der psycho-physischen Korrelationen ist sehr sehr grobmaschig gestrickt und ist mit sehr vielen und zum Teil erheblichen Löchern durchsetzt. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Ich leugne nicht, dass die Naturwissenschaften vom Mentalen enorm viel wissen; ich leugne nicht, dass vor allem das Wissen über das Gehirn beeindruckend fortgeschritten ist und auch in Zukunft weiter fortschreiten dürfte. Trotzdem, wo ist ein mathematisch und logisch transparentes, einheitliches Modell für eine Struktur, durch die den unzähligen Beobachtungsdaten und empirisch vermuteten Gesetzmäßigkeiten ein inferentiell wirklich dichter Zusammenhang verschafft würde? Man denke nur einmal an diesen Vortrag. Was spielt sich jetzt in meinem Gehirn ab? Was führt in meinem Gehirn dazu, dass ich das sage, was ich jetzt sage, wie schnell ich es sage, wie laut ich es sage, mit welchem Gesichtsausdruck ich es sage, wann ich von meinem Manuskript aufblicke und vieles, vieles mehr. Die Himforschung scheint Lichtjahre von Antworten entfernt zu sein. Wolf Singer bemerkte kürzlich, die Hirnforschung wäre schon zufrieden, könnte sie auch nur halbwegs nachvollziehen, wie es ein Katzenhirn fertigbringt, eine streunende Katze in Frankfurt überleben zu lassen. Wir haben viele, viele Daten und viele Gesetzeshypothesen kleiner bis kleinster Reichweite über das Gehirn, die jeweils zu sehr beschränkten Teilklassen von Daten einigermaßen passen. Aber wir haben nicht wirklich die Theorie des Gehirns. Lassen Sie mich das an einem wissenschaftshistorischen Vergleich verdeutlichen. Zwischen 1900 und 1926/27 schwoll in der Physik die Zahl experimenteller Befunde gewaltig an, die sich auf keinen Fall mit der klassischen Physik erklären ließen. Zugleich wurden immer mehr empirisch gut bestätigte Regeln und Gesetzmäßigkeiten entdeckt. Aber alle diese Regeln und Gesetzmäßigkeiten erwiesen sich stets nur von begrenzter Reichweite. Es wurden alle möglichen Modelle vorgeschlagen. Auch sie erklärten nur bestimmte Daten oder sagten sie erfolgreich voraus, während sie bei anderen Daten jämmerlich versagten. Was fehlte, war ein mathematisch und logisch durchsichtiges Modell für eine Struktur, die möglichst viele dieser Daten empirisch adäquat inferentiell vernetzte. In dieser Hinsicht scheint die Erforschung des Gehirns und seiner Funktionen gegenwärtig in einer ganz ähnli-
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chen Lage zu sein wie die Erforschung des Atoms und seiner Bausteine in den Jahren zwischen 1900 und 1926/27. Nun hat die Physik in Gestalt der Quantenmechanik den Ausweg aus der Unübersichtlichkeit der vielen Daten gefunden. Dürfen wir nicht ebenso erwartungsfroh in einer nicht allzu fernen Zukunft mit der „großen vereinheitlichten" Theorie des Gehirns rechnen? Natürlich kann niemand sicher wissen, was wir in Zukunft wissen und nicht wissen werden. Aber es türmen sich doch enorme Schwierigkeiten auf, die einer solchen Theorie des Gehirns entgegenstehen. Zunächst einmal: Gesucht wird ein mathematisch und logisch durchsichtiges Modell der Struktur, die den Gehirnprozessen und ihren funktionellen Leistungen zugrunde liegt. Wie könnte ein solches Modell überhaupt aussehen? Naheliegend ist der folgende Ansatz: Das Gehirn erscheint in der Beobachterperspektive der Wissenschaften als ein System, das Umweltsignale, die an den sensorischen Oberflächen eines menschlichen Organismus eintreffen, einerseits in beobachtbares Verhalten, andererseits in bewußtes Erleben, von denen uns Personen „introspektiv" berichten, transformiert. „Introspektiv" von den eigenen Erlebnissen zu berichten, ist dabei selber ein beobachtbares Verhalten, welches das Gehirn produziert. Die Wissenschaft hätte zumindest durchschaut und verstanden, wie das Gehirn sensorischen Input in beobachtbaren Verhaltensoutput transformiert, gelängen ihr die folgenden drei Schritte: 1. Sie müßte den strukturellen und funktionellen Aufbau des Gehirns hinreichend genau beschreiben. 2. Sie müßte den oder die Algorithmen analysieren, nach denen das Gehirn sensorische Reize in Verhalten umsetzt. 3. Schließlich müßte sich der strukturelle und funktionelle Aufbau des Gehirns am besten damit erklärt lassen, dass im Gehirn die entsprechenden Algorithmen implementiert sind.
Gegenwärtige kennt die Gehirnforschung den oder die Algorithmen nicht wirklich, mit denen das Gehirn arbeitet und für deren Implementation das Gehirn strukturell und funktionell möglicherweise optimal ausgestattet ist. Was heißt es, die vom Gehirn ausgeführten Algorithmen zu kennen? Am häufigsten begegnen uns Algorithmen in Gestalt eines Computerprogramms, das in einer geeigneten höheren Programmiersprache niedergeschrieben ist und deshalb auf einem Computer implementiert und getestet werden kann. Längst haben die Forscher angesichts ziemlich deprimierender Ergebnisse in der Künstlichen Intelligenz die Vorstellung preisgegeben, der oder die Algorithmen des Gehirns ließen sich als Programm in einer der höheren Programmiersprachen darstellen. Selbst wenn so etwas prinzipiell logisch möglich wäre, so wäre es doch praktisch unmöglich. Es wäre viel zu kompliziert, viel zu lang, es ließe sich nicht überschauen, bloße Darstellungsfehler ließen sich durch Tests kaum identifizieren und eliminieren und vieles mehr. Man favorisiert inzwischen andere Modelle, einen Algorithmus darzustellen und zu handhaben, vor allem das Konzept der neuronalen Netze und, noch etwas anders, das der zellulären Automaten. Bei einem neuronalen Netz schreibt man kein Programm mehr hin. Man beschreibt nur die vergleichsweise primitive Funktionsweise eines Neurons, also der basalen Schaltelemente eines solchen Netzes, beschreibt weiter die Topologie ihrer Vernet-
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zung und eine Lernregel, wie sich die Gewichte der Verbindungen zwischen den Schaltelementen verändern, falls das Netz eine Input-Output-Aufgabe gestellt bekommt und dabei zunächst Fehler macht. Man läßt das neuronale Netz eine Trainingsphase durchlaufen, bis es die ihm gestellte Aufgabe schließlich erfolgreich löst. Alle bisher beschriebenen Schritte können die Forscher in vielen Fällen ohne weiteres bewältigen, während sie scheitern würden, wollten sie den Algorithmus als rekursive Funktion in der Sprache der Mathematik oder als Programm in einer der höheren Programmiersprachen hinschreiben. Trotzdem folgt mathematisch, dass das neuronale Netz algorithmisch agiert. Noch haben wir, wie gesagt, keine auch nur annähernd befriedigenden theoretischen Modelle für die Algorithmen des Gehirns. Warum ist das im Fall des Gehirns so schwierig? Das theoretische Modell des Algorithmus, nach welchem ein System wie das Gehirn operiert, muß unter anderem zwei Forderungen erfüllen, die an jedes theoretische Modell zu richten sind: 1. Das M o d e l l muß sich in verschiedenen Hinsichten entschieden leichter handhaben lassen als das modellierte System selber; zum Beispiel muß sich ein bestimmtes Systemverhalten einfacher und schneller im M o d e l l simulieren lassen, als es im modellierten System selber ablaufen zu lassen. 2. Das M o d e l l muß sich mit seinen Voraussagen am modellierten System testen lassen.
Schon diesen beiden Forderungen scheint das Gehirn auf vertrackte Weise zu durchkreuzen. Das Gehirn hat nämlich einen Schwindel erregend komplizierten Aufbau und es ist ein hypersensitives, nicht-lineares dynamisches System. Den komplizierten Aufbau macht bereits eine einzige Zahl schlagend deutlich. Das Gehirn besteht aus ungefähr 1012 Neuronen. Jedes Neuron ist verschaltet mit mindestens 103 anderen Neuronen. Mindestens 1015 Informationen sind vonnöten, um den Schaltplan eines Gehirns vollständig zu beschreiben. Jedes theoretische Modell für den oder die Algorithmen des Gehirns muß mit drastisch weniger, also um viele Zehnerpotenzen verringerten Informationen auskommen, sonst läßt es sich mit Sicherheit nicht handhaben. Aber es ist alles andere als klar, ob ein informationell derart reduziertes Modell des Gehirns dessen Verhalten auch nur annähernd richtig simuliert. In jedem Falle muß sich das Gehirn hinreichend genau beobachten lassen, um ein theoretisches Modell seiner Algorithmen aufstellen und es anschließend testen zu können. Aber die Beobachtung des Gehirns, sie ist eine Achillesferse der Hirnforschung, und sie ist es deshalb, weil das Gehirn einerseits so komplex ist, andererseits sich so hypersenitiv und nicht-linear verhält. Wollte man zum Beispiel wissen, wie mein Gehirn es zustande bringt, dass ich jetzt gerade diesen Vortrag halte, müßten man mein Gehirn in jeder relevanten Hinsicht gleichzeitig beobachten können. Das ist unmöglich. Die Verfahren, die wir gegenwärtig kennen, um dem Gehirn dabei zuzuschauen, wie es physiologisch agiert, verunmöglichen es der betreffenden Testperson, sich noch halbwegs komplex zu verhalten, eben zum Beispiel einen Vortrag zu halten. Alle Verfahren, Gehirne zu beobachten, ohne sie dabei irreparabel zu verletzen, die Hirnforscher sprechen von „nicht-invasiven" Verfahren, lassen sich nur unter Laborbedingungen anwenden, die die Textperson massiv in ihren Verhaltensmöglichkeiten beschränken. Über eines der technisch am weitesten fortgeschritten Verfahren, die sogenannte funktionelle Kernspin-Resonanz-Topographie heißt es in dem neuen Buch von Max Urchs zur
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Kognitionswissenschaft: „Die Untersuchung ist für die Testperson, die (für auswertbare Ergebnisse) in einer engen Röhre auch noch fixiert werden muß, unangenehm; das Gerät lärmt wie ein laufender Traktor und liefert nur wenige Bilder pro Sekunde, über deren detaillierter Interpretation unter den Fachleuten nur selten Einmütigkeit herrscht."4 Außerdem sind die Daten, die diese Verfahren liefern, so ungenau, dass das schon zitierte Buch zu folgender drastischer Analogie greift: „Die technischen Mittel sind für detaillierte Untersuchungen einfach noch nicht ,feinkörnig' genug. Man stelle sich einen Touristikunternehmer vor, der einen Ausflug in den Harz mit Brockenbesteigung und Stadtbesichtigung in Wernigerode anhand einer Europakarte vorbereitet - die Unangemessenheit der kartographischen Mittel ist offensichtlich. Noch um Größenordnungen gröber ist die Auflösung bildgebender Verfahren im Hinblick auf das Funktionieren einzelner Neuronenstrukturen."5 Der Hirnforscher Hans Flohr bestätigt diesen Befund: „Bei vielen der meßbaren physiologischen Parameter ist unklar, welche Art von Gehirnprozessen sie eigentlich abbilden. [...] Es ist zwar möglich, aus ereigniskorrelierten Potentialen auf die Lokalisation der beteiligten Hirnprozesse zu schließen, problematisch ist jedoch der Schluß auf die Art der zugrundeliegenden neuronalen und computationalen Vorgänge." Bekommen wir überhaupt Daten über das Gehirn, die uns Rückschlüsse auf die, wie Flohr sagt, „computationalen" Vorgänge oder eben die Algorithmen, nach denen das Gehirn arbeitet, erlauben? Wir haben schon mehrfach betont, dass jede Theorie des Gehirns neurophysiologische Daten in Beziehung setzen muß zu Verhaltensbeobachtungen und introspektiven Berichten von Testpersonen. Hans Flohr identifiziert gleich eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, dies in die Tat umzusetzen. Ich will zwei erwähnen. „Die zeitliche Zuordnung mentaler und physiologischer Ereignisse ist problematisch. Die subjektiven Möglichkeiten, Ereignisse zeitlich zu lokalisieren, sind gemessen am zeitlichen Auflösungsvermögen physikalischer Meßgeräte begrenzt und ungenau." Methodisch besonders heikel jedoch ist es, Personen über ihre sogenannten phänomenalen Bewußtseinserlebnisse berichten zu lassen und die berichteten Erlebnisse mit neurophysiologischen Beobachtungen zu korrelieren. Nach Flohr hat das „ein Beobachterproblem" zur Folge. „Die durch eine vorangegangene Instruktion initiierten introspektiven Aktivitäten können in schwer überschaubarer Weise mit denjenigen Zuständen interferieren, die zu beobachten sind. [...] Es kann nicht angenommen werden, daß diese Gedächtnisprozesse ohne Einfluß auf das sind, was schließlich registriert wird [...]. Der Schluß von bestimmten objektivierbaren Verhaltensweisen auf subjektive Zustände gehört zu den problematischsten Bereichen der Psychologie."6 Flohrs Beobachterproblem verdankt sich unter anderem der nicht-linearen Dynamik des Gehirns. Bei hypersensitiven, nicht-linearen System münden sehr geringfügige Unterschiede in den Ausgangszuständen alsbald in sehr unterschiedliches Verhalten. Es macht offensichtlich einen großen Unterschied für das, was sich im Gehirn einer Person abspielt und was die 4
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Max Urchs, Maschine, Körper, Geist - Eine Einführung in die Kognitionswissenschaft, Frankfurt/M. 2002, 179. A. a. 0., 180. Hans Flohr, „Physiologische Grundlagen des Bewußtseins", in: Enzyklopädie der Psychologie, Band 6: Biologische Grundlagen der Psychologie, hg. von Thomas Ebert und Niels Birbaumer, Göttingen u. a. 2002, 35-86; die Zitate finden sich auf den Seiten 46, 48 und 49.
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Person deshalb auch subjektiv erlebt, ob sie zum Beispiel vorher durch den Versuchsleiter instruiert worden ist oder ob statt dessen ihr Gehirn direkt elektro-chemisch stimuliert wurde. Die Hirnforschung muß damit rechnen, dass j e d e sorgfältigere Beobachtung des Gehirns eine schnell sehr f o l g e n r e i c h werdende V e r ä n d e r u n g des Gehirns darstellt. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass sich das Gehirn unter den besonderen Bedingungen, unter denen es einigermaßen zuverlässig beobachtet werden kann, auch besonders verhält. Wird es nicht beobachtet, verhält es sich anders. Zuverlässig schließen zu können von dem, was im Labor beobachtet wird, auf das, was sich außerhalb der Laboratorien abspielt, ist jedoch das A und O aller experimentellen Naturwissenschaften. Möglicherweise sind Schlüsse der Hirnforschung von zuverlässig geprüften Laboruntersuchungen an lebenden Gehirnen auf ihr Verhalten unter Nicht-Laborbedingungen notorisch unzuverlässig, ungenau, zweifelhaft. Ich möchte auf eine letzte Schwierigkeit eingehen. Ein theoretisches Modell des Gehirns muß sich einfacher handhaben lassen als das Gehirn selber. Für bestimmte nicht-lineare Systeme gibt es nun kein allgemeines Verfahren, welches das Systemverhalten schneller simuliert, also voraussagt, als das System das Verhalten produziert. Die Annahme ist alles andere als unbegründet, dass das Gehirn ein solches System ist. Würde das dann nicht bedeuten: Kein einheitliches theoretisches Modell wird erlauben, jedes Verhalten des Gehirns in kürzerer Zeit vorauszuberechnen, als das Gehirn sie für das entsprechende Verhalten benötigt? Oft braucht ein Gehirn lange, bevor es ein bestimmtes Verhalten generiert. Um es aus einem Modell logisch abzuleiten, bräuchte man im wesentlichen ebenso lange. Dann muß das Modell vom logischen Standpunkt aber offensichtlich sehr kompliziert sein. Es dürfte sich kaum leichter handhaben lassen als das Gehirn selbst. Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob wir je über ein einheitliches und leicht zu handhabendes theoretisches Modell verfügen werden, welches das Gehirn in allen seinen Verhaltensaspekten zutreffend und wünschenswert genau erfaßt7. Es schwingt fast schon ein Hauch von Resignation mit, wenn der Hirnforscher Wolf Singer die Schwierigkeiten schildert, die der Forschung aus der nicht-linearen, komplexen Dynamik des Gehirns entstehen: „Wenn ich angeben soll, was sich geändert hat, seitdem ich mit Wissenschaft in Berührung kam, dann gilt zumindest für die Hirnforschung die Erkenntnis, daß alles sehr, sehr viel komplizierter zu werden droht, als wir uns das vor zwanzig Jahren gedacht haben. Wir hatten damals relativ einfache Konzepte. Und jetzt erkennen wir, daß wir diese lineare Welt verlassen und eintreten müssen in die Welt der komplexen Systeme. Wir müssen uns in einer Welt bewegen, in der die Meßdaten, die wir bekommen, analytisch nicht mehr vollständig beschreibbar sind, weil es die Mathematik dazu noch nicht gibt. Ich spreche sehr viel mit Kollegen, die sich mit komplexen Systemen befassen und frage, ob sie geeignete Instrumente haben, um den Code neuronaler Dynamik zu entschlüsseln. Ich pflege dann zu hören, daß auch diese Spezialisten keine Lösungen anbieten können und schon froh wären, wenn sie die Turbulenzen berechnen könnten, die die Windräder an der Nordseeküste gefährden. Seitdem wir begonnen haben, uns mit der Dynamik neuronaler
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Vgl. zu diesen Überlegungen auch Klaus Mainzer, Gehirn. Computer, Komplexität, Berlin u. a. 1997, 141 ff.
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Wechselwirkungen zu befassen und mit den Problemen, die mit der hochgradigen Vernetzung von Prozessen im Gehirn einhergehen [...], breitet sich Bescheidenheit aus."8 Das Fazit ist klar: Ein Gehirn läßt sich von uns, oder um bei der wissenschaftlichen Wahrheit zu bleiben, ein Gehirn läßt sich durch andere Gehirne nur sehr schwer in die Karten schauen. Auch in Zukunft dürften die erkennbaren Korrelationen zwischen beobachtbarem Verhalten, introspektiv berichteten Erlebnissen und physiologischen und neurophysiologischen Daten sehr, sehr grobkörnig und überaus lückenhaft bleiben. In der „ZEIT" war vor einiger Zeit zu lesen: „So finden Hirnforscher für nahezu alles, was Herz und Verstand bewegt, ein neuronales Korrelat, für Gefühle, Aggression, Partnerbindung."9 Eben nicht für alles, möchte man dem Feuilletonisten entgegenhalten. Nicht nur in Frankfurt überlebende streunende Katzen oder einen Vortrag haltende Philosophen bereiten den Hirnforschern weiterhin mehr als nur Kopfzerbrechen.
3. Naturalismus mit beschränktem Wissen Welche Konsequenzen haben die Grenzen unseres Wissens über das Gehirn für unsere Sicht des Mentalen und für die Philosophie des Geistes? Ich will zwei wichtige Konsequenzen etwas genauer betrachten. 1. Der Materialismus kann nur ein wesentlich erkenntnistheoretisch begründeter nicht-reduktiver Materialismus sein. 2. Der Gebrauch des alltagspsychologischen Vokabulars in all seinen verschiedenen Funktionen ist praktisch alternativlos.
Betrachten wir zunächst die erste Konsequenz. Um das Mentale auf das Physische zu reduzieren, muß man sich auf wahre Korrelationsbehauptungen stützen können. Sind solche Korrelationsbehauptungen in nennenswertem Umfang gar nicht verfugbar, kann man im besten Falle nur noch davon reden, dass im Prinzip jeder mentale Zustand auf einen Gehirnzustand reduziert werden kann oder mit ihm identisch ist. Aber solche Reduktionsbehauptungen sind wie theoretische Versprechungen, die niemals eingelöst werden, und daher theoretisch wie praktisch witzlos. Der Materialist behauptet eine ontologische Priorität des Physischen gegenüber dem Mentalen und eine asymmetrische kausale Abhängigkeit des Mentalen vom Physischen. Dafür hat sich inzwischen in der Philosophie des Geistes eine Standardformulierung durchgesetzt: Keine Unterschiede in mentalen Zuständen ohne Unterschiede in physischen Zuständen. Sicher muß jemand mindestens dies zu behaupten bereit sein, will er noch als Materialist gelten. Allein, diese These läßt sich eben vermutlich in sehr vielen Fällen niemals in informativer Weise einlösen, falls unser Wissen über Korrelationen zwischen dem Physischen und dem Mentalen so grobkörnig und lückenhaft bleiben wird, wie wir oben aus empirischen Gründen vermutet haben. Die Formel „Keine mentalen Unterschiede ohne physische Unter-
9
„Zu wissen, wie eine streunende Katze in Frankfurt überlebt" - Ein Gespräch mit Wolf Singer, in: Frank Schirrmacher (Hg.), Die Darwin AG - Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und Computer den neuen Menschen träumen, Köln 2001; 157 f. Thomas Assheuer, „Im Labyrinth der Synapsen", in: Die Zeit Nr. 39, 35.
D A S MENTALE IN NATURALISTISCHER PERSPEKTIVE UND DIE GRENZEN UNSERES WISSENS
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schiede" ist dann bestenfalls eine empirische Vermutung. Diesmal muß sich wohl der nichtreduktive Materialist auf eine „Im-Prinzip-Behauptung" zurückziehen: Im Prinzip entspricht jedem mentalen Unterschied ein physikalisch zu beschreibender Unterschied, auch wenn wir ihn in ganz vielen Fällen niemals werden angeben können. Wem ist mit solchen „Im-Prinzip-Behauptungen" gedient? Warum behaupten wir nicht gleich: In sehr vielen Fällen lassen sich präzise charakterisierte mentale Zustände nicht so trennscharf mit neurophysiologischen Zuständen korrelieren, dass man die mentalen Zustände als durch die neurophysiologischen verursacht ansehen, sie auf diese Zustände reduzieren oder sie mit ihnen identifizieren könnte? Zugegeben, nun drängt sich die Frage auf, ob man mit dieser Behauptung nicht längst in das Lager der Dualisten hinübergewechselt ist. Aber vielleicht unterscheidet sich der nicht-reduktive Naturalist vom Dualisten allein dadurch, dass der Naturalist die vielen Ausnahmen, wo sich für mentale Unterschiede kein physischer Unterschied auffinden läßt, stets mit empirischen Grenzen unseres Wissens erklärt. Für diese Erklärungen kann er Überlegungen anfuhren, wie ich sie im zweiten Abschnitt dargelegt habe. Der Naturalist wird also sagen: Dass wir in so vielen Fällen zu mentalen Unterschieden keine korrespondierenden physischen Unterschiede aufweisen können, erklärt sich am besten damit, dass die komplexe nichtlineare Dynamik des Gehirns uns solche halbwegs genauen Zuordnungen einfach nicht erkennen läßt. Wenn der Dualist nicht die These vertreten möchte, dass mentale Zustände auch unabhängig von Gehirnzuständen oder anderen physischen Zuständen auftreten können - was in Wahrheit eine Rückkehr zum metaphysischen Substanzdualismus darstellt - , so wird er einwenden müssen, dass sich die Korrelationslücken zwischen dem Physischen und dem Mentalen keineswegs epistemisch am besten erklären lassen. Ich sehe allerdings nicht, dass die Dualisten eine bessere nicht-epistemische Erklärung vorzulegen hätten. Kommen wir nun zur zweiten der oben erwähnten Konsequenzen, die Unverzichtbarkeit der Alltagspsychologie. Gegenwärtig könnten wir ohne die sogenannte Alltagspsychologie nicht leben. Jeder schreibt sich und anderen ständig Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen, Wünsche, Gedanken, Vorstellungen zu, erklärt damit das eigene oder das Verhalten anderer, sagt es in sehr bescheidenen Grenzen voraus oder rechtfertigt oder kritisiert es. Indem wir uns mentale Zustände zuschreiben, stellen wir uns auf andere Personen und ihre Verhaltensweisen praktisch ein, koordinieren und planen wir unser gemeinsames Handeln. Wir erfüllen die eben erwähnten, aber auch noch ganz andere Zwecke mit dem alltagspsychologischen Vokabular. Diese verschiedenen Gebrauchsweisen greifen in der Praxis eng ineinander und lassen sich meistens nur sehr schwer voneinander trennen. Von daher vermag ich der Debatte um die Alltagspsychologie wenig abzugewinnen, die die verschiedenen Funktionen der Alltagspsychologie fein säuberlich voneinander trennen oder die Alltagspsychologie gar auf eine der Funktionen festlegen will. Die häufig diskutierte Frage zum Beispiel, ob die Alltagspsychologie eine Theorie sei oder nicht, erscheint mir im schlechten Sinne akademisch und unergiebig. Die Alltagspsychologie befriedigt auch theoretische Bedürfnisse und gleichzeitig noch ganz andere Zwecke. Wenn der naturwissenschaftlichen Erforschung des Mentalen so enge Grenzen wie bisher gesetzt bleiben, dann wird der Gebrauch des alltagspsychologischen Vokabulars in allen seinen verschiedenen Funktionen in den allermeisten Fällen ohne Alternative bleiben. Neu-
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HOLM TETENS
rowissenschafitliche Beschreibungen werden bis auf wenige Ausnahmen nie die Funktionen übernehmen können, die das alltagspsychologische Vokabular für uns heute erfüllt. Der eliminative Materialismus zum Beispiel mag dann eine zwar logisch mögliche philosophische Position sein, in Wahrheit jedoch ist er angesichts unseres begrenzten Wissens unplausibel und wird weiterhin praktisch irrelevant bleiben. Können wir auf die Alltagspsychologie in ihren verschiedenen Funktionen nicht verzichten, wird sich wenig an der grundsätzlichen Art und Weise ändern, wie wir Menschen miteinander umgehen. Dass wir uns eines Tages nur noch im Vokabular der Hirnforschung beschreiben und, wie viele Gegner des Naturalismus argwöhnen, uns wechselseitig wie Maschinen, wie Biomaschinen technizistisch behandeln, ist dann ebenso irreal und maßlos übertrieben wie die ebenfalls die Feuilletons bevölkernde Horrorvorstellung, wir könnten eines Tages menschliches Verhalten in gewöhnlichen Alltagssituationen aufgrund neurophysiologischer Daten genau voraussagen oder gar technisch manipulieren. In seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels des Jahres 2001 unterstellt Habermas Naturalisten, das Szenarios einer Gesellschaft verwirklichen zu wollen, „in der die altmodischen Sprachspiele unseres Alltages zugunsten der objektivierenden Beschreibungen von Bewußtseins Vorgängen außer Kraft gesetzt worden sind". Und kritisch richtet er an die Adresse der Naturalisten die Frage: „Was wird nun aus solchen Personen, wenn sie sich nach und nach unter naturwissenschaftliche Beschreibungen subsumieren?" Habermas selber beruhigt sich mit der Feststellung: „Aber die in die Lebenswelt eindringenden wissenschaftlichen Theorien lassen den Rahmen unseres Alltagswissen, der mit dem Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Personen verzahnt ist, im Kern unberührt."10 Ein um die Grenzen der Hirnforschung wissender Naturalist wird nicht widersprechen wollen. Allein, Habermas beruhigt sich im wesentlichen mit der transzendentalen und daher angeblich unverrückbaren Differenz zwischen Beschreibung und Rechtfertigung von Handlungen, die in der objektivierenden Sprache der Naturwissenschaften niemals eingeholt werden könne. Vielleicht ist ein anderer Verbündeter im Kampf gegen die Abschaffung der alltagspsychologischen Sprache und der mit ihr verbundenen sozialen und kulturellen Lebensformen im Namen der Wissenschaften viel zuverlässiger als der „zwanglose Zwang" transzendentaler Argumente: die wissenschaftlich uneinholbare Komplexität unserer Gehirne. Ich bin an das Ende meiner Überlegungen gekommen. Sie mögen Sie überzeugt haben oder, wie in der Philosophie üblich, eher nicht. Aber es waren sicher philosophische Überlegungen, wenn denn Sokrates der Philosoph par exellence ist: „Ich weiß, dass ich nichts weiß." In bezug auf den Wissensgegenstand Gehirn hatte ich mir in diesem Vortrag lediglich erlaubt, dieser sokratischen Wende der Philosophie in das Gewahrwerden des eigenen Nichtwissens ein wenig Empirie beizumischen: Beim Gehirn wissen wir sogar, was wir warum über das Gehirn nicht oder mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht wissen werden.
10
Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001 Jürgen Habermas, Ansprachen aus Anlass der Verleihung.
Kolloquium 10 Grenzen des Naturwissens
PAUL HOYNINGEN-HUENE
Einleitung Die Frage nach den Grenzen des Naturwissens ist in der Geschichte der Philosophie spätestens seit Hume auf der Tagesordnung. Wie steht es denn mit unseren Fähigkeiten, kausale Abhängigkeiten in der Natur zuverlässig zu erkennen? Humes Antwort auf diese Frage ist weit weniger optimistisch als insbesondere die seiner rationalistischen Vorgänger. Unsere Möglichkeiten seien hier ausgesprochen begrenzt, und Einsicht in das innere Wirken der Natur sei uns schlicht verwehrt. Kant mildert in einer Hinsicht diese Skepsis, in einer anderen verschärft er sie. Zwar sei uns die Kenntnis von Kausalrelationen nicht restlos verwehrt, so die Milderung, aber diese Kenntnis bezieht sich nicht auf die Natur, wie sie selbst ist, sondern nur auf die Natur, wie sie sich uns Menschen präsentiert. Und die Verschärfung besagt, dass diese Begrenzung nicht nur unsere Kenntnis der Kausalrelation betrifft, sondern alle Naturerkenntnis überhaupt. Jegliche Erkenntnis der Natur, wie diese selbst ist, sei uns verwehrt: Zwar könnten wir uns von der Natur bestimmte konsistente Bilder machen, aber deren Ursprung aus der menschlichen Perspektive sei prägend und nicht abschüttelbar. Das in philosophischer Hinsicht so wechselvolle und in wissenschaftlicher Hinsicht so ertragreiche 19. Jahrhundert konnte bei diesen Positionen nicht stehen bleiben. Insbesondere in seiner zweiten Hälfte meldeten sich auch (selbst-)kritische Wissenschaftler zur Frage der Grenzen des Naturwissens zu Wort. Von ihnen ist Emil du Bois-Reymond besonders bekannt geworden - und bis heute geblieben. Im Jahre 1872 hatte er einen Vortrag mit dem Titel „Über die Grenzen des Naturerkennens" gehalten, der eine sich über viele Jahre erstreckende Diskussion auslöste.1 Auf der Grundlage der klassischen Physik, die er (wie auch die meisten anderen) als endgültig einschätzte, hielt er insbesondere zwei überragend wichtige Fragen als für die Wissenschaft prinzipiell unbeantwortbar: 1) was Materie und Kraft, die beiden fundamentalen Konstituentien der klassischen Physik, eigentlich seien, und
Emil du Bois-Reymond (1872): „Über die Grenzen des Naturerkennens", in: Emil du Bois-Reymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, hg. von S. Wollgast, Hamburg, 54-77.
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PAUL HOYNINGEN-HUENE
2) wie das Bewusstsein aus seinen (für ihn unbezweifelbaren) materiellen Entstehungsbedingungen erklärbar sei. Hier gerate Wissenschaft an unüberschreitbare Grenzen, angesichts derer wir uns mit dem „Ignorabimus" (wir werden es nicht wissen) bescheiden müssen. Im 20. Jahrhundert ist erneute Bewegung in die Frage der Grenzen des Naturwissens gekommen, und zwar - was nicht überraschend ist - durch die weitere Entwicklung der Naturwissenschaften. So wurden die Grundlagen der klassischen Physik, auf die sich etwa du Bois-Reymond stützte, nachhaltig in Frage gestellt - ohne dass aber die Skepsis bezüglich seiner zwei Fragen gedämpft worden wäre. Vielmehr wurden zunächst die Grenzen der Naturerkenntnis, soweit diese mit den fundamentalen Begriffen der klassischen Physik artikuliert werden soll, durch die Ergebnisse der Quantenmechanik noch enger gezogen. Die Natur, so die (geläufige Interpretation der) Quantenmechanik, ist nicht von der Art, dass sie mit diesen - womöglich nicht aufgebbaren! - Begriffen erschöpfend und konsistent beschrieben werden kann. Vielmehr geraten unsere von der klassischen Physik begrifflich geprägten Erkenntnisbemühungen hier an unüberschreitbare Grenzen. Doch es sollte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch schlimmer kommen. Sogar die klassische Mechanik, die wenigstens innerhalb des Bereichs der klassisch-physikalischen Fragen im Prinzip unbegrenzte Erkenntnismöglichkeiten versprach, offenbarte nun eine innere Begrenztheit von prinzipieller Tragweite. Es stellte sich nämlich heraus, dass der Determinismus, den die klassische Physik für die Natur in Anschlag brachte, nicht automatisch im Prinzip unbegrenzte Prognosemöglichkeiten für physikalische Systeme garantiert. Vielmehr gibt es viele physikalische Systeme, für die unsere Prognosemöglichkeiten äußerst eingeschränkt sind. Dies gilt, weil bei diesen Systemen geringfügigste Unterschiede der Anfangsbedingungen nach nicht allzu langer Zeit zu drastisch verschiedenen Systemzuständen führen können. Und weil die Genauigkeit bei der Bestimmung eines Anfangszustands prinzipiell beschränkt ist, sind damit auch die Prognosemöglichkeiten für spätere Systemzustände prinzipiell beschränkt. Das auf den ersten Blick Erstaunliche dabei ist, dass diese Systeme sehr wohl deterministisch sind, das heißt, dass die späteren Systemzustände durch die früheren der Sache nach festgelegt sind und dabei keinerlei unkontrollierbare Zufälligkeiten eine Rolle spielen. Doch hilft uns diese Tatsache für Prognosen nicht weiter, wenn die späteren Zustände so drastisch von den von uns nur beschränkt wissbaren Anfangsbedingungen abhängen. Diese kleine Revue von Grenzen des Naturwissens, wie sie in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten von Philosophie und Wissenschaft behauptet worden sind, ist weder ihrem Umfang nach erschöpfend noch ihrem Geltungsanspruch nach endgültig. Allen ist gemeinsam, dass ihre Konstatierung die Zeitgenossen überrascht hat, so weit, dass manche von ihnen nicht bereit waren, diese Grenzen zu akzeptieren. Wer nun immer, die Proponenten oder die Opponenten der genannten Grenzbehauptungen, auf lange Sicht Recht bekommen wird - wir werden uns wohl darauf einstellen müssen, dass sowohl wissenschaftlicher Fortschritt als auch vertiefte philosophische Reflexion uns auch in Zukunft mit überraschenden Grenzen unserer Versuche, die Natur zu erkennen, konfrontieren werden.
PETER JANICH
Kultur des Wissens - natürlich begrenzt?
1. Einleitung: Naturalismus als veröffentlichte Meinung Der Naturalismus hat die öffentliche Meinung nicht nur erreicht, er hat sie in einer konzertierten publizistischen Aktion besetzt. Das deutsche Zentralblatt für Evolutionsbiologie, Genom- und Hirnforschung - ich spreche vom Spiegel darin assistiert von anderen Zeitungen, hat die Kultur zum Naturgegenstand erklärt, ungeachtet der geisteswissenschaftlichen Angebote dieser Blätter. Direkter Anlaß für diese Bemerkung ist ein Interview (Spiegel Nr. 33 vom 12.8.2002) mit dem Primatenforscher Frans de Waal („Tierkultur und Menschennatur") zum Erscheinen seines Buches „Der Affe und der Sushi-Meister. Das kulturelle Leben der Tiere" als deutsche Übersetzung eines englischen Originals. (Der Titel verweist auf die Ähnlichkeit eines Lernens der Tiere durch Beobachtung von Artgenossen mit dem (angeblich untätigen) Lernen, das als Beobachten des Sushi-Meisters durch seinen Lehrling stattfindet.) Das Buch ist exemplarisch für ein ganzes Genre (vgl. Literaturverzeichnis). Diese Bücher haben einige Gemeinsamkeiten. Sie geben sich -
als voluminöse Popularisierungen naturwissenschaftlicher Ergebnisse, obwohl sie
- deren eher wenige enthalten, mehr jedoch Versprechungen, welche Ergebnisse die eigene Zunft noch erwarten läßt; - sie sind aber zum größten Teil Verlängerungen aus den Naturwissenschaften heraus in das Angebot von Welt- und Menschenbildern hinein. - Gemeinsam ist allen, daß ihre Autoren renommierte Professoren in ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin sind. Dazu gehört - als Imponierkulisse das Ansehen der Institutionen, in denen sie tätig sind, etwa das MIT, die Harvard Medical School, die Harvard-Universität und andere. - Alle betreffen sie Kognition und Verhalten von Menschen, sei es aus evolutionsbiologischer, aus molekulargenetischer oder aus neurowissenschaftlicher Sicht - oder aus Kombinationen dieser Perspektiven. - Naturalistisch sind all diese Titel, denn sie überbringen die Botschaft von der Alleinzuständigkeit der Naturwissenschaften für den Gegenstand Kultur.
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PETER JANICH
Um die Suggestion zu vermeiden, hier handle es sich um eine Art amerikanischer Verschwörung, läßt sich dieses publizistische Konzert auch um deutsche Stimmen erweitern. Gerade in Tages- und Wochenzeitungen äußern sich gerne angesehene deutsche Naturwissenschaftler, deren Imponierkulisse von der Präsidentschaft der DFG, der Max-PlanckGesellschaft oder des Hansekollegs bis zum Nobelpreis in Biologie reicht. Auch hier exemplarisch zwei Autoren: G. Roth, W. Singer (vgl. Literaturverzeichnis) Nimmt man schließlich die Wirkung von Wissenschaftsmagazinen im Fernsehen hinzu, die ebenfalls exklusiv auf naturalistische Positionen fixiert sind, so darf ein erheblicher Einfluß auf die Öffentlichkeit angenommen werden, der seinerseits nicht ohne Rückwirkung auf Wissenschaft und Philosophie bleibt. Der Bezug zum Kolloquiumsthema „Grenzen des Naturwissens" liegt darin, daß die genannten Titel die natürliche Begrenzung des Naturwissens hervorheben . Da ihnen die gemeinsame Annahme eigen ist, schließlich sei alles (materielle) Natur, gilt hier eine Art „naturalistischer Syllogismus": (1) Alles Wissen ist Naturwissen. (2) Der Mensch ist Teil der Natur. (3) Also ist der Urheber von Naturwissen selbst ein Gegenstand des Naturwissens. Die „natürliche" Begrenzung zeigt sich in dieser naturalistischen Sicht also im Zusammenfallen von Subjekt und Objekt des Naturwissens. In den Worten von W. Singer: (Singer, 61) Bevor ich mich dem Gehirn als Objekt naturwissenschaftlicher Nachforschungen selbst zuwende, soll ein erkenntnistheoretisches Problem in Erinnerung gerufen werden, das alle angeht, aber jemandem, der Hirnforschung betreibt, besonders oft und eindringlich begegnet.
(Ich gestatte mir die Vermutung, daß diese Eindringlichkeit auch aus mündlichen und schriftlichen Kontakten zwischen W. Singer und mir stammt. Weiter Singer:) Bei der Erforschung des Gehirns betrachtet sich ein kognitives System im Spiegel seiner selbst. Es verschmelzen also Erklärendes und das zu Erklärende. (Hervorhebung PJ) Und es stellt sich die Frage, inwieweit wir überhaupt in der Lage sind, das, was uns ausmacht, zu erkennen. Natürlich ist dies ein generelles Problem, dem sich alle stellen müssen, die Aussagen über die Natur der Dinge machen. Ist doch nur erkennbar, was unser kognitiver Apparat, unser Gehirn, zu denken, zu rekonstruieren und sich vorzustellen vermag. Betrachtet man die evolutionären Prozesse, die dieses Organ hervorgebracht haben, liegt der Schluß nahe, daß die während der Evolution wirksamen Selektionsmechanismen vermutlich nicht dazu angetan waren, kognitive Strukturen auszubilden, die für die Erfassung dessen optimiert sind, was hinter den Dingen möglicherweise sich verbirgt.
2. Ausblick Der folgende Vortrag soll in einem ersten Teil den Naturalismus mit der These von der kausalen Geschlossenheit der Natur, ihrer hierarchischen Gliederung nach zunehmend komplexen Systemebenen und deren emergentem Entstehen kritisch diskutieren. Im zweiten Teil („Kultur des Wissens") soll in einem ersten Schritt am Beispiel elementarster Formen von Wissen, nämlich dem know-how im Bereich nichtsprachlichen Handelns von Kinesis und Poiesis (Bewegung und Herstellung) begonnen und die These be-
KULTUR DES WISSENS - NATÜRLICH BEGRENZT?
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gründet werden, daß kinetische und poietische Handlungen im Tierreich nicht vorkommen. Im zweiten Schritt soll eine handlungstheoretische Reflexion die Unverzichtbarkeit und die Unhintergehbarkeit einer Vollzugsperspektive (im Unterschied zu einer Beschreibungsperspektive) des Handelns belegen. Damit werden sich die oben dargelegten, offenen Probleme der naturalistischen Emergenztheorien beheben lassen. Im dritten Teil wird als Fazit zu ziehen sein, daß die Kultur des Wissens durch die „kausale Geschlossenheit der Natur" nicht begrenzt ist.
3. Die naturalistische Grundannahme und ihre emergenztheoretische Stützung Um der naturalistischen Position keine Unterstellung in den Mund zu legen, sei E. O. Wilson zitiert. Er nimmt an, „daß alle greifbaren Phänomene, von der Sternengeburt bis zu den Funktionsweisen gesellschaftlicher Institutionen, auf materiellen Prozessen basieren, die letzten Endes auf physikalische Gesetze reduzierbar sind, ganz egal, wie umständlich oder lang ihre Sequenzen sind". Mit anderen Worten, keine anderen als naturwissenschaftliche Kausalerklärungen sind nötig und zulässig, um, pointiert gesprochen, die Entstehung der Welt vom Urknall bis zum Sozialstaat zu erklären. Um mich nicht dem Vorwurf auszusetzen, hier würden nur die Populärphilosophien von Naturwissenschaftlern zitiert, nenne ich diese These diejenige von der kausalen Geschlossenheit der Natur, eine Formulierung, die z. B. der Philosoph Ansgar Beckermann (neben anderen philosophischen Vertretern anglosächsischer Fixierung) mit Vorliebe fuhrt. Zwar wartet die Welt noch auf diesen erhellenden Durchgang von physikalischer zu chemischer, biologischer, psychologischer, soziologischer und schließlich historischer Erklärung; man begegnet aber allenthalben der These, die Naturwissenschaften hätten längst den Aufstieg von niederen zu höheren Systemeigenschaften im Griff, und zwar durch die Konzeption der „Emergenz". Hier beziehe ich mich auf A. Stephan mit der wohl einschlägigsten Darstellung, die sich selbst explizit und grundsätzlich zum Naturalismus bekennt. In diesem Buches werden (zur Überraschung des Lesers) weder emergente Phänomene in naturwissenschaftlicher Objektsprache beschrieben oder erklärt, noch werden in wissenschaftstheoretischer Metasprache die begrifflichen oder methodologischen Mittel der Naturwissenschaften diskutiert. Es geht vielmehr um eine Konkurrenz von Emergenztheorien, die dazu auf einer dritten Sprachebene liegen. Und der Autor schwingt sich selbst auf eine vierte Sprachebene, auf der eine Art Philologie und Geschichte dieser Emergenztheorien geschrieben wird. Dieser Stil eines analytischen Philosophierens, dem nur noch Texte als Gegenstände der Untersuchung würdig erscheinen, fuhrt günstigenfalls auf eine Art „logischer Landkarte" (G. Ryle). Dem Autor scheint weder dieser systematische Ort seiner Untersuchung bewußt, noch die Frage, welche Probleme dadurch allererst produziert werden, daß der Aufstieg über die MetaStufenleiter der Sprachebenen und die fortgesetzten Versubstantivierungen (emergieren, Emergenz, Emergentismus) nur noch zu Einteilungsschemata von Ismen fuhren kann. Bedeutungs- und Geltungsfragen aus dem Bereich der naturwissenschaftlichen Objektsprache oder aus wissenschaftstheoretischer Reflexion sind aber definitiv nicht mehr zugänglich.
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A. Stephan resümiert seine Darstellung emergentistischer Ansätze in einer „Synopsis [...] der logischen Beziehungen [...] zwischen den einzelnen Spielarten des Emergentismus". Darin wird ausgehend von einem „schwachen Emergentismus" durch isolierte oder kombinierte Hinzunahme von Verschärfungen wie „Irreduzibilität" oder „Neuartigkeit" ein „synchroner" einem „diachronen Emergentismus" gegenübergestellt. Diese werden ihrerseits verschärft bis hin zur Position eines „starken diachronen Strukturemergentismus" eine fiktive Position, die sich aus dem Einteilungsschema von Stephan ergibt, aber „kein Pendant in der zeitgenössischen Debatte" hat (was den selbst denkenden Leser wenig überrascht, weil dann das naturalistische Programm „kausale Geschlossenheit der Natur" verlassen wäre). Statt hier wieder eine Philologie dieser Philologie von Emergenztheorien zu treiben, sei der Versuch unternommen, verschiedene Typen emergenter Phänomene in methodischer Reihenfolge darzustellen. Dabei sollen die Ergebnisse von Stephan so weit wie möglich berücksichtigt werden. Trivialerweise ist die Rede von emergenten Eigenschaften eine Rede. Der Prädikator „emergent" wird auf „Eigenschaften" oder „Phänomene" angewandt, die sprachlich benannt und beschrieben sein müssen. Bei Emergenzen handelt es sich also immer um Relationen zwischen verschiedenen Beschreibungen desselben Referenzobjekts. Klärungspflichtig bleibt, (1) um welche Referenzobjekte es sich handelt (die auch in zeitlicher Entwicklungen begriffen sein können), (2) worin die semantische und alethische Adäquatheit der Beschreibung besteht, und (3) in welcher Relation genau die beiden Beschreibungen stehen, von denen gesagt wird, die eine betreffe relativ zur anderen „emergente" Eigenschaften oder Phänomene. Da es (wohl selbstverständlich?) um zutreffende „Natur"-Beschreibungen gehen soll, empfiehlt sich zu berücksichtigen, daß deren Gegenstände nicht etwa natürlich belassene Naturphänomene sind, wie sie sich einem begrifflich und instrumenteil naiven, lebensweltlichen „Beobachter" zeigen, sondern um Gegenstände naturwissenschaftlicher Untersuchungen, denen man mit Modellen beizukommen versucht. Mit anderen Worten, es geht bei der Typisierung von Emergenzen tatsächlich um Verhältnisse zwischen Modellen, die der Naturwissenschaftler zu bestimmten Erklärungszwecken selbst erzeugt. Deshalb sollen auch hier der Klarheit wegen ausschließlich artifizielle, also technische Beispiele herangezogen werden. Erst wenn diese klar sind, können sie auf naturwissenschaftliche Fragen angewandt werden, die ihrerseits dazu dienen, die naiv vorgefundene Natur adäquat zu beschreiben und zu erklären. Unter „synchroner Emergenz" ist die Relation zwischen Verhältnissen gemeint, die gleichzeitig an ein und demselben Objekt (auf verschiedenen Sprachebenen) beschrieben werden. Mit der Unterscheidung von „schwacher" und „starker Emergenz" soll der Unterschied von umkehrbarer und nicht umkehrbarer Reduktion bezeichnet werden; diese sind ihrerseits wieder nach „logisch-definitorisch" oder „kausal" (und damit empirisch) zu unterscheiden. Damit ergibt sich folgendes Einteilungsschema:
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KULTUR DES WISSENS - NATÜRLICH BEGRENZT?
(1) synchron emergent
(1.1) schwach synchron emergent
(1.1.1) logischdefinitorisch s. s. e.
(1.1.2) kausal s. s. e.
(1.2) stark synchron emergent
(1.2.1) logisch(1.2.2) kausal st. s. e. definitorisch st. s. e.
(2) diachron emergent
Im Bereich der Artefakte genügen erstaunlich einfache Beispiele zur Erläuterung dieser vier Typen synchroner Emergenz: Zu (1.1.1): Gegeben seien zwei zueinander passende, ineinander greifende Zahnräder (z. B. mit dem Umfangsverhältnis von 1:3). Dann ist es eine „logisch-definitorisch schwach synchron emergente Eigenschaft" der beiden Zahnräder, ein Getriebe zu bilden. (Keines der beiden Zahnräder allein ist ein Getriebe. Die höhere Systemeigenschaft, ein Getriebe zu sein, kommt erst durch den logisch-definitorischen Zusammenhang zustande, daß sie entsprechend zueinander angeordnet sind.) Zu (1.1.2): Das Getriebe ist eine Maschine zur Umwandlung von Kraft. Die Leistung des Getriebes, eine Übersetzung im Verhältnis 1:3 bzw. eine Untersetzung im Verhältnis von 3:1 nach dem Hebelgesetz („Kraft x Kraftarm = Last x Lastarm"), ist eine „kausal schwach synchron emergente Eigenschaft" des Getriebes. Die beiden Fälle (1.1.1) und (1.1.2) erfüllen die Bedingung der „schwachen" synchronen Emergenz, daß die jeweils höheren Eigenschaften, ein Getriebe zu sein oder eine Über/Untersetzung zu leisten, auf die Beschreibung der Zahnräder zurückgeführt („Reduktion") bzw. aus ihnen gewonnen („Umkehrung der Reduktion") werden können. Die Verschärfung von der schwachen zur starken Emergenz solle durch „Irreduzibilität" erreicht werden. Auch dies läßt sich an den beiden Zahnrädern exemplifizieren. Dazu werden sie als einfachst mögliche Form der Rechenmaschine betrachtet. Durch Zählen der Umdrehungen der beiden Räder relativ zur Verbindungsgeraden ihrer Achsen lassen sich Multiplikationen mit dem Faktor 3 bzw. Divisionen mit dem Divisor 3 durchführen. Zu (1.2.1): Diese Multiplikations- und Divisionsmaschine ist relativ zu ihren Komponenten „logisch-definitiorisch stark synchron emergent". Die Leistung der Rechenmaschine ist nämlich logisch-definitorisch irreduzibel in dem Sinne, daß es bei Rechenmaschinen ja nicht um die Produktion irgendwelcher, sondern richtiger oder wahrer Rechenergebnisse geht. Aus der geometrischen Beschreibung des Getriebes bzw. der arithmetischen Aussage über Anzahlen abgelaufener Umdrehungen folgt aber beim besten Willen nicht, daß z. B. „3 x 7 = 21" wahr ist - eine simple Art eines Körper-Geist-Problems. Mit anderen Worten, die arithmetische Leistung der Maschine, gültige Input-Output-Relationen zu produzieren, ist gegenüber den Leistungen der einzelnen Zahnräder emergent, ohne sich logisch oder definitorisch auf diese reduzieren zu lassen. (Unten wird gezeigt, daß sich dieses Verhältnis in eine Zweck-Mittel-Relation harmlos auflösen läßt.)
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PETER JANICH
Zu (1.2.2): In physikalischer (also kausaler) Beschreibung stellt unsere schlichte Rechenmaschine ein System dar, in dem sich die Bewegung eines der Zahnräder durch eine von außen angreifende Kraft auf das andere Zahnrad überträgt. Dieser kausale Nexus ist verantwortlich für das tatsächliche Rechenergebnis in der jeweiligen Anwendungssituation. Bedingung für richtige Rechenresultate ist dabei die Ungestörtheit der Maschine. Wären z. B. die Zahnräder nicht hinreichend starr, sondern hätten als reale Körper Eigenschaften, wie man sie sich etwa an Gelee oder an wassergefullten Plastikbeuteln vorstellen könnte, so würde sich z. B. ein relevanter Unterschied ergeben je nachdem, ob und wie schnell das kleine das große oder das große das kleine Zahnrad antreibt - mit verschiedenen daraus resultierenden Rechenfehlern. Daraus folgt, daß trotz der kausalen Geschlossenheit des Systems die Leistung einer richtig funktionierenden mechanischen Rechenmaschine nicht kausal aus den Eigenschaften ihrer Teile erklärt werden kann. Da Störungen, definiert durch falsche Rechenergebnisse, keine Kausalgesetze falsifizieren (sondern nur den Zweck der Rechenmaschine verfehlen), implizieren im Umkehrschluß auch die Kausalgesetze keine richtigen Ergebnisse. Der Übergang von den synchron zu diachron emergenten Verhältnissen verdankt sich dann keiner anderen Qualität als derjenigen, das synchrone Modell statt auf Dinge auf Vorgänge anzuwenden. Aus den stark, d. h. irreduzibel klassifizierten gleichzeitigen höheren Systemeigenschaften werden dann die späteren gegenüber den früheren in den Systemkomponenten. Die schon in der logisch-empiristischen Wissenschaftstheorie diskutierte Symmetrie von Erklärung und Vorhersage ist das ganze Geheimnis dieses Übergangs von der synchronen zur diachronen Betrachtung. Die „prinzipielle Unvorhersagbarkeit" einer später auftauchenden, emergenten Qualität, die früher am Referenzobjekt nicht vorhanden war, entspricht dem Fehlen entweder des logisch-definitorischen oder des kausalen Zusammenhanges zwischen den zwei Beschreibungen im stark synchronen Falle. Zu den komplizierten Erörterungen verschiedener Emergenztheorien bei Stephan ist angesichts der hier vorliegenden einfachen Beispiele Verblüffungsresistenz verlangt. Es ist der systemtheoretische Formalismus, der, letztlich in der Tradition des Hilbertschen Formalismus stehend, die sonderbar geschraubte Terminologie von Entitäten, Eigenschaften, Systemen, Instantiierungen, Determiniertheiten, Irreduzibilitäten usw. nach sich zieht. Das eingangs bemerkte Aufsteigen auf wenigstens die vierte Ebene der Diskussion über der naturwissenschaftlichen Gegenstandsebene ist dafür verantwortlich. Kurz, das Mißverhältnis zwischen der Kompliziertheit der propagierten Emergenztheorien und der Schlichtheit ihres Gehalts liegt an mangelnder Reflexion der sprachlichen Mittel, mit denen die emergenzmeta-meta-theoretischen Überlegungen einherstelzen.
4. Die Kultur des Wissens Menschen müssen Handeln erlernen. „Handeln" heißt, daß die Kooperations- und Kommunikationsgemeinschaft, in die der Mensch hineinwächst, diesem manches als Verdienst oder Schuld zurechnet. Ebenso unverzichtbar wie elementar ist die zu vermittelnde (und bei sozial hinreichend kompetenten Mitgliedern der Gemeinschaft auch vermittelte, im Rechtsstaat sanktionierte) Fähigkeit, zwischen Handlungen und bloßem Verhalten zu unterscheiden („bloßes Verhalten" im Sinne von „behaviour", im Deutschen zu unterscheiden von „Ver-
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halten" entsprechend dem englischen „conduct"). Wer handeln kann, hat im Idealfall Zwecksetzungsautonomie, Mittelwahlrationalität und Folgenverantwortlichkeit erworben. Handlungen in dieser Bestimmung können vom Agenten unterlassen werden, können Gegenstand sinnvoller Aufforderungen sein und werden nach Ge- und Mißlingen (richtiges oder falsches Aktualisieren eines Handlungsschemas) sowie nach Erfolg und Mißerfolg (Erreichen oder Verfehlen des Zwecks) beurteilt. Alle diese Bestimmungen treffen auf ein bloßes Verhalten nicht zu. (Auch Naturalisten sind dieser sittlichen und rechtlichen Verpflichtung unterworfen und unterscheiden im Falle des Betroffenseins zwischen absichtlich, versehentlich und unschuldig bzw. zwischen vorsätzlichen, fahrlässigen und Nicht-Handlungen.) Es ist nicht erst oder allein die Sprachkompetenz des Menschen, die ihn vom Tier unterscheidet, sondern bereits der Bereich der nichtsprachlichen Handlungen, von denen hier zwei näher betrachtet seien: die kinetischen und die poietischen. Es scheint bisher wenig beachtet zu sein, daß der Mensch, der sein tägliches Leben nur in fortgesetzter Bewegung vollziehen kann, dies nicht im selben Sinne „natürlich" tut wie das Tier. Im Vergleich des Menschen mit Landtieren sind letztere diesem häufig weit überlegen im Laufen, Springen, Hakenschlagen, Klettern, im Auffangen von Stürzen, schneller Reaktion usw. Aber der Mensch muß zwangsläufig in der Kulturwelt eine Lerngeschichte kinetischer Handlungen absolvieren, vom Gehen über das Schwimmen, Radfahren, Autofahren, Tanzen, den geregelten Bewegungen des Sports, bis hin zu den hochdifferenzierten Bewegungshandlungen des Schreibens, des Musizierens, des handwerklichen und des künstlerischen Produzierens. Unschwer läßt sich durchdeklinieren, daß alle Kriterien für die Unterscheidung von Handlung und bloßem Verhalten auf diese Formen der Kinesis zutreffen. Dagegen treffen sie nicht auf Tierbewegungen zu. Die Folgenverantwortlichkeit des Tieres fehlt hier ebenso wie Zweckrationalität und Zwecksetzungsautonomie. Zur Kinesis treten bei der Poiesis einige Aspekte hinzu. Die Abgrenzung zwischen Kinesis und Poiesis ist nicht trivial. Selbstverständlich gibt es keine Poiesis ohne Kinesis, aber die landläufige Bestimmung, daß poietische Handlungen auf ein Produkt fuhren, ist unscharf. Ist das Umordnen von Büchern in einem Regal nur Kinesis oder schon Poiesis? Immerhin bleibt die Ordnung der Bücher als Produkt so stabil erhalten wie die Bücher und Regale selbst, deren Herstellung ohne Frage zur Poiesis gerechnet wird. Zu bestimmten Zwecken empfehlenswert ist die Eingrenzung, von Poiesis nur dann zu sprechen, wenn dabei Produkte so hergestellt werden, daß sie (auch) von anderen Akteuren weiterverwendet werden können. Poiesis liegt also dort vor, wo sich Herstellung und Verwendung von bleibenden Produkten klar unterscheiden lassen. Mit dieser Bestimmung kommt etwas ins Spiel, das nur im Bereich der Kultur auftaucht: nämlich die Umdeutung von Produkten als Mittel für neue Zwecke durch neue Agenten. Es ist geradezu ein Charakteristikum aller Artefakte (von denen durch eben dieses Kriterium noch einmal die Kunstwerke unterschieden werden können), daß sie einerseits zum Zweck der eigenen oder fremden Verwendung hergestellt werden, andererseits nicht gegen Umdeutung, Mißbrauch, neue Instrumentalisierung usw. gefeit sind. Das naturalistische Argument, mit Vogelnestern, Spinnennetzen, Bienenwaben, Termitenhügeln usw. kämen auch im Tierreich poietische Handlungen vor, trifft per definitionem nicht zu. Ihnen fehlt die freie Wahl des Zwecks, der Spielraum in der Wahl der Mittel und (wiederum wie bei der Kinesis) die Verantwortung für die Folgen. Außerdem kann nicht
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zweckgerichtet im Sinne der Arbeitsteilung (Herstellung und Verwendung) produziert werden. Die Ausdehnung anthropomorpher Beschreibungen tierlichen Verhaltens beim Hervorbringen bleibender Veränderungen in der Natur findet hierin ihre Grenze. Mit den beiden Handlungsformen von Kinesis und Poiesis läßt sich bereits von einer Kultur des Naturwissens sprechen, die nun an einfachen Beispielen erläutert sei:
5. Die Kultur des Naturwissens Der Mensch gewinnt sein Wissen von der Natur nicht durch passive, distanzierte, in seinen Erkenntnisinteressen unstrukturierte Betrachtung, sondern durch Handeln. Selbst die Herkunft des Wortes „Kultur" von lateinisch cultivare verweist darauf, daß es der die Natur nach den Zwecken der Selbsterhaltung verändernde Eingriff ist, in dem der Mensch seine Erfahrungen mit Natur aktiv macht. In seinen Handlungen widerfahrt ihm nicht nur Ge- und Mißlingen, sondern mehr noch (und nicht selten existentiell bedrohlich) der Unterschied von Erfolg und Mißerfolg. Auch der erfahrenste Ackerbauer, der von den glücklichen Umständen eines fruchtbaren Bodens, eines wertvollen Saatguts und zuverlässiger Werkzeuge ausgehen kann, muß nach gelungener Aussaat warten, ob Wachstum und Reife der Feldfrüchte die Ernte ergeben, die er sich erhofft. Und der Viehzüchter kann seine Zuchttiere verlesen, wie er will, er muß doch warten, welches Zuchtergebnis sich einstellt. Dies sind Erfahrungen im handlungstheoretischen Sinne des Widerfahrnisses, die gesetzten Zwecke des eigenen Handelns zu erreichen oder zu verfehlen. (Dieses Schema läßt sich auch mit Gewinn übertragen auf die Bestimmung eines Erfahrungsbegriffs zur Beschreibung des Experiments. Vgl. P. Janich, 1996) Um eine spezielle Form technischen Wissens geht es, wo nicht mit lebenden Gegenständen wie Tieren und Pflanzen, sondern mit der Herstellung von Gerät, von Kleidung, Behausung, Werkzeugen, Wegen und Fahrzeugen usw. in die vorfindliche Natur eingegriffen wird. Ein näherer Blick auf diesen Bereich des Technischen gibt wertvolle Hinweise auf das Verständnis des Naturwissens, wie es in den hochstilisierten Verfahren der Naturwissenschaften gewonnen wird. Dazu seien zwei Beispiele unterschiedlicher Formen von technischem Fortschritt betrachtet. (Vgl. P. Janich, 1998) Die Natur bringt keine Räder hervor - im Unterschied zu kreisrunden, flachen Gebilden; denn ein Rad muß frei drehbar auf einer festen Achse oder fest auf einer frei drehbaren Achse sitzen. Die Stoffwechselkohärenz von Organismen verbietet solches, auch bei später abgestoßenen Hervorbringungen wie dem Geweih. Es ist unbekannt, wann historisch wo und wie von wem das Rad erfunden wurde. Aber es ist handlungstheoretisch verstehbar, daß die primäre Form des Wagenrades (zur Verringerung der Reibung beim Lastentransport gegenüber dem Schleifen über den Boden) als poietisches Produkt in seinem Zweck umgedeutet werden kann zur Seilrolle für die Umlenkung der Zugkraft an einem Seil - ebenfalls zur Verringerung von Reibung. Es muß die Seilrolle bereits erfunden und in Verwendung sein, damit die nächsten Entwicklungsschritte (Flaschenzug, Wellrad) möglich werden. (Beim Wellrad sind zwei Seilrollen unterschiedlichen Durchmessers fest miteinander verbunden. Sie erlauben im Verhältnis ihrer Durchmesser eine kontinuierliche Anwendung des Hebelgesetzes. Solche Wellräder wurden in der Antike z. B. beim Heben von Lasten verwendet.) Um die Störung des Durchrutschens von Seilen
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oder Transmissionsriemen zu vermeiden, wurden (vereinfacht geschildert) Zahnräder erfunden. Und nur wo schon Zahnradpaare zur Verfugung stehen, ist die Erfindung des Schneckengetriebes möglich, welches die Funktion der hohen Untersetzung (eine Umdrehung der Schnecke bewegt das angeschlossene Zahnrad nur um einen Zahn weiter) mit einer Sperrfunktion verknüpft, wonach sich Kraft nur von der Schnecke auf das Zahnrad, nicht aber in umgekehrter Richtung übertragen läßt. Diese kurze Schilderung offenbart eine methodische Reihenfolge der Konstruktionsschritte, die sich prinzipiell im Kopf eines einzigen Genies hätten abspielen können. Dabei wäre ein Archimedes oder ein Leonardo nicht auf Zufallsentdeckungen angewiesen. Dies markiert den Unterschied zum zweiten Beispiel: Mit der Metallbearbeitung haben die Menschen die Kunst entwickelt, Draht herzustellen. Er wurde für mechanische Zwecke (Ligaturen) und für Schmuck verwendet. Nur die historisch kontingente Verfügbarkeit von metallischem Draht konnte zur Entdeckung führen, daß über ihn elektrostatische Aufladung (schon in der Antike beim Reiben von Bernstein, griechisch elektron, an einem Tierfell entdeckt) zur Erde abfließen kann. Hier gibt es nicht diesen kohärenten methodisch-konstruktiven Weg wie bei der Entwicklung des Schneckengetriebes nach dem Wagenrad; wohl aber hängt die Entdeckung der „elektrischen" Funktion des Drahts von dessen mechanischer Verfügbarkeit ab. Und ebenso hängt die Entdeckung elektromotorischer Zusammenhänge von Stromfluß und Magnetfeld davon ab, daß metallische Drähte verfügbar waren und unter ihrer Verwendung Stromquellen etwa chemischer Art entdeckt und verbessert wurden. An solchen Beispielen, die sich strukturell auf die aktuellsten Entwicklungen etwa der Automobil- oder Computertechnik übertragen lassen, wird eine Kulturhöhe durch technischen Fortschritt definierbar. In kohärenten Entwicklungslinien lassen sich die methodisch späteren Errungenschaften von den früheren durch ihr Bedingungsverhältnis in einem zweckrationalen Zusammenhang verorten. Dabei spielt die fortgesetzte Umdeutung bereits erfolgreich verwendeter Mittel auf neue Zwecke die entscheidende Rolle und erklärt zugleich die Kontingenz und Unvorhersagbarkeit technischer Entwicklungen. Gleichwohl läßt sich, ungeachtet dieser Kontingenz, die Zweck-Mittel-Bewährtheit technischer Innovationen transkulturell überprüfen und verifizieren oder falsifizieren. (Da meine detaillierteren Arbeiten zu diesem Thema andernorts das Mißverständnis ausgelöst haben, mit Kulturhöhe sei gleichsam ein Meßparameter für „die" Kultur oder für „Kulturen im Kulturvergleich" gemeint, sei darauf hingewiesen, daß es hier nicht um „die" Kultur oder Kulturen als Gesamtphänomene geht, sondern ausdrücklich nur um begrenzte kohärente Entwicklungslinien. Diese müssen allerdings nicht im Sinne der gegebenen Beispiele maschinell sein. So lassen sich auch Praxen wie die Entwicklung des Geldwesens vom Tauschhandel bis zur Aktiengesellschaft ebenfalls als kohärente, methodisch geordnete Reihenfolgen darstellen.) Die gegebenen elementaren Beispiele technischer Entwicklung demonstrieren das für die methodische Philosophie zentrale ,J*rinzip der methodischen Ordnung" (vgl. P. Janich, 2001). Beim Übergang eines technischen Know-hows zu dessen propositionaler Darstellung in syntaktisch geordneter Form von Theorien ist die Reihenfolge der sprachlich gefaßten Schritte zu berücksichtigen.
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Im Alltag ist dieses Prinzip (also eine Norm, die verbietet, über Handlungen bezüglich der Reihenfolge anders zu sprechen, als sie für ein Erreichen des jeweiligen Zwecks, also bei Strafe des Mißerfolgs, eingehalten werden muß) unbestritten. Niemand würde eine Gebrauchsanweisung, eine Bauanleitung oder ein Kochrezept akzeptieren, dessen Befolgung durch Vertauschen der vorgeschriebenen Schritte regelmäßig zu Mißerfolg führen würde. Und niemand würde eine Schilderung akzeptieren, in der eine Reihenfolge von Schritten berichtet wird, die „unmöglich" ist, d. h. nicht zum behaupteten Resultat führt. Mit dem Prinzip der methodischen Ordnung ist eine Rationalitätsnorm gewonnen, die einen Zusammenhang zwischen nichtsprachlichem, technischem Handeln und dessen sprachlicher Beschreibung (oder Vorschreibung) festlegt. Im Alltag wird dieses Prinzip ohnehin nicht verletzt. In den Wissenschaften dagegen hat sich ein (formalistischer, bloß syntaktischer) Umgang mit Theorien eingespielt, bei dem der Gegenstandsbezug (mit dem Ziel der Kontrollierbarkeit von Bedeutung und Geltung der theoretischen Sätze) verloren ist. A u f die historischen Gründe, die bei der Geringschätzung der Poiesis durch die antike Philosophie einen entscheidenden Anfang und in der platonischen Orientierung der Geometrie von Euklid einen prominenten Paradefall mit fortwährender Wirkung hat, kann hier nicht eingegangen werden. Das naturwissenschaftliche Naturwissen hat nicht nur ein technisches Fundament und ist heute ohne die Form der apparativen Erfahrung nicht rekonstruierbar. Es hat darüber hinaus primär den Charakter eines technischen Bewirkungswissens, das sich strikt (entgegen Kuhnscher Thesen) kumulativ und auch über vermeintliche Paradigmenwechsel im Theoretischen hinweg zu immer weiterer Kulturhöhe entwickelt - ohne daß etwa die verlassenen technischen Pfade durch die neuen, effizienteren oder erfolgreicheren (im Popperschen Sinne) falsifiziert wären. Und nur wo technisches Bewirkungswissen, im Labor gewonnen, zur Verfugung steht, kann Wissen über die naturbelassene Natur wissenschaftlich werden. Es sind die technischen Modelle, die historisch in der Astronomie, beim Blutkreislauf und der Atmung usw. bis hin zur modernen Molekularbiologie der Genomforschung oder der Funktion von Synapsen im menschlichen zentralen Nervensystem die Modelle liefern. Das Natürliche wird beschreibbar, erklärbar und prognostizierbar nach Analogie und im Mittel des technischen Know-hows am geeigneten Modell. Mit dieser Skizze einer methodischen Philosophie der Naturwissenschaften, die andernorts ausgearbeitet ist, läßt sich nun auch die Reparatur naturalistischer Emergenztheorien angehen.
6. Emergenz zwischen Irrtum und Konstruktion Hierzu sei eine kleine Reflexion zum Erwerb von kinetischen und poietischen Fertigkeiten in menschlichen Kommunikations- und Kooperationsgemeinschaften vorausgeschickt. Sofern nicht bestritten wird, daß Naturwissen in Naturwissenschaften durch Handeln von Menschen gewonnen wird, ist für das Handeln eine Beschreibungs- und eine Vollzugsperspektive zu unterscheiden. Über die Beschreibungsperspektive ist, wenn auch unter anderer Terminologie, in der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft viel geforscht worden. So wird der Umbruch von der klassischen zur (speziell) relativistischen Physik als die Entdekkung des Beobachters gefeiert, dessen technische und begriffliche Zutaten zum Forschungs-
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resultat für dieses unverzichtbar sind. (Kritisch ist anzumerken, daß der physikalische Beobachter in der Tradition A. Einsteins gerade nicht als zweckrationaler Mensch, sondern nur als ein allein nach Naturgesetzen zu fassender Registrierapparat vorgesehen ist; die Einsteinsche Relativierung ist also naturalistisch geblieben.) Die Beschreibungsperspektive des Beobachters beginnt dort eine Rolle zu spielen, wo die Handlungen selbst in den Blick kommen (und nicht nur mehr naiv über die Objekte des Handelns gesprochen wird). Deshalb haben gerade die Sozial- und die Geschichtswissenschaften der Beschreibungsperspektive des Beobachters diejenige des Teilnehmers gegenübergestellt. Der Übergang von der Beobachter- zur Teilnehmerperspektive kommt dort vor, wo Beschreibungen auf den Beschreibenden selbst zutreffen und dies wichtig für die semantische Bedeutung und für die Geltung der Handlungsbeschreibung wird. So spielt es z. B. keine Rolle, daß die Sätze des Anatomen über seinen Forschungsgegenstand auf ihn selbst zutreffen. Wichtig dagegen wird die Teilnehmerperspektive bereits beim Sinnesphysiologen für die Untersuchung etwa des visuellen Systems des Menschen; er muß selbst sehen können und wissen, was er mit dem Wort „sehen" meint. Eine Sinnesphysiologie des Visuellen hätte keinen Gegenstand und keine Ergebnisse, wenn die Physiologen nicht sehend zu konsensfahigen Urteilen über das Gesehene fähig wären. Die Teilnehmerperspektive wird also nicht erst in selbstbezüglichen Beschreibungen der Geschichtswissenschaft oder gar der Ethik erreicht, sondern bereits in den Naturwissenschaften. Der Beschreibungsperspektive soll die Vollzugsperspektive nach dem Kriterium gegenübergestellt werden, daß Handlungsvollzüge unverzichtbar sind für die Beherrschung von Handlungsschemata sowie für ein sprachlich gefaßtes Wissen darüber. Im Beispiel: Kinetische Handlungen wie Radfahren, Schwimmen, Tanzen, Musizieren usw. sowie poietische Handlungen wie Zeichnen, Kochen, Hobeln usw. können nicht aus Beschreibungen erlernt werden. Die Fähigkeiten, von denen in den Beschreibungen die Rede ist, müssen durch Vollzug, durch Selbermachen erworben werden. Damit ist aber auch die Semantik der einschlägigen Wörter nicht anders interpersonal etablierbar als durch Beteiligung an entsprechenden Praxen in eigenen Handlungsvollzügen. Mit dieser kleinen Reflexion läßt sich nun eine Begründung geben, warum naturalistische Emergenztheorien so kläglich scheitern. Sie vergessen, daß technische Modelle nur durch Handlungsvollzüge in die Welt kommen, die einer zweckgerichteten Ordnung unterliegen. Die jeweils höheren Systemeigenschaften sind methodisch primär gegenüber den niedrigeren. Nur die distanzierte Beschreibung der technischen Verhältnisse, die den zeitlichen Ablauf und die zweckmäßige Ordnung des Handlungsvollzuges vom Konstruieren zum Produzieren, vom Zwecksetzen zum Mittelwählen vergißt, kann in Staunen verfallen, wie sich aus einfachen Teilen ein komplexes Ganzes, ein höheres System entwickelt: es sind eben keine Teile (als Ergebnis des Teilens), sondern Komponenten, aus denen der Erfinder, Ingenieur, Techniker und Naturwissenschaftler die Systeme zusammenstellt, erst in der Erfindung, dann in der Realisierung, aber immer von ihrem Zweck her. Und es ist der Naturforscher, der „das Natürliche" nach Analogie der technischen Systeme so einteilt, daß ihm im Handlungsvollzug der Forschung immer zuerst das Komplexere bekannt ist. Emergenz wird schon in der traditionellen Literatur gern an einfachen artifiziellen Beispielen erläutert. So mißt keine einzelne Komponente einer mechanischen Uhr die Zeit, sondern nur ein Gerät („System"), in dem sie auf geeignete Weise zusammenwirken, und erst das
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System aus Spule und Kondensator mit Spannungsquelle ergeben einen Schwingkreis. Aber die Wortgeschichte, die mit dem Verbum „emergieren" (von lateinisch emergere, auftauchen, hervorkommen) beginnt, fuhrt nicht auf einen Handlungsprädikator (etwa für das aktive Auftauchen eines Schwimmers oder das Hervortreten einer Person hinter einem Baum), sondern wird im Sinne eines Naturvorgangs verstanden. Von selbst taucht etwas auf, emergiert es. Dazu muß man sich gegenüber dem Naturgeschehen auf einen archimedischen Standpunkt stellen, von dem aus betrachtet die Naturereignisse gleichsam vorbeiziehen, als wäre der Beobachter persönlich präsent. Nur dann können am Objekt, sozusagen beobachterunabhängig, neuartige Systemeigenschaften „auftauchen". Aber schon das Wort „neuartig" relativiert die Beschreibung auf das Vorausgehende, das allemal ein bekanntes sein muß, damit die Feststellung der Neuartigkeit durch den beschreibenden Beobachter überhaupt möglich ist. Die kritisierte Naivität des naturalistischen Zuschauers betrifft bei der „diachronen Emergenz" nicht nur die Verkennung der Tatsache, daß die Vergangenheit stets nur aus der erkannten Gegenwart rekonstruiert werden kann. Sie betrifft schon bei der „synchronen Emergenz" die ungerechtfertigte Beschränkung auf logisch-definitorische oder kausale Zusammenhänge, als wäre Naturdingen und Artefakten das Grunddogma des Logischen Empirismus als Natureigenschaft eingepflanzt. Nicht nur das Vergessen der Sprache eines Beschreibers, auch das Vergessen von Zweckrationalität und methodischer Ordnung verdecken den tatsächlichen Forschungsprozeß. Entgegen einer naiven naturgeschichtlichen Chronologie oder einer nicht weniger naiven Annahme von der.Naturgegebenheit systematischer Hierarchien muß der Handlungsvollzug von Modellbildungen im Forschungsprozeß berücksichtigt werden. Für die oben gegebenen vier Beispiele von den zwei ineinandergreifenden Zahnrädern heißt dies, daß die Setzung des Zwecks der Wahl der Mittel methodisch vorhergeht. Richtige Rechenergebnisse werden nicht an Maschinen entdeckt; nur, wer bereits rechnen kann und damit auch zwischen richtigen und falschen Rechenergebnissen zu unterscheiden weiß, kann nach Mitteln suchen, diese menschlichen Kognitionsleistungen maschinell zu substituieren. Wo sich der naturalistische Emergentist die Frage stellen muß, woher die dummen Zahnräder wissen, welche Ergebnisse bestimmte Rechenaufgaben haben, und vor allem, warum diese gültig sind, ist es in Wahrheit der im Vollzug handelnde Mensch, der vom Zweck der Funktion einer Rechenmaschine ausgeht, um nach Mitteln zu suchen, diesen Zweck zu realisieren. (Vgl. P. Janich, 1993) Bei Übertragung technischer Modelle auf natürliche Systeme heißt dies, daß zuerst immer das Explanandum „gegeben" sein muß. Das heißt, daß der Forscher es sich selbst geben muß. Erklärungen zu suchen ist nun einmal kein rationales Vorgehen, wenn nicht festgelegt wird, was zu erklären ist. Dies gilt für die einfachen Beispiele bei Stephan (wie die Frage, wieso derselbe Kohlenstoff die höchst verschiedenen Formen von Graphit und Diamant bilden kann) bis zu den evolutionsbiologischen und den Problemen neuronaler Kognitionsforschung. Der naive naturhistorische Realismus, der irgendwie vom Urknall bis zum Sozialstaat kommen möchte, verkennt, daß es im Kontext von Forschungsfragen selbst eine Behauptung (und zwar eine nicht eben leicht zu explizierende und zu bestätigende) ist, über vergangene, nicht beobachtete und nicht beschriebene Verhältnisse etwas zu wissen. Tatsächlich ist
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die gesamte naturgeschichtliche Forschung sowohl in der Biologie wie in der Kosmologie nur eine Retrodiktion, ein narratives Schreiben einer Geschichte. Diese betrifft aber immer im Ausgang von einem Explanandum als abgeschlossen betrachtete und im Resultat bekannte Entwicklungen. Pointiert formuliert, es ist nicht zuerst die Materie da, die dann Leben hervorbringt, welches seinerseits den Geist emergieren läßt. Wer dies behauptet, hat die Geltungsbedingungen eben dieser Behauptung nicht reflektiert. Es ist primär „der Geist", der den Zweck erfindet und setzt, zum Vorfindlichen eine kausale Vorgeschichte zu schreiben. Und es ist der Geist in seiner kultürlichen Ausprägung, der die lebendige Maschine unter der Schädeldecke erforschen möchte und sich dabei ganz bestimmte Vorbilder an Begrifflichkeit, Erklärungstypen und Labortechniken wählt. So trifft also nicht zu, daß (nach Singer) in der Hirnforschung das Explanandum und das Explanans zusammenfallen; und zwar nicht nur aus dem trivialen Grund, daß dann keine Erklärungen mehr möglich sind, sondern aus dem erkenntnistheoretischen Grund, daß die Explananda nur durch Handlungsvollzüge von Menschen (in diesem Falle von Forschern) in die Welt kommen. Die Naturwissenschaften haben - erkenntnistheoretisch trivialerweise nicht ein einziges Explanandum gewählt oder produziert, das nicht selbst ein Kulturgegenstand wäre. Damit bleiben unsere Bestände des Naturwissens bis hin zu den aktuellsten Ergebnissen der Naturwissenschaften immer relativiert auf das kultürliche Explanandum.
7. Schluß: „Wissen" oder „Kultur des Wissens"? Wer mit Blick auf die Natur oder die Naturwissenschaften von „Wissen" nur an Texte oder Systeme syntaktisch geordneter Propositionen denkt, hat einen Begriff des Wissens gewählt, das auch der Festplatte eines Computers zukommt. Man sagt aber mit guten Gründen, daß ein Mensch etwas weiß bzw. ein Wissen hat nur dann, wenn er auch weiß, daß er ein Wissen hat, wie er es einsetzen, von Irrtum unterscheiden, sprachlich verteidigen und ähnliches kann. Erst recht in den Wissenschaften und in der Philosophie gehört zum Wissen immer auch das Urteil, daß und warum es sich um Wissen handelt, welchem Typ und damit welchen Geltungskriterien es zuzurechnen ist und welche Geltungsansprüche aus welchen Gründen eingelöst werden können. Dieses Meta-Wissen heißt hier „Kultur des Wissens". Im Fall des Naturwissens schließt diese Kultur des Wissens ein, daß ein physikalischer oder biologischer Determinismus (im Sinne der Annahme einer kausalen Geschlossenheit der Natur), der den Griff zu Emergenztheorien oder -modellen fordert, nicht selbst ein Ergebnis der Naturwissenschaft sein kann. Es taucht als Ergebnis nur in der Reflexion über Naturwissenschaften auf. Deshalb wird man auch behaupten dürfen: Der Naturalismus ist ein Mangel an Kultur des Naturwissens.
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Literaturverzeichnis Jaered Diamond, Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen, Frankfurt/M. 1994. Peter Janich, „Das Leib-Seele-Problem als Methodenproblem der Naturwissenschaften", in: Andreas Elepfandt / Gereon Wolters, Denkmaschinen? Interdisziplinäre Perspektiven zum Thema Gehirn und Geist, Konstanz 1993, 39-54. Peter Janich, Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kulturalismus, Frankfurt/M. 1996. Peter Janich, „Die Struktur technischer Innovationen", in: Dirk Hartmann / Peter Janich (Hg.), Die Kulturalistische Wende. Zur Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses, Frankfurt/M. 1998, 129177. Peter Janich, Logisch-pragmatische wist 2001. Steven Pinker, Sprachinstinkt,
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GERNOT BÖHME
Phänomenologie oder Ästhetik der Natur?
I. Daß Phänomenologie und Ästhetik in eine bedenkliche Nähe geraten können oder daß sich zwischen ihnen eine methodische Konkurrenz ergeben könnte, dürfte nicht auf der Hand liegen. Für diejenigen jedoch, die wie ich sich um alternative Arten der Naturerkenntnis bemüht haben - alternativ zur herrschenden neuzeitlich technischen Naturwissenschaft werden die verwirrende Erfahrung kennen, daß sie manchmal nicht recht wissen, ob sie eigentlich Phänomenologie treiben oder Ästhetik. Ist nicht eine Phänomenologie der Dämmerung oder des Lichtes ebenso als eine ästhetische Erkenntnis von Dämmerung und Licht anzusehen? Und steht nicht Goethes Naturforschung paradigmatisch für beides? Auf dem Hintergrund solcher Forschungserfahrungen könnte sich die Frage Phänomenologie oder Ästhetik? sogar allgemeiner stellen. Sie wird insbesondere motiviert durch den extensiven Gebrauch, der in der Phänomenologie - der Neuen Phänomenologie zumal - von dichterischen Zeugnissen gemacht wird. Sollte die Neue Phänomenologie etwa eine späte Erfüllung dessen sein, was Alexander Gottlieb Baumgarten unter dem Titel Ästhetik gefordert hatte, nämlich die Ausbildung sinnlicher Erkenntnis als besonderer Erkenntnisform? Diese Frage wird man nicht fur die Phänomenologie Husserlscher Prägung stellen, nicht nur weil sie bekanntlich der Ästhetik ziemlich fern steht, sondern vielmehr weil sie als transzendentale ihre Erfüllung jenseits der Phänomene findet. Umgekehrt wird klar, daß das Thema Phänomenologie oder Ästhetik? sich auch nur für die Neue Ästhetik stellt, nämlich eine Ästhetik qua Aisthetik (Böhme 2001), wie sie sich in Deutschland seit ca. 20 Jahren entwickelt. Für eine Ästhetik nach traditioneller Auffassung, nämlich als Theorie der Kunst, für eine Ästhetik als Geschmacklehre, für eine Urteilsästhetik stellt sich das bezeichnete Problem nicht. Eine Ästhetik, die Kunstwerke in Bezug auf das Schöne und Erhabene beurteilen soll, ist sicher keine Phänomenologie. Allenfalls in ihrer Unterdisziplin der Rezeptionsästhetik mag sie gewisse Anleihen bei der Phänomenologie machen. Das sieht anders aus, wenn die Ästhetik in Wiederaufnahme des Baumgartenschen Programms als Theorie sinnlicher Erkenntnis ausgearbeitet werden soll. Dazu gibt es verschiedene Motive. Sie liegen in der Kunstentwicklung selbst, vor allem aber in bestimmten Umbrüchen der philosophischen Anthropologie, sprich des explizierten menschlichen Selbstverständnisses, wie sie sich im 20. Jahrhundert angebahnt hat. Die Radikalisierung der Vernunftkritik in einer neuen Welle der Aufklärung seit Nietzsche einer-
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seits und die In-Frage-Stellung des neuzeitlichen Naturverhältnisses im Zeichen des Umweltproblems andererseits, haben zu einer Wiedergewinnung, oder vielleicht sollte man sogar sagen: zu einem innerhalb der europäischen Geschichte völlig neuen Selbstverständnis des Menschen in seiner leiblichen Existenz gefuhrt. Das ist freilich ein Programm der Vergewisserung des Menschen in seiner betroffenen Selbstgegebenheit (Böhme 1999), aus der sich ein Einverständnis mit dem ephemeren Dasein und ein bewußtes Zulassen von Natur in dem, was das Wesen des Menschen ausmacht, ergeben soll. Das ist ein Prozeß, der noch keineswegs abgeschlossen ist, vielmehr noch erheblicher theoretischer Arbeit bedarf. Dazu gehört u. a. die Befreiung der Wahrnehmung aus der Funktion einer Beschaffung von Daten für Urteile. Wahrnehmung als Teilnahme an der Welt impliziert affektive Betroffenheit. Durch sie ist ein Sich-Situieren in der Welt möglich. Das verlangt aber ein Ernstnehmen der Situiertheit des Wahrnehmungssubjektes in der Welt, d. h. genauer ein Verständnis von leiblicher Anwesenheit. Im Sich-Befinden spürt man, in welcher Umgebung man sich befindet. Eine solche Wahrnehmungslehre, in der das leibliche Spüren, die Befindlichkeit und die affektive Betroffenheit zentral werden, verlangt allerdings eine Überwindung des Physiologismus (Schmitz 1994,2-7), d. h. auch der Lehre von den fünf Sinnen. Die Mannigfaltigkeit der Sinne muß in der Wahrnehmungslehre gegenüber dem ursprünglichen synästhetischem Spüren als sekundär erwiesen werden. Insofern die Neue Ästhetik qua Aisthetik sich einem solchen - vernunftkritisch - inspirierten Programm der Wahrnehmungslehre verschreibt, ist sie bereits in nächster Nähe zur Neuen Phänomenologie. Das ist aber nicht minder der Fall, wenn man die Motive zur Neuen Ästhetik, die sich aus der Kunstentwicklung selbst ergeben, betrachtet. Es ist ein Grundzug avantgardistischer Kunstentwicklung im 20. Jahrhundert, daß sich die Kunst darin selbst thematisiert, gewissermaßen reflexiv wird: Mit dem Erscheinen des Kunstwerks als solchen wird zugleich die ästhetische Wahrnehmung thematisch. Ästhetik kann deshalb selbst dort, wo sie nicht explizit als Aisthetik auftreten mag, sich den Titel einer Ästhetik des Erscheinens (Seel 2000) geben. Man könnte das so deuten, daß hier lediglich die Phänomenologie aus ihrer dienenden Rolle in der Rezeptionästhetik herausgetreten ist und sich quasi zum Ganzen gemacht hat - die Nähe zur Phänomenologie jedenfalls ist unverkennbar. Es scheint, daß die Kunst des 20. Jahrhunderts sich als der geheime Bündnispartner der phänomenologischen Bewegung erweist, nämlich in der großen Aufgabe, der Erscheinungswirklichkeit Recht und Anerkennung zu verschaffen. In der Phänomenologie wie in den Avantgarde-Bewegungen der Kunst des 20. Jahrhunderts ging es um die Würde des NichtIdentischen, um Präsenz, Ereignis und die Erfahrung leiblicher Existenz. (Mersch 2001)
II. Als einer der Anlässe zur Irritation im Verhältnis von Phänomenologie und Ästhetik war der extensive Gebrauch von Kunst zu Identifizierung und Analyse von Phänomenen innerhalb der Phänomenologie genannt worden. Um diese Verwendung von Kunst zu verstehen, lohnt es sich nun gerade auf die Anfänge der Ästhetik bei Alexander Gottlieb Baumgarten zurückzugehen. Obgleich man nämlich mit gutem Grund behaupten kann, daß dieser Ansatz über Baumgartens Schüler Georg Friedrich Meier sehr schnell zu einer Theorie der schönen Künste, wie es dann bei Sulzer heißt, geworden ist, so muß man doch festhalten, daß bei
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Baumgarten die Kunst nicht der Gegenstand der Ästhetik war. Es ging ihm nicht um Kunst, sondern um die Perfektionierung der sinnlichen Erkenntnis: Wenn man bei den Alten von der Verbesserung des Verstandes redete, so schlug man die Logik als das allgemeine Hilfsmittel vor, das den ganzen Verstand verbessern sollte. Wir wissen jetzt, daß die sinnliche Erkenntnis der Grund der deutlichen ist; soll also der ganze Verstand gebessert werden, so muß die Ästhetik der Logik zu Hilfe kommen. (Baumgarten, 1993,80)
Diesen Satz Baumgartens könnte man noch ganz in kantischer Manier lesen. Das würde zu einer Ästhetik fuhren, die sich dann - wie bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft - als notwendiger Bestandteil von Erkenntnis überhaupt erwiese. Auch das wäre ein mögliches Resultat der Kritik am Rationalismus. Baumgarten zielt aber auf eine Verbesserung der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Im Paragraph 14. der Aesthetica gibt er das Ziel der Ästhetik an: Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis. Haec autem est pulcritudo. - Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Diese aber ist die Schönheit.
Weder also soll die sinnliche Erkenntnis als Zulieferin für die Verstandeserkenntnis ausgebildet werden, noch soll sie in Verstandeserkenntnis überfuhrt werden. Die NichtDistinktheit, die Unbestimmtheit der sinnlichen Erkenntnis soll bewahrt bleiben. Aber, wird man dann fragen, worin besteht ihre Vervollkommnung? Die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis, antwortet Baumgarten, ist die Schönheit. Diese Auskunft ist sicher selbst nicht sehr deutlich, aber eins ist doch klar: Schönheit wird hier nicht als eine Qualität der Objekte der Erkenntnis, sondern vielmehr der Erkenntnis selbst benannt. Das Eigentümliche dieses Gedankens tritt hervor, wenn wir uns seiner Entwicklung bei Meier zuwenden. Meier stellt fest, daß sowohl die höheren als auch die niederen Erkenntnisvermögen zur Naturanlage des Menschen gehören. Diese Anlagen können ausgebildet und verbessert werden, und zwar geschieht deren Ausbildung in divergierende Richtungen. Die Ausbildung und Vervollkommnung der höheren Erkenntnis führt zur Philosophie und Wissenschaft, die der niederen Erkenntnis zur Kunst. Das Wissen, das mit Kunst verbunden ist, wird von Meier im Unterschied zu den philosophischen Wissenschaften auch als schöne Wissenschaft bezeichnet, ein Mensch, der sich in seinen niederen Erkenntnisvermögen vervollkommnet, als schöner Geist. Bei Meier wird die Ästhetik, wie die Titel seiner Schriften sagen, explizit zur Theorie der Künste: Sein erstes Werk heißt Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften (Meier, 1748-1750), ein späteres Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften (Meier, 1757). Das Entscheidende, das in diesem Baumgartenschen und Meierschen Programm der Ästhetik liegt, ist die Auffassung der Künste als Wissensformen. Über sinnliche Erkenntnis verfugt jedermann, und sie ist im Alltag von großer Bedeutung. Die Ästhetik dient der Vervollkommnung dieser Erkenntnis; als vollkommene ist die sinnliche Erkenntnis Kunst. Als Kriterien der Vollkommenheit sinnlicher Erkenntnis - d. h. der Schönheit - nennt Meier Reichtum, Größe, Wahrheit, Lebhaftigkeit, Gewißheit. Ferner soll das Schöne rührend sein, schöne Ordnung und Beziehung enthalten. Diese Kriterien wirken etwas unbeholfen; sie deuten aber an, daß die Wissensvermittlung im Bereich der sinnlichen Erkenntnis, also die Wissensvermittlung durch Kunst, anders stattfindet als in
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Philosophie und Wissenschaft. Das zeigt sich insbesondere beim Thema Rührung. Meier sagt darüber: Eine schöne Erkenntnis muß nicht nur selbst allemal so sehr ergötzen, als möglich ist, sondern sie muß auch über den Gegenstand ein gehöriges Vergnügen und Mißvergnügen verursachen. (Meier, 1757, 47)
Hier zeigt sich, daß die Erkenntnis im sinnlichen Bereich und die Wissensvermittlung durch Kunst über die Affekte geht. Die letzte Wendung Meiers „auch über den Gegenstand ein gehöriges Vergnügen und Mißvergnügen verursachen" bedeutet, daß in der Kunst auch die affektive Beteiligung am Gegenstand vermittelt werden soll, d. h. dessen Annahme oder Ablehnung. Ich fasse zusammen: Nach dem Baumgartenschen Konzept der Ästhetik ist Kunst selbst eine Wissensform, oder besser eine Form der Wissensvermittlung. Sie teilt Wissen mit, indem sie affektive Teilnahme am Gegenstand erzeugt und insofern die Chance eröffnet, die sinnliche Erfahrung dieses Gegenstandes selbst zu machen.
III. Damit sind wir in der Lage, die Rolle von Kunstwerken in der Phänomenologie zu bestimmen: Es ist eben die, die ihnen die Ästhetik Baumgartenscher Prägung zugedacht hat. Sie sind selbst verdichtete und Teilnahme vermittelnde Erkenntnis von Phänomenen. Sie dienen deshalb der Phänomenologie einerseits als Mittel und andererseits könnten sie auch der Mitteilung der Ergebnisse der Phänomenologie dienen. Ersteres ist unstrittig. So greift Hermann Schmitz in seinen Analysen immer wieder auf Zeugnisse der Dichtung zurück. Bei der Darstellung der Dämmerungsangst gewinnt er die Dimensionen, nach denen er dieses Phänomen analysiert, geradezu aus Heines Gedicht Ich weiß nicht, was soll es bedeuten (Schmitz, 1964 ff., Bd. 111,1, 154 ff). Ähnlich bin ich selbst verfahren als ich Dämmerung als ein atmosphärisches Naturphänomen untersuchte (Böhme, 1998). Ich stützte mich dabei auf Goethes Gedicht Dämmerung senkte sich von oben ... Strittig ist vielmehr der zweite Punkt. Wenn zwar Phänomenologen in ihrem Rekurs auf Werke der Literatur durchaus geneigt sind, die Dichter selbst als Phänomenologen anzuerkennen, so sind sie doch fern davon, selbst Dichter werden zu wollen. Sie legen Wert darauf, rational zu sein, d. h. genauer besehen, daß sie ihre Erkenntnisse, die doch durchaus sinnlicher Art sind - beispielsweise auf leiblichem Spüren basieren - diskursiv darzulegen beanspruchen. Hermann Schmitz nennt das Durchbuchstabieren der Phänomene. Freilich bleibt dies in der Regel äußerst trocken, und man fragt sich, ob die Darstellung der Analyse eines Phänomens noch die Darstellung des Phänomens selbst sein kann. Als Beispiel zitiere ich Hermann Schmitz' Phänomenologie des Durstes: Die Enge des Leibes drängt sich dem Dürstenden als beklemmende zusammenschnürende Spannung in Mund und Kehle auf, unterstützt durch die gierigen Kontraktionen der Zunge und Kehle. Die Weite, wohin der Sog der saugenden Richtung führt, ist abgründige Tiefe, die eingesaugt werden soll. (Schmitz, 1964ff, Bd. II.l, 237)
Das Phänomen in seiner Ganzheit ist in dieser Darstellung nicht mehr enthalten, ebensowenig die affektive Betroffenheit, in der es erfahren wird. Aber kann man denn das überhaupt
PHÄNOMENOLOGIE ODER ÄSTHETIK DER N A T U R ?
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erwarten? Ist nicht die Erfahrung eines Phänomens grundsätzlich von der Rede über das Phänomen zu unterscheiden? Sicherlich. Doch es gibt Möglichkeiten, durch die sprachliche Darstellung des Phänomens dessen Erfahrung selbst zu vermitteln. Dafür zwei historische Beispiele. Das eine ist Goethes Farbenlehre. Goethes Farbenlehre muß heute als ein gelungenes Stück Phänomenologie der Natur betrachtet werden. Charakteristisch für Goethes Darstellung seiner Lehre ist, daß er das zentrale Stück seiner Mitteilung nicht Theorie nennt, sondern Didaktik. Tatsächlich beansprucht Goethe auch nicht die Phänomene, von denen er redet, die Fakten, mitzuteilen, vielmehr treibt er Didaktik, d. h. er gibt Anleitungen, wie der Leser die Phänomene selbst erfahren kann. Diese Auffassung seiner Darstellungsweise wird auch dadurch gestützt, daß Goethe seiner Ausgabe der Farbenlehre Materialien für Experimente beigegeben hat. Das ist also das eine Beispiel. Die andere ist die Kunst. Das Besondere des sprachlichen Kunstwerks, insbesondere der Lyrik, besteht ja darin, daß sie eine Sprachverwendung darstellt, in der nicht nur Informationen oder Fakten mitgeteilt werden, sondern dem Leser oder Hörer selbst Erfahrungen vermittelt werden. Hieße das, daß die Künstler die besseren Phänomenologen sind? Das wäre wohl ein Kurzschluß. Denn selbst, wenn man in der Dichtung so überzeugende Beispiele einer Mitteilung von Phänomenen findet, daß man sie zur Grundlage phänomenologischer Analyse wählt, und als Zeugnis phänomenologischer Erfahrung wertet, so fehlt doch die explizite Analyse. Wenn sie allerdings geleistet ist, dann wäre - das entsprechende Talent vorausgesetzt - eine dichterische Darstellung durchaus denkbar. Das klassische Beispiel dafür lieferte wiederum Goethe, indem er seiner Metamorphose der Pflanzen noch eine Elegie dieses Titels folgen ließ, in der es seine Ergebnisse verdichtete. (Böhme, 1999)
IV. Schluß. Ist nun die Phänomenologie, oder zumindest die Neue Phänomenologie, die sich ja entschieden empirisch und naiv gibt, Ästhetik im Sinne von Baumgarten, nämlich perfektionierte, sinnliche Erkenntnis? Und ist umgekehrt die Neue Ästhetik, die sich als Aisthetik um die Ausbildung sinnlicher Erkenntnis bemüht eigentlich Phänomenologie? Wenn man die erste Frage beantworten will, muß man Klarheit darüber schaffen, was eigentlich das Organ der Phänomenologie ist. In der klassischen Phänomenologie, insbesondere der Husserlschen Art, hätte man auf die Frage nach dem Organ das Bewußtsein bzw. die Reflexion benennen müssen. Die Neue Phänomenologie dagegen favorisiert leibliches Spüren und, allgemein, Wahrnehmung. Sicher ist in der Analyse der Verstand tätig, aber das Phänomen ist doch das leiblich-sinnlich Gegebene. Insofern könnte man sehr wohl sagen, daß die Neue Phänomenologie das Baumgartensche Programm erfüllt. Sie dient der Vervollkommnung sinnlichleiblicher Erkenntnis. Dabei muß man - quasi nach Freud - sogar sagen, daß sie die sinnlich-leibliche Erkenntnis nicht nur vervollkommnet oder auch nur rehabilitiert, sondern zum großen Teil überhaupt erst wiederentdeckt und möglich macht. Das heißt aber, daß die Ästhetik qua Aisthetik ihrerseits selbst zum großen Teil Neue Phänomenologie ist, bzw. sich der Methoden der Neuen Phänomenologie bedient. Das trifft insbesondere dort zu, wo sie sich um eine ästhetische Erkenntnis der Natur bemüht. Diese ästhetische Erkenntnis der Natur könnte man durchaus auch Phänomenologie der Natur nennen.
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Umgekehrt aber kann man nicht sagen, daß die Neue Ästhetik, d. h. Ästhetik qua Aisthesik in der Neuen Phänomenologie aufgeht. Denn ihr Interesse gilt primär der sinnlichen Wahrnehmung, bzw. der Unterscheidung von Wahrnehmungstypen und der Bestimmung der Übergänge zwischen ihnen. Nun ist es zwar für grundlegende Wahrnehmungsereignisse wichtig, gerade nicht zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmungsgegenstand zu unterscheiden; gleichwohl muß im Fortgang und in der Differenzierung von Wahrnehmungsweisen dieser Unterschied gemacht werden. Dann tut sich aber doch eine Differenz zwischen Phänomenologie und Ästhetik auf. Denn erstere ist eher am Wahrnehmungsgegenstand, nämlich dem Phänomen, und letztere vielmehr an der Wahrnehmung selbst, bzw. an der Gegebenheitsweise des Phänomens, interessiert. Dadurch erhält die Ästhetik qua Aisthetik einen transzendentalen Zug. Sie trennt sich damit von der Neuen Phänomenologie, die ja gerade ihre Tugend in die Naivität legt, d. h. sich die Phänomene schlicht gegeben sein läßt, ohne danach zu fragen, wodurch die zustande kommen, ohne also Einstellungsweisen, Erzeugende oder auch gesellschaftliche Verhältnisse zu thematisieren. In den Zielen jedoch sind sie sich einig: Der Wiedergewinnung von Wirklichkeit1, der Rehabilitierung der Subjektivität und der Anerkennung von Leiblichkeit als Grunderfahrung menschlicher Existenz.
Literaturverzeichnis Alexander Gottlieb Baumgarten, Texte zur Grundlegung der Ästhetik, übersetzt und hg. von H. R. Schweitzer, Hamburg 1983. Gernot Böhme, Anmutungen. Über das Atmosphärische,
Ostfildern 1998.
Gernot Böhme, „Über die Natur des Menschen", in: G. Seubold (Hg.), Die Zukunft des Menschen.
Philoso-
phische Ausblicke, Bonn 1999. Gernot Böhme, „Die Einheit von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Romantik", in: G. Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik,
Frankfurt/M. 3 1999.
Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. Michael Großheim (Hg.), Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie
in der Diskussion, Berlin
1994. Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften, 3 Bde., Halle 1748-1750. Georg Friedrich Meier, Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und
Wissenschaften,
Halle 1757. Dieter Mersch, Was sich zeigt, München 2001. Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2000. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bonn 1964 ff. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie,
Bonn 1994.
Das Stichwort Realität, unter dem Michael Großheim (1994) die Ergebnisse des ersten Symposions der Gesellschaft für Neue Phänomenologie präsentierte, dürfte unglücklich gewählt worden sein.
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER
Gedanken über den Nutzen von Grenzen
Überwindung von Grenzen als Leitmotiv Die Überwindung von Grenzen ist das Leitmotiv der Moderne. Die Neuzeit, sagt man, fängt an mit der „Entdeckung" Amerikas. Die Entdecker und Eroberer waren die Heldengestalten vieler Generationen von jungen Männern, seltener Frauen. Der Aufbruch in neue Welten und die Kolonisierung wurden zumeist ethisch, nämlich mit der Ausbreitung des Christentums gerechtfertigt. Parallel entwickelten sich Naturwissenschaft und Technik. Sie halfen immer neue Räume zu erkunden und zu erobern. „Schneller, stärker, höher" wurde zur Maxime der Technik im 19. Jahrhundert und zum Motto der Weltausstellungen seit 1850. Als geographisch nichts mehr zu entdecken war, keine Grenzen mehr sichtbar waren, mußte man welche erfinden, um auch sie dann zu überwinden. Das bekannteste Beispiel war, vor 40 Jahren, John F. Kennedy, der mit seinem Programm „New Frontiers", neue Grenzen, zum weltweiten Vorbild der Jugend wurde. Frontiers, das sind die Frontlinien, also die beim Vorwärtsstürmen zu überwindenden Grenzen. Limits wären die begrenzenden Grenzen. Kennedy wollte neue Horizonte auftun. Ihm ging es um die politische Moral der Demokratie im Inneren wie im Äußeren. Im Inneren brachte Kennedy die Gleichberechtigung der Rassen und der Geschlechter mit großen Schritten voran. Im Äußeren schmiedete er die Allianz für den Fortschritt. Sie war auch als Antwort auf den sich in Lateinamerika ausbreitenden Kommunismus gedacht, ähnlich wie Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft die Antwort auf den europäischen Kommunismus war. Und als krönendes Symbol der new frontiers und zugleich als Antwort auf den sowjetrussischen Sputnik wollte er mit dem Apolloprojekt den ersten Menschen auf den Mond bringen. Das Zivilisationsprojekt der Überwindung von Grenzen ging immer weiter. Bald waren es Marssonden, Tiefbohrungen ins antarktische Eis und in die Erdrinde, sowie die technologische Erschließung des Mikrokosmos. Nicht lang, und Kennedys moralischer Impetus war vergessen. Die Feldzüge in neue Gebiete verselbständigten sich. Auch die militärische Komponente, bei Kennedy stets auch vorhanden, wurde stärker. Satelliten waren erst einmal Himmelsspione. Sorgen um die immer kühnere Entgrenzung machte sich Anfang der 1970er Jahre der Club of Rome. Mit einem sehr vereinfachten dynamischen Computermodell wurde gezeigt, daß wenn alles auf der Welt seinem gegenwärtigen Trend folgen würde, der ökologische und poli-
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tische Kollaps vorprogrammiert sei. Der berühmte Bericht an den Club of Rome hieß „Die Grenzen des Wachstums". Und diesmal waren es „limits", nicht „frontiers". Es war wohl das erste Mal seit Malthus 130 Jahre früher, daß die ganze Menschheit vom Gespenst einer Begrenzung des Wachstums verfolgt wurde. Tapfer stellten sich die Wachstumsfreunde dem pessimistischen Bericht entgegen. Man durchwühlte die Erde mit aller Macht nach neuen Bodenschätzen und wurde fundig. Und die Verteuerung des Öls führte zu ungeahnten Einsparelfolgen. Und so konnte die Welt knapp zehn Jahre nach den „Grenzen des Wachstums" vermelden, daß alles nur Einbildung von Pessimisten war. Und es wurde politisch korrekt, wieder in Optimismus zu machen und Grenzen als lästig und zu überwinden anzusehen. Kennedys fünfter Amtsnachfolger Ronald Reagan wurde zum Bannerträger einer neuen, expansiven Ökonomie. Er ergriff die Initiative für die letzte und größte GATT-Runde, die „Uruguay-Runde". Das war 1986, in Punta del Este, Uruguay. Die Runde sollte zum Fanal des endgültigen Sieges des Freihandels über alle anderen Prinzipien werden. Neue Themen wurden aufgerufen, insbesondere der unbeschränkte Dienstleistungshandel (GATS) und der handelsbezogene Patentschutz (TRIPS). Alles, was sich der Dampfwalze des Freihandels entgegen stellte, wurde als „Handelshemmnis" diskreditiert. Wenn eine Stadt ihre eigene Wasserversorgung in der Hand behalten wollte, wurde dies zum Handelshemmnis erklärt. Denn es könnte ja sein, daß ein Anbieter von jenseits des Ozeans das System der Wasserversorgung effizienter und billiger organisieren könnte. Und das wäre doch gut für alle. So lautete die Lehrbuchdoktrin. Die Ökonomie wurde zur Weltreligion. Ökonomische Effizienz wurde zum Maßstab aller Optimierungsprozesse. Und Effizienz war nach ökonomischer Lehre nur dann zu erwarten, wenn Wettbewerb herrschte, welcher nicht durch Grenzen geographischer, politischer oder rechtlicher Natur eingeengt wurde. Die Wucht der neuen Religion - zusammen mit dem militärischen Drohpotenzial - brachte das durch die Friedensbewegung im Westen bereits im Kern verunsicherte kommunistische System zum Einsturz. 1990 war es dann soweit, daß auf der Welt nur noch ein System herrschte, eben das marktwirtschaftliche. Dieses Jahr 1990 sollte ein Wendepunkt der Geschichte werden. Francis Fukuyama rief sogar das Ende der Geschichte aus, nachdem der Streit der Ideologien zu Gunsten der marktwirtschaftlichen entschieden war.
Globalisierung Das logische Ende der Geschichte der Grenzüberschreitungen auf der Erde ist die Globalisierung. Sie wurde zum neuen Paradigma der Nach-1990-Welt. Bis 1992 kam das Wort Globalisierung in der deutschen Umgangssprache noch nicht vor. Ich führe sein plötzliches Auftreten auf drei Phänomene zurück: Außer dem Zusammenbruch des bürokratischen Sozialismus und der Uruguay-Runde des GATT muß auch das Auftreten des Internet als Wegbereiter des Paradigmas der Globalisierung genannt werden. Die Globalisierung hat die Welt in kürzester Zeit durchgreifend verändert. Während des Ost-West-Konflikts waren die Nationalstaaten noch in einer komfortablen Verhandlungsposition gegenüber den internationalen Kapitalmärkten gewesen. Sie konnten stets darauf verwei-
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sen, daß die Zufriedenheit der demokratischen Mehrheiten der beste Garant gegen das Abrutschen ins kommunistische Lager war. So wurde nicht nur Kennedys Allianz für den Fortschritt und Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft im Konsens mit den Banken und mit den Besitzern großer Vermögen durchgesetzt. In allen Ländern gab es eine progressive Einkommensteuer, die die Reichen prozentual stärker zur Kasse bat als die Ärmeren. In allen Demokratien gab es ein soziales Netz, Bildung für alle, eine Gerichtsbarkeit, die die Armen nicht benachteiligte und eine öffentliche Infrastruktur, die allen gleichermaßen zur Verfugung stand. Das Ende des Ost-West-Konflikts hat die Verhandlungsposition der Staaten radikal geschwächt. Das war nicht intendiert, und die Vertreter des Kapitals brauchten zwei, drei Jahre, bis sie so richtig realisierten, daß sie auf einmal viel stärkere Muskeln hatten. Nun aber gingen die Finanzinstitute, allen voran die amerikanischen Pensionsfonds daran, das Prinzip des „shareholder value" durchzusetzen, welches alle anderen Gesichtspunkte unteijocht. Für die Staaten wurde es auf einmal heikel, von den Millionären prozentual höhere Steuern einzutreiben als von den Mittelverdienem. Denn die Reichen und die Investoren konnten sich auf einmal frei von politischen Rücksichten aussuchen, wo sie Steuern zahlten. Sie setzten einen Welttrend der Steuersenkung für Vermögen, für Spitzenverdiener und für die gewerbliche Wirtschaft in Gang, der heute noch anhält. Eine Folge hiervon war auch ein immer noch weiter gehendes Auseinanderklaffen des Abstands zwischen Arm und Reich auf der Erde. Der Staat hat viele Möglichkeiten eingebüßt, dem Kapital noch Grenzen aufzuerlegen. Insbesondere der Schutz und der Ausbau der „Öffentlichen Güter" ist erschwert. Die Globalisierung als Inbegriff der Entgrenzung wird uns noch sehr lange erhalten bleiben. Ich sehe keinen Sinn darin und auch keinen gangbaren Weg, die Globalisierung rückgängig zu machen. Aber man wird sich mit den negativen Auswirkungen der Entgrenzung beschäftigen müssen. Es wird eine der spannendsten Aufgaben der Politik der nächsten Jahrzehnte sein, zumindest international gültige Regeln zu vereinbaren und durchzusetzen, die das Kapital wieder in die Schranken der Unschädlichkeit für das Gemeinwohl zu weisen. Dieses Projekt der Global Governance werden die Staaten nicht alleine bewältigen. Sie sind auf den Schulterschluß mit den nichtstaatlichen Akteuren der Zivilgesellschaft angewiesen. Diese vertreten auf jeweils spezifische Weise die Einhaltung von Regeln und die Begrenzung der Macht der wirtschaftlich Starken. Ein wichtiges Thema ist die Umwelt. Das kühne Ignorieren der Grenzen des Wachstums während der achtziger und neunziger Jahre ist natürlich in keiner Weise gerechtfertigt. Das Entdecken neuer Gasfelder schiebt ja den Zeitpunkt der Erschöpfung lediglich hinaus, und es vergrößert die Treibhauseffektsorgen. Global Governance ist im Bereich der Umweltpolitik ganz besonders nötig. Und in praktisch jedem Fall müssen der klassischen Expansion Grenzen gesetzt werden.
Recht setzt Grenzen Gültige und den Handlungsspielraum begrenzende Regeln sind etwas, was wir auf nationaler Ebene schon seit langem kennen und wertschätzen. Der Rechtsstaat ist eine der wichtigsten und reifsten Errungenschaften der politischen Zivilisation. Und was ist es, was wir so daran schätzen? Ganz einfach: Recht setzt Grenzen!
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Jedes Recht begrenzt die Handlungsfreiheit eines oder mehrerer Akteure. Jedes Recht ist insofern auch eine Art Handelshemmnis. Indem wir das so konstatieren, machen wir sichtbar, daß schon in dem normativ einseitigen Wort „Handelshemmnis" ein dicker ideologischer Kern steckt. Bei einigen Demonstrationen gegen die weitere Weltmarktliberalisierung haben sich Demonstranten mit Buttons oder Aufschriften geschmückt, auf denen stand „Ich bin ein Handelshemmnis". Ihre ethischen Präferenzen, ihr Eintreten für bestimmte Rechtsstrukturen ärgert die Freihandels- und GATT/WTO-Ideologen. Es geht etwa um das uralte Recht der Bauern, aus den Samen ihrer Feldfrüchten neue Pflanzen nachzuziehen; dieses Recht verteidigen sie gegen Saatgutkonzerne, die ein „geistiges Eigentum" an neugezüchtetem Saatgut beanspruchen und dieses u. a. dadurch durchzusetzen versuchen, daß sie das Saatgut für die Weiterzucht unfruchtbar machen, durch das gentechnische Einsetzen von so genannten „Terminator-Genen". Das Recht schützt bei weitem nicht nur gegen Anmaßungen von Handelskonzernen. Es schützt generell die Schwachen. Aber es schützt auch die guten Sitten, ohne die eine Hochkultur nicht auskommt.
Der Nutzen von Grenzen Dieser stenographische Einblick in die Nützlichkeit von durch den Rechtsstaat gesicherten Grenzen kann als Ausgangspunkt für eine allgemeinere Diskussion des Nutzens von Grenzen dienen. Fangen wir mit primitivsten organischen Erfahrungen an. Was sind so nützliche Dinge wie unsere Blutgefäße oder unser Magen oder unser Schädel anderes als Grenzen? Stellen Sie sich vor, ein heimlicher Ökonom in meinem Körper befiehlt, die Blutgefäße als Handelshemmnisse zu entlarven und folgerichtig zu deregulieren! Ich wäre sofort tot. Der Sinn von organischen Grenzen geht aber viel weiter. Einmal bis in die kleinsten Dimensionen. Lungenbläschen und Kapillaren, Zellwände und Zellkernwände, Mitochondrien und andere Zellorganellen sind tragende Säulen des physiologischen Funktionierens. Die allermeisten biochemischen Reaktionen finden nicht in einer flüssigen Lösung sondern an Membranen statt. Dort herrschen sehr spezifische und höchst unterschiedliche Bedingungen vor, die die eine Reaktion begünstigen, die andere verunmöglichen. Und genau diese Differenzierung ist die Basis des mikrokosmischen Lebens. Aber auch in der größeren Dimension sind Grenzen konstitutiv für das Leben. Die Haut oder das Fell, die Rinde oder der Chitinpanzer grenzen den Einzelorganismus von der Umwelt ab. Ohne diese Grenze wäre er nicht nur äußerst verletzlich, sondern auch außerstande, einen verlässlichen Stoffwechsel aufrecht zu erhalten. Weiter geht es mit sozialen Grenzen. Rudel von Wölfen, Bienen- und Ameisenvölker, Familien von Schimpansen sind sorgfältig, aber stets mit einem gewissen Maß an Elastizität von anderen Artgenossen abgegrenzt. Dann kommt die Artgrenze, über die hinaus die Fortpflanzung nicht funktioniert. Dazwischen rangiert noch die lokale Population, manchmal auch die Rasse. Angesichts der ökologischen Frage nach den Grenzen des Wachstums ist ein weiteres Grenzenphänomen beachtlich: daß Tiere, die in einer dem Lebensraum unzuträglichen Dichte leben, im „Dichtestress" ihre Fertilität begrenzen. Auch beim Menschen ist die Fertilität in den
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Städten systematisch viel geringer als auf dem Lande, wozu allerdings auch viele andere Faktoren als die Dichte beitragen. Weiter geht es mit der Evolutionstheorie. Charles Darwin hat ihr ihre endgültige Gestalt gegeben, nachdem er auf den Galäpagos-/«.se/« gewesen war. Dort entdeckte er Finkenarten, die in der insularen Begrenzung die Fähigkeiten entwickelt hatten, die auf dem südamerikanischen Festland von Meisen, Kernbeißern, Spechten oder gar Vampirfledermäusen perfektioniert waren. Die specht-imitierenden Finken hatten gelernt, Kaktusdornen abzubrechen und damit als verlängertem Schnabel in der Borke nach Insekten zu suchen! Darwin wurde klar, daß die Isolation einer der großen Evolutionsfaktoren war. Denn ohne den Schutz der Insellage hätten die gestrandeten Finken nur gerade das fortsetzen können, was Finken besser können als andere Tiere.
Schutz der Schwächeren Im Sinne des Kampfes ums Dasein sind die Specht-Finken den Festlandspechten natürlich unterlegen. Aber für die Evolution ist es gut, wenn das Kräftemessen gar nicht stattfindet. Ein dramatischer Unterschied zur globalisierten Ökonomie! Diese verlangt ja dogmatisch, daß jeder gegen jeden zu kämpfen hat, auf daß dann der Allertüchtigste siegt. Das ist eine erste wichtige Warnung gegen einen Sozialdarwinismus, wie er aus den Lehrbüchern der Ökonomie gelegentlich herausquillt und wie er in Herrenmenschen-Ideologien gedeiht. Dieser Sozialdarwinismus ist schlechter Darwinismus! Diese Beobachtung läßt sich noch wesentlich weiter fortsetzen. Zur Erläuterung bedarf es aber einer historischen Vorbemerkung. Der Darwinismus hatte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein wissenschaftliches Schattendasein geführt. Das lag daran, daß es als mathematisch überaus unplausibel erkannt worden war, daß sich aus den „Mutationen", die man damals kannte und die fast durchweg Monstermutationen waren, jemals eine vernünftige Evolution ergeben könnte. Das änderte sich schlagartig nach 1930, als der „Neodarwinismus" entstand. Seine Erfinder, J. B. S. Haidane, Ronald Fisher, Sewall Wright und später Julian Huxley entdeckten und akzeptierten minimale, also keineswegs monströse Mutationen als Hauptdarsteller der Evolution. Und sie fanden vor allem, daß die erdrückende Mehrzahl der Mutationen „rezessiv" war, also phänotypisch gar nicht in Erscheinung trat, wenn sie mit einem „dominanten" Wildtyp-Gen gepaart auftraten. Nur wenn das gleiche mutierte Gen von beiden Eltern vererbt auftritt, wird seine Eigenschaft sichtbar. Die Rezessivität wurde von den Züchtern allgemein als höchst lästig angesehen, weil man ein als unerwünscht geltendes Gen praktisch nicht herauswerfen kann, weil es eben fast immer unsichtbar ist. Aber genau darin lag nun der Charme und die Erklärungskraft des Neodarwinismus für die tatsächliche Evolution auf der Erde. Im großen „Genpool" einer Tier- oder Pflanzenart konnten sich über Jahrmillionen zig Millionen kleiner Veränderungen ansammeln. Kam dann einmal eine Bedrohung durch Klima, Hunger oder Parasiten, dann schrumpfte die Population und die statistische Wahrscheinlichkeit stieg vor allem in kleinen Rückzugsgebieten sprunghaft an, daß sich seltene Gene gleicher Art trafen, zur Ausprägung gelangten und ausprobieren konnten, ob sie mit der neuen Gefahr vielleicht besser fertig wurden als der Wildtyp. Und wenn das aus tausend Mutanten eine schaffte, dann war die Art vielleicht schon gerettet. Es stellte sich im Neodarwinismus als absolut zentral für die Evolution heraus, daß
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der überlegene Wildtyp die unterlegenen rezessiven Mutanten nicht ausrottete! Der Selektion werden zum Nutzen des Ganzen Grenzen gesetzt! Der Schutz der Schwächeren tritt auch noch in anderen Zusammenhängen auf, etwa wenn Delphine kranke Artgenossen aktiv über Wasser halten oder wenn Leitwölfe eine Beißhemmung gegen schwächere Rudeltiere haben. Immer wieder stößt man auf Grenzen gegen das Austoben der Starken.
Bioethik heißt Anerkennung von Grenzen Lassen Sie mich zum Abschluß auf die auf diesem Philosophenkongreß wohl am heißesten diskutierte Frage der ethischen Grenzen insbesondere in der modernen Biologie eingehen. Es wird unvermeidlich oberflächlich, weil ich hier Laie bin. Die moderne Biologie ist ganz ähnlich wie 150 Jahre früher die Physik und 100 Jahre früher die Chemie voll in den Sog der Wirtschaft geraten. An biologischen Instituten werden lukrative Drittmittelprojekte durchgeführt. Viele Professoren haben Firmen gegründet, mit denen sie ein stattliches Vermögen angesammelt haben. Auf dem Fuße folgt die Sorge um die Weiterbeschäftigung der Mitarbeiter. Und schon ist man als Biologe mitten in den heikelsten ethischen Kontroversen. Wir haben es etwa an der Diskussion um die Forschung embryonalen Stammzellen gesehen. Die angesprochenen Ärzte waren alles andere als überzeugt, daß man diese Forschung braucht. Es waren die Wissenschaftler, die mit medizinischen Heilserwartungen auf den Lippen die Dringlichkeit dieses Forschungszweiges beschworen. Nicht zuletzt an der Universität Bonn. Wobei ich glaube beurteilen zu können, daß embryonale Stammzellen in der Tat wissenschaftlich sehr spannend sind. Damit sind auch Drittmittel und ehrenvolle Karrieren verbunden. Was mich gestört hat, ist die pseudo-medizinische Rechtfertigungslehre. Sie diente offensichtlich als Türöffner, um die Öffentlichkeit von der ethischen Richtigkeit des Forschungsansatzes zu überzeugen, - was man sich mit einer rein wissenschaftlichen Begründung nicht zugetraut hätte. Mit Recht, denn das ökonomische, das Neugier- und das Karriereinteresse ist noch lange keine automatische Rechtfertigung für die beabsichtigte Grenzüberschreitung. Die bedeutet eben auch, das man jenseits dieser Grenze auf eine schiefe Bahn gelangen kann, an deren unterem Ende das Töten von menschlichem Leben für die Wissenschaft oder für die Gesundheit von Millionären stehen kann. Haben wir nicht die Schauergeschichten von verschwundenen Kindern aus brasilianischen Slums und von Spenderorganen mysteriösen Ursprungs gehört? Diese sehr rudimentären Gedanken können dem anspruchsvollen Titel des Vortrags keineswegs gerecht werden. Sie dienen allenfalls als Problemanzeige und Hinweis, daß es noch großer Arbeit bedarf, die positive Rolle von Grenzen zu verstehen und zu illustrieren.
Literaturverzeichnis Emst Ulrich von Weizsäcker (Hg.), Grenzen-los?, Basel 1997.
Kolloquium 11 Grenzreflexionen in der frühen Neuzeit
HANS POSER
Einleitung 1. Polare Begriffe In der Dämmerung des erwachenden philosophischen Denkens der Antike steht ein merkwürdiger, denkwürdiger Grenzbegriff, der des Apeiron des Anaximander. Worauf zielt er ab, was will er ausdrücken - das „Grenzenlose", das „Unbegrenzte"? Beides widerspricht der griechischen Vorstellung eines begrenzten Kosmos, denn der durch Negation zur Begrenztheit gewonnene Gegenbegriff wäre der des Chaos; davon aber ist bei Anaximander nichts zu finden - und schon gar nicht könnte dererlei als ontische Basis alles Seienden gemeint gewesen sein. So wird das Apeiron heute als das In-Sich-Unausgegrenzte gedeutet, das erst durch Limitation, durch Grenzsetzung zu einem bestimmten Soundso wird. Doch wie kann eine solche Bestimmung durch Negation erfolgen? Die Negationsbegriffe, denen man hier, in der Erfahrung der Begrenztheit, begegnet, tragen die grundsätzliche Schwierigkeit mit sich, nur in ihrer Polarität faßbar zu werden: - Das Begrenzte gegenüber dem Unbegrenzten, - das Endliche gegenüber dem Unendlichen, - das Aktuale gegenüber dem Potentiellen.
So erscheint das Endliche als meßbar, wenn es dem Unermeßlichen gegenübergestellt wird, als begrenzt, wenn es dem Unbegrenzten entgegengesetzt wird, als endlich, wenn es mit dem Endlos-Unendlichen kontrastiert wird, und als beschränkt, wenn es die Polarität zum Unbeschränkten ausdrücken soll. Wie der Berg nicht ohne das Tal zu haben ist, läßt sich das Negat nicht ohne das Negierte und das Negierte nicht ohne sein Negat denken und begrifflich fassen: alle atomistisch ausgelegte Begriffsanalyse, jeder logische Atomismus und seine Kombinatorik muß hier scheitern. Denn in der Negation wird die Reflexion auf das Wechselspiel von Negat und Negiertem, von Grenze und Grenzüberschreitung geführt, und erst in diesem Wechselspiel bestimmt sich die eine wie die andere Seite.
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HANS POSER
Daß dem als endlich gedachten Menschen die aktuale Unendlichkeit in der Mathematik geradeso wie in der Physis verschlossen sei und nur die potentielle Unendlichkeit von uns gedacht zu werden vermag - dies entwickelte Aristoteles zur Abwehr der Zenonischen Paradoxien: jene Grenze zu überschreiten müsse Widersprüche zur Folge haben. So trat zwischen das Negat und das Negierte das potentiell Unendliche, das auf einem Weiterschreiten gründet, welches mit jedem Schritt im Endlichen verharrt, ohne dabei je an eine Grenze zu stoßen. Doch nicht nur das Spannungsverhältnis von Endlichkeit/Unendlichkeit mit Dimensionen, die von der Mathematik bis ins Kosmische reichen, weist die eben dargestellten Schwierigkeiten polarer Begrifflichkeit auf - Gleiches gilt für das Paar Notwendigkeit / Kontingenz (welch' letztere in der Tradition durchgängig als eine Un-Notwendigkeit verstanden wurde): Was macht die grenzbestimmende determinatio des Notwendigen aus, liegt sie in der Logik, ist sie als Notwendigkeit der Physis oder als Erkenntnisbedingung zu verstehen? Davon hängt wiederum ab, was als solcher Notwendigkeit entzogen, was als Un-Notwendigkeit, Kontingenz oder gar ursacheloser Zufall gesehen wird. Und wie im Falle der Begriffe unendlich / unermeßlich / unbegrenzt stellt sich die Frage, in welcher Weise die Formen der Modalität untereinander verknüpft sind, denn während die eine Gruppe polarer Negationen Kosmosvorstellungen aufspannt, bildet diese andere aufgrund ihrer modalen Bestimmungen die tragende Struktur einer jeweiligen Metaphysik. - Was für die Physis und die Metaphysik gilt, gilt auch für den Bereich der praktischen Philosophie, nämlich für die Grenzziehung zwischen Gebotenem und Verbotenem; hinzuzunehmen ist allerdings die Ausgrenzung dessen, was - in Abhängigkeit von den beiden deontischen Modalitäten - als ethisch neutral anzusehen ist.
2. Grenzverschiebungen zwischen Mittelalter und frühen Neuzeit Nun kann es an dieser Stelle nicht um einen Entwurf mathematisch-kosmologischer Konzepte, modal gegründeter Metaphysiken und deontisch fundierter Ethik gegen - es sollte nur aufmerksam gemacht werden auf die Hintergründe, die mit vordergründigen Grenzverschiebungen in den drei hier herangezogenen Bereichen verbunden sein müssen, um deren exemplarische Beleuchtung es in diesem Kolloquium gehen soll. Zugleich sind, inhaltlich gewendet, damit die Elemente markiert, die das mittelalterliche Denken bestimmen: (i) Der in seiner räumlichen Ausdehnung endliche Kosmos, dem eine zeitliche Begrenzung durch die Schöpfung einerseits, das Jüngste Gericht andererseits korrespondiert, beides wiederum verbunden mit einer Mathematik, der die Erfassung des potentiell Unendlichen zugänglich sein soll, während die aktuale Unendlichkeit der allumfassenden Unendlichkeit Gottes als dem Absoluten vorbehalten bleibt, (ii) Eine christlich überformte aristotelische Modalitätenlehre, die die Kontingenz in den Möglichkeits-Formen einer Potentialität sah, der als Notwendigkeit die Aktualität Gottes gegenüberstand, (iii) Eine theologisch gegründete Ethik schließlich, deren Gebote und Verbote auf den begrenzten Rahmen gegebener Handlungsmöglichkeit bezogen waren. Ganz anders in der Mitte der Neuzeit. Mit Newtons absolutem Raum und seiner absoluten Zeit - absolut, weil mit über zwanzig göttlichen Eigenschaften versehen (wie Einheit, Ewigkeit, Unteilbarkeit, Omnipräsenz) - waren alle Unterscheidungen von Unermeßlich-
KOLLOQUIUM 11 - EINLEITUNG
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keit und Unbegrenztheit ersetzt durch die Unendlichkeit euklidischer Raumvorstellungen, verbunden mit der Kennzeichnung als Sensorium Dei: Der physikalische Raum wird zugleich als göttlich aufgewertet. Seit Leibniz' Thesen - vom alles durchwaltenden kausalen und finalen zureichenden Grund, welcher Kontingenz mit moralischer Notwendigkeit verbindet, - von der unendlichen inneren Vielfalt der Monaden mit Welten in Welten - und von Gott als oberster Monade
war der Mensch selbst zu einer Unendlichkeit erhoben. Damit haben sich die Grenzziehungen gegenüber dem Mittelalter wesentlich verschoben. - Die Leibnizsche Auffassung einer alles durchwaltenden Rationalität schlägt sich nieder in Wolfis Philosophia practica, die mit den Bänden der Oeconomia endet - nicht im heutigen Sinne von Wirtschaftswissenschaften, sonder als Teil einer Handlungstheorie und Ethik. Hält man dies gegeneinander, die mittelalterlichen Vorstellungen und die Lösungen des 18. Jahrhunderts, so muß zwischen ihnen eine gravierende Veränderung durch Grenzüberschreitung erfolgt sein, um diese neuen Grenzziehungen zu ermöglichen. Immer dann, wenn sich in der Geistesgeschichte große Umbrüche abzeichnen, lassen sich Neubestimmungen solch polarer Art ausmachen; und so hat Koyre die Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit als den Schritt vom geschlossenen Kosmos zum unendlichen Universum gekennzeichnet. Sucht man den Übergang nachzuvollziehen, begegnen einem Begriffspaare, deren sorgsame Unterscheidung heute in Vergessenheit geraten ist. Wenn etwa angenommen wird, was jenseits der Fixsternsphäre liege, sei unermeßlich, nämlich mit keinem empirischen Verfahren ausmeßbar, so geschah dies, um einen Vollbegriff der Unendlichkeit zu vermeiden. Ähnlich besagte die These von der Unbegrenztheit des Kosmos, daß sich im Fortschreiten - getreu dem Gedankenexperiment des Archytas - keine Grenze in den Weg stellen kann; doch war dies als bloß potentielle Unendlichkeit deutlich unterschieden von einer aktualen und absoluten Unendlichkeit, die allein Gott zugestanden wurde. Nikolaus von Kues steht für den Versuch, in der coincidentia oppositorum - etwa eines Kreises mit unendlichem Radius und eines Dreiecks unendlicher Seitenlänge - die Entgegensetzung faßbar zu machen und einer begrifflichen Behandlung zugänglich zu machen, die sich als Element jenes Weges sehen läßt, der bei Leibniz die präzise Fassung des Unendlichen in der Mathematik in endlichen Zeichenreihen einer cognitio symbolica erlaubt. Naturphilosophisch und ontologisch führte dies alles zu einer Ausweitung der Welt im Kleinen wie im Großen, bei der schließlich keine bloße Unbegrenztheit, sondern eine Unendlichkeit behauptet wurde. Damit änderte sich aber auch die theoretische Kennzeichnung des zu Bestimmenden im Spannungsfeld von menschlicher Endlichkeit und der Unendlichkeit Gottes: Wird doch gegenüber der mittelalterlichen Überschreitung aller Grenzen, um zum Grenzenlosen Gottes gelangen zu können, mit Spinozas „omnis determinatio est negatio" eine gänzliche Umkehr des Ausgangs und der Blickrichtung vollzogen. - Ethisch schließlich ging und geht es mit der beginnenden Neuzeit um die Öffnung von Handlungsspielräumen, nicht nur durch den vergrößerten Schatz an Erfahrung, sondern durch die Weitung eines Horizonts, der mit Marco Polo ins Reich der Mitte führte, mit Columbus bis in die Neue Welt - und damit Beschränkungen wie die des Mare Nostrum oder des Römischen Reiches deutscher Nation weit hinter sich ließen.
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HANS POSER
3. Ein ferner Spiegel So bedeuten die Grenzverschiebungen der frühen Neuzeit nichts weniger als den Entwurf einer vollkommen veränderten Weltsicht, aus der heraus sich gänzlich neue Legitimationsstrukturen im wissenschaftlichen Begründen, in den Rechtfertigungen des Wirtschaftshandelns und in der Begriffsbildung und Beweistechnik der Mathematik ergaben: drei Problembereiche, die in den folgenden Beiträgen exemplarisch verdeutlichen werden, wie tiefgreifend die damit verbundenen Veränderungen gewesen sind. Zugleich mag an ihnen ablesbar sein, welche Einschnitte es sind, vor denen wir heute stehen, ohne schon zureichend begriffen zu haben, was sie bedeuten: Unsere Sichtweise steht im krassen Gegensatz nicht nur zum angedeuteten mittelalterlichen Weltbild, sondern geradeso zu frühneuzeitlichen wie neuzeitlichen Grenzziehungen. Den drei Problembereichen korrespondierend sei dies angedeutet: Zum einen: Nach unseren Vorstellungen ist der Kosmos grenzenlos, aber er besitzt ein endliches Volumen; ein Anfang des Universums und aller Zeitlichkeit im sogenannten Urknall wird zwar in den heutigen Kosmosmodellen angenommen, doch kein Ende, sondern eine Ausdehnung, die alle Grenzen überschreitet. Gewonnen aber sind diese Modelle mit einer Mathematik, die im Kleinsten wie im Größten auf aktuale Unendlichkeit gebaut ist; denn selbst wenn die Resultate mit Maschinen errechnet sind, die immer im Endlichen verharren, so verlangt die Begründung der dabei verwendeten Approximationsverfahren eine Mathematik, die die Grenzen der Endlichkeit ebenso wie der potentiellen Unendlichkeit hinter sich lassen muß. Nur scheinbar handelt es sich dabei um innerphysikalische und innermathematische Probleme, denn tatsächlich sind diese veränderten Begriffsbildungen Beleg für eine tiefgreifende Veränderung in der Auffassung dessen, was menschliches Denken zu leisten vermag, wo seine Grenzen liegen und wie es sich zum Ganzen des Kosmos verhält. Zum anderen: Wir sind Zeugen einer tiefgreifenden Veränderung im modalen Denken. Davon zeugt der in der Gegenwart auf alles Geschichtliche bezogene Gedanke einer Evolution des Kosmos, des Lebens, des Psychischen und des Geistigen, verbunden mit den Zumutungen des radikalen, nicht-prognostizierbaren ontischen Zufalls in Gestalt der Mutation und mit der Selbstorganisation als Zufallsweg aus dem Chaos - gespiegelt in einer Mathematik fraktaler Strukturen, nichtlinearer und geschlossen nicht lösbarer Gleichungen bei gleichzeitiger Abhängigkeit der mathematischen und logischen Strukturen von frei wählbaren axiomatischen Setzungen: Die Welt wird als Produkt des Zufalls gedeutet! Die Ontologie einer solchen Prozeßhaftigkeit hat Whitehead wohl als einer der ersten entworfen eine Ontologie, die sich auf frei wählbare Gedankenschemata als dem geschichtlich gewordenen Pendant kantischer Denkformen stützt und deren Leitkategorie eine das Universum bis hin zum menschlichen Denken und der göttlichen Creatio continua durchziehende Kreativität ist. Zum dritten: Der veränderten Lage in den beiden genannten Bereichen korrespondiert in der praktischen Philosophie als Pendant der Verlust einer einenden reinen Vernunftgegründetheit der Ethik ebenso wie eines Naturrechts; an deren Stelle ist eine breite Skala heterogener Ethiken und Rechtssysteme getreten. Das hat seinen Niederschlag auch im Bereich ökonomischer Theorien gefunden: statt von einem rational-egoistischen Homo oeconomicus auszugehen und von einer Entscheidungstheorie, die fraglos hervorragend zur Optimie-
KOLLOQUIUM 11 - EINLEITUNG
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rung der Lagerhaltung geeignet ist, zeichnet sich ein ganz neues Verständnis wirtschaftsethischer Prinzipien im Spannungsfeld von regionaler Kultur und Globalisierung ab. Die heutige Umbruchsituation sollte uns sensibel machen für Grenzverschiebungen der frühen Neuzeit, denn sie betreffen nicht etwa nur die Absetzung vom Mittelalter, sondern sie erlauben zugleich, in ihnen unsere Gegenwartsprobleme zu spiegeln, um so jene Veränderungen wahrnehmen zu können, zu denen uns selbst der zeitliche Abstand fehlen muß.
HUBERTUS BUSCHE
Die moralische Entgrenzung der Ökonomie in der Frührenaissance Exemplarische Argumente des Florentinischen Stadtbürgerhumanismus 1400-1460
Kaum eine andere Grenzverschiebung hat, in Verbindung mit Wissenschaft und Technik, das Gesicht unseres Planeten und das Selbstverständnis des Menschen so radikal verändert wie die neuzeitliche Grenzverschiebung innerhalb der Moral des Wirtschaftens. Buchtitel der letzten Jahre, die die ,Entfesselung' oder gar den ,Terror der Ökonomie' beklagen, mögen reißerisch übertrieben sein, dokumentieren aber ein Problem, das andere Epochen nicht kannten. Versteht man unter „Ökonomie" einfach das Wirtschaften mit knappen Ressourcen, so hat dies von sich aus keine bestimmten Grenzen. Ob es auf bloße Bedarfsdeckung oder auf ungehemmte Gewinnmaximierung geht, ob es den privaten oder den staatlichen Haushalt regelt, immer findet das Wirtschaften erst Grenzen durch die geistige Einstellung oder Moral seiner Akteure. In der Wirtschaftsmoral aber läßt sich kaum ein größerer Umschwung denken als der vom franziskanischen Ideal des 13. Jahrhunderts, durch freiwillige Armut frei zu werden für den Nächsten und für die geistigen Schätze des Himmels, hin zum masseneudämonistischen Ideal des 19. Jahrhunderts, den größtmöglichen Wohlstand für die größtmögliche Zahl zu produzieren. Dieser langfristige Wandel der Wirtschaftsmoral, mag man ihn beschreiben als „Geist des Kapitalismus", als „ökonomischen Individualismus" oder einfach nur als „Modernisierung", ist in seinen historischen Ursachen höchst umstritten, insbesondere dort, wo man ihn nicht nur durch soziokulturelle Realfaktoren erklären, sondern auch durch geistige Strömungen verstehen will. Hier lassen sich, grob vereinfacht, drei Forschungsrichtungen 1 unterscheiden, die unterschiedliche Epochen geltend machen.
1. Drei Forschungsperspektiven auf den Ursprung der modernen Wirtschaftsmoral Die bekannteste Richtung hatte Max Weber etabliert mit seiner These, daß die Ethik des sog. „asketischen Protestantismus", d. h. vor allem des Calvinismus und seines angloamerikanischen Sprößlings Puritanismus zur Haupttriebfeder geworden sei für den neuzeitlichen „Geist des Kapitalismus", d. h. jenen spezifisch okzidentalen „ökonomischen Rationalismus", der sich durch hochgradig berechnende Organisation (formell) freier Arbeit auszeichDiese „three schools of opinion" unterscheidet etwa auch McGovern 1970, 217 f. Seine synthetische Darstellung, der ich viele Anregungen verdanke, gibt einen glänzenden Überblick über den Stand der damaligen Forschung.
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net (Weber 1988, 12, 7 f.). Nicht eine größere Weltzugewandtheit der Protestanten habe die neue Wirtschaftsmentalität vorangetrieben, sondern erstens die schreckliche Ungewißheit der Calvinisten bezüglich der Prädestination, die sie dazu trieb, sich - ganz gegen den Geist Jesu - Schätze auf Erden anzuhäufen als Zeichen der Erwähltheit durch Gott, zweitens die puritanische Auffassung von Arbeitsdisziplin, Sparsamkeit und Gewerbefleiß als Pflichten gegen Gott, die zu „innerweltlicher Askese" bei gleichzeitiger Hypertrophie wirtschaftlicher Aktivität geführt habe. Diese „Webersche These" hat bekanntlich eine uferlose GelehrtenKontroverse entfacht2, zu der auch die Streitfrage zählt, ob religiöse Motive überhaupt gravierende Kausalfaktoren sein können im Vergleich zu sozioökonomischen Realfaktoren.3 Der Einwand gegen die Weber-Schule jedoch, der seinerseits eine zweite Forschungsperspektive etabliert hat, lautet, daß Weber historisch zu früh ansetzt, weil der ökonomische Individualismus erst durch die Emanzipation von religiösen und naturrechtlichen Normen, folglich erst im Nachlassen der reformatorischen Glaubensstärke und ihrer sozialethischen Bindungen freigesetzt worden sei.4 Entsprechend beginnt die kapitalwirtschaftliche Mentalität z. B. für Samuelsson erst mit der Demokratisierung (Samuelsson 1961, 1-26), für Fanfani erst mit dem Laissez-faire-Prinzip des 18. Jahrhunderts (Fanfani 1972, 14—40). Eine dritte Richtung nimmt schließlich umgekehrt an, Weber habe zu spät angesetzt, da die Wurzeln des Umbruchs weit vor die Reformation zurückreichten. Sie sucht ihn seit Sombart im säkularisierten und individualisierten Geist der Renaissance (Sombart 1920, 135; Nef 1941, 2; von Martin 1949, 25-44) oder läßt die politisch-ökonomische Modernisierung Europas schon mit den neuen Unternehmern der spätmittelalterlichen flämischen, italienischen und deutschen Handelszentren beginnen, die allesamt „Catholics in their own way" waren (Trevor-Roper 1967, 1—45, hier 30). Und de Roover, der die „kommerzielle Revolution" im 13. Jahrhundert entdeckt hat (De Roover 1942)5, betont sogar die Verwurzelung des englischen Wirtschaftsliberalismus in der scholastischen Tradition (De Roover 1951 u. 1955). Insgesamt scheinen alle drei Perspektiven ihren Anteil an der historischen Wahrheit beanspruchen zu dürfen, denn sie analysieren verschiedene Phasen des umgreifenden Prozesses, den Koslowski charakterisiert als neuzeitliche „Freisetzung der kommerziellen Motivationsstruktur aus religiösen und kulturellen Bezügen" (Koslowski 1982, 13). Es scheint mir dagegen falsch, den Fluchtpunkt dieses Prozesses mit Polanyi zu interpretieren als „Nichtmehr-Eingebettetheit (disembeddedness)" des Wirtschaftens in transökonomische Maßstäbe
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Als wertvolle Diskussionsbände vgl. Kitch 1967, Biermann 1968, Eisenstadt 1968 und Green 1973. So formuliert etwa Robertson 1933, XVI, sein Beweisziel: „I wish to show that the spirit of capitalism has arisen rather from the material conditions of civilisation than from some religious impulse." Tawney sympathisiert zwar insgesamt mit der Weberschen These, korrigiert sie jedoch in zwei Richtungen: einerseits liege der Reformation bereits eine „economic revolution" im Sinne des Kapitalismus voraus (Kap. 2); andererseits habe sich der „economic individualism" (Tawney 1958, 65) aber erst bei den späteren Puritanern entfaltet, die den theologischen Soziallehren das Recht abstritten, in das durch Eigeninteresse motivierte Spiel der Wirtschaft einzugreifen (Kap. 4). Ähnlich argumentiert Hudson, daß der Kapitalismus in England sein Potential erst dem „waning of religious faith" und dem Aufkommen der Demokratie verdanke (Hudson 1961, 96 f.); ähnlich Solt 1968, insb. 22 f. Auf de Roovers Spuren sind Lopez/Raymond 1955 den Ursprüngen und Verläufen dieser „commercial revolution" nachgegangen; vgl. auch Lopez 1971.
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(Polanyi 1957, 243 ff.; 1971). Erst recht irreführend scheint Waibls Rede vom „Primat der Ökonomie vor der Ethik", durch den Moral und Ethik zunehmend zur „ancilla oeconomiae" degradiert seien (Waibl 1992, 161). Wie ich im folgenden plausibel machen will, scheint es vielmehr ein Wandel innerhalb der Moral selbst gewesen zu sein, mit der sich die Neuzeit zunehmend von der alteuropäischen Tradition abgespalten hat. Nicht hat sich die Ökonomie gegenüber der Moral verselbständigt, sondern die Moral selbst hat sich zunehmend geöffnet für die Ökonomie (vgl. Busche 2001). Diesen Prozeß nenne ich die moralische Entgrenzung der Ökonomie,6 Was sich historisch feststellen läßt, ist eine langfristige Steigerung der ökonomischen Rationalität und ihrer geldwirtschaftlichen Aktivitäten. Daß die Moral eine entscheidende Rolle bei dieser Entgrenzung der Ökonomie gespielt habe, ist nicht mißzuverstehen im hyperidealistischen Sinne, als sei Moral die Ursache des ganzen Prozesses gewesen. Die These von der moralischen Entgrenzung der Ökonomie besagt vielmehr, daß Moral eine fundamentale condicio sine qua non der Entwicklung ausgemacht hat, nämlich als moralische Legitimation des Gewinnstrebens. Im Unterschied zur bloßen „Ideologie", die entweder ein unverbindliches Kollektivbewußtsein von „Werten"7 oder sogar die Rationalisierung eigennütziger Interessen bezeichnet (vgl. Barion 1974)8, kann „Moral" definiert werden als die innere Einstellung des Wertens und Wollens bezüglich dessen, was für die Menschen allgemein gut ist. „Moralität" meint dagegen mehr, nämlich die Bereitschaft, auch gegen eigene Interessen nach diesen Maßstäben des allgemein Guten zu handeln. Der fundamentale Moralwandel aber, der die Grundlage für alle späteren ökonomischen Theorien von William Petty bis Adam Smith bildet, scheint sich tatsächlich in der Renaissance zu vollziehen. Er besteht in der moralischen Rehabilitierung des Strebens nach Wohlstand und in der Nobilitierung des ökonomischen Fortschritts durch produktivitätssteigernde Tugenden. Beides bildet den Kern dessen, was Luhmann einmal die „Chimäre der Neuzeit" genannt hat, nämlich „Wachstum", d. h. aber: fortschreitende Grenzerweiterung. Zugleich kommt es mit der Legitimierung des irdischen Wohlstands auch zu utilitarischen Einstellungen. Sie werten das unmittelbare Wohltun aus Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten ab zugunsten eines moralischen, aber kaum noch Moralität erfordernden Bewußtseins, durch eigennütziges Wirtschaftshandeln mittelbar segensreiche Folgen für das Allgemeinwohl zu erzeugen. Diese Utilitarisierung der Moral drückt sich in Adam Smiths berühmtem Wort aus: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe [...]" (Smith
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Den Begriff „Entgrenzung" verwendet auch Gerschlager 1996, 9. Die „neuzeitliche Dynamik" spiegele sich „auch auf der Ebene des ökonomischen Systems wider: Entgrenzung bezeichnet hier Universalisierung und Expansion". Dem „Prozeß realökonomischen Wachstums" entspreche „eine Entgrenzung im ökonomischen Denken". Diesen leider sehr vagen Leitbegriff wählt Dumont in seiner sonst vorzüglichen Studie. Er gebraucht den Ideologiebegriff, um „the modern revolution, a revolution in values, which has taken place", zu beschreiben: „I define ideology as the totality of ideas and values common to a society or to a group of people in general." (Dumont 1977, 7) Das entspricht dem frühen, von Destutt de Tracy bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Ideologiebegriff. Dies scheint der gemeinsame begriffliche Nenner fast aller modernen Konzepte von Ideologie zu sein, ob sie nun marxistisch sind oder nicht.
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1996, 17). Dieses Eigennutz-Argument ist nicht etwa amoralisch, sondern Ausdruck einer Wohlstands- und deshalb wirtschaftsfreundlichen Moral. Es ist aber schon die Renaissance, die eine solche wirtschaftsewigrenzende Moral ausbildet und mit der wirtschaftsftegrenzenden Moral des Mittelalters bricht. Um das zu erläutern, will ich eine altbekannte historische Bühne neu betrachten. Es ist die italienische Frührenaissance und insbesondere jenes Florenz, das schon Sombart das „Newyork des Quattrocento" genannt hat (Sombart 1920, 136). In diesem Florenz, „the Masterpiece of the Commercial Revolution" (Lopez/Raymond 1955, 69 f.), werden exemplarisch die Weichen für Europas Modernisierung gestellt. Der Mentalitätswandel, der sich allgemein mit der Renaissance vollzieht, ist so radikal, daß sich weite Teile der Reformation verstehen lassen als restaurative Versuche, den hier ins Freie drängenden Flaschengeist der Kommerzialisierung wieder zu verstöpseln durch ursprüngliche Reinheit in Religion und Moral. Was insbesondere Florenz zu einem exemplarischen Mikrokosmos für Moralforschung qualifiziert, ist der Umstand, daß uns hier außerordentlich viele zeitgenössische Textzeugnisse für den moralischen Umbruch überliefert sind, bei denen die soziokulturelle Stellung ihrer Autoren klar erkennbar ist. Die folgende historische Analyse betreibe ich nicht etwa in der Absicht, die Entgrenzung als Fluch oder Segen für die Menschheit zu bewerten. Vielmehr betreibe ich sie möglichst unparteiisch, um mögliche metahistorische Maßstäbe für eine philosophische Wirtschaftsethik auszuloten.
2. Die moralische Rechtfertigung von Wohlstand und Kommerzialisierung durch die Florentiner Frühhumanisten Die drei sozioliterarischen Gruppen, die den Entgrenzungsdiskurs nicht nur in Florenz, doch hier besonders deutlich prägen, sind 1. die neue Klasse von international operierenden Großkaufleuten und Bankiers, 2. ein politischer Zirkel von Humanisten und 3. die traditionelle Gruppe der Theologen. Hierbei transponieren die Humanisten die innovative Mentalität der Geschäftsleute auf eine philosophisch-moralische Reflexionsebene. Die erste Formation, die die reale Expansion des Wirtschaftlichen vorantreibt und den moralischen Umbruch provoziert, ist die seit dem 13. Jahrhundert aufsteigende neue Klasse der Großkaufleute, die sich von den alten Mächten des Adels und Klerus emanzipiert.9 Träger der neuen Geldaristokratie, die es oft zu ungeheurem Reichtum und politischem Einfluß in den Stadtstaaten bringt, ist der Typus des „individualistischen Unternehmers" (von Martin 1949, 30-36). Der Zweck seines Wirtschaftens ist nicht mehr die Bedarfsdeckung, sondern die Gewinnsteigerung für einen luxurierten Lebensstil auch der Nachkommen. Um gewinnbringend mit dem Geld zu arbeiten, ist der neue global player teils reisender Großkaufmann, der die Profitchancen und Risiken seines in Warenströmen bis in den Orient investierten Kapitals nach neuen Buchfuhrungsmethoden kalkuliert; teils ist er Bankier, der mit Kreditgeschäften Zeit in Geld verwandelt. In beiden Erwerbsformen kooperiert er mit internationalen Geschäftspartnern, oft in Handelsgesellschaften. Die Einstellung und Moral, die in diesen Finanzdynastien der Peruzzi, Strozzi, Chigi oder Medici herrscht, artikuliert sich in den inzwischen gut erforschten Genres ihrer Lebenserinnerungen (Ricordi oder Ri-
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Im folgenden stütze ich mich auf Brucker 1977, Cipolla/Borchardt 1979, Trexler 1980 und Fischer 1986.
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cordanze) und ihrer neu etablierten Handbücher für den guten Kaufinann bzw. Handbücher für Geschäftspraktiken (Bec 1967; Branca 1986). Die neuen Handbücher und Ratgeber für die Großkaufleute finden im Italien des Quattrocento ein großes Gehör. Aus ihnen spricht eine neue, rationalisierte, und von religiösen Skrupeln weitgehend befreite Geschäftsklugheit, die man kaum anders bewerten kann denn als „economic opportunism, acquisitiveness, and egotism" (McGovern 1970, 243). Die Handbücher sind ein Paradebeleg für Luhmanns These von der frühneuzeitlichen Umstellung der Gesellschaft von hierarchischer auf funktionale Differenzierung (Luhmann 1997, 707-743). Denn gerade die funktionale Abkopplung einer eigenen Wirtschaftsliteratur von religiösen und moralischen Traktaten trug dazu bei, die ältere Wirtschaftsmoral aufzuweichen durch Ausdifferenzierung einer rein ökonomischen Systemrationalität. In den Maximen und Sprichwörtern des neuen Genres tauchen auch die neuen Werte und Einstellungen auf, die allesamt diktiert werden von der Gewinnmotivation. Hierzu zählen Wirtschaftlichkeit, Voraussicht, rigorose Durchplanung der Lebensführung und strategischer Umgang mit anderen Menschen. 10 In den Ricordi dagegen artikuliert sich auch, zumindest als dünner Firnis, eine Moral. Sie ist weit entfernt von einer christlichen Ausrichtung auf das andere Leben und auf das Heil der Seele. Man ist nicht areligiös, doch die Religion hat kaum normative Gegengewichte gegen die wirtschaftliche Reineke-Fuchs-Mentalität. Daß die Kaufleute z. B., „wenn sie dem Tode nahe waren, eine große Zahl von Seelenmessen bestellten und anordneten, daß ein 10
Typisch für die moralisch enthemmte Geschäftsklugheit ist etwa der Libro di Buoni Costumi, den Paolo da Certaldo um 1350 schreibt und in dessen Fußstapfen sich später zahlreiche andere bewegen (Bec 1967, 214, Anm. 324). Alles untersteht hier der nicht ganz christlichen Generalmaxime „Bemühe dich mehr um deine Person als um andere" (Certaldo 1945, 78, Nr. 80). Certaldo zählt es - neben der Rache und dem Liebesgenuß mit einer guten Ehefrau - zu den größten Freuden der Welt, „d'essere molto ricco", umgekehrt zu den größten Schmerzen, arm zu sein (ebd. 159 f., Nr. 276). An diesem Ziel großen Reichtums gemessen ist es „eine schöne und große Sache zu wissen, wie man Geld gewinnt". Allerdings ist es „eine noch schönere und größere Sache, zu wissen, wie man es [das Geld] ausgibt mit Maß und wie es sich gehört" (ebd. 78, Nr. 81). Dazu braucht man eine kontrollierte Lebensführung: „Halte den Mund geschlossen und die Augen offen" (ebd. 64, Nr. 6). „Passe auf, daß du dich niemals verliebst, denn für die Liebkosung oder freundliche Aufnahme, die sie dir entgegenbringen, streicheln sie nicht dich, sondern dein Geld" (ebd. 145, Nr. 247; vgl. 111 f., Nr. 135). Aus demselben Grund darf man keinem trauen, nicht einmal den Freunden und eigenen Kindern (ebd. 241-243, Nr. 375; für Bec 1967, 60, ist das „non ti fidare" sogar „la phrase-clef de l'éthique mercantile" dieser ganzen Zeit). Klug dagegen ist die strategische Ausnutzung anderer Personen und des eigenen Images. So bilden und erhalten gelegentliche Zuwendungen an die einflußreichen Ratsherren deren Freundschaft (ebd. 110 f., Nr. 133). Und wer gegenüber den Geschäftspartnern seine Moral und religiöse Rechtgläubigkeit gut zu instrumentalisieren weiß, gewinnt mit der Reputation auch finanziellen Kredit (vgl. McGovern 1970, 244). Zu dieser von religiösen Skrupeln befreiten Wirtschaftsmentalität passen auch neue Sprichwörter wie „Die größeren Fische fressen die kleinen" (ebd. 245, Anm. 123). Das Entscheidende ist hier überall, daß angesichts der neutestamentlichen Alternative zwischen Gott und Mammon (Mt. 6, 24) dem Geld das größere Vertrauen entgegengebracht wird. So schreibt ein anonymer Großkaufmann um 1370: „Bedenke, daß das Geld alle Hilfe ausmacht, die du hast. Es ist dein Schutz, deine Ehre, dein Gewinn und deine Zierde." Und wenig später sekundiert ein Giovanni Morelli: „Achte darauf, daß du jederzeit Bargeld zur Verfügung hast! Behüte es sorgfältig und gebrauche es weise, denn es ist dein bester Freund und dein liebster Verwandter!" (nach Martines 1963, 19 f.).
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beträchtlicher Teil ihres Vermögens frommen Zwecken zufließen solle" (Tenenti 1990, 221), ändert nichts daran, daß ihre Alltagsmotivation frei ist von Gewissensnöten bezüglich Mt. 19, 24, wonach eher ein Kamel durchs Nadelöhr gelangt als ein Reicher ins Reich Gottes. Die Moral, an die man sich hält, ist vielmehr geprägt durch einen gemeinflorentischen Ehrenkodex, durch dessen grandiose Beachtung sich die upper classes als würdig erweisen wollen, die Spitze der städtischen Sozialpyramide zu bilden. Diesem Kodex gemäß steigt das Sozialprestige umso höher, je mehr der vier folgenden Kriterien erfüllt sind: 1. ehrbar erworbener Reichtum, 2. Einfluß durch ein öffentliches Amt, 3. Abstammung von einer alten Florentiner Familie, und 4. enge Heiratsbande zu politisch und wirtschaftlich einflußreichen Familien (Martines 1963, 18, 62). Der eigentlich moralische dieser Faktoren, die ricchezza onorabile, ist im Grunde nur an zwei Maßstäbe gebunden: Der Reichtum darf nicht illegal bzw. nicht durch Habgier und Wucher erworben sein, und seine Anhäufung darf nicht, wie beim Parvenü, zu schnell erfolgen. Darüber hinaus hat man eine moralische Bindung an das Vaterland. Die zweite entscheidende Gruppe ist nun ein bestimmter Florentiner Humanistenzirkel. Er übernimmt weder einfach die zweckrationale Gerissenheit noch die Moral der ersten Gruppe. Aber er bilanziert moralisch die Phänomene des neuen Reichtums, der sich infolge der großen Handels- und Gewerbefreiheit in der Republik entfaltet hat, wenn auch nicht ohne soziale Unruhen (vgl. Brucker 1977, 39-46). Ganz allgemein attestieren die Kulturhistoriker von Burckhardt bis Burke dem Renaissancegeist die Charakterzüge der Verweltlichung und des Individualismus (Burckhardt 1928, 131-170; 496 f.; Burke 1996, 34-36; Dilthey 1970, 19 f.) Der hier zu betrachtende Humanistenkreis aber treibt die Ablösung vom Geist des Mittelalters viel weiter durch seine Neubewertung des irdischen Wohlstands und der Ökonomie. Hans Baron hat treffend zwei Phasen des italienischen Frühhumanismus ausgemacht. Die erste Phase, die auch durch Petrarca und Boccaccio repräsentiert wird, ist in vielen Hinsichten geprägt durch den franziskanischen Geist freiwilliger Armut und Geringschätzung irdischer Güter. Die zweite Phase, die sich als Revolte gegen diese Weltverachtung verstehen läßt, beginnt erst um 1400 (Baron 1938). Die Republik Florenz, außenpolitisch in der Zange zwischen den expandierenden Mächten Mailand und Kirchenstaat, versteht sich nach dem Vorbild des antiken Athen, erklärt aber auch Cato und Cicero zu ihren Helden (vgl. Flasch 1986, 516 f.). In dieser Phase wird der Humanismus eminent politisch, bevor er sich ab 1460 wiederum ins LiterarischÄsthetische zurückziehen wird (vgl. Martines 1963, 1-9). Die bedeutendsten Vertreter dieses „stadtbürgerlichen Humanismus (civic humanism)" (Baron 1966) sind alle im weitesten Sinne Schüler des Kanzlers Coluccio Salutati (1336-1406). Es handelt sich v. a. um Leonardo Bruni (ca. 1370-1444), Poggio Bracciolini (1380-1459), Leon Battista Alberti (14041472) und Matteo Palmieri (1406-1475). Ihre relativ homogene Gruppe gehört zu den wohlhabenden Schichten und hat enge Kontakte zur Finanzoligarchie (vgl. Martines 1963, 98 f.). Sie preist den bios politikos und hat nichts übrig für bloß Beschauliche und Mönche, schon gar nicht, wenn sie betteln (vgl. Hay 1961, 124-129; Mc Govern 1970, 235). Und sie entwirft die bürgerliche Vision einer irdischen Stadt, in der der Wohlstand und die Ökonomie Grundpfeiler des menschlichen Glückes sind. Es ist ihre Neubewertung irdischen Reichtums, die sich über Italien auf England und das übrige Europa ausbreiten wird. Und schon bald werden Regierungen diesen Humanistentyp als Berater in ökonomischen Fragen
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berufen (vgl. Schumpeter 1954, 155-161; Ferguson 1965, 315-340). Die moralischen Umwertungen des Bürgerhumanismus lassen sich in zwei Hauptpunkte gliedern, die beide die Steigerung oder Entgrenzung des Wirtschaftlichen rechtfertigen: a) die moralische Rehabilitierung des Strebens nach Reichtum, b) die Proklamierung produktivitätssteigernder Tugenden für den ökonomischen Fortschritt. a) Die moralische Rehabilitierung
des Strebens nach Reichtum.
Was die moralische Rehabilitierung des Strebens nach Reichtum betrifft, so besteht sie wiederum in der Ausräumung zweier moralischer Vorbehalte, die das Mittelalter gegen den Reichtum hegt. Der erste ist vervollkommungsethisch und besagt, daß irdischer Reichtum den Geist von seinen moralischen und religiösen Zielen ablenkt. Der zweite ist sozialethisch und besagt, daß der Reiche nur reich sein kann auf Kosten des Armen. Beide Argumente sucht der stadtbürgerliche Humanismus zu entkräften. Der Verdacht, daß Reichtum die Vervollkommnung des einzelnen behindere, hat eine stoische und eine christliche Lesart, die im Mittelalter oft verbunden werden. Nach der stoischen Güterlehre sind die äußeren Güter überhaupt irrelevant für das Glück. Die Sorge um sie stört nur die Ataraxie und Herrschaft des Weisen über sich selbst. Die christliche Lesart erkennt diese reziproke Proportion auch beim Verhältnis von Gott und Mammon (Mt. 6, 24). Denn Reichtum fessle das Herz an irdischen Genuß und lenke von Gott und dem Nächsten ab. Exemplarisch für das ganze Mittelalter ist hier das schon bei Cyprian zu findende Diktum, daß ,je reicher du im irdischen Leben gewesen bist, desto ärmer du bei Gott wirst (quo locupletior saeculo fueris, pauperior Deo fias)" (De opere et eleemosynis, Kap. 13; Migne, Patrologia Latina, Bd. 4, 634). Die Verbindung der stoischen und christlichen Vorbehalte ist typisch auch für das vorherrschende Armutsideal des italienischen Spätmittelalters, und sie taucht oft als politisches Menetekel auf. So klagt etwa Boccaccio 1360 im Trostbrief an den verbannten Pino de' Rossi, die Florentiner seiner Tage hätten nichts von jener „ehrbaren Armut" behalten, die zur sittlich-politischen Größe gehöre. Wie der Aufstieg des Römischen Reiches auf Armut und Genügsamkeit gegründet gewesen sei, so sei umgekehrt sein Verfall unausweichlich geworden, sobald der Reichtum mit seinen Begehrlichkeitserweckungen das Privatleben infiziert habe (Boccaccio 1877, 80, 79 f.). Und noch der Lehrer unserer stadtbürgerlichen Humanisten, Coluccio Salutati, variiert dies 1381 in De saeculo et religione mit stärker christlichen Akzenten: Christus, Petrus, Paulus, ja alle ursprünglichen Christen seien bewußt arm gewesen. Mit der Konstantinischen Schenkung aber seien Glanz, Luxus und Machtgier in Staat und Kirche eingezogen, und dieser Verlust der altrömischen Gleichung von „virtus" und „paupertas" habe die Korruption bewirkt (Salutati 1957, II 9, 121-131). Schon Salutatis Schüler jedoch können in solchem Lobpreis des einfachen Lebens nur politischen Romantizismus erblicken, der die Zeichen der neuen Zeit noch nicht erkannt hat. Ihre neue Apologie des Reichtums beruft sich auf Aristoteles und Seneca und besteht negativ darin, das stoische Schlichtheitsideal als unpolitisch zu kritisieren. Die vielleicht fairste Auseinandersetzung fuhrt Poggio Bracciolini 1440 in seinem Dialog De Nobilitate Liber. Zunächst legt er dem Anwalt der stoischen Partei folgendes Argument in den Mund: Der Kyniker Demetrios, der auf Stroh schlief und bedürfnislos lebte (vgl. Seneca: De beneficiis VII1, 3-7), sei vortrefflicher gewesen als Perikles und Themistios, die viel mehr durch den Glanz und die Macht ihrer Geburtsstadt geadelt worden seien als durch eigene Tugend.
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Diese Einseitigkeit läßt Poggio jedoch gleich entkräften durch das Sprachrohr der stadtbürgerlichen Fraktion, Lorenzo de' Medici den Älteren. Zwar könne es der weitabgewandte Typ des armen Philosophen zu den Tugenden der Mäßigkeit, Frömmigkeit und Weisheit bringen. Auch könnten seine veröffentlichten Gedanken beitragen zur Erziehung der Menschen. Aber seine solitäre Tugend bleibe doch „nackt und dürftig (nuda et egens)", weil sie selbst keine Mittel für die „vita civilis" bereitstellen könne. Sie werde „nicht in die menschliche Gesellschaft hinaustreten oder nützlich für die Gemeinschaft sein" (Bracciolini 1538, 78-80; 80-82). Worin der Set dieser politisch nützlichen Tugenden genauer besteht, die der reinen vita contemplativa abgehen, finden wir eindrucksvoll zusammengestellt bei Leonardo Bruni. Nach seinen Diensten an der römischen Kurie wird Bruni 1410 zum Nachfolger Salutatis als Kanzler der Republik Florenz. Neben seinen Amtsgeschäften übersetzt er nicht nur Aristoteles' Ethik und Politik, sondern überträgt und kommentiert 1419-20 auch - und zwar für den reichsten Mann der Stadt, den Kaufmannsfürsten Cosimo den Älteren - die pseudoaristotelische Ökonomik. Diese nimmt unter den antiken Wirtschaftstraktaten insofern eine Sonderstellung ein, als sie neben der privaten Hauswirtschaft auch die Ökonomien des Königs, des Gouverneurs und des Staates behandelt. Brunis Interesse an politischer Ökonomie verwundert nicht, denn er macht die segensreichen Wirkungen geltend, die von einer Steigerung des öffentlichen Wohlstands für den ganzen Stadtstaat ausgehen. Wie in anderen Schriften (vgl. Bruni 1928, 120 f.) verteidigt er auch im Brief an Tommaso Cambiatore den moralischen Wert des privaten Reichtums als Hilfsmittel für politische Tugenden. Mit der Nikomachischen Ethik (X 8, 1178 a-b) argumentiert er: Der Freigebige brauche Geld; der Gerechte brauche als Gegenleistung für erwiesene Hilfe Besitz; der Tapfere benötige zur erfolgreichen Durchführung Macht; und der Großzügige könne seine edlen und erhabenen Ziele nicht realisieren ohne Reichtum. Und gegen die stoische Verdächtigung, materielle Güter ließen Herz und Geist schrumpfen, dreht Bruni nun die Rechtfertigungslast um. „Wenn [äußere] Güter die Werkzeuge der Tugend sind und die erhabenen und glänzenden Ziele (celsae praeclaraeque) sie erfordern, weil sie ohne ihre Hilfe nicht erreicht werden können, wer ist es dann, der die Herzen kleinlich und eng macht? [...] Wem von uns beiden ist der vorzüglichere Vorsatz für den Geist eigen? Mir, der ich vorhabe, große Dinge anzugehen und mir die hierfür nötigen Hilfsmittel beschaffe, oder Dir, der du auf nichts Großes und Erhabenes bedacht bist?" (Bruni 1741, II 14 f.) Jenes grande celsumque aber, das Bruni hier pathetisch beschwört, ist die Förderung der Künste und Wissenschaften, damit aber auch der zivilisatorische Fortschritt und wirtschaftliche Wohlstand der ganzen Republik. Brunis Argument besagt also, daß großgesinnte Bürger ihr überschüssiges Kapital in große Projekte investieren und damit zugleich segensreich für die Öffentlichkeit handeln. Der Zweck des Wirtschaftens ist jetzt nicht mehr die Abdeckung eines gegebenen natürlichen Bedarfs, sondern die Schaffung eines Potentials für Innovationen. Damit tritt die Ökonomie historisch in den offenen Horizont der Schaffung von Neuem. Es leuchtet ein, daß diese Entteleologisierung der Wirtschaft erst erfolgen konnte, nachdem man die historische Erfahrung mit dem neuen Großbürgertum und seinem florierenden Florenz gemacht hatte. Es dürfte aber auch einleuchten, daß mit der neuen grandseigneuralen Attitüde auch der Druck zur Wirtschaftlichkeit im Denken und Handeln extrem gesteigert wird. Wie weit diese Moral des wohltätig eingesetzten Kapitals entfernt ist vom Wirtschaftsgeist des Mittelalters,
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zeigt ein kurzer Vergleich mit der opinio communis nach Thomas von Aquin (vgl. Schreiber 1913, 18 f.; Langholm 1992, 207-220). Ihr zufolge „ist das letzte Ziel der Wirtschaft das Ganze des guten Lebens gemäß dem häuslichen Verkehr (finis ultimus oeconomicae est totum bene vivere secundum domesticam conversationem)" (S.th. II, II, q. 50, a. 3). Inhaltlich bestimmt Thomas dieses Maß teleologisch als Bedarfsdeckung für den standesgemäßen Haushalt. „Der Mensch strebt gemäß einem bestimmten Maß danach, äußere Reichtümer zu besitzen, sofern sie notwendig sind für sein Leben gemäß seinem Stand. In der Überschreitung dieses Maßes besteht somit die Sünde; [...] sie gehört zur Habsucht, welche definiert ist als unmäßige Liebe zum Besitz (Homo secundum aliquam mensuram quaerit habere exteriores divitias, prout sunt necessariae ad vitam eius secundum suam conditionem; et ideo in excessu huius mensurae consistit peccatum; [...] pertinet ad rationem avaritiae quae definitur esse immoderatus amor habendi)" (S.th. II, II, q. 118, a. 1 c.). Dagegen besteht die Pflicht der Nächstenliebe darin, dasjenige, was für den standesgemäßen Haushalt nicht notwendig, sondern überflüssig ist, als Almosen an die Bedürftigen und Notleidenden abzugeben. Natürlich weiß Thomas, daß die Grenze zwischen dem necessarium und dem superfluum aus mehreren Gründen äußerst elastisch ist (S.th. II, II, q. 32, & 6 c.). Entscheidend ist jedoch, daß die von Bruni propagierte Investivmoral zweifach mit der natürlichen Teleologie des Wirtschaftens bricht. Zum einen verliert beim Privatwohl die Rede von natürlichen oder auch nur konventionellen Grenzen standesgemäßer Bedarfsdeckung ihren Sinn, denn es soll ja gerade zur standesgemäßen Großzügigkeit des Großbürgers gehören, so viel Vermögen wie möglich zu organisieren, und zwar nicht aus Habgier, sondern aus Herzklopfen für die große öffentliche Sache. Zum andern aber kommt es zu einer Schwerpunktverlagerung im Ethos des bonum commune, und zwar von der christlichen Linderung der Übel zur rationalen Erzeugung von Gutem, d. h. zur Optimierung. Denn die privaten Überschüsse sind jetzt nicht mehr zufallige Brosamen, die vom Tisch des reichen Mannes auf die Darbenden herabfallen, sondern Kapitalvermögen, die für das Wohl der Republik gezielt erworben und effizient eingesetzt werden. Dann aber ist es viel zweckrationaler, z. B. die Hochbegabten und Talentierten wegen ihrer Multiplikatoreffekte zu fordern, als den Schwachen und Bedürftigen Almosen zu geben. Die Förderung der Künste und Wissenschaften ist gleichsam das aristokratische und ökonomisierte Spiegelbild christlicher Barmherzigkeit. Mit ihm geraten privater Haushalt und gemeinwohldienliches Projekt immer stärker in die Maximierungslogik wirtschaftlicher Effizienz. Der Mäzen kann sich einreden, er müsse immer reicher werden und sein Vermögen immer ökonomischer verwalten, damit er immer mehr Gestaltungsspielraum für seine Projekte zum Wohl des Vaterlandes habe. Bruni selbst hat diese doppelte Sprengung der mittelalterlichen Wirtschaftsgrenze und damit die Entteleologisierung der Ökonomie klar gesehen. In seinem Kommentar zur Ökonomik argumentiert er folgendermaßen: Wenn mehr Reichtümer angesammelt werden, als es notwendig ist für die Befriedigung der Bedürfnisse der Familie, so „gibt es keine Grenze des Reichtums. [...] Die Weisen befinden es jedoch für gut, daß diese Erweiterung des Erbvermögens, wenn sie nur keinem schadet, nicht zu tadeln ist. Denn die Vermögen dienen sowohl der Großgeartetheit als auch der Großzügigkeit und sind ersprießlich für den Staat (nullus est terminus divitiarum. [...] Placet tarnen sapientibus hanc patrimonii amplificationem, si nemini noceat, non esse vituperandam. Nam et ad magnificentiam et ad liberalitatem opes prosunt et rei publicae conducunt)" (nach Baron 1938, 20, Anm. 6).
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Daß Bruni gerade die sapientes dieser kapitalgestützten Tugendausübung applaudieren läßt, bestätigt Rice's These von der Säkularisierung des Weisheitsideals in der Renaissance (Rice 1958; vgl. Baron 1960). Zusammenfassend besagt also die bürgerhumanistische Umkehrung der moralischen Rechtfertigungslast vom Reichtum auf die Armut folgendes: Beim edlen Geist zieht der Reichtum, mit Seneca {De vita beata, 21, 4) gesprochen, nicht ins Herz, sondern nur ins Haus, und wird dort zum dienstbaren Knecht der sozialen Tugenden und ihrer öffentlich guten Wirkungen, denen die Armut nichts entgegenzusetzen hat. Daß Geld von Gott und den Mitmenschen ablenke, ist nicht zwingend. Die humanistische Ausräumung des zweiten, sozialethischen Einwandes gegen den Reichtum fallt argumentativ viel einfacher aus, auch wenn ihre historische Durchschlagskraft nicht geringer war. Den sozialethischen Verdacht gegen die Reichen findet man exemplarisch formuliert beim Hl. Hieronymus: „Denn alle Reichtümer stammen von der Ungerechtigkeit, und nur indem der eine Verlust gemacht hat, kann der andere Gewinn machen (omnes enim divitiae de iniquitate descendunt, et nisi alter perdiderit, alter non potest invenire)." (120. Brief, ad Hedibiam, Migne, Patrología Latina, Bd. 22, 984) Die im Mittelalter oft wiederholte Behauptung spiegelt ein statisches Wirtschaftsdenken, das für die agrarische Selbstversorgungsökonomie zutreffend war. Solange die Summe aller Wirtschaftsgüter stagnierte, ließ sie sich nach dem Bild eines Kuchens vorstellen, von dem für die einen umso weniger übrigbleibt, je mehr sich andere davon wegnehmen. Das Kuchenmodell versagt jedoch unter den neuen Bedingungen einer dynamischen Kapitalwirtschaft, in der Kommerz und v. a. Produktivitätssteigerung ein Wachstum der Wirtschaftsgüter erzeugen. Hier gilt umgekehrt: Je mehr einzelne gewinnen, desto mehr können auch die anderen davon profitieren, und zwar nicht aufgrund großherziger Gesinnungen, sondern allein aufgrund des grassierenden Eigennutzes der Erwerbstüchtigen, nämlich wenn an ihren Reichtum der Wohlstand der übrigen kausal gekoppelt ist. John Locke wird diese Wohlstandskopplung 1690 auf die Formel bringen, daß durch sie langfristig der englische „Tagelöhner" bessergestellt ist als ein „König" bei den Indianern (Locke 1998, 225, § 41). Sieht man einmal ab von der perfiden Mißbrauchsmöglichkeit des Arguments als Kolonial-Ideologie und ihrer Unterstellung, daß die Indianer nichts sehnlicher wünschen, als am englischen Lebensstandard zu partizipieren, so ist die These von der Kopplung des materiellen Wohlstands aber nicht falsch. Allerdings setzt sie bestimmte Bedingungen voraus, wie fortgeschrittene Arbeitsteilung und produzierende Zwischengewerbe. Was das Florenz des Quattrocento betrifft, so taucht das Kopplungsargument bezeichnenderweise erstmals im Umkreis der neuen Geschäftsleute selbst auf, und zwar im Kontext jener epochentypischen Einstellung, die man „economic nationalism" genannt hat (McGovern 1970, 225). So preist eine offizielle Kommission 1404 die „Geschäftsleute, die das außerordentliche Fundament unserer Kraft und Macht sind und ohne die diese unsere Republik nichts wäre (mercatores, qui sunt praecipuum nostrarum virium nostreque potentie fundamentum, sine quibus hec nostra Respublica nichil esset)". Im Wettstreit der italienischen Stadtstaaten um die Macht wird die „mercatantia" entdeckt als „arte necessaria et utilissima a ogni cita et regno" (Martines 1963, 33). Und schon 1458 zeigt Benedetto Cotruglis Schrift Deila mercatura et del mercante, daß das traditionelle mittelalterliche Mißtrauen gegen die Geschäftsleute einen lauten und breiten Widerspruch erfahren hat. Cotrugli fuhrt umgekehrt vier Argumente für die große „dignitas" der Kaufleute an, von denen hier nur
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zwei genannt seien. Erstens trügen die „berühmten" Kaufleute zum „Gemeinwohl" bei. „Denn der Fortschritt der öffentlichen Wohlfahrt ist ein sehr ehrenhaftes [Ziel], wie Cicero darlegt, [...]. Der Fortschritt, das Wohlergehen und die Gesundheit der Republiken rührt in großem Umfang von den Kaufleuten her." Zweitens, „kein Fachmann versteht bzw. hat jemals die Monarchien dieser Welt und die Staaten bezüglich ihrer Handhabung des Geldes - wovon doch alle menschlichen Staaten abhängen - so gut verstanden, wie es der tüchtige und gelernte Kaufmann tut" (nach Lopez/Raymond 1955, 416, 418). Solche „programmatischen Äußerungen" sind für den Wandel im Politikverständnis höchst bedeutsam, weil sie „erstmals eine Orientierung der Politik nach ökonomischen Erwägungen" nahelegen.11 Zunächst besagt das schon um 1400 bei Cino Rinuccini zu findende Argument bloß, daß „nicht nur die Waffen, sondern [auch] die Geschäftsunternehmungen die Republik vergrößern (non solo l'arme, ma la mercanzia amplificano la Repubblica" (Martines 1963, 34). Doch zugleich kommt das Argument hinzu, daß der von Geschäftsleuten zusammengezogene Reichtum neben der politischen Macht auch den Wohlstand des Stadtstaates vermehrt. Exemplarisch hierfür ist die öffentliche Rede, die der Capitano delpopulo, Stefano Porcari, 1427 auf der Piazza von Florenz hält. Gegenstand seiner locutio emphatica ist der öffentliche Segen durch privaten Reichtum: „Woher kommen unsere Kleider, woher die Mahlzeiten für uns und unsere Kinder? Vom Reichtum! Woher stammen die Mittel, um unsere Kinder zu erziehen und sie tüchtig zu machen? Vom Reichtum! Diese geweihten Kirchen mit ihrem Schmuckwerk, die Mauern, Türme und Verteidigungsanlagen, [...] eure Paläste und Wohnhäuser, die vornehmsten Gebäude, die Brücken und Straßen: Mit was habt ihr sie erbaut und woher nehmt ihr die Mittel, sie instandzuhalten, wenn nicht vom Reichtum?" (nach Baron 1938, 22) Jener Leon Battista Alberti, in dem Sombart den Prototyp des Bourgeois und gleichsam den Benjamin Franklin der Renaissance erblickte (Sombart 1920, 136-148, 196 f.), hat in seinen Libri della famiglia (1437-1441) nicht nur Brunis Argument verstärkt, daß privater Reichtum beim Großzügigen die Schaffung edler und erhabener Projekte ermöglicht. Er hat auch die einzelnen Sachargumente versammelt, weshalb der private Reichtum von Geschäftsleuten selbst bei eigennützigem Gewinnstreben mittelbar der Allgemeinheit zugute kommt. So gewährten die Großkaufleute und Bankiers z. B. die Kredite für die öffentlichen Aufwendungen des Staates, wobei Alberti nicht ohne Stolz vorrechnet, daß seine Familie an den Ausgaben öffentlicher Hand „stets mit mehr als einem Zweiunddreißigstel beteiligt" gewesen sei (Alberti 1962, 182). Sie importierten jene begehrten Waren, die im Inland weiterverarbeitet werden, wie etwa die Wolle aus Flandern (ebd. 188), usw. Natürlich zeigt Albertis Dialog auch, daß das neue Argument von der mittelbaren Wohlstandskopplung zugleich immer eine oratio pro domo, oft sogar pure Herrschaftsideologie der Besitzenden ist. Der frühhumanistische Diskurs ist noch fern von allen Szenarien gerechter Verteilung durch allgemeine welfare economics und erst recht von einer Rawlsschen RedistributionsArithmetik, die auch die unteren Schichten in die Verteilung des Volkswohlstands mit einbezieht. Entscheidend ist jedoch, daß der alte Vorbehalt, der die Reichen a priori mit den Blutsaugern der Armen gleichsetzt, allgemein widerlegt und nur im Einzelfall habgieriger Ausbeutung bestätigt wird. Die statische Vorstellung vom Nullsummenspiel der Wirt11
So Dippel bei seiner Analyse des zwischen 1436 und 1439 in Versform abgefaßten anonymen Pamphlets Libel of English Policy, in dem ganz ähnlich wie bei Cotrugli argumentiert wird (Dippel 1981, 15).
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schaftsgüter erhielt sich in der prämerkantilistischen Theorie nur noch in bezug auf den „Wohlstand aller Länder" zusammengenommen (vgl. Pribram 1998, 79 f.). Im übrigen zeigt sich auch bei diesem Punkt, daß eine allgemeine Orientierung an weltlichem Wohlstand historisch erst voll erklärbar wird aus dem Faktum des vom Großbürgertum angehäuften und zur Schau gestellten Reichtums, nach dem nun auch die unteren Volksschichten streben. Eines der spektakulärsten Zeugnisse für die neue Orientierung an den nicht intendierten Wohlstandseffekten eigennützigen Geschäftemachens ist Poggio Bracciolinis Dialog Historia disceptativa de avaritia (1428/29). Hier läßt er Antonio Loschi die „Natürlichkeit", ja „Nützlichkeit" der Habsucht für die bürgerliche Gesellschaft erläutern. Zwar soll nicht die Todsünde der „avaritia" moralisch legitimiert werden. Wohl aber soll, lange vor Mandevilles Bienenfabel, der Ursprung von public benefits aus private vices erläutert werden: Was geschähe, wenn jeder nur das Notwendige für den standesgemäßen Haushalt erwirtschaftete? „Es würde jeder Glanz, jede Schönheit, jeder Schmuck aus den Städten verschwinden; keine Tempel mehr, keine Denkmäler, keine Kunst; unser ganzes Dasein und das des Staates wären zerrüttet, wenn jeder nur danach trachtete, sich gerade das Notwendige zu besorgen. Für den Staat ist das Geld Lebensnerv, und die Geldgierigen müssen als dessen Grundlage betrachtet werden." (nach Garin 1947, 44; lateinisch bei McGovern 1970, 235, Anm. 80 f.) Das ist keine Heiligung des Lasters, und doch liegt die Moral von Poggios Geschieht' in einer kleinen Theodizee von der Nutzfunktion des Lasters im Heilsplan des Ganzen. Und sie plädiert für die Sprengung der traditionellen Bedarfsdeckungsgrenze zugunsten einer Ökonomie der luxurierenden Konsumsteigerung. Zeigte die ganze bisherige Argumentation der Humanisten eine moralische Legitimierung des Wohlstands als Zweck irdischen Daseins, so muß abschließend noch ihre zweite Haupttendenz gezeigt werden, nämlich ihr Gedanke eines ökonomischen Fortschritts durch produktivitätssteigernde Tugenden. b) Ökonomischer Fortschritt durch produktivitätssteigernde
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Was muß man tun, um den öffentlichen Wohlstand zu steigern? Eine Wissenschaft von den natürlichen Gesetzen oder Mechanismen der Wirtschaft gewinnen! Soweit ist die Frührenaissance aber noch nicht. Sie sucht den ökonomischen Fortschritt vorwiegend in den menschlichen Faktoren, nämlich in den produktivitätssteigernden Tugenden von Fleiß, Arbeitsbereitschaft und Sparsamkeit. Umgekehrt werden zunächst die unproduktiven Lebensund Wissensformen moralisch stigmatisiert, wie die folgenden Auswüchse zeigen. Zur ökonomisch unproduktivsten Lebensform erklärt der Stadtbürgerhumanismus v. a. das Bettelmönchstum. Poggios ganzer Haß gilt Jenen Heuchlern, Schmarotzern, Ungeschliffenen, die unter dem Deckmantel der Religion auf der Jagd nach Speisen herumlaufen, ohne zu arbeiten und sich abzumühen, und den anderen Armut, Verachtung der irdischen Güter predigen [...]. Wir werden unsere Städte nicht mit diesen Scheinmenschen erbauen können, die im vollkommensten Müßiggang ihr Leben durch unsere Arbeit fristen" (nach Garin 1947, 43). In Palmieris Vision Deila vita civile wird Poggios Ausgrenzung noch verallgemeinert durch die Forderung, daß diejenigen Bevölkerungsgruppen, die „faul und träge" sind, „entweder zur Arbeit gezwungen oder aus der Gemeinde verbannt werden" sollten. Und Palmieris Pläne, sogar „unnötige Freuden" wie Wirtshausbesuche und Glücksspiele zu verbieten, antizipieren in der Tat schon „Calvin's sober banishment of frivolities from Geneva" (McGovern 1970, 238). Man muß dazusagen, daß diese Florentiner Variante geradezu harmlos
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ist, wenn man sie etwa vergleicht mit den Rezepten des Venezianischen Humanisten Frulovisi, die obendrein vorsahen, unbeschäftigte Arme zu bestrafen und unproduktive Kleinbauern zu verbannen oder gar zu Staatssklaven zu machen (vgl. ebd. 238 f.). Palmieri glaubt aber auch, daß es für die vita civile gut sei, wenn nicht nur Lebensformen, sondern auch Wissensformen zurückgedrängt werden, die nicht dem ökonomischen Fortschritt dienen. „Wer seinen ganzen Fleiß und seine ganze Sorgsamkeit in ehrliche und der Erkenntnis würdige Dinge setzt, woraus irgendein privater oder allgemeiner Vorteil fließt, verdient gelobt zu werden. Diejenigen aber, die ihre Zeit in dunklen, abstrusen und für das Wohlergehen nicht lehrreichen Künsten vergeuden, verdienen, von aller Welt geschmäht zu werden, denn sie bringen keinerlei Frucht hervor" (nach Garin 1947, 71). Das ist deutlich genug: Zuhöchst erkenntniswürdig ist jetzt nicht mehr das theologische Heilswissen oder das philosophische Bildungswissen, sondern das nutzbar zu machende Herrschafts- oder Leistungswissen. Spiegelbildlich zu dieser Brandmarkung des Unnützen qua Unwirtschaftlichen dokumentiert der Florentinische Stadtbürgerhumanismus das Aufkommen eines vorprotestantischen Arbeitsethos, das nicht religiös motiviert ist. Es zeigt sich in der Neuorientierung an den bürgerlichen Tugenden wie Arbeit, Fleiß und Sparsamkeit, die in den Zitaten von Poggio und Palmieri schon angeklungen war. Kein anderer hat diesen zunächst ganz eigennützigen Charaktereigenschaften so sehr die moralische Weihe verliehen, wie Alberti. In Deila Famiglia treten neben die traditionellen Tugenden, wie „Freigebigkeit und Liebe", „Gerechtigkeit, Frömmigkeit" und „Mäßigung", jetzt v. a. zwei neue Tugenden: der „Fleiß (industria)" und die „masserizia", die man übersetzt hat mit „Sparsamkeit" (Alberti 1962, 170 f.; 185; 209) oder noch besser wie Sombart mit „Wirtschaftlichkeit" (Sombart 1920, 137). Alberti glorifiziert das sparsame Wirtschaften in einer kaum noch steigerbaren Weise, wenn er die „masserizia" in religiöser Sprache als „heilige Sache (santa cosa)" preist, und zwar nur aus dem Grunde, weil sie - als Mitte zwischen Geiz und Verschwendung - die Familie vor dem Ruin bewahrt und unabhängig macht von der „Hilfe eines anderen" (ebd. 209; Alberti 1960, 163). Während Wirtschaftlichkeit die Tugend ist, die Dinge im Haushalt rational zu verwalten („zu gebrauchen" und „aufzubewahren") (Alberti 1962, 317), ist der Fleiß diejenige Tugend, die an der Erweiterung der Vermögensgrenzen arbeitet. Noch recht traditionell wirkt Albertis Perhorreszierung des korrespondierenden Lasters, „Müßiggang und Trägheit", als „Nest und Brutstätte" der „Sittenlosigkeit" und „Verachtung der Gesetze" (ebd. 165 f.). Man braucht aber das neue Ideal der industria nur mit Thomas von Aquins Heiligung der Arbeit zu vergleichen, um den Bruch mit dem mittelalterlichen Wirtschaftsethos zu ermessen. Nach Thomas hat die Arbeit, d. h. der körperliche labor, den vierfachen Heilssinn disziplinierender Buße für den Sündenfall (Gen. 2, 19), nämlich daß sie a) den gefahrlichen Müßiggang unterbindet, b) den Körper abhärtet und seine Begierden zügelt, c) dem Lebensunterhalt dient und d) die Armenfürsorge unterstützt (S.th. II, II, q. 187, 3; S.c.g. III, 135). Ganz anders Albertis industria. Sie ist neben den geistigen Fähigkeiten, wie „Erfindungsgabe", der wichtigste Faktor, den das Individuum einsetzt, um im Kampf gegen die Launen der fortuna den „Erwerb" zu steigern, d. h. mehr „Geld einzubringen". „Wenn der Gewinn aus unserem Fleiß entspringt, so kann er nicht groß sein, wenn unser Fleiß und unsere Pläne klein sind." Will man also „sehr große Gewinne ziehen", so muß man „zugleich mit dem Umfang der Geschäfte" auch „Fleiß und Mühe" steigern (Alberti 1962, 187 f.). Dazu paßt auch die neue Maxime: „ich bleibe niemals müßig", „und verliere lieber den Schlaf als die
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Zeit" (ebd. 2 2 6 f.). Es ist nur konsequent, daß die von Alberti definierte industria eine entscheidende und frühe seelische Grundlage jenes Zeitalters werden sollte, das man das Industriezeitalter nennt. Die allgemeine moralische Umwertung aber, die sich bei den Florentiner Stadtbürgerhumanisten paradigmatisch gezeigt hat, ihr Umlenken der mittelalterlichen Wirtschaftsèegrenzungsmoral auf neuzeitliche Wirtschaftse«/grenzungsmoral, war eine historisch entscheidende Voraussetzung für die öffentliche Akzeptanz, mit der sich „the new wealth-centred outlook" über ganz Europa verbreitete (McGovern 1970, 220), bevor der protestantische Protest zwar die Auswüchse der Kommerzialisierung bekämpfte, den zugrundeliegenden Erwerbsgeist aber heiligte.
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Omnis determinatio est negatio
1. Einleitende Bemerkungen Der Gedanke, daß die Bestimmtheit von Seienden eine Begrenzung bzw. eine Art Negation sei, spielt in der Philosophie des 17. Jahrhunderts nicht nur bei Spinoza, mit dessen Namen der Satz „Omnis determinatio est negatio" in erster Linie assoziiert ist, eine Rolle; er findet sich auch bei anderen Vertretern der damaligen Metaphysik, die ihn allerdings nicht mit denselben Worten zum Ausdruck brachten. Descartes bezog sich auf ihn, wenn er erklärte, man müsse, um Begriffe endlicher Dinge zu bilden, etwas von der Idee des Unendlichen abschneiden (AT V, 356). Malebranche folgte Descartes fast wörtlich: Um ein endliches Seiendes zu erfassen, müsse man vom allgemeinen Begriff des Seins etwas wegschneiden (Malebranche 1946, 251). Leibniz deutet dieselbe Auffassung an, wenn er schreibt: „Kein Geschöpf kann ohne Unwesen sein", wobei „Unwesen" den Mangel an Sein, an Selbstwesen, bedeutet: „Alle Geschöpfe sind von Gott und Nichts; ihr Selbstwesen von Gott, ihr Unwesen von Nichts" (Leibniz 1838, 411). Der in solchen Wendungen ausgedrückte Gedanke findet sich auch bei anderen Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Auffassung des Endlichen als eine Art Negation, d. h. als Einschränkung eines Uneingeschränkten bzw. als Begrenzung eines Unbegrenzten scheint somit für die rationalistische Metaphysik charakteristisch zu sein. Tatsächlich hängt sie mit der für diese metaphysische Richtung kennzeichnenden Annahme zusammen, daß die Idee des Unendlichen früher sei als Ideen endlicher Dinge bzw. daß dem Unendlichen der Primat vor den endlichen Wesen zukomme. Um das Verhältnis von Determination und Negation in der Metaphysik der Neuzeit, und zwar zunächst der Metaphysik des 17. Jahrhunderts, angemessen zu interpretieren, muß man die Bedeutung von „determinatio" klären. Dabei wird sich zeigen, daß dieser Ausdruck nicht eindeutig ist. Er wird in der Geometrie, in der Naturphilosophie und in der Metaphysik in verschiedenem Sinn gebraucht. (Abschnitt 2) Da die Auffassung des Verhältnisses von Determination und Negation von metaphysischen Voraussetzungen abhängt, wird auch auf diese zu achten sein. Dabei ist zu berücksichtigen, daß seit Descartes und Spinoza zwei Richtungen des metaphysischen Denkens einander gegenüberstanden, die sich durch ihre Methode, ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel, sowie in Abhängigkeit davon auch durch das Verständnis der Beziehung von Determinatio und Negatio unterscheiden. Der Sinn des Satzes „Omnis determinatio est negatio" ist ähn-
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lieh kontextabhängig wie der Sinn des Cogito ergo sum, das sich schon vor Descartes bei verschiedenen Autoren findet und vor allem von Augustinus vorweggenommen wurde. Da das Cogito-Argument jedoch, wie Descartes mit Recht bemerkte, bei Augustin nicht dieselbe systematische Funktion hat wie in der Cartesianischen Metaphysik, handelt es sich, ungeachtet der verbalen Übereinstimmung, nicht um dasselbe Prinzip. Ebenso sind die Wendungen, in denen sich Descartes und Spinoza auf das Verhältnis zwischen dem Unendlichen und dem als partielle Negation des Unendlichen betrachteten Endlichen bezogen, oberflächlich gesehen äquivalent; berücksichtigt man jedoch den metaphysischen Kontext, tritt der Unterschied der Bedeutungen zutage. (Abschnitt 3) Im Anschluß an die Gegenüberstellung der Cartesianischen und der Spinozanischen Auffassung der Metaphysik und insbesondere der Auffassung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem soll ein Blick auf spätere Deutungen der Determinatio des Endlichen als Negation des Unendlichen geworfen werden. In diesen Deutungen spiegelt sich die Entwicklung des metaphysischen Denkens, das sich im Verlauf der Zeit von den Voraussetzungen der rationalistischen Philosophie des 17. Jahrhunderts immer weiter entfernte. (Abschnitt 4)
2. Spinoza und Descartes Da der klassisch gewordene Satz „Omnis determinatio est negatio" in Anlehnung an eine Äußerung Spinozas formuliert wurde, liegt es nahe, von dessen Auffassung auszugehen. In einem Brief vom 2. Juni 1674 sprach Spinoza von der Gestalt (figura) ausgedehnter Gebilde - gemeint sind Flächen und Körper - und charakterisierte sie als eine Art Negation. Er erläuterte dies dahingehend, daß die Begrenzung eines in bestimmter Weise gestalteten Dings nicht zu dessen Sein, sondern zu dessen Nichtsein gehört. Da sich die Extensio bzw. die Materie, sofern ihr Wesen in der Extensio besteht, nicht als begrenzt denken läßt, kann sie auch keine Gestalt haben; nur endliche Dinge haben, als begrenzte, eine Gestalt. Gestalten wahrzunehmen heißt daher, etwas Begrenztes und die Art, in der es begrenzt ist, zu erfassen. Spinoza schließt mit der Feststellung: „Da also Gestalt nichts anderes als Begrenzung (determinatio), Begrenzung aber Negation ist, so kann sie ... nichts anderes sein als Negation." (Opp. IV, 240) Wenn dies in der Formulierung „omnis determinatio est negatio" zitiert wird, liegt einerseits eine sprachliche Straffung von Spinozas Ausfuhrungen, andererseits - wegen der Hinzufugung von „omnis" - eine Erweiterung vor. Mit der Verallgemeinerung durch „omnis" wird nicht sosehr festgestellt, daß der Satz für beliebige Figuren gilt - dies wäre trivial - , als vielmehr zum Ausdruck gebracht, daß er sich auf die Bestimmtheit von Seiendem im allgemeinen - und nicht nur von Figuren - bezieht. Diese Verallgemeinerung ist möglich, weil „determinatio" außer der räumlichen Bestimmtheit auch die zeitliche Begrenzung, die Richtung von Bewegungen und die kausale Bedingtheit von Vorgängen bzw. deren Bedingtheit durch Naturgesetze bedeuten kann. Schließlich läßt sich dieser Ausdruck auch auf die Bestimmtheit, durch die sich das Endliche vom Unendlichen abhebt, beziehen, und dieses Verhältnis ist in erster Linie gemeint, wenn er in metaphysischem Sinne verwendet wird. Die verschiedenen Bedeutungen von „determinatio" bei Descartes und Spinoza sollen kurz ins Auge gefaßt werden.
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a) Determinatio als geometrische
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Begrenzung
Spinoza hat die paradoxe These, daß die räumliche Grenze einer Gestalt, wie es im zitierten Brief heißt, nicht auf das Sein dieser Gestalt, sondern auf deren Nichtsein zu beziehen sei, nicht fur erläuterungsbedürftig gehalten, weshalb nur vermutet werden kann, was ihn zu seiner Auffassung geführt haben mag. Wahrscheinlich hat Spinoza an eine Cartesianische Auffassung angeknüpft. Descartes dachte in bezug auf die Begrenzung geometrischer Figuren ähnlich wie Spinoza, hat sich aber zu diesem Thema nicht ausführlich geäußert. In den „Regulae" bezeichnete er die Oberfläche als Grenze des Körpers, die Linie als Grenze der Oberfläche (AT X, 445), und in der Auseinandersetzung mit Gassendi wies er, wenn auch flüchtig, auf das Verhältnis von Gestalt und Grenze hin: „die geometrischen Gestalten werden als Grenzen betrachtet, in die eine Substanz eingeschlossen ist" (AT VII, 381: „figurae Geometricae ... considerantur ... ut termini sub quibus substantia continetur". - „Terminus" bedeutet in diesem Zusammenhang „Grenze", wie auch F. Alquié in seiner Ausgabe von Descartes' Œuvres, Band II, 829, Anm. 1, betont hat.) Am ehesten läßt sich Descartes' Ansicht seinen Hinweisen auf das Verhältnis zwischen der Ausdehnung von Körpern und ihrem Ort (im Sinne von „locus externus") in den Prinzipien der Philosophie entnehmen. Dort führte er aus, daß der äußere Ort eines Körpers durch seine Oberfläche als dasjenige bestimmt sei, was das an einem Ort Befindliche unmittelbar (proxime) umgibt. Dabei wird unter der Oberfläche weder ein Teil der Umgebung noch ein Teil des von der Umgebung Umfaßten, sondern die Grenze (terminus) zwischen Körper und Umgebung verstanden. Diese Grenze ist nur ein Modus und gehört als solcher weder zum Körper noch zu seiner Umgebung (AT VIII, 48). An diese Bemerkung könnte Spinoza mit seiner Auffassung angeknüpft haben. Möglicherweise hängt Spinozas Ansicht, der zufolge die Begrenzung nicht Teil des begrenzten Dings ist, auch mit der Lehre von der genetischen Definition zusammen, der zufolge Begriffe endlicher Dinge durch Angabe der nächsten Ursache zu definieren sind. Wenn man zum Beispiel den Kreis als Linie bestimmt, die durch die Bewegung eines Punktes mit konstantem Abstand von einem gegebenen Punkt entsteht, liegt eine genetische Definition vor. Sie ist nach Spinoza der Definition des Kreises als geometrischer Ort aller Punkte, die von einem gegebenen Punkt denselben Abstand haben, vorzuziehen (Opp. II, 35. Vgl. Opp. IV, 270). Spinoza dürfte gemeint haben, daß das, was eine Figur erzeugt, nicht zu ihr als dem Erzeugten gehören kann. Wenn zum Beispiel die Kreisfläche durch das Ziehen einer Kreislinie erzeugt zu denken ist, würde diese nach Spinozas Ansicht nicht zur Kreisfläche gehören. Sowohl bei Descartes als auch bei Spinoza ging es nicht nur um das Verhältnis zwischen Flächen oder Körpern, sondern letzten Endes um das Verhältnis bestimmter ausgedehnter Gebilde zur Ausdehnung als solcher, d. h. zum Attribut der Ausdehnung. So hat Descartes die bestimmte Ausdehnung des Körpers von der Ausdehnung im allgemeinen unterschieden (AT VIII, 48) und erklärt, daß die erstere von der letzteren nicht wesentlich, sondern nur auf Grund unserer Betrachtungsweise verschieden sei: Wir betrachten die bestimmte Ausdehnung eines Dings als etwas, das sich ändert, wenn der Körper einen anderen Ort einnimmt, während die Ausdehnung als solche von der Ortsveränderung nicht betroffen ist. Dem ent-
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spricht Spinozas Auffassung bestimmter räumlicher Gestalten als Modifikationen des Attributs der Ausdehnung. Am Rande sei bemerkt, daß die Cartesianische Auffassung der Ausdehnung und des Ortes auf Überlegungen zurückweist, die Aristoteles über diese Begriffe angestellt hatte. In der Aristotelischen Physik (IV 4, 209 b) wird erwogen, ob der Ort (topos) als Begrenzung (peras) und die Gestalt (morphe) als das Begrenzende der Ausdehnungsgröße (megethos) aufzufassen sei. Man könnte noch einen Schritt weiter zurückgehen und an Piatos Timaeus (50 bc) erinnern, wo es heißt, daß etwas gedacht werden müsse, das alle Gestalten aufzunehmen imstande sei, selbst aber keine Gestalt habe. b) Determinatio als Begrenzung auf Grund von Bewegung Descartes und Spinoza haben gesehen, daß es mit der Betrachtung geometrischer Verhältnisse nicht sein Bewenden haben kann, wenn es um die Bestimmtheit realer Dinge geht. Auch in diesem Falle läßt sich zwar die Determinatio als Einschränkung und damit als eine Art Negation auffassen, allerdings nicht mehr in rein geometrischer Weise, sondern nur, wenn man sie im Rahmen der Kinematik zu begreifen sucht. Descartes verstand unter „Körper" eine Menge von Partikeln, die sich gemeinsam bewegen, d. h. gemeinsam aus der Nachbarschaft von als ruhend betrachteten Materieteilen in die Nachbarschaft anderer Teile der Materie transportiert werden (AT VIII, 53 f.). Die mit der Ausdehnung identifizierte Materie ist nicht nur teilbar, sondern tatsächlich geteilt, nämlich infolge der Verschiedenheit der Bewegungen einzelner Teile der Materie. Daß Descartes diese Differenzierung auf Gott zurückführte (z. B. AT XI, 34), ist dabei nicht wesentlich; entscheidend ist, daß die statische geometrische Betrachtungsweise durch die Betrachtungsweise der Kinematik ergänzt wird, der zufolge die Besonderheit von Körpern auf Bewegungsverhältnissen beruht. Spinoza folgte dieser Auffassung, wie aus dem naturphilosophischen Exkurs im zweiten Teil seines Hauptwerks hervorgeht. Physikalische Körper sind Modi des Attributs der Ausdehnung, aber, anders als geometrische Gestalten, beweglich und faktisch bewegt. Deshalb muß ihr Unterschied gegenüber anderen Dingen im Rahmen der Kinematik zu begreifen gesucht werden. Offensichtlich - und Spinoza hob dies in seiner Paraphrase der Cartesianischen Prinzipien der Philosophie hervor - unterscheiden sich Körper nicht durch die Bewegung als solche, sondern durch die im Hinblick auf Richtung und Geschwindigkeit bestimmte Bewegung (Opp. I, 211). Die Bewegung, durch die Dinge als besondere Seiende bestimmt sind, heißt selbst „determiniert", sofern sie eine bestimmte Richtung (und, wie hinzugefugt werden darf, eine bestimmte Geschwindigkeit) hat (Opp. I, 207: „Motus, in se spectatus, differt a sua determinatione versus certam aliquam partem"). Damit schloß sich Spinoza der Ansicht Descartes' an, der die Richtung der Bewegung als deren Determinatio bezeichnet hatte (z. B. AT VIII, 67: „determinatio motüs versus aliquam partem"). Manchmal bedeutet „determinatio" auch die Bestimmtheit von Dingen und ihrer Bewegung durch physikalische Gesetze der Bewegung. Wenn Spinoza „Körper" definiert als „durch Bewegung und Ruhe gemäß den Gesetzen der ausgedehnten Natur determinierte Extension" (Opp. I, 132), bedeutet „determiniert" nicht „begrenzt", sondern „durch Gesetze bestimmt". Ein Ding ist ein Teil der Materie, der dadurch bestimmt und gegenüber der Materie im allgemeinen abgegrenzt ist, daß er sich in anderer Weise bewegt als die umgeben-
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den Materieteile. Die Bewegungsverhältnisse sind aber bedingt durch die Gesetze der Bewegung: den Trägheitssatz, den Satz von der Erhaltung des Gesamtbetrags des Impulses im Universum, die Stoßgesetze. Von Determinatio im Sinne der Bedingtheit durch Gesetze läßt sich nicht nur bei Körpern sprechen; auch „Geist" (mens) definierte Spinoza als „durch Ideen gemäß den Gesetzen der bewußten Natur determinierte Cogitatio" (Opp. I, 132). c) Determinatio als Begrenzung des Unendlichen Die Auffassung der Determinatio als Negatio der unbegrenzten Ausdehnung betrifft, isoliert betrachtet, eine spezielle Frage von geringer Tragweite. Ihre philosophische Bedeutung erhält sie erst dadurch, daß sie zum Modell des Verhältnisses von Unendlichem und Endlichem als Einschränkung des Unendlichen wird. So wie sich die Figur als Negation der Ausdehnung im allgemeinen betrachten läßt, so kann man nach Spinoza im Endlichen als etwas Bestimmtem eine partielle Negation des Unendlichen bzw. der Substanz mit ihren Attributen erblicken: „Finitum esse" bedeutet, wie Spinoza erklärte, „ex parte negatio" (Opp. II, 49). Nicht nur die geometrisch bzw. kinematisch begriffene Determinatio der Extensio und nicht nur die Determinatio der Cogitatio durch Gesetze des Ideenzusammenhangs werden als eine Art von Negation verstanden; auch jene Determinatio, durch die das Endliche vom Unendlichen unterschieden ist, hat den Charakter einer partiellen Negation, nämlich des Unendlichen, das absolute Affirmation ist. Mit dieser Auffassung wird die Definition des Endlichen als dessen, was durch etwas derselben Art begrenzt werden kann (Opp. II, 45), ergänzt. Die Begrenzung eines Körpers durch andere Körper wie die Begrenzung von Gedanken durch andere Gedanken ist letzten Endes als Einschränkung der Extensio bzw. der Cogitatio zu verstehen. Auch in bezug auf diese Auffassung erweist sich Spinoza als abhängig von Descartes, nach dessen Ansicht man das unendliche Sein begreift, wenn man das Sein oder das, was ist (l'être ou ce qui est), denkt. Der allgemeine Begriff des Seins muß der Bildung von Begriffen endlicher Dinge vorhergehen. Um ein endliches Seiendes (un être fini) begreifen zu können, muß man nach Descartes etwas vom allgemeinen Begriff des Seins (notion générale de l'être) „abschneiden" (retrancher) (AT V, 356), wie eingangs schon erwähnt. Das unendliche Sein ist die unendliche Substanz, von der Descartes im selben Brief sagte, sie sei jene Substanz, der unendlich viele Vollkommenheiten zukommen. Sie ist unendlich, sofern ihre Wesenheit in keiner Weise eingeschränkt ist. Descartes bezog sich mit diesen Erläuterungen auf eine Passage der III. Meditation, in der er betont hatte, daß die Idee des Unendlichen nicht durch Negation des Endlichen - d. h. des Begriffs des Endlichen - gebildet werden könne, weil in der unendlichen Substanz mehr Realität ist als in der endlichen, so daß der Begriff des Unendlichen „früher" ist als der des Endlichen: „priorem quodammodo in me esse perceptionem infiniti quam finiti" (AT VII, 45), wie Descartes erklärte. Hinter der Annahme, daß dem Unendlichen Vorrang vor dem Endlichen zukomme und daß das Endliche eine Art Negation des Unendlichen sei, steht der platonistische Gedanke, daß das wahrhaft Seiende keine Grenze und keine Schranke habe und daß das Begrenzte bzw. Determinierte nicht wahrhaft wirklich, sondern nur Modifikation des wahrhaft Wirklichen sei. Obwohl Descartes und Spinoza die partielle Negation, als die sie das Endliche auffaßten, in Analogie zur Negation der Ausdehnung zu begreifen suchten, sahen sie in dem
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allgemeinen Gedanken nicht das Ergebnis einer Verallgemeinerung von Verhältnissen im Bereich der ausgedehnten Dinge. Die räumlichen Verhältnisse sind zwar geeignet, die allgemeine Beziehung zwischen Endlichem und Unendlichem zu veranschaulichen; sie liegen jedoch nicht der Erkenntnis dieses Verhältnisses als eines allgemeinen zugrunde. Die Einschränkung der Extensio, als die sich geometrische Figuren und physikalische Körper auffassen lassen, wurde als Konkretisierung des allgemeinen ontologischen Verhältnisses betrachtet, weshalb sie als dessen Modell fungieren konnte. Auf die Frage, warum bei Spinoza gerade Ausdehnungsverhältnisse als Modell der Deutung der Determinatio als Negatio in Betracht kamen, läßt sich keine einfache Antwort geben, da mehrere mögliche Motive berücksichtigt werden müssen. Zunächst ist anzunehmen, daß die Auszeichnung der Ausdehnung wohl damit zusammenhing, daß in der Naturwissenschaft und in der Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts das Wesen der materiellen Natur in quantitativen Bestimmungen erblickt wurde. So war Descartes der Ansicht, daß wir distinkte Ideen fast nur von Ausdehnungsverhältnissen hätten, da außerdem nur noch die Grundbegriffe der Metaphysik, wie „Res cogitans", als distinkt gelten könnten. Tatsächlich wurde die Begrenztheit des denkenden Ich von Descartes unabhängig von Ausdehnungsverhältnissen begriffen. Dagegen war Spinoza überzeugt, daß der menschliche Geist nur mit Bezug auf die ausgedehnte Wirklichkeit als etwas individuell Bestimmtes aufgefaßt werden könne. Der Geist ist seiner Ansicht nach Idee eines bestimmten Dings, nämlich des menschlichen Körpers, und da der Körper unmittelbares Objekt des Bewußtseins ist, entspricht der Zusammenhang unserer Ideen dem Zusammenhang körperlicher Vorgänge. Schließlich ist Spinozas Orientierung an Ausdehnungsverhältnissen auch durch die Rolle bedingt, die die Geometrie in seiner Philosophie spielte. Die Spinozanische Metaphysik ist nicht nur ihrer äußeren Form, sondern auch ihrem „Geist" nach der Geometrie verpflichtet. Die Konzentration auf die Extensio hatte zur Folge, daß Spinoza auch das Verhältnis von Determinatio und Negatio zunächst mit Bezug auf die Ausdehnung bestimmte.
3. Der Unterschied der metaphysischen Positionen Descartes und Spinoza stimmen, wie deutlich geworden sein dürfte, in manchen Punkten überein; über den Gemeinsamkeiten können aber die Unterschiede ihrer metaphysischen Positionen und, in Abhängigkeit von diesen, ihrer Auffassungen des Verhältnisses von Begrenztem und Unbegrenztem nicht übersehen werden. Unterschiedlich sind bereits die Methoden, deren sich Descartes und Spinoza bedienten. Während Descartes die der Metaphysik angemessene Methode in der Analyse erblickte, gab Spinoza der Synthese den Vorzug. Außerdem unterscheiden sich ihre Positionen durch die Bestimmung des Ausgangspunktes und des Ziels der Metaphysik. Descartes setzte bei der Erfahrung bestimmter Gegenstände an, um von ihr aus zu Grundbegriffen und Grundsätzen zu gelangen. Seine analytische Denkweise führte ihn zur Idee einer Metaphysik als Theorie, in deren Rahmen die Tatsache der Erfahrung begreiflich gemacht werden soll. Daß die Metaphysik bzw. die Erste Philosophie nicht eine Theorie des Seins, sondern eine Theorie der Seinserkenntnis sei, hat Descartes in der Einleitung zur französischen Ausgabe der Prinzipi-
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en der Philosophie zweimal ausgesprochen: Die Metaphysik enthält die Prinzipien der Erkenntnis (AT IX/2, 12 und 14). Die Idee einer solchen Metaphysik ist in der Cartesianischen Philosophie zwar nur unvollkommen verwirklicht, doch daß sie von der ontologischen Denkweise verschieden ist, fallt in die Augen. In ihrem Rahmen geht es nicht primär um die Beziehung zwischen Endlichem und Unendlichem als Seinsverhältais, sondern um das Verhältais der Begriffe von Endlichem und dem Begriff des Unendlichen. Erst in Abhängigkeit von Begriffszusammenhängen können im Rahmen dieser Betrachtungsweise Aussagen über die entsprechenden Seinszusammenhänge gemacht werden. Spinoza ging dagegen von Seinskategorien, wie „causa sui", und von Seinsprinzipien, wie dem Kausalitätsprinzip, aus. Er dachte ontologisch und nahm daher an, daß Erkenntniszusammenhänge durch Seinsverhältaisse bedingt seien. Seiner Ansicht nach beruht das Endliche auf der Einschränkung des Unendlichen; nach Descartes sind Begriffe von Endlichem als Einschränkungen des Begriffs des Unendlichen aufzufassen. Zu dieser Auffassung gelangte Descartes durch die Analyse der Selbsterkenntnis, in der wir uns als mit vielfachen Zweifeln konfrontierte Wesen erfassen. Das sich im Zweifel äußernde Nichtwissen ist ein Zeichen unserer Begrenztheit; daß wir uns im Zweifel als begrenzt erkennen, läßt sich aber nur unter der Voraussetzung als möglich begreifen, daß wir als endliche Wesen uns im Horizont der Idee des Unendlichen denken. So heißt es in der dritten Meditation: „Wie sollte ich es verstehen, daß ich zweifle und begehre, d. h. daß mir etwas fehlt und ich nicht ganz vollkommen bin, wenn keine Idee eines vollkommeneren Seienden in mir wäre ..." (AT VII, 45 f.). Descartes begnügte sich nicht mit der einleuchtenden Feststellung, daß man sich nur als unvollkommen erfahren könne, wenn man sich mit etwas Vollkommenerem vergleiche; er ging weiter und nahm an, daß die Erfahrung der eigenen Unvollkommenheit bzw. Endlichkeit die Idee eines absolut vollkommenen Wesens voraussetze, allerdings nur in Form eines impliziten Wissens, denn als Inhalt expliziten Wissens ist die Idee des Vollkommenen später als das Wissen von unserer Endlichkeit bzw. Begrenztheit (AT V, 153). Die Idee des Unendlichen bzw. des absolut Vollkommenen wird zwar ausgehend von der Reflexion auf die Endlichkeit und Unvollkommenheit erfaßt, doch das heißt nicht, daß sie durch Abstraktion von den Grenzen des Endlichen gewonnen wird. Die Analyse der Erfahrung der eigenen Endlichkeit hat die Funktion, das implizite Wissen vom Unendlichen explizit zu machen. Weil es zunächst nur implizit ist, kann es nicht zum Ausgangspunkt einer synthetischen Ableitung metaphysischer Sätze gemacht werden. Allgemein gilt nach Descartes, daß sich die Tatsache der Erfahrung endlicher Dinge nur begreiflich machen läßt, wenn die Begriffe endlicher Dinge als Einschränkungen der Idee des Unendlichen aufgefaßt werden. Spinoza schlug die entgegengesetzte Richtung ein: Er ging nicht von der Erfahrung der eigenen Begrenztheit bzw. Endlichkeit aus, um zur Idee eines Unbegrenzten bzw. Unendlichen zu gelangen, sondern bei ihm steht die Natur der unendlichen Substanz am Anfang, während er das Endliche als deren Einschränkung betrachtete. Dem Verhältnis zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen kommt in der Spinozanischen Philosophie zentrale Bedeutung zu, weshalb die oben erwähnte Briefstelle von besonderem Interesse ist. Obwohl Spinoza hier nur über das Verhältnis von räumlicher Gestalt und Grenze sprach, darf ange-
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nommen werden, daß er in den geometrischen Figuren Repräsentanten endlicher Seiender im allgemeinen erblickte. Descartes und Spinoza haben die verglichenen Positionen nicht rein vertreten: So wie Descartes teilweise noch unter dem Einfluß der ontologischen Denkweise stand, so finden sich bei Spinoza (vor allem beim frühen Spinoza) Ansätze der analytischen Betrachtungsweise. Diese Ambivalenz kann nicht überraschen, wenn man bedenkt, daß philosophische Ideen meist erst im Verlauf einer längeren Entwicklung zu völliger Klarheit gelangen.
4. Umrisse der weiteren Entwicklung Die Arten des neuzeitlichen metaphysischen Denkens, als deren Vertreter sich Descartes und Spinoza betrachten lassen, spielten auch in der Folgezeit eine Rolle, weshalb es möglich ist, die weitere Entwicklung im Hinblick auf ihr Verhältnis zu rekonstruieren. Daß das nur um den Preis einer starken Vereinfachung bzw. der Vernachlässigung mancher Details geschehen kann, liegt auf der Hand. Als Beispiel der ontologisch ausgerichteten Metaphysik läßt sich Hegels Logik (die eigentlich eine Ontologie ist) nennen, sofern ihr Inhalt gleichsam „die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist" (Jub.-Ausg. IV, 46). „Logik" bedeutet hier die Lehre vom Logos als dem Inbegriff der idealen Formen der Realität und ihrer Selbstbewegung. Von der Metaphysik als Ontologie ist die Metaphysik als Lehre von den allgemeinsten Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstandserfahrung zu unterscheiden, die Kant als „Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" bezeichnet hat. Neben jener Metaphysik, in der es um die Frage „Was ist das Seiende?" geht, darf jene andere, in der nach den Bedingungen der Erkenntnis des Seienden gefragt wird, nicht übersehen werden. Heidegger, der allein die ontologische Denkweise berücksichtigt hat, wurde der von Descartes oder Kant vertretenen Metaphysik nicht gerecht. Der Unterschied dieser beiden Richtungen des metaphysischen Denkens beeinflußte auch die Auffassung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem. Dies soll anhand von Beispielen angedeutet werden. a) Die ontologische
Sicht
Die ontologische Denkweise kam, nachdem sie in der Philosophie Wolfis und seiner Anhänger epigonal fortgesetzt, von Kant dagegen zurückgedrängt worden war, im nachkantischen Idealismus wieder zur Geltung. Dabei wurde, über Spinoza, Leibniz und andere hinausgehend, versucht, eine Antwort auf die Frage nach dem Grund der „Negation" des Unendlichen, der endliche Wesen ihre Bestimmtheit verdanken, zu finden. Tatsächlich ist die Auffassung des Endlichen als Einschränkung bzw. als Negation des Unendlichen solange nicht voll befriedigend, als nicht angegeben wird, wie und warum das Unendliche eingeschränkt wird. Auch wenn man Spinoza zugesteht, daß alles, was ist, in der Substanz ist und daß nichts unabhängig von ihr sein oder begriffen werden kann (Opp. II, 56), läßt sich die Frage, warum es überhaupt Modi gibt und warum es gerade diese Modi gibt, nicht auf der Basis von Spinozas Prinzipien beantworten. Daher hatte sich Spinoza genötigt gesehen, die Existenz endlicher Modi als empirisches Faktum darzustellen: Daß es
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Körper gibt und daß sie entweder bewegt sind oder ruhen, konnte er nur auf Grund von Erfahrung konstatieren. Obwohl er die entsprechenden Sätze als Axiome bezeichnete, stützte er sich also offensichtlich auf Tatsachenaussagen, die in einem System von der Art des Spinozanischen keinen Platz haben. Da die Vertreter des nachkantischen Idealismus die Berufung auf die Erfahrung vermeiden wollten, suchten sie den Grund der Einschränkung des Unendlichen in diesem selbst und meinten, ihn in der Selbstbeschränkung des Absoluten gefunden zu haben. So erklärte Hegel, der Spinozas „großen Satz" - „Alle Bestimmung ist eine Negation" (Jub.-Ausg. XIX, 374) - aufgriff, daß die Negation in das Absolute selbst verlegt werden müsse, wenn man begreiflich machen wolle, wie das bestimmte, begrenzte Endliche aus dem Absoluten hervorgegangen ist. Nach Hegel muß man daher die für die rationalistische Metaphysik charakteristische Auffassung des Absoluten als eines widerspruchsfreien, keine Negation enthaltenden Inbegriffs der Vollkommenheiten bzw. Realitäten aufgeben, denn wo es keine Negation gibt, kann es - infolge des Spinozanischen Grundsatzes - keine Bestimmtheit geben (Jub.-Ausg. IV, 126 f.). Ein unbestimmtes Absolutes kann aber nicht Grand der bestimmten Realität sein. Nur wenn man anerkennt, daß es im Absoluten selbst das Moment der Negation gibt, läßt sich der von Hegel als unendlich wichtig bezeichnete Satz Spinozas (Jub.-Ausg. IV, 127) verstehen. Muß man, wenn man die Negation ins Absolute verlegt, nicht auch noch nach deren Ursprung im Absoluten fragen? Schelling hielt das für nötig: Er begnügte sich nicht mit der Annahme eines negativen Prinzips des erscheinenden Universums im Absoluten (SW VI, 42), sondern fragte, wie im Absoluten die Negativität entstehen konnte. Er sprach von einer Entzweiung im Absoluten auf Grund der Erzeugung eines Gegenbilds des Absoluten in diesem selbst, von einer Entgegensetzung von Absolutem und Gegenbild, in der sich das Absolute gegenständlich wird, und von einem Abfall des Gegenbilds vom Absoluten (SW VI, 38). Man wird schwerlich sagen wollen, daß er mit dieser spekulativen Konstruktion eine überzeugende Antwort gefunden habe, doch die Art, in der er mit dem Problem rang, läßt erkennen, wie groß die mit der zu Ende gedachten ontologischen Auffassung des Endlichen als Negation des Unendlichen verbundenen Schwierigkeiten sind. Im 20. Jahrhundert scheint die romantische Auffassung in Heideggers Lehre von der ontologischen Differenz als Unterschied von Sein und Seiendem, wenn auch stark abgeschwächt, weitergewirkt zu haben. Nach Heidegger kann etwas nur unter der Voraussetzung verneint werden, „daß alles Denken auf das Nicht schon vorblickt" (Heidegger 1955, 36). Sofern das Nichts in dem hier gemeinten Sinne mit dem Sein zusammenfallt (Heidegger 1955, 45), wird das (endliche) Seiende als Negation des Seins - als Genichtetes - aufgefaßt. Heidegger hat freilich, anders als die Vertreter des spekulativen Idealismus, nicht ein unendliches Sein gemeint und daher auch nicht angenommen, daß das Seiende im Horizont des Unendlichen erkannt werde. Im übrigen würde es sich bei Heideggers Auffassung, wenn sie mit der idealistischen Philosophie in Zusammenhang stehen sollte, nur um deren fernes und undeutliches Echo handeln. Mit der spekulativen Annahme, daß der Grund der das Einzelne bestimmenden „Negation" im Absoluten selbst liege, war eine Schwierigkeit verbunden, deren sich Schelling bewußt war: Er bezeichnete den Abfall vom Absoluten, auf den er das bestimmte endliche Seiende zurückführte, als unerklärlich (SW VI, 42). Wenn aber die Entfaltung eines philo-
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sophischen Ansatzes zu einem unlösbaren Rätsel fuhrt, muß das ernste Bedenken hervorrufen und zur Suche nach einer Alternative veranlassen. b) Die erfahrungsanalytische
Sicht
Die bei Descartes in Ansätzen feststellbare und von Kant erstmals klar zur Geltung gebrachte Denkweise ist eine solche Alternative. Sie ist frei von den Schwierigkeiten der ontologischen Betrachtungsweise, weil es bei ihr nicht darum geht, die Bestimmtheit des Endlichen aus dem Unendlichen abzuleiten; ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, Ideen des erfahrenen Endlichen als Einschränkungen der Idee des Unendlichen begreiflich zu machen. Kant ging davon aus, daß es Erfahrung bzw. Erkenntnis von Dingen gebe und daß alles, was existiert, durchgängig bestimmt sei (Ak. III, 388). Die durchgängige Bestimmtheit eines Dings besteht darin, daß dem Ding von der unendlichen Menge der Paare möglicher Prädikate P und non-P entweder ein bestimmtes P oder das entsprechende non-P zukommt. Etwas kann daher nur mit Bezug auf diese Menge - den Inbegriff der Realität - als durchgängig bestimmt erfahren werden, das heißt, die „Idee von einem All der Realitäten" ist die oberste materiale Bedingung der Möglichkeit der Gegenstandserfahrung. Kant bezog sich mit dieser Auffassung nicht auf Seins-, sondern auf Erkenntniszusammenhänge: Nicht die Dinge entstehen durch Einschränkung des unendlichen Seins, sondern die Erkenntnis von Dingen beruht „auf der Einschränkung des Inbegriffs dieses All der Realität, indem einiges derselben dem Dinge beigelegt, das übrige aber ausgeschlossen wird" (Ak. III, 388). Man möchte meinen, daß Kant die Ausführungen Descartes' und Spinozas vor Augen hatte, wenn er in der Kritik der reinen Vernunft schrieb: „... alle Verneinungen [...] sind bloße Einschränkungen einer größeren und endlich der höchsten Realität, mithin setzen sie diese voraus und sind dem Inhalte nach von ihr bloß abgeleitet. Alle Mannigfaltigkeit der Dinge ist nur eine ebenso vielfaltige Art, den Begriff der höchsten Realität... einzuschränken, so wie alle Figuren nur als verschiedene Arten, den unendlichen Raum einzuschränken, möglich sind" (Ak. III, 389. Es dürfte Kants Auffassung entsprechen, wenn „Mannigfaltigkeit der Dinge" als „Mannigfaltigkeit der Begriffe von Dingen" verstanden wird.) Daß Kant nicht von „Begrenzung", sondern von „Einschränkung" sprach, hängt mit einer terminologischen Unterscheidung zusammen, die in den Prolegomena ausdrücklich vorgenommen wird: Von „Grenzen" soll nur in bezug auf räumliche Gebilde gesprochen werden; von „Schranken" ist zu reden, wo die absolute Vollständigkeit negiert wird (Ak. IV, 352). Demgemäß heißt es an der zitierten Stelle, daß Begriffe bestimmter Dinge durch Einschränkung - nicht durch Begrenzung - der Idee des Alls der Realität entstehen. Die auf der Analyse der Erfahrung beruhende Metaphysik war allerdings anfänglich noch mit ontologischen Elementen verbunden. Sollte die Idee einer solchen Metaphysik rein zur Geltung kommen, mußten die ontologischen Restbestände eliminiert werden. Bei Descartes zeigt sich der Einfluß der ontologischen Betrachtungsweise in der Annahme, daß wir die Idee des absolut Vollkommenen bzw. die Idee des Unendlichen nicht hätten, wenn es das absolut Unendliche nicht in Wirklichkeit gäbe. Kant hat mit dieser Ansicht gebrochen und darauf verzichtet, der Idee des Alls der Realität, als deren Einschränkung er die Begriffe von Dingen auffaßte, ein wirkliches Wesen zuzuordnen: „Es versteht sich von selbst, daß die Vernunft zu dieser ihrer Absicht, nämlich sich lediglich die notwendige durchgängige Bestimmung der Dinge vorzustellen, nicht die Existenz eines solchen Wesens,
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WOLFGANG RÖD
das dem Ideale gemäß ist, sondern nur die Idee desselben voraussetze ..." (Ak. III, 389). Da es um das Verhältnis zwischen Begriffen bestimmter Dinge und der Idee des Alls der Realität, nicht um das Verhältnis bestimmter Dinge zum Ens realissimum geht, wird bei Kant in einem wichtigen Punkt jene Abhängigkeit vom ontologischen Denken, die bei Descartes festzustellen ist, überwunden. Kant hielt es aber noch für möglich, die Idee eines positiv unendlichen Inbegriffs der Realitäten zu bilden, ja dies ist seiner Ansicht nach nicht nur möglich, sondern notwendig, wenn man Dinge als durchgängig bestimmt denken will: „Alle wahre Verneinungen sind ... Schranken, was sie nicht genannt werden könnten, wenn nicht das Unbeschränkte (das All) zugrunde läge." (Ak. III, 388) Im 20. Jahrhundert wurde diese Auffassung fallengelassen. Natorp faßte die durchgängige Bestimmtheit als Postulat auf, nämlich als „Forderung eines einzigen, allbefassenden Zusammenhangs"; die Idee eines solchen Zusammenhangs ist nach Natorp nicht Begriff eines Wesens, sondern „Ausdruck einer ewigen, nie abschließend lösbaren Aufgabe" (Natorp 1923, 68 f.). Husserl ging noch weiter: Wir erfassen seiner Ansicht nach Dinge gar nicht als durchgängig bestimmt, da wir sie immer inadäquat wahrnehmen; sie können in keinem abgeschlossenen Bewußtsein je vollständig bestimmt gegeben sein (Husserl 1950, 350 f.). Die Idee des durchgängig bestimmten Gegenstandes spielt aber als Horizont der Wahrnehmung eine Rolle, und zwar als Idee im Kantischen Sinne, wie Husserl betonte. Als Idee ist „die vollkommene Gegebenheit vorgezeichnet - als ein in seinem Wesenstypus absolut bestimmtes System endloser Prozesse kontinuierlichen Erscheinens, bzw. als Feld dieser Prozesse ein a priori bestimmtes Kontinuum von Erscheinungen mit verschiedenen, aber bestimmten Dimensionen, durchherrscht von fester Wesensgesetzlichkeit" (Husserl 1950, 351). Wenn Husserl dieses Kontinuum als allseitig unendlich bezeichnete, meinte er nicht die positive Unendlichkeit, sondern die Unabschließbarkeit des Prozesses, in dem Gegenstände bestimmt werden. Der angedeutete Auffassungswandel führte also nicht nur zur Preisgabe der Idee eines positiv unendlichen Inbegriffs, sondern auch zur Preisgabe der Annahme, daß der Gegenstand der Erfahrung faktisch durch unendlich viele Eigenschaften bestimmt sei. Nicht nur endliche Dinge gelten nun als unabhängig vom Unendlichen, sondern auch Begriffe von Endlichem werden als unabhängig vom Begriff des Unendlichen betrachtet. Das Endliche kann daher nicht mehr als eine Art Negation des Unendlichen aufgefaßt werden. Nicht das Unendliche, sondern das Endliche erweist sich von diesem Standpunkt aus als die wahre Wirklichkeit. Das hat schon Condillac gesehen, wenn er im Hinblick auf das hier betrachtete Verhältnis betonte, daß die Endlichkeit keine Einschränkung, sondern etwas Positives sei (Condillac 1798, 217 f.). Zugleich setzte sich immer mehr die Einsicht durch, daß die endlichen Dinge nicht einfach vorgefunden werden bzw. daß ihre Erfahrung nicht rein rezeptiv ist. Die Erfahrungsgegenstände sind bedingt durch Deutungen innerhalb eines begrifflichen Rahmens, letzten Endes eines Rahmens von Kategorien, der vom erfahrenden Subjekt entworfen wird. Um die Gegenstände möglicher Erfahrung als bedingt durch Deutungen auffassen zu können, braucht man sie nicht als Ergebnis einer Einschränkung des unendlichen Seins oder des unendlichen Inbegriffs der Realitäten aufzufassen; unendlich ist lediglich der Prozeß des Interpretierens, nämlich insofern, als er nie zu einem endgültigen Ergebnis führt. Diesen
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Standpunkt könnte man dadurch charakterisieren, daß man die Wendung „Omnis determinatio est negatio" durch eine andere ersetzt, nämlich „Omnis determinatio est interpretatio". Die Entwicklung der neuzeitlichen Metaphysik läßt sich somit als sukzessive Distanzierung gegenüber der anfänglich in ihr noch dominierenden Metaphysik des Unendlichen verstehen. Die Erörterung des Grundsatzes „Omnis determinatio est negatio" spielte bei dieser Entwicklung eine nicht unwichtige Rolle.
Literaturverzeichnis É. Bonnot de Condillac, Traité des systèmes. Œuvres, vol. II. Paris 1798. R. Descartes, Œuvres, hg. von Ch. Adam und P. Tannery, Paris 31996 (Zitiert als „AT"). G. W. Fr. Hegel, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, 3. Auflage, Stuttgart 1958 f. (zitiert als „Jub.Ausg."). E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, I. Den Haag 1950 (Husserliana, Band III). I. Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften. Berlin 1902 ff. (zit. als „Ak."). G. W. Leibniz, „Von der wahren Theologia mystica". In: Deutsche Schriften, hg. von Guhrauer, Band I. Berlin 1838. N. Malebranche, De la recherche de la vérité, hg. von G. Lewis. Paris 1946, Band I. F. W. J. Schelling, „Philosophie und Religion", Sämtliche Werke, hg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856 ff. (zitiert als „SW"). B. Spinoza, Opera, hg. im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften von C. Gebhardt. Heidelberg 1925 (Neudruck 1972) (zit. als „Opp.").
EBERHARD KNOBLOCH
Von Nicolaus von Kues über Galilei zu Leibniz Vom mathematischen Umgang mit dem Unendlichen
Zusammenfassung Der dreiteilige Aufsatz zeigt, wie eine geistige Entwicklungslinie des mathematischen Umgangs mit dem Unendlichen von Nicolaus von Kues über Galilei zu Leibniz fuhrt. Cusanus stützt sich auf die aristotelische und euklidische Größenlehre. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen Quanten und Nichtquanten (Indivisibeln, Unendlich). Der Übergang von Quanten zu Nichtquanten fällt nicht in die Mathematik, sondern wird durch geistige Schau erblickt: er bedeutet Entgrenzung, durch die Ungleicheit in Gleichheit übergeht. Galilei behält die Unterscheidung zwischen Quanten und Nichtquanten bei, als er seine Unendlichkeitstheorie entwickelt. Auch für Leibniz sind Nichtquanten keine Objekte der Mathematik. Durch seine Neuinterpretation verleiht er ihnen Quantencharakter und macht sie so dem mathematischen Kalkül zugänglich.
Einleitung Nicolaus von Kues hat sich ausführlich mit dem mathematischen Übergang gegen Null bzw. Unendlich befasst. Galilei hat seine Gedanken - ohne es zu sagen - aufgegriffen. Leibniz setzt sich mit Galilei auseinander. Dieser Tatsache entspricht die Gliederung meines Vortrages: 1. Nicolaus von Kues: quanta - non quanta 2. Galilei: quanti - non quanti 3. Leibniz: Quantifizierung der Nichtquanten
1. Nicolaus von Kues: quanta - non quanta Der zweistufige Weg zu Gott fuhrt für Nicolaus von Kues über die Mathematik: Man fuge im ersten Schritt die Unendlichkeit zu den mathematischen Figuren hinzu und steige zu den theologischen Figuren auf. Man löse sich im zweiten Schritt von den theologischen Figuren und erblicke im Geiste das einigdreie Unendlich, das infinitum unitrinum. Die cusanische theologia mathematica gründet auf dem Unendlichkeitsbegriff. Gott ist das Unendliche in absoluter Weise (Niko-
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laus 1967a, 660, 696; Nikolaus 1967d, 146, 152): was wir Gott zuschreiben, ist als Namen des unendlichen Kreises zu verstehen. Mathematik als Gottesdienst, aber eine Mathematik, die mit Hilfe der geistigen Schau um die Koinzidenztheorie erweitert werden muss: „Im Unendlichen gilt das allgemeinste philosophische Prinzip, das Kontradiktionsprinzip, nicht. Man wird finden, daß das, was der Verstand für unmöglich hält, daß etwas zugleich ist und nicht ist, gerade die Notwendigkeit ist. Die Unmöglichkeit ist die wahre Notwendigkeit." (Cusanus am 14.9.1453; Knobloch 2002,223). Der Kusaner baute auf der aristotelischen Quantitäten- und der euklidischen Größenlehre auf, als er sein Mathematikverständnis und seine Überlegungen zum Unendlichen entwickelte, TOOOV, quantum, Quantität heißt das, was in das in ihm Vorhandene teilbar, zerlegbar ist. So definierte Aristoteles die zweite seiner zehn Kategorien in der Metaphysik (1020 a 7 = Buch 5, 13). Teilbarkeit, divisibilitas ist danach definierende Eigenschaft von Quantität. Oder umgekehrt: was unteilbar ist, kann nicht Quantität sein. Eine Quantität messen, heißt diese zu erkennen. Nach Euklid, Elemente Buch V, können gleichartige Größen ein Verhältnis bilden, und zwar dann (Definition 4), wenn sie vervielfältigt einander übertreffen können. Alles Mathematische ist endlich, Mathematik ist die Wissenschaft der endlichen Größen. Nun lässt jedes Quantum ein Mehr oder Weniger zu (Nikolaus 1967c, 468). Aber: durch vergrößern kommt man nicht zum schlechthin Größten. Durch verkleinern, Teilen in immer wieder Teilbares, indivisibilia, kommt man weder zu unendlich vielen Teilen noch zu einem kleinsten Teil, minima pars, einem schlechthin Kleinsten (Nikolaus 1967b, 326): Die Zerlegung einer Linie führt nicht zu Punkten. Hieraus ergeben sich drei Schlussfolgerungen: (1) Zusammengesetzt ist äquivalent mit Endlichsein (Nikolaus 1964-1977 I, 80). (2) Quanten sind in Zeichen angebbar, signabilia. (3) Quanten sind nicht in Nichtquanten zerlegbar. Zerlegungen, Teilungen betreffen stets nur homogene Größen. So gehören zum Begriffspaar quantum - non quantum die Begriffspaare: finitus - infinitus terminatus - interminatus devisibilis - indivisibilis Das Unendliche und Indivisibeln sind Nichtquanten. Als Nichtquanten haben sie vier charakteristische Eigenschaften: 1)
Unvergleichbarkeit
Das absolute Maximum, das Unendliche, und das absolute Minimum, der Punkt, sind transzendente Termini von absoluter Bedeutung oberhalb jeder Kontraktion zur Quantität (Nikolaus 1964—1977 I, 18). Das Unendliche ist als non quantum mit einem quantum nicht vergleichbar. Denn: „Es gibt kein Verhältnis vom Endlichen zum Unendlichen" (Nikolaus 1967d, 200).
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Nun beruht nach der cusanischen Erkenntnistheorie jede Untersuchung auf einem Vergleich, gebraucht das Mittel der Proportion. Da sich das Unendliche jeder Proportion entzieht, bleibt es unbekannt, ist nicht zu verstehen (Nikolaus 1964-1977 1,6). 2)
Unteilbarkeit
Nichtquanten sind nicht teilbar, haben keine Teile. Dies gilt vom Maximum wie vom Minimum, vom Unendlichen wie vom Punkt. Danach findet das euklidische Axiom „das Ganze ist größer als ein Teil" im Unendlichen keine Anwendung (Nikolaus 1964-1977 I, 94). Denn dort gibt es keine Teile und damit nicht die notwendigen Voraussetzungen für die Anwendung des Axioms. Umgekehrt wird aus Punkten nichts zusammengesetzt, etwa eine Linie (Nikolaus 1967a, 678, 1967b, 228). 3)
Unerreichbarkeit
Non quanta, Indivisibeln wie das Unendliche oder der Punkt, gehören nicht zum Bereich der eigenständig existierenden mathematischen Objekte. Ein Fortschreiten ins Unendliche kann aktuell nicht geschehen (Nikolaus 1964-1977 I, 24), weder zum Maximum noch zum Minimum. In heutiger Terminologie: Der Grenzwert einer gegen ihn konvergenten, nicht konstanten Folge ist nicht eines ihrer Elemente. Stärker: eine transfinite Zahl ist kein Spezialfall der endlichen reellen Zahlen. Wo die ratio versagt, die alles auf Vielheit und Größe zurückfuhrt (Nikolaus 1971, 40), hilft die geistige Schau, die visio intellectualis, weiter. Diese „sieht", dass die kleinste, aber nicht mehr bezeichenbare - assignabilis - Kreissehne mit dem kleinsten zugehörigen Bogen zusammenfallt. Gelangte man zur kleinsten Quantität - Cusanus spricht im Irrealis - käme es zum Zusammenfall der Gegensätze, zur coincidentia oppositorum, von gerade und krumm. Es ist seine erklärte Absicht, die Vervollkommnung der Mathematik mit Hilfe dieser Koinzidenz zu erstreben (Nikolaus 1488 II, 698 f.) Für alle Vernunftwissenschaften, also insbesondere für Mathematik, gilt das Prinzip der Koinzidenzvermeidung (Nikolaus 1971, 86, 92). Der Verstand erreicht nicht den Zusammenfall von krumm und gerade, von geradlinigem Polygon und dazu imAbb. 1 proportionalen Kreis. Unter Berufung auf Euklid (Nikolaus 1971, 92) stellt Cusanus fest: wenn die Summe zweier Dreieckseiten der dritten Seite gleich sein könnte, könnte die Quadratur des Kreises erreicht werden. Diese Gleichheit gilt nur, wenn
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man vom triangulum quantum zum triangulum non quantum, von Quanten zu Nichtquanten aufsteigt, in den Bereich, der nicht zur Mathematik gehört: wenn die Basiswinkel des Quantendreiecks Null Grad annehmen, artet das Dreieck zur Linie aus (Nikolaus 1964-1977 I, 14). Daher gilt: Eine genaue Kreisquadratur ist unmöglich, jede derartige Quadratur kann nur approximativ sein. Das heißt (Nikolaus 1952, 49): „In der Mathematik ist jeder Satz, aus dem die genaue Gleichheit von Kreis und Quadrat folgt, unmöglich." Gott aber ist das Unendliche in absoluter Weise, die absolute Koinzidenz, die unendliche Gleichheit (Nikolaus 1967a, 694-698). 4) Unbegrenztheit,
Unmessbarkeit
Non quanta haben keine Grenzen und sind damit nicht messbar. Denn alles Messbare fallt zwischen Größtes und Kleinstes ((Nikolaus 1964-1977 I, 62). Fügt man die Unendlichkeit einem Begriff hinzu, beseitigt man die Grenze, damit das, was durch eine begrenzte Sprechweise oder einen Begriff bezeichnet wird, auf geistige Weise als Unendliches oder Unbegrenztes erblickt wird (Nikolaus 1967a, 664). Wird die Begrenzung weggenommen, so geht die Verschiedenheit in Übereinstimmung, die Ungleichheit in Gleichheit, die Krümmung in Geradheit, die Unwissenheit in Wissenschaft, Dunkel in Licht über. Unendlichkeit ist durch zwei Aspekte charakterisiert: Grenzenlosigkeit und universelles Mass. Es ist als unbegrenztes nicht messbar, aber selbst das Maß von allem (Nikolaus 1967a, 686), also auch sein eigenes Maß. Das einzige Größte ist das Maß aller Quanten. Koinzidieren unendliche Gerade und unendliche Kreislinie, so koinzidieren Maß und Gemessenes. Sehen wir zu, wie Galilei mit diesem Erbe umgegangen ist. 2. Galilei: Quanti - non quanti Am dritten Tag des Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo erörtern die Gesprächspartner die Höhenmessung eines Sterns mittels eines Quadranten. Vorausgesetzt wird, dass sich der Beobachter mit fest eingestelltem Instrument auf der gekrümmten Oberfläche einer Kugel auf einem gedachten Kreis bewegt (Galilei 1632, 403 f.). Je größer die Kugel bzw. der Kreis ist, desto länger muss sich der Beobachter bewegen, damit der Stern einen Grad höher zu stehen kommt. Fände die Bewegung auf einer Geraden statt, müsste sich der Beobachter weiter bewegen, als er es auf einem noch so großen Kreis zu tun hätte. „Allerdings", wirft Salviati ein, „denn schließlich sind unendliche Kreisperipherie und gerade Linie ein und dasselbe", „Si, perche finalmente la circonferenza del cerchio infinito e una linea retta sono l'istessa cosa". Sagredo will ihn bei anderer Gelegenheit auf diese Identität erneut ansprechen. Es ist die cusanische Koinzidenz des Entgegengesetzten, von gerade und krumm. Tatsächlich nimmt Galilei diese Diskussion sechs Jahre später in den Discorsi erneut auf (Galilei 1638, 68-96). Davon soll im folgenden die Rede sein. Die Ähnlichkeit der Argumentation mit den cusanischen Aussagen ist evident: (1) die Unterscheidung zwischen Größen und Nichtgrößen;
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(2) die Nichtverstehbarkeit von Nichtgrößen wie unendlich und Indivisible für den endlichen menschlichen Verstand. Seine Ausführungen betreffen vier Beispiele: 1) die Konstruktion eines hyperbolischen Punktesystems, die auf den Sonderfall des zur Gerade ausgearteten Kreises mit unendlichem Radius fuhrt, 2) das Paradoxon des aristotelischen Rades, 3) die Gleichheit zwischen bestimmten Kreisringen und Kreisflächen 4) ein Vergleich zwischen den Mengen der natürlichen und der Quadratzahlen. Ich werde aus Zeitgründen nur die ersten beiden Beispiele behandeln. Das hyperbolische Punktesystem Eine Strecke AB sei durch C in ungleiche Teile geteilt. Man soll einen Kreis beschreiben, so dass die Entfernungen von A, B zu den Punkten E der Kreislinie das Verhältnis AC : CB haben (Galilei 1638, 90).
G
A
Abb. 2
Lösung: Man schlägt einen Kreis um C mit Radius CB, legt von A aus die Tangente an diesen Kreis. Man errichtet das Lot DC im Berührungspunkt D und das Lot EB in B, das die Gerade AD in E schneidet. In E errichtet man das Lot EF, das die Gerade AB in F schneidet. Es ist CF = EF. Der Kreis um F mit dem Radius CF = EF ist der gesuchte Kreis, was von Galilei sorgfaltig bewiesen wird. Rückt der Teilungspunkt C gegen den Mittelpunkt der Strecke AB, wird die Tangente AD senkrechter, EB größer und damit auch EF = CF, der Radius des gesuchten Kreises. Fällt C mit M zusammen, ist der Kreis unendlich groß. Es ist eine Gerade durch M. Die cusanische Koinzidenz: der unendliche Kreis ist eine Gerade geworden. Es ist die im Dialogo angesprochene Koinzidenz.
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Es hat, wie Galilei sagt, eine Metamorphose, ein Gestaltwandel beim Übergang vom Endlichen ins Unendliche stattgefunden. Der endliche Kreis ändert derart sein Wesen, dass er es vollständig verliert und die Fähigkeit, Kreis sein zu können: „questo muta talmente l'essere, che totalmente perde l'essere e il poter essere" (Galilei 1638, 85). Deshalb spricht Galilei vom unendlichen Unterschied, ja Widerwillen und Gegensätzlichkeit der Natur, auf die eine begrenzte Größe (quantitä terminata) trifft, die sich im Übergang zu einer unendlichen befindet. Deshalb ist es ein schwerer Irrtum, dem Unendlichen dieselben Attribute zuzuweisen, wie dem Endlichen, deren Naturen in Wahrheit keine einzige Übereinstimmung besitzen. Der kritische Punkt ist das „trapassar all' infinita". Ein schrittweiser Übergang vom Reich des Endlichen in das des Unendlichen ist nicht möglich. Wie aber dann? Mit dieser Kernfrage setzt sich Galilei im zweiten Beispiel an Hand des aristotelischen Rades auseinander. Das aristotelische
Rad
Das berühmte Paradoxon aus den Problemata mechanica gilt der Frage: Warum legen zwei konzentrische, miteinander verbunden gedachte Kreise in gleicher Zeit eine Umdrehung zurück und überstreichen dabei trotz verschieden großer Umfange gleichlange Abrollstrecken? Galileis Grundgedanke war, regelmäßige Kreispolygone mit endlich vielen Seiten zu betrachten, Kreise als Polygone mit unendlich vielen Seiten aufzufassen. Nur der endliche Fall ist dem menschlichen Intellekt verständlich.
Abb. 3
Er führte die Überlegung zweimal durch: Zuerst achtet er auf das rollende größere Polygon und untersucht dann, was mit dem kleineren geschieht. Sodann achtet er auf das rollende kleinere Polygon und untersucht dann, was mit dem größeren geschieht. Zur mathematischen Analyse verwendet Galilei drei Paare einander entsprechender Begriffe, die überdeutlich auf Cusanus zurückverweisen (Knobloch 1999; 2001): Den finiti lad quanti e divisibili, den endlich vielen, quantenartigen und divisiblen Seiten der Polygone entsprechen die infiniti lati non quanti e indivisibili, die unendlich vielen, nicht quantenartigen und indivisiblen Seiten der Kreise.
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Das rollende größere Polygon zieht Sprünge der kleineren Polygonseiten nach sich. Das rollende kleinere Polygon zieht Rückwärtsbewegungen der größeren Polygonseiten nach sich. Erst im Kreisfall arten die Sprünge und Rückwärtsbewegungen zu Nichtquanten aus, die Verdünnung bzw. Verdichtung des Kontinuums nimmt nichtquantenartige Ausmaße an. Das entscheidende Begriffspaar ist quanti non quanti. Drei entscheidende Fragen legt sich Galilei bei seinem Verfahren vor: 1) Wie ist dieser Übergang zu realisieren, von endlich vielen zu unendlich vielen Seiten, von Quanten zu Nichtquanten, von Divisibeln zu Indivisibeln? C Abb. 4
2)
Was geschieht bei diesem Übergang?
3) Worin bestehen die Unterschiede zwischen den jeweiligen Begriffen der drei Paare?
1) Realisierung des Übergangs: Der Übergang ist nicht schrittweise durch immer weiteres Teilen des Teilbaren zu schaffen. Ein solches sukzessives Teilen führt zu keiner letzten Teilung. Die letzte Teilung wäre die gesuchte in die unendlich vielen Divisibeln, in die unendlich vielen Nichtquanten. Galilei bedient sich eines Kunstgriffs, den ihm die Gesprächspartner zubilligen sollen: Die gesamte Unendlichkeit ist in einem einzigen Zug, in un solo tratto, zu erkennen, und aufzulösen. Tatsächlich gilt: Eine transfinite Zahl ist kein Spezialfall der endlichen reellen Zahlen. 2) Die Geschehnisse beim Übergang Der Übergang führt in ein neues, der Mathematik bis dahin verschlossenes Gebiet, wo die bisherigen Relationen und Regeln ihre Anwendbarkeit und damit ihre Gültigkeit verlieren, etwa das euklidische Axiom: Das Ganze ist größer als sein Teil. 3) Die eingetretenen Unterschiede Die jeweiligen Begriffe gehen durch logische Verneinung auseinander hervor: endlich wird unendlich divisibel wird indivisibel Quanten werden Nichtquanten Quanten sind teilbar, als Maßeinheiten, in Rechenoperationen verwendbar, kalkülgeeignet, vergleichbar. Nichtquanten sind nicht teilbar, nicht als Maßeinheiten, nicht in Rechenoperationen verwendbar, nicht vergleichbar. Galileis sorgfaltige Formulierungen spiegeln diese Änderungen wieder.
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a) Die Polygonseiten messen die zurückgelegte Strecke (misurarej, die Kreisseiten legen die Strecken nur zurück (passare). Die Nichtquanten nehmen einen spazio immenso, einen nichtmessbaren Raum ein: Es ist die cusanische Nichtmessbarkeit. b) Nichtquanten können mangels Größeneigenschaft nicht addiert werden. Der aggregatus aller in einem Vielseit enthaltenen Parallen ist keine Summe. c) Nichtquanten können mangels Größeneigenschaft nicht verglichen werden. Unendlich ist ein Nichtquantum. Natürliche und Quadratzahlen können einander umkehrbar eindeutig zugeordnet werden. Aber der Schluss ist unzulässig, es gebe demnach gleich viele von beiden Zahlenarten. Denn die Attribute gleich, größer, kleiner haben bei infiniti nicht statt, nur bei begrenzten Größen.
3. Leibniz: Quantifizierung der Nichtquanten Leibniz hat sich 1672 zu Beginn seiner mathematischen Entwicklung mit Galileis Untersuchungen sorgfaltig auseinandergesetzt. Davon zeugt insbesondere seine Einfiihrung in die Arithmetik des Unendlichen (Leibniz 1976, N. 2): Leibniz bestimmt die Summen unendlicher Reihen, der Reihen der reziproken figurierten Zahlen. Galileis Untersuchungen hatten gezeigt: 1)
Nichtquanten, das heißt das aktual Unendliche und Indivisibeln verletzen die universelle Gültigkeit mathematischer Axiome.
2)
Sie sind für einen Kalkül untauglich.
Nichtquanten konnten nicht Objekte einer Wissenschaft sein, die definitionsgemäß die Wissenschaft von den Größen war: Punkte bzw. die unbegrenzte unendliche Linie (recta infinita interminata). Nun hatte Galilei bemerkt (Galilei 1638, 74): „le definizioni dei matematici ... sono una imposizion di nomi, o vogliam dire abbreviazioni di parlare", „Die Definitionen der Mathematiker ... sind eine Beilegung von Namen, oder wollen wir sagen von Abkürzungen des Sprechens". Leibniz hat Indivisibeln und Unendlich verwendet, aber in neuer, wohldefinierter Bedeutung, die ihnen Größencharakter verliehen: seine Indivisibeln waren unendlich kleine Größen, das heißt nach seiner Definition „kleiner als jede gegebene Größe", aber eben Größen. Seine unendlich großen Größen waren größer als jede gegebene Größe, aber gleichwohl Größen. Danach unterschied er zwischen zwei Unendlichs der recta infinita
terminata
interminata
Im Falle der „begrenzten unendlichen Geraden" nimmt man einen fiktiven, unendlich weit (im definierten Sinn) entfernten Begrenzungspunkt auf der Geraden an. Das „begrenzte Unendlich" ist die logische Negation der heutigen Vorstellung von einem endlichen, aber unbegrenzten Universum. Die unbegrenzte, unendliche Linie ist nicht einmal fiktiv als Größe denkbar.
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Wie schon bei Cusanus und Galilei spielt der Unterschied zwischen begrenzt und endlich eine entscheidende Rolle bei der Analyse des Unendlichen. Unendlich klein und unendlich groß im Leibnizschen Sinn gehorchen den Regeln der Mathematik und verletzen nicht sein universelles Metagesetz, das Kontinuitätsgesetz: die im Endlichen gültigen Regeln bleiben im Unendlichen gültig. Das aktuale Unendlich bleibt bei Leibniz wie bei Cusanus aus der Mathematik ausgeschlossen. Die ausführlichste und sorgfaltigste Begründung seiner Theorie des unendlich Kleinen und Großen gab Leibniz in seiner infinitesimalgeometrischen Abhandlung Über die arithmetische Quadratur des Kreises, der Ellipse und der Hyperbel, die ich 1993 zum ersten Mal vollständig edierte (Leibniz 1993). Der Centre National du Livre in Paris zählte im Jahre 2000 die Schrift zu den „lacunes mathématiques", zu den Büchern, deren französische Fassung ein Desiderat darstellt. Der sechste Satz gibt die exakte Begründung der Infinitesimalmathematik mit Hilfe Riemannscher Summen und endlichen Mitteln. Er besagt in heutiger Terminologie, dass stetige Funktionen Riemann-integrierbar sind. Der Beweis arbeitet mit der Verfeinerung von Integrationsintervallen und einer Abschätzungsmethode, die auch Weierstraß zufriedengestellt hätte. Er zeigt, dass die Differenz zwischen zwei Flächen, von denen die eine elementar berechenbar ist, kleiner als jede vorgegebene Größe gemacht werden kann, anders ausgedrückt: „unendlich klein". Keine cusanische Koinzidenz des Entgegengesetzten, die in der Mathematik nicht stattfindet, sondern archimedische oder Weierstraßsche Strenge. Statt der galileischen Nichtquanten verwendet Leibniz das quantifizierte Unendlich, das anders als jene verstehbar ist, das kalkülgeeignet ist und mit dem man sicher umgehen kann. Leibniz entwickelt eine entsprechende „Arithmetik des Unendlichen". Wir wollen uns darauf beschränken, die Grundidee von Satz 6 vorzufuhren. Dessen Bedeutung hebt Leibniz in einer Vorbemerkung hervor: Die Lektüre dieses Satzes kann ausgelassen werden, wenn man beim Beweis von Satz 7 nicht höchste Strenge wünscht. Und es wird besser sein, diesen anfangs zu übergehen und erst zu lesen, wenn der gesamte Sachverhalt verstanden wurde, damit nicht seine übergroße Genauigkeit den zur Unzeit ermüdeten Geist vom Übrigen, bei weitem Angenehmeren abschreckt. Nur dies allein nämlich erreicht er, daß sich zwei Flächen, von denen die eine in die andere übergeht, wenn man mit der Einschreibung bis ins Unendliche fortfährt, bis auf eine Differenz nähern, die kleiner als jede beliebige zugeordnete ist. Dies pflegen meistens auch jene als anerkannt zu nehmen, die erklären, strenge Beweise beizubringen. (Leibniz 1993, 28).
Leibniz betrachtet eine Kurve (er wählt die Kreislinie) durch indizierte Punkte C. Die vertikale Achse ist die x-Achse, die horizontale Achse ist die y-Achse. Eine neue Kurve durch die indizierten Punkte D wird folgendermaßen konstruiert:
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(1) Die Tangenten in C schneiden die x-Achse in T. (2) Die Punkte D sind die Schnittpunkte der Senkrechten auf die x-Achse durch T mit den Ordinaten durch C der ersten Kurve. (3) Die Sekanten durch zwei aufeinanderfolgende Punkte C schneiden die x-Achse in M. (4) Die Punkte F sind die Schnittpunkte der Senkrechten auf die x-Achse durch M mit der Kurve durch die Punkte D. Die Punkte N sind die Schnittpunkte dieser Lote mit den Ordinaten durch die Punkte C der ersten Kurve. Die Konstruktion ist für jede Kurve durch die Punkte C (die erste Kurve) unter der Voraussetzung möglich, dass diese Kurve drei Bedingungen erfüllt: (1) Sie ist stetig. (2) Es gibt keinen Wendepunkt. (3) Es gibt keinen Punkt mit senkrechter Tangente. Die erste Bedingung ist nötig, um hinreichend benachbarte Punkte C der Kurve zu wählen. Die zweite Bedingung stellt sicher, dass bestimmte konstruierte Punkte T und M eine Folge bilden, die nicht die Richtung wechselt: Ein Punkt M, bezogen auf zwei aufeinanderfolgende Punkte T, liegt stets zwischen den beiden T. Die dritte Bedingung stellt sicher, dass es stets einen Schnittpunkt nF des Kurvensegmentes nD n+iD mit dem Lot nNnP gibt.
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Abb. 6
Die erste Bedingung ist unverzichtbar. Falls nötig, können die zwei anderen Bedingungen durch Teilen der Kurve in mehrere Segmente erfüllt werden. Ist die zweite Kurve konstruiert, kann die erste beiseite gelassen werden, da die Quadratur oder - modern ausgedrückt: die Integration - die zweite Kurve betrifft, die stetig und monoton wachsend oder fallend sein muss, wie an Figur 5 zu sehen ist. Während die „übliche Indivisibelnmethode" Ein- und Umbeschreibungen von gemischtlinigen Figuren betrachtete, ist die Treppenfigur lB lN lP 2N 2P 3B lB weder eine Ein- noch eine Umbeschreibung, sondern etwas dazwischen. Mit heutigen Worten: Leibniz zeigte die Integrierbarkeit einer großen Klasse von Funktionen mit Hilfe Riemannscher Summen, welche von Zwischenwerten der partiellen Integrationsintervalle abhängen. Zu diesem Zweck führte Leibniz zwei neue Begriffe ein: einen neuen Gleichheitsbegriff und einen neuen Begriff von Koordinatensummen. Während bis dahin zwei Größen gleich hießen, wenn deren Differenz null war, nannte er zwei Größen gleich, deren Differenz beliebig, das heißt unendlich klein gemacht werden kann. Während bis dahin unendlich kleine Größen summiert wurden, ohne dass „unendlich klein" wohldefiniert war, multiplizierte Leibniz die Summe der Ordinaten mit einer unendlich kleinen Größe, die ein wohldefinierter Begriff war. Der Beweis besteht aus acht Schritten: 1) Partition des Integrationsintervalles: Wir wählen eine Partition des gesamten Integrationsintervalls 1B3B in eine endliche Anzahl von Intervallen, deren Längen sich voneinander unterscheiden können.
V O M MATHEMATISCHEN U M G A N G MIT DEM UNENDLICHEN
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Ein beliebiges Rechteck über einem einzelnen Integrationsintervall wird von einem elementaren Rechteck e r überdeckt, das von der (senkrechten) x-Achse bis zur Senkrechten durch N reicht und von einem komplementären Rechteck c r zwischen zwei aufeinanderfolgenden Kurvenpunkten lD, 2D. Diese zwei Rechtecke überlappen einander. 2) Abschätzung der Differenz zwischen einem elementaren Rechteck lB 2ß 1P lN und der zugehörigen gemischtlinigen Figur 1B2B2D1D: Von der Betragsdifferenz gilt: | 1B2B2D1D - 1B2B1P1N | < | 1D1E2D |, wobei 1D1E2D ein komplementäres Rechteck ist. 3) Beweis dieser Behauptung durch Reduktion: Der gemeinsame Flächenteil 1B2B1P1F1D wird von beiden Flächen abgezogen. Daraus folgt: | 1B2B2D1D - 1B2B1P1N | = | 1D1N1F - 1F1P2D | < 1D1E2D Denn die zwei dreilinigen Flächen überlappen nicht und liegen innerhalb des komplementären Rechtecks 1D1E2D. Also ist sogar die Summe der Flächen kleiner als die Fläche des komplementären Rechtecks. 4) Abschätzung für alle solche Rechtecke und gemischtlinigen Figuren (Dreiecksungleichung): Der vorangegangene Beweis (3. Schritt) ist für alle Rechtecke und gemischtlinigen Figuren gültig. Also ist die Differenz zwischen der Summe M der Flächen aller gemischtlinigen Figuren und der Summe E der Flächen aller elementaren Rechtecke kleiner als die Summe C der Flächen aller komplementären Rechtecke. Leibniz verwendet das Dreiecksaxiom, ohne es zu sagen. Verwenden wir nur 2 gemischtlinige Figuren fl, f2, und zwei elementare Rechtecke eri, er2, so erhält man: | f,+f 2 1 -1 er,+er21 < ] f,+f 2 - (er, + er2) | < | f,-er, | + ] f2-er21 5) Summe C der Flächen aller komplementären Rechtecke: C ist kleiner als die Summe von deren Basen mal der größten Höhe oder die Summe ihrer Basen mal der gemeinsamen Höhe, vorausgesetzt alle Rechtecke haben dieselbe Höhe (Länge des Integrationsintervalls). Die Summe der Basen ist die Differenz zwischen größter und kleinster Ordinate, das heißt 1L3D. Sei hm die größte Höhe. Dann gilt: C < 1L3D hm 6) Abschätzung der Differenz zwischen der Fläche der gesamten gemischtlinigen Figur M und der Fläche E aller elementarer Rechtecke: M - E < C < 1L3D hm 7) Reduktion der Quantität 1L3D h m : Die größte Höhe (eine Abszisse) kann kleiner als jede gegebene Größe gewählt werden, da die Kurve stetig ist. Also kann die Größe 1L3D ' hm kleiner als jede gegebene Größe gemacht werden. 8) Reduktion der Differenz M - E: Die Größe M-E kann kleiner als jede gegebene Größe gemacht werden. QED. Leibniz wiederholt den Beweis für die „übliche Indivisibelnmethode". In diesem Fall fallen die Punkte N und D zusammen. Figur und Beweis vereinfachen sich.
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EBERHARD KNOBLOCH
Die Bedeutung des Satzes 6 fasst er mit den Worten zusammen: „Und daher kann die Methode der Indivisibeln, die die Inhalte von Flächen mittels Liniensummen findet, für bewiesen gehalten werden."
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Ein Dreieck wird zur Linie, Quelle: Nikolaus v. Kues 1964—1977 I, 14. Abbildung 2: Konstruktion eines hyperbolischen Punktesystems, Quelle: Galilei 1638, 90. Abbildung 3: Aristotelisches Rad (das große Rad rollt), Quelle: Galilei 1638, 68. Abbildung 4: Aristotelisches Rad (das kleine Rad rollt), Quelle: Galilei 1638, 94. Abbildung 5: Konstruktion der Versiera, Quelle: Leibniz 1993, 34. Abbildung 6: Elementare, komplementäre Rechtecke und krummlinig begrenzte Flächen.
Literaturverzeichnis Galileo Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, Florenz 1632. Ich zitiere den Wiederabdruck in: Le opere, hg. von Antonio Favaro, Florenz 1890-1909, Bd. VII. Galileo Galilei, Discorsi e dimostrazioni matematiche, Leiden 1638. Ich zitiere den Wiederabdruck in: Le opere, Bd. VIII. Eberhard Knobloch, „Galileo and Leibniz: Different Approaches to Infinity", in: Archive for History of Exact Sciences 54, 1999, 87-99. Eberhard Knobloch, „Galilei, Leibniz und die scrupulositas der Mathematik", in: Michael Segre / Eberhard Knobloch (Hg.), Der ungebändigte Galilei, Beiträge zu einem Symposion, Stuttgart 2001, 65-71 (Sudhoffs Archiv, Beiheft 44). Eberhard Knobloch, „Unendlichkeit und Mathematik bei Nicolaus von Kues - Grundideen und ihre Weiterentwicklung", in: Astrid Schürmann / Burghard Weiß (Hg.), Festschrift für Hans-Werner Schutt, Berlin 2002,223-234. Nikolaus von Kues, Werke, Straßburg 1488 (Neuausgabe von Paul Wilpert, 2 Bde., Berlin 1967). Nikolaus von Kues, „De circuli quadratura", in: Nikolaus von Kues, Die mathematischen Schriften, übersetzt von Josepha Hofmann, mit einer Einfuhrung und Anmerkungen versehen von Joseph Ehrenfried Hofmann, Hamburg 1952, Nr. 3. Nikolaus von Kues, Die belehrte Unwissenheit (De docta ignorantia), übersetzt und mit Anmerkungen hg. von Paul Wilpert, Gerhard Senger, Lateinisch-deutsch, 3 Bde., Hamburg 1964-1977. Nikolaus von Kues (1967a), „De complementis theologicis (Complementum theologicum)", in: Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften, hg. u. eingeführt von Leo Gabriel, übersetzt von Dietlind und Wilhelm Dupre, Studien- und Jubiläumsausgabe Lateinisch-deutsch, Bd. III, Wien 1967, 649-703. Nikolaus von Kues (1967b), „De ludo globi", in: Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische 221-355.
Schriften,
Nikolaus von Kues (1967c), „Idiota de sapientia", in: Nikolaus von Kues, Schriften, 419-477.
Philosophisch-theologische
Nikolaus von Kues (1967d), „Liber de visione die", in: Nikolaus von Kues, Schriften, 93-219.
Philosophisch-theologische
Nikolaus von Kues, Mutmaßungen (De coniecturis), übersetzt und mit Einführung und Anmerkungen hg. von Josef Koch und Winfried Happ, Lateinisch-deutsch, Hamburg 1971.
VOM MATHEMATISCHEN UMGANG MIT DEM UNENDLICHEN
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Gottfried Wilhelm Leibniz, „Accessio ad arithmeticam infinitorum", in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe 3, Bd. 1, Berlin 1976, N. 2. Gottfried Wilhelm Leibniz, „De quadratura arithmetica circuii ellipseos et hyperbolae cujus corollarium est trigonometria sine tabulis", kritisch hg. u. kommentiert von Eberhard Knobloch, Göttingen 1993 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Mathematisch-physikalische Klasse 3. Folge Nr. 43).
Kolloquium 12 Die Bedeutung limitativer Theorien in Logik und Metamathematik
C. F. GETHMANN
Einleitung The expression "limitative theories" is not common in the discussion of the foundations of logic and mathematics. However, the expressions "limitative theorems" or "limitative results" do exist. In order to evaluate the philosophical relevance of these theorems it is necessary to mention some logical and metalogical developments in the first half of the 20th century. After Frege's basic logical insights had taken a preliminarily final shape in the Principia Mathematica by Russell and Whitehead, one had come to the conviction for some time especially in the tradition of logical empiricism - that the logic was to be found in the classical logic as used in the Principia. However, above all at the beginning of the thirties, this conviction had to be revised on the basis of a great variety of logical and metalogical results. On the one hand, the validity of the tertium non datur and the rule of double negation was questioned by L. E. J. Brouwer's mathematical intuitionism. And after A. Heyting had axiomatized intuitionistic logic in 1929/1930, a formally elaborated alternative to classical logic was available. A few years later in 1937 I. Johannson presented a further reduced "minimal calculus" which by refusing the ex falso quodlibet was an anticipation of relevance logics. At the same time new types of calculi were developed by G. Gentzen who presented both a calculus of natural deduction and a sequence calculus in 1935. This did not only create a new technology of deduction as an alternative to axiomatic - Hilbert-style - calculi, but also a philosophical problem concerning the semantics of logical operators. Gentzen himself had already pointed out that the rules for an operator (in the case of which the introduction rule plays a special role) do not only allow deductions of a certain type, but at the same time are to be regarded as a kind of "definition". Consequently, M. Dummett and others evolved the thesis that such calculi can provide a pragmatically orientated semantics for logical vocabulary. Another turning point in the debate about the possibilities and limits of logic was the proof of two metalogical theorems by Godel and Church which are often called limitative
KOLLOQUIUM 1 2 - EINLEITUNG
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theorems. In this connection the expression "limitative" refers to the fact that these results revealed fundamental limits of effective or algorithmic procedures. The consequence of this was that Hilbert's programme of a formalistic justification of mathematics turned out to be unfeasible. (a) In his epochal essay "Uber formal unentscheidbare Satze der Principia Mathematica and verwandter Systeme" published in 1931 Kurt Godel proved on the one hand that not only the formal system which was developed by Russell and Whitehead, but every system by means of which arithmetic can be founded is necessarily incomplete. Thus, there will always be true sentences of arithmetic which cannot be derived from a consistent axiomatic system. On the other hand he showed that the consistency of such systems can only be proved if rules of deduction are applied which are stronger than those used in the system itself. There is no doubt that the philosophical importance of this result is that, thus, the limited range of using axiomatic methods has become evident. The question as to whether in addition to this far-reaching statements regarding the nature of the human mind can be justified on the basis of the first incompleteness theorem is more than disputed. After all, Godel himself put up the thesis that one consequence of the theorem was that the human mind is superior to any finite machine or that there are problems which definitely cannot be solved. (b) Apart from Godel's incompleteness theorem(s) there is a second important limitative result - the undecidability theorem which was proved by Church in 1936: even first-order predicate calculus is undecidable. Effective procedures can only be specified for certain parts, for example by restriction to one-place predicates. Almost at the same time a similar result was achieved by Turing. Another group of "limitative theorems" are metalogical results concerning limitations of first-order languages which, thus, show that certain mathematically relevant notions can only be characterized in higher-order languages. In this connection two theorems are to be mentioned - sometimes also Godel's proof of the completeness of classical first-order predicate logic (1930) is included in the limitative theorems. (c) The compactness theorem: if from one set M of propositions a proposition p follows, p also follows from a finite partial set of M. With respect to models: if each finite partial set of a set has a model, the whole set has a model, too. (d) The Lowenheim-Skolem theorems: In 1915 L. Lowenheim was able to prove that each satisfiable formula of first-order predicate logic with identity can already be satisfied in a finite or countably infinite domain. This result was generalized by T. Skolem in 1920: each consistent set of formulas is satisfiable in a countable domain. The importance of these results is that an axiomatic system for non-countable domains can by no means serve as an implicit definition in so far as a countable model can also be given - provided that a non-countable model exists. Also in other respects the topos of limitations and exceeding the limits - which is the topic of this congress - is important for the philosophy of logic. When you speak of limits and exceeding the limits, you involuntarily think - as regards the foundations of logic and mathematics - of dealing with infinite sets, the thus resulting problems of antinomies and paradoxes and the numerous attempts to get rid of these problems by a limitation of dealing with them.
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C. F. GETHMANN
During the first decades of the twentieth century several strategies of limitation have been developed by seeking after an adequate limitation of a hypertrophic usage of the actual infinite and the resulting problems of the foundational crisis, that is the development of antinomies and impredicative notions. These strategies can be roughly classified as follows: - strict finitism, i. e. the attempt to do without infinite sets at all; this attempt obviously is a "resignation" solution which renounces too much and, therefore, cannot be accepted as a serious offer; - attempts to regularize the language by syntactic rules which are in fact expressional prohibitions: for example the prohibition of self-predication formalized by the theory of types; - attempts to solve the problems by weaker logics than by the classical one, especially by offers made by intuitionists; - the strategy of a strict formalization (Hilbert) according to which metamathematics should do with weaker logical means; - different attempts to exclude problem-producing theorems by non-naive set theories. I do share the certainly not undisputed view that the discussion about the limitation of our theoretical handling of the infinite is not yet concluded. Although the various therapies which have been suggested have become effective, is there a willingness to accept the required price, for example limitations of the expressive richness of languages or the renunciation of inter-theoretically important theorems?
FRANZ VON KUTSCHERA
Frege und das Ende des Piatonismus
1. Der Zusammenbruch der naiven Mengenlehre Ende Juni 1902 erhielt Frege einen Brief von Bertrand Russell, datiert vom 16.6.1902. Darin wies dieser ihn auf einen Widerspruch im mengentheoretischen System von Freges Grundgesetzen der Arithmetik hin. Am 22. Juni antwortet Frege: „Ihre Entdeckung des Widerspruchs hat mich aufs Höchste überrascht und, fast möchte ich sagen, bestürzt, weil dadurch der Grund, auf den ich die Arithmetik [...] aufzubauen gedachte, ins Wanken gerät."1 Freges zentrales Anliegen war es gewesen, den Sinn und den Geltungsgrund von Zahlaussagen herauszuarbeiten. 2 Mit seiner mengentheoretischen Begründung der Arithmetik im 1. Band der Grundgesetze der Arithmetik (1893) - die Grundgedanken finden sich schon in den Grundlagen der Arithmetik (1884) - schien er sein Ziel erreicht zu haben. Dieses Werk war die Frucht außerordentlich scharfsinniger, gründlicher und weit ausgreifender Überlegungen, die in einem formalen System Ausdruck fanden, das von bis dahin ungeahnter Strenge und Exaktheit war. In diesem System bewies Frege eine Fülle von Theoremen, insbesondere Sätze der Arithmetik. Er bewies aber z. B. auch (im §31), daß jeder Ausdruck seiner Kunstsprache genau eine Bedeutung (Extension) habe. Wäre dieser Beweis korrekt, so wäre das System widerspruchsfrei. Daher schien es nur allzu berechtigt, wenn Frege in der Einleitung zum 1. Band der Grundgesetze sagte: „Es ist von vornherein unwahrscheinlich, daß ein solcher Bau sich auf einem fehlerhaften, unsicheren Grunde auffuhren lassen sollte [...] Und nur das würde ich als Widerlegung anerkennen können, wenn jemand durch die Tat zeigte, daß auf anderen Grundüberzeugungen ein besseres, haltbareres Gebäude errichtet werden könnte, oder wenn mir jemand nachwiese, daß meine Grundsätze zu offenbar falschen Folgesätzen führten. Aber das wird keinem gelingen." 3 Und doch liest man schon im Anhang des 2. Bandes desselben Werkes von 1903 die Sätze: „Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als daß ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. - In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Betrand Russell versetzt, als
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BW, 213. Vgl. z. B. BW, 269 f. und N, 282. (1893),!, XXVI.
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FRANZ VON KUTSCHERA
der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte."4 Frege konnte dem 2. Band der Grundgesetze nur mehr in aller Eile einen Anhang hinzufugen, in dem er auf den Widerspruch hinwies und einen Vorschlag hinzufugte, wie er sich vermeiden ließe. Dieser Vorschlag ist später von St. Lesniewski (1938) und W. V. Quine (1955) als unbrauchbar erwiesen worden. Er war aber von vornherein nicht mehr als eine Notlösung unter Zeitdruck, die Frege selbst auf Dauer nicht ernst nahm. Er ist auch nie mehr auf sie zurückgekommen. Als Begründer der Mengenlehre gilt in der Mathematik Georg Cantor, ein Zeitgenosse Freges. Cantor hat keine formalen, modernen logischen Ansprüchen genügende Theorie der Mengenlehre entwickelt - diese Ansprüche hat erst Frege begründet. Daher konnte Cantor die von ihm schon vor 1902 entdeckten Widersprüche als merkwürdige, aber nicht bedrohliche Randerscheinungen ansehen. Für Frege waren sie hingegen eine Katastrophe. Denn nach dem Prinzip ex falso quodlibet folgt aus einem einzigen Widerspruch alles, so daß ein Widerspruch nicht nur ein lokaler Mangel ist, sondern eine globale Katastrophe. Es ist für Freges intellektuelle Redlichkeit charakteristisch, daß er weder sich selbst noch andere über dieses Desaster hinwegzutäuschen suchte. Für Frege war es eine bittere Ironie, daß das Jahr 1902, das ihm endlich Anerkennung brachte - vor allem durch Philip Jourdain und Bertrand Russell - , nachdem man seine Arbeiten solange nicht nur ignoriert, sondern z. T. sogar angefeindet hatte und selbst bedeutende Leute wie Ernst Schröder und Cantor durch völlig uneinsichtige Rezensionen der Rezeption seiner Ideen schadeten - , daß gerade in diesem Jahr die Grundlagen seines Werks erschüttert wurde. Über diesen Schlag ist Frege nicht mehr hinweg gekommen. In dem schon zitierten Antwortbrief an Russell vom 22.6.1902 schreibt er noch: „Jedenfalls ist Ihre Entdeckung sehr merkwürdig und wird vielleicht einen großen Fortschritt in der Logik zur Folge haben, so unerwünscht sie auf den ersten Blick auch scheint."5 Diese Äußerung war zwar, wie sich zeigen sollte, hellsichtig, Frege selbst hat an diesem Fortschritt aber nicht mehr teilgenommen. Ihm fehlte der „richtige Gesichtspunkt dafür", wie er schreibt,6 und so hat sich während seiner restlichen Lebensjahren bis 1925 die rapide Entwicklung der Logik und Mengenlehre, die er mitbegründet hatte, ohne ihn vollzogen. Ich möchte im folgenden etwas dazu sagen, was, aus heutiger Rückschau, der richtige Gesichtspunkt ist.
2. Freges Begriff einer Menge Ich will die Diskussion dadurch etwas vereinfachen, daß ich nicht, wie Frege in den Grundgesetzen,von Wertverläufen von Funktionen rede, sondern wie üblich von Mengen. Einen Unterschied zwischen Mengen und Klassen macht man (systematisch) nur in speziellen Systemen der Mengenlehre. Ich sehe hier davon ab und verwende beide Bezeichnungen zunächst synonym. Freges Begriff der Klasse ist der klassische und traditionelle: Eine Klasse ist nichts anderes als der Umfang eines (einstelligen) Begriffs oder Prädikats.7 Die Klasse der Menschen 4 5 6 7
(1893), II, 253. BW, 215. A.a.O. Ein Begriff ist ein abstraktes Objekt, ein Prädikat ist hingegen sprachlicher Ausdruck, der einen Begriff bedeutet.
FREGE UND DAS ENDE DES PLATONISMUS
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ist der Umfang des Begriffs Mensch, und sie enthält als Elemente genau jene Objekte, die unter den Begriff Mensch fallen, also die Menschen. Freges Mengenlehre, die heute in der Rückschau gern „naiv" genannt wird, beruht allein auf zwei simplen Prinzipien, die sich direkt aus diesem Begriff der Klasse ergeben. Das erste ist das Komprehensionsprinzip: Jeder einstellige Begriff erster Stufe hat einen Umfang. Das übliche Komprehensionsaxiom besagt nur: C: 3x\fyiyex
= A[y]) - Jedes (einstellige) Prädikat hat einen Umfang.
Da evtl. nicht jeder Begriff durch ein Prädikat der mengentheoretischen Sprache ausgedrückt werden kann, ist das eine schwächere Behauptung. Das zweite Axiom ist das Extensionalitätsaxiom: E: Vz(zex = zey) z>x=y- Klassen, die genau dieselben Elemente haben, sind identisch. C und E zusammen bilden ein komplettes Axiomensystem der klassischen Mengenlehre. Aus ihnen folgt: Jedes Prädikat hat genau einen Umfang; es definiert genau eine Klasse all seiner Instanzen. Diese beiden Prinzipien ergeben sich, wie gesagt, direkt aus dem Konzept einer Klasse als Umfang eines Prädikats. Daher scheinen beide Prinzipien völlig trivial und harmlos zu sein. Und doch ergibt sich schon aus ihnen unmittelbar die Antinomie von Russell, die einfachste der zahllosen mengentheoretischen Widersprüche. Es gibt Klassen, die sich nicht selbst als Elemente enthalten. Die meisten Klassen sind von dieser Art, wie z. B. die Klasse der Frösche, die selbst kein Frosch ist. Es gibt aber auch Klassen, die sich selbst als Element enthalten wie z. B. die Klasse aller Klassen, die ja selbst eine Klasse ist. Die Russellsche Klasse ist nun definiert als Klasse aller Klassen, die sich selbst nicht enthalten, und daher enthält sie sich selbst genau dann, wenn sie sich nicht selbst enthält. Nach der klassischen Logik, die der Mengenlehre zugrunde liegt, ist das ein Widerspruch, denn die Klasse ist entweder ein Element von sich selbst oder sie ist kein Element von sich selbst, und jede dieser beiden Annahmen impliziert die andere. Die Antinomie von Russell folgt tatsächlich schon aus dem Komprehensionsprinzip C allein. Wo aber soll der Fehler in diesem Prinzip liegen, das sich doch, wie gesagt, direkt aus dem ganz normalen Verständnis von Klassen ergibt? Das war für jemanden wie Frege, der die Mengenlehre als Grunddisziplin der Mathematik, insbesondere der Arithmetik und Analysis erkannt hatte, in der Tat ein quälendes und zutiefst frustrierendes Problem. Frege kannte die Versuche, von Russell und dann von Ernst Zermelo, die Mengenlehre so umzugestalten, daß die bekannten Widersprüche nicht mehr auftraten. Diese Umformungen, ob Typentheorien oder Systeme der axiomatischen Mengenlehre, mußten die zugelassenen Mengenbildungen gegenüber dem Komprehensionsprinzip beschränken, sie alle schienen Frege aber zurecht intuitiv unbefriedigend und ad hoc zu sein. Die Typentheorie ist ja von ihrem Ursprung her eine höhere Prädikatenlogik, und als solche hatte sie Frege schon in seiner Begriffsschrift von 1879 selbst vertreten. Eine Typenunterscheidung im Bereich der Begriffe ist zweifellos sinnvoll, eine Typenunterscheidung im Bereich der Objekte ergab für ihn hingegen keinen Sinn.8 Die axiomatische Mengenlehre, die von Ernst Zermelo in den
8
Vgl. Brief an Russell vom 23.9.1902, BW, 277 f. Gegen Russells Vorschläge (vgl. seinen Brief vom 8.8.1902 in BW, 226) bestand Frege darauf, daß es, anders als im Bereich der Begriffe, im Bereich der
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FRANZ VON KUTSCHERA
Jahren 1904 bis 1908 begründet wurde und in der Form ZFF vom Beginn der 20er Jahre an das mengentheoretische Standardsystem bildet, schwächt die Konstruktionsprinzipien für Mengen so ab, daß die Russellsche Menge und die Allmenge und andere Mengen, die zu Widersprüchen führen, sich nicht mehr bilden lassen, während die Axiome andererseits so gewählt sind, daß die mathematisch interessanten Theorien von Ordinal- und Kardinalzahlen unberührt bleiben. Die Konstruktion der Systeme folgt also rein pragmatischen Gesichtspunkten und bleibt intuitiv ohne Überzeugungskraft. Vom Ideal, die Grundprinzipien der Mengenlehre aus einem intuitiv wohlbestimmten Mengenkonzept herzuleiten, ist man hier weit entfernt. 3. D e r Ursprung der Paradoxien Dieses Ideal wird man nur dann erreichen, wenn es gelingt, die Ursachen der mengentheoretischen Widersprüche aufzuklären. Das aber ist solange nicht möglich, als man nicht erkennt, daß man zur Konstruktion der Widersprüche neben den beiden Grundprinzipien der naiven Mengenlehre, C und E, die sich direkt aus dem klassischen Mengenbegriff ergeben, nicht nur die Gesetze der klassischen Logik braucht, sondern auch die Annahme, daß die Klasse aller Mengen, die den universe of discourse der mengentheoretischen Sprache bildet, unabhängig von unserem Denken existiert, daß Mengen Objekte einer uns vorgegebenen Realität sind und nicht Konstrukte unseres eigenen Denkens. Diese Auffassung abstrakter Entitäten wie Begriffe, Propositionen, Zahlen, Funktionen oder eben Mengen bezeichnet man als Universalienrealismus oder Piatonismus. Das war in der Tat Freges Position, und es war auch die Position von Cantor und Kurt Gödel wie die Position der meisten bedeutenden Mathematiker, die sich mit Mengenlehre befaßt haben. Gödel schrieb: „Klassen und Begriffe [...] können als reale Objekte aufgefaßt werden [...], die unabhängig von unseren Definitionen und Konstruktionen existieren. Mir scheint die Annahme solcher Objekte ebenso legitim zu sein wie die Annahme physischer Körper, und es gibt ebenso viel Grund an ihre Existenz zu glauben. Sie sind im selben Sinn notwendig, um eine befriedigende Theorie der Mathematik zu erhalten, wie es physische Körper sind, um eine befriedigende Theorie der Sinnen Wahrnehmung zu erhalten."9 Für Gödel ist also Mathematik so etwas wie eine Naturwissenschaft für die Welt abstrakter Objekte, nicht aber eine Wissenschaft geistiger Konstruktionen. Ähnliches gilt für Frege. Für ihn wurden Begriffe oder Propositionen (d. h. Satzinhalte, oder in Freges Diktion: Gedanken) und Klassen nicht gebildet sondern entdeckt. In seinem Aufsatz Der Gedanke von 1918 zeigt Frege zunächst, daß Gedanken - er meint: Gedankeninhalte, nicht Denkakte (icogitata, nicht cogitationes, in der Unterscheidung von Descartes) - weder empirische Dinge noch mentale Vorstellungen sind, und sagt dann: „So scheint das Ergebnis zu sein: Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt, noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muß anerkannt werden. Was zu diesem gehört, stimmt mit den Vorstellungen darin überein, daß es nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, mit den Dingen aber darin, daß es
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Objekte für eine Unterscheidung von Objekten verschiedener Stufe keine natürliche Basis gibt. Vg. Freges Antwort auf Russells Brief vom 23.9.1902 in BW, 227 f. Gödel (1944), 137.
FREGE UND DAS ENDE DES PLATONISMUS
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keines Trägers bedarf, zu dessen Bewußtseinsinhalte es gehört. So ist z. B. der Gedanke, den wir im pythagoreischen Lehrsatz aussprechen, zeitlos wahr, unabhängig davon, ob irgend jemand ihn für wahr hält. Er bedarf keines Trägers. Er ist wahr nicht erst, seitdem er entdeckt worden ist - wie ein Planet, schon bevor jemand ihn gesehen hat, mit anderen Planeten in Wechselwirkung gewesen ist."10 Frege sagt: „Beim Denken erzeugen wir nicht die Gedanken, sondern wir fassen sie."11 „Die Gedanken sind nicht seelische Gebilde, und das Denken ist nicht ein inneres Erzeugen und Bilden, sondern ein Fassen von Gedanken, die schon objektiv vorhanden sind."12 „Wenn man einen Gedanken faßt oder denkt, so schafft man ihn nicht, sondern tritt nur zu ihm, der schon vorher bestand, in eine gewisse Beziehung [.,.]." 13 Diese Zitate zeigen, daß Frege bis an sein Lebensende Piatonist geblieben ist. Der Universalienrealismus blieb eine Konstante seines Denkens, und er hat dessen Problematik nicht erkannt, obwohl es doch sehr viel natürlicher ist, Begriffe und Propositionen als etwas anzusehen, was wir, zusammen mit unserer Sprache, bilden statt als etwas, das wir in einer unsichtbaren objektiven Außenwirklichkeit vorfinden. Sind Mengen Umfange von Begriffen, so ist es nur natürlich anzunehmen, daß sie ebenso unsere Konstrukte sind wie die Begriffe selbst, deren Umfänge sie sind. Es ist also dieser unnatürliche Realismus, den Mathematiker meist so natürlich finden, behaupte ich, der direkt in die Paradoxien führt. Da er das Universum aller Mengen als gegeben ansieht, hat er keinen Grund, sich gegen die Existenz der Russellschen Menge oder der Allmenge oder der Potenzmengen zu wenden, und verschließt sich so den Ausweg aus den Antinomien von Russell und Cantor. Die Paradoxien markieren daher den Punkt, jenseits dessen sich der Platonismus nicht mehr halten läßt, selbst wenn das erst viel später deutlich wurde.
4. Der iterative Mengenbegriff Um deutlich zu machen, wie eine konzeptualistische Mengenlehre aussehen kann und wie in ihr die Paradoxien eliminiert werden, gehe ich zunächst auf den iterativen Mengenbegriff von George Boolos ein.14 Boolos betont ebenfalls, daß eine befriedigende Mengenlehre sich aus einem intuitiv überzeugenden Mengenbegriff ergeben muß, der die Axiome rechtfertigt. Die klassische Theorie erfüllt diese Forderung, wie wir sahen, mit der Ausnahme, daß ihr Realismus nicht zu ihrem Mengenbegriff paßt. Boolos' Konzept einer Menge ist nun konzeptualistisch: Mengen werden gebildet, nicht vorgefunden. Sie werden dadurch gebildet, daß man bereits existierende Objekte zusammenfaßt. Georg Cantor schreibt: „Unter einer ,Menge' verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten, wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die ,Elemente' von M genannt werden) zu einem Ganzen."15 Das ist eine recht vage Erklärung, die zudem durchaus kon10 11 12 13 14 15
Frege (KS), 353 f. A . a . O . , 359. BW, 102. KS, 354, vgl. a. 371 und (1893), I, XVIII. Vgl. Boolos (1971). Cantor (1895).
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zeptualistisch klingt, während Cantor doch Realist war. Nimmt man sie ernst, so kommt man zu Boolos' Vorstellung einer Erzeugung von Mengen durch Kollektion. Ich will diese Theorie zuerst intuitv erläutern. Ausgangspunkt der Mengenbildung ist eine Klasse V0 von Individuen (Nichtmengen). In der reinen Mengenlehre ist diese Klasse leer, für unsere intuitiven Vorüberlegungen nehmen wir aber an, daß es Individuen gibt. In einem ersten Schritt können wir Kollektionen von Objekten aus V0 bilden und so V0 zu V\ erweitern. Jede mögliche Kollektion von Elementen von V0 soll also ein Element von V\ sein. Da eine Kollektion durch ihre Elemente eindeutig bestimmt ist, gilt das Extensionalitätsaxiom, das im Blick auf Individuen aber so modifiziert werden muß, daß zwei Mengen identisch sind, wenn sie dieselben Elemente haben. Ist P(X) die Potenzmenge von X, so gilt also a) V, = Ffl u P( Vo). Solange Vx unser universe of discourse ist, ist V\ keine Menge, sondern, wie wir nun sagen können, nur eine Klasse. Diesen Schritt kann man wiederholen, so daß wir allgemein haben b) V„+t = V0 u P(V„). Sind die V„ so für alle natürlichen Zahlen n definiert, d. h. für alle finiten Ordinalzahlen, so können wir in einem weiteren Schritt die Klasse Va als die Vereinigung aller V„ bilden - CD ist die kleinste transfinite Ordinalzahl. Wir setzen also c) Va,= Ua Universe Leibniz, Discourse on Metaphysics, 1686: Ideas —> Mind of God —> The World In each case the left-hand side is smaller, much smaller, than the right-hand side. In each case, the right-hand side can be constructed (re-constructed) mechanically, or systematically, from the left-hand side. And in each case we want to keep the right-hand side fixed while making the left-hand side as small as possible. Once this is accomplished, we can use the size of the left-hand side as a measure of the simplicity or the complexity of the corresponding right-hand side. Starting with this one simple idea, of looking at the size of computer programs, or at program-size complexity, you can develop a sophisticated, elegant mathematical theory, AIT, as you can see in my four Springer-Verlag volumes listed in the bibliography of this paper. But, I must confess that AIT makes a large number of important hidden assumptions! What are they? Well, one important hidden assumption of AIT is that the choice of computer or of computer programming language is not too important, that it does not affect program-size complexity too much, in any fundamental way. This is debatable. Another important tacit assumption: we use the discrete computation approach of Turing 1936, eschewing computations with "real" (infinite-precision) numbers like n = 3.1415926 [...] which have an infinite number of digits when written in decimal notation, but which correspond, from a geometrical point of view, to a single point on a line, an elemental notion in continuous, but not in discrete, mathematics. Is the universe discrete or continuous? Leibniz is famous for his work on continuous mathematics. AIT sides with the discrete, not with the continuous. [Françoise Chaitin-Chatelin, private communication] Also, in AIT we completely ignore the time taken by a computation, concentrating only on the size of the program. And the computation run-times may be monstrously large, quite impracticably so, in fact, totally astronomical in size. But trying to take time into account destroys AIT, an elegant, simple theory of complexity, and one which imparts much intuitive understanding. So I think that it is a mistake to try to take time into account when thinking about this kind of complexity. We've talked about simplicity and complexity, but what about irreducibilityl Now let's apply AIT to mathematical logic and obtain some limitative metatheorems. However, following Turing 1936 and Post 1944, I'll use the notion of algorithm to deduce limits to for-
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mal reasoning, not Godel's original 1931 approach. I'll take the position that a Hilbert-style mathematical theory, a formal axiomatic theory, is a mechanical procedure for systematically generating all the theorems by running through all possible proofs, systematically deducing all consequences of the axioms. [In a way, this point of view was anticipated by Leibniz with his lingua characteristica universalis.] Consider the size in bits of the algorithm for doing this. This is how we measure the simplicity or complexity of the formal axiomatic theory. It's just another instance of program-size complexity! But at this point, Chaitin-Chatelin insists, I should admit that we are making an extremely embarrassing hidden assumption, which is that you can systematically run through all the proofs. This assumption, which is bundled into my definition of a formal axiomatic theory, means that we are assuming that the language of our theory is static, and that no new concepts can ever emerge. But no human language or field of thought is static! (And computer programming languages aren't static either, which can be quite a nuisance.) And this idea of being able to make a numbered list with all possible proofs was clearly anticipated by Emile Borel in 1927 when he pointed out that there is a real number with the problematical property that its Mh digit after the decimal point gives us the answer to the TVth yes/no question in French. (Borel's work was brought to my attention by Vladimir Tasic in his book Mathematics and the Roots of Postmodern Thought, 2001, where he points out that in some ways it anticipates the Q number that I'll discuss in Section IX. Borel's paper is reprinted in Mancosu, From Brouwer to Hilbert, 1998, 296-300.) Yes, I agree, a Hilbert-style formal axiomatic theory is indeed a fantasy, but it is a fantasy that inspired many people, and one that even helped to lead to the creation of modern programming languages. It is a fantasy that it is useful to take seriously long enough for us to show in Section VI that even if you are willing to accept all these tacit assumptions, something else is terribly wrong. Formal axiomatic theories can be criticized from within, as well as from without. And it is far from clear how weakening these tacit assumptions would make it easier to prove the irreducible mathematical truths that are exhibited in Section VI. And the idea of a fixed, static computer programming language in which you write the computer programs whose size you measure is also a fantasy. Real computer programming languages don't stand still, they evolve, and the size of the computer program you need to perform a given task can therefore change. Mathematical models of the world like these are always approximations, "lies that help us to see the truth" (Picasso). Nevertheless, if done properly, they can impart insight and understanding, they can help us to comprehend, they can reveal unexpected connections [...].
5. From Computational Irreducibility to Logical Irreducibility. Examples of Computational Irreducibility: "Elegant" Programs Our goal in this section and the next is to use AIT to establish the existence of irreducible mathematical truths. What are they, and why are they important? Following Euclid's Elements, a mathematical truth is established by reducing it to simpler truths until self-evident truths - "axioms" or "postulates" [atoms of thought!] - are reached. Here we exhibit an extremely large class of mathematical truths that are not at all self-evident but which are not consequences of any principles simpler than they are.
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Irreducible truths are highly problematical for traditional philosophies of mathematics, but as discussed in Section VIII, they can be accommodated in an emerging "quasiempirical" school of the foundations of mathematics, which says that physics and mathematics are not that different. Our path to logical irreducibility starts with computational irreducibility. Let's start by calling a computer program "elegant" if no smaller program in the same language produces exactly the same output. There are lots of elegant programs, at least one for each output. And it doesn't matter how slow an elegant program is, all that matters is that it be as small as possible. An elegant program viewed as an object in its own right is computationally irreducible. Why? Because otherwise you can get a more concise program for its output by computing it first and then running it. Look at this diagram: program2 —> Computer —» program i —> Computer —» output If programi is as concise as possible, then program2 cannot be much more concise than program]. Why? Well, consider a fixed-sized routine for running a program and then immediately running its output. Then program2 + fixed-size routine —> Computer —» output produces exactly the same output as program! and would be a more concise program for producing that output than programi is. But this is impossible because it contradicts our hypothesis that programi was already as small as possible. Q. E. D. Why should elegant programs interest philosophers? Well, because of Occam's razor, because the best theory to explain a fixed set of data is an elegant program! But how can we get irreducible truths? Well, just try proving that a program is elegant!
6. Irreducible Mathematical Truths. Examples of Logical Irreducibility: Proving a Program is Elegant Hauptsatz: You cannot prove that a program is elegant if its size is substantially larger than the size of the algorithm for generating all the theorems in your theory. Proof: The basic idea is to run the first provably elegant program you encounter when you systematically generate all the theorems, and that is substantially larger than the size of the algorithm for generating all the theorems. Contradiction, unless no such theorem can be demonstrated, or unless the theorem is false. Now I'll explain why this works. We are given a formal axiomatic mathematical theory: theory = program —» Computer —> set of all theorems We may suppose that this theory is an elegant program, i. e., as concise as possible for producing the set of theorems that it does. Then the size of this program is by definition the complexity of the theory, since it is the size of the smallest program for systematically generating the set of all the theorems, which are all the consequences of the axioms. Now consider a fixed-size routine with the property that theory + fixed-size routine —» Computer —» output of the first provably elegant program larger than complexity of theory More precisely,
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theory + fixed-size routine —» Computer —» output of the first provably elegant program larger than (complexity of theory + size of the fixed-size routine) This proves our assertion that a mathematical theory cannot prove that a program is elegant if that program is substantially larger than the complexity of the theory. Here is the proof of this result in more detail. The fixed-size routine knows its own size and is given the theory, a computer program for generating theorems, whose size it measures and which it then runs, until the first theorem is encountered asserting that a particular program P is elegant that is larger than the total input to the computer. The fixed-size routine then runs the program P, and finally produces as output the same output as P produces. But this is impossible, because the output from P cannot be obtained from a program that is smaller than P is, not if, as we assume by hypothesis, all the theorems of the theory are true and P is actually elegant. Therefore P cannot exist. In other words, if there is a provably elegant program P whose size is greater than the complexity of the theory + the size of this fixed-size routine, either P is actually inelegant or we have a contradiction. Q. E. D. Because no mathematical theory of finite complexity can enable you to determine all the elegant programs, the following is immediate: Corollary: The mathematical universe has infinite complexity. [On the other hand, our current mathematical theories are not very complex. On pages 773-774 of A New Kind of Science, Wolfram makes this point by exhibiting essentially all of the axioms for traditional mathematics - in just two pages! However, a program to generate all the theorems would be larger.] This strengthens Godel's 1931 refutation of Hilbert's belief that a single, fixed formal axiomatic theory could capture all of mathematical truth. Given the significance of this conclusion, it is natural to demand more information. You'll notice that I never said which computer programming language I was using! Well, you can actually carry out this proof using either high-level languages such as the version of LISP that I use in The Unknowable, or using low-level binary machine languages, such as the one that I use in The Limits of Mathematics. In the case of a high-level computer programming language, one measures the size of a program in characters (or 8-bit bytes) of text. In the case of a binary machine language, one measures the size of a program in 0/1 bits. My proof works either way. But I must confess that not all programming languages permit my proof to work out this neatly. The ones that do are the kinds of programming languages that you use in AIT, the ones for which program-size complexity has elegant properties instead of messy ones, the ones that directly expose the fundamental nature of this complexity concept (which is also called algorithmic information content), not the programming languages that bury the basic idea in a mass of messy technical details. This paper started with philosophy, and then we developed a mathematical theory. Now let's go back to philosophy. In the last three sections of this paper we'll discuss the philosophical implications of AIT.
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7. Could We Ever Be Sure that We Had the Ultimate TOE? [Barrow 1995] The search for a "Theory of Everything" is the quest for an ultimate compression of the world. Interestingly, Chaitin's proof of Godel's incompleteness theorem using the concepts of complexity and compression reveals that Godel's theorem is equivalent to the fact that one cannot prove a sequence to be incompressible. We can never prove a compression to be the ultimate one; there might be a yet deeper and simpler unification waiting to be found.14
Here is the first philosophical application of AIT. According to astrophysicist John Barrow, my work implies that even if we had the optimum, perfect, minimal (elegant!) TOE, we could never be sure a simpler theory would not have the same explanatory power. ("Explanatory power" is a pregnant phrase, and one can make a case that it is a better name to use than the dangerous word "complexity", which has many other possible meanings. One could then speak of a theory with N bits of algorithmic explanatory power, rather than describe it as a theory having a program-size complexity of N bits. [Françoise ChaitinChatelin, private communication]) Well, you can dismiss Barrow by saying that the idea of having the ultimate TOE is pretty crazy - who expects to be able to read the mind of God?! Actually, Wolfram believes that a systematic computer search might well find the ultimate TOE. [See pages 465-471, 1024-1027 of A New Kind ofScience.] I hope he continues working on this project! In fact, Wolfram thinks that he not only might be able to find the ultimate TOE, he might even be able to show that it is the simplest possible TOE! How does he escape the impact of my results? Why doesn't Barrow's observation apply here? First of all, Wolfram is not very interested in proofs, he prefers computational evidence. Second, Wolfram does not use program-size complexity as his complexity measure. He uses much more down-to-earth complexity measures. Third, he is concerned with extremely simple systems, while my methods apply best to objects with high complexity. Perhaps the best way to explain the difference is to say that he is looking at "hardware" complexity, and I'm looking at "software" complexity. The objects he studies have complexity less than or equal to that of a universal computer. Those I study have complexity much larger than a universal computer. For Wolfram, a universal computer is the maximum possible complexity, and for me it is the minimum possible complexity. Anyway, now let's see what's the message from AIT for the working mathematician.
8. Should Mathematics Be More Like Physics? Must Mathematical Axioms Be Self-Evident? A deep but easily understandable problem about prime numbers is used in the following to illustrate the parallelism between the heuristic reasoning of the mathematician and the inductive reasoning of the physicist [...]. [Mathematicians and physicists think alike; they are led, and sometimes misled, by the same patterns of plausible reasoning.15
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John Barrow, essay on "Theories of Everything" in Cornwell, Nature's Imagination, 1995, reprinted in Barrow, Between Inner Space and Outer Space, 1999. George Polya, "Heuristic Reasoning in the Theory of Numbers", 1959, reprinted in Alexanderson, The Random Walks of George Polya, 2000.
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The role of heuristic arguments has not been acknowledged in the philosophy of mathematics, despite the crucial role that they play in mathematical discovery. The mathematical notion of proof is strikingly at variance with the notion of proof in other areas [...]. Proofs given by physicists do admit degrees: of two proofs given of the same assertion of physics, one may be judged to be more correct than the other.16 There are two kinds of ways of looking at mathematics [...] the Babylonian tradition and the Greek tradition [...]. Euclid discovered that there was a way in which all the theorems of geometry could be ordered from a set of axioms that were particularly simple [...]. The Babylonian attitude [...] is that you know all of the various theorems and many of the connections in between, but you have never fully realized that it could all come up from a bunch of axioms [...]. [E]ven in mathematics you can start in different places [...]. In physics we need the Babylonian method, and not the Euclidian or Greek method.17 The physicist rightly dreads precise argument, since an argument which is only convincing if precise loses all its force if the assumptions upon which it is based are slightly changed, while an argument which is convincing though imprecise may well be stable under small perturbations of its underlying axioms.18 It is impossible to discuss realism in logic without drawing in the empirical sciences [...]. A truly realistic mathematics should be conceived, in line with physics, as a branch of the theoretical construction of the one real world and should adopt the same sober and cautious attitude toward hypothetic extensions of its foundation as is exhibited by physics.' 9 The above quotations are eloquent testimonials to the fact that although mathematics and physics are different, maybe they are not that different! Admittedly, math organizes our mathematical experience, which is mental or computational, and physics organizes our physical experience. [And in physics everything is an approximation, no equation is exact.] They are certainly not exactly the same, but maybe it's a matter o f degree, a continuum o f possibilities, and not an absolute, black and white difference. Certainly, as both fields are currently practiced, there is a definite difference in style. But that could change, and is to a certain extent a matter o f fashion, not a fundamental difference. A g o o d source o f essays that I - but perhaps not the authors! - regard as generally supportive o f the position that math be considered a branch o f physics is T y m o c z k o , New Directions in the Philosophy of Mathematics, 1998. In particular there y o u will find an essay by Lakatos giving the name "quasi-empirical" to this v i e w o f the nature o f the mathematical enterprise. W h y is m y position on math "quasi-empirical"? Because, as far as I can see, this is the only w a y to accommodate the existence o f irreducible mathematical facts gracefully. Physi-
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Gian-Carlo Rota, "The Phenomenology of Mathematical Proof', 1997, reprinted in Jacquette, Philosophy of Mathematics, 2002, and in Rota, Indiscrete Thoughts, 1997. Richard Feynman, The Character of Physical Law, 1965, Chapter 2, "The Relation of Mathematics to Physics". Jacob Schwartz, "The Pernicious Influence of Mathematics on Science", 1960, reprinted in Kac, Rota, Schwartz, Discrete Thoughts, 1992. Hermann Weyl, Philosophy of Mathematics and Natural Science, 1949, Appendix A, "Structure of Mathematics", 235.
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cal postulates are never self-evident, they are justified pragmatically, and so are close relatives of the not at all self-evident irreducible mathematical facts that I exhibited in Section VI. I'm not proposing that math is a branch of physics just to be controversial. I was forced to do this against my will! This happened in spite of the fact that I'm a mathematician and I love mathematics, and in spite of the fact that I started with the traditional Platonist position shared by most working mathematicians. I'm proposing this because I want mathematics to work better and be more productive. Proofs are fine, but if you can't find a proof, you should go ahead using heuristic arguments and conjectures. Wolfram's A New Kind of Science also supports an experimental, quasi-empirical way of doing mathematics. This is partly because Wolfram is a physicist, partly because he believes that unprovable truths are the rule, not the exception, and partly because he believes that our current mathematical theories are highly arbitrary and contingent. Indeed, his book may be regarded as a very large chapter in experimental math. In fact, he had to develop his own programming language, Mathematica, to be able to do the massive computations that led him to his conjectures. See also Tasic, Mathematics and the Roots of Postmodern Thought, 2001, for an interesting perspective on intuition versus formalism. This is a key question - indeed in my opinion it's an inescapable issue - in any discussion of how the game of mathematics should be played. And it's a question with which I, as a working mathematician, am passionately concerned, because, as we discussed in Section VI, formalism has severe limitations. Only intuition can enable us to go forward and create new ideas and more powerful formalisms. And what are the wellsprings of mathematical intuition and creativity? In his important forthcoming book on creativity, Tor Nerretranders makes the case that a peacock, an elegant, graceful woman, and a beautiful mathematical theory, are all shaped by the same forces, namely what Darwin referred to as "sexual selection". Hopefully this book will be available soon in a language other than Danish! Meanwhile, see my dialogue with him in my book Conversations with a Mathematician. Now, for our last topic, let's look at the entire physical universe!
9. Is the Universe Like 7t or Like Q? Reason versus Randomness! [Brisson, Meyerstein 1995] Parce qu'on manquait d'une définition rigoreuse de complexité, celle qu'a proposée la TAI [théorie algorithmique de l'information], confondre n avec Q a été plutôt la règle que l'exception. Croire, parce que nous avons ici affaire à une croyance, que toutes les suites, puisqu'elles ne sont que l'enchaînement selon une règle rigoureuse de symboles déterminés, peuvent toujours être comprimées en quelque chose de plus simple, voilà la source de l'erreur du réductionnisme. Admettre la complexité a toujours paru insupportable aux philosophes, car c'était renoncer à trouver un sens rationnel à la vie des hommes. 20
First let me explain what the number Q is. It's the jewel in AIT's crown, and it's a number that has attracted a great deal of attention, because it's a very dangerous number! Q is de20
Brisson, Meyerstein, Puissance et Limites de la Raison, 1995, "Postface. L'erreur du réductionnisme", 229.
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fined to be the halting probability of what computer scientists call a universal computer, or universal Turing machine. (In fact, the precise value of Q actually depends on the choice of computer, and in The Limits of Mathematics I've done that, I've picked one out.) So Q is a probability and therefore it's a real number, a number measured with infinite precision, that's between zero and one. That may not sound too dangerous! [It's ironic that the star of a discrete theory is a real number! This illustrates the creative tension between the continuous and the discrete.] What's dangerous about Q is that (a) it has a simple, straightforward mathematical definition, but at the same time (b) its numerical value is maximally unknowable, because a formal mathematical theory whose program-size complexity or explanatory power is N bits cannot enable you to determine more than N bits of the base-two expansion of Q! In other words, if you want to calculate Q, theories don't help very much, since it takes N bits of theory to get TV bits of Q. In fact, the base-two bits of Q are maximally complex, there's no redundancy, and Q is the prime example of how unadulterated infinite complexity arises in pure mathematics! How about 7i = 3.1415926 [...] the ratio of the circumference of a circle to its diameter? Well, 7i looks pretty complicated, pretty lawless. For example, all its digits seem to be equally likely, although this has never been proven. (Amazingly enough, there's been some recent progress in this direction by Bailey and Crandall.) [In any base all the digits of Q are equally likely. This is called "Borel normality". For a proof, see my book Exploring Randomness. For the latest on Q, see Calude, Information and Randomness.] If you are given a bunch of digits from deep inside the decimal expansion of TI, and you aren't told where they come from, there doesn't seem to be any redundancy, any pattern. But of course, according to AIT, 7i in fact only has finite complexity, because there are algorithms for calculating it with arbitrary precision. (In fact, some terrific new ways to calculate n have been discovered by Bailey, Borwein and Plouffe. n lives, it's not a dead subject!) Following Brisson, Meyerstein, Puissance et Limites de la Raison, 1995, let's now finally discuss whether the physical universe is like Jt = 3.1415926 [...] which only has a finite complexity, namely the size of the smallest program to generate 7t, or like Q, which has unadulterated infinite complexity. Which is it?! Well, if you believe in quantum physics, then Nature plays dice, and that generates complexity, an infinite amount of it, for example, as frozen accidents, mutations that are preserved in our DNA. So at this time most scientists would bet that the universe has infinite complexity, like Q does. But then the world is incomprehensible, or at least a large part of it will always remain so, the accidental part, all those frozen accidents, the contingent part. But some people still hope that the world has finite complexity like 7t, it just looks like it has high complexity. If so, then we might eventually be able to comprehend everything, and there is an ultimate TOE! But then you have to believe that quantum mechanics is wrong, as currently practiced, and that all that quantum randomness is really only pseudo-randomness, like what you find in the digits of k. You have to believe that the world is actually deterministic, even though our current scientific theories say that it isn't! I think Vienna physicist Karl Svozil feels that way [private communication; see his Randomness & Undecidability in Physics, 1994], I know Stephen Wolfram does, he says so in his book. Just take a look at the discussion of fluid turbulence and of the second law of thermo-
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dynamics in A New Kind of Science. Wolfram believes that very simple deterministic algorithms ultimately account for all the apparent complexity we see around us, just like they do in jr. He believes that the world looks very complicated, but is actually very simple. There's no randomness, there's only pseudo-randomness. Then nothing is contingent, everything is necessary, everything happens for a reason. [Leibniz!] [In fact, Wolfram himself explicitly makes the connection with n. See meaning of the universe on page 1027 of A New Kind of Science.] Who knows! Time will tell! Or perhaps from inside this world we will never be able to tell the difference, only an outside observer could do that [Svozil, private communication].
Postscript Readers of this paper may enjoy the somewhat different perspective in my chapter "Complexité, logique et hazard" in Benkirane, La Complexité. Leibniz is there too. In addition, see my Conversations with a Mathematician, a book on philosophy disguised as a series of dialogues - not the first time that this has happened! Last but not least, see Zwirn, Les Limites de la Connaissance, that also supports the thesis that understanding is compression, and the masterful multi-author two-volume work, Kurt Gödel, Wahrheit & Beweisbarkeit, a treasure trove of information about Gödel's life and work.
Acknowledgement Thanks to Tor Nerretranders for providing the original German for the Einstein quotation at the beginning of this paper, and also the word for word translation. The author is grateful to Françoise Chaitin-Chatelin for innumerable stimulating philosophical discussions. He dedicates this paper to her unending quest to understand.
Bibliography Gerald W. Alexanderson, The Random Walks of George Pôlya, MAA, Washington D. C. 2000. John D. Barrow, Frank J. Tipler, The Anthropic Cosmological Principle, Oxford 1986. John D. Barrow, Between Inner Space and Outer Space, Oxford 1999. Reda Benkirane, La Complexité, Vertiges et Promesses, Paris 2002. Max Born, Experiment and Theory in Physics, Cambridge 1943, reprinted New York 1956. Luc Brisson, F. Walter Meyerstein, Inventer l'Univers, Paris 1991. Luc Brisson, F. Walter Meyerstein, Inventing the Universe, New York 1995. Luc Brisson, F. Walter Meyerstein, Puissance et Limites de la Raison, Paris 1995. F. Brôdy, T. Vâmos, The Neumann Compendium, Singapore 1995. Bernd Buldt et al., Kurt Gödel, Wahrheit & Beweisbarkeit. Band 2: Kompendium zum Werk, Vienna 2002. Cristian S. Calude, Information and Randomness, New York 2002.
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GREGORY CHAITIN
Gregory J. Chaitin, The Limits of Mathematics, The Unknowable, Exploring Randomness, Conversations with a Mathematician, New York 1998, 1999, 2001, 2002. John Cornwell, Nature's Imagination, Oxford 1995. COSRIMS, The Mathematical Sciences, Cambridge, MA 1969. Albert Einstein, Ideas and Opinions, New York 1954, reprinted 1994. Albert Einstein, Autobiographical Notes, Chicago 1979. Richard Feynman, The Character of Physical Law, Cambridge, MA 1965, reprinted 1994, with a thoughtful introduction by James Gleick. Dale Jacquette, Philosophy of Mathematics, Oxford 2002. Mark Kac, Gian-Carlo Rota, Jacob T. Schwartz, Discrete Thoughts, Boston 1992. Eckehart Köhler et al., Kurt Godei, Wahrheit & Beweisbarkeit. Band 1: Dokumente und historische Analysen, Vienna 2002. Bernd-Olaf Küppers, Information and the Origin of Life, Cambridge, MA 1990. G. W. Leibniz, Philosophical Essays, edited and translated by Roger Ariew and Daniel Garber, Indianapolis 1989. Ernst Mach, The Science of Mechanics, Chicago 1893. Paolo Mancosu, From Brouwer to Hilbert, Oxford 1998. Karl Menger, Reminiscences of the Vienna Circle and the Mathematical Colloquium, Dordrecht/New York 1994. James R. Newman, The World of Mathematics, New York 1956, reprint 2000. Karl R. Popper, The Logic of Scientific Discovery, Hutchinson Education, 1959, reprint London 1992. Gian-Carlo Rota, Indiscrete Thoughts, Boston 1997. Paul Arthur Schilpp, Albert Einstein, Philosopher-Scientist, Chicago 1949. Karl Svozil, Randomness & Undecidability in Physics, Singapore 1994. Vladimir Tasic, Mathematics and the Roots of Postmodern Thought, Oxford 2001. Thomas Tymoczko, New Directions in the Philosophy of Mathematics, Princeton 1998. Hermann Weyl, The Open World, Yale 1932, reprint Woodbridge 1989. Hermann Weyl, Philosophy of Mathematics and Natural Science, Princeton 1949. Stephen Wolfram, A New Kind of Science, Wolfram Media, 2002. Hervé Zwirn, Les Limites de la Connaissance, Paris 2000.
GRAHAM PRIEST
Consistency, Paraconsistency, and the Logical Limitative Theorems
1. Introduction Many sorts of thing may be subject to limitation: how fast something can travel; what one can say legally; what can be imagined. This talk concerns just one of these many: logic. As is familiar to any student of modern logic, there are certain things that cannot be done within logical confines. These are the limitative theorems of classical metatheory. A list of the most familiar would include the following, which can be broken down into two sub-groups. (The statements are rather rough and ready, but will do for the present.) Limitative Theorems of Metalogic 1. Church's Theorem: first-order logic cannot be decided by an algorithm. 2. Lowenheim-Skolem Theorems: no infinite structure can be characterised by a first-order theory. Limitative Theorems of Metamathematics 1. Tarski's Theorem: no theory can contain a truth predicate for its own language. 2. Godel's first Incompleteness Theorem: no axiomatisable arithmetic can be complete. 3. Godel's second Incompleteness Theorem: no theory of arithmetic can prove its own consistency. When limitation is at issue, it always makes sense to ask whether the limitation is absolute or relative. For example, if a body is accelerating in a vacuum, then, if the Special Theory of Relativity is right, it can never surpass the speed of light. And this limitation is absolute: there is nothing that can be done to take the body beyond this limit. Now consider weightlifting. There is a maximum weight that a person can lift, say in the Olympic Games. We do not know what it is, but basic bio-physics assures us that there must be such a limit. Yet if a person is allowed to take steroids or other body-building drugs, they will certainly be able to lift more. The limit to what can be lifted is therefore relative to drug-consumption. Now what of the limitations of logic? Are these absolute or relative? It is natural to suppose that they are absolute. If the bounds of logic are not absolute, what could be?! Yet, as Specifically, first-order logic. Second-order logic raises a number of interesting questions concerning limitations too; I will not consider these here.
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GRAHAM PRIEST
one reflects, one may start to wonder about this. In particular, most of the classical limitative results involve consistency in one way or another - if only in that many of them are standardly proved by reductio. Now what if we may go beyond consistency - into the transconsistent. Are the limitations then removed? That is the subject of this talk. The answer to this question is complex and nuanced, and a full one cannot be given in one lecture. What can be done, and what I will do here, is give the outlines of an answer. Much of the talk simply surveys what is known about the subject; but the final section strays from this safe ground, to areas that are highly speculative.
2. Background on Paraconsistency Of course, the question of whether the limitations of logic are relative to consistency makes sense only if the idea that one can go beyond the consistent itself makes sense. For much of the last century - if not for many other centuries in the West - it would have been supposed that it does not. To be inconsistent is to be incoherent. This view has been challenged, and in my view conclusively disposed of (to the extent that anything can be in philosophy), by work in formal logic in the last 30 years. The development of paraconsistent logics, that is, logics in which contradictions do not entail everything, has shown that inconsistency is not to be equated with incoherence. Inconsistent theories can have a quite determinate and nontrivial structure. To understand the discussion that follows one needs to have some grasp of what paraconsistent logics are like. There are, in fact, many such logics.2 Moreover, the issue of what happens to the limitative theorems may depend on exactly which paraconsistent logic is deployed. However, it is not my aim here to survey all of the various possibilities; it is to show the sort of thing that may happen once one deploys a paraconsistent logic. So let me start by explaining just one paraconsistent logic. (In point of fact, much of the discussion carries over to other paraconsistent logics, without too much change.) This is the logic LP. I choose this logic partly because I am fond of it,3 but more importantly because it is one of the simplest and most natural paraconsistent logics. In subtle discussions of the kind that we will be engaged in, it always helps to keep the framework simple where possible. Take for the language that of standard first-order logic - function symbols are optional; to keep things simple, we suppose a countable vocabulary and eschew free variables. An interpretation, I, is a pair, ( D , d ) , where D is a non-empty domain (of quantification) and: • for every constant, c, d(c)
eD
• for every «-place predicate, P, d(P) = (d+(P), d~(P)), where d\P) U d~{P) = D" • for every «-place function symbol,/, d(f): D"—> D •d\=)=
{(x,x)
:xeD}
(Note that for any P, including identity, d+(P) and d~(P) do not have to be disjoint.) d is extended so that it assigns a denotation to every term by recursion in the usual way: • d(fh
...tn) =
d{f)(d{h),...,d(tn))
2
For a survey, see Priest (2002). Most of the proofs of the results referred to below can be found there.
3
See Priest (1987).
CONSISTENCY, PARACONSISTENCY, A N D THE LOGICAL LIMITATIVE THEOREMS
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If A is any formula, it may be true or false (or both) in the interpretation I. We write these as I lb, A and I lb/A, respectively, and the notions may be defined by a joint recursion as follows: ./lb, Pi, ... I\\-f?h :.tn
iff (, where:
• d j c ) = [¿(c)] •d„(f)([xl],...,[xn])=[ct(f)(x . ([*,],..., [*J> € d^(P)
!...*„)] iff
• k = 36. But this latter sentence does not rule out k's being 36: this holds as well. In the same way, though Ek T\(x, e, i) may record the existence of a code of a terminating computation, T\(x, e, i) does not rule out its existence. It is equivalent to Vx -x = 36 A ..., which is quite compatible with x being identical to 36. For the same reason, the truth of a statement that there exists no algorithm to solve the halting problem does not rule out its existence. But even if all this is right, what could a physical system be like that realised the inconsistent theory of computation? After all, the Turing machine - or whatever computational device it is that is described by the inconsistent arithmetic system - is an abstract one. How this is realised physically is another matter. And if the abstract description correctly characterises the physical device, that device must be such as to render inconsistent statements such as 3x Tt(x, e, i) and Tt(x, e, i) true. How could this be? It must be remembered that concrete devices are limited in space and time, break down and misbehave in other ways. A concrete device only ever instantiates a theoretical device imperfectly. Maybe a physical device could only approximate the abstract device up to consistency. But why should the device not behave inconsistently? Perhaps we find this difficult to imagine; but imagination is a poor index of what is possible. Notoriously, we can imagine impossible things, whilst many possible things seem hard to imagine. For example, the idea that one and the same displacement may be a spatial one, according to one observer, and a temporal one, according to another - as required by the Special Theory of Relativity - still seems hard to get one's head around in any but a mathematical fashion. And once one moves to a paraconsistent logic, there is no a priori reason as to why physical reality must be consistent. Nor need this require macro-objects like tables and refrigerators to behave inconsistently. The inconsistency might be purely at the unobservable level - for example, as with an electron going through distinct slits simultaneously (as would appear to be the case in the two-slit experiment in quantum mechanics). It is not even clear that an inconsistent theoretical computing device needs an inconsistent reality to encode its workings. Consider quantum computers, for example. These are devices that work with registers whose states at any time may be superpositions of classical states. Now, what is it for a machine to stop and not to stop? Simply for it to have both a terminal symbol and a non-terminal symbol in the appropriate register. (The clock, after all, does not "stop ticking". It is just that a terminal symbol, once there, stays there.) Why should these symbols not occur in a superposed state? If Schrodinger's cat can be dead and alive, so can the program be. These last remarks are all very speculative, and in the current state of thinking in philosophy and physics, necessarily so. But they should at least serve as a warning that one cannot dismiss an inconsistent theory of computation out of hand.
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GRAHAM PRIEST
6. Conclusion In this lecture I have been looking at the implications o f paraconsistency for the limitative results o f metalogic and metamathematics. W e have seen that o n c e one takes the possibility o f inconsistent theories seriously, much o f the import o f the limitative theorems o f classical metamathematics is undercut. The limitative theorems o f classical logic stand in even stronger forms. H o w e v e r , if one is prepared to countenance an inconsistent metatheory itself, even s o m e o f these may fail - and in a very spectacular way. 9
References R. K. Meyer (1978), 'Relevant Arithmetic', Bulletin of the Section of Logic, Polish Academy of Sciences 3, 133-137. G. Priest (1987), In Contradiction; a Study of the Transconsistent, Dordrecht. G. Priest (1994), 'Is Arithmetic Consistent?', Mind 103, 337-349. G. Priest (1997), 'Inconsistent Models of Arithmetic, I: Finite Models', Journal of Philosophical Logic 76, 223-235. G. Priest (2000), 'Inconsistent Models of Arithmetic, II: the General Case', Journal of Symbolic Logic 65, 1519-1529. G. Priest (2002), 'Paraconsistent Logic', Vol. 6, in: D. Gabbay and F. Guenthner (eds.), Handbook of Philosophical Logic, 2nd edition, Dordrecht, 987-393. G. Priest (200a), 'Paraconsistent Set Theory and Metatheory': in: A. Irvine (ed.), Essays on Set Theory, Oxford, to appear. S. Shapiro (2002), 'Incompleteness and Inconsistency', Mind 111, 817-32.
9
Thanks go to Brad Armour-Garb and, especially, Jack Copeland for helpful discussions about the material in the last section. The possible connection between inconsistent machines and quantum computing I owe entirely to Jack.
Kolloquium 13 Das Grenzproblem in der Philosophie der Kulturen
RALF KONERSMANN
Einleitung „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte", so lautet eine vielzitierte Textpassage der Philosophiegeschichte, und „es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfaltig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft." Der kleine Mythos über die Entstehung der sozialen Welt schildert nicht nur das initiale Ereignis der Eingrenzung, er liefert auch sogleich das Urteil dazu. „Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte deijenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfahle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet Euch, auf diesen Betrüger zu hören; Ihr seid verloren, wenn Ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.'" 1 Zweifellos wäre Rousseau nur zu gern dieser Rufer gewesen. Seine Mahnung, das weiß er sehr genau, kommt jedoch zu spät. Um so mehr ist ihm daran gelegen, jenes Ereignis in seiner ganzen Komplexität zu zeigen. Die kunstreiche Imagination des zweiten Discours läßt den Akt der ursprünglichen Grenzziehung als Störung erscheinen, ja als eine Art zweiten Sündenfall: als den Augenblick nämlich, da eine elementare, die ganze weitere Zivilisationsentwicklung bestimmende Asymmetrie die Ordnung der Welt mit einem Schlag veränderte. Die Welt zerfiel in Zonen und Bereiche, die fortan durch immer neue Binnengrenzen parzelliert wurden: Grenzen der Sprache, der Nation, der Sitten, des Geläufigen usf. Vor allem aber teilte sie sich in Hüben und Drüben, markiert durch die Realsymbolik der Palisaden, hinter denen, aus welcher Richtung man auch schaute, von nun an der Fremde stand.2 Die Szene ist keineswegs eine reine Erfindung Rousseaus. Bis in den Tonfall hinein erinnert sie an den 90. Moralbrief Senecas, in dem bereits der verdorbene „Zustand des Men1
2
Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l'inégalité, hg. von Heinrich Meier, Paderborn u. a. 3 1993, 173. Zur Genese der Gegenbegrifflichkeit „Eigenes" und „Fremdes" aus der Sphäre der Eigenheit (propreté) und des Eigentums (propriété) vgl. Kurt Röttgers, „Der Verlust des Fremden", in: Transkulturelle Wertkonflikte. Theorie und wirtschaftliche Praxis. Hg. v. Kurt Röttgers u. Peter Koslowski, Heidelberg 2002,1-26, insbes. 16 f.
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RALF KONERSMANN
schengeschlechts" (status generis humani)3 am Beispiel jener zutiefst Verunsicherten aufgewiesen wird, die, statt frei und ungebunden unterm Sternenzelt zu schlafen, sich des Nachts hinter die Grenzen ihrer Türschwellen zurückziehen und die Häuser von innen verriegeln. Schon Seneca nimmt die Grenze im Kontext eines Feldes wahr, auf dem sich die Differenz zwischen dem vertrauten Inneren, das später das Private heißen wird, und dem feindlichen Äußeren entfaltet, mithin der Öffentlichkeit. Die exemplarisch durch die Heiligung der Türschwelle eingeführte Asymmetrie erleichtert den Rückzug auf vertrautes Terrain, fördert die Entstehung einer lokalen Identität und schafft jene Art mentaler Renaturalisierung, die von innen als Authentizität, von außen aber als Borniertheit erfahren wird. Rousseau teilt diese Beurteilung der Grenze, doch anders als Seneca setzt er nicht mehr auf den von der Kulturkritik provozierten Akt der Wiederherstellung einer intakt gebliebenen, harmonischen Ursprungsordnung der Welt, die keine Grenzen kannte. Der große Mythenstifter der Moderne ist Realist genug, um sich aller Illusionen, einschließlich der Idee der restitutio, sogleich zu entschlagen. Eine Welt ohne Grenzen, die Vision des Grenzverzichts und der permanenten Grenzüberschreitung, wie sie die frühe Neuzeit und namentlich Francis Bacon ausgemalt und der Gattung in Aussicht gestellt hatte, bleibt aus seiner Sicht ein schöner Traum. Nicht nur der Weg zurück, das so oft falsch zitierte „Zurück zur Natur" ist aus seiner Sicht unmöglich und nicht einmal zu wünschen; hinzu kommt, daß das denkwürdige Ereignis der Einzäunung, wie er betont, von einer Fülle korrespondierender Umstellungen und neuer Begriffe getragen wurde, die allesamt mithalfen, es zu bewerkstelligen und in die Tat umzusetzen. Der so einfach scheinende, so überschaubare Akt der Grenzziehung, das erste, weithin sichtbare Aufrichten der Mauern und Wälle, war in Wirklichkeit eine komplexe kulturelle Tat, deren weitere Implikationen zu klären bleiben. Rousseaus Urszene der Grenzentstehung ist wie der Anfang einer Geschichte, die einen unabsehbaren, durch das initiale Ereignis angestoßenen Prozeß entbindet. Tatsächlich liegt der heuristische Kunstgriff dieses Entstehungsmythos darin, anhand einer leicht abschätzbaren Folge geläufigster Handlungsschritte einem Geschehen Evidenz zu geben, das normalerweise den Blicken entzogen bleibt. Was die Grenze zur Grenze macht und sich in zahllosen Umstellungen, in Nuancierungen und unscheinbaren Veränderungen der betroffenen Umwelt manifestiert, bleibt als es selbst unsichtbar. Die Grenze entzieht sich oder, wie Bernhard Waidenfels die Paradoxie des Sachverhalts pointiert: der Selbstbezug der Grenzziehung liegt in ihrem Selbstentzug4. Zu dem, was sich in dieser Weise verbirgt, zählt als erstes der elementare Akt der Separierung, der Hüben und Drüben, Einst und Jetzt als zeiträumliche Differenzen einfuhrt. Wie Rousseau erkennt, ist es nicht einfach die Errichtung des sprichwörtlichen Zauns, der die Begrenzung wirksam werden und eine Welt mit Grenze entstehen läßt, sondern die Anerkennung durch die Leute, die der Autor des Diskurses über die Ungleichheit „einfaltig" nennt, simple. Die Einfalt der Leute liegt darin, daß sie die Folgen des Ereignisses, dessen 3
4
L. Ennaeus Seneca, „Ad Lucilium epistolae moralis". In: ders., Philosophische Schriften, hg. von Manfred Rosenbach, Darmstadt 2 1987, Band 4, 367. - Ausdrücklich weist Seneca den Verdacht zurück, die Philosophen seien es gewesen, die Schlüssel und Riegel (dauern et seram) erfunden und auf diese Weise die Habsucht (auaritia) wachgerufen hätten (vgl. ebd., 346). Bernhard Waldenfels, „Schwellenerfahrung und Grenzziehung", in: Grenzgänger zwischen Kulturen, hg. von Monika Fludemik u. Hans-Joachim Gehrke, Würzburg 1999, 137-154, hier 146.
KOLLOQUIUM 13 - EINLEITUNG
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Zeugen sie sind, nicht absehen und deshalb leichtfertig in das Geschehen einwilligen. Sie selbst sind es, die durch ihre Anerkennung den Durchsetzungserfolg der Grenze sicherstellen. Von nun an und für immer werden sie mit der denkwürdigen Neuerung zu leben haben, und das heißt, sie fuhren ein Leben in der Ordnung der Grenze. Die Grenze aber existiert und lebt durch sie. Sie manifestiert sich allenfalls zufallig in Form natürlicher Trenn- und Scheidelinien, um so wirksamer aber über Identifikationen, Zuschreibungen und Selbstzuschreibungen, die uns veranlassen zu sagen, wir sind die einen und jene sind die anderen. In seinen Essays über das Empire („Selbstmord einer Nation?") hat Arthur Koestler dazu schon vor Jahrzehnten die Illustration gegeben, wie gern die Briten sich auf die alte Weisheit besinnen, daß Englisch die einzige vernünftige Sprache sei, „weil ein Messer zum Beispiel von den Franzosen couteau genannt wird, von den Deutschen Messer und so weiter, während wir Briten es knife nennen". Das sei ja schließlich die richtige Bezeichnung. Wie fein das unsichtbare Linienmuster der kulturellen Grenzen gezeichnet ist, war kürzlich der treffenden Formulierung eines Feuilleton-Artikels zu entnehmen, der - politisch einigermaßen unkorrekt - die Schwierigkeiten aufzählte, die nach Meinung des Autors derzeit einer Aufnahme der Türkei in die Europäische Union entgegenstehen. Am Kommunikationsraum Europa und seiner Entstehung, so hieß es da, an der europäischen Wissenschaft und Philosophie, an der europäischen Aufklärung und Gegenaufklärung, habe die türkische Kultur keinerlei Anteil gehabt. Und dann fällt der Satz, auf den es mir ankommt: „Wer Sibelius hört oder Puccini, der weiß, wie weit Europa reicht. Er hört die Grenze auch wenn er sie intellektuell nicht wahrhaben möchte."5 Dem ließe sich manches entgegenhalten - vor allem, würde ich meinen, aus ethnosoziologischer Sicht.6 Denn wenn zutrifft, daß die Rationalität der Grenze darin liegt, sich über unsichtbare, unvermerkte und unbewußte Prozesse zu stabilisieren, dann müßte bereits ihre Bewußtmachung sie funktional verändern. Im Bezug auf die Grenze zeigt sich klar und deutlich die Performativität des Erkennens. Unser Reflexionsvermögen, unsere Imagination veranlassen uns dazu, wie es bei Vladimir Jankelevitch im Anschluß an Simmel heißt, „die formalen Grenzen unseres Ich zu überschreiten, indem sie uns dazu bringen, sie als Grenzen zu konstatieren. Denn es ist das rätselhafteste Paradox des Lebens, daß wir unsere Relativität zur gleichen Zeit, in der wir sie erfassen, überwinden können, was sage ich, ja sogar dadurch, eben darin, daß wir sie erfassen; daß wir also, in einem intuitiv als Einheit erlebten einfachen Akt, unsere Begrenzung auf einmal von außen und von innen wahrnehmen können und uns gleichzeitig im Diesseits und Jenseits dieser determinierten Form fühlen können, die unsere Person ist."7 Von Rousseau haben wir gelernt, daß die Grenzverleugnung, daß die Welt ohne kulturelle Grenzen eine Illusion ist; aber das bedeutet keineswegs, um seine Formulierung aufzugreifen, daß wir dazu verurteilt wären, gegenüber den 5
6
7
Lorenz Jäger, „Auf allen Karten abseits. Europa und die Türkei: Die Unlogik der Beitrittsverhandlungen", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. August 2002, 35 [Hervorhebung R. K.]. Die Diskussion wird in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union weit lebhafter geführt als in Deutschland. Demnach lassen sich neuerdings gerade in der türkischen Provinz vermehrt Lebensformen beobachten, die traditionalistische und modernistische Elemente auf originelle Weise integrieren; vgl. Heinz Käufeier, Das anatolische Dilemma. Weltliche und religiöse Kräfte in der Türkei, Zürich 2002. Vladimir Jankelevitch, „Der Lebensphilosoph Georg Simmel" [1925], in: ders., Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, hg. v. Ralf Konersmann, Frankfurt/M. 2003, 23-69, hier 47.
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RALF KONERSMANN
Grenzen, aus denen unsere Kultur ihre Ordnung gewinnt, einfaltig zu bleiben. Die Tatsache, daß wir die Grenze hören, ist ja nur die sinnfällige Bestätigung des angesprochenen Sachverhalts, daß Grenzen weniger auf staatlichen Hoheitszeichen beruhen als auf Zuschreibungen und Konventionen. Dieser Zusammenhang macht aus der Grenze ein fait culturel. Sie ist, um ein Wort Simmeis zu variieren, nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischer oder kulturphilosophischer Wirkung, sondern - umgekehrt - eine kulturelle Tatsache, die sich „räumlich formt" 8 . Ich halte die Feststellung Simmeis für den idealen Ausgangspunkt einer kulturphilosophischen Reflexion der Grenze und der Grenzüberschreitung. Sie ist im besten Sinne des Wortes aufschlußreich und führt auf entscheidende Fragen. Zum Beispiel: Welches sind die kulturellen Ordnungen, welches die Symboliken der Grenze und der Grenzüberschreitung? Wie sähe eine Typologie der Grenze aus - etwa entsprechend der Unterscheidung von Grenzen und Schwellen, Brücken, Kanten, Rändern, Säumen, Konturen, Passagen, Membranen, Häuten usw.? Wie steht es um das Verhältnis von Territorialgrenze und kultureller Grenze? Wie korrelieren Fremd- und Selbstbilder? Wie stabilisieren, wie verändern sie sich? Welche Funktion hat in diesem Zusammenhang der Kulturbegriff selber, der nur allzu oft als Pathosformel der Nichtübereinstimmung und zur Radikalisierung von Ausgrenzungsmanövern mißbraucht wird? Andererseits: Ist Kultur, zumindest ein Teil von Kultur, nicht der ideale Ort der Grenzerprobung, der Grenzverschiebung, Grenzverletzung, Grenzveränderung? Hält nicht alle bewußtgemachte Kultur uns dazu an, die Grenze hypothetisch zu überspringen, damit wir uns, wie es bei Jankelevitch heißt, zugleich von außen sehen können? Gibt es überhaupt „reine", absolut hermetische Kulturen, oder ist es nicht so, daß alle Konkretionen menschlicher Kultur fortwährend Formen und Figuren transkultureller Existenz generieren? Und ist es schließlich nicht die Weisheit der reflexiv bemerkbar gemachten Grenze, den Menschen daran zu erinnern, daß er in der ihn umgebenden Welt nicht aufgeht?
8
Vgl. Georg Simmel, „Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung", In: Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1989, Bd. 11, 697; der Satz gibt gleichsam das Motto ab für Simmeis unmittelbar anschließenden „Exkurs über die soziale Begrenzung".
OSWALD SCHWEMMER
Was ist Kultur? Zur anthropologischen Begründung eines historischen Kulturbegriffs
1. Schwierigkeiten mit dem Kulturbegriff 1.1. Die Unbestimmtheit der Rede von der Kultur Wer Kulturphilosophie betreiben will, sieht sich der Frage ausgesetzt, was wir denn überhaupt unter Kultur zu verstehen haben. Die Frage ist leicht gestellt. Die Antwort scheint dagegen in das „weite Feld", das „zu weite Feld" zu fuhren, das schon Fontane zum Bild für unübersichtliche Verhältnisse erhob. Begegnet uns doch die Rede von der Kultur in höchst verschiedenen Zusammenhängen und zugleich bei so vielen Gelegenheiten, daß sie nahezu allgegenwärtig unser Leben begleitet. Nicht nur die Gegenstandsbereiche, die auf diese vielfältige Weise durch die Rede von der Kultur ausgeleuchtet werden, sondern auch die Formen der Gegenstandsbezüge schwanken und wechseln und bieten jedenfalls keine Abgrenzungen, auf die man sich berufen und stützen könnte. Von Verhaltenskodizes über Mentalitäten und Lebensformen (wie z. B. bei John Cowper-Powys 1989) bis hin zu institutionellen Traditionen und Werkbeständen reicht der Zuschreibungsanspruch, der mit der Rede von Kultur verbunden ist. Was die Form der dabei beanspruchten Bezugnahme angeht, so mischen sich normative mit deskriptiven, expressive mit analytischen, interpretierende mit definitorischen Momenten. Kultur, so scheint es, läßt sich nicht auf bestimmte Gebiete des menschlichen Lebens eingrenzen und nicht durch bestimmte Kategorien definieren. Kultur, so scheint es, ist überall dort, wo überhaupt Menschen sind, als all das, „was es an menschlich Erschaffenem auf der Erde gibt" (Mühlmann 1969, 599). 1.2. Vom Menschen gemacht - dem Menschen gegeben Gerade diese eher resignative Feststellung hat zu dem Versuch gefuhrt, über die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur am Ende doch noch einen Kulturbegriff definieren zu können. Dieser Versuch setzt meist bei der Unterscheidung an zwischen dem, was der Mensch gemacht hat, und dem, was all seinem Machen vorausliegt und ihm schlechthin gegeben ist. (Geyer 1994, 2) Obwohl diese Definition eine klare Unterscheidung zu treffen und damit zumindest ihre Handhabbarkeit zu gewährleisten scheint, wirft sie erhebliche Probleme auf, sobald man sie tatsächlich im Sinne eines Unterscheidungskriteriums verwenden will.
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OSWALD SCHWEMMER
Die erste Frage richtet sich auf die Gegenüberstellung von Gemachtem und Gegebenem. Soll z. B. alles, was sich überhaupt einer menschlichen Bewegung verdankt als etwas angesehen werden, das vom Menschen gemacht ist? Oder soll unter einem Gemachten nur das verstanden werden, was sich aus einer eigens angestrengten Planung und deren Ausführung ergibt? Muß sich die Planung und ihre Ausführung auf das Gesamtergebnis, den hergestellten Gegenstand im Ganzen, beziehen oder reicht auch ein Teilaspekt dieses Gegenstandes wie z. B. bei einem Arrangement bereits vorhandener Elemente? Ersichtlich lassen sich diese Fragen über zusätzliche Unterscheidungen noch weiter verzweigen. Die anfangliche Klarheit jedenfalls verliert sich dabei schnell. Letztlich liegt dies daran, daß der Begriff des menschlichen Handelns und Machens nicht über eine Reihe von einfachen Gegensatzpaaren erfaßt werden kann. Insbesondere die Gegensätze zwischen Tat und Widerfahrnis (Kamiah 1973, 34 f f ) , zwischen Selbstgestaltung und Fremdbestimmung, zwischen Erzeugtem und Vorgefundenem, zwischen Initiative und Reaktion u.s.w. ziehen Grenzlinien, wo in Wahrheit vielfältige Vermischungen und Durchdringungen stattfinden. Genauere Betrachtungen zeigen, daß die tätigen, selbstgestaltenden initiativen Seiten unseres Handelns sich in einzelnen Momenten zusammenziehen, in denen uns zugleich auch etwas widerfährt, in denen wir fremdbestimmt sind und auf das, was uns in einer bestimmten Situation begegnet, reagieren. Dieses Verhältnis einer wechselseitigen Durchdringung von Selbstgestaltung und Fremdeinwirkung, von Eigenleistung und Fremdnutzung begleitet die Rede von der Kultur seit ihrem Anbeginn. 1.3. Kultur als cultura Setzt doch schon die cultura im Sinne des Ackerbaus, der Pflege des Bodens, der Saat und der Pflanzen ein Wechselverhältnis zwischen dem pflegenden Tun und dem gepflegten Wachstum der Pflanzen voraus. Dieses Wechselverhältnis gewinnt eine zusätzliche Dimension, wenn man berücksichtigt, daß die angebauten Pflanzen Züchtungsergebnisse und in diesem Sinne bereits kultivierte Pflanzen sind und daß auch der Ackerboden nach besonderen Regeln vorbereitet und damit ebenfalls kultiviert worden ist. Der Begriff der Pflege, wie er in dieser cultura am Anfang der Wortgeschichte in Anspruch genommen und exemplarisch vorgestellt wird (Perpeet 1976, 1309-1324), kann so nur durch einen Bezug auf vielfache Wechselverhältnisse zwischen eigenem Tun und fremden Entwicklungen gedacht werden. Noch deutlicher wird dies, wenn man der Wortgeschichte noch weiter folgt und die Übertragung der cultura als cultura animi (Cicero 1998, 124 f.) auf die Seele oder als georgica mentis (Bacon 1858, 713; vgl. Box 1996, 270-275), als „Georgik des Geistes", in den Blick nimmt. Mit dieser Übertragung wird die Bindung dessen, was unter einer cultura im Sinne der Pflege zu verstehen ist, an bestimmte eingebürgerte Praktiken aufgelöst und für eigene neue Vorstellungen geöffnet. Kultur wandelt sich zu einem programmatischen Konzept, das in einen normativen Entwurf eingebettet ist. Mit dieser Übertragung verallgemeinert sich die Rede von der Kultur: Kultur wird zu einem Maßstab historischer Entwicklungen, sei es der Entwicklung der Menschheit überhaupt, die von einem Naturzustand in einen Kulturzustand überzugehen hat, sei es der Entwicklung eines Volkes, das seine historischen Möglichkeiten zu entfalten hat, sei es der Entwicklung eines einzelnen Menschen, der seine Begabungen zu pflegen und damit sich
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selbst zu vervollkommnen hat, oder sei es auch der Entwicklung einzelner Teilbereiche des menschlichen Wirkens wie des Rechtssystems, der Moral, der Philosophie, der Kunst oder, ganz allgemein, der Sitten und Gebräuche, insbesondere der Umgangsformen in einer Gesellschaft. Durch diese Entgrenzung wird ein eigenständiger Kulturbegriff vorbereitet, der Kultur nicht nur als eine Qualität von etwas anderem erfaßt, sondern Kultur als etwas Eigenständiges, in sich selbst Bestimmtes unterstellt. Erst über diese Unterstellung, die im deutschen Sprachraum etwa zwischen Kant und Herder allgemein zu werden beginnt, wird Kultur zum Gegenstand einer eigenen philosophischen und wissenschaftlichen Bemühung.
2.
Die Suche nach einem Kulturbegriff
2.1. Auf dem Weg zu einem eigenständigen Kulturbegriff Tatsächlich bedurfte es noch eines weiteren Jahrhunderts, bis es schließlich zur Ausbildung einer Kulturphilosophie, eigenständiger Kulturtheorien und der Kulturwissenschaften kam. Die Länge dieser Zeit läßt sich sicher auch dadurch erklären, daß die Selbständigkeit eines unterstellten Kulturbegriffs mit dessen Unbestimmtheit und nahezu unbeschränkter Verwendbarkeit verbunden war. Von Kultur in diesem Sinne kann man überall dort reden, wo überhaupt Menschen sind und Formen des Handelns und Lebens aufgebaut haben, die Erwartungen an das Handeln und Leben der Menschen begründen, denen man entsprechen oder von denen man abweichen, denen man sich unterwerfen, widersetzen oder auch einfach entziehen kann. Mit solchen Erwartungen entstehen normative Ansprüche und Vorstellungen von Maßstäben, die sich der Rede von der Kultur immer tiefer einschreiben. Gerade diese normative Einfärbung wird zu einem prominenten Motiv, sich mit Kultur kritisch oder apologetisch auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzungen, die sich unter dem Titel einer Kulturkritik in bestimmten Traditionslinien zusammenflechten, leuchten zumeist bestimmte Teilbereiche des gesellschaftlichen, politischen oder auch wissenschaftlichen Lebens aus, um diese dann - vielfach pars pro toto - als Verfall einer oder auch der Kultur bzw. als Gefahr für eine zu bewahrende Kultur namhaft zu machen. Bei all diesen Bemühungen bildet sich aber kein Kulturbegriff heraus, der eine Unterscheidung zu den Bereichen dessen, was nicht Kultur ist, und zugleich eine umfassende Charakterisierung dessen, was in den unterschiedlichen Redeweisen von Kultur eben doch die Kernbedeutung von Kultur ausmacht, anbieten würde. Weil überall Kulturelles zu finden ist, scheint es so schwierig, es vom Nichtkulturellen zu unterscheiden. Und weil Kulturelles auf so verschiedene Weisen sich zeigt, scheint es so schwierig, einen kohärenten Kulturbegriff zu entwickeln. Weil andererseits aber von Kultur auf so vielfaltige Weise und nahezu überall geredet werden kann, weil sie in so vielen Diskursen auftaucht und zu deren beharrlichem Kontext gehört, scheint wiederum die Unterstellung begründet, daß wir es mit einem eigenständigen Begriff oder Begriffsfeld zu tun haben, wenn wir von Kultur reden. Daß diese Annahme durchaus ihre Plausibilität besitzt, zeigt sich schon daran, daß die vielfaltigen Bezüge auf die Kultur im allgemeinen zumindest so lange keine Verständnisschwierigkeiten erzeugen, wie wir uns in einem einheitlichen Diskurszusammenhang befinden - man könnte, gleichsam als Probe aufs Exempel, auch hinzufügen: so lange wir uns in einem einheitlichen kulturellen Zusammenhang bewegen. Man kann hier von einer Ver-
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ständlichkeit in wechselnden Kontexten und trotz fehlender begrifflicher Klärungen sprechen. Dabei soll nicht geleugnet werden, daß es eine Vielfalt von Vorschlägen gibt, einen Kulturbegriff zu klären und definitorisch festzulegen. Es bieten sich für diese Versuche sogar Klassifikationen an. 2.2.
Typen von Kulturbegriffen
So kann man eine erste Gruppe dadurch charakterisieren, daß in ihr Kultur durch den Rückbezug auf das menschliche Handeln zu definieren versucht wird. Darüber ist bereits gesprochen worden. Eine zweite Gruppe unternimmt den Versuch, Kultur gegenständlich zu definieren, z. B. durch bestimmte Güter oder Werke. Eine dritte Gruppe setzt an den Formen an, die das menschliche Handeln und Leben in bestimmten Gesellschaften gefunden und womöglich auch institutionalisiert hat. Im allgemeinen führen diese Versuche dazu, daß nur bestimmte Aspekte und Momente einer Kultur hervorgehoben und untersucht werden, ein eigenständiger Begriff der Kultur aber, der über die Summierung dieser Aspekte und Momente hinausginge, nicht einmal zu bilden versucht wird.
3.
Die anthropologische Begründung eines genetischen Kulturbegriffs
Der Weg von der Vielfalt der entwickelten Kulturphänomene zur Einheit eines Begriffs soll hier nicht weiter verfolgt werden. Es soll vielmehr nach den Entwicklungsmomenten gefragt werden, die in der menschlichen Existenzform zur Ausbildung kultureller Phänomene fuhren. Kultur nicht von den jeweiligen Enden ihrer historischen Entwicklung aus, sondern von den Anfangen ihrer Entwicklung her verstehen - dies ist die methodische Maxime, deren Befolgung zu einem genetischen Kulturbegriff fuhren soll, der durch eine anthropologische Betrachtung der menschlichen Existenzform zu begründen ist. 3.1.
Die Vermögensdefinitionen des Menschen
3.1.1. Das Vernunftvermögen Die Frage nach der Besonderheit der menschlichen Existenzform begleitet die Philosophie seit ihren Anfangen. Die Antworten verdichten sich in Definitionen, die bei all ihrer Verschiedenheit fast ausnahmslos eine Gemeinsamkeit aufweisen, nämlich die, daß der Mensch seine besondere Stellung zwischen Tier und Gott durch ein spezifisches Vermögen inne hat. Zentral sind hier die Definitionen durch das Vermögen des Logos, der Ratio, der Vernunft oder auch der Herstellung und des Gebrauchs von Werkzeugen. Diese Definitionen, die im großen und ganzen bis heuten anerkannt sind, weisen einen entscheidenden Mangel auf. Indem sie sich nämlich lediglich auf ein Vermögen beziehen, bleiben sie gewissermaßen virtuell. Denn über ein Vermögen reden, heißt nicht auch schon, über dessen Verwirklichung reden. Andererseits hat man keine Anhaltspunkte, überhaupt ein bestimmtes Vermögen anzunehmen, wenn man nicht aus der Wirklichkeit des Verhaltens Gründe für diese Annahme gewinnen kann. Bei einem Vermögen wie dem der Vernunft geht es nun aber um eine normativ charakterisierte Instanz, zu der sich die Menschen erheben sollen, auch wenn sie dies vielfach nicht tun. Die Wirklichkeit des Verhaltens liefert in diesem Fall nur unzureichende Gründe für die Bestimmung eines Vernunftvermögens. Statt dessen müssen wir zunächst festlegen, was die
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Maßstäbe unseres Verhaltens sein sollen, bevor wir bestimmte Verhaltensweisen als vernünftig beurteilen können. Damit ergibt sich folgender Zusammenhang: Wir stellen bestimmte Prinzipien, Maßstäbe oder Regeln auf, durch die vernünftiges Verhalten definiert werden soll. Obwohl diese Definitionsversuche ein ständiger Gegenstand vor allem der philosophischer Kontroversen waren und geblieben sind, hat sich im Laufe der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte ein gewisses Einvernehmen über ihre Anerkennung herausgebildet. Dies scheint die Rede von einem Vernunftvermögen, das den Menschen auszeichnet, auf eine geradezu triviale und daher unwidersprechliche Weise plausibel zu machen. Denn wenn es in der europäischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte zur Herausbildung eines solchen Einverständnisses über die Vernunft gekommen ist, dann müssen die Menschen, die an diesem Einverständnis gearbeitet haben, ja auch das Vermögen dazu besitzen. 3.1.2. Die Virtualität des Vernunftvermögens Wenn einer in dieser Weise trivialen Wahrheit eine so große Bedeutung zugewiesen wird, ist eine Nachfrage angebracht. Zunächst einmal ist festzustellen, daß die Vernunft nicht als ein eigenständiges und isoliertes Vermögen diskutiert und definiert wird, sondern als Kriterium von Begriffssystemen, von logischen und mathematischen Kalkülen, von Relationen zwischen empirischen Daten und theoretischen Generalisierungen und schließlich über den Erfolg oder Mißerfolg von praktischen Problemlösungen. All diese Kriterien ergeben sich aber erst in der Auseinandersetzung mit der Welt und entspringen nicht aus einem bereits im voraus strukturierten Vermögen. Sie weisen sich aufgrund sachbezogener Problemlösungen und damit erst durch ihren Erfolg aus. Dies gilt im übrigen auch für die formalen Strukturen der logischen und mathematischen Kalküle, die sich letztlich über ihre Verwendbarkeit als erfolgreich zu beweisen haben. Das Vermögen zum Umgang mit all diesen Strukturen und Verfahren, die wir als vernünftig anerkennen, muß daher erst erworben werden. Die Bildungssysteme der Gesellschaften bestehen eben darin, dieses Vermögen - normalerweise in einer individuellen Spezialisierung - auszubilden. Das, was man angesichts dieser Ausbildungsnotwendigkeit der Menschheit noch allgemein zubilligen kann, ist das Vermögen, dieses Vermögen im Umgang mit vernünftigen Strukturen und Verfahren lernend auszubilden, oder kurz gesagt: die Lernfähigkeit. Die Lernfähigkeit ist aber als solche nicht inhaltlich festgelegt. Sie kann sich auf alles mögliche beziehen und zeichnet nicht aus sich heraus schon einen Weg zur Vernunft, in welchem Verständnis auch immer, vor. 3.1.3. Die Entwicklung des Vernunftvermögens in der Geschichte Was der Vermögensdefinition mangelt, ist der Blick auf die Wirklichkeit des menschlichen Verhaltens, aus dessen Geschichte heraus sich überhaupt erst die Vorstellungen vom Vernünftigen entwickeln konnten. Ohne die Abarbeitung an seinen Weltverhältnissen kann der Mensch kein Vermögen des Logos, der Ratio, der Vernunft oder der Herstellung und des Gebrauchs von Werkzeugen ausbilden. Dies bedeutet, daß ein konkretes Vermögen, das der Mensch sich erworben hat, immer nur über die Weltverhältnisse, denen er ausgesetzt war und mit denen er sich auseinanderzusetzen hatte, definiert werden kann. Die Vernunft ist dann nicht länger ein Vermögen, das sich aus dem Inneren des Menschen, aus der Konstitution seines Menschseins ergibt. Sie ist vielmehr eine komplexe Relation zwischen seinen
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Weltverhältnissen und der Entwicklung seines Vermögens, sich in diesen Weltverhältnissen zurechtzufinden. Vernunft und mit ihr die menschliche Existenzform sind in diesem Sinne nur historisch zu begreifen, und zwar im Sinne einer historischen Entwicklung, die in einem Wechselverhältnis von externen Faktoren, nämlich den Einwirkungen aus den verschiedenen Umwelten des Menschen, und der internen Verarbeitung dieser Faktoren, die zur Entwicklung von Verhaltensformen fuhrt, abläuft. 3.2.
Die Definition des Menschen als eines Zwischenseins
Man kann die Existenzform des Menschen dadurch charakterisieren, daß man sie als ein Zwischensein darstellt, und zwar als ein Zwischensein in verschiedenen Umwelten. Dabei ist es übrigens bemerkenswert, daß das Verständnis des Menschen als eines Zwischenseins in anderen Kulturen, wie insbesondere in der konfuzianischen und buddhistischen Tradition, von Anfang an den Blick auf den Menschen prägt. So wird etwa im Japanischen das Wort ningen für Mensch durch zwei Schriftzeichen wiedergegeben, eines für Mensch und eines für Zwischen, (vgl. Heise 2003) 3.2.1. Das organische Zwischensein des Menschen Das Zwischensein des Menschen ist nicht nur interindividuell zu verstehen, also nicht nur als das Verhältnis zwischen einzelnen Menschen in ihrem wechselseitigen Verhalten zueinander. Vielmehr betrifft dieses Zwischensein bereits die organische Existenz des Menschen und ihre physische Umwelt. Besonders prägnant stellt sich das Zwischensein des Menschen dar, wenn man ihn als ein Lebewesen mit Maschinen, insbesondere mit Rechnern und Robotern vergleicht. Während die Rechner als symbolische Maschinen eigene Systeme bilden und in einer eigenen symbolischen Welt miteinander vernetzt sind, stehen alle Lebewesen in einem wechselseitigen Bezug zu ihrer jeweiligen Umwelt. Ein Lebewesen kann in seinem inneren organischen und äußeren motorischen Verhalten überhaupt nicht ohne diese wechselseitigen Bezüge zu seiner Umwelt beschrieben und verstanden werden. Leben, so kann man sagen, heißt in wechselseitigen Verhältnissen, Aktionen und Reaktionen zur Umwelt seine eigene Identität als Aktions- und Reaktionseinheit aufbauen. Leben in der Isolation auf sich selbst ist nicht möglich. Leben kann sich nicht in isolierten Systemen realisieren. Damit ist Leben der Gegenbegriff zur Technik im Sinne der klassischen Mechanik und der auf sie aufbauenden Maschinen. Leben als Austauschgeschehen mit der Umwelt, Technik als Funktionieren im isolierten System - mit diesem Gegensatz ist der Grundunterschied zwischen Organismus und Maschine benannt, aus dem sich eine Vielfalt weiterer Differenzen ergibt. 3.2.2. Das Zwischensein der Wahrnehmung Das Zwischensein des Menschen läßt sich auch für das Zwischensein im Leben unserer Sinne verdeutlichen. Hier besteht bzw. bestand zumindest bis vor wenigen Jahren die Tendenz, die Erforschung und Darstellung der Sinnesorgane nahezu ausschließlich den internen Verarbeitungsprozessen, also etwa der Umwandlung bestimmter als Reize wirkender Energieformen in neuronale Erregung zu widmen. Mit einer solchen Konzentration allein auf die internen Prozeßstrukturen wird durch die bloße Nichtthematisierung und damit schon allein
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aufgrund der Tatsache, daß sie nicht einmal bemerkt wird, die Frage nach dem Wirken äußerer Umweltfaktoren in den inneren Verarbeitungsprozessen der Sinnesorgane eliminiert und de facto negiert. Dabei stehen wir in unseren Sinneswahrnehmungen bis hin zu den inneren Körpergefühlen in einer ständigen dynamischen Beziehung mit unserer Umwelt. Wir arbeiten uns in unseren Wahrnehmungen an dieser Umwelt gleichsam ab, und durch diese Wahmehmungsarbeit gewinnt sie für uns überhaupt eine sinnespezifische Bedeutung. Wir können unser Wahrnehmen als einen wechselnden Bezug der jeweiligen Umweltkonfigurationen - ich vermeide hier die Rede von Wabmehmungsgege/M/aWe« - und den Konfigurationen darstellen, die sich in unserem Wahrnehmen aufbauen. Unser Denken hat sich aber statt dessen in einem gerade metaphysischen Individualismus einer reinen Immanenz-Perspektive verschrieben. Nachdem einmal die Konfigurationen unserer Umwelt rezipiert worden sind, kann es in einer solchen Sicht nur noch um eine interne Weiterverarbeitung dieser Rezeptionsergebnisse gehen. Unser Wahrnehmen ist in all seinen Phasen ein Wechselspiel zwischen den Konfigurationen unserer Umwelt und den Konfigurationen innerhalb der vielfach verknüpften organischen und neuronalen Prozesse, die das „materielle Substrat" unseres Wahrnehmens darstellen. Die Wahrnehmung ist eine Leistung, besser: ein Geschehen, das aus einem komplexen Zusammenspiel des lebendigen Körpers und seiner Organe auf der einen und der Weltverhältnisse in der Wahrnehmungssituation auf der anderen Seite zustande kommt. Auch hier können wir diesen Sachverhalt wieder dadurch charakterisieren, daß wir sagen, in seinen Wahrnehmungen existiert das Lebewesen nicht nur als eine gegenüber seiner Umwelt abgegrenzte Einheit, sondern auch als ein „Zwischensein", als ein ineinander verwobenes Aufnehmen und Gestalten der Umweltreize, als ein zugleich rezeptives und kreatives Ausgerichtetsein auf seine Umwelt. Das Lebewesen existiert im Vollzug dieses Bezugs auf seine Umwelt hin und von ihr her und bildet in diesem Sinne eine dynamische Verbindung mit ihr. Reden wir nicht mehr nur, wie gewöhnlich in der Wahrnehmungspsychologie, über Elemente einer bildlichen Wahrnehmung, sondern über ganze Bilder unserer Wahrnehmung, so finden wir ein noch deutlich differenzierteres Verhältnis zwischen unserem Wahrnehmen und der Umwelt, in der wir wahrnehmen. In eine grobe Formel gebracht, können wir sagen, daß wir alles, was wir sehen, durch die Bilder hindurch sehen, die wir gesehen haben. Und diese Formulierung können wir für alle unsere Sinne in der entsprechenden sinnesspezifischen Variation wiederholen. Akzeptieren wir diesen Sachverhalt, dann können wir uns bei der Darstellung unserer Sinnes Wahrnehmungen nicht mehr alleine auf die innerorganischen und neuronalen Verarbeitungsprozesse konzentrieren, sondern wir müssen in der Tat eine eigene Dynamik der Formen und Formverhältnisse in Rechnung stellen und untersuchen. Im Unterschied zur Maschine wird mit den organischen Austauschverhältnissen eine Existenzform des Lebendigen aufgebaut, die man als eine Bezugnahme auf der einen und ein Einbezogensein auf der anderen Seite charakterisieren kann.
556 3.3.
OSWALD SCHWEMMER
Vermögensdefinition versus Definition durch das Zwischensein des Menschen
Nicht nur in seinen physischen Umwelten ist der Mensch ein Zwischensein, sondern auch in seinen sozialen und symbolischen Welten. Vorerst mag uns aber nur die grundlegende Konzeption interessieren, die den Menschen als ein Zwischensein dem durch sein besonderes Vermögen ausgezeichneten Wesen gegenüber stellt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Konzeptionen läßt sich zunächst durch zwei Punkte charakterisieren. 3.3.1. Vom Subjekt zum Partizipanten Die Vermögensdefinition sieht den Menschen als ein kreatives Zentrum. Aus diesem Zentrum heraus werden alle menschlichen Leistungen hervorgebracht. Alles, was der Mensch tut, ist eine Leistung, die durch dieses Zentrum strukturiert wird. Und daher müssen sich letztlich auch alle Leistungen des Menschen aus einer Betrachtung dieses Zentrums erschließen und in ihrer Struktur begreifen lassen. Dieses Verhältnis eines kreativen und strukturierenden Zentrums zu den Leistungen des Menschen ist in der philosophischen Tradition unter dem Titel des Subjekts, als das der Mensch die besondere Form seiner Existenz gewinnt, thematisiert worden. Versteht man den Menschen demgegenüber als Zwischensein, so rückt er aus der Position des Subjektzentrums in die eines Partizipanten. Seine Leistungen werden zu einem Geschehen, an dem er durchaus aktiv und kreativ teilnimmt. Aber sie ergeben sich nicht allein aus der Struktur und der Aktualisierung seines Vermögens. Sie sind damit auch nicht die Entfaltung einer bereits in sich fixierten Vermögensstruktur, sondern das Ergebnis vielfältiger Faktoren und interaktiver Verhältnisse. Mit dieser Sicht des Menschen als eines Partizipanten soll nicht die Kreativität, die Freiheit oder Verantwortlichkeit des Menschen in Frage gestellt werden. In Frage gestellt wird lediglich der begriffliche Rahmen, in dem über den Menschen verhandelt wird. Frei und kreativ ist dann nicht mehr die Verwirklichung eines in sich bestimmten Vermögens, sondern das Verhalten zu und in Situationen, zu und in der Welt, in der wir uns befinden. 3.3.2. Von der Verwirklichung strukturierter Möglichkeiten zur Entstehung emergenter Ordnungen des Äußerungsgeschehens In Rahmen der Vermögensdefinition wird die Wirklichkeit des menschlichen Handelns und Denkens als eine Verwirklichung von Möglichkeiten im Sinne dynamischer Tendenzen, wie sie mit der Annahme des Vermögens unterstellt werden, verstanden. Die historische Wirklichkeit des Menschen ist, so kann man es auch sagen, die äußere Entfaltung einer inneren Dynamik. Eben diese Denkfigur wird in der Sicht auf das Zwischensein des Menschen umgekehrt. Der Weg zur Entstehung der menschlichen Wirklichkeit führt nicht mehr von einem Innen des Subjektes zum Außen der Welt. Der Mensch findet vielmehr nur über seine Welterfahrungen, seine Begegnungen mit den Ereignissen der Welt und seine Versuche, sich in diesen Weltereignissen zurechtzufinden und zu bewähren, zu einem eigenen Sein. Dieses sein Eigen- oder Selbstsein kann der Mensch dann als sein Inneres der Welt als seinem Außen entgegensetzen. Ernst Cassirer formuliert diese Umkehrung der Richtung auf prägnante Weise durch seine „Grundregel, die alle Entwicklung des Geistes beherrscht: daß der Geist erst in seiner Äußerung zu seiner wahrhaften und vollkommenen Innerlichkeit gelangt." (Cassirer 1977, 235)
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Man kann die Pointe dieser Grundregel auf eine doppelte Weise deuten. Die erste Weise würde die Bewegung der Hegeischen Philosophie aufnehmen und den Geist auf einem Umweg sehen, der erst durch die Welt zu ihm selbst zurückfuhrt. Diese, im Grunde schon in der mittelalterlichen Philosophie z. B. bei Thomas von Aquin und seiner Rede von der reditio completa in se ipsum (vgl. Fetz 1975) angelegte Denkfigur läßt sich durchaus noch in dem Begriffsschema von Dynamis und Energeia, Potentia und Actus, Vermögen und Verwirklichung verstehen. Mitgedacht in dieser „Reise um die Welt" (Cassirer 1982, 48) ist dabei die Bedürftigkeit des Menschen, der nicht aus sich alleine heraus zur Vollendung seiner Anlagen gelangen kann, sondern dazu die Ergänzung einer Weltwirklichkeit braucht, durch die er zu seiner Selbstverwirklichung herausgefordert wird. Entscheidend in diesem Gedanken ist, daß die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Welt als ein Prozeß der Selbstverwirklichung gedacht wird, als Entfaltung der Möglichkeiten, die bereits in dem Menschen stecken und die letztlich auch die Richtung vorgeben, in der er sich verwirklichen kann. Diese Selbstverwirklichung ist daher tatsächlich eine „Rückkehr zu sich selbst", eine reditio in se ipsum. Eine solche Lesart verpaßt aber einen entscheidenden Punkt. Es geht nämlich nicht nur darum einzusehen, daß der Mensch der Weltwirklichkeit bedarf, um zu seinem Selbstsein zu finden, um überhaupt ein individuelles persönliches Eigensein auszubilden. Es geht vielmehr auch darum zu erkennen, daß diese Weltwirklichkeit, zu der auch die anderen Menschen gehören, nicht nur die forderliche oder hinderliche Umgebung des eigenen Handelns bildet, sondern in ihrem Eigensein, d. h. in ihren inneren Strukturen als ein Gestaltungsmoment das sich an ihr abarbeitende Handeln mitprägt. Erst in dem kontingenten Wechselverhältnis intentionaler Momente der handelnden Menschen und strukturierender Faktoren der Weltwirklichkeit ergibt sich das, was das individuelle Eigensein einer Person sein kann. Im Bilde gesprochen, entwickelt sich das Selbstsein in der Zone zwischen den intentionalen Momenten, also dem Inneren des Menschen, und den Faktoren, die aus dem Außen der Weltwirklichkeit dem Handeln begegnen und in es eingehen. In einer extremen Weise hat Niklas Luhmann dieses Wechselverhältnis als „Theorem der doppelten Kontingenz" (Luhmann 1984, 153) zu explizieren versucht. Als „Grundsituation der doppelten Kontingenz" stellt er dar: „Zwei black boxes bekommen es, aufgrund welcher Zufälle immer, miteinander zu tun." Füreinander „bleiben die black boxes [...] undurchsichtig. [...] Der Versuch, den anderen zu berechnen, würde zwangsläufig scheitern." (ebd., 156) Die Interaktionen zwischen ihnen richten sich allein am Außengeschehen dieser black boxes aus, an der Weltwirklichkeit der jeweiligen Aktionen und Reaktionen, die aus sich selbst heraus eine Ordnung der Interaktion entstehen lassen: „Auf diese Weise kann eine emergente Ordnung zustande kommen" (ebd., 157). Für Luhmann bleiben die Intentionen der Akteure einander nicht nur undurchsichtig, sondern auch unerheblich. Er sieht die Faktoren der Ordnung, die sich in den Interaktionen entwickeln, einzig in der Selbstorganisation der sich wechselseitig aufeinander beziehenden Aktionen und Reaktionen. Es gibt keine subjektiven Faktoren dieser Ordnung. Die Ordnung, wenn sie denn entsteht, ist ein Nebenprodukt der Tatsache, daß überhaupt Interaktionen zustande gekommen sind und sich sozusagen in ihrem Wechselverhältnis synchronisiert haben. Gerade in dieser extremen Pointierung der Emergenz einer Ordnung rückt Luhmann
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aber einen entscheidenden Punkt in den Blick: nämlich die Entstehung einer Handlungsordnung aus dem aufeinander bezogenen Ablauf des Handelns. Man kann sich diesen Sachverhalt durch einige elementare Aspekte einer Situation des Miteinanderhandelns verdeutlichen. Zwei Personen, die, ohne sich zu kennen, aufeinander zugehen, einfach weil sie jeweils in ihre Richtung gehen, zunächst ohne den anderen zu beachten, werden im allgemeinen einander ausweichen. Dies muß in der Tat nicht mit einer eigenen Intention verbunden sein, sondern kann sich alleine aus den Bewegungsformen und -richtungen ergeben und aus dem Weltverhältnis, das in diesen Bewegungen gleichsam inkorporiert ist. Denn irgendwo hinzugehen oder von irgendwo wegzugehen, sind Weltverhältnisse der Annäherung oder Entfernung, die wir in vielen Fällen nicht auch noch zusätzlich durch Intentionen strukturieren müssen. Wie vor allem Maurice Merleau-Ponty immer wieder in eindringlichen Analysen gezeigt hat, sind wir bereits in unserer leiblichen Existenz zur Welt hin oder von ihr weg und sind wir in diesem Zur-Welt- oder Von-ihr-wegSein im Ablauf unseres Verhaltens geprägt. (Merleau-Ponty 2000, 71-73) Man kann diese Situation leiblich gegründeter Weltverhältnisse an unzähligen Beispielen unseres alltäglichen Lebens illustrieren. Das „Zucken einer Oberlippe", „ein zweideutiges Spiel an der Manschette" (Kleist 1977, 321), die gerunzelte Stirn oder auch der starre Blick, die plötzliche Bewegung auf uns zu oder von uns weg, die seitliche Annäherung oder die geradlinige Zuwendung - die sind nur einige wenige Momente, die zu den nahezu allgegenwärtigen Stimuli gehören, die uns zu Reaktionen auch im Ablauf einer Handlung nötigen und dadurch diesen Ablauf selbst mitbestimmen. In diesem Sinne gibt es tatsächlich vielfach eine sich selbst organisierende emergente Ordnung, die weitgehend unabhängig von der Individualität unserer Person sein kann und die wir selber als etwas wahrnehmen, das uns eher passiert, als daß wir es selber gestaltet hätten. Diese zweite Lesart des Äußerungsaspektes, der sich aus dem Verständnis des Menschen als eines Zwischenseins ergibt, beharrt darauf, daß die menschlichen Äußerungen, die „Äußerungen des Geistes", ein eigenes Geschehen sind, das auch in seiner eigenen Dynamik zu beschreiben ist. Dieses Äußerungsgeschehen umfaßt dabei jegliche Regung und Bewegung des Menschen, die überhaupt eine „Außenseite" hat, eine räumliche und also sinnliche wahrnehmbare Charakteristik, eine Existenzform, die als zeitliche Folge räumlicher Konfigurationen, als ein Konfigurationsprozeß wahrgenommen und dargestellt werden kann. Dazu gehören mimische, gestische und sprachliche Äußerungen ebenso wie Handlungen, durch die wir etwas verrichten oder bewegen, und Bewegungen, mit denen wir uns selbst irgendwohin wenden und annähern oder irgendwovon abwenden und entfernen.
4.
Die Bildung des Kulturbegriffs
Man kann nun bereits einen ersten Versuch unternehmen, aus den beiden Charakterisierungen der menschlichen Existenzform (1) als die eines partizipierenden Akteurs, der (2) seine Aktivität in einem auch intern sich organisierendem Äußerungsgeschehen in die Einheit einer Äußerung bringt, einen Kulturbegriff zu bilden. Die Einführung eines solchen Kulturbegriffs begründet sich aus der Struktur des Äußerungsgeschehens. Auf der einen Seite ist der Mensch in seinen Motiven und Intentionen, seinen Gedanken und Vorstellungen, seinen Wahrnehmungen und Gefühlen, kurz: in seinem Bewußtseinsleben, in diesem Äußerungsge-
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schehen aktiv. Auf der anderen Seite gibt es die Eigendynamik des Äußerungsgeschehens, sozusagen die Weltseite oder der Weltanteil des menschlichen Verhaltens. 4.1. Die Form der Äußerungen, die Form-Wirkverhältnisse und die Welt der Formen Die Einheit einer Äußerung ist ihre Form. Sieht man, daß diese Form sich sowohl aus den Impulsen und Initiativen des Bewußtseinslebens als auch aus den Faktoren der Außenwelt bildet, dann müssen auch diese äußeren Formfaktoren berücksichtigt werden, wenn man die menschlichen Äußerungen verstehen will. Die Rede von Formfaktoren soll dabei verdeutlichen, daß die Weltfaktoren bei der Bildung der Form unserer Äußerungen beteiligt sind. Diese Beteiligung kann auf unterschiedliche Weise stattfinden. So können die unterschiedlichsten Reize aus unserer Umwelt wie z. B. die wärmenden Sonnenstrahlen eines Sommertages oder das trübe Licht eines Regentages unsere Äußerungen mitprägen und dadurch zu Formfaktoren werden. Völlig anders geartet ist dagegen die Prägung, die durch eine Ausrichtung an Formen von Äußerungen entsteht, die bereits ausgebildet worden sind. Diese bereits geformten Äußerungsformen bieten dann ein Muster für die Herausbildung einer neuen Äußerungsform. Sie sind Formfaktoren, die bereits selber Formen von Äußerungen sind. Während die Umweltreize im Sinne physischer und physiologischer Kausalverhältnisse in ihren Wirkungen erfaßt werden können, haben wir es bei den Äußerungsformen, wenn sie denn als Formfaktoren für weitere Äußerungen auftreten, mit einem Formverhältnis zu tun, in dem Formen auf Formen wirken. Genauer handelt es sich um die Wirkung einer Form durch ihre Form auf eine andere Form. Die Entdeckung dieses besonderen Form-Wirkverhältnisses steht am Anfang unserer philosophischen Tradition und hat insbesondere die Platonische Philosophie geprägt. Daß Form auf Form wirken kann, ist seitdem für die Philosophen ein Faszinosum geblieben. Die Versuche, dieses Verhältnis zu begreifen, führten zu Unterscheidungen wie der zwischen Idee und Realität, Urbild und Abbild, wahrem Sein und bloßem Schein und vielem anderen mehr. Aber nicht nur die Besonderheit dieses Wirkverhältnisses, sondern auch die Besonderheit einer Welt der Formen selbst begründet deren Hervorhebung. Denn im Unterschied zu den Umweltreizen und Faktoren, die nicht durch ihre Form, sondern durch ihre physische Veränderung im Ablauf organischer Prozesse wirken, sind Äußerungsformen das Produkt historischer Prozesse, in denen um die Herausbildung, Bewahrung und Erneuerung dieser Formen gerungen worden ist. Die Welt der Formen ist das Produkt einer historischen Anstrengung und wird zugleich zum Ausgangspunkt neuer historischer Formentwicklungen. Diese doppelte Historizität der Äußerungsformen und die damit gegebene Besonderheit der Form-Wirkverhältnisse verlangt eine besondere Form der Untersuchung dieser Formen und Formverhältnisse im Leben unserer Äußerungen. Dieser Besonderheit wird ein Kulturbegriff gerecht, der in der Kultur die Welt der bereits geformten Äußerungsformen sieht und die kulturellen Verhältnisse als Wirkverhältnisse von Äußerungsformen auf Äußerungen, und zwar durch ihre Form, identifiziert.
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4.2. Die Artikulationsformen des Ausdruckshandelns und die Organisationsformen des technischen Handelns Tatsächlich haben wir damit einen Kulturbegriff erreicht, der viele Intentionen der skizzierten Kulturbegriffe, so wie sie in der Diskussion über eine Kulturphilosophie angeführt worden sind, in sich aufnimmt. Als bloße Definition bleibt der hier vorbereitete Kulturbegriff allerdings karg. Nur im Zusammenhang des Weges, auf dem wir zu ihm gefuhrt worden sind, entwickelt er seinen Sinn. Dieser Weg liefert uns aber auch einen weiteren Grund, den bis jetzt erreichten Kulturbegriff noch weiter einzuengen. Nehmen wir alle Äußerungsformen in den Kulturbegriff auf, so finden wir unter ihnen sowohl die Äußerungen, mit denen wir etwas zum Ausdruck bringen, als auch solche Äußerungen, mit denen wir auf physische Weltveränderungen abzielen. In den Ausdruckshandlungen geht es um die Artikulation von etwas, sei es einer Überzeugung, einer Stimmung, eines Wunsches, einer Darstellung oder irgend einer sonstigen Mitteilung. Die Artikulation findet ihr Ende, wenn sie in eine Form gebracht ist, die der sich Äußernde als Form seines Ausdrucks akzeptiert. Sie hat daher einen Zweck in sich selbst. Dies schließt nicht aus, daß mit ihr auch weitere Zwecke verbunden werden. Gewöhnlich wollen wir durch eine gelungene Artikulation tatsächlich etwas erreichen, z. B. jemanden überzeugen, abschrecken, beeindrucken u.s.w. Wir müssen allerdings dann der Kraft vertrauen, die von der Form unserer Artikulation ausgeht. Ob jemand von ihr in den Bann gezogen oder überhaupt beeindruckt wird, hängt letztlich nur von ihm selbst ab, von seiner Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf das, was wir zum Ausdruck und in eine Form gebracht haben, einzulassen. In diesem Sinne reicht unsere Möglichkeit, durch Artikulation etwas zu erreichen, nur bis zum Ende dieser Artikulation selbst, bis zu der Form, die wir ihr geben. Und in diesem Sinne kann man von ihr tatsächlich als einem Selbstzweck reden. Dies ist bei den Äußerungen, die direkt auf die Erreichung eines bestimmten Weltzustandes abzielen, anders. Mit diesen Äußerungen wollen wir unmittelbar einen bestimmten Weltzustand herbeiführen oder verhindern. Wir greifen damit physisch in die Welt ein. Diese Äußerungen sind ein Handeln, das nicht seine eigene Artikulation oder Form zum Ziel hat, sondern das allein dazu dient, etwas anderes zu erreichen. Wir sprechen im allgemeinen von einem technischen Handeln, wenn wir uns auf solche Handlungsformen beziehen wollen. 4.3. Das Reich der Formen als Reich der Freiheit - der Bereich des technischen Handelns als Reich der Notwendigkeit Damit sind wir bei einer grundlegenden Unterscheidung angekommen, die das Feld für eine ebenso grundlegende Kontroverse in der Bestimmung des Kulturbegriffs markiert. Sollen wir nur die Artikulationsformen unseres Ausdruckshandelns zur Kultur rechnen oder auch die Organisationsformen unseres technischen Handelns? Sollen wir Technik und Kultur einander gegenüberstellen oder gehört die Technik zur Kultur? Das Problem, das sich in dieser Diskussion entwickelt hat, wurzelt vor allem in den Wertungen, die sich an den Kulturbegriff geheftet haben. Ging es doch tatsächlich vielfach darum, die geistige Welt der Kultur von der handwerklich begründeten Welt der Technik freizuhalten und insbesondere das Reich der „Hochkultur", wie man sie in den kanonischen Kunstwerken und vielfach auch in der Religion zu erkennen glaubte, als das wahre Reich
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des Geistes von der Alltagswelt der Technik und ihren berechnenden Denkmustern fernzuhalten. Befreit man sich von solchen Bewertungen, dann wird auch der Blick frei für einen Unterschied, der sich wieder über Formverhältnisse ergibt und im übrigen keinerlei Werthierarchie zwischen dem Ausdruckshandeln und dem technischen Handeln begründet. Dieser Unterschied zeigt sich, wenn wir noch einmal die Rolle der Form betrachten. Wir sahen bereits, daß die Form der Artikulation einen Eigenwert darstellt, dessen Wirkung auf andere Menschen nicht zwingend ist. Welche Wirkung eintritt, hängt davon ab, in welches Verhältnis sich die anderen Menschen zu dieser Äußerung setzen - traditionell formuliert: von einem Akt der Freiheit. Weil die auf die Form gerichtete Arbeit im Werden der Form selbst ihr Ziel findet - wie z. B. in der Klarheit einer Artikulation, in ihrer Genauigkeit, in ihrer inneren Bewegtheit und Spannung, in ihrer Ausgewogenheit oder in ihren anderen Formcharakteristika - , entsteht ein eigenes Reich der Formen, in dem sich Form auf Form bezieht. Daß dieser Bezug letztlich die Freiheit einfordert, etwas zum Ausdruck zu bringen und sich zu einem Ausdruck wieder in einer artikulierten Weise zu verhalten, macht die Eigentümlichkeit dieses Formenreiches aus und begründet den Strukturunterschied zur Welt des technischen Handelns. Im technischen Handelns geht es gerade nicht um die Freiheit von Formverhältnissen, sondern darum, mit einem Handeln ein bestimmtes Ergebnis - möglichst effektiv und sicher - zu erreichen. Die Form des technischen Handelns, seine innere Organisation und sein Bezug auf Werkzeuge, Geräte, Maschinen und Industrieanlagen, können nicht als Selbstzweck angesehen werden - auch wenn wir durchaus von einer Ästhetik technischer Verhältnisse reden können. Letztlich geht es hier darum, mit einem möglichst geringen Aufwand und d. h. vor allem: mit einem möglichst geringen Verbrauch von Ressourcen - eine möglichst große Wirkung zu erzielen und dieses Verhältnis von Aufwand und Wirkung möglichst stabil zu halten und zu kontrollieren. Die angestrebte Effektivität, Stabilität und Kontrollierbarkeit lassen sich nur für physische Verhältnisse erreichen und konstituieren in diesem Sinne kein Reich der Formen, das die Bezüge zwischen den Formen in einem Reich der Freiheit entstehen läßt. Damit ergibt sich für die Welt des technischen Handelns eine andere Struktur als für die Welt unseres Ausdruckshandelns. Wohlgemerkt, damit ist keine Wertung verbunden. Das technische Handeln liefert uns nicht nur die Grundlagen unserer Lebenssicherung, sondern weist auch eine Komplexität der inneren Strukturierung auf, die vielfach nur noch durch eine hohe Expertenkompetenz zu bewältigen ist. Würde man das technische Handeln der Formkultur des Ausdruckshandelns unterordnen, dann müßte man auch die Wissenschaften, auf die sich das technische Handeln im allgemeinen stützt, als einen geistig weniger wertvollen Bereich gegenüber etwa der Kunst ansehen, die man ihrerseits als eine Hochform unseres Ausdruckshandelns ansehen könnte. Worum es hier alleine geht, ist die Verdeutlichung einer grundlegenden Strukturdifferenz zwischen dem Reich der Ausdrucksformen und dem Reich der Formen des technischen Handelns, die auch eine unterschiedliche Zugangsweise in der philosophischen Betrachtung begründet. Nimmt man die Bedeutung der Form und der Form-Wirkverhältnisse als konstitutiven Bestimmungsgrund für einen Kulturbegriff, dann kann man aus dieser strukturellen Diffe-
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renz ableiten, daß wir von Kultur im engeren Sinne tatsächlich nur dann reden können, wenn wir uns auf das Reich der Ausdrucksformen beziehen. Mit einer solchen Eingrenzung des Kulturbegriffs wird mit der Kultur zugleich das Thema der Freiheit, auf die die Wirkverhältnisse in einem Reich der Formen ja angewiesen bleiben, thematisiert. In einem gewissen Sinne nehmen wir damit die Unterscheidung zwischen einem Reich der Freiheit und einem Reich der Notwendigkeit wieder auf, die für die philosophische Tradition insbesondere seit Kant eine so große Rolle gespielt hat. Auch hier mag, wenn man die vorgetragenen Überlegungen in einer Definition zusammenzufassen versucht, das Ergebnis karg erscheinen. Läßt sich doch der vorgeschlagene Kulturbegriff im engeren Sinne dadurch definieren, daß man unter Kultur alle in einer Gesellschaft etablierten Ausdrucksformen versteht die als Muster auf das Ausdruckshandeln in dieser Gesellschaft wirken. Einer solchen Kultur im engeren Sinne wäre die Technik gegenüberzustellen, zu der alle Formen des technischen Handelns gehören, die in einer eigenen philosophischen Reflexion auf die Technik, in einer Technikphilosophie, zu thematisieren sind. Daß diese Unterscheidung zwischen einer Kultur- und einer Technikphilosophie nur eine perspektivische Anfangsdifferenz markiert, zeigen weitere Überlegungen, die der technischen Entwicklung innerhalb der Ausdruckskultur gelten. Es ginge dabei um die wechselseitigen Einflüsse, die zwischen den Formen des Ausdruckshandelns und des technischen Handelns bestehen. Zu untersuchen wären damit die Medien der Artikulation und die über diese Medien entwickelten Kulturtechniken. Die Schrift, der Buchdruck, die elektronische Datenverarbeitung und deren weltweite Organisation im Internet liefern dabei prominente Beispiele. In seiner Brauchbarkeit für diese Untersuchungen hat der hier vorgeschlagene Kulturbegriff sich auszuweisen. Tatsächlich war es dieser mediale oder auch technische Aspekt der Artikulation, der im Hintergrund meiner Überlegungen stand und mich die Eigenstruktur der Artikulationsformen sehr betonen ließ. Die Ausleuchtung dieses Hintergrundes werde ich aber einem anderen Vortrag oder den anderen heute Vortragenden überlassen müssen.
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Cambridge/New York 1996. Ernst Cassirer, Philosophie
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der symbolischen
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Darmstadt s 1982 (1. Auflage Berlin 1929). Marcus Tullius Cicero, Tusculanae Disputationes.
Gespräche in Tusculum, mit ausführlichen Anmerkungen
7
neu hg. von Olof Gigon, Düsseldorf/Zürich 1998. Luzius Fetz, Ontotogie der Innerlichkeit. Reditio completa und Processio
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WAS IST KULTUR?
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Jens Heise, Präsentative Symbole. Elemente einer Philosophie der Kulturen - Europa und Japan, St. Augustin 2003. Wilhelm Kamiah, Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik. Mannheim/Wien/Zürich 1973. Heinrich von Kleist, „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden", in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner. Zweiter Band, München 61977. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984. Maurice Merleau-Ponty, „Das Kino und die neue Psychologie", in: ders., Sinn und Nicht-Sinn, aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. München 2000. Wilhelm E. Mühlmann, Artikel Kultur, in: Wörterbuch der Soziologie.21969. Wilhelm Perpeet, Artikel „Kultur", „Kulturphilosophie", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 4:1-K. Basel/Stuttgart 1976. John Cowper Powys, Kultur als Lebenskunst, aus dem Englischen von Susan Nurmi-Schomers und Christian Schomers, mit einer Einleitung von Elmar Schenkel, Hamburg 1989 (Amerikanische Originalausgabe 1929: The Meaning of Culture).
BIRGIT RECKI
Die Idee der Kultur Über praktisches Selbstverständnis im Kontext
Siehst du den Stern dort oben? Unter ihm liegt die Autostraße, und die bringt uns nach Hause. Clark Gable zu Marilyn Monroe in John Huston: „Misfits" / „Nicht gesellschaftsfähig"
„Grenzen und Grenzüberschreitungen" - „Das Grenzproblem in der Philosophie der Kulturen": unter den Titeln des Kongresses wie auch dieses Kolloquiums bietet es sich auf den ersten Blick an, all die Grenzen zu behandeln, die für Begriff und Verständnis der Kultur grundlegend sind, und die, wo es um die Bestimmung des Kollektivsingulars Kultur geht, allesamt als analytische Trennungen an einem komplexen Ganzen verstanden werden müssen - allen voran über die Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen Wildnis und Zivilisation. Die Kultur steht von vornherein im begrifflichen Kontrast zur Natur als dem Gegebenen und in unseren Handlungszusammenhängen zwar notwendig Vorausgesetzten, aber nur begrenzt Verfugbaren. Sodann wäre über die Grenzen der Möglichkeiten von Übersetzung und Verständnis zu sprechen, wo es um das Verhältnis zwischen den verschiedenen Kulturen geht, in denen sich historisch in spezifischen Differenzen jenes genus proximum ausgeprägt hat, welches der Kollektivsingular bezeichnet: Der Tatsache, daß es in der Natur des Menschen liegt, Kultur zu haben, widerspricht nicht jene andere, daß die Menschen dieser Bestimmung in Formen einer im einzelnen nicht aufeinander reduzierbaren Vielfalt Ausdruck geben. Schon Georg Simmel hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich in jeder Kulturleistung eine eigenartige Einheit von Akten des Verbindens und des Trennens vollzieht (vgl. Simmel 1957, 1), und es ist diese differenzierende Synthesis, die sich in allen möglichen Formen bis in die höchsten Stufen der Distinktion kultureller Gebilde mitteilt. Wo andere - Theoretiker und Kritiker - dazu neigen, zwei gänzlich verschiedene und unvereinbare Kulturfcegn^e zu vermuten, sehe ich einen fließenden Übergang zwischen jenem Begriff der Kultur, dessen universaler Umfang die menschliche Natur als solche erfassen soll und der dafür steht, daß „Kulturphilosophie" ein Synonym für philosophische Anthropologie ist, und jenem vermeintlich entgegengesetzten, der die Menschen in ihren kollektiven Besonderheiten voneinander abzugrenzen erlaubt. Mit diesem fließenden Übergang habe ich auch bereits ein Exempel dafür gegeben, wie ich mir überhaupt den Umgang mit der so häufig behaupteten totalen Differenz und Unvereinbarkeit in den Weisen der Ver-
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wendung des Ausdrucks „Kultur" vorstelle: Der Begriff der Kultur hat verschiedene Dimensionen. Er kann somit alle Aspekte des gestaltenden Elementes im menschlichen Selbstverhältnis bezeichnen und damit das Charakteristikum der Menschheit, Wirklichkeit nicht anders als in einer produktiv angeeigneten Welt zu haben. Von den unscheinbarsten bis zu den anspruchsvollsten Formen der gestaltenden Produktivität realisiert sich in der Kultur der Anspruch des Menschen, etwas aus sich selbst zu machen, indem er etwas aus den vorgefundenen Bedingungen macht. Kultur ist das Element menschlicher Lebensgestaltung. Ihre Leistung ist in der produktiven Vermittlung des Weltbezuges zu sehen. Die Kultur entspringt damit im poietischen Aspekt menschlicher Tätigkeit, das Paradigma ihrer Leistungen ist das Werk. Die Wirklichkeit des Menschen in der Kultur besteht im Prozeß werkhafter Objektivationen aller Art (vgl. Recki 2004b). Es ist dieser in der Herstellung von Werken kulminierende Funktionssinn, der die spezifische Differenz der hier investierten Tätigkeit gegen die in der problembezogenen kommunikativen Praxis geleistete und damit den funktionalen Unterschied von Kultur und Gesellschaft ausmacht - eine weitere Grenze, die wir auf der Folie einer handlungstheoretischen Gleichursprünglichkeit der Begriffe nicht überbetonen sollten. Mit dieser kleinen Skizze sei vorab deutlich gemacht, daß diese Grenzen und Differenzen des Kulturbegriffs nicht als ernsthafte Bedrohung einer konsistenten, sinnvollen Theorie der Kultur zu begreifen sind. Wir haben darin vielmehr im wesentlichen nachvollziehbare Spezifizierungen zu sehen. Deshalb möchte ich auch all diese Grenzen auf sich beruhen lassen. Ich möchte mich stattdessen mit der Überschreitung einer Grenze befassen, die sich als konstitutives Element unseres Selbstverständnisses im Inneren des Kulturbegriffs vollzieht und die unter dem Gesichtspunkt strengen Methodenbewußtseins durchaus als ein Einwand gegen den Versuch systematischer Kulturphilosophie angeführt wird. Die Rede ist von der Grenzüberschreitung zwischen deskriptivem und normativem Verständnis von Kultur, und ich möchte mit meinen Ausführungen dafür werben, daß sie im gleichen Maße und im gleichen Sinne zum Begriff der Kultur selbst gehört, wie es zu unserem eigenen Selbstverständnis gehört, daß wir normative Ansprüche an uns selbst haben. In dem gleichen Sinn, in dem wir in generalisierender Perspektive nicht sagen können, was wir sind, ohne dabei über das zu sprechen, was wir sein wollen und sein sollen, gehört es zu unserem Begriff von Kultur, daß diese uns nicht gleichgültig sein kann. Wir können sie nicht beschreiben, ohne sie zugleich grundsätzlich in ihrem Bestand zu affirmieren. Daß wir sie im einzelnen unter Umständen heftig kritisieren, stellt keinen Widerspruch zu dieser Affirmation im Ganzen dar, sondern setzt sie voraus und bestätigt sie: Nur wo der Aspekt des Seinsollens insgesamt außer Frage steht, besteht überhaupt die Verbindlichkeit, auf Grund derer sich jeder einzelne seiner Aspekte ernsthaft unter dem Gesichtspunkt des So-oder-anders-sein-Sollens betrachten läßt. Wenn wir nach Beispielen für diese normative Besetzung der Kultur suchen, so werden wir sie in der glücklichen Identifikation ebenso häufig finden wie in der scheiternden oder verwehrten: Wir haben die Möglichkeit, stolz zu sein auf Errungenschaften der Menschheit als solche, ganz gleich ob diese historisch und regional aus dem antiken Griechenland oder aus der Neuen Welt kommen. Umgekehrt empfinden wir Scham und Empörung, die beiden wichtigsten Gefühle der moralischen Abgrenzung (vgl. Tugendhat 1993, 57 ff.) angesichts großer Roheiten, Gemeinheiten und Verbrechen, die unter den Bedingungen der Kultur möglich sind - ja, wir bekunden überdies unser intuitives Vertrauen in deren
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Birgit Recki
historischen Fortschritt durch die Entgeisterung darüber, daß „dies" in einer hochentwickelten Kultur noch möglich ist. Und - ein Beispiel, dem im Negativen besonderer Aufschlußwert zukommt: Selbst angesichts solcher Zerstörung menschlicher Werke, die durch Naturkatastrophen bedingt ist, verspüren wir in unserer Hilflosigkeit das Bedürfnis, irgendwem einen Vorwurf zu machen. Wir können die sinnlose Zerstörung menschlicher Lebenszusammenhänge und Leistungen noch nicht einmal dort als einfache Tatsache hinnehmen, wo niemand dafür verantwortlich zu machen ist. Daß das Erdbeben von Lissabon 1755 für die Aufklärer in Europa zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Möglichkeit einer Theodizee gefuhrt hat (vgl. The Lisbon earthquake 1990; Breidert 1994; Neiman 2002), markiert von daher etwas, das womöglich auf lange Sicht viel wichtiger ist als die Verwerfungen im theologisch orientierten Bewußtsein. Es markiert wie die anderen Beispiele, daß Kultur keine bloße Tatsache ist, die sich im Blick gleichsam von außen notieren ließe. Jedenfalls ist sie es nicht für uns, um deren Sache es geht, wenn von Kultur die Rede ist. Kultur ist von vornherein evaluativ - und von daher auch mit normativem Anspruch - besetzt. Weil es für uns als kulturellen Wesen keinen kulturfreien Aspekt gibt, teilt sich ihr, wo sie zum Gegenstand unserer Betrachtung wird, ebender Anspruch mit, den wir in unserem Selbstverständnis vorfinden. Kultur ist damit keine bloße Tatsache, sondern zugleich eine Idee, genauer eine Idee der praktischen Vernunft - oder mit einem Synonym, das wir aus dem Eröffnungsvortrag von Wolfram Hogrebe gern übernehmen: Sie ist ein normativer Programmbegriff, dessen positiver Sinn sich nur im Wechselspiel zwischen Beschreibung, Bewertung und Anspruch explizieren läßt. Hatte Hogrebe im Begriff des Menschen und der Menschheit einen solchen normativen Programmbegriff kenntlich gemacht, so möchte ich dies für den Begriff jener genuin menschlichen Sphäre des tätigen Selbstverhältnisses tun, die wir in der Kultur zu sehen haben. Das extreme Gegenbeispiel für die damit eingeschlagene Reflexionslinie, die Entdeckung, daß bei dem ersten rousseauistischen Kulturkritiker, bei Rousseau, gerade Natur als der Begriff, der sich rein strukturell auf das Gegebene, das Vorgefundene bezieht, als ein solcher normativer Programmbegriff fungiert (vgl. Rousseau 1755), soll uns in diesem Feld nicht durch die Vermutung eines Beliebigkeitsgenerators irrewerden lassen: Alle totalisierenden Begriffe lassen sich so verwenden, insofern sie Einheiten betreffen, denen wir uns selbst zurechnen und in deren Konzeption wir mithin normative Ansprüche investieren. Es gibt dabei aber durchaus ein Kriterium für die Überzeugungskraft solcher praktischer Ideen, und das liegt in ihrer Rückführung auf eine Instanz, die als aktiver Ursprung praktischer Wertsetzung glaubwürdig in Betracht kommt. Der genuine Bereich des Menschen oder dessen, was seinem Begriff noch als funktionelles Substrat vorausgedacht werden mag, kommt deshalb für die Bildung solcher normativer Programmbegriffe deutlich eher in Betracht als die Natur. Wir haben die Möglichkeit, Natur als praktische Idee zu begreifen bis hin zu der Vorstellung, Anleitungen zur Lebensführung aus den in ihr versammelten Elementen der Reinheit, der Authentizität, der ursprünglichen Güte, des richtigen Maßes, der Harmonie abzuleiten. Doch wir müssen dies nicht tun - der Begriff der Natur legt dies nicht als das einzig angemessene Verständnis nahe, und wenn wir es tun, ist uns dabei bewußt, daß wir eine Projektion vornehmen (vgl. Kant 1788, 181 f.) - während es auf der anderen Seite artifizieller Veranstaltungen bedürfte, den Begriff der Kultur aller praktischen Implikationen zu entkleiden und ihn rein deskriptiv zu verwenden. Es entschädigt uns für manche Gedan-
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kenlosigkeit, daß Rousseau etwas davon dann doch noch selbst gemerkt und anders, als das Rezeptionsgerücht es will, eben nicht das Zurück zur Natur, sondern die Flucht nach vorn in den Gesellschaftsvertrag zum theoretischen Begründungsprogramm gemacht hat. Nicht um Beweise für meine These von der konstitutiven Normativität des Kulturbegriffs anzuführen, sondern um bessere Einsicht in den darin enthaltenen Sinn zu gewinnen, möchte ich sie im folgenden an einem kleinen Tableau klassischer Positionen illustrieren: an Texten von Piaton, Kant, Georg Simmel und Ernst Cassirer.
1. Platón: Die göttlichen Ergänzungen Im Protagoras, in dem es um die Lehrbarkeit der Tugend geht, wird in einem Mythos erzählt, wie die Technik zu den Menschen gekommen ist (Piaton, Protagoras, 320c-322d): Der Mensch ist bei der Verteilung der natürlichen Güter schlechter weggekommen als alle anderen Lebewesen. Prometheus stiehlt daraufhin den Göttern das Feuer des Hephaistos und die Weisheit der Athene, und damit die Künste des Schmiedens und der Weberei, um sie den Menschen zu bringen. Zeus fügt den Gaben zum Überleben der Menschheit schließlich noch die Scham und das Recht als politische Tugend hinzu (aidos; auch: Hochachtung, Ehrerbietung, und dike)\ ob er dies in der Absicht tut, die unzureichende Fürsorge des Prometheus vorzufuhren, oder als abgenötigte Bestätigung von dessen Werk, mag offen bleiben. In jedem Fall ist im Rekurs auf die sophistische Gegenüberstellung von physis als dem natürlich Gegebenen und thesis als dem von Menschen Gemachten die Kultur als das begriffen, was ein menschliches Leben in der Gemeinschaft erst ermöglicht - mit Technik, Religion, Sprache und Politik der Inbegriff dessen, was den Menschen zur Kompensation ihrer natürlichen Schwäche von den Göttern zugekommen ist. Von hier ausgehend hat sich über die Jahrhunderte die wechselvolle Auseinandersetzung mit dem Faktum der Kultur entfaltet, immer wieder neu im Hin und Her zwischen Bejahung und Verwerfung der prometheischen Kompensation, zwischen dem Beklagen des menschlichen Schicksals als eines Mängelwesens und der Bestreitung des mangelhaften Charakters in der Umdeutung, die produktive Offenheit sei das bessere Los (vgl. Recki 1999). Der für den gegenwärtigen Zusammenhang entscheidende Punkt ist der Umstand, daß das Geschenk des Prometheus, auf dessen Stiftung die philosophische Auseinandersetzung mit der Kultur immer wieder zurückkommt, hier erst vollständig ist, wenn Zeus das elementar bewertende Gefühl für die Würde des Menschen und das Recht als die Institution der politischen Tugend hinzugefügt hat. Zur Idee der Kultur, zum Verständnis ihrer elementaren Funktion gehört, repräsentiert durch diese Momente intuitiver Bewertung und praktischer Ordnung, ein evaluativ-normatives Element, durch das sich die grundlegende emotionale und sittliche Einstellung zu ihr vermittelt, die sich selbst in den Formen radikaler Kulturkritik noch erkennen läßt.
2. Kant: Kultivierung und Moralisierung „Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört
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noch zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Civilisirung aus." So heißt es bei Kant in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Kant 1784, 26). Wegen der damit notorischen Diskrepanz zwischen einer bloß scheinbaren, oberflächlichen und einer durchdringenden Sittlichkeit ist, so Kant weiter, zur „inneren Bildung der Denkungsart" der Bürger „eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens" erforderlich. Schon 1764 in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen hat Kant jenen erst gegen Ende der 70er Jahre und in der Kritik der Urteilskraft begründeten, systematisch folgenreichen Begriff einer Natur, die absichtsvoll mit den Menschen verfährt und sich dabei der Kultur als Mittel bedient - ein Gedanke, mit dem die Rousseauische Entgegensetzung der guten Natur und der bösen Kultur bereits überwunden ist. Trotzdem hat sich in der zitierten Stelle aus der Idee noch lange nach der antirousseauistischen Wende der 60er Jahre etwas wie eine rousseauistische Reminiszenz in der Formulierung halten können: „Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit." Ich möchte das Augenmerk nicht vorrangig auf diesen rousseauistischen Reflex lenken. Es kommt mir vielmehr auf die Durchdringung von Moralität und Kultur an, die hier betont ist (vgl. Bartuschat 1993). Wenn Kant die „Idee der Moralität" der Kultur zuordnet, so ist damit keine systematische Alternative, kein Widerspruch zu ihrer uns geläufigen Zuordnung zur praktischen Vernunft gemeint, sondern auf eine historische Bedingung von deren empirischer Betätigung hingewiesen: Kant zählt die Moralisierung gemeinsam mit Kunst und Wissenschaft zur Kultur als dem Inbegriff von Formen der verfeinernden und verbessernden Bearbeitung der menschlichen Natur. In diesem Sinne kann er in der Metaphysik der Sitten mit Bezug auf die eigenen „Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte)" von deren „Anbau (cultura)" sprechen (Kant 1797, 580). Nur in der Kultur hat der Mensch die Möglichkeit, seine Einsichten aus praktischer Vernunft auch zu verwirklichen. Daß damit nicht allein durch die Behauptung eines engen Wirkungszusammenhanges von Kultivierung und Moralität, sondern zusätzlich durch die Abgrenzung einer bloß oberflächlichen von einer durchdringenden, vor den Ansprüchen der praktischen Vernunft bestehenden Sublimierung an der Fassung des normativen Kulturbegriffs gearbeitet wird, bezeugt die Entgegensetzung von Kultivierung und Zivilisierung, die hier noch nicht im Dienste jener ideologischen, völkisch-nationalen Verwerfung steht, als die sie sich für uns im Umfeld des Ersten Weltkrieges diskreditiert hat. Das Entscheidende ist: Kant will auf die völlige Durchdringung von Kultur und Moralität hinaus. Wie es für den Transzendentalphilosophen möglich ist, die Moralität unter die Kultur zu subsumieren, läßt sich im Rekurs auf jene Stelle im § 83 der Kritik der teleologischen Urteilskraft verdeutlichen, mit der Kant die Kultur als Inbegriff positiver Fertigkeiten bestimmt, als „Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)" (Kant 1790, 431). Die Kultur kann das vernünftige Wesen - Kant meint den Menschen - nicht anders in der Entwicklung seiner positiven Fertigkeiten fördern, sie kann seine „Tauglichkeit [...]zu beliebigen Zwecken überhaupt" nicht anders hervorbringen, als indem sie ihn zugleich in seiner Freiheit hervorbringt. Denn es liegt in der Natur dieser Tauglichkeit, daß der Mensch sie selbst, also: selbsttätig entwickeln muß. Da die Entfaltung von Freiheit als Selbstbestimmung gegen die allenthalben mögliche Fremdbestimmung aber nur in der Form einer
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eigenen Gesetzgebung gesichert werden kann, ist in Kants Verständnis von Freiheit als Autonomie auch die Moralität impliziert. Das Implikationsverhältnis von Kultur und Freiheit hat Kant in keinem Sachartikel seiner kritischen Moralphilosophie so entschieden zur Geltung gebracht wie in dem exemplarischen Fall zur Bestimmung einer Pflicht gegen sich selber, den er bei der Exposition seiner Grundbegriffe in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten anfuhrt: als die Pflicht des einzelnen, seine eigenen Möglichkeiten, seine Anlagen und Begabungen, nach besten Kräften auszubilden, also - in der Formulierung der Metaphysik der Sitten - den „Anbau (cultura)" der eigenen „Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte)" zu betreiben (vgl. Kant 1785, 422f). Weil aber die Kultur das Medium zur Entfaltung der eigenen Möglichkeiten, zur Hervorbringung der Tauglichkeit des vernünftigen Wesens nicht nur im Gattungsmaßstab zu beliebigen Zwecken, sondern auch im individuellen Maßstab zu den ganz spezifischen Zwecken der eigenen Befähigung und Begabung ist, deshalb brauchen wir sie zur Erfüllung dieser Pflicht gegen uns selbst. In diesem Sinne gilt nicht allein die Bestimmung aus der Idee zu einer allgemeinen Geschichte, daß die Idee der Moralität zur Kultur gehört, sondern auch umgekehrt: die Idee der Kultur gehört zu Moralität.
3. Georg Simmel: Der normative Sinn des Werks Georg Simmel hat für den Charakter emphatischer Bewertung, für den normativen Sinn des Kulturbegriffs ein einfaches anschauliches Beispiel gegeben, um zu illustrieren, daß die Struktur der Zwecktätigkeit menschlicher Handlungen allein den spezifischen Sinn kultureller Leistungen noch nicht trifft: Wenn ein Junge dem anderen ein Bein stellt und ihn zum Stolpern bringt, dann erfüllt dieser Vorgang zwar den Begriff einer zweckgerichteten Tätigkeit, einer Handlung; doch wir haben Schwierigkeiten, diese Handlung als einen Beitrag zur Kultur zu subsumieren (vgl. Simmel 1908, 87). Simmel bringt auf diese Weise das poietische Moment, das produktiv auf den Werkcharakter ausgerichtete Moment des Handelns zur Geltung, und er hat im selben Zuge alles Destruktive aus dem Begriff der Kultur verwiesen. Daß dies nicht das letzte Wort seiner kulturphilosophischen Position sein kann, macht das später entwickelte Theorem von der Tragödie der Kultur deutlich. Demnach ist eigentlich alles, was der Mensch hervorbringt, eine Weise seiner Selbstentfaltung. Der Prozeß der Kultur führt in seiner arbeitsteiligen Spezialisierung aber zwangsläufig zu einer Anhäufung und Verselbständigung der Objekte gegen ihre Urheber, und damit zu einem Syndrom der Überforderung durch die eigenen Produkte. Die Menschen haben keine Chance mehr, sich die „objektive Kultur", wie Simmel in freier Variation der Hegeischen Unterscheidung von objektivem und subjektivem Geist formuliert, zum Vorteil ihrer „subjektiven Kultur" anzueignen. Von dem Problem, das mit dieser These berührt ist, kann uns keine kulturelle Entwicklung befreien, weil es sich selbst aus dem Wesen der kulturellen Entwicklung ergibt und mit jeder ihrer Errungenschaften reproduziert. Weil die gegen die Kultur gerichteten vernichtenden Kräfte aus ihrer eigenen Dynamik entspringen und sich mit der so entbundenen Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihr selbst angelegt ist, spricht Simmel nicht unprätentiös von Problemen oder von Krise, sondern absichtsvoll von der „Tragödie der Kultur" (vgl. Simmel 1911).
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4. Ernst Cassirer: Das Ethos der Freiheit Ernst Cassirer, dessen elaborierte Kulturphilosophie sich darin als die konsequentere Verknüpfung des Kantischen Freiheitsbegriffs mit dem poietischen Verständnis kultureller Gestaltung darstellt, hat Simmel in dieser seither vielgelobten Diagnose der modernen Kultur widersprochen. Simmeis tragische Dramatisierung der Schwierigkeiten in der Kultur kommt nach seinem Verständnis der Verkennung einer konstitutiven Bedingung gleich, die in der Kulturleistung immer wieder aufzunehmen und zu bearbeiten ist. Für ihn offenbart sich Simmel mit seiner Exposition vor allem als ein Mystiker, weil er mit seiner tragischen Sicht eine geheime Idealvorstellung zu erkennen gibt, die nach Cassirer theoretisch haltlos ist und praktisch nur zu überspannten Erwartungen führen kann: Es sei das Ideal der Einheit von Ich und äußerer Welt, das zu jener Dämonisierung führe, mit der die Verselbständigung der Objekte gegen die Subjekte als das letzte Wort genommen wird, so als käme der Prozeß der Kultur in einer bloßen Anhäufung von lauter Dingen an irgendeiner Stelle zum Stillstand. Die Verselbständigung der Werke haben wir mit Cassirer vielmehr als eine konstitutive, und das heißt hier: eine immer wieder eintretende und immer wieder zu überwindende Phase des kulturellen Prozesses zu begreifen. Was Simmel als die „Tragödie der Kultur" beschreibt, ist für Cassirer „die dialektische Struktur des Kulturbewußtseins" (Cassirer 1942, 105). Insbesondere ist es der Dualismus zwischen objektiver und subjektiver Kultur, den Cassirer bestreitet: Im Werk, so macht Cassirer geltend, ist schließlich nicht mehr zu sehen „als eine menschliche Tat, die sich zum Sein verdichtet hat" (127); das Werk bleibt bei aller Bedeutsamkeit doch immer nur „ein Durchgangspunkt" (110) - ein „Vermittler zwischen Ich und Du" (111). Es ist das kommunikative und damit zugleich das soziale Element aller kulturellen Produktivität, dessen synthetische, grundsätzlich zur Aufhebung des Gegensatzes tendierende Funktion er als integral ins Bewußtsein hebt. Nicht das dualistische Modell der Entgegensetzung von Ich und Werk , sondern erst die Triade von Ich, Werk und Du taugt zum Verständnis des Kulturprozesses. Der entschiedene Einspruch, der mit dieser kommunikativen Vervollständigung des Kulturbegriffs verbunden ist, darf mit Verleugnung der Konflikte und Krisen in der Kultur nicht verwechselt werden. Von dem metaphysischen Optimismus, die Kultur als eine prästabilierte Harmonie zu begreifen, ist Cassirer weit entfernt (vgl. Orth 2002). Was er allerdings in seinen Reflexionen behauptet, ist ein praktischer Optimismus. Auch für ihn ist die Kultur „kein ruhiger Ablauf, sondern sie ist ein Tun, das stets von neuem einsetzen muß, und das seines Zieles niemals sicher ist. ... Alles, was sie aufgebaut hat, droht ihr immer wieder unter den Händen zu zerbrechen". (Cassirer 1942, 109) Er markiert damit wie schon in früheren Texten den ausdrücklich so genannten agonalen Charakter der Kultur (113). Am Grunde von Cassirers Kritik ist ersichtlich kein harmonistisches Weltbild wirksam - wohl aber ein humanistisches Selbstverständnis. Cassirer sieht generell im Blick auf die Spannungen, Konflikte und Krisen der Kultur keinen guten Grund, dieses humanistische Selbstverständnis zur Disposition zu stellen. Im Gegenteil ist ihm bewußt, daß dieses seine Funktion immer schon und immer wieder allein im Hinblick auf jene Probleme zu erweisen hat. Die epistemologische Naivität des unbegriffenen mimetischen Fehlschlusses, welcher der zeitgenössischen Kritik so gern unterläuft - so als wäre eine Position des Humanismus gleichsam spiegelbildlich nur so lange vertretbar, wie es die Zustände in der Welt eben
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zulassen - , verbietet sich durch die Einsicht in das immer schon normative Element jeden Humanismus'. Diese Einsicht, in welcher der normative Begriff der Kultur kulminiert, bildet den systematischen Hintergrund von Cassirers philosophischem Werk (vgl. auch Recki 2003; 2004a). Was Cassirer mit dem Hinweis auf die Dialektik und damit auf die Permanenz des Prozesses kultureller Auseinandersetzung vertritt, kommt einer positiven Arbeitshypothese gleich. In seinem Einspruch gegen Simmel können wir eine konkrete Art und Weise beobachten, wie sich die Einsicht in die Unverzichtbarkeit der Kultur für die Realisierung menschlicher Freiheit in der deskriptiven Konzeption der Kultur selbst Geltung verschafft. Wir werden uns selbst als kulturellen Wesen nicht gerecht, ja wir bedrohen uns selbst mit der Gefahr der Paralyse unserer praktisch-poietischen Potenzen, wenn wir die Kultur als eine Tragödie beschreiben - und uns damit am Ende auch praktisch auf die Rolle von ergriffenen Zuschauern festlegen. Cassirers gegen Simmel vorgebrachter Einwand, seine Vervollständigung des bloß dualistischen Modells von Ich und Werk um das kommunikative Ferment einer Vermittlung zwischen Ich und Du, bringt sinngemäß auch die Unabsehbarkeit menschlicher Spontaneität zur Geltung und repräsentiert damit im Medium der Theorie bereits eine praktische Form der Achtung vor der Freiheit der anderen. In diesem Hinweis ist zweifellos eine praxisorientierende, ermutigende Einsicht der Theorie zu sehen, und damit - für unsere Fragestellung - ein Moment der ethischen Besetzung von Kultur als solcher erkennbar. Die Moral von der Geschieht', die hier denkbar unprätentiös artikuliert ist und deshalb leicht übersehen werden kann: Wir haben die Konflikte und Krisen der Kultur ebensosehr konzeptuell zu entdramatisieren wie zu akzeptieren, um das Ethos der Freiheit zu bestärken.
Schluß: Drei methodische Konsequenzen Die vier exemplarischen Stationen bei Piaton, Kant, Simmel und Cassirer sollten uns mit zunehmender Prägnanz etwas über die Investition moralisch-praktischer Ansprüche in den Begriff der Kultur zeigen und dabei vorführen, an welchen Formen sich ablesen läßt, daß Kultur nicht bloß eine empirische Tatsache, sondern immer auch eine praktische Vernunftidee ist. Kultur ist, indem sie das grundlegende Element der Entfaltung der menschlichen Natur ist, das poietische Medium der Erhaltung, Gestaltung und Steigerung des Lebens, und sie ist eben darin das Medium der Realisierung von Ansprüchen, die nicht aufgehen in der Partikularität des im einzelnen Bezweckten - sondern sich auf die Verfassung des Ganzen und unsere Stellung in und zu ihm erstrecken. Da Kultur die tätige Selbstauslegung des Menschen ist, für dessen Selbstverständnis normative Ansprüche konstitutiv sind, projizieren wir den evaluativ-normativen Charakter des humanen Selbstverständnisses unweigerlich auf das Kulturverständnis. Es hat somit ganz den Anschein, daß wir in einem philosophischen Begriff der Kultur, welcher deren Bindung an das praktische Selbstverständnis angemessen artikulieren wollte, beständig gegen eines der bestgehüteten Dogmen der neuzeitlichen Ethik verstoßen müßten: Gegen das Verbot des Fehlschlusses, daß das, was ist, auch sein soll. Zum Glück ist dieser Verstoß einigermaßen harmlos, weil er sich bereits auf der reflektierten Ebene des Selbstverhältnisses abspielt - weil sich mit anderen Worten die implizite Stellungnahme für das Seinsollen nicht auf naturales Sein, sondern auf bereits vermittelte, „zweite" Natur als eine
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solche Wirklichkeit bezieht, in die der Anspruch des Sollens als wesentliche Seinsbedingung schon eingegangen ist. Wenn philosophische Theorien sich von einzelwissenschaftlichen darin unterscheiden, daß in ihnen das Subjekt des Nachdenkens immer auch sein Verhältnis zum Gegenstand und zum Ganzen reflektiert, ist zudem nicht allein die Frage, wie eine wertneutrale, rein deskriptive philosophische Theorie der Kultur möglich ist - sondern auch, ob sie überhaupt wünschenswert wäre. In dieser Grenzüberschreitung zwischen Sein und Sollen im Begriff der Kultur artikuliert sich nicht allein das für den Menschen als kulturelles Wesen unhintergehbare Interesse an deren Bestehen und Florieren, sondern mehr noch jener unhintergehbare Selbstanspruch, der zum poietischen Sinn von Kultur die gleichursprüngliche praktische Ergänzung bildet. Es sind zunächst drei Konsequenzen, die sich mir nach dieser Überlegung aufdrängen. Die erste Konsequenz: Die gelegentlich begegnenden Einwände gegen Kulturphilosophie überhaupt, die sich auf die hier dargestellte Unschärferelation im Begriff der Kultur selbst berufen, sind zurückzuweisen im Blick auf die Aufgabe der Philosophie, die reflexive Explikation des menschlichen Selbstverständnisses zu leisten. Die zweite Konsequenz, die sich insbesondere mit der Einsicht aus Cassirers Argumentation gegen Simmel illustrieren läßt: Wir haben nicht allein das Recht, sondern geradezu die Pflicht, über die Kultur so zu denken und uns insgesamt so zu ihr zu verhalten, daß ihr Funktionssinn als produktiver Prozeß der Entfaltung und Gestaltung menschlicher Möglichkeiten zur Geltung kommt bzw. in Geltung bleiben kann. Wenn wir uns darin einig sind, daß mit dem Ausdruck Rousseauismus vor allem die fundamentale, aufs Ganze gehende Kritik der Kultur gemeint sein soll, welche diese gegen Natur ausspielt, dann ist damit nach der Absage an den wertneutralen Positivismus einer bloß deskriptiven Bestandsaufnahme ebenso eine Absage an jegliche Spielart von Rousseauismus angezeigt. Eine dritte Konsequenz scheint mir auf der Hand zu liegen: Es sieht zwar mit Blick auf die bis in die Gegenwartsphilosophie immer wieder einschnappenden Verwerfungen der Kulturphilosophie so aus, daß schon viel gewonnen wäre, wenn sich nur die Einsicht durchsetzen ließe, daß Kulturphilosophie keine Bindestrich-Philosophie ist, die sich auf die hochgeistigen und feinsinnigen Spitzenprodukte intellektueller und ästhetischer Produktivität spezialisiert hat. Doch das allein reicht noch nicht. Es reicht nicht, den Begriff der Kultur auf Grund ihres Bezuges auf das den Menschen Auszeichnende allein der philosophischen Anthropologie zuzuordnen. Damit ist zwar die Größenordnung und die Dignität des Gegenstandsbereichs angemessen beschrieben: Es geht um das, was den Menschen ausmacht. Doch insofern sich das normative Element im menschlichen Selbstverständnis auf den Begriff der Kultur überträgt, gehört dieser gleichermaßen in die praktische Philosophie wie in die Anthropologie, und der Kulturphilosoph ist ein legitimer Grenzgänger zwischen Anthropologie und Ethik.
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Zur Bild-Sprache-Grenze in der Philosophie Visuelle Kultur oder reine Sichtbarkeit?
I. Ein neuer Begriff in den Kulturwissenschaften heißt „visual culture". „Visuelle Kultur" umfaßt alle visuellen Formen, in denen Kultur verkörpert wird, und in Martin Jays Verständnis sogar „alles, das auf die Retina einen Eindruck macht" (Jay 2002, 87). In dieser Kulturkonzeption ist der althergebrachte Begriff des Bildes als Tafelbild, das an der Wand hängt, zu eng. In den letzten Jahren ist viel von einer neuen „Bildwissenschaft" die Rede, über deren Umfang, Praxis und Aufgaben noch gestritten wird. Unklar ist ihr Verhältnis zu etablierten Forschungsfeldern wie Kunstwissenschaft oder Wahrnehmungstheorie, Wissenschaftsgeschichte oder Philosophie, dennoch stimmen alle Diskursteilnehmer darin überein, daß die Frage „Was ist ein Bild?" neu durchdacht werden muß (Boehm 1994). Es gibt verschiedene Impulse zur Entstehung einer Bildwissenschaft. Auf der einen Seite kehren Kunstwissenschaftler zu dem ursprünglichen, ganz allgemeinen Gedanken der „Bildgeschichte" zurück, die Aby Warburg vor einem Jahrhundert entwickelt hat, der lange Zeit nur verkürzt als „Ikonologie" Verbreitung fand - das Aufweisen von Quellen für das in Bildern Dargestellte. In den letzten Jahren begannen international Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftshistoriker der Frage nach der erkenntnistheoretischen Bedeutung von Bildern immer mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Inzwischen wird von vielen Seiten die Forderung laut, einen imagistic turn, visual turn, pictorial turn oder iconic turn in den Wissenschaften herbeizuführen - und natürlicherweise erheben sich auch Gegenstimmen (Kittsteiner 2001). Gibt es einen Anlaß für dieses internationale Interesse an Bildern, etwas, das vergleichbar mit der modernen wissenschaftlichen Revolution ist, von der Kant meinte, sie ließe allen Naturforschern ein Licht aufgehen? Ich meine: ja, und zwar die weltweite, sogenannte digitale Revolution. Mit digitalen Techniken sind Bilder unvergleichbar leichter zu bearbeiten und zu verbreiten als je zuvor. Mit einem Mal sind Bilder tückischer und zuverlässiger denn je. Wir wissen oft gar nicht mehr, wenn wir ein Foto in der Zeitung oder in der Werbung sehen, ob es digital bearbeitet oder ganz am Computer hergestellt worden ist. Inzwischen wird selten ein Kinofilm nur mit einer Camera gemacht (W. J. Mitchell 1994). Gleichzeitig sind digitale Bilder die zuverlässigsten, die es je gegeben hat. Digitale Bildgebungstechniken, etwa in der Medizin, werden von Fachexperten als die überhaupt „wichtigsten aller Methoden, um präzise Diagnosen zu erhalten" bezeichnet (Margulis 1988, 236). Solche Verfahren werden „Bild-
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gebungstechniken" genannt, weil diese Bilder gegeben und nicht abgenommen werden wie bei einer Totenmaske. Die visuelle Darstellung etwa von Hirntumoren wird „berechnet", um den Weg für operative Eingriffe zu leiten. Unsichtbares, wie elektrische Felder im Körper, wird mit Computer mapping zu bewegten Bildern gemacht.1 Archäologen verwenden die gleichen Techniken,2 um Tempel und Städte zu rekonstruieren. Die zukünftigen Entwicklungen der digitalen Bildgebung sind nicht abzusehen. Seit der digitalen Revolution weiß niemand mehr, welche Bildarten noch möglich oder wozu Bilder gut sind. Der platonischen Auffassung der Erkenntnis mit ihrer Herabsetzung der Bildschaffenden widersprachen Wissenschaftler schon 1839, als unabhängig von einander sowohl in der französischen als auch in der britischen Akademie die Photographie als Erkenntnismittel präsentiert wurde. Der im selben Jahr geborene Philosoph Charles Sanders Peirce, der meines Wissens als erster Philosoph über Photographie als Instrument der Erkenntnis nachgedacht hatte, hielt die Erfindung der Photographie für so wichtig für die Astronomie wie die Erfindung des Fernrohrs (Peirce 1931, §102). Er maß ihr deshalb so viel Bedeutung zu, weil Photographien, im Gegensatz zu Zeichnungen, keine Abbildungen auf Grund visueller Ähnlichkeit sind. Peirce nennt solche Ähnlichkeitsbilder „icons", wogegen eine Photographie in seiner Zeichentheorie ein typischer „index" ist. D. h., sie hat ihre Bedeutung dank einer physikalischen Verbindung mit dem Gezeigten. Ein sichtbares indexikalisches Zeichen muß keine optische Ähnlichkeit mit etwas aufzeigen, um als bildliches Zeichen zu füngieren. Ein Wetterhahn, eines von Peirces Lieblingsbeispielen, ähnelt in seinem Aussehen weder dem Wind noch einer Himmelsrichtung, zeigt aber beide indexikalisch an. Schon im Alltag sind Phrasen wie „die Sprache der Bilder" weit verbreitet, und so leuchtete ein Buchtitel wie Nelson Goodmans Sprachen der Kunst jedermann ein. Die Voraussetzung der Sprachähnlichkeit von Bildern behindert aber die Entwicklung einer Bildwissenschaft, weil sie eine voreilige Generalisierung darstellt, die von entscheidenden Charakteristiken von Bildern ablenkt. Ich will das allgemeine Problem der „Bild-SpracheGrenze in der Philosophie" daher auf eine bestimmte und entscheidende Frage beschränken: „Sind Bilder Zeichen?" bzw.: Sind alle Bilder immer Zeichen? Es wäre leicht, dies als eine bloß terminologische Frage zu betrachten, als ein Scheinproblem, lediglich eine Frage des Wortgebrauchs. Aber damit hätten wir uns von vorne herein auf die Sprache als Leitmedium für Philosophie eingelassen und die Anschauung, auf die die Phänomenologie sich beruft, herabsetzt. Ich will hier einen Weg verfolgen, der dieser Entgegensetzung von Sprachanalyse und Phänomenologie ausweicht.
II. Die Frage, Sind Bilder Zeichen?, ist in der bildwissenschaftlichen Diskussion ein umstrittenes Thema. Verschiedene Bildtheoretiker lehnen es ab, Bilder als Zeichen zu betrachten, bzw. sie erkennen schon an, daß Bilder auch als Zeichen zur Verwendung kommen können, lehnen aber die Auffassung ab, daß Bilder damit als Bilder erfaßt sind. Gottfried Boehm will Siehe die National Institutes of Health Website: Center for Biological Field Modeling, Simulation, and Visualization (www.sci.utah.edu/ncrr). Siehe die Website vom Oriental Institute an der University of Chicago (http://www-oi.uchicago.edu/OI/ DEPT/COMP/GIZ/MODEL/Giza_Model. html).
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die Semiotik nicht zur Basis der Bildwissenschaft machen, weil, wie er sagt, die Semiotik „schon fertig ist", und mit ihrer Terminologie Bildern nur einen Platz zuweist. Dies schränkt das Forschungsfeld von Bildwissenschaft von vorne herein auf sprachähnliche Erscheinungen ein.3 Ähnlich hat James Elkins in einem umfangreichen Werk On Pictures and the Words That Fail Them sein Vorhaben als eine „Anti-Semiotik" gekennzeichnet (Elkins 1998, xi), da Worte prinzipiell nicht in der Lage sind, Visuelles zu erfassen. Die Aufgabe einer Bildwissenschaft muß es sein, Bilder endlich als Bilder zu verstehen, ohne sie einer linguistischen oder zeichentheoretischen Terminologie zu unterwerfen. Hierzu ist anzumerken, daß ein theoretischer Ansatz wie der einer Semiotik nur dann einengt, wenn dieser Ansatz für abgeschlossen gilt und in einer bestimmten Ausprägung für maßgebend gehalten wird. Ich will mich nicht auf die von Saussure hergeleitete, an Sprache orientierte Semiotik berufen, sondern von den nicht-sprachzentrierten Ansätzen in der Semiotik von Charles Sanders Peirce und Ernst Cassirer ausgehen, ohne mir dabei den Weg vorschreiben zu lassen. Lambert Wiesing, einer der Fachphilosophen, der die bildtheoretischen Diskussionen vorangebracht hat, ist ein Gegner der Theorie, daß alle Bilder immer Zeichen sind. In einem Text mit dem Titel „Sind Bilder Zeichen?" (Wiesing 1998) spricht er sich dagegen aus, Bilder mit Bildern „als Zeichen" zu identifizieren. Wiesing schlägt vor, Bilder in ihrer sogennannten „reinen Sichtbarkeit" zu betrachten, die er vom Bild als Zeichen unterscheidet. „Eine reine Sichtbarkeit ist dann gegeben", sagt er, „wenn die Sichtbarkeit selbst als eine Entität und nicht mehr als Schein einer Entität verstanden wird" (Wiesing 1997, 163). Ein Bild ist ein Gegenstand „auf dem etwas gesehen werden kann" (Wiesing 1997, 160). Diese Anwesenheit von Abwesendem ist ein semiotisches Phänomen, die reine Sichtbarkeit aber nicht. Meine These ist, daß auch reine Sichtbarkeit, wenn es sie gibt, zeichenhaft ist, vorausgesetzt, daß wir Zeichen anders verstehen, als es die Gegner der Semiotik tun. Charles Sanders Peirce und Ernst Cassirer entwickelten unabhängig von einander Ansätze, die im menschlichen Körper ein Zeichenmedium erblicken und die Wahrnehmung selbst als Zeicheninterpretation verstehen (Peirce 1991; Cassirer 2002). Heute bezeichnet Hans Belting solche Ansätze beim Körper als „Bild-Anthropologie" (Belting 2001). Bei Peirce und Cassirer muß Bild-Anthropologie immer zugleich eine Theorie von Zeichen oder Symbolen sein. Es gibt hier terminologische Schwierigkeiten: für Peirce bezeichnet das Wort „Symbol" eine Art von Zeichen, während Cassirer das Wort „Zeichen" nur für Sinnträger verwendet - was Peirce „Representamen" nennt - und wo Cassirer von einer umfassenden „Symbolfunktion" spricht, spricht Peirce von „semiosis". Ihre Gedanken sind einander sehr nah, trotz der terminologischen Divergenz. Ich werde immer sagen, auf wen ich mich beziehe, um dieses Problem zu mindern. Ich kann auf systematische Gedanken hier nicht eingehen, denn bei diesen Denkern ist die zeichentheoretische Kulturtheorie ein Bestandteil der Philosophie. So ist Peirces Semiotik nicht von seiner Kosmologie und der sogenannten Kategorienlehre zu trennen und Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ist nur verständlich im Zusammenhang mit seiner philosophischen Anthropologie und der Lehre von den Basisphänomenen. Ohne diese systematischen Konzeptionen zu erörtern, werde ich an gewisse Ansätze anknüpfen, um die Bild-Sprache-Grenze zu erläutern.
Diese Bemerkungen machte Boehm in der Diskussion nach dessen Vortrag „Der stumme Logos. Elemente einer Bildwissenschaft", gehalten am 15. Mai 2002 im Wissenschaftskolleg zu Berlin.
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Nelson Goodman ist seit den 1970er Jahren der wohl am meisten gelesene Fachphilosoph in der bildtheoretischen Diskussion. In Sprachen der Kunst ging es ihm mehr um Kunst als um Bilder per se, aber spätestens in seinem Weisen der Welterzeugung wird deutlich, daß sein Ziel die Entwicklung einer Theorie von „Symbolsysteme" (Goodman 1984, 10) ist, die weit mehr als nur Kunst umfaßt. Goodmans sprachphilosophische Orientierung ist in den von ihm diskutierten Bildfunktionen erkennbar: Denotation und Exemplifikation. Ein Bild, etwa von einem Menschen, kann diesen anzeigen und damit die Funktion der Denotation erfüllen. Anderseits kann ein Bild die Art, wie ein Gegenstand in einem Bild dargestellt wird - eine bestimmte Sichtweise - , exemplifizieren. Hier wird nicht ein Gegenstand, Herr soundso, denotiert, sondern Eigenschaften exemplifiziert, die das Bild selbst besitzt, etwa die Düsterkeit seiner Farben. Nach Wiesings Einschätzung sind wir berechtigt davon auszugehen, daß mit der Denotation und der Exemplifikation „die beiden denkbaren Möglichkeiten der bildlichen Bezugnahme vollständig erfaßt" (Wiesing 1998, 97) sind. Diese zwei Funktionen sind bildliche Parallelen der sprachlichen Funktionen der Benennung und der Prädikation. Generell verwendet Goodman in seinen Bildanalysen sprachliche Konzeptionen, etwa in seinen Darlegungen zum „Zitat" in Bildern. Die Frage ist, ob er die Sichtbarkeit damit ganz erfaßt hat. Ich stimme Wiesings Kritik an der Ausschließlichkeit dieser Sprache - Bild Parallelisierung zu, aber Wiesing geht m. E. zu weit, wenn er sich bereit zeigt, den Begriff des Zeichenprozesses zu opfern, um das Phänomen der Bildlichkeit vor einer Reduktion auf Sprache zu retten, denn die reine Sichtbarkeit hat seiner Meinung nach mit Zeichenprozessen nichts mehr zu tun. Sprachen dienen der Kommunikation. Im Gespräch werden wir einig. Sprache soll das Mittel sein zur Verständigung und Überwindung von Differenzen. Die Kunst ist insofern der Sprache ähnlich, als Kunst ihr Publikum weltweit finden kann. Kunst gilt als potentieller Überwinder von Grenzen. Aber Bilder können noch andere Funktionen erfüllen, wie Goodman wohl weiß. In Weisen der Welterzeugung stellt er gleich zu Anfang fest, daß sein Vorhaben eine große Nähe zu Cassirers Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen hat, aber er meldet gleichzeitig Distanz an zu Cassirers „Betonung des Mythos" (Goodman 1964, 13). Mythisches Denken kennt keine klare Grenze zwischen Bildern und Wirklichkeit. In kultischen Riten z. B. wird der Tänzer zu dem Gott, den er darstellt. Goodman kritisiert Cassirers Beschäftigung mit dem mythischen Denken, weil es ihm zu nahe an antiintellektuellem und anti-wissenschaftlichem Denken zu liegen scheint - obwohl Goodman der Gesamtrichtung von Cassirers Philosophie durchaus zustimmt. Ein weiterer Grund für seine Distanz zu Cassirer ist: „sein Interesse an der vergleichenden Untersuchung von Kulturen" (Goodman 1984, 13). Diese zwei Kritikpunkte gehören zusammen, denn Mythologie ist immer ein lokales Phänomen. Ihre Adressaten sind nicht wie in der Kunst Kunstliebhaber und -kenner in aller Welt. Mythische Bilder haben nur einen begrenzten Wirkungskreis, der sich nicht ohne weiteres ausdehnen läßt, weil er mit der Geschichte der betroffenen Menschen eng verbunden ist. Die Mythologie des einen Volkes ist nicht die eines anderen. Wer in diesem Zusammenhang, wie Cassirer, von „Kultur" spricht, muß „Kulturen" meinen und so einen Kulturrelativismus vertreten. Schließlich und vor allem ist es die emotional überwältigende Wirkung mythischer Bilder, die schon Piaton kritisierte - weshalb Goodmans Lösung ist, diese Thematik ganz und gar aus seinen Betrachtungen auszulassen.
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Für Cassirer sind mythische Denkformen nicht wirklich etwas Ursprüngliches. Mythos ist eine symbolische Form, die ihre Entstehung bestimmten Symbolprozessen verdankt, die sich in sichtbaren Formen niederschlagen: in der einmaligen Konkretheit sichtbarer und gestischer Formen wie Tänze, Musik, Masken und rituelle Handlungen. Diese Kulturformen werden nach Cassirers Theorie schon in einer bestimmten Art der Sinneswahrnehmung vorbereitet, die er Ausdrucks¡ | | ; Wahrnehmung nennt. Goodman sagt: „Nicht jede Exemplifikation ist Ausdruck, aber jeder Ausdruck ist Exemplifikation" (Goodman 1997, 59). Er sagt nichts über den besonderen Inhalt von Ausdrucksphänomenen, sondern spricht nur von ihrer Form: ExempliAbbild 1 fikation (Goodman 1997, 96). Cassirer dagegen unterscheidet radikal zwischen Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, der Wahrnehmung von einem „Es" und der Wahrnehmung von einem „Du". Cassirer stimmte mit Darwin darin überein, daß das Verstehen von Ausdruck schon in der Tierwelt vorkommt und daß es primitiver ist als die Dingwahrnehmung. Doch die Fähigkeit, kulturelle symbolische Formen herzustellen, etwa Masken und Riten und vor allem Sprache, ist für Cassirer das spezifische Charakteristikum des Menschen (Cassirer 1995, 38 f.). Der Mensch ist animal symbolicum, aber die Ausdruckswahrnehmung, welche die Spezies Mensch mit der Tierwelt verbindet, ist deshalb auch von besonderer Bedeutung. Daraufkomme ich später noch zurück. Für die traditionelle Zeichentheorie, wie sie in der spätmittelalterlichen Suppositionslehre formuliert ist, sind Zeichen immer Stellvertreter. Wiesing übernimmt diese Auffassung: „Ein Zeichen ist ein Gegenstand, der für etwas anderes steht" (Wiesing 1998, 96). Durch das Festhalten an dieser Definition kommt er dazu, die beiden von Goodman unterschiedenen Bildfunktionen durch die „reine Sichtbarkeit" zu ergänzen, die keinen Zeichencharakter hat. Die reine Sichtbarkeit stellt nichts dar und exemplifiziert nichts, sie zeigt sich nur. Die Verwendung eines Bildes macht es zum Zeichen, aber bei der reinen Sichtbarkeit geht es um keine Verwendung. Eine solche phänomenologische These ist aber erst nachvollziehbar, wenn sie auch als Phänomen aufzeigbar ist. Aber dies ist nicht der Fall.
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Wiesing illustriert seine Idee mit einer Collage von Kurt Schwitters [s. Abbild 1, vorhergehende Seite]. Schwitters Idee, daß eine Collage ein Bild ist, das „weder Gegenstand noch Zustand" ist (Wiesing 1998, 99), sondern nur Formen und Farben vorfuhrt, zeigt für Wiesing wie es in der Kunst zu einer „Entmaterialisierung" des Bildes kommen kann, eben zur reinen Sichtbarkeit. Diese Collage ist, formal betrachtet, ein Beispiel von den Bildern, die der Bildtheoretiker Edward Tufte „visuelle Confectionen" nennt: ein l A T H & aus Bildern gemachtes Bild, denn es W M a t t e r . F - \ besteht aus eindeutigen Teilen, die ¿ ¿ U - a f A Co**°'i •"xbEccuxias TICJÜA wiederum als Bilder gesehen werden •mnä ClVIi I können (Tufte 2002, 121-151). Eins von 'AyT/iOMAS HOBBLS M Tuftes Beispielen kennt jeder Philosoph: ^ ePMAlMUltVKl J B Abraham Bosses Frontispiz zu Hobbes Leviathan [s. Abbild 2], zu dem Horst Bredekamp eine umfangreiche Untersuchung publiziert hat (Bredekamp 1999). Diese Bildart (eine visuelle Confection) hat eine interessante Geschichte, die Tufte mit der rhetorischen Praxis der Renaissance Gedächtniskunst in Zusammenhang bringt. Visuelle Confectionen haben identifizierbare Teile, die Gedanken optisch zu einander in Beziehung setzten. Die Collage von Schwitters ist ein Grenzfall, denn wir können kaum darstellenden Sinn in allen Teilen finden, wohl aber bei allen Teilen in Bosses' Frontispiz zu Hobbes. Ich will von den Teilen dieser Collage [s. Abbild 1] absehen und statt dessen das Bild als Ganzes anschauen. r
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Diese Kollage ist ein abstraktes Bild, da es im Ganzen genommen keine Ähnlichkeit mit einem Gegenstand zeigt. Es exemplifiziert auch keine eindeutige Stimmung. Wiesing weist daraufhin, daß wir es bei diesem Bild mit einem Experiment zu tun haben: zum Thema, was kann ein Bild sein? Da Schwitters ihm den Titel „like an old Master" gibt, wird das Bild zum Versuchsobjekt; ein Bild, das nur aus zusammengeklebten Schnipseln und Resten besteht, das dennoch den Anspruch erhebt, ein Kunstwerk zu sein. Wir sind aber mit dieser Art von Betrachtung über die Reflexivität moderner Kunst weit entfernt von der bloßen Sichtbarkeit. Um auf diese Ebene zu kommen, lassen wir es dahingestellt, ob dies eine visuelle Confection ist oder nicht, und ob es ein Kunstwerk ist oder nicht - was bleibt sind seine Farben. Es gehört zu den Eigenschaften von Bildern, daß sie Farbe verwenden müssen. Ein Bild ohne Farben, wozu auch weiß und schwarz gerechnet werden muß, ein Bild ohne jegliche Farbe, wäre nicht sichtbar. Keine schriftliche Sprache der Welt schreibt vor, daß sie in be-
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stimmten Farben geschrieben werden muß, um verstanden zu werden, obwohl jede Schrift irgendeine Farbe hat. Bei einem Bild ist die Farbe primär, sie ist die Grundlage vom Inhalt des Bildes, denn die Organisation des Bildes ist eine Organisation von Farben. Ihre Farben zeigen, daß wir auch bei dieser Collage nicht von einer Entmaterialisierung des Bildes sprechen können, denn konkrete Farben lassen sich nicht entmaterialisieren. Meyer Schapiro machte darauf aufmerksam: Sprache kann vage bleiben, Bilder nicht. Wir können sagen „Kain tötete Abel", aber sobald wir dies im Bilde zeigen, müssen wir mehr erzählen, und zeigen, wie er die Tat beging (Schapiro 1996, 14). Ein Bild hat auch nie bloß eine blaue Farbe, sondern ein bestimmtes Blau. Wenn wir diese Collage ansehen, zeigt sie in der Tat kein bestimmtes Geschehen oder eine eindeutige Sicht der Dinge (Heiterkeit oder Düsterkeit). Für sich betrachtet sind die Farben nicht besonders von einander abgehoben. Dennoch will ich noch zeigen, daß es die Farben sind, die dieses Bild zu einem „Zeichen" machen. In Goodmans Theorie der Exemplifikation exemplifiziert ein Bild, das in traurigen, tristen Farben gemalt ist, diese Stimmung. Wiesing merkt folgende Einwände dazu an: „Ein Bild, das in traurigen, tristen Farben gemalt ist, tritt nicht selten als ein Zeichen für Traurigkeit auf. Doch der Hinweis auf die Exemplifikation ist in der Bilddiskussion verwunderlich, da dieser Symbolmodus erstens auch nur nachträglich durch die Verwendung an Bilder herangetragen wird und da er zweitens überhaupt nichts damit zu tun hat, warum ein Gegenstand ein Bild ist" (Wiesing 2000, 131). M. a. W., Wiesing bemängelt an dieser Exemplifikationstheorie, daß sie die Wirkung der Farben eines Gegenstandes als Eigenschaft betrachtet, wie in der Sprache Eigenschaften als Prädikate formuliert werden, die zu etwas hinzukommen oder nicht. Das habe ferner mit der Sichtbarkeit des Bildes als solche nichts zu tun. Goodmans Theorie macht auf die Repräsentation eines Allgemeinen (tristesse) im Bild aufmerksam. „Trist" bezeichnet eine diffuse emotive Stimmung; auch Musik kann eine triste Stimmung evozieren, wogegen Rot oder Ocker sinnesspezifisch sind. Kann man dann sagen, daß eine Ausdrucksqualität wie das Triste an ein Bild „herangetragen" wird, aber die Eigenschaften des Roten oder des Ocker nicht? Man kann feststellen, daß eine Farberscheinung etwa als Muster einer Farbklassifikation gelten kann, die Oberflächenfarbe eines Dinges oder die Raumfarbe eines Sehfeldes ist, und man kann auch sagen, daß eine Farberscheinung eine Stimmung exemplifiziert. Die ersten drei Arten der Farberscheinung betreffen eindeutig die Dingwahrnehmung, die letzte eine Ausdruckswahrnehmung. Wenn wir eine Stimmung als eine Eigenschaft betrachten, die das Werk besitzt und exemplifiziert, dann ordnen wir dieses Ausdrucksphänomen letztlich der Dingwahrnehmung zu. Damit verlieren wir aber das Phänomen, um das es geht, die bestimmte Wirkung eines Bildes. Schauen wir ein monochromes Bild an [s. Abbild 3, auf der folgenden Seite]. Wenn wir dieses Yves Klein Bild einfach als etwas Sichtbares betrachten, können wir es als Ding sehen (als ein Kunstwerk an der Wand), aber auch als ein Ausdrucksphänomen. Wir entdekken dabei nicht das Universelle, „das Blaue", sondern wir sehen das, was man vielleicht in Worten „ein kühles Blau" oder bei anderen Bildern „ein heißes Rot", „ein Sonnengelb" oder „ein tristes Ocker" nennen würde. Konkrete Farben haben immer einen expressiven Charakter, eine Ausdrucksqualität, die nicht erst nachträglich an das Gesehene herangetragen wird.
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Was ist ein Ausdrucksphänomen? Beginnen wir mit Gerüchen. Gerüche sind die körperlichsten aller Fernwahrnehmungen. Jeder Geruch, ob wir ihn identifizieren können oder nicht und bevor wir ihn intellektuell als Zeichen von Gefahr interpretieren oder nicht, ist anziehend oder abstoßend, angenehm oder widerwärtig. Das gilt auch für Farben. Wenn wir auf die Farben in Schwitters Kollage achten, haben wir ein moduliertes Farbmuster, dessen eigentümliche Wirkung weit weniger „gesättigt" ist als die von Kleins Bild. Die konkrete Erfahrung dieser Wirkung ist keine nennbare Eigenschaft, denn es ist bei Schwitters Bild nicht einmal klar, wie diese Farbwirkung zu beschreiben ist, auch wenn sie unverwechselbar mit anderen Bildern ist. Das Munsell Farben Notations-System erfaßt über 16 Millionen (16,777,216) Farben. Das Auge kann diese Farben Abbild 3 differenzieren, aber wenn viele Farben in einer Fläche vorkommen, wie hier bei Schwitters, ist ihre sprachliche Beschreibung zum Scheitern verurteilt. Wie Elkins meint: hier fehlen uns die Worte.4 Die Farbmodulation in Schwitters Kollage, so konkret sie ist, wirkt als Farbphänomen eher dumpf und unprägnant. Aber auch ein unprägnantes Phänomen ist symbolisch prägnant (Cassirer 2002, 271 f.) und führt daher keine „reine" Sichtbarkeit vor.5 Ausdruckswahrnehmung beginnt in der Wahrnehmung des eigenen Leibes in der Wahrnehmung von Gefühlen. Cassirer behauptete: Das Leib-Seele Verhältnis, „stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar" (Cassirer 2002, 113). D. h., es gibt keine unmittelbare Präsenz des eigenen Körpers. Die Erfahrung des eigenen und fremden Lebens sind beide, mit Peirce zu reden, immer schon semiosis. Peirces semiotische Philosophie basierte auf seiner Kritik an der „Intuition" im Denken - die Annahme eines Gedankens ohne Zeichen - aber Cassirer setzte schon beim Fühlen an - bei einer Kritik an 4
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Ich will damit keineswegs behaupten, daß wir die Sprache nur zur Bennenung oder zur Formulierung von Sachaussagen verwenden, aber wir haben es bei der Beschreibung von gesehenen Farben mit einer Übersetzung in einen anderen Symbolismus zu tun. Die Grenze zwischen Bildern und Sprache lässt sich in der Sprache beschreiben und bildlich aufzeigen. Bilder sind auch symbolische Formen, d. h. anschauliche Argumentationsmittel (s. hierzu Tufte 2002). Der Kunsthistoriker Michael Brötje spricht in seiner Kritik am Gedanken einer reinen Sichtbarkeit von der Behandlung einer Bildfläche als „Neutrum" (Brötje 2001,44 f.).
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der Intuition des eigenen Leibes - die Annahme eines Wahrnehmens ohne Symbolfunktion, oder, wie Cassirer sie nennt, „symbolische Prägnanz".
Abbild 4
Cassirer führt seinen Schlüsselbegriff der „symbolischen Prägnanz" mit einer Diskussion des Sehens und nicht der Sprache ein. Mit symbolischer Prägnanz bezeichnet er „die Art" in der ein „sinnliches" Wahrnehmungserlebnis einen nicht anschaulichen Sinn zur konkreten Darstellung bringt (Cassirer 2002, 231). Er illustriert symbolische Prägnanz durch verschiedene Dimensionen des Sehens einer gezeichneten Linie. Die Linie kann als graphisches Zeichen Theoretisches wiedergeben, etwas Anschauliches repräsentieren bzw. darstellen, oder ein Gefühl ausdrücken: eine nervöse oder ruhige Bewegung. Cassirer gibt anschließend einen negativen Beweis der symbolischen Prägnanz in der Wahrnehmung, indem er Beispiele von ihrer Reduktion bei hirnverletzten Menschen diskutiert. Menschen, die physiologisch heile Sehorgane haben und sprechen können, können Farben unterscheiden, aber nicht mehr abstrakt benennen. Sie erklären, daß etwas „wie Gras" oder „wie Blut" gefärbt ist, ohne den Sinn der Worte „grün" und „rot" erfassen zu können (Cassirer 2002, 264). Wo Gesunde leicht über Phänomene in bezug auf solche übergreifenden Einheiten reden, erlebt der Kranke eine schillernde Buntheit (Cassirer 2002, 266). Cassirer betont, daß auch der Gesunde den Eindruck einer derartigen Buntheit in sich erwecken kann, wenn er sich möglichst passiv verhält. Was wir dann erleben, ist nicht ohne symbolische Prägnanz, denn das Gesehene verkörpert irgendeinen Ausdruck. Jeder so elementare sinnliche Inhalt ist nicht einfach „da", als bloße Präsenz oder reine Sichtbarkeit. Gerade das sinnlich Verworrene und Schillernde oder Diffuse kann ausdrucksstark sein: das Undeutliche wirkt „unheimlich" und „bedrohlich". Diese symbolische Prägnanz ist nicht mit dem gleich zu setzen, was die Gestalttheoretiker unter Prägnanz verstehen: das Hervortreten einer Form aus einem Hintergrund, oder wie sie auch sagen, die „gute Gestalt": geschlossen, abgerundet oder stabil. Eine verschwommene, unklare und schillernde Form ist nicht im Sinne der Gestalttheorie „prägnant" aber sie ist symbolisch prägnant, im Sinne der symbolischen Ausdrucksfunktion (Krois 2001, vgl. Ulrich 2002).
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Als die Photographie sich zu verbreiten begann, galt ihre exakte Schärfe als störend und unkünstlerisch. Fotographen haben, wie hier [s. Abbild 4, vorhergehende Seite] in diesem frühen Bild Edward Steichens, Ungenauigkeit absichtlich durch Verschmutzung der Kameralinse oder Bewegen des Fotoapparats herbeigeführt. Steichen bemerkte einmal, daß er 1898 ein „Impressionist" war, ohne es zu wissen (Steichen 1963, 4. Seite, unpaginiert). Dieses Bild [s. Abbild 5] sollte durch seine Ungenauigkeit etwas aussagen, das durch Schärfe verloren gegangen wäre. Wir mögen heute diese Fotos für zu sehr gestellt oder sogar kitschig halten, aber sie zeigen den Unterschied zwischen Gestaltprägnanz und symbolischer Prägnanz.
Abbild 5
Wiesing weist darauf hin, daß den Menschen zur Mitteilung und zur Aufbewahrung von Information andere Zeichensysteme zur Verfügung stehen als Bilder. Er schreibt: „In semiotischer Hinsicht ist das Bild kein unersetzbares Phänomen. Was allerdings für immer verloren wäre, wenn der Mensch keine Bilder hätte, das wäre die Sichtbarkeit des Abwesenden" (Wiesing 1998, 101). Es wäre noch schlimmer: er verlöre auch die Sichtbarkeit des Anwesenden, die bloße Sichtbarkeit. Wenn wir ohne Bilder wären, könnte man, fahrt Wiesing fort, „nur sehen, was auch wirklich ist, und alles Abwesende wäre zur Unsichtbarkeit verurteilt. Die Sichtbarkeit wäre untrennbar an die harte und schwere Welt gebunden" (Wiesing 1997, 24). „Hart" und „schwer" sind haptische Eigenschaften. Sie betreffen die Welt der Dinge und beziehen sich eher auf mechanische Phänomene und nicht auf sichtbare. „Hart und schwer" sind hier wohl metaphorisch gemeint: die Härte einer konkreten Farberfahrung. Albertis Vergleich des Tafelbilds der Malerei mit einem Fenster (Müller 1998) läßt sich auch auf den Körper übertragen, wie hier in Ernst Machs bekanntem Selbstbildnis [s. Abbild 6, auf der folgenden Seite], Von einer bildanthropologischen Perspektive aus gesehen, ist bloße Sichtbarkeit nie rein. Der menschliche Körper ist, um mit Belting zu sprechen, ein
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„Ort der Bilder", die als körperliche Realitäten „an die harte und schwere Welt gebunden" sind. Aber was Worte wie „hart" und „schwer" beschreiben, sind expressive (emotionelle) Tönungen. Wenn eine Farbe als „hart" oder „schwer", „heiter", „düster", „freundlich" oder „unfreundlich" charakterisiert wird, dann hat dies weniger mit den Eigenschaften von Dingen zu tun, die exemplifiziert werden, als mit Personifizierungen, die wir fühlen, übertragen auf Dinge. Umgekehrt kann auch der Leib (wie bei Machs Bild) uns äußerliches Ding erscheinen. Diese Verwobenheit der Dingwahrwahrnehmung mit dem eigenen Gefühlsleben schlägt sich im mythischen Denken als Personifizierung nieder. Auch wir können freundliche oder böse Gesichter im Spiel der Wolken sehen, aber wir wissen, daß es nur Wolken sind. Bei der „Belebtheit" von Farbphänomenen verhält es sich anders. In seinem Buch Color and Meaning - Art, Science and Symbolism endet John Gages' Analyse der Farbe als Symbolismus dort, wo Cassirers beginnt: bei der Synästhesie.6 Das „Fühlen" von Farben, etwa das, was wir ein „kaltes Blau" nennen, oder „heiteres Gelb", usw., ist charakteristisch für Farbwahrnehmung. Die Wahrnehmung bildet zunächst ein relativ undifferenziertes Ganzes, aus dem sich die einzelnen Sinnesgebiete erst heraussondern und abheben (Cassirer 2002, 38-39). 7 Gesichts-, Gehör-, Geruchs-, und Geschmacksempfindungen weisen eigentlich eine Verwobenheit auf, die anders ist als in der auf die „theoretische" Hervorhebung der „Qualitäten" der Dinge gerichteten Wahrnehmung (Cassirer 2002, 39). Wir sagen, daß ein Ton „tief oder „hoch" ist, daß ein Geruch „beißend" ist, daß eine Farbe „schreiend" oder „warm" ist und vieles mehr. Die neuste Forschung bestätigt, daß dies nicht blosse Redensarten sind, sondern, daß in einem gewissen Sinne, alle Menschen Synästhetiker sind.8 Die Farbwahrnehmung wird in der Philosophie zumeist nicht als synästhetisches Phänomen, sondern in bezug auf Dingwahrnehmung betrachtet, so daß Farbe als eine Dingeigenschaft verstanden wird. Doch Farbe wird zunächst als Ausdrucksqualität erlebt (Cassi6
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Cassirers Arbeiten in den 1920er Jahren entstanden in enger Zusammenarbeit mit Experimentalpsychologen wie Heinz Werner (vgl. Cassirer 2002, 39), an dessen Arbeiten auch heutige Phänomenologen anknüpfen. Werner und Cassirer arbeiteten beide jahrelang in rämlicher Nähe an der Univeristät Hamburg, wo auch der Psychologe Georg Anschütz der Verbindung von Synästhesie-Forschung und Ästhetik nachging. Diese phänomenologische These findet heute eine neurologische Basis in dem, was Gerhard Roth „das Prinzip der Neutraliät des neuronalen Codes" nennt (Roth 1995, 80). Diese Ansicht vertritt Hindirk M. Emrich (Emrich 2002).
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rer 2002, 70-72). 9 Der Ausdruckscharakter einer Farberscheinung - daß sie „freundlich" oder „unfreundlich" erscheint, ist primitiver als die Erkennung eines „blauen Flecks" und diese Ausdrucksqualität stellt den Anfang der Bildlichkeit dar. Dieser „Nullgrad" der Bildlichkeit ist eine imperative Form. Personifiziert gesprochen geht es um den Befehl: Schau her! Affektive, sogar gestische Aspekte charakterisieren diese Art Farbwahrnehmung. Farberscheinungen können abstossen oder erfreuen, kalt oder warm wirken, aber nicht erst nachträglich.
IV. Ich bin längst bei der von Goodman mit Bedacht vermiedenen Diskussion des sogenannten mythischen Denkens. Unter diesem Namen untersuchte Cassirer kulturelle Formen aus einer bild-anthropologischen Perspektive.10 Diese Theorie steht mit der empirischen Forschung durchaus im Einklang11 und verspricht, eine bessere Basis für die Bildwissenschaft zu sein als die Suche nach einer phänomenologisch neutralen oder nicht vorhandenen reinen Sichtbarkeit. Hier kann man aber nicht von einer schon „fertigen" Theorie sprechen, höchstens von einem Forschungsprogramm, das zu einer neuen Ikonologie fuhren könnte. Im Laufe von On Pictures and the Words that Fall Them übernimmt James Elkins wider Willen immer wieder Gedanken aus der Semiotik und in seinem neusten Werk (das schon im Internet als „work in progress" einsehbar ist12) nimmt er seine frühere Ablehnung der Zeichentheorie des Bildes zurück. Die Alternativen, scheint mir, sind sonst nur die Wahl zwischen einem blinden psychologistischen Sensualismus oder einem Formalismus, der, wenn nicht leer, dann doch phänomenologisch verarmt ist. Für eine fundamentale Semiologie sind Zeichen weder bloß instrumental noch sekundäre Vertreter für schon Gegebenes. Der Gedanke, daß Zeichen als Vertreter dienen, hat seine Plausibilität bei der Dingwahrnehmung, nicht aber an der Schwelle zwischen Sehen und nicht-Sehen. Die Abweisung von unklaren und undeutlichen Phänomenen kann sich eine Philosophie leisten, die die Ausdruckswahrnehmung auf Exemplifikation reduzieren will, aber für eine Bildanthropologie ist diese Entscheidung fatal. Für eine Zeichentheorie, die Bilder als symbolische Ausdrucksphänomene begreift, ist visuelle Kultur eine Wirklichkeit sui generis, die nicht durch Analogien zur Sprache erklärt werden kann. Meine These ist, daß der Nullpunkt der Sichtbarkeit sich in der symbolischen Ausdrucksprägnanz von Farben findet. Diese Ausdrucksprägnanz stellt keine neutrale reine 9
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Nicht Blau oder Rot als Teil der Dingwahmehmung - geschweige denn als Repräsentation in der Musellfarbskala - ist fundamental, sondern die Ausdruckswahrnehmung von einem „kalten Blau" oder „heissen Rot".
Er entwickelte damit Aby Warburgs Ansatz weiter (Cassirer 2002, 76-80). '1 Neben Gages' zusammenfassender Arbeit gibt es eine ganze Reihe von neuen empirischen und phänomenologischen Ansätzen zum Phänomen der Synästhesie, auch in bezug auf Zeichentheorie. Vgl. dazu Adler / Zeuch 2002 und Posner / Schmaucks 2002. 12 James Elkins: A Skeptical Introduction to Visual Culture, work in Progress, im Kapitel „Problems with Peirce" (www.jameselkins.com). Elkins endet mit der Feststellung, daß Peirce den Weg gewiesen hat, den wir wirklich gehen wollen sollen.
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Sichtbarkeit dar, sondern die Grenze der Sichtbarkeit und ihre Einmündung in die anderen Sinne in der Form der alltäglichen Synästhesie (blau als kalt, T ö n e als Tief). Peirces Einsicht, daß „die Idee der Manifestation die Idee eines Zeichens ist" (Peirce 1931, § 346), findet hier eine Bestätigung. Selbst die Wahrnehmung eines „kalten Blaus" ist ein semiotisches Phänomen. A u c h w e n n für die empirische Erforschung v o n synästhetischen Phänomenen v i e l e Fragen o f f e n bleiben, kommt es m. E. darauf an, solche Erscheinungen als semiotische Prozesse und nicht bloß als p s y c h o l o g i s c h e Zustände oder reine Sichtbarkeit ohne semiotische Funktion aufzufassen. Es gehört zu den A u f g a b e n der Bildwissenschaft, auch den expressiven Charakter des Sichtbaren begrifflich zu erfassen, anstatt ihn als „bloß p s y c h o l o g i s c h " aus der Betrachtung auszuklammern. 1 3 Darum sollen die Grenzen semiotischer Prozesse neu durchdacht werden.
Abbildungsverzeichnis Abbild 1 : Kurt Schwitters, Merz 42. Like an old master, in: Kurt Schwitters. Werke und Dokumente. Hannover: Sprengel Museum 1998. 207. Abbild 2: Abraham Bosse, Frontispiz, in: Thomas Hobbes. Leviathan. London 1651. Abbild 3: Yves Klein, Monochrom blau, ohne Titel, 1960, in: Stich, Sidra, Yves Klein, [Ostfildern] Cantz [1994], 235. Kat. Nr. 119. Abbild 4: Edward Steichen, Lady in the Doorway. Milwaukee. 1897, in: A Life in Photography. Edward Strichen, published in collaboration with The Museum of Modern Art, Garden City, NY 1963, dort Abb. 4. Abbild 5: Edward Steichen, Edge of Woods. Milwaukee. 1899, in: A Life in Photography. Edward Steichen, published in collaboration with The Museum of Modern Art, Garden City, NY 1963, dort Abb. 11. Abbild 6: Emst Mach, Selbstbildnis, in: Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindung. Jena 1886, dort Abb. 1.
Literaturverzeichnis Hans Adler / Ulrike Zeuch (Hg.), Synästhesie. Interferenz - Transfer - Synesthese der Sinne, Wurzburg 2002. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. Gottfried Boehm, Was ist ein Bild?, München 1994. Horst Bredekamp, Thomas Hobbes Visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates, Berlin 1999. Michael Brötje, Bildsprache und Intuitives Verstehen, Hildesheim/Zürich/New York 2001. Ernst Cassirer, „Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis", Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 13, Hamburg 2002. Ernst Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, Hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995. James Elkins, On Pictures and the Words that Fail Them, Cambridge 1998. James Elkins, A Skeptical Introduction to Visual Culture, work in progress, Kapitel: „Problems with Peirce" (www.jameselkins.com). 13
Wiesing (Wiesing 1997, 103 und Riegl eine Überwindung sche" und „Dyonisische". Es greifen, wie dies Cassirer und
Anmerkung) sieht in der formalistischen Betrachtungsweise von Wölfilin von „psychologistisch" begründeten Prinzipien wie Nietzsches „Apollinikommt m. E. darauf an, solche Prinzipien als symbolische Formen zu beWarburg zu tun versuchten.
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Kolloquium 14 Entgrenzungsmuster in der Geschichtsphilosophie
HERTA NAGL-DOCEKAL
Einleitung „Es ist gegen die menschliche Würde, an den Fortschritt zu glauben", sagte Hannah Arendt in einer ihrer letzten Vorlesungen (Arendt 1985, 102). Sie formulierte damit eine dezidierte Absage an das Projekt, die Geschichte der gesamten Menschheit als einen Sinnzusammenhang zu deuten, wie es in den Vorstellungen der Aufklärung von einem kontinuierlichen „Fortschreiten zum Besseren" Gestalt angenommen und dann in Hegels Konzeption vom „Weltgeist" und der „List der Vernunft" sowie bei Marx eine weitergehende Umsetzung erfahren hatte. Sofern der Begriff „Geschichtsphilosophie" auf dieses Projekt bezogen wird, scheint Kritik in der Tat naheliegend; es erhebt sich die Frage, ob ein derartiger Zugang zur Geschichte nicht den Bereich legitimer philosophischer Problemstellungen immer schon verlassen, die Grenzen einer argumentativ ausgewiesenen philosophischen Theoriebildung immer schon überschritten hat. Kritik, die sich auf diesen Einwand zuspitzt, wurde vielfach formuliert - mit besonderem Nachdruck von Seiten jener Autorinnen und Autoren, die die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts auch auf einen doktrinären Fortschrittsglauben zurückführten. Im einzelnen weist diese Kritik freilich sehr unterschiedliche Akzentuierungen auf (vgl. Nagl-Docekal 1996). Um nur einige davon in Erinnerung zu rufen: Unter erkenntnistheoretischer Perspektive erhebt der Kritische Rationalismus den - später von Danto reformulierten - Einwand, daß eine These über die „ganze" Entwicklung der Menschheit sich auch auf die Zukunft bezieht und daher in den Bereich der Prophetie gehört, die sich wissenschaftlich nicht ausweisen kann (vgl. Popper 1959 und Danto 1974, 11-35). Vertreter der Kritischen Theorie wie Benjamin, Adorno und Horkheimer monieren eine folgenschwere Parteinahme: Werde Geschichte als ein kontinuierliches Fortschreiten aufgefaßt, so komme dies einer Komplizenschaft mit den jeweiligen Siegern gleich, durch die der Blick auf die Opfer vergangener Konflikte verstellt werde (Benjamin 1977, Horkheimer / Adorno 1969). Für Löwith beruht Geschichtsphilosophie auf einer fragwürdigen Immantentisierung heilsgeschichtlicher Erwartungen (Löwith 1953), während die zitierte Kritik Arendts ein handlungstheoretisches Problem aufzeigt: Um den Verlauf der Geschichte auf eine „List der Vernunft" zurückführen zu können, müsse das zentrale Charakteristikum menschlicher
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HERTA NAGL-DOCEKAL
Daseinsweise - etwas Neues anfangen zu können - unterschlagen werden (vgl. Arendt 1974, 144 f.; dies. 1994, 344; Nagl-Docekal 2003). Aus dem Blickwinkel des postmodernen Denkens deutete schließlich Lyotard Geschichtsphilosophie als die „große Erzählung", die dem für die Moderne charakteristischen „Terror der Homogenisierung" als „Legitimationserzählung" diene (Lyotard 1982). Heute ist es eine received opinion, daß „Geschichtsphilosophie" in diesem Sinn endgültig kollabiert sei. Aus dieser Auffassung folgt freilich nicht, daß „Geschichte" toto genere aus dem Bereich legitimer philosophischer Themen ausgegrenzt werden müßte. Zu fragen ist vielmehr nach den Möglichkeiten einer „Geschichtsphilosophie nach dem Ende der Geschichtsphilosophie", und dieser Frage ist auch das heutige Kolloquium gewidmet. Wie bekannt ist, wurden schon im Zuge der Zurückweisung des ursprünglichen Projekts andere Problemstellungen in den Vordergrund gerückt, womit auch der Begriff „Geschichtsphilosophie" eine jeweils veränderte Bestimmung erfuhr. So etwa im Kontext der Existenzialanalyse, die die Geschichtlichkeit des Daseines thematisierte; in der „Analytischen Geschichtsphilosophie", die die logischen Implikationen narrativer Sätze untersuchte; in Theorien der „historischen Vernunft" (vgl. Baumgartner 1972 ) oder in den ästhetisch bzw. diskurstheoretisch orientierten Studien, die in der These von der rhetorischen Präfiguration alles Geschichtlichen kulminierten (vgl. White 1990 und 1991 sowie Ankersmit / Kellner 1995). Das mit dieser Erweiterung des Themenspektrums verbundene Differenzierungspotential ist kaum zu bestreiten; dessen ungeachtet stellt sich indes auch die Frage: Sollte das ursprüngliche Projekt in der Tat in keinem Aspekt mehr Relevanz besitzen? Wie es scheint, hat die Kritik zu wenig beachtet, daß der Gedanke des „Fortschreitens zum Besseren" primär nicht mit einem empirisch-deskriptiven Anspruch formuliert wurde, sondern in moralphilosophischer Intention. Ausgehend von der Überlegung, daß der praktische Pflichtbegriff auch die Aufgabe einer zunehmenden Implementierung von Prinzipien der Gerechtigkeit einschließt, gilt es zu überlegen, ob ein entsprechendes Engagement überhaupt Chancen auf Erfolg hat. An genau diesem Punkt setzt Kants geschichtsphilosophische Theoriebildung ein; sie zielt darauf ab, zumindest eine mögliche Hoffnungsperspektive zu eröffnen, ohne die sich gegenwärtige Bemühungen um eine Vermehrung von Gerechtigkeit als absurd darstellen würden (Vgl. Anderson-Gold 2001 und Langthaler 2002). Sollte diese Problemstellung tatsächlich obsolet geworden sein? Lassen nicht jeweils aktuelle Krisen und Konflikte sowie Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Schuld nach wie vor Sinnfragen virulent werden? Und wie ist die offenkundige Unverfügbarkeit von Geschichte mit solchen Sinnansprüchen zu vermitteln? Vielleicht vermag eine philosophische Auseinandersetzung mit derartigen Fragen auch heute über das bloß Gegenwärtige und Wirkliche hinauszuweisen (womit das von der Kongreßleitung vorgegebene Thema „Entgrenzung" noch einmal aufgegriffen wäre)?
KOLLOQUIUM 14 - EINLEITUNG
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WINFRIED FRANZEN
Und die Moral in der Geschieht'? Stichworte zu Moral, Geschichte und Evolution
„Vom Chaos her stimmt alles, so daß mich die Aufgabe reizen würde." Das meinte im Spätsommer 2002 René Jäggi, als er gebeten wurde, nach einem katastrophalen Saisonstart den Vereinsvorsitz beim 1. FC Kaiserslautern zu übernehmen. Vom Chaos her stimmt alles: das kann man auch sagen (ich empfinde das jedenfalls so), wenn man - mit geschichtlichen incl. philosophiegeschichtlichen Dingen im Hinterkopf - zum gegenwärtigen Zustand des Moralischen oder gar zu künftig denkbaren Entwicklungen etwas halbwegs Festhaltbares in die Hand bekommen will. So beherzt wie Herr Jäggi vom FC Kaiserslautern bin ich leider nicht, träume vielmehr öfters - wie Paul Valérys Monsieur Teste - den Traum, keine Meinung haben zu müssen (vgl. Vollmann 2002). Aber das geht natürlich nicht. Daher also die im Untertitel angekündigten Stichworte. Ich konkretisiere sie zu drei Abschnitten: Erstens geht es um den klassischen Begriff des moralischen Fortschritts, zweitens um einige Bemerkungen zum Verhältnis von Moral und Evolution und drittens um einige Aspekte des Problemkreises Biotechnologie.
Erstes Stichwort: Moralischer Fortschritt? Für große Teile der klassischen Geschichtsphilosophie war die Idee des „Fortschreitens zum Besseren" ein konstitutives - oder sogar das konstitutive - Element (Kant 1798, 351). „Fortschreiten zum Besseren" wurde dabei eng verknüpft mit „moralischem Fortschritt". Wie eng und auf welche Art im Einzelnen, dazu gibt es zwischen den diversen Konzeptionen natürlich Unterschiede. Das lasse ich aber beiseite, denn ich meine auf jeden Fall: Zu der Frage, ob es im Ganzen - wohlgemerkt: per saldo - ein Fortschreiten zum Besseren gibt, kann man sich heute nur agnostisch verhalten (vgl. Franzen 1997, Rescher 1997, von Wright 1997). Dies impliziert selbstverständlich eine Absage an dezidiert geschichtsteleologische Vorstellungen, welche Fortschritt als der Geschichte selbst immanentes, gesetzmäßig sich verwirklichendes Ziel ansehen. Indessen gibt es zu Geschichtskonstruktionen dieser starken Art mittlerweile ohnehin große Distanz (vgl. Gerhardt 2001, 97), hier würden eher offene Türen eingerannt. Daher soll es nur um die niedriger gehängte Frage gehen, ob man wenigstens im Sinne faktisch-empirischer Aufweisbarkeit sagen kann, ein Fortschreiten zum Besseren sei
U N D DIE M O R A L IN DER G E S C H I C H T ' ?
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doch tatsächlich eingetreten, eventuell mit dem Zusatz, daß dies auch zu gewissen Extrapolationen in die Zukunft berechtige. Vielleicht darf man die Frage einmal ein bißchen naiv stellen: Was würde denn Kant heute dazu sagen? Kant sei hier schon deshalb gewählt, weil unsere Kolloquiumsleiterin Herta Nagl-Docekal in dem von ihr herausgegebenen Band „Der Sinn des Historischen" eindringlich dargetan hat, „daß die vielfach vorgebrachten Einwände gegen ,die' Geschichtsphilosophie dem Denken Kants [...] nicht gerecht werden". (Nagl-Docekal 1996, 35) Wie dies im Einzelnen zu sehen ist, kann hier nicht diskutiert werden, aber ich würde, obwohl in vielem Nicht-Kantianer, mindestens dahingehend zustimmen, daß man, wenn man sich an der klassischen Geschichtsphilosophie abarbeitet, sich vor allem der Subtilität Kants stellen muß. Was also würde Kant heute sagen? Zu welchem Befund käme er, wenn er, vielleicht mit der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte [...]" in der einen Hand und dem „Streit der Fakultäten", zweiter Abschnitt, in der anderen, diachron die letzten zwei Jahrhunderte und synchron die heutigen Verhältnisse überblicken könnte? Er würde sich in großen Nöten fühlen. Zwar kaum einfach so, daß er erkennen müßte, von dem seinerzeit Postulierten sei wenig oder sogar nichts oder eher das Gegenteil eingetreten. Aber der Versuch einer Gesamtbilanz müßte ihn ratlos machen. Es ist einfach nicht zu sehen, wie man die in gegensätzliche Richtungen weisenden Einzelbefunde miteinander abgleichen sollte. Dazu einige Konkretionen. Sicher könnte Kant mit Befriedigung konstatieren, daß der Stellenwert von Freiheit und Selbstbestimmung, von Rechtsstaatlichkeit, republikanischen Prinzipien und anderem mehr eindeutig und in großem Maße gestiegen ist - und zwar nicht nur dem Anspruch, sondern auch der Verwirklichung nach (vgl. dazu auch Wellman 1999). Indessen - fiir riesige Teile der Menschheit gilt dies nach wie vor nicht. Man könnte einwerfen: ,floch nicht, aber ist die Tendenz nicht steigend?!" Dies kann man sicher ernsthaft diskutieren, aber wiederum in mehreren Richtungen. Francis Fukuyama bekräftigt in seinem neuen Buch - der Titel „Das Ende des Menschen" ist freilich mehr als irreführend - die Sicht, daß die Globalisierung als wesentlichen Aspekt genau diesen hat, daß das bislang erst von einem Teil der Menschheit glücklich Erreichte sich nun auf deren Gesamtheit ausdehnt (vgl. etwa Fukuyama 2002, 180). Es bedarf jedoch kaum der Erwähnung, daß es dazu auch andere Einschätzungen gibt - bis hin zu den neuesten radikalen Stichworten wie „Empire" oder „Global Brutal" (Hardt / Negri 2002, Chossudowsky 2002). Des weiteren scheinen die bereits etablierten Demokratien zwar ziemlich stabil zu sein, aber doch nicht so stabil, daß ein Rückfall in weniger demokratische oder nur noch pseudo- oder gar offen undemokratische Verhältnisse mit Sicherheit ausgeschlossen werden könnte. Daß es auch die Auffassung gibt, die wirklichen Entscheidungen würden ohnehin nicht mehr primär von demokratisch legitimierten Instanzen getroffen, lasse ich dabei sogar beiseite. Zentral ist aber auf jeden Fall die Frage, ob die Erde die globale Ausdehnung unserer Lebensform aushält. Hier könnte man allerdings sagen: Mag auch unser westliches Verbrauchsniveau nicht verallgemeinerbar sein, warum dann nicht wenigstens die freiheitlichdemokratische Lebensform? Nun, wir sind praktisch verurteilt zu hoffen, daß dies möglich ist, aber es gibt immerhin die Frage, ob Erfolgsgeheimnis und Akzeptanz der Demokratie nicht faktisch gerade stark an Wohlstand und Konsumniveau geknüpft sind.
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Ein anderer Punkt ist, daß es bei Bilanzierungen und Extrapolationen häufig bereits die sozusagen methodische Ambivalenz gibt, ob absolute Zahlen ein größeres Gewicht haben oder prozentuale Anteile. Was zählt mehr: daß zu einem bestimmten Zeitpunkt die absolute Zahl der Hungernden einen Höchststand erreicht hat - oder daß zum selben Zeitpunkt der prozentuale Anteil der Hungernden zurückgegangen ist? Letzteres müßte für sich genommen klar als Fortschritt gewertet werden. Aber wie aggregiert man beides zu einer Gesamtbewertung - insbesondere wenn die absolute Zahl einen Wert von 800 Millionen hat? Wobei übrigens mancher Experte wie etwa Per Pinstrup-Andersen, Generaldirektor des International Food Policy Research Institute in Washington befurchtet: „[...] wahrscheinlich wird der Hunger noch wachsen. Das ist wirklich tragisch, aber vermutlich wahr". (Interview in Die Zeit vom 31.10.2001, 20) „Zum ewigen Frieden" schließlich (Kant 1795) - dem vorrangigsten Bestandteil eines Zustandes, der „im beständigen Fortschreiten zum Besseren" (Kant 1798, 351) anzustreben wäre - scheint sich die Entfernung auch nicht verkleinert zu haben. Zeitweilig war sie eher größer als je zuvor; und was die Entwicklung seit der Mitte des letzten Jahrhunderts angeht einschließlich des heutigen Stands, so würde eine Beurteilung wiederum eine hochgradig uneindeutige Gesamtbilanz ergeben. Wohlgemerkt, ich sage mit Absicht „uneindeutig" und nicht etwa „negativ". Die vorstehenden Bemerkungen wollen nicht einfach in Pessimismus machen. Zwar sollte man Pessimismus -jedenfalls einen dosierten - nicht per se für anrüchig halten. Zugleich lautet aber eines meiner Lieblingszitate (es stammt von Milan Kundera): „Ich bin zu skeptisch, um Pessimist zu sein." (Interview in Die Zeit vom 7.12.1984, 66) In diesem Sinne - daß es nicht einfach um puren Pessimismus geht - seien noch einige Gesichtspunkte angefügt. Kant verwendete im „Streit der Fakultäten" von 1798 den Ausdruck „Geschichtszeichen" und verstand darunter eine Begebenheit, die „die Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen [...] beweisen könnte" (Kant 1798, 357). Meine bisherigen Ausfuhrungen könnte man so verstehen, daß die gegenwärtigen - wenn man denn so will - Geschichtszeichen uns diesbezüglich ohne Auskunft und Ausblick lassen. Nun war Kants Gedanke bei dem von ihm selbst herausgestellten Geschichtszeichen allerdings subtil: Als relevante Begebenheit hob er nicht etwa auf die Französische Revolution als solche ab, sondern auf die „Teilnehmung" und darin sich artikulierende „Denkungsart der Zuschauer" (ebd.); in dieser zeige sich die Zustimmung zum Streben nach einer bürgerlichen Rechtsverfassung einschließlich der durch eine republikanische Ausrichtung geförderten Aussicht auf künftige Kriegsvermeidung (vgl. 358 f.). Dies dokumentiere - so Kant - „einen moralischen Charakter" des Menschengeschlechts, „der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solches ist [...]" (367 f.). Vielleicht könnte man sagen (das ist hoffentlich nicht zu salopp), daß Kant vor allem auf das abhebt, was in den Köpfen vor sich geht, und daß er, wenn er sich denn tatsächlich in die Gegenwart versetzt sähe, darauf bestehen würde, den Stellenwert, den Dinge wie Freiheit, Menschenrechte, Demokratie, Gerechtigkeit, Frieden heute in den Köpfen der Menschen haben, sehr hoch zu veranschlagen. Dem könnte man, mindestens für sich genommen, zustimmen. Freilich sieht es in den Köpfen - bereits in den Köpfen, in der Realität dann ohnehin - vielfach auch anders aus und z. T.. eben entgegengesetzt. Diese andere Seite ist nicht wegzubringen. Sie kann aber ihrerseits - das sei genauso betont - auch nicht die Möglichkeit wegbringen (die Möglichkeit!),
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daß besagter hoher Stellenwert in den Köpfen wie vielleicht auch in der Realität immer mächtiger wird. Bzw. man könnte sich hier zumindest noch mit einer weiteren Feststellung Kants kräftigen, einer, die er mit Bezug auf jene sympathisierende Zuschauerreaktion auf die Französische Revolution trifft: „[...] ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr [...]" (1798, 361). Ein Autor unserer Tage, der in Neuseeland lehrende Philosoph Stan Godlovitch, hat für ähnliche Überlegungen das Bild des Rückhalteventils gebraucht. Übrigens bin ich auf den entsprechenden Beitrag zunächst durch den originellen Titel aufmerksam geworden: „Morally we roll along." Godlovitch zieht also in Erwägung - allerdings nur flüchtig, im Zentrum steht das bei ihm nicht - , ob in Sachen moralischer Fortschritt so etwas wie ein ,/atcheting-up effect" (Godlovitch 1998, 281) gegeben sein könnte, eben ein rückhalteventilartiger Effekt, der dafür sorgt, daß einmal Erreichtes nicht wieder verloren geht. Diese Idee hat einerseits etwas Suggestives, andererseits ist es aber auch so, daß Rückhalteventile nur den Rückfluß des bereits Geströmten verhindern, jedoch nichts gegen Austrocknung und erst recht nichts für einen weiteren Zustrom bewirken. Im übrigen ist man auch relativ bald an den Grenzen dieses Bildes angelangt, der Vergleich wird schnell beliebig. Wie auch immer, Kants Pochen auf das „Sich-nicht-mehr-vergessen" behält seine Bedeutung. Kant zieht daraus allerdings die starke Folgerung, es sei „ein nicht bloß [...] in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern [...] auch für die strengste Theorie [Theorie!] haltbarer Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde" (1798, 362). Zu dieser Folgerung kann man sich heute nicht mehr berechtigt fühlen, mindestens nicht mehr so einfach, dazu gibt es bereits beim Bemühen, eine Bilanz aufzustellen, zu viele Schwierigkeiten und Ambivalenzen.
Zweites Stichwort: Moral und Evolution Im zweiten Abschnitt soll ein kurzer Blick auf das Verhältnis von Moral und Evolution geworfen werden. Dies steht zu dem, was im Vorigen angeschnitten wurde, zunächst einmal in der Verknüpfung, daß nicht zuletzt die Erklärungspotentiale der Evolutionstheorie teleologische Sichtweisen als problematisch erscheinen lassen. Involviert ist hier natürlich die Frage nach der Rolle des Zufalls, des Kontingenten. Dazu nur eine knappe Andeutung. Bei Kant gibt es im Hintergrund vieler Argumentationen anscheinend eine Art horror contingentiae, explizit z. B., wenn es heißt, ohne die teleologische Sicht „haben wir nicht mehr eine gesetzmäßige, sondern eine zwecklos spielende Natur; und das trostlose Ungefähr tritt an die Stelle des Leitfadens der Vernunft". (1784, 35) Das trostlose Ungefähr! Lassen wir offen, ob es überzeugend ist, aus solchem kantschen Horror ins gerade Gegenteil einer Zufallsbegeisterung zu verfallen - wie Zarathustra in seinen Dithyramben auf den „Himmel Zufall", den „Himmel Ohngefähr" (Nietzsche 1993, 209 [III, Vor Sonnen-Aufgang]). Ob trostlos oder himmlisch - mit dem Zufälligen, dem Kontingenten sind wir jedenfalls in Natur, Geschichte und individuellem Leben in hohem Maße konfrontiert - und müssen ihm, im
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Theoretischen wie im Praktischen, Rechnung tragen.1 Für näheres Hinsehen wäre sicher viel Differenzierung nötig, jedoch sollte das Motiv hier nur kurz anklingen. Die Evolutionstheorie wurde in der Vergangenheit, z. T. auch noch der jüngeren, nicht selten als etwas angesehen, was den Fortschrittsoptimismus stütze oder ihm eine gegenüber der alten Geschichtsphilosophie neue, nunmehr wissenschaftlich untermauerte Form gebe. Dem muß man wohl mit großer Skepsis begegnen, wie es inzwischen, wenn ich das recht sehe, innerhalb der Theorie und Metatheorie des Darwinismus mehrheitlich auch geschieht (vgl. z. B. Schurz 2001, 329-339, besonders 333; auch Wuketits 2001). Einen evolutionären Automatismus zur Höherentwicklung gibt es nicht, und auch wenn man vielleicht von einer immerhin faktischen Komplexitätssteigerung sprechen kann und davon, daß unsere Spezies hier an der Spitze liegt, besagt dies nicht, daß es innerhalb dieser unserer Spezies nun unablässig bergauf gehen müßte. Das Gegenteil natürlich auch nicht, obwohl immerhin gilt: Gegen die evolutionär allenthalben lauernde Möglichkeit eines - u. U. auch sehr schnellen massiven Zurückgeworfenwerdens oder gar Aussterbens ist auch Homo sapiens nicht gefeit. Aber wie auch immer, Ambivalenz und Unentschiedenheit beim Blick auf den Stand des moralischen Fortschritts werden durch eine evolutionäre Perspektive nicht gemildert, eher sogar verstärkt. Dies alles ist aber nun durchaus damit vereinbar, für die Frage nach dem Status und der Genese des Moralischen sehr wohl auf die Evolutionstheorie zurückzugreifen - wohlgemerkt: u. a. auch auf sie. Zu diesem umstrittenen Thema einige knappe und provisorische Andeutungen. Die Relevanz des Evolutionären für das Moralische ist primär explanativer Art, reicht aber sozusagen ans Normative heran. Es kommt nämlich keine normativ-ethische Grundlegung ohne die Voraussetzung eines elementaren Mindestaltruismus aus. Mit „Mindestaltruismus" ist gemeint, daß außer den eigenen wenigstens ansatzweise auch andere Bedürfnisse in der je eigenen Motivationsstruktur Platz haben. Diese Voraussetzung - David Hume sprach von etwas, „which nature has made universal in the whole species" (Hume 1985, 172, Section I) - ist nicht ihrerseits noch einmal per Argumentation einzuholen, sondern es kann auf sie lediglich, als auf den Ausgangspunkt für weitere Begründungsschritte, rekurriert werden. Daß dieser Ausgangspunkt normativ-begründungsmäßig nicht mehr hintergehbar ist, heißt aber nicht, daß er auch explanativ unhintergehbar wäre. Vielmehr läßt sich an das Humesche „what nature has made universal in the whole species" die Frage anschließen, „how nature has made it universal in the whole species". Genau an diesem Punkt setzen die bekannten soziobiologischen Theorien an, die u. a. zeigen wollen, daß die Genese des menschlichen Altruismus mitnichten ein evolutionäres Paradox bleiben muß.2 Freilich wird bereits die innertheoretische Logik dieser Ansätze zunehmend komplexer. So hat unlängst Geoffrey Miller argumentiert, die simple Kombination von Verwandten- und reziprokkooperativem Altruismus sei zur Erklärung längst nicht ausreichend; vielmehr sei die Evolu-
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Als Anregung, damit nicht (zu sehr) zu hadern, verstehe ich auch - zumindest teilweise - Odo Marquards Apologie des Zufälligen (1986); hier zielt die Argumentation freilich vor allem auf die individuelle Lebensgeschichte. Vgl. z. B. Vogel 2000, besonders 135 ff.; als neuere Beiträge zur Debatte vgl. z. B. Gräfrath 1997, Neumann / Schöppe / Treml 1999, Katz 2000.
UND DIE M O R A L IN DER GESCHICHT'?
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tion uneigennützigen Verhaltens vor allem auch deshalb möglich geworden, weil die Bekundung, sich die mit altruistischem Verhalten verbundenen Handicaps sozusagen leisten zu können, potentiellen Fortpflanzungspartnern einen Überschuß an Fitneß signalisiere (Miller 2000, 292 ff.). „Maring well by doing good" (ebd. 306) - diese Perspektive mag vielen als starker und einseitiger Tobak erscheinen, aber sie sollte zumindest als eines von mehreren Erklärungsmodulen im Wettstreit um die angemessene Sichtweise zugelassen werden. Und daß man möglicherweise viele solcher Module braucht, dürfte nicht verwundern. Die Autoren eines Buches mit dem Titel „Unto Others. The Evolution and Psychology of Unselfish Behavior" (Sober / Wilson 1999) plädieren hier für einen weitreichenden Pluralismus, übrigens nicht zuletzt für die Einbeziehung von gruppenselektionistischen Faktoren, die auch sonst wieder massiv ins Gespräch kommen (vgl. Gould 2002). Besagte Multikomponentialität des Moralischen wird auch von Edward Wilson betont: „Wenn sich die ethische Dimension der menschlichen Natur endlich der Forschung öffnet, wird sich vermutlich bald herausstellen, daß sich die angeborenen epigenetischen Regeln für Moralverhalten [...] aus vielen verschiedenen Algorithmen zusammensetzen [...]" (Wilson 2000, 338, Hervorhebung W. F.) Auch diachronisch, in der zeitlichen Dimension mußte natürlich sehr viel geschehen, damit aus dem anfanglichen Proto- oder Elementaraltruismus, dessen Wurzeln weit in die prähumane Evolution zurückreichen, schließlich so etwas wurde wie beispielsweise die Ideen von 1776 oder 1789. Und vieles von dem, was da geschehen mußte, könnte man mit Hubert Markl unter den - im berühmten dreifachen Sinne verstehbaren - Begriff der Aufhebung subsumieren: „Im Menschen ist seine biologische Natur auf mehrfache Weise aufgehoben'. , Aufgehoben' als aufbewahrt, da sie als eine wesentliche Grundbefindlichkeit seines Seins erhalten bleibt; ,aufgehoben' als emporgehoben, da sie in dem Kulturwesen Mensch eine neue Verwirklichungsform des Lebendigen hervorgebracht hat [...]; ,aufgehoben' als überwunden, da die physische Natur [...] die Inhalte der geistigen Welt zwar beeinflußt, aber keineswegs zwingend bestimmen kann [...]." (Markl 1991, 286) Wie auch immer, ich setze die Relevanz des evolutionären Blicks auf die Moral - oder vielleicht besser: auf den Status des Moralischen - jedenfalls nicht zu gering an. Sicherlich bleiben dabei viele Fragen offen. Eines schreckt mich aber nicht - etwas, vor dem es, wenn solche Thematik angeschnitten wird, im Raum manchmal geradezu knistert: „Hey, naturalistischer Fehlschluß!" Vor diesem schwarzen Mann, der auch mich lange geschreckt hat, habe ich keine Angst mehr. Schon bei G. E. Moore war die entsprechende Argumentation nicht so eindeutig und z. T. auch unklar, wie William Frankena bereits 1939 scharfsinnig gezeigt hat (Frankena 1974). Leider beherzigt das heute kaum noch jemand. Statt dessen ist das Stichwort „naturalistischer Fehlschluß" teilweise zu einem Pawlowschen Reflex geworden. Ein wesentlich sparsamerer und differenzierterer Umgang damit wäre angebracht, und der von Francis Fukuyama geübten „Kritik der Theorie des naturalistischen Fehlschlusses" so ein längerer Teilabschnitt seines neues Buches - ist in der Hauptstoßrichtung zuzustimmen (Fukuyama 2002, 163 ff.; vgl. auch Quante 1994, Liedtke 1999, Wilson 2000, 333 ff., Dux 2000, 11 f.).
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Drittes Stichwort: Biotechnologie Der Übergang zum dritten und letzten Stichwort mag etwas abrupt erscheinen, ist es aber eigentlich nicht, denn in großen Teilen der damit apostrophierten Auseinandersetzung geht es um die Frage, ob mit möglichen künftigen Entwicklungen nicht Grenzen überschritten werden, die die Natur der Moral selbst, ja die menschliche Natur insgesamt betreffen. Wie es unter dieser Perspektive mit der Gattung Mensch überhaupt weitergehen könnte - das wäre dann eine im Vergleich zu älteren Geschichtsphilosophien noch ungleich dramatischere Fragestellung. Diese Fragestellung sei hier anhand von zwei jüngsten Diskussionsbeiträgen aufgegriffen: denen von Fukuyama und Habermas (vgl. Fukuyama 2002, Habermas 2001 und 2002 sowie Birnbacher 2002, Siep 2002, Spaemann 2002). In beiden Fällen geht es fundamental um die Zukunft von Moral und menschlicher Natur, allerdings mit etwas unterschiedlichen Akzenten. Die Befürchtungen von Habermas richten sich - trotz des Titels „Die Zukunft der menschlichen Natur" - vor allem auf die Zukunft der menschlichen Moral. Bei Fukuyama dagegen geht es in der Tat sozusagen um die ganze menschliche Natur, um das Wesen des Menschen insgesamt; öfter ist z. B. von „Essenz" und „Wesenskern" des Menschen die Rede (vgl. etwa 299 f.). Da in diesen Debatten allenthalben Äquivokationen lauern, möchte ich beim Ausdruck „Natur des Menschen" oder „menschliche Natur" terminologisch dreierlei unterscheiden: erstens „Natur" mit dem Index „i" für „Individuum", zweitens „Natur" mit dem Index „s" für „Spezies" und drittens „Natur" mit dem Index „w" für „Wesen". Mit „Natur-i" ist die natürliche, insbesondere genetische Ausstattung des je individuellen Menschen gemeint. Dagegen steht „Natur-s" für das, was genetisch die menschliche Spezies ausmacht, grob also für das Humangenom. „Natur-w" schließlich reflektiert den Sprachgebrauch, daß „Natur des Menschen" auch soviel bedeuten kann wie „Wesen des Menschen". Hier wird der Ausdruck „Natur" hochallgemein verwendet - im Sinne des Charakteristischen oder eben des Wesens von etwas. Von Natur in diesem Sinne wird auch mit Bezug auf Nicht-Naturales gesprochen, etwa von der Natur des Öffentlichen Personennahverkehrs. Im Englischen ist das besonders gebräuchlich: the nature of truth, of cricket, of British humour - and so on. Es gibt selbstverständlich mannigfache Beziehungen zwischen Natur-i, Natur-s und Natur-w, aber gerade deshalb muß man die drei begrifflich auseinanderhalten. Z. B. ist nicht jeder Eingriff in Natur-i auch ein Eingriff in Natur-s. Wenn Eltern bei ihrem potentiellen Kind die genotypisch angelegte Augenfarbe Braun auf Blau umprogrammieren ließen (falls das einmal möglich werden sollte), würde dies einen Eingriff in Natur-i darstellen, aber noch nicht in Natur-s. Wenn allerdings alle Eltern dasselbe täten, würde in der Summe auch in Natur-s eingegriffen: Die genetischen Augenfarbenvarianten würden reduziert. Jedoch ob dies hinwiederum auch ein Eingriff in Natur-w wäre, ist zweifelhaft. Zwar wäre es schade, wenn man Leuten wie mir nicht mehr in die schönen braunen Augen sehen könnte, aber am Wesen des Menschen würde das nichts ändern. Beim Eingriff in andere, zentralere Merkmale - etwa der kognitiven oder emotionalen Ausstattung - kann das natürlich ganz anders aussehen. Mir kommt es jetzt aber nur auf Folgendes an: Bezüglich gen-ethischer Verantwortbarkeit kann man - wiederum grob - zwei recht unterschiedliche Typen von Problemen unterscheiden: erstens solche, die die Frage nach der Verantwortbarkeit von Eingriffen in Natur-i daran knüpfen, ob und wieweit daraus auch
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Eingriffe in Natur-s, evt. sogar Natur-w resultieren und ob dieses dann verantwortbar wäre; und zweitens solche Probleme, die sich längst vorher stellen, also durch Eingriffe in Natur-i auch schon dann aufgeworfen werden, wenn man die Folgen für Natur-s und Natur-w noch gar nicht in den Blick nimmt. Dazu würden etwa die notorischen Gerechtigkeits- und Allokationsprobleme gehören, die sich bei einer liberalen Eugenik sogar schon bei rein negativtherapeutischen Praktiken stellen, dazu aber auch viele andere Probleme.3 Abkürzend nenne ich Probleme dieses zweiten Typs Mesoprobleme: Sie sind zwar keineswegs klein, haben aber doch eine alles in allem normale Größenordnung. Im Gegensatz dazu geht es bei Problemen des ersten Typs sozusagen ums Ganze, sogar um die Zukunft der menschlichen Natur und um das Wesen des Menschen. Bei diesem Typ spreche ich deshalb von Megaproblemen - oder auch in der Einzahl von dem Megaproblem. Das ist kein bißchen ironisch gemeint, ich möchte nur eine handliche Abkürzung haben. Man sollte denken, daß Megaprobleme an sich gewichtiger sind. An sich sind sie es natürlich, aber zugleich sind sie, wie ich das einmal nennen möchte, argumentativ auch viel schwerer zu operationalisieren. Dies ist bei vielen Mesoproblemen anders, die sind in dieser Hinsicht handfester, argumentativ - etwa bei der Herausarbeitung konkurrierender Optionen - besser zu modellieren (was freilich keineswegs heißt: leicht zu entscheiden). Unter Rückgriff auf die gemachten Unterscheidungen - zwischen drei Varianten der Rede von menschlicher Natur sowie zwischen zwei Problemtypen - möchte ich jetzt kurz auf Fukuyama und ultrakurz auf Habermas eingehen, welche beide stark die Megaproblematik herauskehren. Fukuyama sieht durch Gentechnik und anderes mehr die Natur oder das Wesen des Menschen in Gefahr (vgl. etwa 240, 299 f.). Für seine Intentionen muß er sich freilich zunächst mit der verbreiteten Sicht auseinandersetzen, es sei ohnehin obsolet, nach dem Wesen des Menschen zu fragen, dergleichen gebe es nicht. Ein Drittel des Buches besteht darin, dem massiv zu widersprechen - nicht zuletzt mit Hilfe einer interessanten Verknüpfung zwischen darwinistischer Biologie und „aristotelischem Essentialismus".4 Mit meinen obigen Unterscheidungen könnte man diesen Tenor vielleicht so reformulieren: Der Auffassung einer fast grenzenlosen Plastizität des Menschen steht dessen massiv vorliegende Natur-s entgegen, wobei die quantitativ wenigen Prozentpunkte, die die genetische Ausstattung des Menschen von der seiner nächsten tierischen Verwandten abheben, sich in einer qualitativen Steigerung ohnegleichen zur Natur-w entfaltet haben, nämlich zu dem In- und Miteinander all jener Faktoren, die zusammen das Wesen des Menschen ausmachen. Daran leuchtet mir sehr vieles ein. Jedoch - daß und wie dieses Wesen des Menschen nun dabei ist, in elementare Gefahr zu geraten (im Sinne der von mir so genannten Megaproblematik): das wird bei Fukuyama weniger klar, es bleibt eher im Vagen und Allgemeinen, erweist sich eben als argumentativ wenig operationalisiert. Wo Fukuyamas Überlegungen und Vorschläge in bezug auf das, was auf verschiedenen Feldern verantwortbar ist oder nicht, faßbar werden, bewegen sie sich zu großen Teilen auf der Ebene von Mesoproblemen, Problemen also, die sich auch schon diesseits der Frage stellen, ob es für die menschliche 3
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Der Ausdruck „liberal" in „liberale Eugenik" ist hier im selben Sinne gemeint wie bei Habermas 2001 oder auch bei Buchanan / Brock / Daniels / Wikler 2000. Fukuyama hätte hier sehr gut auf Martha Nussbaum (z. B. 1993) zurückgreifen können, was er aber merkwürdigerweise (für Insider vielleicht verständlicherweise?) nicht tut.
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Natur eine Fundamentalgefährdung gibt. So sieht Fukuyama die „eindeutigste Gefahr" (219) einer nicht mehr bloß therapeutischen, sondern verbessernden Eugenik darin, daß wir mit der Ersetzung der genetischen Lotterie durch Elternentscheidungen „ein neues Feld" eröffnen würden, „auf dem Menschen miteinander in Wettbewerb treten können; damit ist die Gefahr verbunden, daß sich der Unterschied zwischen Keller und Dach der sozialen Hierarchie vergrößert". (220) Dem ist absolut zuzustimmen, Probleme dieser Art gehören zu den massivsten, die gegen Manipulationen jenseits des rein Therapeutischen sprechen. Nur bewegen wir uns dabei eben ein ganzes Stück unterhalb der Megaproblem-Ebene. Wir haben es mit den Mesoproblemen von sozialer Schichtung, Machtausübung, Gerechtigkeit und anderem mehr zu tun. Aber ändert sich das Wesen des Menschen, wenn die Welt ungerechter wird? Wohlgemerkt - es ist schlecht, wenn die Welt ungerechter wird, aber ändert sich dadurch die menschliche Natur? Das ist zumindest unklar, der Sache nach wie schon begrifflich. Ein Punkt, wo Fukuyama auch bezüglich einer möglichen Fundamentaländerung des Menschen deutlicher wird, ist mit den Stichworten „Leid" und „Leidverminderung" gegeben. Seine Befürchtung ist, daß die neuen biomedizinischen Techniken einseitig in die Richtung von Leidminderung gehen. Dazu meint Fukuyama: „Das utilitaristische Ziel, das Leiden zu minimieren, ist an sich bereits fragwürdig." (241) Denn es sei doch so, „daß jene Eigenschaften, die wir für die besten und bewundernswertesten des Menschen halten, oft mit der Art und Weise zu tun haben, wie wir auf Leid, Elend und Tod reagieren [...]." (ebd.) Dem würde ich gar nicht - oder jedenfalls nicht radikal - widersprechen wollen, aber ein handhabbares ethisches Argument, sozusagen auf der Ebene der Mesoprobleme, ist daraus schwer zu machen. Denn erstens liegt das Ziel der Leidverminderung von Anfang an allem medizinischen Handeln zugrunde und darüber hinaus vielen anderen Formen zivilisatorischen Handelns, und zweitens brauchen wir uns wohl auch auf lange Sicht keine Sorgen zu machen, daß uns das Leiden ausgeht. Im letzten WHO-Jahresbericht etwa prognostiziert Gro Harlem Brundtland, daß jeder Vierte im Laufe seines Lebens von Geisteskrankheit betroffen sein wird und daß in zwanzig Jahren Depressionen die zweithäufigste Krankheitsbelastung darstellen werden (vgl. Paulus 2001, 32). Was ich hier aber lediglich zeigen wollte, ist: Die Ahnung einer Fundamentalgefahrdung (und wen wird diese Ahnung nicht mindestens zeitweilig beschleichen?) läßt sich gleichwohl nur unscharf, uneindeutig, unterdeterminiert auf der Ebene der Mesoprobleme artikulieren, und umgekehrt bestehen die z. T. sehr konkret formulierbaren Mesoprobleme relativ unabhängig von dem Megaproblem einer möglichen Elementargefahrdung. Diese Einschätzung sei noch anhand der Argumentation von Jürgen Habermas überprüft, obzwar nur in Form einer ganz kurzen Andeutung. Habermas macht den Versuch, besagte Megaproblematik aus dem bloß Ahnungshaften - er spricht von „Schwindelgefühlen", die uns da erfassen (2001, 73) - in eine argumentativ durchdrungene Form zu überfuhren. Ich bin mir unsicher, ob dies gelungen ist. Zum einen scheint mir der zugrundegelegte Begriff von Lebensautorschaft (vgl. ebd. 49, 77, 97 ff. et passim sowie 2002, 287) zu stark und überzogen zu sein. Und zum anderen - teils sogar unabhängig davon - ist es nicht ausgemacht, daß aus einer spezifischen Asymmetrie, der zwischen Eltern und Nachkommen, wenn sie denn über das immer schon gegebene Maß hinaus nunmehr eugenisch verschärft würde, wirklich eine Allgemein- und Grundgefahrdung symmetrisch-reziproker Anerken-
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nungsverhältnisse folgen würde. Nach Habermas würde das dann nicht etwa nur bestimmten moralischen Prinzipien oder Normen entgegenstehen, sondern die Basis von Moralität überhaupt untergraben. Es wäre, könnte man sagen, nicht etwa nur ein moralischer Rückschritt, sondern der Rücktritt vom Moralischen überhaupt. Mir scheint das mindestens zweifelhaft zu sein. Elterlicherseits geübte Eugenik wirft große Probleme auf, und das sind moralische Probleme, aber es sind weitgehend ¡'wwermoralische Probleme, sozusagen Mesoprobleme mit moralischem Charakter. Wir haben alle Gründe, diese Probleme zu fürchten, jedenfalls sehr ernst zu nehmen, jedoch scheint mir das Mega-Argument, daß der Moral als solcher die Basis entzogen würde, in einer abstraktiv zu dünnen Luft zu hängen. Eine ganz andere Frage, die am Schluß noch formuliert sei, wäre natürlich, ob nicht das an der menschlichen Natur, von dem vorhin unter dem Stichwort eines evolutionär entstandenen Protoaltruismus die Rede war, irgendwann gefährdet sein könnte, etwa durch Degeneration oder Manipulation an demjenigen Teil des Genoms, in dem die Anlagen für diesen Altruismus - falls sich so etwas einmal herausstellen sollte - kodiert sind. Rein theoretisch und für die ferne Zukunft ist selbstverständlich vieles, nahezu alles denkbar. Aber dergleichen muß doch extrem spekulativ bleiben - mindestens so spekulativ, wie etwa die Frage, ob nicht schon in den nächsten paar hundert Jahren ein großer Meteoriten- oder Asteroideneinschlag ohnehin die Existenz unserer Gattung - wie einst die der Dinosaurier - beenden könnte. Vielleicht ist die Zukunft der Moral eher dadurch bedroht, daß das, was an moralischen Anlagen in Natur-s und Natur-i bereitliegt und sich entfalten will, dabei auf zunehmend vertracktere Umgebungen stößt, etwa auch Umgebungen, in denen die Balance zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Kompetitivität und Kooperativität zumindest sehr labil ist. Solche Faktoren - u. a. jedenfalls - bedingen es, daß der moralischer Fortschritt sozusagen kein günstigeres Bild bietet als das höchst ambivalente und uneindeutige, von dem eingangs die Rede war.
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Vom Ende der Geschichtsphilosophie durch Entgrenzung ihres Gegenstands
I. Einleitung 1. Abschiedsszenarien haben Konjunktur in der gegenwärtigen philosophischen Landschaft. Von der Metaphysik, die zu diesem Zweck als einheitliche Formation allerdings erst erfunden werden mußte, verabschieden wir uns schon seit dem 19. Jahrhundert mit zunehmendem Nachdruck. In ihrem Gefolge sind Essentialismus in der Theorie, Universalismus in der Ethik, das Schöne in der Ästhetik weitere Kandidaten auf der Abschiedsliste; ihren nachmetaphysischen Gegenpositionen geht es nicht besser: Relativismus, Individualismus, Postmodernismus usw. Auch die Philosophie selbst ist immer wieder auf den Kondolenzlisten des philosophischen Zeitgeistes zu finden. Jedenfalls wird gegenwärtig viel Scharfsinn darauf verwendet darzulegen, was, und zu begründen, warum etwas nicht mehr geht. Viel weniger ist darüber zu hören, was statt dessen möglich, denkbar oder gar überzeugend darstellbar wäre. Nietzsches Versprechen einer Philosophie der Zukunft blieb uneingelöst, vielleicht müssen wir uns auch von solchen Wünschen verabschieden. 2. Die Geschichtsphilosophie, das Rahmenthema des heutigen Kolloquiums, gehört zu den prominentesten unter den philosophischen Formationen der Neuzeit, deren Ende verkündet wurde; nicht nur aufgrund des Untergangs des Marxismus als geschichtsmächtiger Ideologie und auch nicht erst seither. Im folgenden möchte ich die wohl bekannteste, durch ihren Erfolg sich selbst erfüllende Anzeige dieses Endes nachzeichnen, im kritischen Rückblick prüfen und nach Wegen fragen, wie seither das Problempotential der einst so viel versprechenden Geschichtsphilosophie transformiert wurde bzw. wird oder werden könnte. Denn unabhängig davon, ob man der These vom Ende der Geschichtsphilosophie zustimmen mag oder nicht, so ist doch die Geschichte selbst damit keineswegs zu Ende (trotz werbewirksam anderslautender Buchtitel). Was mich hier interessiert, ist das allgemeine Phänomen der Transformation einer philosophischen Formation im Untergang, durch Untergang. Was mußte untergehen, damit was erhalten bleiben und sich erneuern konnte, und wie verschoben bzw. verschieben sich dabei die Gewichte, die Akzente, die spezifischen Differenzen. Um es kurz vorwegzunehmen: Was sich auflöste, sind die Bestimmtheit und die Grenze des Gegenstands der Geschichtsphilosophie, und zwar in dem doppelten Sinn von finis: Abgrenzung und (End-)Ziel; was gleichwohl blieb und bleibt, sind die Finalität, die Zweckmäßigkeit, die Sinnbestimmung ihres nunmehr entgrenzten und unbestimmten Gegenstands.
V O M E N D E DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE DURCH ENTGRENZUNG IHRES GEGENSTANDS
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II. Neuzeitliche Philosophie als Wende zur Lebenswelt 3. Doch worum geht es eigentlich, wenn vom Ende der Geschichtsphilosophie die Rede ist? Der Name der Geschichtsphilosophie ist, wie alle Namen, offen für unabsehbar viele (Be-)Deutungen. Vielerlei Reflexionen über geschichtliche Phänomene und Zusammenhänge wurden und werden gelegentlich als geschichtsphilosophisch bezeichnet. Zentrale Bedeutung als ein Programm und eine Deutungsmuster für philosophische Grundfragen gewann die Geschichtsphilosophie aber erst in einer spezifisch neuzeitlichen Prägung. Nur diese ist im Visier der Kritik, wenn vom Ende der Geschichtsphilosophie die Rede ist. Odo Marquardt, der das Ende der Geschichtsphilosophie mit nachhaltigem Erfolg inszenierte, indem er als ihr Anhänger sprach, der die Schwierigkeiten, die ihm ihre Verteidigung bereiteten, nicht mehr überwinden konnte, charakterisiert sie mit folgenden Worten: „Geschichtsphilosophie ist eine datierbare Formation: diejenige, die die Weltgeschichte proklamiert mit dem einen Ziel und Ende, der Freiheit aller; [...] diejenige, die aufruft zum Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit dadurch, daß sie sich aus Heteronomien befreien und sich selber autonom zum Herrn ihrer Welt machen. Geschichtsphilosophie ist der Mythos der Aufklärung" (Marquard 1973, 14). 4. Die Probleme und die Hoffnungen, die sich mit dieser Definition verbanden, sind dem philosophischen Bewußtsein der Gegenwart, dreißig Jahre später, fremd geworden. Die Frage drängt sich auf, was sie zu ihrer Zeit hervorrief und später so mächtig werden ließ. Marquard nennt zwei Ursprungsbedingungen für die Entstehung der geschichtsphilosophischen Fragestellung in dem genannten Sinn. Zum einen gehe es, das gelte für das deshalb neuzeitlich genannte Denken generell, um eine allmähliche Verlagerung des intellektuellen Interesses von den ewigen hin zu den endlichen Dingen, von der unveränderlichen Vernunft als Bestimmungsgrund des Menschen zu den kontingenten Bedingungen seiner Lebenswelt. Zum anderen gehe es, nun innerhalb des Rahmens dieses neuen Interesses an der Lebenswelt, um eine Abgrenzung von der Frage nach der endlichen Natur des Menschen, die von der Anthropologie, der anderen lebensweltorientierten Disziplin der neuzeitlichen Philosophie, thematisiert werde. Marquards Gegenwartsdiagnose kommt nun zu dem Ergebnis, daß die neuzeitspezifische Wende des Denkens zur Lebenswelt gerade in der Geschichtsphilosophie mißlungen sei; im kritischen Gegenentwurf der philosophischen Anthropologie allerdings ebenfalls, wie er, skeptisch geworden, vorsichtig hinzufügt. 5. Die historische These, die im folgenden knapp erläutert werden soll, zielt auf folgende Modifikation der Marquardschen Diagnose: Ich möchte unterstreichen, daß das neuzeitliche Denken sinnvoll charakterisiert werden kann durch den Versuch einer Wende vom Ewigen zum Endlichen, von der Wesenswelt zur Lebenswelt. Doch gelang diese Wende nicht in einem Zug. Mit dem Ende der Geschichtsphilosophie (bzw. der philosophischen Anthropologie) scheiterte sie bereits zum zweiten Mal. Durch dieses zweite Ende aber ist der Weg frei geworden für einen dritten Versuch, der die neuzeitliche Wende der Philosophie zur Lebenswelt in der Gegenwart vielleicht vollenden könnte.' Diese historische These möchte
Damit wäre auch von dieser Seite her betrachtet die Epoche der philosophischen Moderne, die ihren Namen deswegen zu Recht fuhrt, weil sie sich dem Grundproblem der Philosophie, „das was ist zu begreifen" (Hegel 1970, 26), auf neue Weise stellt, zu ihrer charakteristischen Erfüllung gekommen. Zu-
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ich nun knapp erläutern, die ausfuhrliche Version muß ich auf einen anderen Ort verschieben. 6. Die erste Stufe der neuzeitlichen Wende zur Lebenswelt wird durch die Humanisten eingeleitet. Ihr Pathos der (Wieder-)Entdeckung der Würde des diesseitigen Menschen, seiner Dynamik und seiner Potenzen, ist bekannt. Sie widersprechen damit der im 14. Jahrhundert vorherrschenden Klage über das Elend des Menschen. Der Mensch (das Individuum und die Gattung, mit neuem Akzent allerdings auf dem Individuum) kann, darf und soll etwas aus sich machen, in Freiheit und durch Arbeit seine göttliche Natur verwirklichen. Das ist der Auftrag, der ihm mit seiner Natur durch deren Schöpfer erteilt wurde. Er soll die in ihm angelegten Möglichkeiten zur Entfaltung bringen, kann sie allerdings auch verfehlen. Dieser Auftrag hat kosmologische Dimensionen: Die gesamte Schöpfung ist darauf angelegt, die in der irdischen Natur des Menschen liegenden Möglichkeiten zu verwirklichen. Natur und Geschichte des Menschen gewinnen damit zentrale Bedeutung. Sie fallen allerdings (noch) zusammen, denn beide sind teleologisch bestimmt. In dem modernen antagonistischen Sinn dieser Begriffe gesprochen, handelt es sich also noch gar nicht um Natur und Geschichte: Denn es geht um die Wesensnatur des Menschen, nicht um seine natürlichen Lebensbedingungen; um die individuelle Vervollkommnung der Menschen im Sinn einer Verwirklichung der Anlagen ihrer Wesensnatur, nicht um eine geschichtliche Aufgabe, wie sie der Mythos der Aufklärung stellen wird. 7. Die humanistische Wende, die in Brunos Heroici Furori gipfelt, sich aber zugleich auch ad absurdum führt, wird abrupt abgebrochen, aufgegeben, überwunden durch die Neubegründung der Wissenschaft und Metaphysik bei Galilei bzw. Descartes. Diese Epoche wiederum, die im historischen Rückblick als die im engeren Sinn neuzeitliche Epoche des Denkens gilt, kann nun schwerlich als ein Mißlingen der Neuzeit oder gar als „Gegenneuzeit" (Marquard 1973, 16) verstanden werden, wohl aber als eine Restauration der alten vorneuzeitlichen Metaphysik unter den veränderten Bedingungen des Denkens nach seiner humanistischen Kritik. Descartes und Galilei gehen mit der neuen Zeit, indem sie (a) das humanistische Interesse an der Lebenswelt und die (vor-)pragmatistische Orientierung der Wissenschaft(en) am Nutzen für die Menschheit übernehmen und (b) die Forderung nach einer einheitlichen Methode der Wissenschaft, die sich in den artes des 16. Jahrhunderts entwickelt hatte (Ramus), programmatisch verschärfen. Doch nimmt diese neuzeitliche Methode der Erkenntnis - gegen einen tief sitzenden Affekt der Humanisten - die Mathematik zum Vorbild und restauriert damit das alte Ideal der Wissenschaft (scientia), die sich nur auf Unveränderliches richtete: an die Stelle der ewigen Dinge treten die ewigen Gesetze bzw. die notwendigen Verbindungen. Im Interesse des Nutzens für die Menschheit feiert die neuzeitliche Wissenschaft seither ihre bekannten Triumphe (die Früchte des Baums des Wissens sind - in den Worten Descartes', also beispielsweise - Mechanik, Medizin und Ethik); und mit dem durchschlagenden Erfolg diese Modells wird für lange Zeit der bedrohlich erscheinende Einbruch der unsicheren Lebenswelt in das Reich der Wissenschaft abgewehrt. Doch das Interesse am Menschen und seiner konkreten Lebenswelt kommt dabei in signifikanter Weise zu kurz.
gleich wäre aber auch eine neue Problemlage entstanden, für die noch kein eigener Namen außer dem des rückblickenden Nicht- mehr- oder eben Po.si-modemen zur Verfügung steht.
VOM ENDE DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE DURCH ENTGRENZUNG IHRES GEGENSTANDS
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8. Dagegen, so nun der überzeugende andere Teil der historischen These Marquards, richten sich in schwesterlicher Konkordanz und Konkurrenz die beiden spezifisch neuzeitlichen Formationen von Geschichtsphilosophie und philosophischer Anthropologie2: Die spezifisch neuzeitliche Lehre vom Menschen, die aus der Wende des Denkens zur menschlichen Lebenswelt entsteht, hat also von Anfang an diese zwei Seiten. Der Mensch hat eine Natur, und er hat eine Geschichte. (In diesem Satz ist jedes Wort problematisch: nicht nur die Leitbegriffe Mensch, Natur, Geschichte, sondern auch eine und haben) Beide erklären sich gegenseitig, beide begrenzen sich gegenseitig. Beide verwalten ein Stück des Erbes der (christlichen) Theologie. Aus ihrem theoretischen Antagonismus lebt die (spätneuzeitliche) Doppelgeschichte von Geschichtsphilosophie und philosophischer Anthropologie (vom späten 18. bis ins späte 20. Jahrhundert), die Gegenstand der Marquardschen Reflexionen ist. 9. In dieser Sicht liegt es nahe, die (Titel-)Frage nach dem Ende der Geschichtsphilosophie mit einer Frage nach dem Verbleib der philosophischen Anthropologie zu verbinden. Nach der These Marquards fuhrt die Schwächung der einen notwendig zu einer Stärkung der anderen, wechselseitig. Jede blüht, sie blüht aber nur auf Kosten der anderen. Philosophie der Lebenswelt scheint nur auf die eine oder die andere Weise möglich zu sein, als Geschichtsphilosophie oder als philosophische Anthropologie. Leider aber findet man gleich starke Argumente gegen beide, jeweils aus der Perspektive der anderen betrachtet. Was bleibt, ist Skepsis. Die systematische These meines Vortrags wird es sein zu zeigen, daß erstens keine der beiden Schwestern sterben kann ohne die andere mit in den Tod zu nehmen, und zweitens, daß das Ende beider nicht das Ende der Geschichte (oder gar des Menschen) bedeutet, sondern den Gegenstand der Geschichte entgrenzt und gleichzeitig den der Anthropologie entzaubert.
III. Geschichtsphilosophie und philosophische Anthropologie 10. Die Geschichtsphilosophie ist bekanntlich keine alte Disziplin im Kanon der philosophischen Wissenschaften. Das Interesse an Geschichte auch im engeren modernen Sinn des Wortes ist natürlich viel älter. Auch die Geschichtsschreibung kann bekanntlich auf eine lange antike Tradition zurückblicken. Es geschieht daher nicht ohne Grund, wenn andere Geschichtsphilosophen ihre Disziplin bereits mit der Geschichtstheologie der apokalyptischen Schriften der Bibel beginnen lassen. Was also war neu, als das philosophische Interesse an Geschichtsphilosophie in der Neuezeit erwachte? Neu und zündend war die Konvergenz zweier Entwicklungen: 11. (a) Die eine davon betrifft den Gegenstand der Geschichtsbetrachtungen. Anfangs waren und bis heute sind es zunächst und zumeist partikulare Gegenstände, die das historische Interesse auf sich zogen, wenn auch bisweilen Gegenstände großen Umfangs: In profanem Interesse ging um die Geschichte einer Familie, eines Herrscherhauses, eines Volkes 2
Marquard 1973, 27: „[...] denn die philosophische Anthropologie: sie ist nicht nur die Schwundstufe der Geschichtsphilosophie, sie ist vielmehr - auf der Grundlage einer fundamentalen Gemeinsamkeit: der Zuwendung zum Problem der Lebenswelt - ihr wirkliches Gegenteil, und zwar dadurch, daß die für sie fundamentale Frage nicht die Frage nach der Geschichte des Menschen ist, sondern die Frage nach seiner Natur."
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oder auch aller Völker der bekannten Welt (Herodot). Auch wenn in religiösen Ursprungsmythen von der Welt gesprochen wurde, dann geschah das doch immer im Blick auf das besondere Volk, von dem und für das sie erzählt wurden, als dessen Vorgeschichte. Erst die Universalisierung des Anspruchs der christlichen Religion erweitert das religiös bestimmte, Schöpfung und Gericht umfassende Geschichtsinteresse dezidiert auf die gesamte Menschheit. Obwohl die christliche Universalgeschichte, wie bekanntlich die Ursprungsmythen vieler anderer Völker und Religionen auch, mit der Entstehung (bzw. Schöpfung) der Welt beginnt, so ist der Gegenstand ihres Interesses doch weder die natürliche Welt, noch nur ein besonderes Volk, sondern die Menschen in der Welt. Sie versteht sich als Heilsgeschichte für alle Menschen. Jedenfalls was ihren Objektbereich betrifft, erweist sich die moderne Geschichtsphilosophie damit als Erbin der spezifisch christlichen Heilsgeschichte; sie ist ein Produkt ihrer Säkularisierung. 12. (b) Die andere Entwicklung betrifft den Ort und die Bedeutung der Geschichte innerhalb (bzw. außerhalb) der Philosophie. Von den Anfangen der Philosophie an (bei Parmenides, vor allem bei Piaton) werden die geschichtlichen Dinge der Welt des Endlichen, Sinnlichen, Vergänglichen zugeordnet und stehen damit in einem Gegensatz zu den unvergänglichen Gegenständen der wahren Welt. Von ihnen gibt es keine Wissenschaft, sondern nur Meinungen und Erfahrungen. Bestenfalls, insbesondere im Zuge der Christianisierung des Hellenismus, die sich nachhaltig in der Geschichtstheologie Augustins manifestiert, dienen sie als Bilder und Zeichen der göttlichen Wahrheit; sie können und sollen entsprechend verstanden werden. Noch Francis Bacon aber ordnet die Geschichte (historia in einem sehr weiten Sinn des Wortes, alle Dinge und Ereignisse der in Raum und Zeit veränderlichen Welt betreffend) der memoria zu, allein der ratio hingegen die Philosophie. Im strengen Sinn des Wortes gehört das Thema Geschichte damit zwar zur doctrina humana, die alles umfaßt, was die anima rationalis des Menschen, also das Denken im weiteren Sinn dieses Wortes, interessiert, aber immer noch nicht zur Philosophie. Schon bei Hobbes ist die Lage völlig anders, Geschichte wird ein Gegenstandsfeld der Philosophie, ihr Verständnis eine Sache des Verstandes (der ratio). Im weiteren Verlauf der neuzeitlichen Geschichte wird sie immer häufiger (freilich nicht überall) zu einem zentralen philosophischen Thema. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung, bei Hegel, wird es möglich, die Philosophie insgesamt als Geschichtsphilosophie zu bezeichnen. Gott manifestiert sich nicht so sehr in der Natur als vielmehr in der Geschichte: die Geschichte ist das Weltgericht. 13. Die Konvergenz dieser beiden Entwicklungen - der Gegenstand der Geschichte ist der Mensch, und der Mensch ist bestimmt durch seine Geschichte; oder anders gesagt: Die Geschichte ist vernünftig, und die Vernunft ist geschichtlich. Gegenstand der Philosophie ist die Vernunft ist die Geschichte - läßt das entstehen, was wir als moderne Geschichtsphilosophie kennen, und sie macht deutlich, warum es sinnvoll ist zu behaupten, daß erst diese neuzeitliche Weise einer philosophischen Reflexion auf Geschichte zu Recht Geschichtsphilosophie genannt werden kann. 14. Vergleichbares gilt nun von der Entstehung der philosophischen Anthropologie. Ihr Gegenstand ist der Mensch, der Mensch aber nicht als eine endliche Vernunft, die in einen Körper versenkt ist, der vorübergehend ihre Behausung, ihr Kleid, ihr Bild und ihr Zeichen ist. Ihr Gegenstand ist vielmehr der leibliche Mensch als Sinnenwesen mit der Gabe und Aufgabe einer Vernunft als eines ingeniums, das es zu kultivieren gilt, das aber in erster
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Linie der Erhaltung des leiblichen Lebens dient. (Hier wäre als eine frühe und dezidierte Position exemplarisch diejenige des Th. Hobbes zu nennen.) Es bestehen also offenkundige und keineswegs zufallige Parallelen zwischen der Geburt der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und der der philosophischen Anthropologie. Das zentrale, wenn auch vielleicht den Zeitgenossen verborgene Interesse beider liegt in dem, was der historische Rückblick als eine epochale Wende zur Lebenswelt erkennen und bezeichnen möchte. So weit, so gut. Welches sind nun aber die Schwierigkeiten der Geschichtsphilosophie (und der philosophischen Anthropologie), von denen Odo Marquard als ein Enttäuschter unter ihren Verehrern bzw. Zauderer unter ihren Bewerbern spricht? 15. Das zweite der o. g. Charakteristika, der neue Ort und die neue Bedeutung der Geschichte als zentraler Gegenstand der Philosophie kann nicht gemeint sein, denn es bezeichnet ja nur das neue Interesse selbst. Das Problem muß im ersten der o. g. Charakteristika liegen, den Gegenstand beider betreffend: Die Erhebung der menschlichen Geschichte (der Geschichte der Menschheit) zu einem Gegenstand der philosophischen Wissenschaft fuhrt letztlich, so Marquard, zur Eliminierung des wirklichen Menschen, zur Nichtbeachtung der Individuen in ihrer je konkreten Lebenswelt. Die Geschichte, was immer als ihr Ziel bestimmt wird, erfüllt sich auf Kosten der Menschen. In diesem Sinn verrät die Geschichtsphilosophie die Wende zur Lebenswelt, die der neuzeitliche Aufbruch des Denkens intendierte. Im Interesse des Fortschritts der Menschheit verrät sie die Hoffnung auf eine Emanzipation der Menschen. Die Philosophie hat sich in ihrer Wende zur Geschichtsphilosophie nicht wirklich in die Welt des Endlichen, Sinnlichen, Vergänglichen herabgelassen, sondern, auch insofern Erbe der Theologie, die Menschheit auf ihre eschatologische Zukunft am Ende der Zeiten vertröstet. Dazu noch einmal Marquard: „Der geschichtsphilosophische Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit endet mit der Schlüsselgewalt ihrer selbstverschuldeten Vormünder. Die Geschichtsphilosophie [...] ist der Mythos der Emanzipation, gerade deswegen ist sie keine wirkliche Emanzipation" (Marquard 1973, 19). 16. Doch ist zu fragen: Macht es die philosophische Anthropologie denn besser? Wenn sie, wie Marquard überzeugend betont, das „wirkliche Gegenteil" der Geschichtsphilosophie darstellt, „und zwar dadurch, daß die für sie fundamentale Frage nicht die Frage nach der Geschichte des Menschen ist, sondern die Frage nach seiner Natur", dann ist die Sorge, daß sie, die philosophische Anthropologie, „über der Natur den Menschen vergißt", nur zu berechtigt.3 In dem Bemühen, sich als philosophische (Grund-)Wissenschaft zu etablieren und auszuweisen, ist noch jede der späteren Gestalten der philosophischen Anthropologie der Versuchung erlegen, den Menschen von einem oder mehreren natürlichen Merkmalen her im allgemeinen zu bestimmen, d. h. festzulegen. Sei es durch das naturgesetzliche Gebot der Friedenssicherung (Hobbes) oder durch die Fähigkeit zur Besonnenheit und zur Sprache (Herder), durch Projektion seiner Wünsche auf einen mächtigen Gott (Feuerbach) oder durch Verdrängung dieser Wünsche durch kulturelle Sozialisation (Freud), durch Kompensation der Mängel seiner Instinktnatur durch den Geist (Gehlen) oder durch eine exzentrische Position im Kosmos (Scheler), um nur einige prominente Beispiele zu nennen. Der einzelne Mensch findet sich also entweder in Einklang mit seiner so oder so definierten 3
Vgl. das Zitat in Anm. 2 (Marquard 1973, 27). Der anschließende Satz lautet vollständig: „Daß sie [die philosophische Anthropologie] über der Natur den Menschen vergißt: das ist der zentrale Einwand der Geschichtsphilosophie gegen die Anthropologie."
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Natur oder in Mißklang, von Befreiung jedenfalls keine Spur. Mit seinen konkreten lebensweltlichen Problemen bleibt er - unter den Bedingungen einer philosophischen Anthropologie - so allein wie das an einen Körper gefesselte Vernunftwesen der alten Metaphysik mit dem allgemeinen Elend seines entfremdeten Erdenlebens. 17. Marquard zieht in historischer Hinsicht folgendes Fazit seiner Erkundung dieser beiden komplementären philosophischen Optionen: „Wende zur Geschichtsphilosophie ist nur als Abkehr von der Anthropologie, Wende zur Anthropologie ist nur als Abkehr von der Geschichtsphilosophie möglich" (Marquard 1973, 134), und er belegt dieses Fazit an zahlreichen Beispielen aus der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Beide Positionen, so hat die Erkundung gezeigt, beziehen den spezifischen Teil ihres Kredits aus einer kritischen Abkehr von einer schwachen Alternative - und bleiben an diese Abkehr gebunden. Sein systematisches Fazit ist bekanntlich eine neue Skepsis. Diese findet ihren entschiedensten Ausdruck in einem erst 1973 verfaßten Anhang zum Anthropologie-Vortrag bzw. Aufsatz von 1963/65, in dem er die naheliegenden Versuche einer Versöhnung beider Optionen untersucht und als zu leicht befindet; auch sie müssen mißlingen. „Grundsätzlich", so Marquard, bleibe die Frage nicht nur offen, sondern auch „akut, wer von beiden - die Geschichtsphilosophie oder die Anthropologie - recht habe". Er hält also an der Alternative der zwei dogmatischen Positionen fest. Denn zur Freude des skeptischen Philosophen erweist sich in dieser Alternative die Isosthenie der Argumente als nahezu perfekt, und es bleibt nur die eher biographisch motivierte schwache Neigung des Autors zur Seite der „Unvermeidlichkeit des Anfechtbaren", die in seinen Augen die Anthropologie als (s)eine zweite Liebe auszeichnet (Marquard 1973, 144). 18. Unter der Hand hat sich aber auch gezeigt, daß beide Positionen, die sich beide einer doppelten Abkehr verdanken, gerade in ihrer „fundamentalen Gemeinsamkeit: der Wende zur Lebenswelt" (Marquard 1973, 138) noch stark dem Begriff von Philosophie und Wissenschaft, von Philosophie als Wissenschaft, verhaftet sind, von dem sie sich, auf getrennten Wegen mit gemeinsamen Zielen argumentierend, zu lösen versuchen. Die eine fragt nach der Geschichte (als der wesentlichen Bestimmung) der Menschheit, die andere nach der Natur (als dem Wesen) des Menschen. Geschichte und Natur werden hier als metaphysische Begriffe gebraucht, nämlich in dem Sinn, daß sie das Gesuchte als ein Allgemeines und im Prinzip Unveränderliches voraussetzen. Die intendierte Wende des Denkens zur Lebenswelt kann sich aber erst vollenden, wenn sich auch diese allgemeine Form des Gesuchten in einer in ihrer Kontingenz bedeutsamen Vielfalt konkreter Formierungen aufgelöst haben wird.
IV. Historisierung der Natur, Entgrenzung des Feldes der Historie 19. Nachdem das Denken in einer vorphilosophischen Frühzeit gelernt hatte, Natur und Geschichte überhaupt zu unterscheiden, wodurch sich ihm unschätzbare und unabsehbar weite neue Horizonte eröffneten, ist es, in philosophischer Spätzeit, mit diesem Gegensatz in Schwierigkeiten geraten. Es gab Versuche, diese Schwierigkeiten dadurch aufzulösen, daß Konvergenzen von Anthropologie und Geschichtsphilosophie aufgezeigt wurden, um die Einheit des Menschen als Natur- und Geschichts- (bzw. Kultur-)wesen neu denken zu können. Doch auch diese Versuche sind nicht erst in der soeben geschilderten philosophischen Not entstanden. J. G. Herder, der sich als Geschichtsphilosoph darstellt und gerade damit
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zum Erzvater der philosophischen Anthropologie wurde, mag hier exemplarisch für diese Versuche genannt werden. Herder eröffnet sein geschichtsphilosophisches Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit mit Abhandlungen zur Geogonie und zur physischen Geographie (1. Buch), daran schließen sich Betrachtungen zu Botanik und Zoologie (Anatomie und Physiologie: 2. u. 3. Buch) an. Schon diese vorbereitenden Abschnitte sind im Blick auf das übergeordnete Ziel konzipiert, den Punkt zu bestimmen, da „endlich nach allen die Krone der Organisation unsrer Erde, der Mensch, auftrat, Mikrokosmus. Er, der Sohn aller Elemente und Wesen, ihr erlesenster Inbegriff und gleichsam die Blüte der Erdenschöpfung" (Herder 1989, 31). Erst dann wird ausfuhrlich die Natur des Menschen erörtert, auch seine natürliche Anlage zu Vernunft und Sprache (4. bis 10. Buch). Die Philosophie der Geschichte der Menschheit ist also in ihrer ersten Hälfte Naturphilosophie. Programmatisch für das folgende heißt es im 2. Buch beim Übergang vom Tier zum Mensch: „die Geschichte seiner Kultur" ist zu einem großen, und zwar dem „interessantesten" Teil zoologisch und geographisch" (Herder 1989, 68 f.). Was wir gewöhnlich unter menschlicher Geschichte in einem engeren Sinn verstehen, beginnt erst mit dem dritten von vier Teilen (11. bis 20. Buch). Für Herder also ist Geschichtsphilosophie als Philosophie des Menschen zugleich philosophische Anthropologie und als solche auch am Menschen orientierte Naturphilosophie. Der eigentliche Gegenstand der Atowrphilosophie ist die Geschichte der Menschheit. 20. Diese teleologische Natur- und Geschichtsphilosophie ist nun offensichtlich theologisch motiviert. Der theologische Ursprung und Rahmen dieser Explikation der neuzeitlichen Wende zur menschlichen Lebenswelt auf den Feldern von Natur und Geschichte wird von Herder auch ausdrücklich betont.4 So kann es nicht überraschen, daß bei aller Betonung der kulturellen Vielfalt und der historischen Veränderungen innerhalb der Menschheitsgeschichte, bei aller Betonung der Verbundenheit des Menschen mit der gesamten übrigen Natur doch der alte Grundsatz gültig bleibt: „nur Ein' und dieselbe Gattung ist das Menschengeschlecht auf der Erde" (Herder 1989, 253, Z 25 f.). Die Begründung ist erstaunlich konservativ: „Da indessen der menschliche Verstand in aller Vielartigkeit Einheit sucht und der göttliche Verstand, sein Vorbild, mit dem zahllosesten Mancherlei auf der Erde überall Einheit vermählt hat: so dürfen wir auch hier aus dem ungeheuren Reich der Veränderungen auf den [o. g.] einfachsten Satz zurückkehren" (Herder 1989, 253, Z 20-25). Und er fordert uns auf, streng zu trennen zwischen der ,,systematische[n] Naturgeschichte" (als dem Ort der Einheit) und der ,,physisch-geographische[n] Geschichte" (als dem Ort der kulturellen Verschiedenheiten) „der Menschheit" (Herder 1989, 256). Natur und Geschichte
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Ideen ..., 1. Buch, Kap. 1: „Die Kraft, die in mir denkt und wirkt, ist ihrer Natur nach eine so ewige Kraft, als jene, die Sonnen und Sterne zusammenhält: ihr Werkzeug kann sich abreiben, die Sphäre ihrer Wirkung kann sich ändern, wie Erden sich abreiben und Sterne ihren Platz ändern; die Gesetze aber, durch die sie da ist und in andern Erscheinungen wieder kommt, ändern sich nie. Ihre Natur ist ewig, wie der Verstand Gottes und die Stützen meines Daseins (nicht meiner körperlichen Erscheinung) sind so fest als die Pfeiler des Weltalls. Denn alles Dasein ist sich gleich, ein unteilbarer Begriff; im Größesten sowohl als im Kleinsten auf Einerlei Gesetze gegründet. Der Bau des Weltgebäudes sichert also den Kern meines Daseins, mein inneres Leben, auf Ewigkeiten hin. Wo und wer ich sein werde, werde ich sein, der ich jetzt bin, eine Kraft im System aller Kräfte, ein Wesen in der unabsehlichen Harmonie einer Welt Gottes " (Herder 1989, 24).
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des Menschen sind dadurch versöhnt, daß ihre Gebiete säuberlich voneinander unterschieden werden: Was wir als gleichbleibend und unveränderlich ansehen wollen bzw. sollen (die jeweilige Gattung), heißt Natur und göttlich, Geschichte heißt alles, was sich innerhalb dieses natürlich-göttlichen Rahmens verändert (alles Individuelle). Nun ist, wie Herder in demselben Kapitel ausfuhrt,,jeder Mensch [jedes Individuum] zuletzt eine Welt [...], zwar eine ähnliche Erscheinung von außen; im Innern aber ein eignes Wesen, mit jedem andern unausmeßbar" (Herder 1989, 252). Offensichtlich ist die aristotelische und christliche Ordnung des Allgemeinen (der Begriffe bzw. Gattungen) noch so selbstverständlich und unantastbar, daß eben diese von Gott geschaffene Ordnung nicht in den Bereich dessen fallen kann, von dem derselbe Herder schreibt: „Alles ist auf der Erde Veränderung" (Herder 1989, 33). Die (wahren) Begriffe bzw. Gattungen ändern sich nicht. 21. Bekanntlich dauert es nicht mehr lange, bis auch dieser (aus der mittelalterlichen Theologie beibehaltene und in der mathematisch orientierten philosophischen Wissenschaft nach seiner humanistischen Kritik wiedergewonnene) Rest einer außerweltlichen Sicherheit der Gegenstände des Denkens erneut und künftig unabweisbar in Zweifel gerät. Ich übergehe philosophiehistorisch zentrale, aber auch hinreichend bekannte Positionen (z. B. Humes neuzeitliche Skepsis sowie Kants transzendentalphilosophische Kritik derselben). Die jüngste Ernüchterung des Denkens kommt aus den Lebenswissenschaften des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts. Sie ist bekannt geworden und hat sich durchgesetzt unter dem alten Namen der Evolution, der dabei eine neue Bedeutung und ungeahnte Verbreitung gewann. Im Namen der Evolution kommt es zu einer viel radikaleren Form der Historisierung der Natur, die nicht mehr die Entfaltung eines Schöpfungsplans nach von Anfang an festliegenden Begriffen expliziert, sondern eine umweit- und problemorientierte Entstehung neuer Gattungen zu denken erlaubt und dementsprechend natürlich auch neue Begriffe bzw. Begriffe neu zu bestimmen nötigt. 22. Für Geschichtsphilosophie und philosophische Anthropologie hat das Folgen: Ihrer beider Gegenstand, „der Mensch", verliert vor dem Hintergrund einer historisierten Natur und einer auf die Natur erweiterten Historie seine Sonderstellung, insbesondre seine Funktion als Maß und Ziel aller Darstellungen und Entwicklungen. Die historische Betrachtung der Menschheitsgeschichte in ihren natürlichen Bedingungen, wie sie z. B. bei Herder, aber auch bei vielen anderen Autoren vorher und nachher, betrieben wurde, verliert ihre Einheit und ihre Orientierung. Damit verliert sie auch ihren Gegenstand. Das alte quasiwissenschaftliche Postulat einer wahren (natürlichen, d. h. göttlichen) Geschichte, die es zu entdecken und beschreiben gelte, hat nur noch ästhetisch-appellativen Charakter: Denn nicht einmal die Einheit der Menschheit bzw. ihres Begriffs kann verbindlich als gegeben vorausgesetzt werden. Sie steht selbst auf dem Prüfstand der historischen bzw. evolutionären Naturforschung und muß sich als eine, wiewohl mit hohen affektiven Valenzen befrachtete, aber eben Hypothese durch diese Forschungen allererst bewähren. Sie muß sich zumindest plausibel machen lassen - oder eben nicht; dieser zuvor undenkbare Gedanken ist fortan nicht mehr auszuschließen. 23. Die (evolutionäre) Historisierung der Natur impliziert gegenüber der Herderschen und allen anderen vor-evolutionären Versionen dieses Gedankens insofern einen radikal neuen (Natur-)Begriff, als zwar nicht, wie von Kritikern häufig voreilig unterstellt, die Grenzen der (natürlichen) Gattungen und zugleich die Grenzen der (allgemeinen) Begriffe
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aufgegeben sind, wohl aber die zuvor selbstverständliche Annahme von deren Unveränderlichkeit. Das aber bedeutet nicht nur eine radikale Historisierung des Begriffs der Natur, sondern damit zugleich eine Entgrenzung des Begriffs der Geschichte, dessen Gegenstandsbereich nun nicht mehr nur bzw. vorzüglich die Menschheit, sondern die gesamte Natur umfaßt, allerdings ohne Schöpfung und Gericht, genauer also: die gesamte Welt der Erfahrung. Natur und Geschichte, besser: Phänomene, die wir gewöhnlich als natürlich klassifizieren, und solche, die wir gewöhnlich als geschichtlich klassifizieren, gehören derselben Gattung an (es handelt sich um Erfahrungsgegenstände), die aus nachgeordneten Gründen gewöhnlicher- und sinnvollerweise deutlich unterschieden und auch unterschiedlich behandelt werden. - Die Historisierung der Natur hat indirekt auch eine gewisse Naturalisierung der Geschichte zur Folge. Die Trennung beider Bereiche, die vorher strikt war, weil sie als konstitutiv für jedes der beiden Gebiete galt, verliert an Geltung und an Gewicht. Als Natur gilt für uns, was die Wissenschaft von der Natur als Natur bestimmt. Wenn der Gegenstand dieser Wissenschaft selbst als ein historischer angesehen wird, dann spricht wenig dagegen, naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen auch auf Gegenstände anzuwenden, die zum traditionellen Bereich der Geschichtswissenschaften zählen. Die Geschichtsphilosophie beschränkt sich auf erfahrungswissenschaftliches Fragen und hört damit auf, in dem spezifischen Sinn ihrer eigenen neuzeitlichen Tradition Geschichtsphilosophie zu sein. 24. Gegenstand einer so entgrenzten Geschichtsphilosophie bzw. -Wissenschaft ist nicht mehr primär, vorzüglich, letztendlich die Menschheit, sondern alles, was immer (uns) interessieren mag, was immer (für uns) zum Problem wird. Historia wird damit in gewissem Sinne wieder zur einzigen und umfassenden Weltwissenschaft, mit dem Unterschied, daß es keine andere Wissenschaft (von ewigen Dingen) neben oder über ihr mehr gibt. Der einzige Gegenstand der neuzeitlichen Metaphysik, die menschliche Vernunft und mit dieser alles, was in ihrem natürlichen Licht klar und deutlich erscheint, d. h. erkannt wird, ist selbst kein Gegenstand der historischen Erkenntnis, also überhaupt kein Gegenstand der Erkenntnis mehr. Die Vernunft ist als Organon des Erkennens Gegenstand der Selbstreflexion, folglich kein möglicher Gegenstand der Erfahrung; was ja auch längst bekannt ist. 25. Wenn wir geneigt sind, das Verhältnis von Natur und Geschichte des Menschen als auf diese Weise neu geordnet zu betrachten, dann kann man mit Odo Marquard argwöhnen, ob hier nicht „die traditionelle Opposition der philosophischen Anthropologie zur Geschichtsphilosophie" dadurch zum Verschwinden gebracht werden soll, daß „die Anthropologie erneut als Moment der Geschichtsphilosophie" ausgelegt (Marquard 1973, 140), d. h. dieser einverleibt wird. Doch funktioniert dieser Automatismus, wie gesagt, nur solange, wie man an der metaphysischen Größe der Menschheit, die ihre Natur bzw. ihre Geschichte hat, festhält. Wenn man aber, wie hier erinnert, Natur und Geschichte ihrerseits als Momente der vielfaltigen Frage nach den Menschen ansieht, dann lernt man, sie als methodisch reduzierte Teilfragen zu verstehen, die erst, wenn sie isoliert gestellt und dann verabsolutiert werden, in Aporien fuhren, weil sie offenbar nicht denselben Gegenstand betreffen, sondern unter demselben Namen verschiedene Gegenstände in den Blick nehmen. So wird nicht die eine Frage zum untergeordneten Moment der anderen gemacht, sondern der Gegenstand beider wird erweitert. Von seiner alten Definitionen her gesehen heißt das, er wird entgrenzt.
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- Für die philosophische Anthropologie bedeutet das: Der Mensch ist im methodisch beschränkten Blick auf die endliche Natur der Dinge (der Erscheinungen) nicht mehr ein Naturgegenstand sui generis mit übernatürlichen Prädikaten, nämlich als Naturgegenstand auch noch göttlich, exzentrisch, symbolisch oder ins Nichts gehalten etc., sondern ein Gegenstand der Wissenschaften von der Natur, näher des Lebens (Biowissenschaften) wie jeder andere Naturgegenstand auch - nur vielleicht von höherem Interesse für uns. Man kann von der Naturwissenschaft keine Antworten erwarten, die den selbstgesetzten Horizont ihrer Begriffe und Fragen übersteigen. - Für die vormalige Geschichtsphilosophie bedeutet das einerseits, daß sie, wie die Naturwissenschaften, die Grenzen der Erfahrung nicht übersteigen darf, und andererseits, daß die traditionellen Grenzen des Gegenstands der empirischen Geschichtsforschung ihre trennende Bedeutung verlieren. Die traditionelle Opposition zwischen Natur und Geschichte reduziert sich auf Probleme ihrer Zugänglichkeit für uns, also weitgehend auf Methodenprobleme. Damit aber erweitert sich der Gegenstand der neu bestimmten historia unermeßlich: Ihre Quellen sind nicht nur schriftliche Dokumente, nicht nur mündliche Überlieferungen, auch nicht nur archäologische Befunde, die früher schon als hilfswissenschaftliche Daten von der Historie herangezogen wurden, sondern alles, was Gegenstand der Erfahrung werden kann. Es geht um Weltgeschichte in einem umfassenden Sinn des Gegenstandsbereichs, jedoch strikt als Erfahrungswissenschaft. Die Methoden der Natur- und Geschichtsforschung sind dementsprechend vielfaltig. Allgemein gesprochen handelt es sich um hermeneutische Methoden in einem weiten Sinn: Es geht immer darum, Zeichen zu deuten, Spuren zu lesen, codierte Informationen zu entschlüsseln, zu übersetzen. 26. Das für manche Ohren vielleicht noch immer Befremdliche an diesem Gedanken von Seiten der Naturwissenschaften liegt darin, daß ihre Gegenstände nicht als Dinge (an sich) verstanden werden, sondern auch als Zeichen; von Seiten der Geschichtswissenschaft liegt es darin, daß ihr Gegenstandsbereich die gesamte direkt und indirekt erfahrbare Welt umfaßt, daß er alle durch menschliche und natürliche Zeugnisse erschließbaren Dinge und Ereignisse betrifft. - Auch die philosophische Anthropologie verliert damit ihre Sonderstellung als philosophische Grunddisziplin. Zugleich aber legt sie ihr Zwitterwesen ab, das von Anfang an in ihrem Anspruch lag, als eine empirische Lebenswissenschaft zugleich die Funktion einer Ersten Philosophie wahrzunehmen. Anthropologie (ohne Epitheton) wird statt dessen zu einem Teilgebiet der (historischen) Erfahrungswissenschaften. Die Natur des Menschen, die sie bestimmen will, hat ihre Geschichte. Sie ist das jeweilige Resultat ihrer Geschichte, und als solche immer auch ein Werdendes. Diese formalen Bestimmungen teilt sie mit allen anderen natürlichen Gegenständen, den organischen wie den anorganischen; auch der Planet Erde hat eine Geschichte, seine gegenwärtige Gestalt und Wirklichkeit ist das aktuelle Resultat derselben. - Hört die Anthropologie damit nicht auf, eine philosophische zu sein? Ja, aber nur solange man daran festhält, daß empirisch so viel bedeuten soll wie nicht-philosophisch.
V. Eine neue Welt-Geschichte - Beispiel eines empirischen Theorieentwurfs 27. Die Isosthenie der wechselseitig sich blockierenden Argumente der zwei neuzeitlichen Entwürfe, die im Streit um die beste philosophische Deutung der Lebenswelt liegen, ist
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durch die skizzierte Verschiebung der Perspektive oder des Fokuses der Betrachtung aufgebrochen. Der Skeptiker kann sich trotzdem trösten lassen: Denn die Wende zur Lebenswelt, die die neuzeitliche Wende der Philosophie in Gang gesetzt hat und weitertreibt, ist, so betrachtet - und es ist alles eine Frage der Betrachtung, bzw. der anerkannten Konstellation unserer Begriffe - , zu ihrem Ziel gekommen: Die intendierte Abkehr von der Metaphysik und die Abgrenzungen gegen den Versuch ihrer Restauration durch die mathematische Methode (als Metaphysik von der mathematisch bestimmten Natur und Geschichte der Welt) ist gerade mit dem Ende von Geschichtsphilosophie und philosophischer Anthropologie gelungen. Sie ist gelungen durch Historisierung der Natur und damit Entgrenzung (Universalisierung) des Gegenstandsbereiches der Historie auf die Gegenstände der Welt, anders gesagt: durch die Bestimmung der Weltwissenschaften insgesamt als Erfahrungswissenschaften. Mit Herder ließe sich sagen: alles ist Veränderung, auch die primitiven Begriffe und die notwendigen Verbindungen, die die Prinzipien unseres Weltwissens darstellen und die Herder zu Produkten der Imagination erklärt; doch über Herder hinaus: auch die Gattungen der Natur und die Begriffe der Vernunft, wie wir sie unterscheiden und bestimmen, sind dem historischen (Bedeutungs)wandel ausgesetzt. 28. Indem ich mich auf ein gewagtes Experiment einlasse, möchte ich mich ein letztes Mal auf Marquard berufen. Dieser erinnert nämlich daran, daß Anthropologien in ihrer Orientierung auf konkrete Lebenswelten hin häufig einen ,,Wille[n] zum Populären" (Marquard 1973, 127) erkennen lassen, eine Bereitschaft zur Popularisierung philosophischer Gedanken, wie sie akademischer Philosophie eher fremd geblieben ist. Unter dem Schutz einer solchen captatio benevolentiae möchte ich nun einen historisch-anthropologischen Theorieentwurf ins Gespräch bringen, der in einer von jeder Schulsprache freien Form naturwissenschaftliche und historische Methoden so verbindet, als sei die Alternative von Geschichtsphilosophie und philosophischer Anthropologie für die Frage nach dem Schicksal des bzw. der Menschen bereits obsolet geworden. Es geht in diesem Theorieentwurf konkret um die Frage nach den Wurzeln der westlich-europäischen Dominanz in der modernen (neuzeitlichen) Welt, anders gesagt, um die Frage, wie es geschehen konnte, daß Reichtum und Macht in der Welt der Menschen heute so ungleich verteilt sind, wie sie es sind. 29. Das Problem ist nicht neu. Zu Beginn der Neuzeit in der Begeisterung des Aufbruchs an der Schwelle eines vermeintlich glücklicheren Zeitalters nannte Francis Bacon die offensichtlichen Gründe: Es sind die Entdeckungen der Wissenschaften und die Erfindungen der Technik, die die europäische Zivilisation allen anderen überlegen machten (Vgl. Bacon 1990, 267-273). Bacons bevorzugte Beweisstücke, plakativ und überzeugend ausgewählt, sind die Erfindungen von Kompaß, Schießpulver und Buchdruck. Natürlich nennt er damit nur die unübersehbaren nächsten Ursachen. Das Problem verschiebt sich jedoch sofort auf die Frage, warum diese Erfindungen gerade und nur in Europa auftraten. Historiker haben darauf keine Antworten, die weit genug reichen, denn die zu befragenden Quellen verlieren sich im Dunkel vorgeschichtlicher Zeiten. Anthropologen suchen natürliche Unterschiede der Menschen nach Rasse und Umwelt (Klima), auch das führt nicht weit. 30. Inzwischen gibt es, wie gesagt, einen neuen Entwurf, dessen Autor diese Frage dadurch zu beantworten unternimmt, daß er die Entwicklung menschlicher Gesellschaften in sämtlichen Teilen der Erde über die letzten 13.000 Jahre zum Gegenstand empirischer Forschung macht. Der Gegenstand der Frage ist damit dezidiert als ein historischer bestimmt
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(„world history"), als Hilfsdisziplinen dienen alle Erfahrungswissenschaften, die sich mit dem Menschen und seiner Lebenswelt befassen: „Genetik, Molekularbiologie und Biogeographie in bezug auf Kulturpflanzen und ihre wildwachsenden Vorgänger; die gleichen Disziplinen sowie die Verhaltensökologie in bezug auf domestizierte Tiere und ihre wilden Vorfahren; Molekularbiologie in bezug auf menschliche und verwandte tierische Krankheitserreger; Epidemologie menschlicher Krankheiten; Humangenetik; Linguistik; archäologische Untersuchungen auf allen Kontinenten und großen Inseln; Untersuchungen zur Geschichte der Technik, der Schrift und der politischen Organisation" (Diamond 2000, 32). Die Antworten, die gesucht werden, sind historischer Art, die angewandten Methoden sind die, die der jeweilige Aspekt des Gegenstands erforderlich bzw. möglich macht; in einem weiten Sinn des Wortes kann man sie hermeneutisch nennen. Denn es geht darum, die Gesamtheit der gegebenen Phänomene so zu organisieren, daß sie einen Sinn erkennen lassen. Absicht der Zusammenstellung der Einzelfragen und der Verknüpfung ihrer Antworten ist es, eine komplexe Hypothese zum Verlauf der Weltgeschichte, wie wir sie kennen, rational einsichtig und rhetorisch plausibel zu entwickeln. 31. Wer das Buch kennt, hat den Titel längst erraten. Es handelt sich um Jared Diamond: Guns, Germs, and Steel, der sprechende Untertitel lautet: „The Fates of Human Societies" (1997). Es geht mir hier nicht um die Validität der Hypothesen und Ergebnisse des Buchs, sondern allein um den Hinweis darauf, daß hier ein großangelegter und ernstzunehmender Versuch vorliegt, die Trennung der wissenschaftlichen Kulturen in ein historischhermeneutisches und ein naturwissenschaftlich-szientistisches Lager zu überwinden. In diesem Versuch ist einerseits das geschichtsphilosophische Denken zusammen mit seiner Kritik aufgehoben, indem ohne eschatologische Rahmenannahmen die einzelnen Entwicklungsschritte teleologisch ausgewertet werden, wenn es darum geht, ihren evolutionären Sinn zu deuten und sie damit für uns verständlich und einsichtig zu machen. Andererseits kommt das anthropologische Denken darin zur Geltung, daß konkrete Einzelfragen mit unterschiedlichen zwar, doch immer empirisch ausgewiesenen Methoden untersucht und nur empirisch begründete Antworten angenommen werden. Die Opposition von Geschichtsphilosophie und Anthropologie ist damit zwar nicht „liquidiert" (vgl. Marquard 1973, 139 f. 144), aber sie erscheint mir doch zukunftsweisend aufgehoben zu sein, ohne daß die philosophischen Einsichten, die der historischen Entfaltung dieser Opposition im 18. und 19. Jahrhundert zugrunde lagen, verloren wären. Das Ergebnis ist keine neue philosophische Theorie, sondern eine erfahrungswissenschaftliche Hypothese. Durch die Profilierung eines bislang nicht untersuchten Gegenstands, nämlich die Entwicklung menschlicher Gesellschaften in ihren natürlichen Umwelten in den letzten 13.000 Jahren, entwickelt und evaluiert sie Antworten auf bedrängende, bislang aber ungelöste und unlösbar erscheinende Fragen; Fragen, wie sie bislang wohl von der Geschichtsphilosophie und der philosophischen Anthropologie gestellt, aber in nicht bzw. nicht mehr befriedigender Weise durch zwei antagonistische Modelle beantwortet wurden.
VI. Geschichte und Bedeutung Ich möchte diese Abschiedsrede mit Aufbruchstimmung durch fünf zusammenfassende Bemerkungen bzw. Thesen über Geschichte und Bedeutung abschließen:
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32. (1) Das Ende der Geschichtsphilosophie und die Entgrenzung (Auflösung der Bestimmtheit) ihres Gegenstands hinterlassen keine schmerzlichen Spuren. Sie schaffen vielmehr eine neue Plattform für historische Forschungen. Geschichtsphilosophie und philosophische Anthropologie hatten eine wichtige Funktion darin, daß sie nach dem Untergang der humanistischen Kritik an der mittelalterlichen Schulphilosophie die im engeren Sinn neuzeitliche Wende der Philosophie zur Lebenswelt zugleich ermöglichten und eröffneten. Doch es zeigte sich, daß die verbliebenen universalistischen Eierschalen erst abgearbeitet werden mußten, bevor diese Wende den aus ihr resultierenden Antagonismus beider überwinden und das umstrittene Feld ganz für die Erfahrung des Menschen mit sich selbst und seinen Mitmenschen gewinnen konnte. Ansichten über den wahren Sinn der menschlichen Geschichte bzw. das wahre Wesen der menschlichen Natur sind nicht entscheidbar, folglich lösen sie keine Probleme. Dieser Verlust ändert jedoch wenig an unserem Leben, folglich bleiben mögliche Antworten auf diese Fragen ohne große Wirkung. 33. (2) Im Gefolge der neuzeitlichen Transformation der Begriffe von Wahrheit und Wissen stellt sich die menschliche Lebens- und Erfahrungswelt anders dar als zuvor: als eine bedeutungsgesättigte Zeichenwelt, in der wir orientiert sind, eine durch ständige Kommunikation medial interpretierte und uminterpretierte Welt. Wenn uns etwas begegnet, das wir nicht verstehen, müssen wir eine Geschichte erzählen oder erzählen lassen, die mit dem jeweils immer schon Verstandenen kompatibel, d. h. in den Worten der uns vertrauten Sprache darstellbar, anschlußfahig ist; wenn anders wir nicht die Orientierung verlieren bzw. aufgeben wollen. So deuten wir fremde Ereignisse und geben ihnen Sinn in einer immer schon sinnerfullten Welt, zumindest versuchen wir das. Denn diese Geschichten beginnen niemals ex nihilo, sondern immer ex plenitudine realitatis, kein Wort ist das erste Wort. 34. (3) Doch wo bleibt in dieser Fülle von Geschichten die Natur? Natur nimmt eben den Platz ein, den das Fehlen des ersten Wortes notwendig offen läßt: Was im Rahmen einer erzählten Geschichte als das Gegebene erscheint, als das im Moment unhintergehbare Vorwissen (oder Ausgangsmaterial), das eben heißt, nach seiner objektiven Seite betrachtet, Natur. Natur bezeichnet mithin dasjenige, was hier und jetzt nicht in unserer Deutungsmacht liegt. In der Darstellung unseres Erkenntnisprozesses, nach seiner subjektiven Seite betrachtet, entspricht dem die Empfindung. Erst (logisch) nach diesem unmittelbaren Bezug auf Gegenstände des Denkens beginnt deren Deutung, die Wahrnehmung des Empfundenen, seine Bestimmung durch Worte, das Erzählen von Geschichten, die Verknüpfung mit früheren Wahrnehmungen und Geschichten, Wissenschaft ... - Geschichten sind Sinngebungs-, Sinnerhaltungs-, Sinnveränderungssequenzen, die das Denken vollzieht. Natur bezeichnet im Denken die im Moment unveränderlich erscheinenden Rahmenbedingungen solcher Sequenzen: die deshalb natürlich bzw. historisch genannten Tatsachen. Diese Rahmenbedingungen, die immer gegeben sind, verhindern, daß das Denken ins Leere läuft. Sie setzen seinem freien Lauf Widerstand entgegen und geben ihm damit Halt. 35. (4) Bedeutungssinnstiftende und -erhaltende Geschichten einerseits und Naturbestimmungen andererseits werden in allgemeinen Begriffen gebildet und in gesellschaftlichen Riten festgeschrieben. Nichts nötigt uns, die Errungenschaft der Unterscheidung von Natur und Geschichte aufzugeben. Wir können allerdings einsehen, daß sie keine vom Denken unabhängige Trennung von Gegenstandsbereichen widerspiegelt, sondern eine im Denken als notwendig bewährte Unterscheidung benennt.
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36. (5) Alles, was für uns von Bedeutung sein kann, muß in eine Geschichte eingebunden werden können. Diese muß keine Universalgeschichte sein, die alles einsinnig (unter einem Leitgedanken, Leitziel) erklärt, vielmehr muß sie Anknüpfungspunkte aufzeigen, die Verständnis und Kritik ermöglichen. Geschichtliche Gegenstände (alle Gegenstände, die für uns von Bedeutung sind) müssen in der Erfahrung verankert und potentiell handlungsorientierend sein. Geschichte bildet ein Dreiecksverhältnis mit Erfahrung und Handlung.
Literaturverzeichnis Francis Bacon, Neues Organon, Teilband 1, hg. v. Wolfgang Krohn, lateinisch-deutsch, Hamburg 1990. Neil Diamond, Guns, Germs, and Steel. The Fates of Human Societies, New York und London 1997; dt.: Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften, Frankfurt/M. 2000. G. W. Fr. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7: „Grundlinien der Philosophie des Rechts", Frankfurt/M. 1970. J. G. Herder, Werke in zehn Bänden, Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt/M. 1989. Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie.
Aufsätze, Frankfurt/M. 1973.
KLAUS-M. KODALLE
Schuld in der Geschichte Der Kampf gegen das Vergessen und die Grenzen des Erinnerns
Erinnerungspolitik ist zur Zeit ein Gegenstand lebhafter Forschungsaktivitäten, insbesondere in den Fächern Geschichts- und Politikwissenschaft. A n der Universität Gießen befaßt sich ein Sonderforschungsbereich mit diesem Thema. In meinem Falle ist es so, daß ich mich der Konfiguration „Erinnern und Vergessen" aus einer Betrachtungsperspektive nähere, aus der ich schon seit einigen Jahren Einzeluntersuchungen vorgelegt habe: Ich bemühe mich, im philosophisch-ethischen Kontext eine Theorie der Verzeihung zu erarbeiten. (Unter den Philosophen der Gegenwart sind dabei vor allem Ricoeur 1 und Derrida interessante Gesprächspartner.) D a ich in diesen Arbeiten sowohl historisch als auch systematisch Ort, Reichweite und Tiefe des Begriffs „Verzeihung" zu bestimmen versucht habe, kann ich hier auf diese theoretischen Bemühungen einfach verweisen 2 und mich im folgenden konkret auf 1
2
Ausfuhrliche Darlegungen zur Problematik des Verzeihens finden sich im neuen Buch von Paul Ricceur, La Mémoire, L'Histoire, L'Oubli, Paris 2000; der Epilog zu diesem Werk ist überschrieben „Le Pardon difficile" (vgl. a. a. O., 591-656). Klaus-M. Kodalle, Verzeihung nach Wendezeiten? Über Unnachsichtigkeit und mißlingende SelbstEntschuldung {Jenaer philosophische Vorträge und Studien, Bd. 12), Erlangen/Jena 1994; „Diesseits der Logik des Moralismus: Vom ,Geist' der Verzeihung bei Kierkegaard, Nietzsche-Scheler, Dostojewski und Camus", in: Kierkegaard Revisited (Kierkegaard Studies - Monograph Sériés 1), Berlin/New York 1997, 387-409. (Ebenfalls abgedruckt in: MUT. Forum flir Kultur, Politik und Geschichte, Nr. 306/Febr. 1998, 76-95.); „Die Dimension des Unermeßlichen. Aufhebung der vermessenen Moralität", in: Ch. Hubig (Hg.), Cognitio humana - Dynamik des Wissens und der Werte (XVII. Deutscher Kongreß für Philosophie Leipzig, 23.-27. Sept. 1996), Berlin 1997, 106-130 [speziell zu Kant]; „Der ,Geist der Verzeihung' [bei Hegel]. Zu den Voraussetzungen von Moralität und Recht", in: Recht - Macht - Gerechtigkeit (VWGTh, Bd. 14), hg. v. J. Mehlhausen, Gütersloh 1998, 606-624; „Vom ,Geist' der Verzeihung. Systematische Überlegungen zum metaphysischen Hintergrund' der Moralität", in: Vom Zentrum des Glaubens. FS Dietrich Braun, Rheinfelden 1998, 289-296; „Überforderung? Zum Schuldverständnis bei Jaspers und Schweitzer", in: Mythos und Glaube. FS fiir Giorgio Penzo, hg. v. H. M. Baumgartner, F. Ferrarotti, C. Scilironi, Brescia 1998, 83-101; „Gabe und Vergebung. Kierkegaards Theorie des verzeihenden Blicks", in: Subjektiver Geist. Reflexion und Erfahrung im Glauben. FS Traugott Koch, hg. v. Klaus-M. Kodalle u. Anne M. Steinmeier, Würzburg 2002, 71-86; „Verzeihung des Unverzeihlichen. Mut zur Paradoxie bei Ricceur, Derrida und Logstrup", in: Die Normativität des Wirklichen. FS Robert Spaemann, hg. von Th. Buchheim, R. Schönberger u. W. Schweidler, Stuttgart 2002, 414-438; „Verzeihung. Hegels Denkanstoß. Wider die Verdrängung eines zentralen philosophischen Themas", in: HegelJahrbuch 2002: „Phänomenologie des Geistes ", 2. Teil, Berlin 2002, 88-99.
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bestimmte, an Beispielen verdeutlichte Denkfiguren kritisch einlassen, ohne erst eine komplexe Begriffsklärung vorzunehmen.
I. Die Konstellation Erinnern - Verzeihen - Vergessen - verschiedene Annäherungsversuche 1. Amnesie und Anamnesis: über leichtfertiges und gerechtfertigtes Vergessen Wo Schuld für messbar - also „begrenzt" - und damit für „handhabbar" erachtet wird, läßt sie sich auch „abtragen". Es sei deshalb vorausgeschickt, daß wir uns in dieser Abhandlung für jene radikale Schuld interessieren, die sich nach allgemeiner Auffassung einer Vermessung entzieht und die in dieser Maßlosigkeit das Heillose einer Krisensituation vor Augen fuhrt. Angesichts der Entschuldungsbedürftigkeit auch unserer eigenen Geschichte(n) und der Unwiderruflichkeit des Todes der Gekränkten und Erniedrigten drängt sich die Frage auf, wie „Verzeihung" den Umgang mit Geschichte beeinflußt bzw. beeinflussen sollte oder könnte. Es geht um die (Selbst-)Verpflichtung zum Gedenken und um den Kampf gegen das Vergessen. Dabei sei gleich eingangs vermerkt, daß es durchaus auch ein gerechtfertigtes Vergessen gibt; in bestimmter Hinsicht ist sogar „ein Lob des Vergessens" nichts Abwegiges.3 Und in der Tat: Unerbittlich könnte man jenen unweigerlichen, naturwüchsigen Prozeß des Vergessens nennen, der die Spuren gelebten Lebens, die dem Gedächtnis eingraviert sind, zu nivellieren und zu verwischen droht. Denn auch nach einem schwerwiegenden Schuld-Einbruch geht das geschichtliche Leben schließlich weiter und stellt vor neue Herausforderungen. Werden diese bestanden und stabilisiert sich auf diese Weise das individuelle wie kollektive Ich, so ergibt es sich fast von selbst, daß die einst begangene Schuld mit fortschreitender Zeit immer leichter anmutet - bis sich schließlich die bagatellisierende Einbildung festsetzt, diese so weit zurückliegende Schuld ließe sich gewiß wiedergutmachen. Es ist also eine durchaus ,widerständige' Entscheidung, auf der Unwiederherstellbarkeit zu beharren - gegen alle Verharmlosungstendenzen des leichten Vergessens. Wer angesichts der Not ins Elend Gestoßener gar keine Hemmung verspürt, dem/den Täter(n) zu vergeben, der hat womöglich nur sehr oberflächlich von jenem Elend Kenntnis genommen. Diese Hemmung verhindert die Leichtfertigkeit der Verzeihung und macht bewußt, daß die berechtigten Einwände - auch die nur noch zu unterstellenden Einwände der Opfer zu achten sind. Das läuft keineswegs auf die These hinaus, der Mensch stehe total im Bann der Schuld, die auch seine sonstigen Daseinsvollzüge infiziere. Auf der Unwiederherstellbarkeit des einmal Angerichteten bestehend, ist der Mensch doch für die souveränen Daseinsäußerungen (zu denen wie die Liebe das Verzeihen gehört) aufgeschlossen. Gegen das gleichsam naturwüchsige' Vergessen verwendet Ricoeur die paradoxe Formulierung vom bewahrenden Vergessen. Das Vergessen ruft, gleichsam platonisch, eine Anstrengung zur Wiedererinnerung hervor. Amnesie und Anamnesis sind miteinander verVgl. P. Ricoeur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern - Vergessen - Verzeihen (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge Band II), Göttingen 1998; darin Kapitel IV: Vergessen und Verzeihen, 131-156; hier: 131. Alle weiteren Zitate und Verweise hier mit der Sigle R direkt im Text.
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schränkt. Denn über Erinnern reden wir doch nur vor der Folie eines fortwährenden Verfallens an das Vergessen. Wo diese Erinnerungsarbeit umgangen wird, droht Wiederholungszwang-. Man spricht dann von .Agieren' anstelle von ,Erinnerung' (vgl. R 137). Auf jeden Fall muß man sich klarmachen, daß diese gegenläufigen Prozesse nicht voll beherrschbar sind. Wir stoßen auf pathologische Konstellationen des Gedächtnisses und des Gedenkens. Gerade das kollektive Gedächtnis von Gruppen und Nationen erscheint als Spielball von Schubkräften, die häufig genug pathologische Phänomene zeitigen (vgl. R 138). Diese pathologischen Sachverhalte sind übrigens nicht einfach zu bekämpfen, sie müssen vielmehr, um bearbeitbar zu sein, überhaupt erst einmal zugestanden werden. Die Reaktionen auf die Wehrmachtsausstellung dürften vielen noch gegenwärtig sein. Aus wissenschaftlichen Publikationen - auch von Historikern aus Forschungsinstituten der Bundeswehr - wissen wir seit 20 Jahren von der Hilfestellung, die die Wehrmacht der SS bei Mordaktionen gewährt hat, aber die öffentliche Demonstration der Details provozierte bis in die jüngste Zeit die heftigsten Abwehrgesten und Immunisierungsanstrengungen im öffentlichen wie im privaten Bereich. Solches Vergessen, in dem sich das Bemühen niederschlägt, wegzusehen, die Konfrontation mit der Geschichte zu vermeiden, sich z. B. ganz bewußt nicht informieren zu wollen (vgl. R 139), mag ,eskapistisch' genannt werden. Freilich ist einzuräumen: Erinnern ist immer selektiv. Wer sich an alles erinnern wollte oder müßte, bräche unter dieser Last zusammen. „Ein lückenloses Gedächtnis wäre eine unerträgliche Last für das wache Bewußtsein." (R 140) Die Selektivität hängt mit der Struktur des Erzählens, mit der sogenannten „narrativen Kohärenz", zusammen. Umgekehrt gibt diese Selektivität immer auch Anlaß zur Kritik. Doch selbst das Berechtigte solcher Kritik kann nichts daran ändern, daß dem Vergessen eine durchaus „wohltätige Funktion" nachgesagt werden darf (vgl. R 144). Keine Historiographie ohne einen „vernünftigen Gebrauch des Vergessens" (R 142). Je geringer der Mut zu dieser Selektivität des befreienden Vergessens ist, desto lähmender wird das Verhältnis zur Geschichte. Die Kräfteverhältnisse der jeweiligen Gegenwart bedingen das Urteil über das Vergangene. Aber hier ist nun wiederum jene schon angedeutete Differenzierung angebracht: Es gibt ein leichtes, präziser sogar: leichtfertiges, weil zu leicht fertiges Vergessen und ein schweres (vgl. R 144). Das schwere Vergessen - das Vergessen, das es sich schwer macht - gibt das schuldhafte Ereignis nicht dem Vergessen anheim, sondern: dessen Bedeutung für Gegenwart und Zukunft - nämlich: als lähmende Schuld - wird gleichsam entmächtigt durch den Vollzug der Nachsichtigkeit (die ich als abgeschwächte Ausdrucksform der Verzeihung begreife). - Freilich gerät die Darstellung damit in die Täter-Opfer-Dialektik hinein, denn eigentlich' ist natürlich nur das Opfer befugt zu verzeihen. Der Urheber des Unrechts hingegen kann nur um Verzeihung bitten — und muß immer mit dem Risiko der Zurückweisung seiner Bitte rechnen (vgl. R 145). Die Rede vom Verzeihen stößt mithin auf die Erfahrung des Unverzeihlichen. Dieses Unverzeihlichen gewärtig zu sein, schützt davor, sich auf pervertierte Formen des Verzeihens, nämlich auf das „leichte Vergessen", einzulassen. „Wenn das Verzeihen zur Heilung des verletzten Gedächtnisses beitragen soll, muß es durch die Kritik des leichten Vergessens hindurchgegangen sein." (R 145) Auf diese Weise könnte sich ein Verzeihen aus Nachsicht herausbilden.4 Obwohl Verbrechen nicht wiedergutzuma4
Dieses ist abzuheben vom „Verzeihen aus Selbstgefälligkeit", das der Kritik verfällt, weil es sich eskapistisch der Pflicht des Erinnerns entzieht, und vom „Verzeihen aus Wohlwollen", welches das Streben
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chen und als Ereignis auch nicht auszulöschen sind - die klassische damnatio memoriae hat vielleicht auch nicht so gut geklappt, wie es sich die Herrschenden in der Antike jeweils vorstellten - , läßt sich doch im Klima des Verzeihens die bannende Wirkung, die vom Vergangenen ausgeht, durchbrechen - das Vergangene wird gleichsam wieder zum „Unvordenklichen" (R 155).5 Im Zusammenhang mit Amnesie und Anamnesis läßt sich eine Anmerkung zum Institut der Amnestie nicht umgehen. Man mag - wie Ricceur - zögern, die Amnestie in eine zu große Nähe zur Gnade zu rücken (vgl. R 205). Amnestie und Verzeihung lassen sich nicht zur Deckung bringen. Sehr wohl jedoch sprechen gute Gründe dafür, die Zerrissenheit der sozialen Gemeinschaft durch das institutionalisierte, gleichsam verordnete Vergessen zu heilen: Nur darf man sich nicht darüber täuschen, daß dies eine eher ,verzweifelte', fast magische Maßnahme ist, für die ein Preis zu zahlen ist: eben die Außerkraftsetzung der Pflicht des Erinnerns. Die Bezugnahme auf dieses (im Grunde aus den Zeiten des Gottesgnadentums stammende) Institut der Amnestie, das dezisionistisch dem Erinnern eine Grenze setzt, gibt mir den Anlaß, als Nächstes etwas näher auf die Frage einzugehen, welche Rolle überhaupt dem Recht und seinen Setzungen in der Gestaltung des Verhältnisses zur schuldbelasteten Vergangenheit zukommt. 2. Kanalisierung der Erinnerung im Medium des Rechts Die Variationen der Geschichtswahrnehmung sind unendlich. Eines der Instrumente der auf die jeweilige Zukunft ausgerichteten Festschreibung ist das Recht, welches indirekt das Gewicht vergangener Verstrickungen bewertet. Die Bearbeitung der Vergangenheit und die Funktionen des Gedächtnisses sind mithin keineswegs unabhängig von der Bearbeitung der Vergangenheit durch die Institution des Rechts. Erinnerung ist immer schon durch Filter der Institutionen hindurchgegangen. Die Vorstellung, es könne so etwas wie ein ideologiefreies Gedächtnis geben, ist unhaltbar. Aber natürlich dürfen wir auch nicht von der Annahme ausgehen, das Recht könne die Wahrheit des Gedächtnisses artikulieren oder sogar garantieren. Andererseits gilt: Schon die Vorstellung, es gäbe so etwas wie eine Wahrheit unabhängig von Institutionsrealisierungsprozessen, ist obsolet. Das Recht reagiert primär auf das Erfordernis, trotz aller Verwerfungen und Verbrechen gesellschaftliche Erwartungen, die auf Gegenwart und Zukunft bezogen sind, zu stabilisieren. Versöhnung mit der Gegenwart und eine nachträgliche kohärente Interpretation einer eben vermittels dieser offiziellen Interpretation erträglichen Kontinuität mit der Vergangenheit werden auf diese Weise erreicht. Somit bleibt stets eine Differenzerfahrung: Aufgabe einer kritischen Öffentlichkeit kann es sein, daran zu erinnern, was in der Logik des Rechts in Vergessenheit geraten ist, was umgewertet und verdrängt wurde. Dabei sollte man sich darüber im klaren sein, daß das Recht als Recht die Komplexität des schuldbelasteten historischen Sachverhalts überhaupt nicht repräsentieren kann. Denn das Recht kennt nicht die außerordentliche Singularität des Ereigniskomplexes, es ist primär darauf ausgerichtet, die Vergangenheit mit der Gegenwart auszusöhnen, und es bedient sich eines reduktionistischen nach Straffreiheit nur unterstützt, indem es sich das Ringen um Gerechtigkeit gänzlich zu ersparen trachtet (vgl. R 147). Ricceur bedient sich einer etwas blumigen Wendung: „das Verzeihen verleiht dem, was in der Erinnerungsarbeit und in der Trauerarbeit harte Arbeit bleibt, den Geschmack der Gnade". (R 156)
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Vokabulars - als regelte es die Bewertung eines vergangenen Ereigniskomplexes ein für allemal und für alle Beteiligten.6 Festlegungen des Rechts können die Wahrnehmung der Zeit und der kollektiven Erinnerungen mithin stark beeinflussen. Wobei man auch sehen muß, daß das Recht, welches die Zukunft gestalten soll, immer auf einer ganz bestimmten partikularen Interpretation der Erfahrungen einer Gesellschaft beruht. Unterdrückung geschah im Laufe der Geschichte auch in Gesetzesform.7 Es ist daher durchaus zweifelhaft, ob die Bearbeitung dieser Vergangenheit wiederum durch das Medium des Rechts erfolgen sollte. Festzuhalten ist aber, daß das Recht sehr wohl entscheidende Weichenstellungen vornimmt, die die kollektive Erinnerung des Vergangenen programmieren. So haben sich kollektive Erinnerungen und Erfahrungen im Corpus des Rechts niedergeschlagen - durchaus in der Absicht, Fehlentwicklungen in der Zukunft zu vermeiden. Generell: Institutionen sind selbst ein Teil der kollektiven Erinnerungen und repräsentieren die ¥^nr\nemn% funktional und organisatorisch - eben wie das Recht. Sobald man sich radikal mit kollektiven Erinnerungen auseinandersetzt, kann es passieren, daß auch die Rechtsinstitutionen herausgefordert werden. Zwischen der Artikulation kollektiver Erinnerungen im Medium der Gesellschaft und den in den Systemen der Politik und des Rechts festgeschriebenen Normen können Diskrepanzen auftreten. Zuweilen gelingt es, daß Elemente aus diesem vor-politischen Diskurs in den der Politik und des Rechts transferiert werden, nicht selten aber bleibt ein Spannungsverhältnis. Damit aber stellen sich eine ganze Reihe von Fragen: Wessen kollektive Erinnerungen sind eigentlich berechtigt? Was konstituiert kollektive Identität? Wie tief muß man in den Brunnen der Geschichte blicken? Mit anderen Worten: welchen zeitlichen Rahmen ziehen wir in Erwägung? Welchen Traditionen billigen wir Legitimität zu, insofern wir Ihnen erlauben wollen, zur Ableitung gegenwärtiger Ansprüche herangezogen werden zu dürfen? Muß es Kompensationen für Opfer geben? Sind womöglich Wahrheitskommissionen besser geeignet als Gerichtshöfe, die notwendigen gesellschaftlichen Klärungen herbeizuführen? Allemal sollte man sich vor Augen halten, daß es bei Prozessen, in denen das kollektive Gedächtnis und seine Artikulationen punktuell den Bereich der Politik tangieren, um Macht, um Anteile an der Macht und um Kontrolle der Macht und damit um die Zukunftsausrichtung der Gesellschaft geht. Das kollektive Gedächtnis - von Maurice Halbwachs eindringlich bedacht - liegt einerseits dem individuellen Gedächtnis zugrunde, aber es hat eine eigene Dynamik diesseits oder jenseits des individuellen Erinnerns und kann sich von der Erinnerungsarbeit des Historikers stark unterscheiden. 3. Verzeihung - Wahrheit - Erinnerung - Versöhnung: was hat Vorrang? Vor diesem Hintergrund mag es hilfreich sein, der Frage nach der Wahrheit in Erinnerungsprozessen nachzugehen. Zwischen Wahrheit und Versöhnung besteht offenkundig ein Spannungsverhältnis, das sich an einem Beispiel verdeutlichen läßt: Alle Versuche, das Leiden der 6
7
Bei diesen Überlegungen zu „Erinnerung und Recht" schließe ich mich Emilios Christodoulidis an; vgl. „Law's Immemorial", in: Lethe 's Law. Justice, Law and Ethics in Reconciliation, hg. von Emilios Christodoulidis und Scott Veitch, Oxford/Portland Oregon 2001, 207-227. Vgl. hierzu Adam Czarnota: „Law as Mnemosyne and as Lethe: Quasi-Judical Institutions and Collective Memories", in: Lethe's Law, a. a. O., 115-128. - Die Überlegungen in den folgenden Abschnitten sind weithin von diesem Aufsatz beeinflußt.
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Vertriebenen, die Barbarei ethnischer Säuberungen oder anderer Kriegsverbrechen gegenüber Angehörigen des deutschen Volkes nach dem Ende des Hitler-Reiches zu thematisieren, waren tabuisiert. Wer sich vorwagte, wurde umgehend als Revanchist abgestempelt. Mehr als 50 Jahre nach Kriegsende scheint die Zeit gekommen zu sein, auch diese Barbarei zu bearbeiten. Es gibt keine aktuellen Interessenlagen mehr, die dieser Bearbeitung, dieser Erinnerungsarbeit im Wege stehen, zumal ein Unverdächtiger wie Günter Grass den Anstoß gegeben hat. Solange das deutsch-polnische oder deutsch-tschechische Verhältnis ungeklärt und überaus spannungsreich war, hatten die von der Barbarei Betroffenen über ihre Leiden zu schweigen bzw. ihre Erinnerung konnte allenfalls anläßlich der ,Vertriebenentreffen' der Landsmannschaften artikuliert werden. Im öffentlichen Raum gab es keine Anerkennung für diese Erinnerung.8 Erst wenn das im Innern bewahrte - und auf diese Weise er-innerte - Leiden sich Ausdruck verschaffen durfte und das Unrecht als Unrecht öffentlich anerkannt ist, kann es existentiell, d. h. im individuellen Lebensvollzug, vergessen werden. Die kommunikativ geteilte Erinnerung wäre dann die Voraussetzung des Vergessens und des entlasteten Weiterlebens. Und dies gilt für Täter wie für Opfer: Solange die Täter oder die Agenturen der Öffentlichkeit das Geschehene verleugnen, verharmlosen oder im Zeichen der zu gestaltenden Zukunft uminterpretieren, kann dieses heilsame Vergessen auf Seiten der Opfer nicht gelingen und müssen die Täter und auch ihre Nachfolger mit der Lüge und der Verdrängung leben - und das bedeutet: weiterhin Gefahr sozialer Pathologien. Zwischen Wahrheit und Versöhnung besteht mithin eine sehr ambivalente Beziehung. In gewisser Weise muß die Versöhnung, muß ein Geist der Verzeihung der Wahrheit zuvorkommen. Der ständige Versuch, immer neue Details wahrheitsgemäß freizulegen, kann „zur Unzeit kommen" und durchaus unvereinbar sein mit dem Ziel der Versöhnung. Ein vor-eiliger strategischer Wille zur Versöhnung kann jedoch ebenfalls die Erinnerung behindern. Denn es leuchtet vermutlich jedem ein, daß eine Versöhnung auf der Basis von Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Verdrängungen auch nicht gelingen kann: Die Anerkennung des jeweils historisch konkreten Faktums von Unterdrückung und Erniedrigung scheint eine Voraussetzung der Versöhnung zu sein. Nun läßt sich das Problem auch so wenden: Die offizielle Enthüllung und sprachlich eindeutige Anerkennung der Wahrheit erledigt auch in gewisser Weise das Interesse an dieser Vergangenheit! Das Verhältnis zur Vergangenheit verliert dadurch seine Spannkraft. „Die Sache ist ja nun klar", sie wird in die Archive der Historiker eingestellt und diesen zur weiteren Bearbeitung überlassen. Nach dem Gesagten ist die Versöhnung nicht das letzte Resultat eines viele Etappen umfassenden Weges, sondern sie ist die Voraussetzung für den Prozeß einer wahrhaftigen Erinnerung. Die wahrhaftige Erinnerung verifiziert gleichsam den Vor-Sprung des Aussöhnungsinteresses, das, vor-läufig, ein Verschweigen der Schuld in Kauf nahm. (Wobei es genauer sich ja so verhält, daß die schuld-beladene Geschichte oftmals gar nicht total verschwiegen, sondern vielmehr nur in pauschaler Art und Weise präsent gehalten wurde.) - Diese Betrachtungsweise mag als provozierend empfunden werden. Zuerst, so insistiere ich, muß eine Bereitschaft zur Verzeihung sich glaubwürdig abDas schlug auch auf die intime Kommunikation durch: Ich habe selbst jene Szene mit einer alten Dame erlebt, die erst auf ihrem Totenbett, über 90 Jahre alt, zum ersten Mal über ihre Vergewaltigung durch russische Soldaten sprach - und dabei so bitterlich weinte, als sei es ihr gestern widerfahren.
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zeichnen; sie bildet den Rahmen für die Wahrheitsfindung. Der Gerechtigkeitsdiskurs ist dazu nicht in der Lage. Und ich spitze noch weiter zu: Nur wenn Tätern der Eindruck vermittelt wird, daß ihre Würde als menschliche Wesen nicht mehr grundsätzlich infragegestellt wird, werden sie fähig werden, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen und sie nicht länger zu verdrängen.9 Solche Prozesse, sich ehrlich den Abgründen der eigenen Geschichte zu stellen, sind nur möglich, wenn man von Seiten der sozialen „Umwelt" den Glauben aufrechterhält, daß der Schuldiggewordene nicht durch seine Unrechtstat definiert, d. h. in der Totalität seiner Person fixiert ist.10 In gewisser Weise benötigen die Täter für solche Klärungsprozesse - gerade auch im eigenen Interesse - die Opfer. Aber es liegt umgekehrt auch im Interesse der Opfer, daß dieser Klärungsprozeß stattfindet, denn nur so können auch sie mit ihrer schlimmen Vergangenheit fertig werden. Das Ungeheure dieser Vorgänge ließe sich so zuspitzen: Jene, die Opfer von Unterdrückung und Erniedrigung geworden sind, müssen die Menschlichkeit der Täter anerkennen, anders gewendet: sie müssen in ihrem eigenen Herzen, in ihrem eigenen Sinn, das fürchterlich Böse, das geschehen ist, das ihnen angetan wurde, in diesem Prozeß der Versöhnung als ein gewöhnliches' Böses qualifizieren und es so einer metaphysischen Aufladung im Kontext einer Idee von ewiger Schuld entziehen. Das Böse muß kompromißlos und ohne jede Tendenz zur Verharmlosung benannt werden, denn durch die narrativen Vorgänge der Benennung des Unrechts versuchen die Opfer, ihre Würde wiederzuerlangen, ihre Entwürdigung aufzuheben. Das führt zu der paradoxen Wendung, daß nur wirklich unverzeihliche Dinge verziehen werden können. Dabei sollte man sich bewußt machen, daß dieser Vorgang der Wiederherstellung der Beziehung im Modus der Verzeihung schlechthin ungesichert ist. Niemand kann sicherstellen, daß dieser - von der naturwüchsigen Reaktionsweise aus gesehen: irrationale Vertrauensvorschuß wirklich den Effekt haben wird, die Beziehung zu heilen und zu regenerieren. So unvorhersehbar das Ereignis der Verzeihung ist, so unvorhersehbar ist es, ob es wirklich zur Versöhnung fuhrt."
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Hierzu ein Beispiel: Die ehemalige Nazi-Funktionärin Melita Maschmann berichtet von sich: „Die verzeihende Liebe, die mir begegnet war, schenkte mir die Kraft, unsere und meine Schuld anzunehmen. Erst jetzt hörte ich auf, Nationalsozialist zu sein." (Melita Maschmann, Fazit. Kein Rechtfertigungsversuch, mit einem Vorwort von J. F. Görres, Stuttgart 1963, 213.) 10 Vgl. hierzu Traugott Koch, „Strafe und Schuld im Horizont von Reue und Vergebung", in : Strafe muss sein! Muss Strafe sein? : Philosophen - Juristen - Pädagogen im Gespräch. (Kritisches Jahrbuch der Philosophie/Beiheft 1), hg. von Klaus-M. Kodalle, Würzburg 1998, 69-80, hier vor allem: 77.- Es gibt eine Form der Reue, die Kierkegaard für „dialektisch zweideutig" hielt, weil sie sich handlungsblockierend und innovationshemmend auswirkt. Vgl. Soren Kierkegaard, „Der Begriff Angst", 4. Kap., § 1, Gesammelte Werke, 11. u. 12. Abt., Düsseldorf 1952, 121. 1 ' Als jemand, der des öfteren Publikationen zur Vertragstheorie vorgelegt hat, frage ich mich, ob nicht Unterdrückung so fundamental ist, daß eine Logik der Verzeihung, als Versöhnung von Täter und Opfer, den Recht stiftenden Urvertrag grundieren müßte. - In diese Gedankengänge zu „Wahrheit und Erinnerung" habe ich dankbar viele Anregungen aus einem Aufsatz von Bert van Roermond aufgenommen: „Rubbing Off and Rubbing On: The Grammar of Reconciliation", in: Lethe's Law, a. a. O., 175-190.
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4. Einige Beispiele aus der jüngsten Geschichtsgegenwart Wer rein die Wahrheit sagt über das geschichtliche Verbrechen, das im Namen des eigenen Volkes begangen worden ist, liefert sich, so befurchten viele, den anderen aus, tendenziell auf Gedeih und Verderb. Deshalb beobachten wir ja zwischen Völkern diplomatisch höchst komplizierte Vorverhandlungen, die zum Ziel haben, in der durch Erinnerung präsent gehaltenen Vergangenheit der betroffenen Völker einen Schuld-Sachverhalt zu identifizieren, der es möglich macht, einen Schein der Gegenseitigkeit zu wahren, wenn es schließlich zu den öffentlichen Gesten des Ersuchens um Entschuldigung kommt. So wie jüngst zwischen dem Premier Japans und dem Staatschef von Nordkorea (und schon vor ein paar Jahren zwischen Japan und Südkorea). Der nüchterne Historiker mag sagen: Welcher Zynismus waltet, wenn das von der Kolonialmacht Japan den Koreanern millionenfach zugefügte Leid nun gegen das - für sich betrachtet: natürlich auch ungeheuerliche - Faktum einer Entführung von einem Dutzend Japanern gestellt wird! Indessen: jeder weiß doch um diese Asymmetrie. Aber der gerade im Falle asiatischer Schamkultur unglaubliche Vorgang öffentlicher Entschuldigungen eröffnet jetzt nicht nur den Raum für eine neue Qualität der internationalen Beziehungen, sondern schafft auch den Freiraum des Erinnerns. Genauer gesagt: das Grauen war ja, unterschwellig erinnert, ständig präsent und belastete das Leben vieler Menschen und die politische Kultur ganzer Länder! Nun darf es versprachlicht und sogar mit dem ehemaligen Feind geteilt werden; nun kommt alles Grauenvolle, was da passiert ist, wieder ans Licht - die TV-Kanäle werden wahrscheinlich in Japan und Korea voll davon sein aber in mittel- und langfristiger Sicht wird es sozusagen entgiftet sein; es wird immer Thema der Geschichtsschreibung dieser Völker bleiben - aber im Leben der beteiligten Völker wird es allmählich, vom Geist der Verzeihung gleichsam anfangs begleitet, in das Dunkel der Vergessenheit abgleiten dürfen. Freilich: vorerst werden Zorn und Wut der Angehörigen, denen ihre Lieben durch die kommunistischen Staatsterroristen entrissen wurden, geradezu explodieren; und das aus völlig nachvollziehbaren Motiven. Aber den Betroffenen wird sich das Mitleid einer ganzen Nation nun noch einmal zuwenden und das Eingeständnis der Verbrecher wird ihnen ebenfalls helfen, im Durchgang durch den Schmerz zu jener Haltung zu gelangen, die sich in der Überzeugung ausdrückt, die Wahrheit könne den Menschen freimachen. Wenigstens beiläufig hinweisen möchte ich noch auf das Ereignis ,Jedwabne' in Polen. Der Mythos einer Nation, die sich als Opfernation stilisiert hatte, brach da zusammen. Die Arbeit eines polnischen Historikers über die Tötung von Juden durch die polnische Zivilbevölkerung führte zu einer aufgewühlten Diskussion, die nun die Revision eines zu einfachen Geschichtsbildes bewirken wird. Das heißt: die Nation wird nun erst befreit zum wahrhaftigen Erinnern, und das Erinnern wird nun freier, differenzierter. Eigene Schuld wird eingestanden, und eine verlogene Legendenbildung verdampft. Genau diese Differenzierung im Umgang mit der eigenen Geschichte, diese Entmythologisierung, fuhrt m. E. nicht zu einem kollektiven Gesichtsverlust, sondern bringt in ihrer reinigenden Wirkung Polen weiter auf dem Weg einer modernen Zivilgesellschaft. Es gibt so etwas wie hypermoralische Rechthaberei im öffentlichen Diskurs. Wenn Rechthaberei in Folge der Einsicht in eigene Schuldbelastetheit praktisch aufgehoben wird, und die - auch: kollektiven - Subjekte sich wechselseitig als Schulderfahrene anerkennen, eröffnet sich vielleicht erst der Raum einer Kommunikation, in der fundamentale Entfrem-
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düngen überwunden werden können: Da wird dann die Erfahrung von Ent-fremdung gemacht. Die Asymmetrien in faktischer Schuldbeladenheit bleiben zu konstatieren, aber in der pauschalen Gegenseitigkeit des „Wir machen es nicht mehr zum Vorwurf' werden sie lebensweltlich vergessen. Der kommunikative Geist einer durch diverse Abschattungen der Verzeihung hindurchgegangenen Anerkennung verrechnet Schuld nicht mehr, fragt nicht einmal mehr, ob der andere denn der Verzeihung überhaupt „würdig" ist, und macht das Selbst gleichsam unfähig, weiter vorzurechnen, obwohl die Verbrechen der Geschichte weiter bleiben, was sie sind. Und auch irgendwelche expliziten Artikulationen der Verzeihung, Gesten und Andeutungen, dürfen im Zeichen der Normalisierung vergessen werden. Derrida würde sagen: diese Manifestationen eines extra-ordinären Zuspruchs sind vielleicht als Spuren in der Normalität der Verhältnisse, als indirekte Verweise auf einen esprit du pardon, erahnbar - jedes Mehr an Eindeutigkeit wäre eher von Übel. Es ist ja immer so: Was zufallsbedingt erscheint, wird im konstruierenden Erzählvorgang tendenziell eingeebnet in die Rekonstruktion des allgemeinen Geschichtsverlaufs. Der Geist der Verzeihung wirkt vor-bewußt, als ,Initialzündung', über die man sich im Augenblick des Vollzuges überhaupt nicht Rechenschaft zu geben vermag. Sobald dann ein Raum geschaffen ist, in dem sich Opfer und Verbrecher begegnen, miteinander sprechen und eine Verständigung suchen, ist bereits eine Szene der Versöhnung zumindest eröffnet, auf der das geläufige Verzeihen stattfinden kann. Und hier kommen dann natürlich auch sofort Zweck-Bindungen des Kommunikationsvorgangs unbewußt oder bewußt zur Geltung, ja - nicht selten - zur Sprache. Es ist dann die Aufgabe, diese Verzweckungen nicht zu denunzieren, sie aber in ihrem aporetischen Charakter freizulegen und zu verdeutlichen. So jedenfalls verstehe ich die Denkanstöße Derridas. 5. Derridas Sicht In den letzten Jahren hat Derrida eindringlich vor Augen gefuhrt, daß diese Grundsatzüberlegungen von erheblicher Tragweite sind für das Feld der Politik und die Bewältigung der Schuld in der Geschichte. Die Rede ist bei ihm vom Erbe der abrahamitischen Religionen, das in der Rhetorik der Verzeihung durchscheint. Diese konfliktreiche Tradition, die, historisch betrachtet, einzigartig ist, sieht er „auf dem Wege zu einer Universalisierung". Die geradezu inflationäre Beteuerung von Entschuldigung, Bedauern, Amnestien, Veijährungen subsumiert er unter dem schlagkräftigen Titel „Theater des Pardon": „In all den Szenen der Reue, des Geständnisses, des Verzeihens oder der Entschuldigungen, die sich auf dem geopolitischen Schauplatz seit dem letzten Krieg und seit einigen Jahren noch schneller vermehren, sieht man nicht allein Individuen, sondern ganze Gemeinschaften, Berufsgenossenschaften, Vertreter kirchlicher Machtstrukturen, Souveräne und Staatsoberhäupter um ,Vergebung' bitten. ... Das Wuchern solcher Szenen der Reue und der Bitte um Vergebung' verweist zweifellos auf eine universelle Dringlichkeit des Gedächtnisses: Man muß sich der Vergangenheit zuwenden; und diesen Akt des Gedächtnisses, der Selbst-Anklage, der ,Reumütigkeit' [...] muß man zugleich über die juristische Instanz und diejenige des National-Staates hinausführen." 12 Derrida findet die Korrespondenz zu dem Außer-Gewöhn12
Jacques Derrida, „Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht - unbedingt und jenseits der Souveränität", in: Lettre International (Nr. 10/Frühjahr 2000), 10-18, hier 10. Alle nachfolgenden Zitate und Verweise mit der Sigle D direkt im Text.
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liehen der Verzeihung in der (nur scheinbar) säkularen Verständigung der Völker Europas, so etwas wie „Verbrechen gegen die Menschheit" als ebenfalls „außer-gewöhnlich" zu qualifizieren und sie dem Verschleiß des geschichtlichen Vergessens dadurch zu entziehen, daß man sie in einem performativen Akt - gegen den Lauf der Zeit - für „unveijährbar" erklärt. Damit habe man „an eine Art von Jenseits des Rechts im Recht appelliert". (D 17) Was aber unverjährbar ist, das „verweist in Richtung der transzendentalen Ordnung des Unbedingten, des Vergebens und des Unverzeihbaren in Richtung einer Art von Geschichtslosigkeit, ja sogar von Ewigkeit und Jüngstem Gericht, das die Geschichte und die endliche Zeit des Rechts übersteigt". (D 17) In der Veralltäglichung des Verzeihens nimmt im Grunde jedermann „das Trughafte, das mechanische Ritual, die Scheinheiligkeit, das Berechnende oder das Nachäffen" wahr. Aber Derrida sieht auch wiederum nüchtern, daß sich in all diesen zweideutigen Bekundungen eine Einsicht abzeichnen könnte, der wir uns überhaupt erst stellen müssen: daß wir nämlich alle Erben zumindest von Personen oder Ereignissen sind, „die auf wesentliche, innerliche und unauslöschliche Weise durch Verbrechen gegen die Menschheit gekennzeichnet sind". In dieser historisch-genetischen Perspektive drängt sich dann der Gedanke einer Solidarität der Menschheit in der Schuld auf: Niemand auf der Erde ist dann noch unschuldig - „und folglich niemand mehr in der Position des Richters oder Schiedsrichters" (D 10). Es ist gewiß keine Übertreibung, wenn man sagt, die Verbrechen im 20. Jahrhundert hätten alles vorstellbare Maß überstiegen. Daß der Ruf nach Vergebung aber so laut erschallt, hängt iur Derrida eher damit zusammen, daß das extrem grausame Verbrechen nicht mehr im Verborgenen bleiben kann: Das quasi universale Bewußtsein ist so informiert wie niemals zuvor - und entsprechend sind die Schlupflöcher, sich der Belastung des Gewissens zu entziehen, verstopft. Bezogen auf Durchbrüche der Verzeihung im Raum von Geschichte, Politik und Recht meint Derrida, das Verzeihen sei „vielleicht die einzige Sache, die wie eine Revolution passiert". Wo das Verzeihen in politische Verhandlungen, Kalkulationen und Transaktionen eingefügt wird und gleichsam auf die Ebene hypothetischer Imperative gerückt wird, ist selbstverständlich nicht mehr von einem reinen Begriff und reinen Verständnis des Verzeihens die Rede. Und doch geht es Derrida nicht darum, solche Transformationen in die Normalität hinein einfach zu denunzieren. In gebrochener Form schimmert das Unverfügbare der Gabe der Verzeihung auch durch diese strategischen Machenschaften hindurch.13 Verzeihung im eigentlichen Sinn des Wortes besteht denn auch weniger in Ab-
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Derrida selbst verweist auf französische Phänomene - etwa auf die Rhetorik der nationalen Versöhnung bei de Gaulle, Pompidou und Mitterand, denen es darum ging, Schuld und Verbrechen der Vergangenheit unter der Okkupation oder während des Algerienkrieges auszulöschen und nationale Einheit, Versöhnung, zum Beispiel durch Amnestie, zu erreichen: Man müsse eben auch zu vergessen wissen. - Bezogen auf die Amnestie von 1951 schreibt Derrida: „Man mußte all die Antikommunisten in die Nationalgemeinschaft zurückrufen, die nur einige Jahre zuvor noch Kollaborateure waren und Gefahr liefen, sich durch eine zu strenge und durch eine zu wenig vergessende Reinigung aus dem politischen Feld ausgeschlossen zu sehen." Unübersehbar lagen diesen Initiativen in Zeiten des Kalten Krieges stets auch strategische und politische Berechnungen zugrunde. (Vgl. D 12 f.) Es ist immer dasselbe: die Sorge gilt der Zerrissenheit der Nation. In Südafrika ist diese Sorge ja mit Händen zu greifen: Ohne die Politik einer nationalen Versöhnung wäre das Land durch Racheakte in Schutt und Asche gelegt worden. Aber Derrida macht eben zu Recht darauf aufmerksam, daß Amnestie hier eher der „Einstellung des Verfahrens"
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sichtserklärungen und Mitteilungen als vielmehr in einem authentischen Verhalten. Eine zu direkte Versprachlichung birgt das Risiko, durch Großspurigkeit, Anmaßung und Sentimentalität geradezu Trotz und Widerstand gegen die Normalisierung hervorzurufen. Diese Prozesse gründen also im Vor-Sprung eines stets enttäuschbaren Vertrauens, dessen feines Gewebe zerreißt, wer es auf die Probe stellen möchte.
II.
Auschwitz zum Beispiel: Zur Kritik der Enthistorisierungstendenzen in der Erinnerungspolitik
6.
Robert Nozick und andere
Die Auffassung, die Anerkennung von Schuld besitze Priorität vor den nachgeordneten Ansprüchen auf Versöhnung, ist bisweilen auch unter philosophischen Autoren anzutreffen. Als Beispiel möchte ich den renommierten US-amerikanischen Philosophen Robert Nozick anfuhren. Nozick zufolge hat die Menschheit „ihren Anspruch auf Fortbestehen verloren".14 Sie „verdient es einfach nicht mehr, nicht vernichtet zu werden. Die Menschheit hat sich entweiht". Die Aussicht auf Entschuldung ist grundsätzlich verstellt. Daraus kann man nur eine Konsequenz ziehen: Gäbe es nicht einen - dann ja eher fragwürdigen - Vitalismus in der menschlichen Gattung, müßte diese geradezu strategisch die Selbstauslöschung dieses mißlungenen Experiments betreiben. Da indessen das unheilvolle Leben weitergeht, wagt es Nozick, uns die philosophische Paradoxie anzusinnen, die Menschheit müsse eben die Arbeit an der Selbsterlösung auf sich nehmen - ohne Aussicht natürlich, auf diese Weise je zu einer Entschuldung zu kommen. Wer dieses entsetzliche Gedankengebilde des Hypermoralismus akzeptiert, muß im Grunde auf eine Veränderung der menschlichen Natur setzen. Genau das hält dieser Philosoph für erforderlich: „vielleicht müssen wir [...] unsere eigene Natur ändern und uns in Wesen verwandeln, die unglücklich sind und die leiden, wenn andere es tun." - ich stimme einem kritischen Kommentator zu, der bezüglich dieser Vision der „Erlösung" der Spezies von Kryptotheologie des Holocaust, von einer Art negativer Offenbarung („Bundeslade des Bösen") redet, die auf eine Besiegelung der Unheilsgeschichte hinauslaufe.15 Als weiteres Beispiel möchte ich hier den Heidegger-Kritiker Hans Ebeling anfuhren, der in seinen - gegen Heideggers Verdrängungskünste gewendeten - Texten von „Deutschland als Totenland" redet. Er bezeichnet damit einen „Ort, an dem der bisherige Tod auf die Spitze getrieben ist in der Weise des neuen Tods und wo sich auch schon der neueste Tod auf das deutlichste angezeigt hat, also bis 1945 das Land des vollzogenen Genozids, bis 1989 das Land des präparierten Holozids". Der Überstieg von einer vorgeblich deskriptiven zu einer explizit essentialistischen Identitätsbestimmung lautet kurz und bündig: „das Totenland bleibt seine einzige Substanz".16 Daraus werden dann durchaus Sollensforderungen ans
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gleichkommt als der Vergebung - auch wenn Bischof Desmond Tutu als Präsident der „Wahrheitskommission" es für angebracht gehalten hat, die Sprache dieser Institution zu christianisieren. Robert Nozick, „Der Holocaust", in: ders., Vom richtigen, guten und glücklichen Leben, München 1991, 262-269. Hier auch die weiteren Zitate dieses Abschnitts. Eckhard Nordhofen, „Vor der Bundeslade des Bösen", Die Zeit Nr. 15 (vom 9.4.1993), 61 f. Hans Ebeling, Martin Heidegger. Philosophie und Ideologie, Reinbek bei Hamburg 1991, 142.
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Kollektiv abgeleitet: „Das kollektive Sein zum Tode ist freilich vorzüglich den Deutschen zuzumuten. Sie haben sich in dem Jahrhundert seit Nietzsche im Suizid, Genozid und Holozid geübt. Sie kennen sich exzeptionell aus im Töten. Sie sollen sich exzeptionell auskennen im Sein zum Tode, und zwar aus der Pflicht zum vernünftigen Widerstand gegen den Tod."17 Geschichtliche Ereignisse werden nicht nur dem Vergessen, sondern auch dem Verzeihen entzogen, wenn sie in einen eschatologischen Deutungsrahmen eingefügt werden. So geschieht es in der Auffassung mancher Juden mit dem Holocaust und der Gründung Israels. Zugespitzt und trivialisiert lautet die Meinung, auf die man hier mitunter stößt, daß Israel die gottgewollte Entschädigung für den Holocaust sei.18 Historisch ist dieser kausale Nexus, der den Staat Israel als eine Wiedergutmachung betrachtet, mit dem die Weltgemeinschaft den Juden gegenüber ihre Komplizenschaft bzw. Tatenlosigkeit beim Holocaust büßt, alles andere als evident: Die Machtkonstellation, die die Gründung Israels begünstigte, war von einem Schuldbewußtsein wegen mangelnden Engagements während des Holocaust überhaupt nicht beeinflußt (vgl. N 100). Legendenbildung kommt hier historischer Irreführung gleich. Weder in Amerika noch in Israel war man .seinerzeit' an den Leidensgeschichten der Überlebenden sonderlich interessiert. Die Leute konnten über ihre Erfahrungen nicht sprechen, weil sie niemand hören wollte. Davon, daß die Erinnerung der Überlebenden so etwas wie ein „kostbares Erbe" sein könnte, war damals jedenfalls nicht die Rede. „Früher sagte man ihnen, sie sollten nicht über den Holocaust sprechen, auch wenn sie es wollten - es sei schlecht für sie. Später sagte man ihnen, sie sollten über den Holocaust sprechen, auch wenn sie es nicht wollten - es sei gut für sie. In beiden Fällen wußten die anderen am besten, was gut für die Überlebenden war." (N 114 f.) In den 50er Jahren gab es weder in Israel noch in den USA ein Bemühen, das Ereignis des Holocaust in religiöser Semantik zu erinnern. Auch Monumente oder Denkmäler wurden kaum errichtet. (Vgl. N 142) Im Grunde spielte der Holocaust für das Selbstverständnis der Juden kaum eine Rolle. Erst gegen Ende der 1960er Jahre begannen Versuche, der auch bei der Mehrheit der Juden selbstverständlichen Historisierung des Holocaust entgegenzuarbeiten (vgl. N 148). Der Versuch, Auschwitz jeder Vergleichbarkeit zu entziehen, fiel ziemlich schwer angesichts der Tatsache, daß eine amerikanische Flugzeugbesatzung in Japan auf einen Schlag mehr Menschen vernichtete als jemals zuvor in der gesamten Menschheitsgeschichte (vgl. N 151). Manche sprachen von Auschwitz und Hiroshima als „Zwillingssymbolen des von Menschen verursachten Massentods". (N 152) Schließlich ist, wie Novick schreibt, ,Überlebender des Holocaust' ein Ehrentitel geworden, der Bewunderung und sogar Ehrfurcht erregt (vgl. N 95). Das ist immerhin so attraktiv, daß die Zahl derer nicht gering ist, die sich diesen Status zu erschleichen versuchen, indem sie fingieren, selber im Lager gewesen zu sein. (In Deutschland wurde der Fall des ostdeutschen Schriftstellers Stefan Hermlin bekannt, der seine Biographie in diesem Sinne gefälscht hatte.) Indessen, es wird wohl so sein, daß gerade diejenigen, die das Grauen durchlebt haben, eher allergisch auf solche Festschreibungen und zivilreligiösen Verwertungen reagieren. Frühere Beschreibungen, die weniger von „Ehrfurcht", sondern eher von „Mitgefühl" zeugen, waren 17 18
Ebd., 152. Vgl. hierzu Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart 2001, 97. Alle weiteren Zitate und Verweise auf dieses Buch mit der Sigle N direkt im Text.
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als Festschreibungen einer bestimmten Identität vermutlich auch nicht leichter zu ertragen: Die Opfer wurden beschrieben als „wandelnde Leichen", „lebende Tote", „menschliche Wracks" u. ä.: „Wenn jemand, der beruflich mit den jüdischen Heimatlosen zu tun hatte und von ihrer Lebendigkeit beeindruckt war, diese Beschreibungen in Frage stellte, wurde er von führenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinden angegriffen, weil er die Anklage schwäche." (N 96; Hervorhebung von mir) 7. Zur Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust Novick spricht im gleichen Zusammenhang von einem geradezu wütenden Beharren auf der Einzigartigkeit des Holocaust (vgl. N 229 ff.). Wer es wagt, die Einzigartigkeit des Holocaust zu bestreiten, dem wird von einigen Forschern ,Holocaustleugnung' vorgeworfen (vgl. N 254). Bei nüchterner Betrachtung stellt sich dann heraus, daß der Begriff der Einzigartigkeit erkenntnistheoretisch gesehen leer und - wenn man denn will - auf jedes historische Ereignis anzuwenden ist. Merkmale, die die Einzigartigkeit ausweisen, wird es immer geben. Die Rede von der Einzigartigkeit ist darum - so urteile ich mit Peter Novick - ein „intellektueller Taschenspielertrick", der nicht selten offensiv beleidigend wirkt: Denn was könnte diese Redeweise anderes bedeuten als: „Eure Katastrophe ist im Gegenteil zu unserer gewöhnlich, faßbar und darstellbar." (N 22) Das Buch von Novick ist voller Dokumente, die von der Selbstprivilegierung der jüdischen Opfer zeugen, die eben „anders" starben. Angeblich starben die nichtjüdischen Verfolgten einen Tod, „der für Juden erfunden worden war". Novick zitiert den Sohn eines Überlebenden, der die Meinung vertrat, „der Tod nichtjüdischer Opfer gehöre ,zu einer anderen, nicht-theologischen Kategorie, die nicht von den Mysterien berührt wird, welche im Herzen des Ungeheuerlichen' herrschen'." (N 283)19 Irreführend, ja pervers an der institutionalisierten Erinnerungsarbeit etwa der HolocaustMuseen ist der Vorgang, daß die - oft jugendlichen - Besucher in einen ,Parcours' gedrängt werden, in dem sie die grauenhafte Szenerie als Opfer erleben. Daß sie auf Grund ihrer eigenen Situation womöglich selbst genauso leicht zu den Tätern gehören könnten, wird von vornherein als Möglichkeit ausgeklammert. Hilfreich für ein besseres Verständnis der Geschichte wäre es, bislang ,neutralen' Besuchern - wie in den berühmten MilgramExperimenten - über partizipatorische Prozesse der Eindruck zu vermitteln, wie leicht man sich zu Verbrechen verleiten läßt. Erst dann hätten diese ,Erlebniswelten' des Holocaust eine kathartische Funktion und würden beides zugleich erschließen: eine Vertiefung der Erinnerung und eine Ahnung, daß man solches Geschehen nur überleben können wird, wenn der Geist der Verzeihung nicht gänzlich abwesend ist. Die Initiatoren der Inszenierungen hingegen, in denen den Besuchern Opferpässe überreicht werden, scheinen zu glauben, „daß der bloße Akt, durch ein Holocaust-Museum zu laufen oder einen Holocaust-Film anzuschauen, eine moralisch-therapeutische Funktion habe und die Vermehrung derartiger Begegnungen einen zu einem besseren Menschen mache". (N 28) Novick sieht in der Erinnerungsarbeit der jüdischen Organisationen sogar eine Verchristlichung - freilich eine ohne die ultimative Perspektive der Verzeihung. Der Historiker denkt 19
Der größte Sieg in diesen Diskursen besteht nach Novick darin, „einem Konkurrenten das Zugeständnis abzuringen, man selbst sei das größere Opfer". (Novick, a. a. O., 22) Novick spricht von einem schmutzigen Spiel, das - gerade gegenüber anderen Benachteiligten - gekennzeichnet ist von Unnachgiebigkeit und Rechthaberei. (Vgl. ebd., 23)
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dabei an das Ritual, „ehrfurchtsvoll den vorgezeichneten Holocaustparcours in den großen Museen zu folgen, die nichts so sehr ähneln wie der Via Dolorosa und ihren Stationen der Kreuzigung; die ausgestellten Fetischobjekte ähneln den zahllosen Bruchstücken des Kreuzes Christi oder den Schienbeinknochen der Heiligen; die symbolischen Darstellungen des Holocaust - namentlich in der Klimax von Elie Wiesels Night - benutzen Bilder aus der Kreuzigungsgeschichte. Besonders bezeichnend ist vielleicht die Heiligung und Darstellung des Leidens als Weg zur Weisheit - der Kult des Überlebenden als säkularisierter Heiliger." (N 24) Das Unbehagen des Historikers wird verstärkt durch die allgemeine Heuchelei: „In Washington gibt es ein großartiges Holocaust-Museum, aber kein Sklaverei-Museum. Was würden die Amerikaner davon halten, wenn die Deutschen sagten, der Holocaust sei zwar furchtbar gewesen, wirklich wichtig aber sei die Errichtung einer Berliner Gedenkstätte für die amerikanischen Negersklaven?" (N 10) Am Ende läuft alles dann darauf hinaus, daß sich die Rhetorik verselbständigt und sich alle möglichen Stimmen erheben, die sich auf den Holocaust beziehen, um den eigenen Opferstatus zu dramatisieren (vg. N 293).20 Der Prophet einer - inzwischen vielstimmigen - Sakralisierung des Holocaust ist der Nobelpreisträger Elie Wiesel. Man verwendet in diesen Kreisen Wörter wie „heilig" und „Ehrfurcht" für das Ereignis bzw. für die Überlebenden selbst. Diese Denker messen dem Holocaust einen der Offenbarung am Sinai ebenbürtigen Stellenwert bei. Wer sich gegen solche Versuche der Mystifizierung wendet, macht sich in ihren Augen des Antisemitismus schuldig (vgl. N 261). In einem Artikel von Elie Wiesel, der unter dem Titel „Trivialisierung des Holocaust" am 16. April 1978 in der New York Times erschien, heißt es: „Der Holocaust transzendiert die Geschichte [...] Die Toten besitzen ein Geheimnis, das zu erlangen wir Lebenden weder wert noch fähig sind. [...] Der Holocaust [ist] das ultimative Ereignis, das ultimative Mysterium, das nie verstanden oder mitgeteilt werden kann. Nur diejenigen, die dort waren, wissen, was es war; die anderen werden es nie wissen." Nach Elie Wiesel geht es darum, „dem eigenen Leiden und dem anderer einen Sinn zu verleihen". Wiesel stellt sich die Frage: „War es notwendig oder gar unumgänglich, den Körper so zu bestrafen, um der Seele den Aufstieg in ungeahnte Höhen zu ermöglichen?"21 So nimmt es natürlich nicht wunder, wenn Wiesel gelegentlich Shimon Perez dafür tadelt, daß der nicht zögerte, von den ,beiden Holocausts' des Jahrhunderts zu sprechen: Auschwitz und Hiroshima.22 20
Ein Kolumnist erklärte den Erfolg der Holocaust-Museen mit diesen Worten: „In einer Zeit moralischer Relativität dient das Holocaust-Museum als Orientierung. Hier gibt es keine Rationalisierung [...] Hier ist etwas Absolutes. Und im absoluten Bösen vielleicht die Hoffnung auf ein absolutes Gutes ... Wir leben inmitten der Ruinen ,der Moderne' - eines Zeitalters, in dem der westliche Mensch uralte Standards und Überzeugungen aufgegeben und sein Vertrauen in die Wissenschaft gesetzt hat. Wer in das Holocaust-Museum geht, sucht nach Antworten - in Gestalt moralischer Gewißheiten [...] Das HolocaustMuseum bietet eine moralische Basis, auf die man bauen kann: eine negative Gewißheit, mit der man anfangen kann." (Boston Globe, 11. September 1994, 24; zitiert bei Novick, a. a. O., 297)
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Elie Wiesel, All Rivers Run to the Sea: Memoires, New York 1995, 4 f., 37, 150; zitiert bei Novick, a. a. O., 344. In der Perspektive einer Erkundung auch der perversen Wege der Erinnerungspraxis ist neben Peter Novick auch Norman Finkelstein zu nennen, der in seinem Buch Die Holocaust-Industrie (München 2001) in vielfachen Facetten dokumentiert, wie das strategisch nutzvolle Insistieren, die Schuld sei .immerwährend' und der Charakter des Holocaust .einzigartig', nicht nur dazu fuhren kann, die Opferrolle inflationär auszuweiten und schamlos auszunutzen, sondern auch dazu, sich auf der Basis eines pe-
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8. Exkurs zu einer typisch deutschen Kontroverse: Höß und die Hoffnung auf gnädiges Vergessen Auschwitz in irgendwelche Theodizee-Konstruktionen einzufügen, halte ich fiir ein perverses Konstrukt - als habe Gott beispielsweise dieses Grauen geschehen lassen, „damit seine Güte in der Finsternis um so herrlicher leuchten"23 könne. „Je böser die Täter, desto gerechter und unbelasteter der in Auschwitz untätige Gott. Das ist das Muster von Theodizee in und nach Auschwitz."24 Christoph Schulte bleibt in seinen Rückfragen freilich einem überkommenen theistischen Denkmodell verhaftet, wenn er (sich) fragt, „ob die Opfer und Zeugen Gott vergeben können, daß er Auschwitz zugelassen hat. Auf diese Theodizee-Frage hat die Theologie bisher keine Antwort".25 Schulte spricht von einer Sakralisierung des Holocaust in Auschwitz und meint damit, daß der Ort schlechthinniger Sinnlosigkeit nachträglich zum Ort religiöser Ersatzhandlungen aufgewertet werde - „gerade so, als wolle man nachträglich per Exorzismus das Unerträgliche der Massenvernichtung bannen. Als gälte es, die Abwesenheit Gottes im KZ durch nachträgliche demonstrative Aktivitäten religiöser Amtsträger vergessen zu machen".26 Diese Polemik entzündete sich an dem Buch eines Theologen, der dargelegt hatte, der Lagerkommandant Höß habe vor seiner Hinrichtung das Sakrament der Buße empfangen.27 „Die Kirche ist zur Vergebung genötigt, Gottes Vergebung wird gleichsam per Sakrament erpreßt." Diesseits der dogmatisch-theologischen Problematik gehe es um den an die Opfer gerichteten Appellcharakter, der mit der sakramentalen Handlung indirekt verbunden sei. Welchen ,Stellenwert', so wird gefragt, haben die Opfer in dieser ,Theo-Logik' der Verzeihung - die Opfer (und ihre Nachkommen), die nicht willens bzw. fähig sind, dem Massenmörder zu verzeihen?28 Schulte fahrt fort zu rekonstruieren, welchen Entlastungseffekt sich die Täter (und ihre Nachkommen) von solcher theologischen Praxis versprechen können: „[...] wenn Gott sogar Rudolf Höß vergeben hat, können zum guten Schluß alle reuigen Deutschen Vergebung und Vergessen finden. Sie können sich endlich mit sich selbst versöhnen, selbst wenn die ,verstockten' Juden ihnen nicht vergeben wollen. Das ist kollektiv-
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trifizierten Opfer-Status Lizenzen für Menschenrechtsverletzungen einzuräumen und gegen jegliche Kritik von außen zu immunisieren. Zu diesem ganzen Problem, wie die USA, Israel und die diversen jüdischen Organisationen mit dem Komplex umgehen, den Finkelstein die „Holocaust-Industrie" nennt, muß ich mich aus meiner Untersuchungsperspektive en détail nicht äußern. Unabhängig von dieser dominierenden Stoßrichtung aber findet sich in den genannten Büchern sehr viel aufschlußreiches Material zu den Konsequenzen und Implikationen der These, der Holocaust sei in einem metaphysischen Sinne singulär. Michael Kühnlein: „Die große Absolution. Auschwitz, Höß und die Frage nach der Verantwortung vor Gott", in: Religion heute, 41/März 2000, 36-40; hier: 39. Christoph Schulte, „Erpreßte Vergebung. Absolution fur den Kommandanten von Auschwitz?", in: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums, 54. Jg./Dez.l998, 261-267; hier: 266. Ebd., 267. Ebd., 266. Vgl. Manfred Deselaers, Und Sie hatten nie Gewissensbisse? Die Biographie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, Leipzig 1997. Vgl. Schulte, a. a. O., 265.
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psychologisch die Botschaft." Einen Niederschlag davon erkennt Schulte auch in der Diskussion um das Mahnmal in Berlin: „Wir bekennen uns zu Auschwitz, also muß man uns vergeben."29 Ein anderer Interpret, Michael Kühnlein, nimmt zu dieser Angelegenheit Stellung: Wohl könne man auf Grund ihres Geburtsdatums die einzelnen Deutschen heute „nicht mehr in die moralische Haftung persönlicher Schuld nehmen", doch sei die Erinnerung an den Holocaust „dem gesamten Staatsvolk als politische Verantwortung für die Zukunft aufgetragen worden".30 - Vom Staatsvolk zu reden ist gewiß nicht abwegig; aber in dem genannten Zitat begegnet dem Leser wieder eine Form metaphysischer Aufladung des Kollektivsubjekts: Das Wort vom „Auftrag" bzw. Auftragen suggeriert ein personales Verhältnis zu einem ,ganz Anderen', verdankt sich also demnach nicht den „Pflichten gegen sich selbst" (Kant). Das wird auch in der These deutlich, jede Rede von Versöhnung könne „nur eine geliehene Autorität beanspruchen". Von Enthistorisierung spreche ich in diesem Text mit Bezug auf alle Versuche, das Ungeheuerliche der verbrecherischen Taten im Horizont eines ganz spezifischen Schuld-Begriffs zu verewigen. Das ist dann der Fall, wenn das empirische Ereignis der Barbarei als „Sündenfall der Menschheit" metaphysisch-semantisch überhöht wird - stärker überhöht wird als der erste archaische Sündenfall, von dem in den biblischen Schriften die Rede ist, denn der , eigentliche' Sündenfall im 20. Jahrhundert habe die Verworfenheit des Menschengeschlechts zur Unaufliebbarkeit der Schuld gesteigert, insofern er jeden Geist der Vergebung desavouiert'. Diese Behauptung läßt sich wohl nicht dadurch aus den Angeln heben, daß man darauf hinweist, Wiedergutmachung im Vollsinne sei unter Menschen allemal niemals möglich, denn jede Schädigung eines anderen hinterlasse bleibende Spuren, die auch durch intentionale Bemühungen um Wiedergutmachung nicht schlechthin aus der Welt geschafft werden. Nun stellt man sich ja unter einer Art Sühne oder Wiedergutmachung unter Menschen bei aller Unvollkommenheit etwas höchst Praktisches vor. Bei Kühnlein gewinnt man indes den Eindruck, die Sühneleistung müsse „moralisch unabgeschlossen" bleiben, sie müsse ,durch Erinnerung perpetuiert' werden. So besteht hier also - umgekehrt - die Sühneleistung in der Perpetuierung der Erinnerung. Wäre nicht aber dies genau zu einfach? Gelangt man dann nicht sehr schnell zur Konstruktion jener monumentalen Mahnmale, ,welche die Identifikation mit den Opfern auf eine monströse Art fortschreiben'? (Kühnlein spricht immerhin von der „Dialektik eines versöhnungswütigen Denkmaldilettantismus"!) In einer solch metaphysischen Konstruktion einer negativen Geschichtskontinuität wird dann als „Einsicht" verkündet, „daß wir Post-Shoah aus dem Kontinuum der Glückwürdigkeit herausgeschleudert worden sind". Die eigentümliche Angst davor, Auschwitz könne irgendwie „überboten und devaluiert" werden, spiegelt die Befürchtung, „daß Auschwitz an Eindeutigkeit verliert und in die Anonymität des namenlos Allgemeinen abgleitet". 9. Erste Hinweise auf Gegenstimmen: Der Streit um Hannah Arendt Dieser Schulddiskurs wäre vielleicht am besten durch das von Primo Levi ausgegebene Verbot einer Heiligung der Opfer zu begegnen. Bei Levi heißt es: „Die Vermutung, ein abgefeimtes System, wie es der Nationalsozialismus war, spreche seine Opfer heilig, ist 29 30
Ebd. Kühnlein, a. a. O., 36. Hier auch die weiteren Zitate dieses Abschnitts.
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naiv, absurd und historisch falsch; im Gegenteil: es degradiert sie und verleibt sie sich ein f...] je härter die Unterdrückung, umso verbreiteter [ist] die Bereitschaft unter den Unterdrückten [...], mit den Machthabern zu kollaborieren [...] in unendlich vielen Schattierungen und Beweggründen f...]." 31 Auch auf die Philosophin Hannah Arendt läßt sich in diesem Zusammenhang verweisen. In Vita Activa bestand sie darauf, daß es die Aufgabe der Philosophie sei, sich der politischen Dimension der Verzeihung zu widmen. Die extrem heftigen Angriffe auf sie in jüdischen Zeitungen und Zeitschriften nach der Veröffentlichung ihrer Eichmann-Kommentare sind in diesem Kontext zu erörtern. Man unterstellte ihr, mit ihrer einfühlsamen Schilderung wolle sie Eichmann entlasten - als hätte sie nicht Abscheu und Verachtung an vielen Stellen ihres Buches deutlich gemacht. Worauf es ihr allerdings ankam, war, die Mittelmäßigkeit dieser bürokratischen Figur darzustellen, um so zu verhindern, daß sie zum monströsen Ungeheuer hochstilisiert werde. Genau das aber provozierte die Wut, denn sie untergrub damit die Möglichkeit, das ,rein' Böse dem ,rein' Guten gegenüberzustellen. (Vgl. N 181 ff.) Novick meint dazu, in den Augen der amerikanischen Juden sei es vor allem ein Vergehen gewesen, daß Hannah Arendt über diese Sachen für eine breite nichtjüdische Leserschaft geschrieben habe (vgl. N 189). Und natürlich: daß sie auf Komplexität und Ambiguität beharrte und damit Schwarz-Weiß-Zeichnungen die Grundlage entzog. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen erschien in hebräischer Übersetzung erst mehr als 35 Jahre nach der Erstausgabe. Selbst als mit dieser Verzögerung schließlich die Übersetzung in Israel herauskam, provozierte dies heftigste Reaktionen.32 Eine Historikerin - Idith Zertal - begrüßte die hebräische Übersetzung mit den Worten: „Die kollektive Erinnerung an die Shoah in Israel mußte dem Besitz der betriebsamen, zentralen, hegemonialen Institution der Erinnerung entzogen und privatisiert werden und sich in ihre zahllosen Elemente auflösen, damit eines der bedeutendsten Bücher in der Diskussion über die Shoah und das Wesen des Nazismus schließlich in Israel erscheinen konnte." (Noch heute fühlen sich Israelis, gerade solche der jüngeren Generation, provoziert von der vermeintlichen emotionalen Kälte, die angeblich von den nüchternen Darlegungen Hannah Arendts ausgeht.) Hannah Arendt hatte es für prekär erachtet, daß man Eichmann in Jerusalem wegen seiner Verbrechen speziell gegen die Juden anklagte; vielmehr hätte der Prozeß vor einem internationalen Gerichtshof mit der Anklage „Verbrechen gegen die Menschheit" durchgeführt werden müssen. Anders gesagt: weil aus der Shoah universale Lehren zu ziehen seien, wehrte sich Arendt gegen die Reduktion auf eine ethnische Betrachtungsweise. Die Debatte in Israel hingegen zeigte für viele, wie aktuell Norman Finkelsteins Behauptung ist, israelische Politiker und US-amerikanische Lobby hätten die Shoah dazu mißbraucht, die Unter-
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Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München/Wien 1990, 37-41. Vgl. Novick, a. a. O., 190. Die Ausfuhrungen dieses Abschnitts gehen - bis in einzelne Formulierungen hinein - zurück auf den Bericht von Rainer Wenzel, „Ein unabgeschlossener Prozeß. Hannah Arendts ,Eichmann in Jerusalem' in hebräischer Übersetzung", in: KALONYMOS. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Ludwig-Steinheim-lnstitut (Duisburg), 3. Jg./2000, H. 4, 11-17.
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drückung der Palästinenser zu rechtfertigen. Tatsächlich hat man in dieser Debatte erneut Hannah Arendt eines „fanatischen Humanismus" bezichtigt.33 In der Perspektive der hier angestellten Überlegungen zum Thema „Erinnerung" ist es natürlich ausschlaggebend, daß ein Ereignis wie die Shoah, das als Exzeß der Barbarei zu brandmarken ist, nicht durch metaphysische Überhöhung der geschichtlichen, kulturellen Bearbeitung entzogen wird. Genau das aber ist der Fall, wenn man mit der Deutung der Shoah das Ziel verfolgt, dieses Ereignis aus der Geschichte selbst herauszulösen und es als etwas Metahistorisches zu betrachten - „als unvermeidlichen Teil des jüdischen Schicksals'", auf welches die einzig angemessene Antwort die zionistische Staatsgründung ist. Allein vor diesem Deutungszugriff werden, so meinen in der israelischen Debatte Idith Zertal und auch Boas Evron, die empörten Reaktionen auf Hannah Arendt verständlich. Irgendwie vermisse man bei ihr - übrigens sehen das zuweilen auch die Sympathisanten Hannah Arendts so - die emphatische Identifizierung mit dem jüdischen Volk und dem Staat Israel. Schon Gershom Scholem hatte in einem Brief an Hannah Arendt vom 23.06.1963 der Philosophin vorgehalten, von einer Liebe zu den Juden sei bei ihr nichts zu merken; bezeichnend ist Arendts Antwort: Sie liebe in der Tat kein Volk oder Kollektiv, sondern nur ihre Freunde. Manchen Juden erscheint das als Gefühlskalte bzw. als pervertierter Rationalismus (so ähnlich äußert sich die Schriftstellerin Batya Gur). 10.
Jüdische Gegenstimmen: Über Grenzen des Erinnerns
Sich der Wahrheit des historischen Sachverhalts zu nähern, wird nur möglich, wenn der Diskurs nicht mehr durch Schuldvorwürfe belastet wird. Ausgeschlossen wird damit auch, daß eine historische Wahrheit in eine transhistorische Ideologie zur Legitimierung eines Staatswesens umgeformt wird.M Arnos Oz äußert sich wie folgt über die Unerläßlichkeit des Vergessens: „Müssen wir [...] für immer unsere Toten betrauern? Hinter verriegelten Türen und zerbrochenen Fensterscheiben, ausgestöpselten Telefonen sitzen, unsere Rücken der bösen Welt und unsere Gesichter der schrecklichen Vergangenheit, unsere Rücken den Lebenden und unsere Gesichter den Toten zugekehrt, Tag und Nacht dasitzen und uns daran erinnern, was uns Amalek angetan hat, bis zur Ankunft des Messias - oder bis zur zweiten Ankunft Amaleks?"35 Der Philosoph Yehuda Elkana, der als Kind in Auschwitz war, hat ebenfalls ein Plädoyer für das Vergessen verfaßt, denn sich auf den Opferstatus auf ewig zu versteifen, das gerade sei der „tragische und widersinnige Sieg Hitlers". Ohne diese Fixierungen wäre es vielleicht - so wird erwogen - zu den israelischen Brutalitäten in der West
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Jene Stimmen, die in dieser nachholenden Debatte dafür plädierten, die Gesichtspunkte Hannah Arendts emsthaft zu würdigen, erinnerten daran, daß während des Eichmann-Prozesses in der israelischen Öffentlichkeit eine Stimmung herrschte, in der die gegenwärtigen Feinde - die Araber - mit den Nazis gleichgesetzt wurden. So äußerte beispielsweise Ben Gurion: „Wenn ich die Reden des ägyptischen Präsidenten höre, kommt es mir vor, als spräche Hitler". In der propagandistischen Auswertung des EichmannGerichtsverfahrens wollte Ben Gurion nichts dem Zufall überlassen und intervenierte - erfolgreich - direkt bei dem Verleger Gershom Schocken (der über die Urheberrechte verfugte), von einer hebräischen Ausgabe des Eichmann-Buches abzusehen. Hierzu ließen sich viele geschichtliche Hinweise sammeln; man denke nur an die Bedeutung, die der Schlacht gegen die Türken auf dem Amselfeld für den Identitätsmythos der Serben zukommt. Arnos Oz, „Amalek Week", Davar, 13. April 1987; zitiert bei Novick, a. a. O., 218.
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Bank nicht gekommen. Elkana stellt nicht in Abrede, daß es auch das Erinnern geben müsse. Aber er fahrt fort: „Wir müssen für unseren Teil vergessen! Ich sehe heute keine wichtigere politische und erzieherische Aufgabe für die Spitzen dieser Nation, als sich auf die Seite des Lebens zu stellen, sich der Gestaltung unserer Zukunft zu widmen und sich nicht von morgens bis abends mit Symbolen, Zeremonien und Lehren des Holocaust zu beschäftigen. Sie müssen die Herrschaft dieses historischen ,Erinnere Dich!' über unser Leben tilgen."36 11.
Die Funktionäre im Lager - Menschen ,wie Du und ich'?
Es waren Opfer des totalitären Staatsterrors, die die Frage gestellt haben, was es denn nütze, „die Feinde zu vernichten, wenn man dabei zu ebenso hassenswerten Bestien wird, wie sie es sind?"37 Todorov führt diesen Gedankengang weiter: „Riskieren wir nicht auch und gerade, wenn wir so über ihn [sc. den Feind] triumphieren, daß ihm die Genugtuung eines heimlichen und finsteren Siegs zuteil wird, da wir zu seinesgleichen geworden sind?"38 Etty Hillesum hält in ihrem beeindruckenden Tagebuch die Begegnung mit einem Lagerinsassen fest: „Er haßt unsere Verfolger mit einem Haß, für den er, wie ich annehme, triftige Gründe hat. Aber er ist selbst ein Schinder. [...] Er war zwar voller Haß gegen jene, die wir als unsere Henker bezeichnen, aber er selbst wäre ein vortrefflicher Henker und Verfolger der Wehrlosen geworden."39 Todorov bündelt diesen Gedankengang: „Wer keinerlei Ähnlichkeit zwischen sich und anderen erkennt, wer nur das fremde Böse, aber nicht das eigene sieht, der ist (tragischerweise) dazu verurteilt, seinen Feind zu imitieren. Wer hingegen das Böse auch in sich selbst zu erkennen vermag und folglich merkt, daß er dem Feind ähnlich ist, gerade der unterscheidet sich wirklich von ihm. [...] Halte ich mich für anders, bin ich vom gleichen Schlag; halte ich mich für gleich, bin ich anders [...]." (T 242) Jewgenia Ginsburg, Irina Ratuschinskaja, Primo Levi haben ähnlich geurteilt. Ganz anders Jean Amery: Die Position eines Menschen, der sich, wie Amery, aufgrund seiner verheerenden Erfahrungen diese Sanftmütigkeit nicht zu eigen machen kann, und der für „die rächende Stiftung der Gerechtigkeit" Partei ergreift, weil er darin eine „Chance zur Errichtung eines neuen Reichs des Menschen auf Erden"40 sieht, ist nicht weniger plausibel. Sie neben jener von Primo Levi und den anderen zu tolerieren, beruht gerade auf einer zugrundeliegenden, als „ontologisch" beschreibbaren Nachsichtigkeit, die die Weigerung impliziert, hier ein „richtig" und „falsch" zu dekretieren. Denn auch der Haß ist in gewisser Weise gerechtfertigt, und Haßgefühle auszudrücken kann fürs Überleben eines geschundenen Opfers unvermeidbar sein. Außerdem ist ja nicht zu bestreiten, daß es sinnvoll sein kann, sich gegen eine weitere Ausbreitung des Bösen mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen. Schließlich ist der historische kairos nicht außer acht zu lassen: In einer bestimmten historischen Situation kann es geradezu offenkundig sein, daß eine pazifistische Haltung schuldig wird, weil sie hindert, daß man entschieden und hart dem Bösen in seinen noch schwächli36 37
38 39
40
Publiziert in Ha'aretz, 2. März 1988; zitiert bei Novick, a. a. O., 219. Germaine Tillion, zitiert nach Tzvetan Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993, 239. Alle weiteren Zitate und Verweise mit der Sigle T direkt im Text. Vgl. Tadeusz Borowski, Bei uns in Auschwitz, München 2 1982, 158. Etty Hillesum, Das denkende Herz der Baracke: die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, Reinbek bei Hamburg 1985,1 183 f.; zitiert bei Todorov, a. a. O., 241. Jean Améry, Widersprüche, Stuttgart 1971, 231; zitiert bei Todorov, a. a. O., 260.
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chen Anfängen entgegentritt. Auf der anderen Seite fuhrt kein Weg an der Einsicht vorbei: Haß deformiert die Persönlichkeit - bis hin zu dem verwerflichen Glauben, das erlittene Unrecht legitimiere irgendwie die eigene Vergeltungswut oder die Menschenrechte mißachtende Barbarei gegenüber neuen Feinden - als hätte man aufgrund des eigenen Opferstatus gleichsam einen Freibrief. Ich denke, es gibt nur ein Kriterium der Authentizität in der Wahl der Reaktion auf das Böse: daß jemand, der sich zu entscheiden hat, es sich mit dieser Entscheidung so schwer wie möglich macht, und das heißt: die entgegengesetzte Option sich mit ihren stärksten Gründen immer wieder vor Augen fuhrt. Die Logik der Verzeihung besteht im Aushalten und in der Akzeptanz dieser Offenheit. Auch die These, die SS-Männer in den KZs seien monströse Ungeheuer gewesen und nicht mittelmäßige Figuren, verdankt sich der unterschwelligen Abwehr, angstvoll nicht zugeben zu wollen, daß diese Menschen im Grunde solche waren ,wie du und ich'. Ist man indessen bereit, dies zuzugeben, wird ja erst recht für uns das Extrem-Böse zu einem Rätsel. Primo Levi, eines der überlebenden KZ-Opfer, hat es schließlich fertiggebracht, nach einem immer neuen Durchdenken der schlimmsten Widerfahrnisse sich zu der Ansicht durchzuringen: „Sie waren aus dem gleichen Stoff gemacht wie wir, mittelmäßige Menschen, mittelmäßig intelligent, mittelmäßig böse: abgesehen natürlich von einigen Ausnahmen, waren sie keine Bestien, sie hatten ein Gesicht wie wir."41 Es waren Überlebende der Lager, die auf die Leichtigkeit hingewiesen haben, mit der die ,anständigen Menschen' zu Henkern wurden (vgl. T 146) - und sie haben es fertiggebracht, sich zu der Überzeugung durchzuringen, „daß in der gleichen Lage jedes andere nationale Kollektiv ebenfalls abgeirrt wäre". (Germaine Tillion, zitiert bei T 141) Welch ungeheure Macht der Verzeihung bekundet sich hier in Form einer schlichten Faktenfeststellung! Doch sogleich ist hinzuzufügen: welche Primitivität manifestierte sich, wollte eine(r) aus dem Volk jener Mörder mit dieser „Faktenfeststellung" sich selbst oder die Täterinnen und Täter entschuldigen. Das Buch von Todorov ist nicht zuletzt deshalb so eindrücklich, weil der Autor, der selbst in einem totalitären Staat - in Bulgarien - groß geworden ist, sich nicht scheut, in kursiv gesetzten Passagen, die die historischen Reflexionen unterbrechen, immer wieder Beispiele dafür beizubringen, wie er selbst und seine Familie sich mit den terroristischen Umständen arrangiert hatten (vgl. etwa T 161). Einer der charakteristischen Züge des totalitären Regimes habe darin bestanden, „daß alle Komplizen wurden und gleichzeitig Häftlinge und Wächter, Opfer und Henker waren". (T 163) In einem dieser konfessorischen Zwischentexte geht Todorov so weit - auf das innige Verhältnis des KZ-Leiters Stangl zu seiner Tochter anspielend - zu formulieren: „Ich glaube nicht, daß sie mir dieselben Verbrechen verzeihen müßte, aber es gibt immer genügend Dinge, vor denen sie die Augen schließen müßte. Diese Nähe verwirrt mich. Stangl ist nicht nur menschlich, sondern ich erkenne mich in ihm wieder. [...] Wie kann ein guter Mensch das Böse tun, oder vielmehr: wie kann derselbe Mensch zur gleichen Zeit das Gute und das Böse tun?" (T 184) - Die Wiederholung des zitierten Satzes von Todorov sei erlaubt: „Halte ich mich für anders, bin ich vom gleichen Schlag; halte ich mich für gleich, bin ich anders [...]." (T 242) Der Buchenwald-Häftling Jorge Semprun hat in seinem Buch Die Grosse Reise (dt. 1981) eine eindrückliche Reflexion vorgelegt, in der das Opfer des Terrors sich dazu durchringt, die Funktionäre des Terrors und ihre Anhänger und Sympathisanten nicht als in ihrem 41
Primo Levi, Die Untergegangenen
und die Geretteten, 208; zitiert nach Todorov, a. a. O., 172.
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Wesen inhuman identifizieren zu müssen. „Denn wenn sie wirklich durch und durch Boches sind, werden sie nie etwas anderes sein. Ihr Boche-Sein ist wie etwas Wesenhaftes, das sich jedem menschlichen Zugriff entzieht. Sind sie Boches, so bleiben sie Boches, ein für allemal. Das ist dann nicht mehr etwas sozial Gegebenes, wie etwa, daß sie Deutsche und Nazis sind. Sondern es ist eine Wirklichkeit, die vor aller geschichtlichen Tatsächlichkeit liegt und gegen die man machtlos ist. Es wäre umsonst, die deutsche Armee zu vernichten, die Überlebenden wären immer noch Boches. Nichts bliebe mehr übrig, als sich ins Bett zu legen und aufbessere Zeiten zu warten. Es sind Deutsche und oft Nazis. Zur Zeit sogar ein wenig allzu oft. Ihr deutsches und allzu oft nazistisches Sein ist ein Teil einer gegebenen geschichtlichen Struktur, und nur die Verständigung unter den Menschen kann diese Frage lösen."42 Viele der fürchterlichen Episoden, die Semprun in diesem Buch in Erinnerung ruft, bewegen sich auf der Grenze zwischen der rationalen Konsequenz und konsequenten Rationalität' der Vernichtung des Feindes einerseits und der Zurückhaltung dieser letzten Vernichtungskonsequenz - um der Humanität eine Chance zu geben. (Semprun denkt hier z. B. an zwei blutjungen Kämpfer der Resistance, die in einer unerbittlichen Auseinandersetzung einen verwundeten SS-Mann fangen und ihn, anstatt ihn sofort zu erschießen - was er ohne Zögern getan hätte - , verbinden und dann Sanitätern übergeben.) Einer der bedeutendsten Denker Israels war Jeshajahu Leibowitz. Er hat 1987 „Gespräche über Gott und die Welt" mit Michael Shashar geführt.43 Das Gespräch über „Nazismus" ist für unsere Thematik besonders aufschlußreich (vgl. L 98-104). Dieser alte Mann, selbst leidgeprüft durch die Geschichte, von der er redet, trägt - ohne eine Spur von Barmherzigkeitssentimentalität und Verzeihungsattitüden - ständig Argumente vor, die indirekt die einzelnen Handelnden von der Totalitätsbürde der Schuld entlasten. Leibowitz ordnet die Exzesse der Deutschen einer „Barbarisierung des Bewußtseins" zu, die „Zeichen der allgemeinen Mentalität ist, die unsere Welt beherrscht, und von der auch wir [sc. die Juden] nicht ganz frei sind". Leibowitz zögert nicht, in diesem Gesprächszusammenhang auf die Defizite in den öffentlichen Reaktionen Israels angesichts israelischer Verbrechen an arabischen Kindern hinzuweisen: „Wir haben keine Vernichtungslager errichtet [...], aber die Mentalität, die die Vernichtungslager ermöglichte, gibt es auch bei uns." (L 100) Einer, der selbst Opfer der Geschichtsbarbarei geworden ist, bringt das über die Lippen - zur Wut derer, die den Holocaust zum identitätsbestimmenden Inhalt ihres Judentums machen. Ich als Deutscher verstehe diese Argumentationsstrategie als ein indirektes Zeugnis für einen Geist der Verzeihung, der allerdings furchtbar mißverständlich und mißbrauchbar würde, wenn er sich direkt artikulierte. Leibowitz wählt, so scheint es mir, deshalb einen Diskurs, der die allgemein menschliche Niedertracht betont und pseudo-moralische Überheblichkeiten nicht zuläßt: „Was die Nazis auch immer gemacht haben, sie waren Menschen, und auch die Juden sind Menschen." (L 101) In diesem Zusammenhang ist Leibowitz' Stellungnahme zum Eichmann-Prozeß von Interesse. Eichmann hatte sich selbst zu einer ,kleinen Schraube im Getriebe' herabgestuft eine Selbststilisierung, die man keinem Verbrecher, erst recht nicht diesem, durchgehen lassen darf. Aber wenn Leibowitz, sozusagen in der A w/fewperspektive und als Opfer des 42 43
Jorge Semprun, Die große Reise, Frankfurt/M. 1994, 43. Jeshajahu Leibowitz, Gespräche über Gott und die Welt, Frankfurt/M. 1990. Alle weiteren Zitate und Verweise mit der Sigle L direkt im Text.
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Geschehens, sich eben diese Perspektive zu eigen macht, dann hat das eine ganz andere Bedeutung! Leibowitz affirmiert diese Schräubchen-Metapher, weil er es für unerträglich hält, in einem gleichsam symbolischen Schuldspruch die Ungeheuerlichkeit eines gigantischen Systems des Verbrechens jenem einzigen, dessen man zufällig habhaft wurde, aufzuhalsen (vgl. L 101). Die Strategie Ben Gurions und Adenauers, die Deutschen zu entlasten, indem man einen exemplarisch hängt - sozusagen als Sühneopfer für die Schuld der Welt und die Schuld des deutschen Volkes hätte nicht aufgehen dürfen. Aber Leibowitz betont dies nicht in der fiktiven Annahme, alle Deutschen hätten eigentlich diesen Tod Eichmanns verdient. Sondern für ihn gilt, daß die Eichmanns „das Produkt einer zweitausendjährigen Geschichte des Christentums gewesen [sind], deren gesamtes Streben auf die Vernichtung des Judentums abzielte" (L 101). Das Christentum wird so für „die gesamte Einstellung der Welt zum jüdischen Volk" verantwortlich gemacht. Damit sind de facto die konkreten individuellen und kollektiven Akteure entlastet, denn: „man kann nicht die gesamte Menschheit vor Gericht stellen, auch ein Volk kann man nicht richten." (L 101) Leibowitz zitiert den Talmud: „Frei vor dem menschlichen, schuldig vor dem göttlichen Gericht." Bezogen auf den Eichmann-Prozeß folgert Leibowitz: „Statt einen Rechtsanwalt aus Köln zu seiner Verteidigung herbeizuholen und die Anklageschrift so abzufassen, wie sie der Ankläger Gideon Hauser verlesen hat, hätte man ihm einen Staatsanwalt an die Seite stellen müssen, um die Menschheit anzuklagen, die Menschheitsgeschichte, im Namen des jüdischen Volkes. Diese armselige Kreatur Eichmann war nichts anderes als ein Produkt dieser Geschichte. [•••] Entscheidend ist, daß er den Willen der Menschheit gegenüber dem jüdischen Volk in die Tat umgesetzt hat!" (L 102) Leibowitz geht übrigens so weit, sogar für den angenommenen Fall, man hätte Hitler selbst gefaßt, aus dem gleichen Grunde die in einem Rechtsverfahren verordnete Todesstrafe abzulehnen (L 102 f.). Eine weitere ,Erklärung' von Leibowitz läßt sich einfügen in eine Betrachtungsweise nüchterner Nachsichtigkeit. Das Geschehene bleibt ein Schandfleck in der Geschichte überhaupt, insbesondere aber in der Geschichte der Deutschen. Aber selbst als untilgbarer Schandfleck fügt es sich ein in die Erinnerung der Geschichtsereignisse, die zunehmend keine aktuelle Bedeutung mehr für die jetzt lebenden Generationen besitzen. Die emotionale Dimension der Erlebnisqualität des Ereignisses, die für die Opfer und ihre Nachkommen natürlich länger lebendig bleibt, schwindet in Deutschland dahin. Leibowitz: „Das muß man verstehen." (L 104) Was bedeutet diese Sicht für die Konstellation von Erinnern-Vergessen-Verzeihen? Hier gibt Walter Benjamin, gestorben auf der Flucht vor den Nazi-Schergen, einen - freilich keineswegs eindeutigen - Fingerzeig. Benjamin hatte sich das Entsetzliche einer Wiedergutmachung im Gericht des göttlichen Zorns so lebhaft vorgestellt, daß er zu einem Gedanken Zuflucht nahm, der - im vorläufigen Stadium dieser unserer Geschichte - dem Geist der Vergebung doch noch eine Wirksamkeit einräumte, die das Endgültige der vernichtenden göttlichen Intervention abmildern könnte. In Entsprechung zu der Rede von der messianischen Spur nimmt er eine dem Gericht als Ende der Geschichte vorauslaufende Gegenwart des göttlichen Geistes an, die nur als Vergebung vorstellbar ist. Analog zu der berühmten Metapher vom Ende der Geschichte, in der ja auch von einem Sturm die Rede ist, der aus dem Paradiese weht und den Engel vor sich hertreibt, hat Benjamin auch diese ergänzende Perspektive in einem Bild mitgeteilt, das vom Wind handelt - vom Sturm der Vergebung
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nämlich, der auch jene Spuren gnädig verwischt, die in der Erinnerungsarbeit fixiert werden sollten. Der Philosoph des Eingedenkens erweist sich hier als Interpret gerade der Grenzen eines Schuld perpetuierenden und gnadenlosen, metaphysisch aufgeladenen Gedächtnisses. Dezidiert setzt er in diesem - bislang kaum wahrgenommenen - kleinen Text der Welt des Rechts, „wo die Vergeltung herrscht", die moralische Welt entgegen, in welcher dem Impuls zur Vergeltung „die Vergebung entgegentritt". „Diese aber findet, um gegen die Vergeltung zu streiten, ihre mächtige Gestaltung in der Zeit. Denn die Zeit, in welcher Ate dem Verbrecher folgt, ist nicht die einsame Windstille der Angst, sondern der vorm immer nahenden Gericht daherbrausende laute Sturm der Vergebung, gegen den sie nicht ankann. Dieser Sturm ist nicht nur die Stimme, in der der Angstschrei des Verbrechers untergeht, er ist auch die Hand, welche die Spuren seiner (Untat) vertilgt, und wenn sie die Erde darum verwüsten müßte. Wie der reinigende Orkan vor dem Gewitter dahinzieht, so braust Gottes Zorn im Sturm der Vergebung durch die Geschichte, um alles dahinzufegen, was in den Blitzen des göttlichen Wetters auf immer verzehrt werden müßtef.] Was in diesem Bilde gesagt ist, muß sich klar und deutlich in Begriffen fassen lassen: die Bedeutung der Zeit in der Ökonomie der moralischen Welt, in welcher sie nicht allein die Spuren der Untat auslöscht, sondern auch in ihrer Dauer - jenseits allen Gedenkens oder Vergessens - auf ganz geheimnisvolle Art zur Vergebung hilft, wenn auch nie zur Versöhnung."44
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Walter Benjamin, „Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt" (Fragment 71), in: Walter Benjamin, Gesammelte Werke Bd. VI, hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhausen Frankfurt/M. 1985 (Fragmente vermischten Inhalts = Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik), 98.
Kolloquium 15 Grenzen technischer Machbarkeit und Verfügbarkeit
CHRISTOPH HUBIG
Einleitung In unserer gegenwärtigen Situation scheint es gute Gründe dafür zu geben, das Thema für hoch aktuell zu halten: Im Zuge der Entwicklung der Hochtechnologien (Biotechnologien, Informationstechnologien, Technologien zur Energiebereitstellung etc.) und der damit verbundenen Techniken sind wir mit Effekten konfrontiert, die sowohl ein herkömmliches Verständnis von Natur als einem zu beherrschenden und zu nutzenden Element unserer Umwelt als auch unser Verständnis von uns selbst als Subjekten der Technikgestaltung fraglich werden lassen. Zwar sehen manche den Fortschrittsoptimismus eines Bacon oder Condorcet - letzterer hat die Überwindung natürlicher Grenzen unserer Leiblichkeit durch die Medizintechnik sowie die vollständige Beherrschung unserer Welt auf der Basis einer alles abbildenden und operabel machenden Sprache prognostiziert - zunehmend eingelöst. Demgegenüber wird zum einen seitens einer Technikphilosophie in der Tradition des Kulturpessimismus geltend gemacht, daß die Veränderung der Position des Subjekts technischer Welterschließung und Weltgestaltung zu reflektieren sei: Es sei zunehmend in den Grenzen der Systeme befangen, die es selbst realisiert habe. Kompetenz- und Freiheitsverluste, Funktionalisierung unter Ausklammerung anderer Optionen der Sinngebung prägten sich immer weiter aus, sofern die Subjekte sich nicht der Gratifikationen der Systeme begeben wollten (hypothetische „Sachzwänge"). Zum anderen - so das inzwischen geläufige Schlagwort wird auf die „Grenzen des Wachstums" verwiesen im Blick auf die Zerstörung natürlicher, ökonomischer und sozialer Wachstums6eiA'ngwwgew, die das Wachstum derartiger Systeme, die mit der Bewältigung selbst hervorgebrachter Folgelasten befaßt, mithin einem funktional bestimmten Wachstumsdruck ausgesetzt sind, gewährleisten. Die Überlegungen richten sich hierbei zum einen auf die Frage, inwiefern die Möglichkeit natürlicher und kultürlichtechnischer Wachstumsprozeiie als limitiert zu erachten ist, als Verlust von Potentialen einer Natur als Ressource (Rohstoffe, Biodiversität etc.) oder kreativer Potentiale der Welterschließung und Weltgestaltung eines Menschen, dessen Innovationskraft sich lediglich noch auf seine Selbstoptimierung und die Effizienzerhöhung der von ihm selbst funktional modellierten Prozesse seiner Systeme beschränke. Ferner verweist man auf Grenzen, die für
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die Produkte des Wachstums, die Folgen, die gezeitigt werden, gegeben seien, etwa das Ausgefülltsein seiner Schadstoffsenke mit Schadstoffen, so daß die gesamte kollabierte Senke zum Schadstoff wird, oder die Amortisationslasten einmal gezeitigter Innovationen, die nun eine Gestaltung von Märkten erforderten, wodurch die Märkte ihren Marktcharakter verlören und die ursprüngliche Bedürfnisartikulation in ihrer Steuerungsfunktion obsolet würde. Hierzu gegenläufige Einschätzungen technikoptimistischer Natur hingegen heben unverdrossen nicht so sehr auf die Techniken, die Folgen ihres Einsatzes, die Amortisationslasten, die Ressourcenerschöpfung etc. ab - Stichwort „Fortschrittsfalle" - , sondern verweisen auf ein exponentielles Wachstum der Technologien, die immer neue Weltausschnitte erschließen und keinerlei Gleichgewichtszustände oder gar ein Absterben erkennen ließen, hin zu einer fortlaufenden Freisetzung der Subjekte, die sich immer weiter vom alten Nullsummenspiel der Problemlösung und Problemerzeugung entfernten und ihre überschüssigen Potentiale in den Dienst einer nie geahnten Souveränität und Emanzipation von räumlichen und zeitlichen Restriktionen stellen könnten. Denn wenngleich die Folgen technischen Tuns Barrieren erkennen ließen, so bürgen doch die verwissenschaftlichen Technologien ein evolutionäres Potential, unter dem alte Grenzen der Voraussetzungen technischen Tuns ständig überschritten würden, indem natürliches Wachstum mit seiner begrenzten Regeneration technisch reproduzierbar oder und substituierbar würde. Gerade die Technologien integrierten Technik und ihre Folgen in eine Gesamtevolution, deren Grenzen nicht ersichtlich seien. Alle diese gegenläufigen und unterschiedlich fokussierten Einschätzungen reflektieren nicht den Standpunkt, von dem aus sie vorgenommen werden. Sie erreichen nicht unser Kongreßthema. Ein Blick auf die Problemgeschichte zeigt, daß sich dort zwar derartige Reflexionen zuhauf finden: Verständlicherweise hatte man, periodisch wiederkehrend, die Folgen des Technikeinsatzes bedacht im Blick auf die Zerstörung der Bedingungen (natürlicher, ökonomischer, sozialer Bedingungen) gelingenden Lebens. Von Piatos Schriftkritik bis zu Georg Agricolas Verweis auf die Zerstörung von Umweltbedingungen zielten die Überlegungen auf den Erhalt von Potentialen und Kompetenzen, die irreversibel verloren gehen können. Der Diskussionshorizont war aber wesentlich weiter aufgespannt: In der Melencholia-Diskussion der wissenschaftlichen, technisch-künstlerischen Genies der Renaissance zum Beispiel wurde die technikinduzierte Grenze als Horizontbeschränkung bedacht, die den beanspruchten Naturbezug unterbindet und uns in die Beschränktheit unserer technomorph konzipierten Rationalität stellt, die nicht eine bloß bislang nicht bezwungene Barriere ist. Und in den immer wiederkehrenden Kontroversen um Grenzen, in denen das menschliche Opus des Alter deus, das Opus der Natur oder gar das göttliche Opus ständen, wurden Argumentationslinien entwickelt, die heute erst noch einmal zu reflektieren sind: Inwieweit sind solche Grenzen ihrerseits modelliert im Horizont einer nichtthematisierten, aber weit virulenteren Grenze, die sich daraus ergibt, daß wir die Mittel-Zweck-Rationalität unseres (technischen) Tuns als Inbegriff der Kriterien verstehen, unter denen alles, was ist, als solchermaßen binnenstrukturiert in seiner Totalität erfaßbar und somit auch begrenzt erscheint. Kants „Technik der Natur" - einer Natur Als-ob-Natur - wird von Jean Paul als Vorstellung einer Natur als „eingekerkerter Kerker" bespöttelt: Eines Kerkers, der seine Elemente in seinen Funktionszusammenhängen gefangen hält und seinerseits in seinen Grenzen dadurch
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bestimmt ist, daß alles, was sich seinem Funktionalitätsprinzip nicht fugt, für ihn das Andere bzw. Nicht-Weltliche ist. Eine solche Weltsicht, wie sie sich auch in den anthropologischen Versuchen einer Verortung des Technischen wiederfindet, erklärt das Prozessierende als Technisches selbst funktional in Hochprojektion der Funktionalität technischer Mittel im Kontext technischen Handelns. Das Wissensmögliche wird nach Maßgabe der Prinzipien technischer Machbarkeit modelliert; diese hängen ihrerseits ab von dem, was als wissbar gilt und entsprechende Planungsprozesse ermöglicht, so daß wir nach den Grenzen der Technik in einer Welt fragen, die ihrerseits nach Maßgabe technischer Rationalität modelliert ist. Wir suchen mithin heute nach den Grenzen technischer Machbarkeit und Verfügbarkeit in einer Welt, die insofern selbst als technisch erscheint, weil sie nach Maßgabe technischer Kategorien (Ressourcen, Ökonomieprinzip, Verbrauch / Energieerhaltung etc.) begriffen ist. Inwiefern eine technomorphe Weltsicht und darin eingeschlossen eine technomorphe Sicht auf die Technik eine dramatische Grenze technischer Machbarkeit und Verfügbarkeit vorstellt, aus der heraus die eingangs zitierten Sichtweisen nur abgeleitete Facetten darstellen, bedürfte einer umfassenderen Reflexion, die nachfolgend nur exemplarisch und fokussiert auf Einzelaspekte unternommen werden kann. Für unsere heutige Diskussion wären zunächst einige Differenzierungen, die unser weiteres Fragen leiten könnten, vorzuschlagen: Erstens erscheint es sinnvoll zu unterscheiden zwischen Machbarkeit und Verfügbarkeit als Dispositionsprädikaten im Kontext einer Frage nach Grenzen des Möglichen und dem Machen und Verfügen im Kontext einer Frage nach Grenzen der Verwirklichung. Dieser Differenzierung dürfte diejenige zwischen einer Frage nach Grenzen von Technologien im Unterschied zu deijenigen nach Grenzen von Techniken bzw. ihrem Einsatz als technischem Handeln einhergehen. Zweitens wäre zu unterscheiden zwischen einer deskriptiv-analytischen Frage nach Grenzen (etwa im Sinne Wittgensteins „Grenzgang von innen") und einer normativen Frage, die sich auf Barrieren oder Schranken richtet: Um mit Hegel zu sprechen erscheint eine Grenze als Schranke (oder Barriere) unter dem Sollensanspruch ihrer Aufhebung (oder Respektierung). Solcherlei betrifft sowohl die Machbarkeit als auch das Machen selbst. Es ist viel davon die Rede, inwieweit ein Machen, Tun oder Verfügen erlaubt, geboten oder verboten sei. Wie steht es aber mit der Eröffnung von Machbarkeit oder „Tunbarkeit" angesichts der Wertambivalenz - nicht Wertfreiheit - vieler Technologien? Analog zur Doppeldeutigkeit von „Akzeptabilität" als „Akzeptanzfähigkeit" oder „gerechtfertigte / bzw. rechtfertigbare Akzeptanz" stellt sich so die Frage nach der Machbarkeit als Befähigung zum Machen oder als Rechtfertigbarkeit des Machens und seinen Schranken. Hinter analytischen Überlegungen zu ökologischen, ökonomischen oder gar naturgesetzlichen „Grenzen" des Machens verbergen sich in naturalistischer Verkürzung oftmals unthematisierte unnd unreflektierte normative Suppositionen über Schranken, anzuerkennende begrenzende Instanzen, denen sich zu widersetzen dem Verdikt technischer Rationalität unterliegt. Im Tabu (vergl. Ludwig Sieps Beitrag in diesem Band) findet sich - semantisch verschränkt - sowohl die Beschränkung des Machens und Verfügen als auch der Machbarkeit sowie einer möglichen Vorstellung von dieser. Diese Unterscheidungen können zu diffenrenzierten Beurteilungen von Technologien und Techniken führen, jenachdem, ob Grenzen (analytisch) oder Schranken (normativ) kreuzklassifikatorisch zu Machbarkeit oder Machen untersucht werden.
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Drittens wäre die wohl gängige Vorstellung zu hinterfragen, daß ein Nachdenken über Verfügbarkeit demjenigen über Machbarkeit nachgeordnet sei. Mit Martin Heidegger wäre zu bedenken, daß uns das Technische als Zuhandenes begegnet, geprägt durch sein problemloses Worumwillen in den Grenzen der jeweiligen Bewandtnisganzheit. In den Modus des als vorhanden Vorgestelltes gerät es, wenn es sich widersetzt („Aufsässigkeit", „ A u f d r i n g l i c h keit", „Auffälligkeit"). Die ehemalige Bewandtnisganzheit erscheint als Schranke, und erst kontextfrei wird „Dienlichkeit" als solche thematisierbar (in der Reflexion, exemplarisch auch in der Kunst). Ein solches Vorstellen betrifft auch und wesentlich das Subjekt, das sich hiermit ebenfalls „stellt". Technische Schranken - reale Medialität - lassen Grenzen des Wissens ersichtlich werden, dessen schematisch-fiktionale Medialität ihrerseits die Vorstellungen technischer Machbarkeit als historisches Apriori beschränkt, aber nicht begrenzt, wie es theorieloses, aber technisch erfolgreiches Handeln auf vielen Feldern vorfuhrt. Viertens ist näherhin auf den Charakter von „Machbarkeit" und „Verfügbarkeit" als Dispositionsprädikaten zu verweisen. Dispositionsprädikate referieren auf Strukturbedingungen und geforderte Antezedenzbedingungen für das Manifestwerden der entsprechenden Eigenschaften (bei „wasserlöslich" die Verfaßtheit eines Kristallgitters sowie des Lösungsmediums, bei „Mobilität" des Apparats / Fahrzeugs sowie des Zustands der Verkehrswege). Strukturen begrenzen und beschränken in anderer Weise als Antezedenzbedingungen, was ihre Kontingenz, Veränderbarkeit, Verfügbarkeit etc. betrifft. Die Vorstellung, daß (jeweilige) Machbarkeit und Verfügbarkeit als höherstufige Disposition auf elementaren Dispositionen basieren, daß „Machbarkeit" eher auf Strukturbedingungen (naturgesetzliche Zusammenhänge, Ressourcenlage, subjektive Fähigkeiten etc.) und „Verfügbarkeit" eher auf Antezedenzbedingungen (kontingente Ausgangsbedingungen) verweise, daß ferner „Veränderbarkeit", „Risiko", gar „Fortschritt" und „Entwicklung" auf diesen wiederum aufruhten, ergäbe ein allzu schönes Bild einer Hierarchie von Dispositionen bzw. Dispositionsprädikaten. Daß aber die Dialektik von Möglichkeit und Wirklichkeit (und nur eine solche verdient diesen Titel) hier als diejenige von Machbarkeit (Möglichkeit des Tuns / des Tunsollens) und Verfügbarkeit (des wirklich Zugänglichseins / Zugänglichseinsollens) uns in epistemischer und praktischer Absicht zwischen den Ebenen hin- und herzugehen zwingt, wir aus dem Einen lernen, was dem Anderen fehlt, ist die eigentliche Grenze, die uns jene Prozesse in kontingenter Weise vorgeben. Die Alltagsweisheit „das Unmögliche zu versuchen, um das Mögliche zu realisieren" drückt aus, daß der normative Umgang mit Schranken die Vorstellungen von Grenzen im Fluß hält. Wenn Francis Bacon in seiner Nova Atlantis erwägt, die Erforschung von Machbarkeiten zu trennen von der Eröffnung oder Verschließung der Verfügbarkeit, so ist zu fragen, ob damit der Forschungsprozess letzlich nicht seiner Ermöglichungsbedingungen beraubt wird. In eins damit nämlich eine normative Regulierung der Verfügbarkeiten von der Rechtfertigung von Forschungsprozessen zu entlasten, würde zwar das Forschen insofern begünstigen, als sein Selbverständnis von einer gewissen Reflexionsabstinenz lebt (C. F. von Weizäcker), ihm andererseits aber die Verortung in einer Gesellschaft entziehen, die gezwungen ist, ständig mit ihren Grenzen und Schranken umzugehen. Denn ein Verweis auf unbegrenzte Möglichkeiten ist nur ein schwacher Trost für denjenigen, der sich mit beschränkten Wirklichkeiten auseinandersetzen muß.
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CHRISTOPH HUBIG
Der „Hochmut der Demut" (Hegel), die Selbstbescheidung, verwechselt Schranken mit Grenzen. Normativ gesetzte Schranken hingegen lassen die Option künftiger Grenzüberschreitung offen, einschließlich der Option einer Rechtfertigbarkeit, die im Horizont unseres gegenwärtigen Selbstverständnisses nicht denkbar erscheint. Das war wohl ein Motiv der Melencholia an der Schwelle zur jetzt gerade noch wirklichen Moderne, deren „Post-" kein Projekt, sondern allenfalls die pathetische Überhöhung einer großen Hilflosigkeitsattitüde ist. Aber ein „Projekt" ist eben nur technisch zu denken. Und so werden die „Grenzen technischer Machbarkeit und Verfügbarkeit" wohl weiter technisch zu denken sein - das ist die Grenze.
GERHARD GAMM
Technisierung ohne Grenzen - Medium, Risiko, Inhumanität
Ihr wißt ja, daß die Technik keine Erfindung des Menschen ist. Eher umgekehrt. J.-F. Lyotard
Unter den verschiedenen soziologischen und philosophischen Technikbegriffen scheint derjenige von Technik als Medium eine Reihe von Vorzügen aufzuweisen; nicht zuletzt den, unter den Bedingungen der modernen Welt ein realistisches Urteil über die Grenzen technischer Verfügbarkeit vorbereiten zu können. Den vielleicht wichtigsten Vorzug könnte man darin sehen, daß uns dieser Begriff den epistemisch angemessenen Ort zuweist, von dem aus die Philosophie heute über Technik und Technisierungsprozesse sprechen und nachdenken kann: dem der Internität dieses Begriffs und/oder auch eines Wissens, das so auffällig mit dem Nichtwissen kommuniziert. Die Medialität der Technik läßt sich in ihrer eigentümlichen Prägnanz wohl am ehesten dadurch erläutern, daß man sie vom instrumentalistischen (oder organologischen) Herstellungsparadigma der klassischen Handlungstheorie absetzt. Im Medienbegriff liegt, könnte man überspitzt formulieren, ein radikaler Bruch mit der Matrix der klassischen Handlungstheorie, in der ein Subjekt sich willentlich-wissentlich Zwecke setzt, geeignete Mittel auswählt, die gegebenen Umstände in Rechnung zu stellen sucht und sich an einer gegebenen Raum-Zeitstelle zur Durchfuhrung eines Handlungsplans entscheidet. Diese Handlungstheorie ist metaphysisch, sie verrechnet die genannten Instanzen (Subjekt, Ziel, Mittel, Situation, Verlaufsform) als isolierte eidoi und vertraut ihre Regulierung, ihre wohlgestaltete Ökonomie einem souveränen Subjekt, dem Handelnden bzw. Herstellenden an. Technik als Medium zu bestimmen, heißt mit diesem metaphysischen Deutungsmuster zu brechen. Nicht mehr Mittel, sondern Medium steht die Technik nicht mehr vor dem (souveränen) Subjekt, ihr Sinn und ihre Bestimmtheit sind nicht mehr allein auf dessen Verfugungsinteressen zurückbezogen. Die Struktur kehrt sich gleichsam um: das Subjekt rückt in ein Zwischen, in dem sich die einzelnen Momente seines Handlungs-/Herstellungsfeldes (sowohl hinsichtlich ihres Daß-Seins wie ihres Was-Gehaltes [Quodditas und Quidditas]) allererst formieren. Um Technik als Medium näher zu bestimmen, sollen - anhand von vier Stichworten - die Formaspekte moderner Technologien expliziert werden: Internität, Temporalität, Entzogenheit und Negativität.
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I. Technik als Medium Die Internität oder das Mittendrinsein (unserer technischen Selbst- und Weltbezüge) wirft sogleich die mehrdeutige Frage auf, welchen Ausgang ein Begriff, der Technik als Medium versteht, nehmen soll. Zunächst erscheint eine Antwort nicht mehr up to date, die sich von Ernst Cassirers neukantianischer Maxime leiten läßt und den Ausgang von einem der Technik immanenten Prinzip oder Wesensgesetz her postuliert1. Gleichwohl läßt sich nicht davon absehen, daß bestimmte systemisch oder rhizomatisch inspirierte Begriffe die modernen Interferenzverhältnisse von Natur und Technik, Gesellschaft und Technik, Mensch und Maschine prägnanter zu erläutern wissen als die klassischen Versionen, die ihren Anfang entweder beim Menschen - in einer Anthropologie der Technik - oder bei der Gesellschaft in den Formen einer geschichtsphilosophisch grundierten Kulturkritik nehmen. Die Durchdringung aller Lebensbereiche mit Technologie hat eine Stufe erreicht, die einen transversalen Begriff verlangt, der nicht nur für die Ubiquität der technischen Selbstvermittlung moderner Gesellschaften offen ist und es versteht, die unterschiedlichen Modi der Vermittlung und Vermischung, der Hybridisierung und Implementierung, der Synthesen und Anschlüsse, der engen und losen Kopplungen, der Quasi-Objekte usf. in sich abzubilden; er sollte darüber hinaus auch ein ze/iempfindliches Organ für die Universalisierungseffekte haben, die mit den neuen Technologien einhergehen. Charakteristisch für das Medium ist seine Konvertibilität, ein Zustand, in dem Verschiedenes (Orte, Gegenstände usf.) miteinander in Beziehung gesetzt und getauscht werden kann. Es ist der unstoffliche Stoff, worin alles andere abgebildet und strukturiert, öffentlich gemacht und wieder in den Kreislauf von Zwecken und Mitteln eingespeist werden kann, ohne selbst an Substanz zu verlieren. Technik ist wie Sprache oder Geld eine Art Zirkular der modernen Gesellschaft. Die Vorstellung von einem Medium hat, genau betrachtet, zwei Grundbedeutungen; diese lassen sich nicht vollständig ineinander überfuhren. Medium ist nicht nur - abstrakt gesprochen - globales Mittel zum Austausch gesellschaftlich verabredeter Zeichen, nicht nur Transformationsraum von Informationen und Macht, Wissen und Energie; Medium ist auch das, was dazwischen ist, dazwischen tritt, die Mitte oder das Vermittelnde. Es verweist auf Mitten und Räume, die sich zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur, Mensch und Kultur, den Menschen und sich selbst geschoben haben. Das Medium dämpft, es moderiert; es hält in einer raumzeitlichen Distanzierung - mit Hegel zu reden - „vom Menschen sein materielles Vernichten ab"; es bricht der Unmittelbarkeit der Erfahrung die Spitze, die uns aus der direkten Konfrontation mit der inneren und äußeren Natur erwächst. Technik ist Medium oder die unsichtbare Mitte, über die in postindustriellen Gesellschaften die soziale Kommunikation, der Nachrichtenfluß und der Austausch von Erfahrung ebenso läuft wie die Versorgung mit Elektrizität und Wasser, Nahrung und Gesundheit. Man kann das vielleicht überzeugendste Argument für die mediale Natur der Technik darin sehen, daß uns im alltäglichen Umgang mit den Gegenständen deren technische Wirklichkeit nicht zu Bewußtsein kommt, wir in dieser Abstraktion aber leben wie die Fische im Wasser. 1
Vgl. E. Cassirer, „Form und Technik" (1930), in: ders., Symbol, Technik, Sprache, hg. von E. W. Orth u. J. M. Krois, Hamburg 1995, 48.
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Anders gesagt, charakteristisch für das Medium ist seine Entzogenheit. Technik als Medium ermöglicht und überdeterminiert zwar Subjektivierungsprozesse, sie entziehen sich aber darin zugleich dem Zugriff der in ihnen sich bildenden Subjektinstanzen: ob Personen, Kollektive oder Organisationen - das Medium bleibt stets im Rücken der Handlungsprozesse. Das Medium ist Mitte, weil es in dieser Funktion die Selbstvermittlung der Gesellschaft übernimmt oder die Netze, Bahnen und Bindungen beschreibt, die die Gesellschaft zusammenhalten. Vielleicht wäre es noch besser, die Mitte als Mischung zu fassen, weil sie Totes und Lebendiges, Geistiges und Materielles, Probleme und Programme, Handlungsgemäßes und Automatenhaftes füreinander durchlässig macht. In Systemen von zirkulärer Kausalität und Rückkopplungsschleifen ist die Mitte das Vermittelnde auf Zeit, die stationäre Verdichtung von Energien, Interessen und Ideen, nur auf Zeit, nach Zwecken und Mitteln geschieden. In der Sprache der Biologie bzw. der Chemie würde man sagen, Technik als Medium wirke autokatalytisch, sie sei der Stoff, der gesellschaftliche und kulturelle Veränderungsprozesse auslöst und/oder beschleunigt ablaufen läßt und sich in diesem Prozeß selbst stetig regeneriert.2 Wie angedeutet, bleibt der Technikbegriff der klassischen Handlungstheorie in einem doppelten Sinn metaphysisch befangen: sowohl im Ausgang von der Präsupposition eines durch Ziel, Mittel und Verlaufsform vorbestimmten Feldes als auch hinsichtlich eines Subjekts, das in seiner Souveränität glaubt, über das Feld verfügen/herrschen zu können. Das trifft auf die moderne Technologie in ihrer Systemstruktur immer weniger oder nicht mehr zu. Auch vereitelt das Mittendrinsein des Subjekts die Annahme seiner Zentralstellung. „Mitte ist", wie Nietzsche sagt, „überall".3 Mit dem Medialitätscharakter der Technik wird die Subjektivität anders verortet: Sie wird gleichsam erst aus den je bestimmten Relationen und Konstellationen heraus als zeitweilige Subjektposition geschaffen. Es ist diese Perspektive, die auch den Logos-Charakter der modernen Technologien erschließt. Er besteht darin, daß sich in ihnen nicht allein die instrumentellen Handlungs- und Verfügungsoptionen der menschlichen Gattung hinsichtlich ihrer Reichweite und Eingriffstiefe vergrößern, sondern daß sich darüber hinaus das hermeneutische (Vor-)verständnis dessen, was es heißt, ein (Handlungs)-Subjekt zu sein (als solches sein Leben führen zu müssen, eine Welt zu haben), neu artikuliert.4 Die artikulatorische Logik des Medialen erstreckt sich auf die symbolische Ordnung - auf die Syntax und Semantik unserer Selbstverständigung wie auf unsere Phantasie; sie findet darin ebenso wohl ihren Gegenhalt wie den Impuls zur Überschreitung ihrer Grenzen. Das Medium ist seiner Funktion nach intelligent, es repräsentiert menschliches Können, insofern sich intersubjektive Beziehungen in ihm objektiviert und materialisiert haben: „geronnener Geist", wie Max Weber geschrieben hat. Technik in diesem Sinn zielt weniger auf 2
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Zum Begriff der Technik als Medium: Vgl. G. Gamm, Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt/M. 2000. Kap. IV. „Technik". F. Nietzsche, „Also sprach Zarathustra", in: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 4, hg. von G. Colli und M. Montinari. München 1980, 273. Vor allem Bruno Latour hat diese artikulatorische Logik des Medialen wie nur wenige Theoretiker der Moderne zu formulieren versucht. Vgl. dazu: M. Lilienthal, „Wissenschaftsforschung als Modernitätskritik. Zu B. Latours ,Die Hoffnung der Pandora'", in: Dialektik, Hamburg 2001/2, 147.
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die Welt dinglicher und sachlicher Mittel; sie ist - wie sich am Sprachwandel ablesen läßt Technologie, weil sie die Seite des Wissens, den Logos und die soziale und kulturelle Organisation des Lebens in sich einbegriffen hat. Bleibt neben Internität, Temporalität und Entzogenheit ein weiteres Moment des Medienbegriffs zu benennen: die Negativität.5 Sie zeigt sich, wenn man sich auf jene Definition besinnt, die ein - wenn ich mich recht erinnere - Systemtheoretiker prägte, als er vorschlug: Technik sei die Gesamtheit dessen, was schief gehen kann. Aufschlußreich an dieser Definition ist ihr hermeneutisch-methodischer Gestus, Technik in der Weise einer Selbstunterscheidung einzuführen und sie am Kriterium ihres immanent stets möglichen Scheiterns zu bestimmen. Was als Scheitern zu bewerten ist - und darauf kommt es an - liegt dabei nicht von vornherein und ein für alle mal (hinterlegt im platonischen Ideenhimmel) fest. Auch hier zeigt sich wiederum eine Differenz zur klassischen Handlungstheorie, die mit wesenhaft garantierten Handlungssinntypen operiert. Das mögliche Scheitern bestimmt sich gleichsam erst retroaktiv im Vollzug, das heißt im experimentellen Austesten technisch artikulierter Handlungssinne und Herstellungsökonomien. Moderne Technologie steht unter der Bedingung ihrer Performativität. Sie findet die Bedingungen ihrer Objektivität und Validität nicht einfach vor, sie formuliert sie erst im Vollzug, sie erzeugt sie unter Bedingungen, unter denen sie gelingt oder scheitert. Damit erläutert sie eine weitere Facette ihrer Internität: den gleichsam radikalen Nominalismus ihrer Bezüge. Internität in diesem Sinn bedeutet, daß sie in der Medialität ihres abstrakten Könnens, wie Gehlen bereits sah, erst ,hinterher' auf ihren Sinn und ihre möglichen Zwecke befragt werden kann. Ob Klonierungstechniken z. B. nach dem Dolly-Verfahren auch im Blick auf andere Gattungen gelingen, kann nicht vorentschieden werden, nicht bevor sie in die Tat, in Experiment und Folgenanalyse umgesetzt wurden, man weiß nicht, welche (humanen oder inhumanen) Chancen darin liegen, welche neuen Zwecke sich ergeben, welcher Gebrauch in anderen technischen und außertechnischen Zusammenhängen von ihnen gemacht wird: Reproduktionsmedizin und Gentechnik, Bio-Nanotechnologie, Molekularbiologie und Informationstechnologie. Sieht man also in der Medialität einen Grundzug der Technik überhaupt, dann wird fraglich, was die Rede von der „technischen Zivilisation" noch bedeuten könnte. Selbst wenn der Technisierungsgrad hochmoderner Gesellschaften sich im Vergleich zu den letzten Jahrhunderten quantitativ wie qualitativ um einige Potenzen gesteigert hat und im Großen wie im Kleinen durch alle Lebensprozesse unserer Existenz hindurchläuft, ist unser State of life doch nicht der einer technologischen Kultur. Stets bleibt das Technische als das Medium unseres Selbst- und Weltbezugs auf Außer- oder Nichttechnisches bezogen.6 Es ist ein nicht geringer Vorzug des Medienbegriffs, die Kommunikation mit dem Außertechnischen genauer analysieren zu können - nicht nur den Grad der Durchdringung und die Formen derselben, sondern - in Einheit und Differenz - auch jene Beziehungen, die der Technisierungsprozeß mit den rechtlichen Normen, den gesellschaftlichen Standards der Sicherheit und Gesundheit, den Auflagen des Umweltschutzes usf. unterhält. Wie die ökonomischen An ihr hängt wohl auch das ,auf Zeit* und die partikular-perspektivisch gebrochene Universalität der Technik als Medium. 6
Gerade weil Geld oder Sprache, Recht oder Liebe Zirkulare des gesellschaftlichen Lebens sind, verfallt niemand auf die Idee, von einer monetären oder linguistischen oder libidinösen Gesellschaft zu sprechen.
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Zwänge spielen sie bei der Genese, der Implementierung und den Folgen der Technik eine nicht zu unterschätzende Rolle.7 Als Dispositiv des gesellschaftlichen Lebens ist die Technik die Bedingung der Möglichkeit, wie Lösungen angebahnt, Probleme entschieden, Programme entwickelt, Affekte beherrscht und Mittel auf Zwecke bezogen werden sollen. In Erscheinung tritt sie freilich vor allem in Form einzelner Technologien, die, als Schauplatz gesellschaftlicher Konflikte und politischer Kämpfe, in den Raum öffentlicher Aufmerksamkeit drängen. Als Medium ist das Technische nur indirekt an seinen raumzeitlichen Verdichtungen: in seinen sachlichen Installationen und gesellschaftlich-geschichtlichen Konstellationen zu erfahren. Dieser Doppelaspekt ermöglicht es, dem Eigengewicht oder den domainspezifischen Bedingungen unterschiedlicher Technologien gebührend Rechnung zu tragen. Dieser Richtungssinn auf die einzelne Technologie zeigt auch, daß die Kritik, die in der Moderne gegenüber der Technik immer wieder laut wird, sich weniger gegen die Technik richtet als gegen bestimmte Technologien, deren Gefährdungspotential nicht abgeschätzt, deren Nutzen fraglich bzw. der Humanisierung des Menschen abträglich zu werden verspricht. Vor dem Hintergrund der genannten Strukturmomente - Internität, Temporalität, Negativität und Entzogenheit - bilden .Nichtwissen' und „Risiko" die zentralen Kategorien, unter denen die Moderne die Grenz-Dialektik der Medialität zum diskursiven Austrag bringt. Sie bezeichnen sehr genau den eigentümlichen Grenzcharakter der technischen Medialität.
II. Nichtwissen Den Schematisierungsfehler einmal in Rechnung gestellt, kann man vielleicht sagen, daß im Unterschied zu einer durch die ontologische Metaphysik gerahmten Wissenschaft, die, in der Erforschung des Seienden, den Raum favorisiert, ihm bis weit in die Neuzeit eine Vorrangstellung einräumt - das Objekt steht dem Subjekt entgegen, das dessen Struktur nach Art eines unwandelbaren Reichs der Gesetze zu erfassen sucht - , für den Wissensbezug in einer metaphysikkritisch eingestellten Welt die Zeit wesentlich ist oder näher noch: der Bezug auf die Zukunft in Form von Projekten und Programmen, Problemen und Prospekten. Nicht nur müssen Wissenschaft und Forschung (big science) von langer Hand gesteuert und geplant werden; das, was sein wird: die unabsehbaren Folgen, die mit Wissenschaft und Technik verbundenen Risiken und Chancen, die ökonomischen oder medizinischen Versprechungen, die ökologischen Gefährdungen usf., ja, selbst der mögliche „Dammbruch", der die humane Gesamtorientierung der Kultur Alteuropas ins Rutschen bringen könnte, nehmen einen erheblichen Einfluß auf die je gegenwärtige Entscheidung, welches Wissen generiert werden soll. Die Aussichten darüber, welche Gestalt die Welt nach dieser oder jener Wissensgenerierung annehmen wird, wie sie nach der Implementierung dieser oder jener Technologie aussehen könnte, geht entscheidend in Projektplan und Realisierung ein. Durch das Virtuelle einer möglichen Zukunft blicken wir auf die Gegenwart. Die zu künftigen Gegenwarten projizierten Modelle konstituieren das, was wir in und an der Gegenwart sehen. Das Wissen
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Auch ökonomische Zwänge sind außertechnischer Natur, davon zeugt nicht zuletzt der quasi institutionalisierte Dauerkonflikt zwischen den technischen und kaufmännischen Leitern großer Unternehmen.
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sucht sich in einer evolutionären Zukunft zu verankern bzw. in den Antizipationen, die es von sich selbst entwirft. Daß es dabei stets im Begriff steht, die Gegenwart zu entwerten, ist nur eine bedenkliche Seite dieser kulturellen Gesamtorientierung; die andere nimmt, wie sich heute in den wissenschaftlich-öffentlichen Debatten zeigt, die Gestalt einer phantasmagorischen Performativität (des Wissens) an.8 Aber nicht nur das, das prospektive Setzen, die Inszenierung möglicher alternativer Zukunftsverläufe wird zur Voraussetzung für die Entscheidung einer auf diese oder jene Weise sich fortschreibenden Gegenwart. In dieser Performativität des Wissens - des Setzens der eigenen Voraussetzung; was Folge sein könnte, wird Ursache der Entscheidung - löst sich gleichsam der Wissensvollzug von der gegenständlichen Welt ab. Sie stellt das Wissen immer nachdrücklicher unter die Frage: wie das Wissen selbst weiteres Wissen generieren und zur Verfugung stellen kann. Die Frage nach der Performativität des Wissens wird der seiner Objektivität mindestens ebenbürtig. Dabei handelt es sich um ein Wissen in gegenständlich geronnener Form, das, wie alle am Markt gehandelten Produkte, die gebrauchsund handelsüblichen Prädikate oder Propositionen aufweisen muß. Anders gesagt, diese Aufstufungsdynamik des Wissens ist eine technische in dem Sinne, als es in erster Linie als Mittel fungiert, als Verfugungswissen, das auf die Beherrschung der Natur und die verbesserte Organisation des gesellschaftlichen Lebens abzielt. Dem Zeitbezug und der Performativität des Wissens ist sein Reflexivwerden als weitere zunächst ganz unspekulative - Bestimmung eingeschrieben. Alles Wissen muß sich auf sich selbst richten; geradezu zwanghaft steht es unter der selbstgesetzten Auflage, sich seiner selbst in Gestalt eines „wissenden Könnens" zu vergewissern, zum Beispiel indem es auf seine Voraussetzungen, das heißt auf die abgedunkelten, aber perspektivenstrukturierenden Unterscheidungen zurückkommt.9 Daß Technik Medium ist, stellt seine nicht mehr gegenständliche, durch bestimmte Zwecke gebundene Entität heraus; sie realisiert in ihrem Reflexivwerden ein, wie Gehlen bereits gesehen hat, „abstraktes Können", welches wiederum keine Bestimmung einer dem Wissen nachgeordneten Technik ist, sondern der Sache nach auf die Einheit von Wissenschaft und Technik verweist. Spätestens mit dem, wie es zunächst hieß, technischen Denkzeug des Computers als Träger eines allgemeinen und universellen Könnens, scheint das Werkzeugverständnis der Technik überschritten zu sein. Vielleicht ist es an dieser Stelle angebracht, den Begriff der Reflexivität weiter zu differenzieren. Er bezieht sich heute ja zunächst auf den modernen Prozeß der Enttraditionalisierung, und das heißt in unserem Fall eben auch, auf die Erschütterung konventioneller, durch vorpropositional eingeübte Routinen und Praktiken stabilisierte technische Herstellungsver8
Beide Zentraltendenzen des Wissens spiegeln sich exemplarisch in den Diskussionen zwischen Wissenschaftlern, Philosophen, Schriftstellern u. a., die durch Ray Kurzweil und Bill Joy: „Warum die Zukunft uns nicht braucht" ihren Ausgang nahm. Mittlerweile dokumentiert in: Die Darwin AG, Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und Computer die neuen Menschen erträumen, hg. von F. Schirrmacher, Köln 2001.
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Das Wissen gewinnt dadurch die Einsicht, daß es sich aufgrund der Dialektik von thematisch und operativ mitgeführter Darstellung verfehlen muß: In der Darstellung von etwas kann nicht zugleich auch die Form der Darstellung dargestellt werden, die Performativität der Aussage zeigt sich nur an ihr, nicht in ihr, nicht in dem von ihr artikulierten Inhalt.
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fahren. Reflexivierung wird zweitens auch zunehmend im Sinne der Hegeischen Logik der Reflexion verstanden: als ein Bestimmungsverhältnis, in dem sich die Momente einer Struktur, die Begriffe eines hermeneutischen Feldes, die Praktiken, die Wissensformen einer Gesellschaft gleichsam ohne vorgegebenes Substrat, einzig lateral durch- und aneinander bestimmen.10 Darüber hinaus ist Technik als Medium drittens reflexiv, als sie rückbezüglich auch das Sein und Bestimmtsein der sich in ihr artikulierenden Subjekte mitsetzt und überdeterminiert. Sie ist ihnen als (inhumaner) Kern inhärent, als Fremdes dem verstehenden Zugriff immer auch entzogenes Sein: als blinder Fleck ihrer imaginären Wünsche und symbolischen Selbstdeutungsmuster. Im Kontext der genannten Bestimmungen ist heute jene Relation von eminenter Bedeutung, die das Wissen mit dem Nichtwissen einzugehen gezwungen ist. Wissen und Nichtwissen sind in wechselseitiger Steigerung begriffen. Was bei Popper in seinen Eingangsthesen zum Positivismusstreit noch in die eher beschwichtigende Formel gekleidet war, daß der Fortschritt des Wissens „uns immer von Neuem die Augen für unsere Unwissenheit öffnet", hat, angesichts der neuen Biotechnologien zum Beispiel, eine fast bedrohliche Gestalt angenommen. Mit der Vermehrung wissenschaftlichen Wissens hat zugleich das Nichtwissen, insbesondere das der Folgen des wissenschaftlich-technischen Eingriffs in Natur und Gesellschaft, dramatisch zugenommen. Nicht nur, daß mit jeder Erkenntnis neue Horizonte des Nichtwissens heraufgezogen werden - dies verändert die Logik evolutionären Wissensfortschritts nur wenig - die Steigerung des Nichtwissens läßt sich vor allem an den unvorhergesehenen oder unerwarteten Effekten ablesen, die der Einsatz eines stets ausschnitt- und lükkenhaften wissenschaftlichen Wissens in den ungleich komplexeren Verhältnissen der realen Welt nach sich zieht. Verläßt das direkt oder indirekt über technische Artefakte vermittelte Wissen die engen, kontrollierbaren Grenzen des Labors, wird es in die offenen, durch Rückkopplungen oder zirkuläre Kausalitäten formierten Wirkzusammenhänge eingerückt, auf Natur wie Gesellschaft angewendet, entstehen jene unendlichen Räume des Nichtwissens, die dem Wissen nicht vorausliegen, sondern durch die wissenschaftlich-technischen Eingriffe in der Welt erst im großen Stil geschaffen werden, science-based ignorance, wie J. Ravetz es genannt hat. Nichtwissen wird damit weniger als der dunkle Kontinent angesprochen, der noch erobert werden muß, sondern als der stetig sich regenerierende Schatten jedweden Wissenszuwachses - ganz zu schweigen von den Fällen und Situationen, bei denen wir nicht genau sehen (wissen), ob wir etwas wirklich wissen oder nur zu wissen vermeinen." Kurz, je unbedingter Philosophie und Wissenschaften versuchen, etwas ganz sicher zu wissen, desto größer geraten die Unsicherheitsmargen. Nicht nur wissen wir immer weniger, was Wissen heißt; irritierend jedenfalls ist die Korrelation schon, die zeigt, je mehr die Gesellschaft diesen Rohstoff zu ihrer Reproduktion und Prospektion braucht (zur Verständigung über ihre Grundlagen und Ziele, zur Koordination ihrer Systeme und Interessen, zur ökonomischen Entwicklung und Zukunftsplanung usf.), je mehr sie ihn in ihre fraktale Dy10
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Vergleichbar dem ,Hegelianer' Luhmann, in dessen autopoietischer Logik des Sozialen sie im permanenten Rekurs auf sich selbst verweisen. Auch das ein Feld unermeßlicher Weite, vor allem unter dem Aspekt der Fragen danach, was machbar sein wird, was empirisch entschieden werden kann, z. B. in der Erkundung des Gehirns (und des Geistes) oder im Bau von Automaten mit künstlicher und sozialer Intelligenz.
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namik einbeschrieben begreift, desto kritischer wird die Gesamtmasse, desto undarstellbarer scheint sie in diesem reflexiven Medium zu werden. ,Nichtwissen' verweist nicht nur auf einen Informationsmangel - dieser kann (zur Not) behoben werden; auch nicht nur, was schwerwiegender ist, auf die Abwesenheit relevanten Wissens, ja nicht mal auf das Nichtwissen, das aus der Inkommensurabilität von Perspektiven und Paradigmen, Vokabularen und Kontexten entspringt; es bezieht sich vielmehr auf ein prinzipielles Nichtwissenkönnen, auf eine radikale Unbestimmbarkeit des Wissens, die mit der Selbstreferenz und der Performativität aller Bestimmungen des Wissens und Agierens in einer durch Kontingenz und Pluralität bestimmten Gesellschaft gesetzt ist, um einen radikalen Entzug des Wissens, das ohne solche in göttlichen oder gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Außenhalten befestigte Autorität auskommen muß.12 Anders als bei Plato und der metaphysischen Tradition wird durch das Reflexivwerden (des Grundes) des Wissens nicht das Allergewisseste, sondern Ungewißheit und Nichtwissen kommuniziert. Die Rückbezüglichkeit selbst ist ständige Quelle der Unsicherheit. Der Temporalisierungsdruck, dem die Reflexion unterworfen ist, tut ein übriges: Er verlangt in immer kürzeren Abständen, das Wissen auf seine Anfangsunterscheidungen hin zu überprüfen. Die Folge davon ist: In der Gleichzeitigkeit (Dialektik) von Unbestimmtheit als Auflösung bestehender Sicherheiten und der einschränkenden „Selbstfestlegung im Unbestimmten", wie eine Formulierung Luhmanns aus den siebziger Jahren lautet, nach Wegen suchen zu müssen, welche die Selbstgefahrdung des kognitiv-instrumentellen Wissens verringern könnten. III. Risiko Die Frage nach den Grenzen des Wissens (und des Handelnkönnens) nimmt auf der Höhe der Moderne die Gestalt von ,Risiken' an: Grenzreflexionen werden zu Risiko(ab)schätzungen (Grenzerfahrung zum Infarktrisiko). Der Aufstieg des »Risikos' zu einem vorrangigen Schema der Zeitbeobachtung reflektiert in besonderem Maße jene (krisenhafte) Dialektik des Wissens, es bildet in den Grenzen der instrumenteilen Vernunft die dem Wissen inhärente Ungewißheit und Ungesichertheit ab; es soll selbst dort (und in fast unzulässig abstrakter Form) zur Orientierung beitragen, wo sich die gesellschaftlichen Verhältnisse immer weiter aus dem Erfahrungshorizont des Einzelnen herausdrehen. Folgt man - unter dieser Prämisse - einmal Luhmanns Semantik, in der sich das Risiko auf die Folgen bezieht, die das System sich selbst zuzurechnen hat, dem es sich selbst aussetzt und von diesem auch glaubt, es mittels geeigneter Maßnahmen bändigen zu können, und sieht im Unterschied dazu Gefahren als das an, was vorgegeben, was extern verursacht von Seiten der Umwelt droht, also nicht in der Regie des beobachtenden Systems steht, wird deutlich, warum Risiko der moderne Begriff par excellence ist. Mit ihm versucht die Hoch12
Vor dem Hintergrund von Hochsäkularzivilisationen und ihrer Option für gesellschaftlichen Fortschritt in Form von Rechtssicherheit und Wohlfahrt, Lebensqualität und Gesundheit, haben wir das, was als relevantes Wissen gelten soll, in großem Umfang an Wissenschaft und Technik delegiert. Aber nicht weniger als in der Philosophie zeigt sich an ihnen die Krisis des Wissens. Vgl. dazu: G. Gamm, Nicht nichts, a. a. O., insbes. Kap. II.: „Wissen: Die Unbestimmtheit des Wissens". Ders., Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne, Frankfurt/M. 1994.
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säkularzivilisation ihren Umgang mit dem Nichtwissen, das sie selbst erzeugt, zu operationalisieren. Werden in der Vormoderne Gefahren dem Schicksal, das wir den Göttern schulden, Gott selbst oder der (blinden) Natur und ihren Katastrophen zugerechnet, so rekurriert die Moderne auf Entscheidungen, die Risiken veranlaßt haben; diese setzen Akteure und Institutionen voraus, die an deren Entstehung und Bearbeitung (kausal) beteiligt sind. Was passiert, was geschieht, ist, wie vermittelt auch immer, entscheidungsabhängig - eine Risikogesellschaft hat sich darauf eingestellt; sie erzeugt in ihrer technologischen Verfassung nicht nur das, was sie bedroht, sie prätendiert auch, unvorhersehbare Folgen in Form gestufter Kontrollen beherrschen und begrenzen zu können. Je mehr im 19. und 20. Jahrhundert die soziale Realität mit wissenschafts- und technikbasierten Artefakten durchdrungen wird, desto mehr tritt auch die Entscheidungsabhängigkeit aller Risiken hervor. Mit dem Risiko bewegen wir uns im Raum einer fast geschlossenen sozialen Realität, die sich den Ausweg über welttranszendente Erklärungen und Entlastungen versperrt hat.13 Kurz, Grenzen lassen sich nicht über externe Bindungen/Instanzen verstehen, allenfalls über interne. Aber nach innen verlegt, also entscheidungs- oder akteursabhängig, sind neben ihrer Verlagerung auf die Zeitachse (Risiken dauern) vor allem soziale (und rechtliche) Zurechnungen gefragt. Die Semantik und Pragmatik des Risikos erfüllt genau diese Bedingungen. Was aber auch bedeutet, daß mit dem Risiko die unausweichliche Ambivalenz des wissenschaftlich-technisch vermittelten Wissens in den inneren Kreis aller gesellschaftlichen Projekte und Programme einwandert; entsprechend scheint ,Risiko' den Fortschritt' als Leitschema der Zeitbeobachtung abzulösen. ,Risiko' reflektiert die Skepsis der Gesellschaft sich selbst gegenüber, sie moderiert das Unbehagen an der Kultur, indem sie es konsequent in das Schema der Selbstbeobachtung einrückt. Der Fortschritt' wird tendentiell mit den Unabwägbarkeiten, die die Zeit bereithält, vor allem mit der zukünftigen Gegenwart, fertig, er hat - wie Gott oder die Natur - im Vertrauen auf die Evolution des Wissens und der Technik einen letzten (geschichtsphilosophischen) Außenhalt. „Fortschritt" stellt sicher, daß die Evolution weitergeht; sein Richtungssinn holt die an sich unbezwingliche Zeit in ein Wissen, welches das Nichtwissen als prinzipiell wissbar, als überwindbare Grenze, darstellt. Anders verhält es sich im Fall von Risiko und Zeit, sie etablieren ein Verhältnis sui generis, sie erzeugen wechselseitig Unbestimmtheit füreinander. Das Risiko übernimmt in einem gewissen Sinn die Funktion der Metaphysik, die intendierte, mittels der Ideen das Ganze unseres Lebens im Blick zu behalten. Der Risikobegriff versucht eben das auf eine kognitiv-instrumentelle Weise, er zielt darauf ab, jene Totalität der Selbst- und Weltbezüge durch Isolierung und Modellierung von Risiken, durch Verteilung und Bewertung derselben kleinzuarbeiten. Da er das Ganze unmöglich fassen und beurteilen kann, verfällt er auf die Strategie, es in kleinformatige Problemlasten zu verwandeln - analog zu den Risikoschätzungen großtechnischer Anlagen, die gleichfalls durch Zurechnung der Risiken auf Subsysteme versuchen, das System im Ganzen sicherer zu machen - die Risiken sollen ein für menschliche Akteure handhabbares Format haben. Aber 13
Selbst bei Naturkatastrophen wird diskutiert, was die staatlichen Institutionen und Behörden an Bauvorschriften versäumt haben, um die Häuser sicherer zu machen, was sie unterlassen haben, um die ärztliche Versorgung schneller sicherzustellen oder auch die gefährdeten Regionen vorab zu warnen.
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wie die (metaphysische) Idee will die Perspektivik des Risikos den Überblick wahren, sie leistet Orientierung durch das in den Risikokalkulationen enthaltene Mehr oder Weniger an Sicherheit. Obwohl Skepsis verkörpernd, zielt eine Gesellschaft unter dieser Großorientierung darauf ab, die auf Modelle abgezogene Totalität jener Bezüge mittels kognitiver Strategien in den (Be-)Griff zu bekommen. Folge dieser Schließungsversuche sind dann eine Reihe von Paradoxien bzw. Ambivalenzen, die mit dem Begriff des Risikos in modernen Gesellschaften aufgebracht werden: 1. die Nötigung zur Grenzüberschreitung, 2. das Verhältnis von Risiko und Zeit, 3. das Nichtwissenkönnen als Negation jeglicher Risikoabschätzungen. Die erste (pragmatische) Paradoxie könnte man den Zwang oder die Nötigung zur Grenzüberschreitung nennen. Gutes Risikomanagement verlangt eine vorlaufende Risikoheuristik, die sich quer durch alle gesellschaftlichen Problemfelder schreibt. Risiken müssen ökonomisch und ökologisch erschlossen, eingegrenzt und auf die Bedingungen einer zukünftigen Gegenwart hochgerechnet werden. Der Risikodiskurs ist Folge und Ursache der Verwissenschaftlichung und Technisierung des Lebens. Als Wissenschaft des real existierenden Konjunktivs besteht er wesentlich in Grenzüberschreitungen. Die Risikoheuristik muß in ihren Szenarien soweit als möglich zu kommen versuchen, das heißt auch, mit den herkömmlichen Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten brechen. Sie muß, will sie das ihr eingeschriebene Sicherheitsinteresse wahren, eine gleichsam negative Kreativenergie entbinden, um das vorauszusehen, zu isolieren, zu strukturieren, zu kalkulieren, was im schlimmsten Fall passieren kann. Sie muß Szenarien größtmöglicher Unfälle erstellen, sie muß dazu immer auch den Kreis der Grenzen übersteigen, der durch Schicklichkeit und Gewohnheit, Moral und Ökonomie, Bildung und Recht den Normalverlauf der Ereignisse schützt, was aber bedeutet, daß sie damit auch dem oder denjenigen eine Chance gibt, der/die versuchen, aus den Schwachstellen Kapital zu schlagen, um sie, wie auch immer, gegen das System zu wenden. Kurz, die Risikoheuristik muß den Taten vorauseilen, das „Undenkbare denkbar" machen (U. Beck). Damit aber bahnt sie auch den Weg, auf dem das System ausgebeutet, geschädigt oder destruiert werden kann. Wir sind seit langem mit der Logik der Grenze vertraut, der zufolge man auf beiden Seiten zu stehen hat, um sie begreifen zu können, man muß sie immer schon überschritten haben, um sie als solche zu identifizieren, aber dieser kleine Grenzverkehr hat in der Form der Risikoanalyse gravierende, ja paradoxe Folgen: ob im Blick auf ökologische Krisen oder globale Finanztransaktionen oder terroristische Anschläge - die Risikoforschung muß die Büchse der Pandora öffnen, um festzustellen, daß ihre Aufklärungs- und Sicherungsabsichten ins Gegenteil pervertiert werden können, sie muß in ihren Analysen das herbeizitieren, was gegen sie gerichtet werden kann.14 Bezieht man das Risiko zweitens auf seine temporale Dimension, so stößt man auf folgende Konstellation. Bei der Vermehrung des Wissens in Sorge um die Zukunft gerät das in 14
Ein anderes Paradox sieht so aus: Gewöhnlich glaubt man, mit einer verbesserten Technologie das Risiko eines Unfalls zu verringern. Die öffentliche Ideologie möchte in allem die Sicherheit erhöhen. Die Reaktion darauf kann aber die sein, daß, bedingt durch das höhere Sicherheitsgefühl, wiederum mehr gewagt wird und entsprechend das Risiko zu verunglücken steigt. Eine neue Sicherheitstechnologie wird entwikkelt, die - paradox - die Gefahr eben dadurch erhöht, daß die, die sie verwenden, sich sicherer fühlen.
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Gefahr, was man erhalten möchte: das „Noch-nicht", die „offene Zukunft", die Zeit offener Grenzen. Es könnte sein, daß durch die Prätention gegenwärtigen Wissens die Zukunft um ihre Zukunft gebracht wird, daß die Technowissenschaften gerade in ihrem Versuch, einen an Leib und Leben bedrohten Menschen vor den Unabwägbarkeiten und Wechselfallen seiner ersten und zweiten Natur zu schützen, den Menschen verfehlen könnten. Angefangen von Gentests und einer pränatalen Diagnostik bis zu den Risikominimierungsstrategien großtechnischer Anlagen, könnte eine vorauseilende Prädiktion und Kontrolle möglichst vieler Lebensprozesse, in der Hoffnung, das Leben sicherer und besser zu machen, die Aporie seiner Existenz verschließen, nämlich „seiner selbst voraus sein zu müssen ohne ankommen zu können". Die prädiktive Installation des Wissens und der Technologien kann nur mit der unausdeutbaren Subjektivität des Menschen im Einklang bleiben, wenn sie ihr Gegenteil, eine offene Zukunft, nicht ausschließt. Drittens: Das Nichtwissenkönnen (im Unterschied zu fehlendem Wissen und Ungewißheit als objektiver oder subjektiver Wahrscheinlichkeit im Blick auf Handlungs- und Entscheidungsfolgen) als die ,höchste' Form des Nichtwissens. Dieses Nichtwissenkönnen resultiert nicht aus einer graduellen Steigerung des Nichtwissens, das auf einer Skala wachsenden Wissensmangels abgetragen werden kann; es reflektiert eine qualitative Differenz: Die über Wahrscheinlichkeiten ausbuchstabierten Risikoannahmen verbleiben im Umkreis sozial etablierter Erwartungs- und Wissenshorizonte, während das Nichtwissenkönnen sie überschreitet und sie diffraktioniert. Es läßt den Sinn kollabieren, es läßt sich nicht in jene Ungewißheitsformulare übertragen, die Risikohypothesen zugrunde liegen, es greift die Rahmenbildungen selbst an. Es steigert nicht nur die ins Risiko eingeschriebenen Ungewißheiten, es macht Risikokalkulationen unmöglich. Es negiert sie aufgrund einer dem Reflexivwerden des Wissens entspringenden Kraft. Die Risikoforschung hat insofern darauf reagiert, als sie Begriffe wie „Systemrisiken", „evolutionäre Risiken" eingeführt hat, Risiken, für die jeder Vergleichsmaßstab fehlt (Klimaveränderung durch Treibhauseffekt, Bedrohung zukünftiger Gesellschaften mit radioaktivem Müll, Eingriff in biologische Arten durch die Gentechnik).
IV. Inhumanität Wie immer auch aufeinander bezogen, lassen sich doch im Blick auf das Risiko zwei Umgangsweisen mit dem grenzkonstitutiven Unbestimmtheitshorizont der Medialität unterscheiden: den risikoheuristischen und den moralischen. ,Risiko' verkörpert die Geste eines skeptisch gewordenen Fortschritts, der seinen epistemischen Optimismus verloren hat, der zwar Grenzen, zumal selbst erzeugte, anzuerkennen bereit ist, aber sie kognitivinstrumentell zu übersteigen sucht. Die Moderne weiß und kann von den Grenzen nur im Medium ihrer kognitiven Überschreitung wissen; es ist ein Signum ihrer Internitätskondition, daß sie im Risikobegriff den endogenen Charakter moderner Grenzziehungen zu kapitalisieren versucht: Weil die Ungewißheit auf der anderen Seite jenseits der Grenze selbst gesetzt oder zumindest beobachterrelativ ist, steht sie falliblen kognitiven Zugriffen immer offen. Sie kann und will die Grenzen nicht anerkennen, die sie nicht kognitiv zu bearbeiten imstande ist; sie kann sie nicht anerkennen ohne Verzicht auf Erkenntnis. Was aber bedeutet, daß im Kontext von Gesellschaften modernen Zuschnitts die Bedingungen der Möglich-
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keit von Risiken zunehmen, weil das jedem neuen Wissen inhärente neue Nichtwissen sich nicht mehr auf „abgegrenzte Parzellen überschaubarer Ignoranz beschränkt" (H. Willke), sondern sich zu einem systemischen Nichtwissen, z. B. in Form evolutionärer Risiken, ausweitet. In dieser Situation bietet Forschung oder der bloße Zuwachs an wissenschaftlichem Detailwissen nicht mehr Sicherheit, sondern weniger.15 Was Jean-Francois Lyotard für die modernen Kulturmächte wie Aufklärung und Vernunft andeutet, zeigt sich auch am Risiko: Auch das Risiko trägt zwei Gesichter des Inhumanen,16 Das eine manifestiert sich im Gefolge der (üblichen) Kritik aus dem Geist des (aufgeklärten) Humanismus: Von seiner Anlage her, insbesondere aus der Perspektive der Alltagsagenten, sei das Konzept abstrakt und lebensfern, es strahle jene methodische Kälte ab, wie alle Begriffe einer Versicherungswirtschaft, ein vernünftiger Kontrolldiskurs auf der Ebene von Versicherungswissenschaft und Stochastik, der selbst dann, wenn es um genetische Risiken, Risiko für Brustkrebs und Herzinfarkt gehe, den Einzelnen mit Prozentzahlen und Wahrscheinlichkeiten beliefere, ohne ihm indes wirklich Hilfe zu gewähren. Per Risikoanalyse Sicherheit zu erhöhen, habe heute weitaus mehr Verunsicherung zur Folge als die Schattenwürfe des Unwissens, zumal dann, wenn - wie in nicht wenigen Fällen - den entsprechenden Diagnosen keine oder keine zuverlässigen Therapiemöglichkeiten zur Seite stünden. Daß Risiken zwischen Arm und Reich, zwischen Entscheidern und Betroffenen, Mächtigen und Machtlosen, zwischen Erster und Dritter Welt ungleich und damit ungerecht verteilt sind, auch das erlaubt wenig Zweifel. Noch der Versuch, die Unabwägbarkeiten des Lebens in kalkulierbare Unsicherheiten zu transformieren, sie handhabbar zu machen, atme den Geist einer instrumentellen Kontrollvernunft. Man kann es nicht übersehen. Diese Kritik an der (inhumanen) Ungerechtigkeit und Lebensferne des Risikobegriffs wird durch den technokratischen Traum der sukzessiven Verbesserung der humanen Lebensumstände gezogen. Nach Foucaults Worten „ist niemand mehr Humanist als die Technokraten".17 Sie unterstellen eine irgendwie angelegte „Entwicklung zum Besseren", eine leere, zwecklose Zweckmäßigkeit: Demokratisierung in Gesellschaft und Wirtschaft, Zivilisierung, Wettbewerbsfähigkeit, bessere Kostenstruktur, Erhöhung der Kapazitäten und verläßliche Berechnung. Die im Normalisierungsdiskurs angezeigte Inhumanität scheint noch nicht an jene Abgründigkeit des Unbestimmten und Inhumanen zu rühren, die sich gegen die legitimen Optionen der Risikominimierung in Erinnerung bringt. Jedes System der Risikoversicherung will vergessen machen, was ihr entgeht. Gegen ein stets vom Mißlingen bedrohtes Leben hilft auch kein noch so umfangreicher, jede Lebensparzelle abdeckender Katalog von institutionalisierten Sekuritäten. Vernünftig ist die Vernunft erst im abgründigen Zweifel an ihr selbst. Um einer radikalen Selbstkritik und Selbstermöglichung willen sollte sie ein Moment des Unbestimmten nicht in Abrede stellen, das sie entmächtigt, das mit Sinn, Investition und 15
Darin sind sich Wissen(s)schaftssoziologen unterschiedlicher Provenienz wie U. Beck oder H. Willke und K. P. Japp einig. Vgl. U. Beck, Gegengriffe. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt/M. 1988. H. P. Japp, Risiko, Bielefeld, 2000. H. Willke, Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2002.
16
Vgl. J.-F. Lyotard, Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, 13 ff. M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, München 1974. 28.
17
TECHNISIERUNG OHNE GRENZEN - MEDIUM, RISIKO, INHUMANITÄT
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Konstruktion bricht, ein Heterogenes, dem die Ordnung des Sinns und kontrollierter Funktionen gleichgültig ist, eine abgründliche Freiheit, die selbst noch Chaos und Zufall braucht. Sie könnte verhindern, daß es zu jenen (humanen) Schließungen durch diejenigen kommt, die das, was das ,Glück der Menschen' heißt, zu definieren und herbeizuführen wissen.18 Diese Abgründigkeit des Sinns oder der Vernunft enthält einen Hinweis auf das nur scheinbar konkurrierende - in Wirklichkeit aber universellere - Medium der Moralität, das eine andere Ökonomie der modernen Medialität und ihrer Grenzen entwirft - aber das steht auf einem anderen Blatt.19
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In diesem Sinn könnte man - Kunst durch Technik ersetzend - eine Einsicht Adornos abwandeln: „Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie." Th. W. Adorno, „Ästhetische Theorie", Ges. Schriften Bd. 7. Frankfiirt/M. 1970, 293. Vgl. dazu: G. Gamm, „Unbestimmbare Quellen der Normativität. Zur Dialektik von Offenheit und Verbindlichkeit in der Moral", in: Ders., Der unbestimmte Mensch. Subjektivität, Technik und nichtmenschliche Akteure, Berlin 2004.
CHRISTIAN STREFFER
Notwendigkeit von Technologien Grundlagen für Entscheidungsprozesse am Beispiel der Energieversorgung
1. Einleitung Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist die mittlere Lebenserwartung in Deutschland von etwa 45 auf mehr als 77 Jahre angestiegen. Ähnliche Werte werden für die anderen Industriestaaten angegeben, während in Indien die durchschnittliche Lebensdauer bei etwa 60 Jahren und in vielen zentralafrikanischen Ländern im Bereich von 45 bis 50 Jahren liegt. Ohne Zweifel sind die medizinischen sowie technischen Fortschritte entscheidend für die Erhöhung des Lebensstandards und die damit einhergehende Lebenserwartung. In den westlichen Industrienationen leben die Menschen heute hinsichtlich ihrer materiellen Versorgung besser, als jemals zuvor Menschen gelebt haben. Es sollte daher jedem, der die Lebensbedingungen der Menschen erhalten oder gar verbessern möchte, deutlich sein, daß dieses nur mit einem hohen Technologiestandard gelingen kann. Dieses gilt in gleichem Maße für die Aufrechterhaltung einer Umwelt und ihrer Ressourcen, damit folgende Generationen ihr Leben wie wir gestalten können. Der Verbrauch von natürlichen Rohstoffen und die Umweltbelastungen müssen daher minimiert werden. Die Notwendigkeit von Technologien ist also unverzichtbar, ihre Weiterentwicklung bedarf leistungsfähiger, unabhängiger Wissenschaften, deren Erkenntnisse auf der Basis kritischer Evaluierungsprozesse durch die „scientific Community" einen globalen Status der wissenschaftlichen Akzeptanz erreichen. Insofern ist die moderne Wissenschaft seit Jahrzehnten eine globale Einheit, die die Kontrolle des Wahrheitsgehaltes und der Reproduzierbarkeit der wissenschaftlichen Daten zur Aufgabe hat. Es wäre töricht, wenn die Gesellschaften allgemein erkannte wissenschaftliche Erkenntnisse nicht umsetzen würden. Der rationale Abwägungsprozess auf der Basis dieses Wissens muß die Grundlage für die Entwicklung, Auswahl und Durchführung von Technologien sein, wenn auch ohne Zweifel in unseren demokratischen Gemeinwesen den Fragen der Akzeptabilität durch die Gesellschaft einschließlich der damit verbundenen ethischen Fragen eine hohe Bedeutung zukommt. Allerdings muß die informierte Gesellschaft sich auch über die Tragweite ihrer Entscheidungen Klarheit verschaffen und zur Übernahme der Verantwortung für ihr Handeln bzw. Unterlassen bereit sein.
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2. Der notwendige und weltweite Energiebedarf Die Bereitstellung von Energie und die Entscheidungen über den Einsatz der dafür notwendigen Technologien haben in diesem Rahmen einen außerordentlich großen Stellenwert. Daher sollen bei den weiteren Überlegungen Fragen der weltweiten Energieversorgung und deren Grundlagen behandelt werden, auf denen die Entscheidungen über mögliche technologische Wege getroffen werden können. Hier liegt eine fundamentale Basis für die weitere Entwicklung der menschlichen Gesellschaften und ihrem Wohlergehen. Es gilt nicht nur den jetzigen Stand der Energieversorgung zu erhalten, sondern der weltweite Energieverbrauch wird in jedem Falle weiter steigen. Dieses ist aus Gründen der internationalen Verteilungsgerechtigkeit unabweisbar. Es wird angenommen, daß er sich in den nächsten 50 Jahren mindestens verdoppelt und in 100 Jahren verfünffacht. Die globale Betrachtung ist also gerade auf diesem Gebiet von eminenter Bedeutung. Die Entwicklung des Lebens im allgemeinen und des Menschen im besonderen ist an die Erschließung neuer und leicht verfugbarer Energiequellen gekoppelt. Diese Bindung wird durch die Naturgesetze, den ersten und zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, bestimmt, die das Prinzip der Erhaltung der Energie bzw. das Prinzip der Zunahme der Entropie bei irreversiblen Abläufen beschreiben. Das Leben beruht auf irreversiblen Prozessen, daher erfordert seine Entwicklung und Aufrechterhaltung stets neue Energie. Dieses gilt für das Leben selbst und für alle Umstände, die das Leben ermöglichen, erleichtern und angenehm machen. Die Entdeckung und Nutzbarmachung des Feuers z. B. ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg der Entwicklung des Menschen gewesea Prometheus hat nach der Schaffung des Menschen gewußt, daß sein Geschöpf das Feuer fiir die weitere Entwicklung benötigt. Er stiehlt das Feuer des Hephaistos und die „kunstreiche Weisheit" der Athene „und von da an beginnt für den Menschen die Bequemlichkeit des Lebens" (Piaton, Protagoras, 31). Dieser Sage der Griechen kommt eine bemerkenswerte Symbolkraft zu. Die Bereitstellung von Energie ist stets entscheidend für die Machtentfaltung und den Wohlstand der Menschen gewesen. Kriege um die Energiequellen sind gefuhrt worden und sie werden aus diesen Gründen leider auch weiterhin stattfinden. Die Notwendigkeit der Energieversorgung hat sich besonders bei der Entwicklung der Gesellschaft in der Neuzeit gezeigt. Der industrielle Aufbau in Europa ist durch die Erfindung der Dampfmaschine von James Watt eingeleitet worden und die Nutzung der Elektrizität hat ganz wesentlich zu den rasanten technischen Fortschritten im 20. Jahrhundert beigetragen. Will die Gesellschaft auf den erreichten Lebensstandard nicht verzichten bzw. keine größeren Abstriche machen und den Schwellen- sowie Entwicklungsländern bessere Lebensverhältnisse zugestehen, so muß eine ausreichende Energieversorgung gewährleistet werden. Über Jahrtausende haben die Menschen die zur Verfugung stehenden Energiequellen ohne Bedenken genutzt und durch unbedachten Verbrauch wichtige Ressourcen abgebaut. Die verkarsteten Gebirgsflächen im Mittelmeerraum u. a. zeugen von den Konsequenzen. In den Perioden der vorindustriellen Revolution, in der das nachwachsende Holz nahezu die einzige Energiequelle gewesen ist, ist die Weltbevölkerung über Jahrtausende weitgehend konstant geblieben. Das dramatische Wachsen der Erdbevölkerung um ein Mehrfaches etwa um das Fünffache - in den letzten 100 Jahren und des Energieverbrauches pro Kopf vor allem in den Industriestaaten, - etwa alle 15 Jahre hat sich der Energieverbrauch verdoppelt - gestatten ein derartig bedenkenloses Vorgehen heute nicht mehr, wenn das Leben
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auf dieser Erde mit Verantwortung für die Zukunft gestaltet werden soll. Es müssen Konzeptionen einer nachhaltigen und langfristigen Energieversorgung entwickelt werden, die die knapper werdenden Ressourcen schonen und die Umweltbelastungen in einem solchen Rahmen halten, daß der Lebensraum Erde auch den folgenden Generationen bewahrt bleibt. Entscheidungen über Probleme der Energieversorgung sollten daher in einem weltweiten Konsens aus zwei Gründen getroffen werden: Zum einen werden die knapper werdenden Ressourcen von allen Staaten genutzt, zum anderen führen die mit den verschiedenen Technologien verbundenen Umweltbelastungen zu globalen Problemen. Gerade die Flutkatastrophen der letzten Monate in Deutschland aber auch in anderen Ländern, z. B. Asiens, haben die Diskussionen über Fragen des Klimaschutzes in erheblichen Maße belebt. Bei den Abgaben der „Treibhausgase", die in starkem Maße durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe freigesetzt und im Zusammenhang mit einer Temperaturerhöhung auf der Erde diskutiert werden, zeigt sich die globale Bedeutung in besonderer Weise. Bei diesen Gasen ist eine Zunahme von der vorindustriellen Zeit in der Mitte des 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts durch objektivierte Verfahren deutlich festgestellt worden. Über diesen Ausgangspunkt gibt es unter Wissenschaftlern keinen Zweifel mehr, wenn auch die daraus folgenden Konsequenzen nicht endgültig geklärt sind. So erscheint es dennoch vernünftig, diesen Veränderungen Rechnung zu tragen und gegenzusteuern. Ein Gleichgewicht der Natur, das sich über Jahrtausende eingestellt hat, wird durch die anthropogenen Einflüsse massiv gestört. Offensichtlich kommt für die Diskussion der möglichen Klimaveränderungen dem Kohlendioxid (C0 2 ) schon alleine wegen der großen Mengen die stärkste Bedeutung zu. Es muß hervorgehoben werden, daß 1950 die Marke von 300 ppm überschritten worden ist und daß seit 1950 eine markante Beschleunigung der C0 2 Zunahme stattfindet. Dieses bedeutet, daß bis zu den Jahren 2030/2040 ein C0 2 -Wert extrapoliert werden kann, der zu einer Verdopplung der Konzentration von 1960 (damals ca. 310 ppm) führt (Schröder et al. 2002, 71). Internationale Bemühungen, um die C0 2 -Emissionen zu reduzieren, haben bisher nicht zu dem notwendigen durchschlagenden Erfolg geführt. Das Land mit den höchsten Abgaben sind z. Zt. die USA mit mehr als 25 % der weltweiten Emissionen insgesamt. Der Bevölkerungszuwachs und die Steigerung des Bruttosozialproduktes in den Schwellen- und Entwicklungsländern werden jedoch entsprechend der Prognosen dazu fuhren, daß die weltweite Emissionen um etwa 60 % bis zum Jahre 2020 weiter ansteigen werden. Die Steigerungen werden vor allem durch die Zunahmen in Südostasien (China und Indien ohne Japan) bedingt sein. China wird seinen Kohlendioxidausstoß bis 2020 mehr als verdoppeln (DOE 2001). Dieses ist durch eine weitere Steigerung der Kohleverbrennung zur Elektrizitätsgewinnung zu erwarten. Ganz allgemein finden in den Schwellenländern erhebliche Umstrukturierungen in der Energiewirtschaft statt. In Indien ist die Energiegewinnung insgesamt durch Verbrennung von Holz, Dung und anderen Biomaterialien in den sechziger Jahren noch zu etwa 75 % erfolgt, im Jahre 1989 zu 50 % und 2019 soll sie nur 26 % betragen (Sarma et al. 1998). Es wird damit gerechnet, daß der Energieverbrauch bis zum Jahre 2020 in Südostasien sich weit mehr als verdoppeln wird, für Indien wird eine Zunahme um den Faktor 2,5 erwartet. Dann wird die südostasiatische Region etwa 27 % der Weltenergie verbrauchen und damit denselben Bedarf wie die Energieverschwender USA allerdings mit weniger als 5 % der
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Erdbevölkerung haben. Berücksichtigt man, daß in diesem südostasiatischem Raum im Jahre 2020 etwa 50 % der Erdbevölkerung leben werden (DOE 2001), so wird dieser Anteil den betroffenen Ländern, der von ihnen für selbstverständlich und für ihre weitere Entwicklung für notwendig gehalten wird, nach den Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit kaum bestritten werden können. Es besteht keine Frage, daß die Zunahme der C0 2 -Konzentrationen global in der Atmosphäre fortschreitet und kritische Formen annimmt. Die globale Dimension dieser Problematik sollte jedermann deutlich sein. Die Bedeutung, die der südostasiatischen Region für die Entwicklung zukommt, wird in Europa und speziell in Deutschland immer noch unterschätzt. Eine Arbeitsgruppe der Royal Society und der Royal Academy of Engineering GroßBritanniens hat in dieser Situation 1999 ausgeführt: „It is our conviction, underpinning all our work, that just waiting to see what happens to the atmosphere if we persist with business as usual in electricity generation is not a sane option. Predictions in the energy business have a poor track record, we do know enough about environmental science and about economics to assert wishful thinking is an inadequate response to the present Situation" (The Royal Society 1999).
3. Szenarien einer langfristigen Energiegewinnung mit C02-Reduktion Für die weiteren Überlegungen ist es notwendig, die Ausgangssituation insgesamt zu beleuchten. Für die etwa 400 E Joule, die heute jährlich durch die Weltbevölkerung an Energie verbraucht werden, werden fossile Brennstoffe mit knapp 90 % als primäre Energieträger eingesetzt. Diese Lage erfordert eine neue Strategie mit einer umweltfreundlichen und langfristigen Energiegewinnung. Folgende Optionen stehen z. Zt. offen, um eine Reduktion des C02-Ausstoßes bei der Erzeugung von Elektrizität, auf die das Augenmerk konzentriert werden soll, zu erreichen: 1. Die Einsparung von Elektrizität durch höhere Effizienz der technischen Einrichtungen und Änderungen des Lebensstils. 2. Die Nutzung von Technologien, die auf erneuerbaren Energieträgern beruhen und die zumindest zu keiner Netto - C0 2 -Emission führen. 3. Die Vermeidung, daß das C0 2 die Atmosphäre erreicht (Sequestrierung). 4. Die Kernenergie. Bei vielen Technologien mit erneuerbaren Energieträgern besteht nur eine beschränkte, intermittierende Verfügbarkeit. Daher ist hier allgemein eine Energiespeicherung notwendig. Die Wasserkraft stellt etwa 3 % der Energie weltweit zur Verfügung. Es werden typischerweise für eine Anlage mit einer Kapazität von 1 GW, entsprechend einem sehr großen Kohlekraftwerk bzw. einem mittleren Kernkraftwerk, 1.000 km2 Land „verbraucht". Für Photovoltaik-Anlagen dieser Größe werden etwa 20 km2 Land benötigt (The Royal Society 1999). Diese letzteren Anlagen arbeiten z. Zt. selbst in Regionen mit starker Sonneneinstrahlung wie in Indien nicht ökonomisch. Dennoch ist es richtig, solche Technologien weiter zu entwickeln, ihren Wirkungsgrad zu verbessern und möglicherweise in Zukunft eine ökonomische Nutzung zu erreichen, damit ein stärkerer Beitrag für die Energiegewinnung ermöglicht wird.
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In Deutschland kommen z. Zt. etwa 3 % der Primärenergie und 6 % der Elektrizität aus den erneuerbaren Energieträgern, die heute und wohl auch noch in einiger Zukunft nur mit starken Subventionen einsetzbar sind. Die Windkraftanlagen sind in Deutschland in den letzten 10 Jahren stark ausgebaut worden und nehmen hinsichtlich ihrer Leistung heute weltweit den ersten Rang ein, mit erheblichem Abstand gefolgt von den USA, Spanien, Dänemark und Indien. Vom Anlagenpotenzial her könnten theoretisch etwa 14 % des Elektrizitätsbedarfes in Deutschland gedeckt werden, tatsächlich sind aus der Windkraft im Jahre 2001 2,5 % erbracht worden (Angabe des Deutschen Windenergie-Institutes). Es ist geplant, die Kapazität etwa um das Fünffache zu steigern. Es soll vor allem der „Offshore"-Bereich erhöht werden. Die Rezyklierung von Biomassen hat weltweit insbesondere in Entwicklungsländern große Bedeutung. - Das Beispiel Indien ist bereits erläutert worden. - Sie trägt etwa mit 14 % zum Weltenergieverbrauch bei, fuhrt aber nur zu einer geringen CCVReduktion und einem erheblichen Landverbrauch, Gezeiten-Kraftwerke haben bisher keine praktische Bedeutung erlangt. Ähnliches gilt für geothemische Kraftwerke und für die Sequestrierung von C0 2 . Alle diese Möglichkeiten müssen weiter verfolgt werden, sie sind wichtig für die zukünftige Entwicklung. Das „Department of Trade and Industry" ist 1999 zu dem Ergebnis gekommen, daß etwa 10 % der notwendigen Energie in Großbritannien im Jahre 2010 aus derartigen Technologien kommen können. Es ist jedoch unklar geblieben, ob mit einem derartigen „Energie-Szenario" die Notwendigkeiten des Umweltschutzes, der Gesellschaft und der Volkswirtschaft erreicht werden können (Royal Society 1999).
4. Die Kernenergie - Eine tragfähige Option? Die Kernenergie, die mit keinen nennenswerten C0 2 -Emissionen verbunden ist, trägt in Deutschland mit etwa 33 % und weltweit mit etwa 17 % zur Erzeugung von Elektrizität bei. Mit Stand vom 31. 12. 1999 werden in 32 Ländern der Welt 436 Kernkraftwerke betrieben. Mit 104 Reaktoren zur Erzeugung von Elektrizität liegen die USA an der Spitze, gefolgt von Frankreich mit 59 Kernkraftwerken und Japan mit 53. Frankreich nimmt bei der Produktion von Elektrizität durch Kernenergie mit nahezu 80% eine Spitzenstellung ein. In 20 Ländern liegen die Anteile an der Elektrizitätserzeugung durch Kernkraftwerke bei 20 % und höher (Deutsches Atomforum 2000). Außer in Japan werden zur Zeit in den hochentwickelten Industrieländern kaum neue Kernkraftwerke gebaut. Die USA haben sich aber entschlossen, die Betriebszeit ihrer Kernkraftwerke auf 40-50 Jahre zu verlängern. Allerdings gibt es erhebliche Programme der Erweiterung der Kernenergie insbesondere im südostasiatischen Raum mit China, Indien, Südkorea und Taiwan (Deutsches Atomforum 2000). In Indien und China ist man gewillt, den Anteil an Strom aus der Kernenergie in den nächsten 20 Jahren in erheblichem Maße zu erhöhen, in Indien soll dieses um den Faktor 10 geschehen. Im Jahre 1999 sind in Indien 3 Kernkraftwerke im Bau gewesen, zur Zeit sind es 6. Die beiden Länder mit den höchsten Zahlen an Einwohnern - mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung lebt in ihnen - sind also offensichtlich bereit, erhebliche Anstrengungen hinsichtlich der Kernenergie zu unternehmen.
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China und Südafrika haben ein Abkommen geschlossen, um gemeinsam den gegenüber anderen Kernreaktoren anerkannt sichereren Hochtemperaturreaktor weiterzuentwickeln und sind dabei erste Reaktoren dieses Typs zu installieren. Der Prototyp dieses inhärent sicheren Reaktor ist in Jülich entwickelt und in Hamm-Uentrop vor einigen Jahren in Probebetrieb genommen worden. Diese Reaktorlinie, die also in Deutschland entwickelt worden ist, gilt wegen ihrer hohen Sicherheit für eine Reihe von Ländern als besonders zukunftsweisend. International ist zur Weiterentwicklung der Reaktorsicherheit ein Abkommen zwischen den Ländern Argentinien, Brasilien, Frankreich, Japan, Kanada, United Kingdom und USA abgeschlossen worden, um die Reaktorlinien der IV. Generation zu entwickeln. Deutschland hat sich aus dieser Technologie völlig ausgekoppelt. Wenn man berücksichtigt, daß in diese Bereiche weitere Hochtechnologien eingeschlossen sind, wie z. B. die Robotik, wichtige Teile der Material-Forschung und Material-Entwicklung so wird man fragen müssen, ob hier Anschlüsse an wichtige Technologien, die für die Aufrechterhaltung des Lebensstandards wichtig sind, von unserem Land verpaßt werden. Deutschland ist sich mit vielen anderen Ländern einig, daß der Ausstoß an Kohlendioxid vermindert werden muß. Kernenergie könnte hier ein brauchbares Mittel sein. Die bisherigen Beschlüsse über den Ausstieg aus der Kernenergie und die Gesetzesvorhaben beinhalten zur Zeit außer allgemeinen Erklärungen zur Steigerung der erneuerbaren Energien keine Konzepte, in welcher Weise die fehlende Elektrizität, die aus der Kernenergie gewonnen wird, ersetzt werden soll. Die geplanten und notwendigen Erhöhungen durch andere Technologien, z. B. die regenerativen Energiequellen lassen dieses zur Zeit aus Gründen der Machbarkeit und vor allem der Kosten nicht erkennen. Bei allen Prognosen über den Weltenergiebedarf wird daher der Kernenergie während der nächsten Jahrzehnte weltweit ein nicht verzichtbarer Anteil zugeschrieben (OECD 2000). Schließlich sei darauf hingewiesen, daß die Verfügbarkeit bei der Kernenergie mit etwa 7.000 Stunden pro Jahr besonders hoch liegt und damit diese Energieform für die sogenannte Grundlast bei der Versorgung durch Elektrizität erhebliche Vorzüge hat. Dagegen besteht bei Windkraftwerken eine Verfügbarkeit von nur 2.000 Stunden pro Jahr und bei Strom aus Sonnenenergie lediglich von 800 Stunden pro Jahr. Bei der Diskussion über die Kernenergie stehen selbstverständlich die Atombombenkatastrophen in Hiroshima und Nagasaki immer im Hintergrund. Bei diesen Katastrophen sind nach den heutigen Abschätzungen unter den etwa 100.000 überlebenden, strahlenexponierten Personen 500 an einem Krebs gestorben, der durch die Strahlung verursacht worden ist (Pierce et al. 1996). Diese sind die wissenschaftlich belegten Zahlen, die weltweit in der „scientific Community" anerkannt werden, wenn auch in den Medien immer wieder andere Zahlen genannt werden. Das Risikopotential durch die Kernenergie ist ohne Zweifel bei großen Unfällen außerordentlich hoch. Es können weite Regionen mit nahezu kontinentalen Ausmaßen in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Verantwortung der Wissenschaft und Technik muß daher in diesen Fragen in besonderer Weise angemahnt werden. Der Risikobewertung kommt bei dieser Technologie damit ein hoher Stellenwert zu. Die Diskussion muß offen geführt werden. Die umfangreichen Kenntnisse zur Sicherheitstechnik, zum Strahlenrisiko und zu den Langzeitstrategien bedürfen sorgfaltiger rationaler Abwägungen. In allen Bereichen wird mit Wahrscheinlichkeiten gearbeitet. Das bedeutet immer, daß Entscheidungen unter Unsi-
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cherheiten zu treffen sind und Handeln unter Risiko unumgänglich ist. Das Prinzip der pragmatischen Konsistenz, wie von Gethmann (1993,42) formuliert, sollte ein wichtiger Bestandteil der Debatte sein nämlich: Die Risikobereitschaft durch Wahl der eigenen Lebensumstände unterstellt gleichzeitig, daß Handlungsoptionen mit ähnlichen wenn auch nicht selbst gewählten Risiken möglich sind. Diese Betrachtung sollte zumindest den Rahmen vorgeben. Durch die beiden Reaktorunfälle Three-Mile-Island 1979 in den USA und Tschernobyl 1986 in der Ukraine sowie immer wieder behauptete Unfälle in deutschen Kernkraftwerken hat sich mit den ständigen Diskussionen in der Öffentlichkeit und in den Medien in Deutschland ein Klima einer irrationalen Diskussion entwickelt, die jegliche ionisierende Strahlung aus Kernkraftwerken für außerordentlich gefahrlich hält. Wie sind hierzu die wissenschaftlichen Fakten? Neben den ökonomischen, den soziologischen und vor allem den ingenieurwissenschaftlich sicherheitstechnischen Fragenkomplexen, die nicht erörtert werden sollen, sind folgende Problemkreise zu besprechen: 1. Das Strahlenrisiko beim Normalbetrieb und kleineren Störfällen, 2. Das Strahlenrisiko bei großen Unfällen, 3. Die Langzeitsicherheit bei der Endlagerung. Das Strahlenrisiko ist an Millionen von Menschen vor allem bei folgenden Populationen umfassend untersucht worden (UNSCEAR 2000, Vol. II, 297): - Überlebende der Atombombenkatastrophen in Hiroshima und Nagasaki, - Bevölkerung in Regionen mit hohen Strahlenexpositionen, - Beschäftigte in kerntechnischen Anlagen, - Patienten nach Strahlenexpositionen aufgrund medizinischer Indikationen (nach hohen Strahlendosen in der Tumortherapie und nach niedrigen Strahlendosen in der Röntgendiagnostik). Zu 1: Für die Abschätzung des Strahlenrisiko im hier vor allem interessierenden niedrigen und mittleren Dosisbereich steht die Verursachung von Krebs im Vordergrund. Wie bei jedem toxischen Agens sind für die Risikoabschätzungen auch bei ionisierenden Strahlen Dosiseffektkurven entscheidend. Für genetische und karzinogene (krebserzeugende) Strahleneffekte werden Dosis-Wirkungs-Beziehungen ohne Schwellendosis angenommen, obwohl dieses wissenschaftlich bisher nicht exakt bewiesen ist. Im Sinne eines guten Strahlenschutzes mit dem Prinzip der Vorsorge ist das Vorgehen durchaus vernünftig, es bedingt aber, daß bei jeder auch noch so kleinen Strahlendosis, ein gewisses Gesundheitsrisiko abgeschätzt werden kann. Allerdings ist es in den niedrigen Dosisbereichen, die beim Normalbetrieb der Kernkraftwerke erreicht werden, nicht mehr meßbar (Streffer 1997a; UNSCEAR 2000, Vol. II, 73). Um mögliche, wenn auch geringe Effekte zu limitieren, haben auf der Basis von Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) die Europäische Union sowie die einzelnen Nationalstaaten Dosisgrenzwerte festgelegt. Für den Schutz von Einzelpersonen der Bevölkerung dürfen Strahlenexpositionen aus technischen Anlagen nicht größer als 1 mSv pro Jahr sein (ICRP 1991, 44). Diese Dosen liegen unterhalb der mittleren Strahlenexpositionen von 2,4 mSv pro Jahr, die aus natürlichen Quellen auf den Menschen in
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Deutschland und weltweit einwirken (Streffer 1997b). Der Grenzwert von 1 mSv pro Jahr gilt nahezu in allen Ländern der Welt. In der öffentlichen Diskussion wird häufig vorgetragen, daß jeder Zerfall eines Radionuklides (jedes Becquerel) ein Risiko beinhaltet. Es wird bei derartigen Bemerkungen nicht reflektiert, daß in jedem Menschen pro Sekunde viele Tausend radioaktive Zerfälle aufgrund der inkorporierten natürlichen radioaktiven Stoffe stattfinden (BMU 2002, 34). Selbst ein Wohnungswechsel innerhalb Deutschlands kann dazu fuhren, daß die natürliche Strahlenexposition eine Änderung erfahrt, die größer als der Dosisgrenzwert von 1 mSv ist. Die Strahlung aus natürlichen Quellen ist ein guter Referenzwert für Risikobewertungen im niedrigen Dosisbereich. Zu 2: Es besteht die Möglichkeit, daß es zu großen Unfällen durch Kernkraftwerke kommt, wenn auch die Risikowahrscheinlichkeit für derartige Ereignisse sehr gering ist. So sind in Reaktorsicherheitsstudien große Unfälle mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von einem Unfall in 106 bis 107 Jahren ermittelt worden. Das „rationale" Risiko, definiert als Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert mit dem Schadensausmaß, liegt damit nicht höher als bei vielen anderen technischen Einrichtungen, z. B. der chemischen Industrie. Diese Risikobewertung hat allerdings in unserer Bevölkerung nur eine geringe Akzeptanz gefunden. Es wird von unseren Bürgern nicht als vergleichbar empfunden, ob ein sehr seltener Unfall mit 100 Todesfällen auftritt oder ob mehrere Unfälle für demselben Zeitraum prognostiziert werden, bei denen für jeden einzelnen Unfall weniger aber in der Summe auch 100 Todesfälle zu erwarten sind. Besorgnisse der Bevölkerung sind daher verständlicherweise vorwiegend auf derartige Vorkommnisse gerichtet. Während durch das Reaktorunglück in Three-Mile-Island die gesundheitlichen Schäden der Bevölkerung in unmittelbarer Nähe des Reaktors sehr gering bzw. nicht feststellbar gewesen sind, hat es nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl schwerwiegende Schäden in weiteren Regionen um das Kernkraftwerk herum, insbesondere in Belarus, in der Ukraine und in einigen Teilen Rußlands gegeben. Es sind gewaltige Mengen an radioaktiven Stoffen aus dem Kernkraftwerk freigesetzt worden. Die Einsatzkräfte, die mit dem Löschen des Feuers unmittelbar an dem Unglücksreaktor und mit der Sicherung des Reaktors beschäftigt gewesen sind, haben zum Teil erhebliche Strahlendosen erhalten. Insgesamt sind 237 Personen betroffen gewesen, die akute Strahlenschäden davongetragen haben. Von diesen Personen sind 28 Menschen in den nächsten 4 Monaten nach dem Unfall aufgrund der Strahlenschäden verstorben (UNSCEAR 2000,451). Darüber hinaus hat sich die luftgetragene Radioaktivität über weite Bereiche Europas einschließlich Deutschlands verbreitet und damit zu meßbaren Kontaminationen geführt. Dieses verursachte in den ersten Tagen nach der Reaktorkatastrophe höhere Kontaminationen in Nahrungsstoffen, z. B. der Milch, mit radioaktiven Isotopen des Jods. Nach dem Abklingen des radioaktiven Jod und ähnlichen radioaktiven Stoffen sind jedoch nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl die radioaktiven Isotope des Cäsium von entscheidender Bedeutung für die Expositionen unserer Bevölkerung gewesen. Diese radioaktiven Stoffe wirken sich wesentlich länger aus und können auch heute noch in einzelnen Nahrungsmitteln und im Boden gemessen werden. Gesundheitliche Effekte sind aufgrund dieser Strahlendosen in Deutschland nicht festgestellt worden.
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Wesentlich gravierender sind die Gesundheitsschäden in Belarus, in der Ukraine und in einzelnen Regionen Rußlands. Es hat sich gezeigt, daß die Krebsraten allgemein in diesen Ländern nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl nicht zugenommen haben (UNSCAR 2000, 490). Allerdings sind sehr drastische Erhöhungen der Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Kindern in Belarus, in der Ukraine und in einzelnen Teilen Rußlands aufgetreten. Die Zunahme dieser Krebserkrankungen wurde vor allem ab dem Jahre 1990 in Belarus beobachtet. Sie trat vorwiegend bei den Kindern auf, die 0 - 5 Jahre alt waren, als das Reaktorunglück sich ereignete (UNSCEAR 2000, 497). Darüber hinaus sind ohne Zweifel komplexe Krankheitssyndrome, insbesondere bei den sogenannten Liquidatoren, die z. B. Dekontaminationen der radioaktiv verseuchten Böden durchfuhren, aber auch bei weiten Teilen der Bevölkerung in den akut betroffenen Ländern durch die traumatische und psychische Belastung hervorgerufen worden (UNSCEAR, 508). Zu 3: Das Prinzip der Energiegewinnung durch Kernkraftwerke besteht in der Energiefreisetzung bei der Kernspaltung. Dabei entstehen weitere radioaktive Stoffe. Eine Reihe der eingesetzten und entstandenen radioaktiven Stoffe, die in den abgebrannten Brennelementen der Reaktoren auftreten, haben sehr lange physikalische Halbwertzeiten, die im Bereich von einigen 10.000 bis mehreren 100.000 Jahren liegen. Infolgedessen wird zu Recht die Forderung erhoben, daß diese radioaktiven Stoffe langfristig sicher gelagert werden müssen, um zukünftige Generationen nicht zu gefährden. Die Diskussionen, die seit Ende der 70er Jahre vor allem über die Sicherheit von Endlagern gefuhrt worden sind und die damit verbundenen politischen Auseinandersetzungen sowie die Widerstände von Teilen der Bevölkerung haben letztendlich dazu geführt, daß in Deutschland z. Zt. kein Endlager mit den geforderten Sicherheitsstandards in Betrieb ist. In der Öffentlichkeit ist bisher nicht in ausreichendem Maße bekannt geworden, welche Kriterien für die Endlagerung radioaktiver Stoffe gefordert werden: A. In der Betriebsphase gelten die üblichen Grenzwerte, die für die Arbeitsplätze und für die Bevölkerung bei anderen kerntechnischen Anlagen, also Kernkraftwerken, festgelegt und die vorher beschrieben worden sind. B. In der Nachbetriebsphase müssen folgende Forderungen erfüllt sein: 1. Eine absolute Dichtheit des Endlagers muß über 10.000 Jahre bestehen, es dürfen keine radioaktiven Stoffe während dieses Zeitraumes freigesetzt werden. 2. Bei einer Freisetzung von radioaktiven Stoffen nach diesem Zeitraum dürfen die heute allgemein geltenden Grenzwerte für die Bevölkerung nicht überschritten werden. Die Radioaktivität kann nach einer möglichen Freisetzung im Endlager von mehr als 1.000 Metern Tiefe nur durch Wasserbewegungen an die Erdoberfläche gelangen. Die geologischen Untersuchungen und Berechnungen ergeben, daß bei den projektierten Endlagern diese Wanderung etwa 10.000 Jahre (im Falle des Endlagers Konrad) und länger (im Salzlager Gorleben) dauern werden. Allerdings können Abschätzungen über diese Zeiträume nur über Modelle gemacht werden. Sie bergen daher Unsicherheiten in sich. Betrachtet man die Fragen des Strahlenschutzes zusammenfassend, so kann man feststellen:
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1. Die Strahlenrisiken sind in mittleren und hohen Dosisbereichen außerordentlich gut untersucht. Es können aufgrund molekularer, zellbiologischer, tierexperimenteller Untersuchungen und klinischer Erfahrungen Risikowerte für diese Dosisbereiche angegeben werden. Vielfaltige Untersuchungen im niedrigen Dosisbereich haben ergeben, daß unterhalb einer Dosis von 100 mSv keine gesundheitlichen Schäden beobachtet werden können. Dieser Wert beträgt das lOOfache des Dosisgrenzwertes für Personen der Bevölkerung. Die Dosisgrenzwerte für die Bevölkerung im Normalbetrieb liegen unterhalb der Strahlenexpositionen, die aus natürlichen Quellen erhalten werden. 2. Ohne Zweifel ist das Risiko eines Unfalles bei kerntechnischen Anlagen sehr ernst zu nehmen. Daher ist in allen Industrieländern in den letzten Jahrzehnten die Reaktorsicherheitstechnik immer wieder verbessert worden. Dieses gilt insbesondere auch für die Kernkraftwerke und andere kerntechnische Anlagen in Deutschland. Aus sicherheitstechnischen Gründen werden neue Reaktorlinien entwickelt, an denen Deutschland sich zur Zeit nicht beteiligt. 3. Die Kriterien für die Sicherheitsstandards bei der Endlagerung radioaktiver Stoffe sind hoch angesetzt. Nach allen bisherigen Erfahrungen sollte eine Endlagerung radioaktiver Stoffe unter den vorgesehenen Kriterien möglich sein. In den USA und in anderen Ländern wird die Endlagerung unter diesen Kriterien projektiert. Auch in Deutschland sind diese Standards vorgesehen gewesen.
5. Aspekte der Rechtfertigung Darüber hinaus unterliegt die Kernenergie weltweit einer Kontrolle durch die Internationale Atomenergiebehörde, einer Unterorganisation der UNO, in Wien, deren Vollmachten nach den beiden genannten großen Unfällen ständig erweitert worden sind. Insbesondere der Unfall in Tschernobyl hat zu internationalen Konventionen über Sicherheitsfragen (Nuclear Safety) mit spezifischen Verpflichtungen geführt, in die Regelungen zum legislativen nationalen Rahmen, zu den technischen Erfordernissen bei Ortauswahl, Bau und Betrieb von Kernkraftwerken sowie zu regelmäßigen nationalen und internationalen Überwachungen aufgenommen worden sind. Auch die Behandlung nuklearer Abfalle ist in diese Konventionen eingeschlossen worden. Das Hauptanliegen ist der Schutz des individuellen Menschen, der Gesellschaft und der Umwelt. Bei den Regeln für die Endlagerung der Abfalle ist das Prinzip der Langzeitverantwortung unter den vorher angegebenen Kautelen berücksichtigt worden (Wojcik 2000). Diese unabhängige Institution der Völkergemeinschaft hat weltweit das Vertrauen in die Sicherheit bei der Nutzung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlen in der Medizin und Technik einschließlich Kernenergie gestärkt und die Glaubwürdigkeit der notwendigen wissenschaftlichen Erkenntnisse gegenüber der Öffentlichkeit erhöht. Es gibt wohl keinen anderen Bereich, in dem der Schutz des Menschen und der Umwelt vor den Gefahren einer Großtechnologie und Noxen strikten internationalen Kontrollen unterliegt. Dieses gilt insbesondere auch für die weltweite Anwendung ionisierender Strahlen in der Medizin. Zugegebenermaßen hat sich diese Wirkung dieser Institution in Deutschland nur in geringem Maße oder nicht eingestellt.
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Ähnliches gilt für die Festsetzung von Strahlenschutzstandards durch die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP). Dieses wissenschaftliche Gremium hat drei ethisch fundierte Grundprinzipien für den Strahlenschutz festgelegt (ICRP 1991, 28): 1. Jede Strahlenexposition muß durch einen Nutzen gerechtfertigt sein. 2. Die Strahlenexpositionen müssen hinsichtlich des Nutzens gegenüber dem Risiko optimiert werden. 3. Es werden Dosisgrenzwerte festgelegt. Ein weiteres internationales Gremium, das „United Nations Scientific Committee on Effects of Atomic Radiation" (UNSCEAR) stellt zusammen und diskutiert in einem Kreis von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen die neuesten Daten wissenschaftlicher Untersuchungen über Strahlenwirkungen. Es werden kritische Analysen durchgeführt und Berichte an die Vollversammlung der UNO gegeben. Diesem Gremium gehören auch Wissenschaftler von Staaten an, die keine Kernkraftwerke betreiben. Nicht zuletzt ist dieses auch dadurch bedingt, daß der Strahlenschutz in der Medizin und die Strahlenexpositionen aus natürlichen Quellen bei den Diskussionen in diesem Gremium eine große Rolle spielen.
6. Schlußbemerkungen In anbetracht der globalen C0 2 -Probleme und der Zunahme des Energieverbrauches ist es vernünftig und notwendig, jede vertretbare Möglichkeit zu nutzen, um die C02-Emissionen zu reduzieren. Auf der Basis einer ständig zu verbessernden Sicherheitstechnik der Reaktoren, der Konzepte der Endlagerung radioaktiver Stoffe, des Wissens über biologischmedizinische Strahlenwirkungen und der internationalen Evaluierungs- sowie Kontrollprozesse wird die Kernenergie international als eine Technologie gesehen, die die notwendigen Kriterien für eine weitere Nutzung unter Einbeziehung der Grundsätze der Nachhaltigkeit und Langzeitverantwortung erfüllt (The Royal Society 1999; OECD 2000). Sie sollte daher als eine Option neben den weiter zu entwickelnden Techniken mit erneuerbaren Energieträgern und den fossilen Brennstoffen gesehen werden und die Möglichkeit der Nutzung für die Zukunft offen bleiben. Es muß vor allem auch die wissenschaftliche und technische Expertise aufrechterhalten werden. Die Royal Society kommt zu dem Schluß: „It is vital to keep the nuclear option open. We cannot be confident that the combination of efficiency, conservation and renewables will be enough to meet the needs of environmental protection while providing a secure supply of electricity at an acceptable cost. It is essential to win back public confidence in this option." Sollte diese Möglichkeit nicht eröffnet werden, besteht die Gefahr, daß die Expertise für die Reaktorsicherheit aber auch den Strahlenschutz in Deutschland verloren geht. Die Diskussion um Energiefragen wird zur Zeit durch die bioethischen Probleme insbesondere zur Gentechnik und Stammzellforschung überdeckt, ihre Dringlichkeit und Bedeutung wird aber langfristig vorrangig für die Weiterentwicklung der Welt bleiben. Es müssen globale Konzepte entwickelt und durchgeführt werden, die den Anforderungen einer langfristigen Nutzung der Ressourcen, der Umweltverträglichkeit, der Verteilungsgerechtigkeit auf internationaler Ebene und nicht zuletzt wegen der Entwicklung in den Schwellenländern auch der Wirtschaftlichkeit genügen. Um diese Kriterien zu erfüllen, wird es wohl unumgänglich sein, ein Spektrum der verschiedenen hier angesprochenen Optionen zu nutzen.
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NOTWENDIGKEIT VON TECHNOLOGIEN
Die Technologien „neuen erneuerbaren" Energien müssen weiter entwickelt werden. Dabei können die Kosten in der Gegenwart und der Flächenbedarf dieser Techniken nicht übersehen werden. Die Debatten um die Kernenergie, das Strahlenrisiko und die Gentechnik haben ohne Zweifel zu der Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaften beigetragen. Die Risikodebatte ebenso wie die Fragen nach langfristigen Schäden stellen sich jedoch mit jeder Technologie. „There is no free lunch." Das ist eine Binsenwahrheit. Neben der Verläßlichkeit ist die Verständlichkeit nach Gethmann (1999) ein wesentliches Merkmal für die Glaubwürdigkeit der Wissenschaften. An diesem zweiten Merkmal hat es offensichtlich immer wieder gemangelt. Widersprüchliche Aussagen zu wissenschaftlichen Sachverhalten haben häufig beigetragen und die Probleme geeigneter Kontrollmechanismen unter Wissenschaftlern offengelegt. Nach Mittelstraß gibt es eine Erosion des Rationalitätsbegriffs, „in deren Folge auch Rationalitätskriterien, die bisher der Definition der wissenschaftlichen Rationalität dienten, ihre unterscheidende Kraft verlieren". Dennoch werden und müssen rationale Vorgehensweisen den weiteren Gang und die Anwendung der Wissenschaften sowie Technik bestimmen und auch die notwendigen Grenzen, die nicht übersehen werden dürfen, sollten durch rationale Diskurse in einer offenen und fairen Debatte gezogen werden. Die letzteren Prozesse werden wesentlich von außen durch die Gesellschaft reguliert. Die Wissenschaften können in unseren verfaßten Staaten Vorschläge machen und bestmögliche Wege mit eventuellen Alternativen aufweisen. Die Menschen selbst legen letztendlich über die Strukturen demokratischer Staaten fest, welchen Fortschritt sie wollen und welchen nicht. Diese Vorgehensweise muß auch bei der Auswahl der Technologien für die Energiegewinnung angewendet werden. „Zumindest in seiner ethischen Natur bleibt der Mensch das Maß der Welt" (Mittelstraß 2002). Eine gerechte Verteilung der Energieressourcen und ihrer Verfügbarkeit zwischen den Staaten ist ohne Zweifel auch ein wirksames Mittel zur Konfliktvermeidung. Die Bereitstellung der notwendigen Energie insbesondere in der Form von Elektrizität ist ein Schlüssel fiir Aufrechterhaltung und Ausbau des Wohlstandes der menschlichen Gesellschaft. Die globale Sichtweise darf bei den Entscheidungen nicht verloren gehen. „Die menschliche Natur schreitet niemals zurück" (Rousseau zit. nach Sturma 2001). Ich schließe mit einem Zitat von Churchill, dem pragmatischen Politiker aber auch großen Visionär: „Die Menschheit ist zu weit vorwärts gegangen, um sich zurückzuwenden, und bewegt sich zu rasch, um anzuhalten." (Churchill, zit. nach Schmidt, 1984, 71). Danksagung: Herrn Andreas Witt danke ich für seine Hilfe bei der Datensammlung
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ARMIN GRUNWALD
Pragmatische Antworten auf die Frage nach Grenzen der technischen Machbarkeit
1. Einführung und Überblick Die Frage nach den Grenzen der technischen Machbarkeit und Verfügbarkeit wird scheinbar umso häufiger gestellt, je grenzenloser die Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik erscheinen. Angesichts des sich weiter beschleunigenden, wissenschaftlich gestützten technischen Fortschritts, der weiter zunehmenden Durchdringung von Lebenswelt und Gesellschaft mit Technik, des Verblassens der Grenze zwischen Technik und Mensch und der fortschreitenden Zurückdrängung des Unverfugbaren durch Wissenschaft und Technik mag die Frage nach den Grenzen der Technik gar merkwürdig anachronistisch erscheinen. Noch stärker gilt dies, wenn man historische Beispiele von Antworten auf die Frage nach den Grenzen der Technik betrachtet und dann ex post feststellen muss, dass es sich hier meist nur um kontingente, zu einer bestimmten Zeit geäußerte Vorstellungen der Unvorstellbarkeit bestimmter technischer Möglichkeiten handelte, nicht aber um „wirkliche" Grenzen. Manchmal scheint es, als seien vermeintliche Grenzen der Technik eher ein Ansporn, sie zu überwinden, als eine echte Begrenzung. In dieser Situation stellt sich die Frage, warum überhaupt über Grenzen der Technik reflektiert wird und in welchen Hinsichten diese Reflexion bestimmte Funktionen erfüllt. Weit jenseits der Frage, ob es prinzipielle oder absolute Grenzen der Technik gebe und wo diese liegen könnten, wird das Augenmerk auf die Funktionen des Nachdenkens über Grenzen der Technik im Verhältnis von Mensch, Gesellschaft und Technik gerichtet. Im Folgenden wird - nach einer kurzen Sicht auf Technikgeschichte als Geschichte der Entgrenzungen (Teil 2) und einigen begrifflichen Unterscheidungen (Teil 3) - die Frage nach den Funktionen des Redens über Grenzen der Technik durch drei pragmatische Antworten beschieden: (1) Erklärungsfunktion: das Reflektieren über Grenzen der technischen Machbarkeit zur Rekonstruktion der Technikgeschichte (Teil 4), (2) Orientierungsfunktion: Reflektieren über ethisch motivierte und gesellschaftlich durchzusetzende Grenzen der technischen Machbarkeit (Teil 5), (3) Anthropologische Funktion: Grenzen der technischen Machbarkeit zur Reflexion des Verhältnisses von Mensch und Technik am Beispiel der Robotik (Teil 6). Das wesentliche Ergebnis dieser Analyse ist, dass die Rede von Grenzen der technischen Machbarkeit vor allem reflexive Züge hat. Angesichts der Geschwindigkeit des technischen Fortschritts und der daraus resultierenden Verunsicherungen und offenen Fragen dient das
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Reden über Grenzen von Technik - in deskriptiver und in präskriptiver Hinsicht - der Selbstvergewisserung von Individuen und Gesellschaft in Bezug auf ihr Verhältnis zur Technik.
2. Technischer Fortschritt als Entgrenzung Technik war in der Kulturgeschichte der Menschheit stets ein entscheidendes Medium für Erfolg und Wohlstand von Individuen und Gesellschaften. Ob es die Nutzbarmachung neuer Materialien für die Werkzeugherstellung in der Frühzeit der menschlichen Kultur, eine überlegene Militärtechnik, die Bewässerungstechnik in trockenen Gegenden, technisch ermöglichte oder erleichterte Transportkapazitäten, z. B. durch Schiffbau, Techniken langfristiger Lagerung und Vorratshaltung von Nahrungsmitteln oder die technisch ermöglichte Vorhersage von astronomischen Konstellationen wie Sonnenfinsternissen war: stets waren das Wohl, die Überlebensfahigkeit, die Macht und auch der Wohlstand einer Gesellschaft verbunden mit ihren technischen Möglichkeiten - selbstverständlich gemeinsam mit den sozialen und kulturellen Fähigkeiten zu ihrer entsprechenden Nutzung. Diese alte Erfahrung der Menschheit macht es verständlich, dass technische Neuerungen häufig als Fortschritt verstanden wurden. Mit der Industriellen Revolution trat dieser Fortschrittsgedanke in eine neue Dimension. Technik erschien als wesentlich verbunden mit den Idealen der europäischen Aufklärung: die Befreiung von den Zwängen und Begrenzungen der Natur durch die Beherrschung dieser Natur, die Ermöglichung menschlicher Autonomie und Selbstbestimmung durch Technikentwicklung und ihren zielgerichteten Einsatz für die Zwecke des Menschen, schließlich die Befreiung von den kulturellen Beschränkungen vormoderner Gesellschaften. Zu den wesentlichen Kennzeichnungen der Moderne gehört der Verweis auf die rasche und sich weiter beschleunigende Zunahme der menschlichen Handlungsmöglichkeiten, verursacht einerseits durch den Wegfall traditioneller (moralischer) Grenzen des Handelns, andererseits durch wissenschaftliche und technische Inventionen und ökonomische und soziale Innovationen (z. B. Mittelstraß 1989, Lübbe 1997). Charakteristikum des technischen Fortschritts ist die Zurückdrängung des „Unverfügbaren". Das, was menschlichem Zugriff entzogen war, was als unbeeinflussbare Natur akzeptiert werden musste, wird zum Gegenstand technischer Manipulation oder Gestaltung. Technische Gestaltungsmöglichkeiten erstrecken sich einerseits auf die „äußere Welt" des Menschen, auf seine Umwelt (Landwirtschaft, Pflanzen- und Tierzucht), auf die Umgestaltung der Erdoberfläche oder auf die Erforschung des Sonnensystems. Andererseits gerät gerade zurzeit auch seine „Innenwelt" immer stärker unter technisch ermöglichten Zugriff. Viele Krankheiten, die bis vor kurzem als Schicksal akzeptiert werden mussten, können geheilt oder erheblich gelindert werden. Zustände, die als Defizite empfunden wurden, aber nicht verändert werden konnten wie z. B. ungewollte Kinderlosigkeit oder Schönheitsmakel, können heute medizintechnisch behandelt und teilweise beseitigt werden. Die Ausweitung der Einflussmöglichkeiten des Menschen durch gentechnische Veränderungen des Erbgutes und durch Eingriffe in Reproduktionsvorgänge wie beim Klonen macht auch die Erbsubstanz technisch modifizierbar.
PRAGMATISCHE ANTWORTEN AUF DIE FRAGE NACH GRENZEN DER TECHNISCHEN MACHBARKEIT
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Allen diesen Entwicklungen gemeinsam ist, dass das bislang Unverfügbare durch (häufig wissenschaftlich gestützte) Technik zum Verfiigbaren wird. Statt bestimmte Sachverhalte als naturgegebenes Schicksal akzeptieren zu müssen, eröffnen sich Möglichkeiten technischer Eingriffe. Ein herausragendes Symbol dieser „Entgrenzungen" durch Technik ist die Apollo-Mondlandung. Andere Ereignisse mit ähnlichem Symbolwert sind die erste Herzverpflanzung, das erste Retortenbaby, die Erfindung des Mikrochips. Ein wesentliches Symbol dieser durch Technik immens erweiterten menschlichen Möglichkeiten ist aber auch der Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima: das Symbol für eine ungeheure Zerstörungskraft auf menschlichen Knopfdruck hin bis hin zur Möglichkeit einer kollektiven Selbstvernichtung. Die Struktur der „Entgrenzung" bezieht sich dabei auf ganz verschiedene Aspekte der Technik: Entgrenzung im Hinblick auf die räumliche Dimension (z. B. Erkundung des Sonnensystems, Geo-Engineering), Entgrenzungen in zeitlicher Hinsicht (z. B. Erforschung der Kernfusion als Energiequelle oder die Beeinflussung des menschlichen Genoms mit Auswirkung auf alle nachfolgenden Generationen), Entgrenzungen im Hinblick auf den Kreis der Betroffenen (internetgestützte Globalisierung), Entgrenzungen in Bezug auf die Eingriffstiefe in die natürliche Umwelt (Beeinflussungen der Atmosphäre, Veränderung ganzer Landschaften durch Tagebergbau) und Entgrenzungen im Hinblick auf eine gesteigerte Irreversibilität der durch Technik bezweckten oder nicht-intendierten Auswirkungen (Vorhandensein der Atombombe, Verlust an Biodiversität, Veränderung der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre, des Grundwassers und der Böden). Des weiteren ist daran zu erinnern, dass technische Entgrenzungen häufig auch Entgrenzungen in anderen Hinsichten zur Folge haben. Die Antibaby-Pille führte zur Überwindung klassischer Grenzen in den Geschlechtsbeziehungen, das Retortenbaby zu neuen „Kulturen" in der menschlichen Reproduktion. Die - ohne entsprechende Technologien unvorstellbare Globalisierung fuhrt zu Entgrenzungen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, aber auch in den Begegnungen verschiedener Kulturen. Technische Entgrenzungen haben häufig soziale und kulturelle Entgrenzungen zur Folge oder sind mit ihnen verbunden. Neue Techniken in diesem „grenzüberschreitenden" Sinne sind daher nie „nur" neue Techniken, sondern immer auch ein Stück „neue Gesellschaft". Dies gilt es zu bedenken, wenn über die Funktion des Redens über Grenzen der technischen Machbarkeit nachgedacht wird.
3. Grenzen der Technik - einige Unterscheidungen Die Semantik der Grenzmetapher selbst einer kleinen Überlegung wert. Eine Grenze bildet die Trennungslinie zwischen durch eine Unterscheidungsabsicht unterschiedenen Bereichen: Staatszugehörigkeit, System/Umwelt-Grenzen, oder hier die Abgrenzung des technisch Machbaren vom nicht technisch Machbaren. Eine Grenze markiert die Trennung in ein Innen und ein Außen. Sie besteht im Resultat einer Unterscheidung bzw. Abgrenzung und ist somit ein Handlungsresultat. Grenzen sind kultürliche Setzungen unter bestimmten Unterscheidungs- und Abgrenzungsabsichten. Die kulturelle Gesetztheit von Grenzen ist oftmals evident, etwa wenn Gemeinde- und Stadtgrenzen in einer Kommunalreform neu geordnet werden. Aber auch vermeintlich natürliche Grenzen wie Flussläufe als Staatsgrenzen sind Resultat von kulturellen Prozessen (Beispiele sind die deutsch-französische Grenze, die
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eben nicht einfach dem Rhein folgt, oder die Alpenhauptkette, die in der Regel keine Staatsgrenze bildet, sondern mitten durch Österreich und die Schweiz verläuft). Auch so genannte natürliche Grenzen werden erst durch kultürliche Akte zu Grenzen, die Wahl „natürlicher" Grenzen als faktische Grenzen lässt sich oftmals durch Verweis auf ihre besondere Eignung fär bestimmte Zwecke (etwa der Landesverteidigung) erklären. In Bezug auf Technik hieße dies, zunächst über die Unterscheidungsabsicht nachzudenken - und diese hängt ab von den Zwecken, die mit der Rede über Grenzen des technisch Machbaren verfolgt werden (dazu Teile 4,5,6). Die Frage nach den Grenzen der Technik kann auf verschiedene Weise verstanden und entsprechend auch verschieden beantwortet werden. Folgende Verständnisse seien im Folgenden unterschieden: (1) Zukünftige oder vergangene Grenzen: Die Frage nach den Grenzen von Technik ist zumeist in der ex ante Perspektive auf die Zukunft gerichtet. Angesichts des technischen Fortschritts mit seinen Entgrenzungen wird die Frage nach zukünftigen naturgesetzlichen, ökonomischen oder sozialen Grenzen gestellt, die sich einer unbegrenzten Machbarkeit in den Weg stellen oder ihr in den Weg gestellt werden sollen. Sie kann sich aber auch ex post auf vergangene Technik beziehen und in der Weise gestellt werden, welche Grenzen technischer Machbarkeit es wann und warum gegeben hat (Teil 4). Hier kann unterschieden werden zwischen Grenzen technischer Planbarkeit, technischer Machbarkeit (fehlendes technisches Wissen oder Können) und nichttechnischen Grenzen der Technik (z. B. Grenzen der gesellschaftlichen Akzeptanz, Grenzen der Wirtschaftlichkeit). (2) Ontische, deontische und praktische Modalitäten in der Bezeichnung zukünftiger Grenzen: Wenn ex ante über Grenzen der Technikgestaltung geredet wird, handelt es sich um zukünftige Grenzen, weswegen Aussagen hierzu stets als Modalitäten formuliert werden (Lorenzen 1987): - sie können nicht überschritten werden (praktische Modalität): Dies ist die Frage nach vermeintlich „objektiven" Grenzen der Technik, die durch die Natur vorgegeben und vom Menschen nicht zu überschreiten seien; - sie sollen oder dürfen nicht überschritten werden (deontische Modalität: wo sind die Grenzen, die wir technischer Machbarkeit setzen bzw. setzen sollen, vgl. Teil 5), oder - sie werden nicht überschritten werden (ontische Modalität). Diese Rede über Grenzsetzungen des gegenwärtigen oder zukünftigen Handelns ist daher zwar nicht abschließend auf Wahrheit beurteilbar, wohl aber begründungs- bzw. rechtfertigungsfähig. In Bezug auf die Begründung praktisch-modaler Aussagen zu Grenzen der Technik - die häufig implizit gemeint sind, wenn von Grenzen der Technik die Rede ist —, können folgende Grenzsetzungen unterschieden werden: (3) Universelle Grenzen versus kontingente Grenzen: Universelle Grenzen der technischen Machbarkeit müssten sich durch situationsinvariant gültige Gesetze begründen lassen. Dies könnte z. B. in Form von Widerfahrniswissen über technische Regeln und ihre Geltungsbereiche bestehen, „daß etwas nicht geht". Im Bereich technischer Planung wird an dieser Stelle regelmäßig auf die vermeintlich universellen Grenzen hingewiesen, die durch Naturgesetze gegeben seien. Dahinter steht das naturalistische Verständnis, dass Naturgesetze objektiv im Sinne von handlungsunabhängigen Gegebenheiten seien, die den vor allen Handlungen schon festgeschriebenen Rahmen des technisch Möglichen bilden. Diese Vor-
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Stellungen lassen jedoch außer Acht, dass das Wissen über Naturgesetze selbst eine technische Basis hat und daher nicht voraussetzungsfrei ist (vgl. Janich 1997). Aussagen über die prinzipielle Nicht-Machbarkeit bestimmter Technik („es wird nie möglich sein, ...") sind All-Aussagen, die alles zukünftige Wissen antizipieren müssten. Gerade in den Naturwissenschaften haben sich, dies sei hier nur als Indiz angemerkt, Grenzbehauptungen dieser Art eher als Anreize erwiesen, die Grenzen zu überschreiten (Janich 1992, 213ff). Wissensund Könnensgrenzen sind immer vorläufig - der gegenwärtige Wissensstand bildet ein unhintergehbares Apriori von Aussagen zu Grenzen technischer Verfügbarkeit. Besteht zwar unverkennbar ein Bedarf an universellen praktisch-modalen Aussagen über Grenzen der Technik, so führt diese Argumentationsfigur darauf, dass begründeten praktischmodalen Aussagen zu Grenzen der Technik immer ein Moment des Kontingenten eignet. (4) Grenzen als Begrenzungen oder als Verweise auf Dahinterliegendes: Die Rede über Grenzen der technischen Machbarkeit kann sich einerseits auf strikte Begrenzungen beziehen, auf Sachverhalte, die die technische Machbarkeit in mehr oder weniger prinzipieller Weise limitieren (s. o.). Andererseits kann sie auch aufmerksam machen auf das, was möglicherweise hinter diesen Grenzen liegt - Grenzen wären in diesem Verständnis vorläufig und würden, etwa im Sinne der anthropologischen These von der Notwendigkeit der ständigen Grenzüberschreitung, eher als Ansporn zur Überschreitung denn als Begrenzung verstanden. Die englische Sprache bietet zu dieser Doppeldeutigkeit zwei Worte an: Grenzen als „limits" oder als „frontiers". Sind die „limits" im Wortsinne limitierend, so steht bei den „frontiers" die ständige Grenzüberschreitung an, mit den entsprechenden Mechanismen der Entgrenzung (s. o.): Erfindungen, neue technische Regeln, Erweiterungen der Geltungsbereiche bekannter technischer Regeln oder neue Zwecksetzungen als Umdeutung bekannten technischen Wissens sind derartige „innovative" Mechanismen, für die „die Grenzen von heute die Fortschritte von morgen sind" (Janich 1992, 225).
4. Erklärungsfunktion: Rekonstruktion der Technikgeschichte Nach (kontingenten) Grenzen der Technik ex post zu fragen, bedeutet, das Zustandekommen gegenwärtiger Technik verstehen zu wollen. Die Frage, welche Grenzen technischer Machbarkeit bestimmte Entwicklungen geprägt oder verhindert haben, wird in der Technikgeschichte und in der sozialwissenschaftlichen Technikgeneseforschung gestellt. Ziel ist es, durch die Frage nach den Grenzen Anhaltspunkte für eine Entwicklungstheorie der Technik zu erhalten. Die Frage nach den Grenzen der Technik hat hier eine erklärende und rekonstruierende Funktion. Um dies etwas näher auszuführen, sei unterschieden zwischen (1) der Planbarkeit von Technik, (2) der Machbarkeit von Technik im Sinne der Demonstration der Beherrschbarkeit der technischen Prozesse und (3) der gesellschaftlichen Einbettung von Technik. (1) Technische Planbarkeit: Technik heiße planbar, wenn ein (Handlungs-)Plan aufgestellt werden kann, dessen Ausführung begründet die Herstellung des technischen Sachverhalts erwarten lässt (analog zu Grunwald 2000b, Kap. 5.4). Technische Planbarkeit besteht in der ex ante-Einschätzung der Herstellbarkeit eines technischen Artefakts (Bau einer Brücke, Aufbau eines funktionierenden Mobilfunknetzes, Durchführung einer bemannten Marsmission). Unter Grenzen der Planbarkeit werden Sachverhalte verstanden, für die ex ante be-
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gründet werden kann, dass sie systematisch der Herstellbarkeit oder Beherrschbarkeit von Technik entgegenstehen. Hier ist also jeweils die - auf einem kontingenten Stand des Wissens aufruhende - Begründungsleistung für das Zu- oder Absprechen der Planbarkeit entscheidend. Diesbezügliche Grenzen der technischen Planbarkeit seien syntaktische Grenzen genannt, weil sie sich ausschließlich auf die Möglichkeiten und Grenzen der Syntax des Planens beziehen (Grunwald 2000b, Kap. 4.4). Die Erforschung von diesbezüglichen Grenzen der technischen Planbarkeit gehört mit zu den Aufgaben der Allgemeinen Technikwissenschaft, z. B. indem sie auf die vielfaltigen Probleme des Planens im technischen Entwurfsund Konstruktionsprozess aufmerksam macht (Banse 2003). (2) Technische Machbarkeit: Die technische Machbarkeit von Verfahren oder Artefakten ist dann nachgewiesen, wenn die Ausfuhrung des Planes zu einem Prototyp mit den gewünschten Eigenschaften gefuhrt hat. In der Fusionsforschung z. B. ist dies seit langem Gegenstand der Forschung; die technische Machbarkeit gilt noch nicht als gesichert (Grunwald et al. 2002). Nicht jede technische Planung fuhrt zu einem funktionierenden Prototyp. Zur Zusprechung der technischen Machbarkeit reichen Begründungsleistungen (s. o.) nicht mehr aus. Hier kommt unweigerlich die Praxis der technischen Realisierung ins Spiel - das Können mit seinen Anteilen an „tacit knowledge" genauso wie die „Tücken" der praktischen Umsetzung, welche häufig genug zu Differenzen zwischen Plan und Lebenswelt fuhren (Banse 2003). (3) Einbettung von Technik in die Gesellschaft Nicht jeder erfolgreich erstellte Prototyp wird auch von den jeweiligen Adressaten angenommen. Grenzen der Technik ex post zeigen sich vor allem an den Stellen, wo Technik die Labors verlässt und in gesellschaftliche Nutzungskontexte übernommen werden soll. Technikgeneseforschung und Innovationsforschung fragen nach denjenigen Grenzen, die den Erfolg von - bereits geplanter und erfolgreich demonstrierter - Technik in Frage stellen (Bijker et al. 1987; Weyer et al. 1997). Vorrangiges Ziel ist die Analyse der Entstehungsprozesse im Umfeld von Technikentstehung und ihrer Enkulturation und Aneignung durch die Gesellschaft. In der Analyse der Entscheidungsprozesse von der Entwicklung bis zur Markteinführung neuer Technologien und Produkte werden organisatorische und institutionelle Einflussfaktoren und die Orientierungen des strategischen Handelns der beteiligten Akteure (Leitbilder) untersucht. Die Stabilisierung innovativer Technik ist danach daran gebunden, dass es gelingt, stabile soziale Netzwerke zur Erzeugung und Verwendung dieser Technik zu etablieren (Weyer et al. 1997). Der semantischen Ebene der Kommunikation über Technik zwischen den Akteuren kommt dabei entscheidende Bedeutung zu. Zu unterscheidende Felder in diesem Bereich können durch die Stichworte Semantik, Netzwerke und Selbstorganisation beschrieben werden. Je nach Akzentuierung wird dann - die Bedeutung von Leitbildern und Metaphern als Kreuzungspunkte divergierender Interessen für (jedenfalls im Ergebnis) synergetisches Handeln der beteiligten Akteure betont (Dierkes et al. 1992); - die Rolle von Institutionen, Netzwerken und anderen bedingenden Faktoren der Technikentwicklung als selektive Filter und die Formierung von Pfaden technischer Entwicklung hervorgehoben (Rammert 1994, Halfmann 1996); - der Zusammenschluss strategisch handelnder Akteure in sozialen Netzwerken zur Stabilisierung und zum Durchsetzen von Technik (Weyer 1997 et al.), insbesondere in der Fra-
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gestellung, warum manche Technikentwicklung erfolgreich ist und andere nicht, in den Vordergrund gestellt (vgl. die Gegenüberstellung der Entwicklungen von Diesel- und Wankelmotor in Knie 1994). Grenzen der Technik zeigen sich auf diese Weise entweder in mangelnden Kommunikationsstrukturen, in unzureichender Netzwerktätigkeit, im Ungenügen relevanter Institutionen etc. Es entsteht ein vielfältiges Bild der Technikadaptation oder ihrer Verweigerung in der Gesellschaft. Die Theorie selektiver Filter (Rammert 1994), nach der der am Anfang des Innovationsprozesses vorhandene weite Optionenraum durch Filter der genannten Arten immer weiter eingeschränkt wird, bis am Ende von diesem Optionenraum ganz konkrete technische Produkte übrig bleiben, stellt wohl am stärksten die Rolle der kontingenten Grenzen von Technik in den Mittelpunkt einer Erklärung der technischen Entwicklung.
5. Orientierungsfunktion: Ethische Grenzen der Technik Oft erfolgt die ethische Reflexion der Technik in der Weise, dass die Ethik den Wissenschaften und der Technik „Grenzen" weisen solle. Im Möglichkeitsraum in Betracht kommender Handlungen und Entscheidungen soll eine Kontingenzreduktion durch ethisch begründete Verbote erreicht werden. Die beliebte Frage „Dürfen wir alles, was wir können?" wird mit einem Nein beantwortet, wodurch die Suche nach ethisch gerechtfertigten „Grenzen" des Handelns angeregt wird. Die unendliche Vielfalt bloß theoretisch möglicher Handlungen soll, so die Hoffnung, auf bestimmte „ethisch verträgliche" Zielkorridore beschränkt werden (Grunwald 1999). Faktisch geltende Grenzen des moralisch Erlaubten sind abhängig von moralischen Positionen, wie sie z. B. von Religionsgemeinschaften vertreten werden, oder sie können in kulturellen Üblichkeiten bestehen. Selbstverständlich betreffen solche Grenzen auch die Technikentwicklung und -nutzung, z. B. in reproduktionsmedizinischen Fragen oder, für traditionelle Gesellschaften, in der Frage des Abbaus von Rohstoffen an „heiligen" Orten. In der Ethik werden diese faktischen moralischen Grenzsetzungen in Bezug auf Verallgemeinerbarkeit geprüft und nach ihrer Rechtfertigungsbasis hinterfragt. Dies betrifft insbesondere Situationen, in denen es zu Konflikten über die Wahl der „richtigen" Grenzen kommt. Die Rechtfertigung von Sätzen über ethische Grenzen des Handelns kann immer nur, so die hier vertretene und noch zu begründende These, hypothetisch auf der Basis eines prädiskursiven Einverständnisses erfolgen (Gethmann 1979). Diese unhintergehbare Relationalität hat die grundsätzliche Revidierbarkeit von Grenzsetzungen zur Folge und rückt diese in die Nähe einer morale provisoire (Hubig 1999). In der Moderne kann das Sollen und Dürfen nicht mehr durch Berufung auf eine externe Instanz gerechtfertigt werden, sondern es müssen die Grenzen gesellschaftszw/er« konstruiert und konstituiert werden (Habermas 1988): Wir dürfen, was wir dürfen, nämlich das, was wir selbst in gerechtfertigten Verfahren als zu dürfen bestimmt haben. Ethische Grenzen der Technikgestaltung können daher nur innerhalb von kulturellen Selbstverständnissen und durch selbst gesetzte Prozeduren bestimmt werden. Dieser „kulturalistische" Ansatz setzt sich von naturalistischen Positionen ab, im Faktischen oder gar in der Natur selbst (z. B. über ein Naturrecht) die Basis für ethische Grenzsetzungen zu suchen (Hartmann / Janich 1996). Naturalistische Ansätze versagen sogar,
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wenn sie die Natürlichkeit des Menschen als Grenze technischer Eingriffe in den Menschen anzuführen versuchen (van den Daele 2000). Im Gegenzug sind selbst gesetzte Grenzziehungen also zwar kulturabhängig, aber nicht beliebig. Sie richten sich nach Zweck/Mittel-Erwägungen und beziehen sich, indem sie auf ein prädiskursives Einverständnis begründet werden, auf einen „Sitz im Leben", der in letzter Instanz Garant der Praxisrelevanz der Ethik ist (Grunwald 2000a, Kap. 4.3). Zwischen der starken (und uneinlösbaren) Forderung nach Letztbegründung und dem resignativen Kulturrelativismus gilt es, eine mittlere Ebene relativer Verbindlichkeiten als Basis für ethische Grenzsetzungen zu betrachten (Hartmann / Janich 1996). In diesem Konzept sind ethische Grenzen und Grenzsetzungen für die Technikgestaltung abhängig von prädiskursiven Einverständnissen und damit von kulturellen Vorentscheidungen und der gesellschaftlichen „Biographie". Ethische Grenzen der Technik zu setzen, ist nach den Ergebnissen der vorangegangenen Überlegungen dann möglich, wenn in der Gesellschaft bzw. in den einschlägigen Teilnehmerkreisen an Technikgestaltung ein prädiskursives Einverständnis darüber vorhanden ist, dass ethische Reflexion gewollt wird. Es ist nicht nur so, dass die Grenzen der Technik von der Gesellschaft selbst konstituiert werden müssen; sogar die Bedingungen der Möglichkeit dieser Grenzsetzungen müssen von der Gesellschaft selbst hergestellt werden. In der Moderne stellen innovative Gesellschaften durch neue Technik ständig ihre Identität in Frage und ändern daher ständig ihr Selbstverständnis (Groys 1992). Hierzu gehören auch die selbst gesetzten Grenzen. In der Einführung, der Änderung oder der Aufhebung von Grenzsetzungen wird der wissenschaftlich-technische Fortschritt reflektiert und bewältigt. Zwischen Entgrenzung und Grenzsetzung besteht eine interessante, noch kaum erforschte Wechselbeziehung. Zeitlos gültige Grenzsetzungen sind erstens aufgrund der Abhängigkeit von einem kontingenten Wissensstand nicht begründbar. Zweitens würden sie von der ständigen Neuerung verunmöglicht, weil es nicht vorstellbar ist, dass durch eine Antizipation aller zukünftigen Herausforderungen sozusagen „auf Vorrat" Grenzen gezogen werden könnten. Diskurse um ethische Grenzen der Technik sind keine faktischen Diskussionen, sondern idealtypische Argumentationsgänge, die in ihrem faktischen Vollzug immer fehlerhaft (oder unvollständig) sein können. Sie sind jedoch bezogen auf eine regulative Idee des Verbesserns und unterstellen für die jeweiligen Praxis kontrafaktisch, dass dies bereits geleistet sei: „Eine gleichsam transzendentale Nötigung, unter der sich verständigungsorientiert eingestellte Subjekte, an Geltungsansprüchen orientieren, macht sich nur in dem Zwang bemerkbar, unter idealisierenden Voraussetzungen zu sprechen und zu handeln" (Habermas 1991, 20). Dies als Unterstellung in aller damit zusammenhängenden möglichen Unzulänglichkeit wachzuhalten, fuhrt dazu, dass die Setzung ethischer Grenzen der Technik immer nur im Rahmen einer morale provisoire erfolgen kann (Hubig 1999), deren Basis die (kulturell bedingte) Wahl einer Lebensform ist (Hanekamp 1996, 398, 401). Ein abstrakter ethischer Universalismus kann nicht gerechtfertigt werden, sondern Basis ethischer Reflexion und ethischer Empfehlung für Grenzen der Technik ist die Wahl einer Lebensform: „Geltungskriterien verweisen letztlich auf die Faktizität einer Lebensform" (Hanekamp 1996, 418).
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Die Komplexität dieses Feldes deontisch verstandener Grenzen der Technik mag gelegentlich Hoffnungen auf „objektive" Grenzen technischer Machbarkeit nähren. Solche würden uns von schwierigen und vielleicht unangenehmen Überlegungen und Entscheidungen über Grenzziehungen entlasten: wenn etwas technisch prinzipiell nicht geht, braucht man sich keine Gedanken mehr zu machen, ob das ethisch erlaubt wäre oder nicht. Diese Hoffnung auf Entlastung durch praktisch-modale Grenzen technischer Machbarkeit hat bis jetzt jedoch meistens getrogen (Janich 1992), und es gibt keinen Anlass anzunehmen, dass dieses sich ändern wird. Genau diese Situation wird die Notwendigkeit ethischer Reflexion über Grenzen der Technik weiter erhöhen.
6. Anthropologische Funktion: das Verhältnis von Mensch und Technik Schließlich hat die Rede über Grenzen der Technik, so die These, auch eine anthropologische Funktion in einer Zeit, in der die Grenze zwischen Mensch und Technik undeutlich wird: Wo liegen die Grenzen der Technik in Bezug auf die Ersetzbarkeit des Menschen? Diese These wird am Beispiel der Grenzen der Robotertechnik erläutert. Anhand der Fragen, ob und inwieweit Roboter planen können und wie sich dieses Planen zu einem „menschlichen" Planen verhält, wird dargelegt, in welcher Weise der Begriff der Grenzen von Technik hier als Reflexionsbegriff fungiert. Im Reden über Grenzen der Technik, so das Ergebnis, lernen wir etwas über uns selbst. Gegenwärtig sind die Roboter auf dem Sprung in die Lebenswelt. Nach Jahrzehnten in den Fertigungshallen der Industrie können Roboter heute verlassen die Fabriken verlassen. Technische Fortschritte in Sensorik, Mechatronik, Elektronik und Informationsverarbeitungskapazität erlauben es Robotern, als autonome Systeme in die Lebenswelt vorzudringen und z. B. Menschen dort zu ersetzen - z. B. im Botenwesen, beim Fensterputzen oder im Pflegedienst. Man muss noch gar nicht an apokalyptische Befürchtungen denken, um zu erkennen, dass hier Entgrenzungen vor sich gehen, die die Gesellschaft vor ein erhebliches Bewältigungsproblem stellen (Christaller et al. 2002). Im Folgenden wird am Beispiel autonomer Roboter zunächst untersucht, ob wir bereits heute Roboter mit Planungskompetenzen bauen können und welche Grenzen in der Ersetzung menschlicher Planender bestehen (vgl. genauer Grunwald 2002). Der klassische Anwendungsfall ist, dass sich ein Roboter in einer ihm unbekannten Umgebung zurechtfinden soll, etwa im Überwinden von Hindernissen bei der Fortbewegung. Ein Roboter als autonomes System vor die Aufgabe gestellt, sich in einer fremden Umgebung zurecht zu finden und eine gestellte Aufgabe - z. B. einen Transportvorgang innerhalb eines Gebäudes - zu übernehmen, ist eine der wichtigsten Anwendungs- und Erprobungsfälle dieses Programms. Autonomie als Leitbild der Robotik erfordert jedenfalls eine gewisse Planungskompetenz. Zukünftig wird eine Entwicklung hin zu einer weitergehenden Autonomie von Robotern erwartet, die die „Planungsanforderungen", welche von Robotern in Erfüllung der ihnen zugedachten Aufgaben erbracht werden müssen, genauso weiter erhöht, wie die Anforderungen an die „Fähigkeiten" dieser Roboter, autonom zu planen und mit unvorhergesehenen, nicht einprogrammierten Situationen umgehen zu können. Dies wirft die Frage nach dem unterstellten Planungsverständnis und dem Verhältnis dieses Planungsverständnisses zu „menschlichen" Planungen auf.
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Bedeutung hat dies in technikphilosophischer und anthropologischer Hinsicht vor allem deswegen, weil anthropomorphe Redeweisen auf technische Artefakte übertragen werden. Wenn Robotern Planungskompetenz zugesprochen wird, werden sie damit in eine „Gemeinschaft der Planenden" aufgenommen - ein Stück Sozialisierung von Technik (Joerges 2001). Die Tragweite dieses Schrittes wird erkennbar, wenn man sich die anthropologische Bedeutung vergegenwärtigt, die dem Planenkönnen als Element einer Sonderstellung des Menschen zugesprochen wird. Kamiah (1973) zum Beispiel weist auf den Zusammenhang der Sprachkompetenz, des Abstrahierenkönnens von konkreten Handlungen zu Handlungsschemata, mit der Fähigkeit hin, verschiedene Zukünfte und verschiedene Wege dorthin vorstellen zu können - elementare Bedingungen des Planens. In der Betrachtung der Planungsfahigkeiten eines autonomen Roboters ist zunächst wichtig, dass dieser über kein vorher erstelltes Umweltmodell verfugt, sondern über diese empirische Erfahrung selbst eines erstellt und laufend verbessert und anpasst. Am Beispiel des Umgangs mit Hindernissen dargestellt: durch Sensorsignale generiert der Roboter (man denke z. B. an einen Zustellroboter innerhalb einer Behörde) während der Bewegung ein Modell seiner Umgebung. Solange diese Umgebung statisch ist, kann das erstellte Modell (bestehend aus Wänden, Türen, Aufzügen etc.) problemlos verwendet werden. Im Betrieb kontrolliert der Roboter über seine Sensorik (z. B. Videokameras) dauernd, ob sein Modell noch aktuell ist. Ist eine normalerweise geöffnete Tür aber einmal zufallig geschlossen, kommt es zu einem „Planzusammenbruch", genauso wenn sich unerwartet ein Hindernis auf dem Weg befindet. Planzusammenbrüche bezeichnen Abweichungen der realen Situation von den Erwartungen. In diesen Fällen definiert der Roboter die Region, in der eine Differenz zwischen Umweltmodell und erkannter „Realität" auftritt, als eine „Region of Interest" (ROI, Knick et al. 1994, 78 ff.). Durch experimentelles Umgehen mit der unerwarteten Situation kann der Roboter „Erfahrungen" sammeln. So kann durch Hupen versucht werden, das Hindernis zum Ausweichen zu bewegen (das Hindernis könnte ein Mensch sein, der aufgrund des Hupens zur Seite tritt), es könnte versucht werden, das Hindernis beiseite zu schieben (vielleicht handelt es sich um einen leeren Karton) oder der Roboter könnte, wenn alles nichts hilft, seinen Betreiber verständigen. Auch Manöver wie das Einparken oder das Wenden in einem Gang können auf diese Weise „geplant" werden (Schlegel / Illmann 1995). Dabei ist eine Hauptherausforderung, die Planzusammenbrüche zu klassifizieren (Knick et al. 1994, 80 ff.), um dann später in der Lage zu sein, schnell den richtigen Typ zu diagnostizieren und entsprechende Maßnahmen einzusetzen (wenn ein Mensch im Gang steht, hupen statt zu versuchen, ihn zur Seite zu schieben). Das zugrundeliegende planungstheoretische Paradigma besteht im Wesentlichen aus dem kybernetischen Planungsmodell der rückgekoppelten System/Umwelt-Wechselwirkung (z. B. Stachowiak 1970). Die Umsetzung des Plans und, in Form einer kybernetischen Rückkopplung, die Kontrolle der Ergebnisse werden in den Planungsprozess einbezogen. Planung des Roboters bedeutet, Maßnahmen zur erwünschten Veränderung der SystemUmwelt zu ergreifen (Versuche). Irrtümer werden über Sensoren durch den Regelmechanismus detektiert und in den weiteren Maßnahmen berücksichtigt. Die im Folgenden vertretene These ist, dass das Planen eines Roboters im Rahmen des erörterten kybernetischen Planungsmodells nur einen kleinen Ausschnitt der allgemeinen Planungsstrukturen abbildet.
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Das kybernetische Planungsmodell ist nicht in der Lage, die gesamte Komplexität planenden Handelns abzubilden (Grunwald 2000b, 231 ff.). So ist die Frage, ob Roboter Planungsziele setzen können oder ob Roboter die präplanerische Basis reflexiv verändern können, auf der sie arbeiten, (zurzeit) eher mit Nein zu beantworten. Roboter können (bislang) nur auf der Habermasschen Handlungsebene operieren, nicht aber auf der Diskursebene die Bedingungen verändern, unter denen auf der Handlungsebene gehandelt wird (und können z. B. nicht die Kontrollarchitektur verändern, die sicherstellt, dass ihr Handeln innerhalb von prädefinierten „Leitplanken" bleibt). Hier besteht eine Asymmetrie zwischen planenden Menschen und Robotern. Die vorgelegte Analyse erlaubt aber keine Aussage darüber, ob und inwieweit sich diese Asymmetrie in Zukunft durch technischen Fortschritt auflösen könnte. Es erscheint sinnlos, prinzipielle Grenzen des Roboterplanens anzugeben (etwa in der Weise, wie Dreyfus 1985 dies für Künstliche Intelligenz versuchte). Die Grenzen zwischen Mensch und Technik werden also auch in diesem Bereich fließend. Technik wird entwickelt in einer Weise, die es Robotern erlaubt, immer komplexere Tätigkeiten auszuführen (wie in Planungsmodellen gut erkennbar ist, wenn die Entscheidungsbefugnis der Roboter und damit ihre „Autonomie" durch technischen Fortschritt wächst). Die Forderung von Latour (1995), in der gleichen Sprache über Technik und Menschen zu reden und eine völlige Symmetrie zwischen ihnen anzuerkennen, erweist sich hier als wenig hilfreich. Für den Planungsbegriff ist es zwar möglich, wie oben gezeigt wurde, von planenden Robotern wie von planenden Menschen zu reden. Eine vollständige Symmetrie zwischen Dingen und Artefakten ist damit aber gerade nicht verbunden. Von der Verwendung der gleichen Planungsterminologie auf eine Symmetrie zwischen Menschen und Robotern zu schließen, wäre nur bei krasser Missachtung der unterschiedlichen Planungsmodelle, der unterschiedlichen Verfügbarkeiten über präplanerische Vereinbarungen und der unterschiedlichen Behandlungen der normativen Ebene möglich (hierzu genauer Grunwald 2002). Die genauere Analyse hat gezeigt, dass gerade Unterschiede zu machen sind, um zu einem „besseren Verständnis" von planenden Robotern und Menschen zu kommen. Erst die sorgfaltige Herausarbeitung und Beachtung der Unterschiede ist instruktiv: man kann in der Gegenüberstellung von planenden Robotern und planenden Menschen auch etwas über planende Menschen lernen, nämlich Spezifika menschlichen Planens, die uns sonst selbstverständlich wären und als Opfer unseres „blinden Flecks" nicht erkannt werden könnten. Wenn wir das Attribut „planen" Menschen und Robotern gleichermaßen zuschreiben, verbinden wir damit nicht unbedingt die gleichen Vorstellungen. Sondern im Einzelfall applizieren wir in dieser Zuschreibung ein bestimmtes Planungsverständnis und ein spezifisches planungstheoretisches Modell. In gewisser Weise paradox, verschärft die Verwendung der gleichen Sprache für planende Roboter und Menschen die Asymmetrie statt eine Symmetrie herzustellen. Letztlich führt die Übertragung der Planungsterminologie auf technische Artefakte nicht zu einer unterschiedslosen Vermischung von Mensch und Technik, sondern zu neuen Möglichkeiten einer Differenzierung ihres Verhältnisses. Und genau hierin liegt der anthropologische Sinn des Redens über Grenzen von Technik in diesem Fall.
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6. Das Reden über Grenzen der Technik als Reflexion Die These, dass die Frage nach den Grenzen von Technik eine wichtige reflexive Funktion darin hat, uns unserer selbst zu vergewissern - in Bezug auf die Grenze zwischen Mensch und Technik, in Bezug auf die Beherrschbarkeit und Gestaltbarkeit von Technik und im Hinblick auf die Rolle von Technik in der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft - ist durch Verweis auf drei reflexive Funktionen pragmatisch beantwortet worden. Der Begriff der Grenzen von Technik erweist sich in dieser Perspektive als ein Reflexionsbegriff. Er dient als „Katalysator" für historische, ethische und anthropologische Reflexions- und Selbstvergewisserungszwecke. Auch wenn die Rede von den Grenzen der Technik vielfach getrieben sein mag von dem Wunsch, durch „objektive" Grenzen entlastet zu werden von dem Zwang, selbst Grenzen setzen zu müssen, auch wenn praktisch-modale Hinweise auf prinzipielle Grenzen versucht werden, dient dies letztlich der reflexiven Befassung mit der praktischen Frage: welche Grenzen wollen oder sollen wir setzen?
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Kolloquium 16 Immanenz und Transzendenz: Ist Metaphysik als limitative Theorie möglich?
UWE MEIXNER
Einleitung Das Feld der Metaphysik ist ein weites, und manches davon hat nicht sonderlich viel mit Transzendenz zu tun. In der Ontologie - der metaphysica generalis - geht es um die Grundstrukturen des Seienden, sei es aktual Seiendes oder sei es bloß möglicherweise Seiendes, um die Frage, in welche Grundarten oder Kategorien es einzuteilen ist, in welchen Beziehungen diese Kategorien zueinander stehen, welche Gesetze da anzunehmen sind. Ein Problem der Transzendenz, wie ich es konvenienzhalber pauschal nennen möchte, spielt in der Ontologie - so wie ich sie gerade charakterisiert habe - anscheinend keine Rolle, es sei denn als eine nicht zum Hauptgeschäft gehörende Grenzfrage, nämlich ob denn die Grundstrukturen des Seienden, die wir durch Analyse der Sprache, durch phänomenologische Untersuchungen oder durch Orientierung an den ontologischen Erfordernissen der Wissenschaft, oder durch eine Kombination von zweien oder von allen drei der angegebenen Zugangsweisen gewinnen können, auch Strukturen einer eventuellen transzendenten Wirklichkeit wären oder sein könnten. Das ist eine Grenzfrage, denn sie ist nicht beantwortbar außer durch ziemlich unabgesicherte Spekulation. Die besagte Grenzfrage läßt sich aber auch, wenigstens als Grenzfrage, nicht recht abweisen, wenn man denn den Anspruch der Metaphysik ernstnimmt von allem überhaupt zu handeln. Eines läßt sich hier sicherlich sicher sagen: Wenn eine eventuelle transzendente Wirklichkeit eine ganz andere ontologische Struktur hätte, als sie uns durch die uns vertraute Wirklichkeit nahegelegt wird, dann wäre sie so anders, daß wir praktisch nichts über sie sagen könnten. Auch in der metaphysica specialis spielt ein Problem der Transzendenz, scheint es, im Hauptgeschäft so gut wie keine Rolle: Man kann doch über das Kausalitätsproblem oder das Leib-Seele-Problem gut und fruchtbar nachdenken, ohne mit einem Problem der Transzendenz in Berührung zu kommen. Nun, das ist in einer Hinsicht richtig, und in einer anderen nicht. Zu unterscheiden ist nämlich zwischen ontologischer und epistemologischer Transzendenz. Der Metaphysiker kann dem Problem der ontologischen Transzendenz - ob es etwas gibt, was jenseits der
KOLLOQUIUM 16 - EINLEITUNG
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Welt der Erfahrung ist, und wenn ja, wie es beschaffen ist - über weite Strecken ausweichen, das Problem der epistemologischen Transzendenz hingegen ist sein steter Begleiter. Als Metaphysiker mag man nicht sonderlich an Aussagen über eine Wirklichkeit jenseits der Erfahrungswelt interessiert sein - die meisten modernen Metaphysiker haben sich den Geschmack daran in Folge von Kants Kritik gründlich abgewöhnt; woran man aber als Metaphysiker wesenhaft interessiert ist - von Berufs wegen, sozusagen - das sind grundsätzliche und - jedenfalls einstweilen - als letztgültig intendierte wahre allgemeine Aussagen über die Wirklichkeit. Aber wenn man solche Aussagen aufstellt, gleichgültig ob man sich in der metaphysica generalis oder in der metaphysica specialis bewegt, so scheint man, oder vielmehr: so ist man gezwungen, den Rahmen dessen zu verlassen, was sich aufgrund von Logik und Erfahrung und sonstigen gebräuchlichen Methoden der Wissensrechtfertigung hinreichend sicher annehmen läßt. Das ist das Problem der epistemologischen Transzendenz, das jeder Metaphysiker hat, und nicht nur derjenige, der sich mit dem Problem der ontologischen Transzendenz beschäftigt; - das Problem der epistemologischen Transzendenz, das insbesondere auch der Metaphysiker hat, der eine negative Lösung für das Problem der ontologischen Transzendenz anbietet, nämlich daß es aus Gründen, die er für überzeugend hält, jenseits der Welt der Erfahrung einfach nichts gibt, und deshalb auch nichts, was irgendwie beschaffen sein könnte. Nicht jede Metaphysik geht über die Physik ontologisch hinaus, aber jede Metaphysik, auch die Metaphysik, die über die Physik nicht ontologisch hinausgeht, geht über die Physik epistemologisch hinaus. Das wird oft vergessen (obwohl es im Effekt schon Kant eingeschärft hat), fühlt sich doch mancher physikalistisch ausgerichteter Philosoph nicht einmal als Metaphysiker, sondern sozusagen als Prophysiker. Das Problem der epistemologischen Transzendenz werden Metaphysiker nicht los; sie können es nur aushalten. Metaphysik ist ein unsicheres, hochspekulatives Geschäft - daran führt kein Weg vorbei. Aber dies kann kein Grund sein, Metaphysik zu verabschieden: Wir können auf Letztdeutungen rationaler Gestalt - d. h. logisch-systematischer Form - von Welt und Mensch nicht verzichten. Und wenn wir darauf wirklich verzichteten, dann könnten wir Philosophen, salopp gesagt, unseren Laden auch wirklich dichtmachen, weil dann allen unseren Bemühungen das letzte Ziel fehlte, weil wir uns dann endgültig zur letztendlichen Irrelevanz verurteilten. Das Problem der epistemologischen Transzendenz der Metaphysik kann kein Grund sein, Metaphysik zu verabschieden; es kann nur ein Grund sein, sie nicht dogmatisch zu betreiben und bescheiden zu bleiben. Ja, und es ist möglich auch dann bescheiden und nicht dogmatisch zu sein, wenn man allgemeine Behauptungen über Mensch und Welt mit der Intention, letztgültige Wahrheiten zu sagen, mit absolutem Ernst aufstellt. Wie sonst überall, so auch in der Metaphysik: Dogmatisch ist nicht derjenige, der Behauptungen macht, von denen er überzeugt ist; dogmatisch ist nur derjenige, der kategorisch ausschließt, daß er sich bei seinen Behauptungen irrt, oder der nicht zulassen kann und darf, daß er sich irren könnte, der darum auf Argumente letztlich keinen Wert legt. Metaphysik ist also möglich, ja muß möglich sein, und zwar als limitative Theorie in dem Sinn, daß in der Metaphysik, genauer: in den verschiedenen miteinander konkurrierenden Metaphysiken, zu allgemeinen, abschließenden oder grundlegenden (das ist oft kaum zu unterscheiden), jedenfalls als letztgültig intendierten Aussagen vorgedrungen wird.
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U W E MEIXNER
Und wie steht es mit dem Problem der ontologischen Transzendenz? Bis zu Kant - ich sehe ab von der Minderheitstradition der Skepsis - war das Problem nicht recht als Problem erkannt, sondern Metaphysiker handelten ganz selbstverständlich von etwas jenseits der Erfahrungswelt und von dessen Beschaffenheit, ja man kann sagen, daß die Grenze zwischen der Erfahrungswelt und dem Jenseits der Erfahrungswelt gar nicht recht vorhanden war. Kant hat das grundlegend geändert. In seiner Kritik der reinen Vernunft entfaltete Kant das Problem der epistemologischen Transzendenz der Metaphysik vor allem im Bezug auf die Erkenntnis des ontologisch Transzendenten, von Gott und der Seele sowie der Welt als Totalität, und damit wurde - aufgrund des ungeheuren Einflusses, den die Kritik ausübte die vormalige Selbstverständlichkeit des ontologisch Transzendenten nicht nur für einige wenige, sondern im generellen philosophischen Bewußtsein zur Frage, zum Problem der ontologischen Transzendenz. Kant empfahl bekanntlich, sich mit dieser Frage, innerhalb der theoretischen Philosophie jedenfalls, nicht weiter abzugeben, sondern sich fruchtbareren Aufgaben zuzuwenden. Und, wie ich schon angedeutet habe, gibt es auch innerhalb der Metaphysik wahrlich genug zu tun, als daß man unbedingt irgendeinen Gedanken an ein Problem der Transzendenz verschwenden müßte. Man braucht als Metaphysiker keinen metaphysischen Arbeitsgedanken an das Problem der epistemologischen Transzendenz der Metaphysik zu verschwenden, sondern dieses Problem nimmt man als Metaphysiker einmal - möglichst frühzeitig - zur Kenntnis und richtet dann seine epistemologische Grundhaltung als Metaphysiker danach aus, und damit fertig. Man braucht als Metaphysiker aber auch keinen Arbeitsgedanken an das Problem der ontologischen Transzendenz zu verschwenden. Wenn einen dieses Problem einfach nicht interessiert, so ist das, grundsätzlich, in Ordnung. Zu denken sollte einem nur geben, daß das Problem der ontologischen Transzendenz die meisten Menschen, die sich als Laien für Metaphysik interessieren, brennend interessiert. Soll man nun als Fachmann oder Fachfrau dazu schweigen, achselzuckend keine Antwort geben, wenngleich man als bekennender Metaphysiker wenigstens den herablassenden Kommentar unterlassen wird, daß wir seit Kant und Wittgenstein in der Philosophie nun doch weiter seien, nämlich endlich bei den „eigentlich spannenden Fragen"? Zu denken sollte einem auch geben, daß das Problem der ontologischen Transzendenz ja fortwährend angesprochen und angeblich gelöst wird, nämlich im negativen, verneinenden Sinn, von Leuten, die sich dabei nicht als Metaphysiker sehen, sondern als Sprachrohr der heutzutage höchsten epistemischen Autorität: Die Naturwissenschaften, heißt es, (oder „science") habe festgestellt, daß es Transzendentes nicht gibt - nicht ganz so, wie „die Wissenschaft" im Nonsens-Lied festgestellt hat, „daß Marmelade Fett enthält", aber doch auch nicht ganz anders. Das darf so nicht hingenommen werden, sondern etwas von höherem, von philosophischem Niveau muß ihm von philosophischer Seite entgegengesetzt werden, gerade auch dann, wenn man als Philosoph mit der Grundaussage, daß es nichts Transzendentes gibt, sympathisiert oder durchaus in Übereinstimmung ist. Wenn man diese Herausforderung ernstnimmt und annimmt, dann muß man sich ernsthaft mit dem metaphysischen Problem der ontologischen Transzendenz befassen. Somit: Um der Relevanz der Philosophie willen müssen wir, oder jedenfalls manche von uns Philosophen, Metaphysik betreiben (und was sein muß, ist ja bekanntlich auch möglich); um der größeren Relevanz der Metaphysik willen aber müssen Metaphysiker, oder
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jedenfalls manche von ihnen, das Problem der ontologischen Transzendenz behandeln und in aller metaphysischer Bescheidenheit zu lösen versuchen. Die folgenden drei Vorträge seien unter die beiden Bezugspunkte des Problems der epistemologischen Transzendenz der Metaphysik und des metaphysischen Problems der ontologischen Transzendenz gestellt. Bei aller Unterschiedlichkeit der folgenden drei philosophischen Stimmen, mögen diese Bezugspunkte einer einheitlichen Orientierung dienen und für die Diskussion hilfreich sein.
JENS HALFWASSEN
Zur Entdeckung der Transzendenz in der Metaphysik
Bei dem Thema „Entdeckung der Transzendenz in der Metaphysik" geht es mir nicht um die Nachzeichnung der Geschichte dieser Entdeckung. Vielmehr möchte ich eine doppelte These zur Diskussion vorschlagen, die den inneren Zusammenhang und die sachliche Untrennbarkeit von Metaphysik und Transzendenz beleuchten möchte. Diese These besagt erstens, daß Metaphysik erst durch die Entdeckung der Transzendenz zu sich selbst kommt, und zwar so, daß metaphysisches Denken durch seinen Ursprung und durch seinen sich durchhaltenden Grundzug auf Transzendenz hin angelegt ist und darum auch in der äußersten möglichen Radikalisierung des Transzendenzgedankens eine ihm mögliche Vollendung findet. Auf der anderen Seite ist die Entdeckung und Erfahrung von Transzendenz freilich nicht auf die Metaphysik und die Philosophie beschränkt, sondern sie ereignet sich ebenso in der Religion und in der Dichtung, zumal der religiös oder philosophisch inspirierten; Michael Theunissen hat das am Beispiel Pindars eindrucksvoll vorgeführt (Theunissen 2000). In Würdigung dieser protometaphysischen Transzendenzerfahrungen besagt der zweite Teil meiner These darum, daß sich die gedankliche Ausformulierung von radikaler oder absoluter oder reiner Transzendenz in Europa nur innerhalb der Metaphysik vollzogen hat, genauer innerhalb einer ganz bestimmten metaphysischen Tradition, die freilich als die Grundgestalt wenigstens der europäischen Metaphysik gelten kann, nämlich im Piatonismus. Schon der Begriff „Transzendenz" selber entstammt dem Piatonismus und sein NQÎOTOÇ EVOER^Ç ist niemand anderer als Piaton gewesen. Ohne eine platonische Metaphysik, so scheint mir, versteht sich die Entdeckung von Transzendenz nur verkürzt. Positiv gewendet heißt das: Die Entdeckung von Transzendenz bedarf einer platonischen Metaphysik, um sich selbst denkend so zu verstehen, daß dabei das Denken selber sowohl die Grenze seiner Möglichkeiten als auch seinen eigenen Ursprung erfährt.1 Diese doppelte These möchte ich in drei Schritten entfalten und begründen. In einem ersten Schritt frage ich danach, durch welche Fragen und Themen sich metaphysisches Denken ursprünglich und grundlegend konstituiert. Im zweiten Schritt werfe ich dann einen Blick auf die Begriffsgeschichte der Transzendenz. Dieser Blick soll klären helfen, was Transzendenz eigentlich meint und wie ihre EntFür mein eigenes Nachdenken über Transzendenz und platonische Metaphysik verweise ich auf: Halfwassen 1992; ders. 1999; ders. 1998, 29-42.
ZUR ENTDECKUNG DER TRANSZENDENZ IN DER METAPHYSIK
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deckung durch das philosophische Denken mit der Grundfrage der Metaphysik zusammenhängt. Im dritten Schritt versuche ich abschließend zu zeigen, daß und warum Metaphysik im Denken von Transzendenz in ihre äußerste Möglichkeit gelangt, also ihre Grenze und ihre Vollendung zugleich findet. I. Was ist Metaphysik? Genauer: Was sind die Fragen, auf die metaphysisches Denken ursprünglich zu antworten versucht? Diese Frage lenkt den Blick auf den geschichtlichen Anfang der Metaphysik im griechischen Denken von den Vorsokratikern bis zu Parmenides und Piaton. Mit Blick auf diesen Anfang schlage ich vor, Metaphysik als ein solches Denken zu verstehen, das auf das Ganze dessen, was überhaupt ist, ausgreifit und dieses Ganze von einem letzten Grund und Ursprung aus in den Blick nimmt. - Damit greife ich einen Vorschlag von Dieter Henrich zur Bestimmung von Metaphysik auf (Henrich 1999, 194 f. u. ö.). Diese Bestimmung möchte ich zunächst abgrenzen gegen einige gängige Bestimmungen dessen, was Metaphysik ist. Weit verbreitet ist ein Verständnis, für das Metaphysik die Annahme der Existenz einer intelligiblen Welt jenseits der lebensweltlich vertrauten wie der empirisch erforschbaren Realität bedeutet. Historisch geht dieses Verständnis bekanntlich auf die spätantiken Aristoteleskommentatoren zurück. Sie erklären, die merkwürdige Bezeichnung der ersten, grundlegenden und höchsten Disziplin der Philosophie als „Metaphysik" komme daher, weil sie sich mit dem befasse, was über die sinnlich erscheinende und veränderliche Wirklichkeit der Physis hinausgeht. Im Horizont dieses Verständnisses von Metaphysik steht noch Nietzsche, wenn er Metaphysik als die Annahme einer Hinterwelt oder Überwelt perhorresziert. Doch um zu verstehen, was Metaphysik eigentlich und im Grunde ist, ist eine solche ZweiWelten-Lehre, wie sie der Piatonismus in der Tat vertreten hat, weder umfassend noch grundlegend genug. Es gibt bedeutende Formen von Metaphysik wie z. B. die Philosophie Spinozas, die ohne eine jenseitige Welt auskommen. Und für Piatons Denken selber ist die Ideenlehre und mit ihr die Annahme einer intelligiblen Welt aufs Ganze gesehen sekundär gegenüber der grundlegenden Frage nach dem Einen, das alles Seiende in seiner Vielheit überhaupt erst ermöglicht und verstehbar macht.2 Auch die Bestimmung von Metaphysik als Ontologie, wie sie die aristotelische Tradition beherrscht, scheint mir weder umfassend noch wirklich grundlegend zu sein. Sie setzt voraus, daß das Seiende bzw. das Sein das Umfassendste und das Ursprünglichste ist, was überhaupt gedacht werden kann. Diese Voraussetzung teilt noch Heidegger, wenn er der Metaphysik vorwirft, sie habe immer nur das Seiende als das Seiende gedacht und dabei das Sein selbst, das alles Seiende allererst urspünglich sein läßt, ungedacht gelassen. Die Voraussetzung, das Seiende oder das Sein sei das Ursprünglichste, was gedacht werden kann, läßt sich aber durchaus bezweifeln. Ist nicht der Gedanke der Einheit sowohl ursprünglicher als auch umfassender als der Gedanke des Seins? Denn alles Seiende und auch das Sein selbst muß zugleich als Einheit gedacht werden, aber umgekehrt ist nicht jede Einheit notwendig auch seiend oder Sein; auch das Nicht-Seiende muß, soll es überhaupt denkbar sein,
2
Grundlegend dazu bleibt Krämer 1959. Vgl. auch Gaiser 1963.
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als Einheit gedacht werden. Und bekanntlich können wir Vieles denken, das bloß darum, weil wir es denken, noch nicht seiend ist, z. B. Werdeprozesse als Übergänge zwischen Nichtsein und Sein oder auch bloß Mögliches; wir können aber nichts denken, ohne es zugleich als Einheit zu denken, - auch das Viele, das scheinbare Gegenteil des Einen, denken wir notwendig und immer schon als Einheit, nämlich als geeinte Vielheit oder als ein Ganzes aus vielen elementaren Einheiten. Denn Einheit ist die grundlegende Bedingung von Denken und Denkbarkeit überhaupt. Aus derartigen Erwägungen heraus kam schon Piaton zu der Überzeugung, das Eine sei ursprünglicher und grundlegender als das Sein und das Seiende; das wahrhaft und schlechthin Ursprüngliche sei das Eine, das wir in allem Denken immer schon voraussetzen müssen, über das wir im Denken zugleich aber niemals hinausgreifen können, weil mit der Aufhebung des Einen das Denken selbst aufgehoben wäre. Mit dem Gedanken des Einen scheint mir ein Gesichtspunkt gefunden, der für metaphysisches Denken überhaupt und in der ganzen historischen Vielfalt seiner Erscheinungsformen fundamental ist. Es gibt Formen von Metaphysik, die nicht ontologisch verfaßt sind wie die Wissenschaftslehre Fichtes oder verschiedene Varianten des Buddhismus; aber es gibt kein metaphysisches Denken, in dem der Gedanke der Einheit nicht fundamental wäre. Das ist nicht nur faktisch so, sondern kann auch gar nicht anders sein, weil Einheit eben die Bedingung von Denken und Gedachtwerden überhaupt ist. Das besagt natürlich nicht, daß metaphysisches Denken generell monistisch verfaßt sein müßte. Auch pluralistische Formen von Metaphysik wie die von Leibniz sind aber fundamental auf Einheit bezogen, und dies sogar in doppelter Weise. Denn insofern Metaphysik immer auf das Ganze dessen ausgreift, was überhaupt ist und gedacht werden kann, kann sie gar nicht umhin, dieses Ganze als eine wie auch immer näher bestimmte Einheit aufzufassen. Darüberhinaus ist der Ausgriff auf das Ganze allererst dadurch möglich, daß man nach einen letzten Grund und Ursprung sucht, von dem aus sich das Ganze als solches - und d. h. eben als Einheit - in den Blick nehmen läßt. Auch wo eine Pluralität von Prinzipien angenommen wird, sollen diese Prinzipien ja die Wirklichkeit als ein Ganzes begründen; dazu aber müssen jene Prinzipien selber als auf einander bezogene und koordinierte gedacht werden, und damit ist das, was sie koordiniert, als das eigentlich Einheitsstiftende und wahrhaft Ursprüngliche vorausgesetzt, wie schon Piaton bemerkte (Philebos 23 D). Auch historisch ist die Frage nach dem Einen Ursprung älter als jeder Versuch zur Differenzierung der Ursprungsdimension; in Griechenland wie in Indien steht sie am Anfang des Philosophierens überhaupt. Metaphysisches Denken geht also, so scheint mir, immer und notwendig in doppelter Weise auf Einheit aus, insofern es das Ganze des Wirklichen und Denkbaren von einem letzten Grund seiner Einheit her begreifen will. Darum ist Metaphysik in einem ganz grundlegenden Sinne - mit Werner Beierwaltes gesagt - Denken des Einen (Beierwaltes 1985; vgl. auch Flasch 1973); sie ist als Ausgriff auf das Ganze und den Grund seiner Einheit fundamental henologisch verfaßt. Zur Differenzierung hochentwickelter von rudimentären Formen von Metaphysik scheint mir ein drittes Thema grundlegend zu sein. Sobald nämlich der das Ganze begründende Ursprung nicht mehr in einem lebensweltlichen Element wie dem Wasser oder dem Feuer gefunden wird und d. h. sobald metaphysisches Denken im Hinausdenken über alle Erfahrung zu sich selbst kommt, wird in ihm das Denken selber in seiner Verschiedenheit von aller Wahrnehmung ausdrücklich thematisch. Schon früh, bei Parmenides und in den Upanischaden, wird das Denken selber sogar mit dem denkend erschlossenen eigentlichen oder
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wahren Sein identifiziert. Und spätestens Piaton entdeckt die Selbstbeziehung des Denkens in ihrer eigentümlichen Struktur eines Sich-Unterscheidens von sich selbst, das gleichwohl in Einheit mit sich bleibt, die große Paradoxie des Einsseins mit sich im Unterschied, ohne die kein Verhältnis zu sich selbst möglich ist (vgl. dazu Hegel 1986; Krämer 1964). Dieses rätselvolle Selbstverhältnis des Denkens ist zugleich grundlegend für jede Bezugnahme auf „Gegenständliches", weil das Denken in seinem Verhalten zu von ihm selbst Unterschiedenem und Anderem sich allein schon dadurch zugleich auf sich selbst bezieht, daß es jenes Andere von sich unterscheidet; und anders als durch solches Unterscheiden kann sich das Denken überhaupt nicht auf Gedachtes beziehen, weshalb es auch sich selbst von sich unterscheiden muß, um sich auf sich selbst beziehen zu können. Diese ebenso komplexe wie fundamentale Selbstbeziehungsstruktur des Denkens, in der sich das Wissen von sich selbst oder das Selbstbewußtsein konstituiert, wurde noch in der Antike von Plotin nicht nur zum Thema einer eigenen Theorie, sondern auch zum Ausgangspunkt einer umfassenden Metaphysik gemacht, der umfassendsten, die die Geschichte vor Hegel kennt (vgl. dazu Volkmann-Schluck 1966; Beierwaltes 1991; ders. 2001; Halfwassen 1994). Die besondere Aufmerksamkeit, die dem Selbstverhältnis des Denkens in allen hochentwickelten Formen von Metaphysik zukommt, läßt sich, so scheint mir, aus der henologischen Grundverfassung metaphysischen Denkens gut begreifen. Wenn Metaphysik fundamental auf Einheit ausgeht, dann nicht nur auf die Einheit des als wirklich oder seiend Erfaßten, sondern in einem damit auch auf die eigene Einheit des Denkens selber. Diese Einheit ist nun aber eine Einheit von ganz besonderer und rätselvoller Struktur; denn sie kann weder wie die Einheit eines einzelnen Elements oder eines einfachen Gedankens begriffen werden noch auch wie die Einheit eines Ganzen aus einander bloß koordinierten Elementen. Die Einheit des Denkens ist vielmehr einerseits eine ursprüngliche Einheit, die nicht aus einer Synthese der in ihr unterscheidbaren Momente wie Subjekt und Objekt erst hervorgehen kann; denn die Momente dieser Einheit sind nicht von der Art, daß sie unabhängig von ihr überhaupt gedacht werden könnten. Inhalt und Selbst des Denkens, Gedachtes und Denkendes, neuzeitlich also „Objekt" und „Subjekt" sowie der beide vereinigende Denkvollzug sind vielmehr ursprünglich aufeinander bezogene Momente, die nicht voneinander abgetrennt werden können. Andererseits ist die Einheit des Denkens eben aufgrund dieser in ihm unterscheidbaren Momente nicht von ursprünglicher Einfachheit, sondern von in sich komplexer Struktur. Dieser komplexe Einheitssinn des Denkens läßt darum die Frage nach einem Grund aufkommen, dem das Denken selbst seine eigene Einheit verdankt. Hochentwickelte Formen von Metaphysik haben so nicht nur die Einheit der Welt und ihren Grund zum Thema, sondern ebenso die Einheit des Denkens und dessen Grund. Damit aber ergeben sich für sie eine Reihe von Fragen, die sich einem naiven, unmittelbar auf Weltbegreifen ausgerichteten Denken gar nicht stellen: In welchem Verhältnis steht die Einheit der Wirklichkeit zur Einheit des Denkens? Ist etwa die Einheit unseres Selbstbewußtseins der Grund dafür, daß wir alles, was immer wir als wirklich erfassen, als Einheit und in der Einheit einer Welt einbegriffen denken müssen? Oder ist umgekehrt der Einheitsvorgriff des Denkens ursprünglicher noch als dessen Selbstbezug? Und wie verhält sich der Einheitsgrund der Welt zum Einheitsgrund des denkenden Selbstbewußtseins? Ist das Verhältnis des Denkens zu seinem Einheitsgrund von anderer Art als das der Welt zu ihrem
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Grund? Handelt es sich bei der Einheit der Welt, der Einheit des sich wissenden Denkens und der Einheit des Ursprungs um verschiedene Weisen von Einheit? Und kann der Einheitsgrund des Selbstbewußtseins selber noch von der Art des Geistes sein? Die Geschichte der Metaphysik kennt auf jede dieser Fragen verschiedene Antworten. Aber daß sie sich überhaupt stellen, führt dazu, daß den hochentwickelten Metaphysiken, in denen sie thematisch werden, eines gemeinsam ist: sie alle entfalten sich aus der spezifischen Konstellation zwischen dem Einheitsbedürfiiis und dem Selbstverhältnis des Denkens und versuchen aus dieser Konstellation heraus, einen Zusammenhang zwischen dem Ganzen der Welt, dem Denken in seinem Selbstbezug wie in seinem Seinsbezug und einem universal einheitsstiftenden Ursprung zu denken. Metaphysik ist dort voll entfaltet, wo dieser Zusammenhang in umfassender Weise begrifflich artikuliert wird; sie gewinnt dann den Charakter einer Metaphysik des Geistes, die in einer Metaphysik des Einen entweder fundiert ist oder mit ihr zusammenfallt. In Europa ist das zum ersten Mal in der Philosophie Piatons der Fall; die umfassendsten Entwürfe solcher Art finden wir im Neuplatonismus und im nachkantischen deutschen Idealismus. Sie verbinden sich mit den Namen Plotin, Proklos, Damaskios, Johannes Eriugena und Nikolaus von Kues einerseits sowie mit Fichte, Hegel und Schelling andererseits. Weil die Entdeckung der Transzendenz durch die Metaphysik sich in der Antike vollzogen hat, konzentriere ich mich im folgenden auf den Piatonismus.
II. Ich werfe nun einen Blick auf die Geschichte des Begriffs „Transzendenz".3 Das Verb transcendere und seine Ableitungen kommen in philosophisch prägnanter Bedeutung erstmals bei Augustinus vor, und zwar in einem Zusammenhang, in dem sie evidentermaßen der Wiedergabe von Plotins Terminus amßaivsiv dienen, womit Augustinus vermutlich der verlorenen Plotin-Übersetzung des Marius Victorinus folgt; avaßaiveiv gebraucht Plotin terminologisch für den Aufstieg von einer Stufe der Wirklichkeit zu der sie begründenden und übersteigenden höheren Stufe, es bedeutet Aufsteigen und Übersteigen in einem und hat diese Bedeutung auch schon bei Piaton. Terminologisch höchst aufschlußreich sind sodann die lateinischen Übersetzungen des Ps.-Dionysius Areopagita, dessen Schriften vom 9. bis zum 17. Jahrhundert mehr als ein halbes Duzend Mal ins Lateinische übersetzt worden sind; durch ihre weite Verbreitung waren diese Übersetzungen stilbildend für die lateinische Schulterminologie der Philosophie. Eine Auswertung dieser Übersetzungen ergibt, daß mit transcendere und transcendens vor allem die Platonischen, Plotinischen und Proklischen Termini /israßabsiv, imegßaivew, exßaiveiv, s^g^ivoi und - vor allem anderen — snexeiva sowie alle möglichen Komposita mit umg wiedergegeben werden. Die Begriffsgeschichte der Transzendenz fuhrt uns somit von Augustinus und Ps.-Dionysius über deren neuplatonische Quellen zurück zu Piaton, dem Begründer der europäischen Metaphysik. Von ihm stammt die Begrifflichkeit, in der das metaphysische Denken seither Transzendenz denkt. Schon in Piatons Gebrauch der einschlägigen Begriffe läßt sich eine doppelte Verwendung feststellen im Sinne einer starken und einer schwachen Transzendenz. Transzendenz und Transzendieren meinen bei Piaton nämlich einerseits das Überstiegsverhältnis der je-
3
Vgl. zum folgenden Halfwassen 1999a. Dort sind alle nötigen Belege zusammengestellt.
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weils ursprünglicheren Seinsstufe zu den von ihr abgeleiteten und ontologisch abhängigen Stufen, also z. B. der Idee zu ihren Erscheinungen, sowie den Überstieg des Denkens von diesen zu jener. Diese graduelle Transzendenz, die in den Platonischen Dialogen sehr häufig zu belegen ist, stellt aber nur die schwache Variante von Transzendenz dar. Sie ist darum schwach, weil das Denken in der Lage ist, das Transzendente und das von ihm Transzendierte zu einer Einheit zusammenzufassen, indem es das größere Ganze in den Blick nimmt, das diese «m/jene Seite, Begründetes und gründenden Grund gleichermaßen umfaßt. Das Auszeichnende der Platonischen Entdeckung der Transzendenz liegt nun aber darin, daß schon Piaton von dieser schwachen graduellen Transzendenz die absolute oder reine Transzendenz unterscheidet, die nicht mehr mit dem, was sie transzendiert, in die Einheit eines Überstiegenes und Übersteigendes gleichermaßen umfassenden Ganzen zusammengefaßt werden kann, weil absolute Transzendenz gerade kein graduelles Zuhöchstsein innerhalb eines zusammenhängenden Ganzen von Seinsstufen meint, sondern das Herausgenommensein aus der Totalität des Seins und des Denkbaren schlechthin, somit eine radikale Jenseitigkeit, die selber nicht mehr zu einem Diesseits werden kann, indem man ein wie umfassend auch immer gedachtes All-Ganzes in den Blick nimmt, weil sie genau das meint, „was aus jeder Ganzheit herausgenommen ist und sie transzendiert", wie Proklos formuliert (Proklos, In Piatonis Parmenidem Commentarius, Col. 1107, 32-33 Cousin). Terminologisch steht für diese absolute Transzendenz bei Piaton das smxeiva, insbesondere in der berühmten Formulierung énéxsii/a ovo-lag (Politeia 509 B), wo es das Übersteigen der Totalität des intelligiblen Seins meint; innerakademisch sind auch die Varianten emxeiva rov ovro «
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Abb. 1
mittelalterliche Darstellungen zurückgehender Strang bezieht sich auf die Wurzel Jesse und den christlichen Lebensbaum.6 Von hier aus diversifizierten sich verschiedene Verwendungen arboresker Tafeln und Ahnengalerien. Derartige Gebilde konnten als veritable Stämme oder auch in Form sich verzweigender Äste vorgeführt werden;7 wichtiger aber war das Baummodell des Neuplatonikers Porphyrios,8 das allen Bestandteilen und Begriffen der Natur von der Art und der Spezies Mensch über das Tier, das Lebewesen, den Körper und die Substanz bis zur krönenden Gattung den angemessenen Ort zu geben suchte. Mit der Gattung (genus) und der Art (species) sind die End- und Ausgangspunkte der Arbor porphyriae bis heute maßgebliche Begriffe geblieben.9 5 6 7 8 9
Dennett, 1995,283. Goetz, 1965, Abb. 117; vgl. Schmidt Burkhardt, 2000, 31 f. Barta, 2001, 52, Abb. 33; 57, Abb. 40. Wöhler, 1992,3-20. Zimmermann, 1953, 77 f. Vgl. zur Geschichte dieses Modells Wendler, 2003,4-31.
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Da die Stufen der Verallgemeinerung bei Porphyrios in einer geraden Linie aufstiegen, konnten sie auch als Leiter oder Kette Vers. Infnsoires. Polypes. angesprochen werden.10 Im Jahre 1764 hat Radiaires. Charles de Bonnet die Idée d'une Échelles des Etres Naturels propagiert," um sie mit der Insectes. Frage zu verbinden: „Sollte sich die Leiter der Arachnides. Annelides. Crustacés. Natur beim Höhersteigen verzweigen? Wären Cirrhipèdes. die Insekten und die Schalentiere zwei parallel Mollusques. laufende Seitenzweige dieses großen Stammes?"12. Poissons. Reptiles. Derartige Einstufungen und Verzweigungen dienten zur Binnendifferenzierung einer gegebenen Natur, die ihre Arten nicht entwickelte, Oiseaux. sondern immer neue Spezies der prädestiMonotrèmes. nierten Ordnung preisgab. Prozeßuale VorM. Amphibies. gänge suggerierte erst der Begründer einer transformatorischen Evolution, Jean-Baptiste M. Cétacés. Lamarck,13 der im Baummotiv die Möglichkeit 14 erkannte, Statik und Evolution zu verbinden. M. Ongulés. M. Onguiculés. Sein Diagramm der Philosophie zoologique von 1809 (Abb. 2) zeigt neben den rechts oben isolierten Infusorien, Polypen und Strahltieren Abb. 2 von links oben an aus Punken angedeutete Linien, die von Würmern zu Insekten, Arachniden und Crustaceen sowie zu Anneliden, Cirripedien und Mollusken gehen, um dann zu den Fischen und Reptilien zu wandern, die sich nach links in Vögel und Monotremen und nach rechts in Amphibien und Cetaceen sowie in ungulate und unguiculate Säugetiere verzweigen.15 Da Lamarck keinen mittleren Stamm und vor allem keinen geraden, vom oberen Bildrand her ausgehenden Basisstamm vorsah, fallt es allerdings schwer, in seinen Punktlinien eine arboreske Struktur zu erkennen. Seine Erläuterung, daß „l'échelle animale commençe au moins par deux branches particulières, et que, dans le cours de son étendue, quelques rameaux paraissent la terminer en certains endroits"16, spricht nicht ohne Grand erneut von einem Zwitter aus Leiter und sich ausdehnenden, verzweigenden und absterbenden Ästen eines Baumes, wie dies von Porphyrios bis Bonnet tradiert worden war. Durch diese Ver10 11 12 13 14
15 16
Lovejoy, 1985. Bonnet, 1779, vor 1. Zitiert nach Zimmermann, 1953,215. Junker und Hoßfeld, 2001, 49 ff. Die Liniengliederung, die Lamarck den Organen der Verdauung, Atmung, Fortbewegung, Zeugung, des Gefühls (Nerven) und der Zirkulation vornahm, bestärkte die Symbolik des Statischen (Lamarck, 1815, 367; vgl. Metraux, 2001, 16). Zimmermann, 1953, 347. Lamarck, 1994, 648.
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bindung von Leitersprossen und Zweigen hat Lamarck seinen Transformismus, dessentwegen er ebenso gefeiert wie attackiert wurde, in einem Vexierbild festgehalten, das je nach Blickart sowohl die Idee der festgefugten Natur wie auch ihres evolutionären Wachstums auszudrücken vermochte.
3. Die Konkurrenz um die Lebensbaummetapher Darwin hat Lamarcks Transformismus abgelehnt, Elemente von dessen Diagramm aber übernommen. In dem im Juli 1837 begonnenen Notizbuch B, das die Erfahrungen der Reise auf der Beagle festhielt, hat er seinen Einspruch gegen Lamarck damit gewürzt, daß er das Baummotiv als Metapher der Makroevolution gegen dessen These von der willentlichen Veränderung der Arten17 gestellt hat: „organized beings represent a tree, irregularly branched some branches far more branched. - Hence Genera"18. Kurz danach verknüpfte Darwin auch die zweite Erwähnung des Baummotivs mit einer Kritik des Lamarckismus, dessen Hauptproblem in der Überwindung der Grenzen zwischen Luft-, Wasser- und Landbereich lag. Während Lamarck von Transformationen der Lebewesen innerhalb der gegebenen Grenzen ausgegangen war, ordnete Darwin mit Wasser, Erde und Luft die verschiedenen Räumen der Natur drei Baumzweigen zu, von denen aus die Artenklassen die anderen Stränge zu erobern suchten: „Would there not be a triple branching in the tree of life owing to three elements air, land & water, & the endeavour of each [one] typical class to extend his domain into the other domains. & subdivision [six] three more, double arrangement."19 Allerdings dauerte es bis zur Origin of Species von 1859 über zwanzig Jahre, bis Darwin sein arboreskes Naturmodell zu veröffentlichen wagte. Am Ende des Kapitels über die Natürliche Auslese hat Darwin neben dem Zweigschema den mit Stamm, Zweigen und Blättern versehenen natürlichen Baum mit einer sich ins Literarische steigernden Inbrunst als Modell jener Evolution beschrieben, bei der die Triebe nach allen Seiten auswachsen, „to overtop and kill the surrounding twigs and branches [...] in the great battle for life"20. Während die grünen Zweige die noch im Lebenskampf befindlichen Arten darstellen, repräsentieren die verdorrten die ausgestorbenen Spezies. Die mächtigen Äste, die einstmals nur Triebe waren, ihren Kampf um das Überleben aber erfolgreich auf Kosten ihrer Nachbarn bestanden haben, erklären Darwin zufolge die geringe Zahl der Arten, aus denen die Fülle der Spezies hervorgeht. Kleinere Äste, die am unteren Teil der Stämme geblieben sind und bisweilen in gewissem Grade gar zwei Hauptstämme überbrücken, zeigen das zufallige Überdauern von Spezies in Umweltnischen, und die toten, vom Stamm abgefallenen Äste bilden die Fossilien früherer Arten. Wie beim Wachstum eines Baumes, so Darwin, war es auch bei dem „great Tree of Life, which fills with its dead and broken branches the crust of the earth, and covers the surface with its ever branching and beautiful ramifications"21. ,,[C]hanges not result of will of animal, but law of adaption" (Darwin, 1987, B 21, 176; vgl. Gruber, 1975, 141). 18 19 20 21
Darwin, 1987, B 23,176. Darwin, 1987, B 23, 176. Darwin, 1859, 129. Darwin, 1859,130.
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Der Grund für die zeitliche Kluft zwischen Darwins Formulierung der Baummetapher im Notizbuch von 1837 und der emphatischen Evokation dieses Modells lag an seinem Zögern, seinen Überlegungen die Unabänderlichkeit der gedruckten Form zu geben.22 Der Anstoß zur Überwindung seiner Bedenken kam von außen. Im Jahre 1840 hatte der Mitstreiter Hugh E. Strickland in der renommierten Zeitschrift Annals and Magazine of Natural History einen aufsehenerregenden Artikel über die Systematisierung der Arten publiziert. Er gehört bis heute zu den erheilendsten Beiträgen visueller Repräsentation überhaupt. In einer luziden Argumentation, die in Bezug auf die Natur alle Ordnungsvorstellungen zurückwies, die sich mit der Kette, dem Kreis und dem Netzwerk oder abstrakten Regeln wie der Zahlentheorie und der Symmetrie verbanden,23 betonte er die grundlegende Irregularität aller Varianten. Die Natur, der man durch das „wild luxuriance of her ramifications" folgen müsse,24 sei gegenüber allen früheren Vorstellungen, die eher dem menschlichen Ordnungstrieb als der Bewegungskraft der Natur verpflichtet seien, am besten im Bild eines Baumes zu fassen: „The natural system may, perhaps, be most truly compared to an irregular branching tree."25 Sechzehn Jahre später antwortete der junge Naturforscher Alfred R. Wallace in seinem epochalen, 1856 ebenfalls in den Annals and Magazine of Natural History publizierten Artikel zur Entwicklung der Arten auf Stricklands Aufsatz.26 Angesichts des Umstandes, daß Wallace in diesem knappen Betrag die Grundthesen von Darwins Entwicklungslehre vorwegnahm, ist kaum beachtet worden, daß er sich noch entschiedener als Strickland auf das Bild des Baumes festlegte. Um die Affinitäten zwischen den Arten und deren Geschichte zu verdeutlichen, nutzte er in einem ersten Aufsatz von 1855 den Eichenbaum, dessen Stamm und Äste ihm zufolge jene ausgestorbenen Arten darstellten, von denen es keine Kenntnis mehr gibt, wohingegen die kleineren Zweige und Blätter die noch lebenden und überschaubaren Spezies repräsentierten.27 Darwin hat den Artikel von Wallace besessen, und er hat ihn sofort nach Erhalt und dann nochmals im Jahre 1857 gelesen, als er durch mehrere Hinweise seiner Mitstreiter in Alarmstimmung versetzt wurde, daß Wallace ihm die Schau stehlen würde. Spuren dieser Lektüre bestehen in den Anstreichungen, mit denen Darwin die Passage zur Baummetaphorik der Natur in seinem Exemplar von Wallace's Artikel versehen hat, sowie in seiner Zusammenfassung des Aufsatzes, die er mit der Feststellung verband: „His general summary ,Every species has come into existence coincident in time and space with pre-existing species' [Wallace] Uses my simile of tree."28 In einem im September 1857 an Asa Gray gerichteten Brief hat Darwin, die Herkunft seiner Argumentation aus Wallace's Aufsatz von 1855 nur mühsam verbergend, das Baummotiv nochmals als eigene Erfindung ausgegeben: „This, I believe, to be the origin of the classification or arrangement of all organic beings at all times. These always seem to branch 22
Gruber, 1988, 127.
23
Strickland, 1840,186 ff. Strickland, 1840, 192. Strickland, 1840, 190. Wallace, 1856,206. Wallace, 1855, 187; Brooks, 1984, 74 f. Zit. nach Brooks, 1984, 244.
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und sub-branch like a tree from a common trunk; the flourishing twigs destroying the less vigorous - the dead and lost branches rudely representing extinct genera and families."29 Dies war der Moment der Entscheidung, Wallace's Baummetaphorik durch eine Bestimmung der Natural Selection als Lebensbaum zu übertrumpfen und dieses Bild für immer mit seiner sprachlichen Bildkraft zu verbinden. Wenn Darwin mit den Sätzen beginnt, „The affinities of all the beings of the same class have sometimes been represented by a great tree. I believe this simile largely speaks the truth",30 wird er die „gnarled oak"31 oder auch den „monarch of the forest"32 im Auge gehabt haben, die Wallace als Metaphern der Evolution vorgeschlagen hatte. Fraglos verdankt sich die literarische Brillanz dieses Schlußabschnittes der Natural Selection auch dem Antrieb, seine eigenen, nicht publizierten Überlegungen zur Baummetaphorik nachholend einzubringen.33 Es war Wallace's Vorstoß, der Darwin veranlaßte, seine Bedenken zu überwinden, die Origin of Species aus einem weitaus umfangreicheren Manuskript zu abstrahieren, seine Evolutionstheorie durch das Sprachbild des Lebensbaumes zu verdeutlichen und das Manuskript schließlich im Jahre 1859 zu publizieren.34 Darwin hat seine Überlegung zur baumförmigen Evolution veröffentlicht, weil er die Gefahr sah, daß ihm die Metapher aus der Hand genommen würde.
4. Das Diagramm der Origin of Species Das Evolutionsdiagramm der Origin of Species ist von derartigen Überlegungen frei. Darwin hat ihm einen umfangreichen Kommentar hinzugefugt, der allein auf das Zusammenspiel der graphischen Elemente mit den Buchstaben und Zahlen eingeht.35 Unten ansetzend, hat er zunächst die unterbrochenen Linien als Stränge sich durchsetzender Arten bestimmt. Während A bis D und G bis L in ihren nach innen gerichteten Linien auf ein gemeinsames Urelternpaar zurückweisen, laufen die Arten E und F in sich stabil durch die Abfolge der Generationen, ohne sich einander anzunähern. Die horizontalen Schichten I bis X zeigen Darwin zufolge, wie die beiden dominanten Arten A und I immer neue Varianten ihrer selbst hervorbringen. Die römischen Ziffern kennzeichnen jeweils Einschnitte, an denen nach dem Ablauf einer fiktiven Setzung von eintausend Generationen signifikante Veränderungen eintreten. Es sind idealtypische, millenarische Größen, denen zufolge sich nach zehn Etappen schließlich auf der Linie X drei neue Arten a10, f 1 0 und m10 ergeben. Im oberen Register schließlich, das die Entwicklungsstränge erneut zu stärkeren Linien verdickt und begradigt, zeigt sich, daß die beiden Arten A
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Brief vom 5. 9. 1857 (Darwin, Francis, 1887, Bd.2, 127; vgl. Brooks, 1984, 207). Darwin, 1859, 129. Wallace, 1855,187. Wallace, 1855, 192. Er könnte zusätzlich dadurch bestärkt worden sein, daß der Heidelberger Zoologe Georg Heinrich Bronn im Jahr vor der Veröffentlichung von Origin of Species einen veritablen Baum als Diagramm der Höherbildung der Arten vorgeführt hatte (Bronn, 1858,481). Brooks, 1984, 229 ff. Darwin, 1859, 116-126.
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und I ihre Nachbarn ausgelöscht haben, so daß neben der stabilen Art F nur mehr Varianten dieser beiden dominanten Spezies übrig bleiben. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um das Baummodell überrascht, daß Darwin bei aller Subtilität seiner Beschreibung geradezu peinlich vermeidet, arboreske Motive zu verwenden. Die semantische Lücke zwischen Darwins emphatischer Aufrufung der Lebensbaummetapher und seinem Kommentar zum Diagramm wiegt umso schwerer, als sie sich in seinem gesamten Opus magnum fortsetzt. Darwin hat den Baum nur mehr an einer einzigen weiteren Stelle der Origin of Species, und dies eher beiläufig, aufgenommen.36 Teile des Baumes wie der Stamm oder die Blätter hat er nirgends wiederholt, und branches bedeuten bis auf eine Ausnahme37 nicht „Zweige", sondern „Linien".38 An einer markanten Stelle charakterisiert Darwin die Spezies einer Gruppe in der Tradition von Lamracks Mixtum von Kette und Leiter als „one long and branching chain of life"39. In der einzigen Passage, in der Darwin einen Zusammenhang zwischen Baumstruktur und Diagramm herstellt, ist eher die Problematik als das Gelingen des Motivs betont. Die Geschichte einer alten Familie, so Darwin, könnte durch einen Stammbaum nur schwer, keinesfalls aber ohne dessen Hilfe dargestellt werden; dasselbe gelte umso mehr für die natürlichen Familien der Arten, deren Entwicklung ohne Diagramm nicht zu erfassen und dennoch kaum begreiflich zu machen sei.40
5. Die Korallenmetapher Diese Leerstellen zwischen Diagramm und Lebensbaum sind kein Zufall; vielmehr sind sie bereits im Notizbuch von 1837 angelegt. Im selben Moment, in dem Darwin die Evolutionstheorie zu visualisieren sucht, weicht er in seinen skizzenhaften Überlegungen vom Sprachbild des Baumes ab, und damit exerziert er schon hier den inneren Konflikt der Origin of Species Darwins erstes, kurz nach der Erwähnung des Baummodells entworfenes Diagramm zeigt mit der Verwendung von Punkt, Linie und Fläche erneut, daß sein Antipode, Lamarcks Transformismus, auch eine Quelle nachhaltiger Anregungen war.41 Lamarcks aus Punkten gebildeten Linien wurden für Darwin das 36
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V,/-/ Abb. 3
Das langsame Entstehen von Artgruppen charakterisiert Darwin im Kapitel über die Lückenhaftigkeit der geologischen Befunde als „branching of a great tree from a single stem" (Darwin, 1859, 317). Der Baumvergleich ist hier nicht evolutionär, sondern mimetisch verwendet, und auch dies nicht ohne Einschränkung. Der Hauptnerv des Coccus, so Darwin, „may almost be compared to the irregular branching of the stem of a tree" (Darwin, 1859, 46). Neben dem Diagramm-Abschnitt, in dem mehrfach „Zweige" als „Linien" gemeint sind (Darwin, 1859, 119-126), geschieht im übertragenen S inn dasselbe in Kapitel VI :„[... ] branching off in two fundamentally different lines" (ebd., 187). Darwin, 1859, 301. Darwin, 1859,431. Desmond und Moore, 1992,48 ff.
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Muster jahrzehntelanger Überlegungen. Die obere, an Lamarcks Schema erinnernde Skizze läßt in unregelmäßiger Form eine Linie nach oben wandern (Abb. 3, vorhergehende Seite)42. Mit ihren Punkten deutet sie die hypothetischen Folgen von ausgestorbenen Spezies an, während die drei ausgezogenen Stränge die rekonstruierbaren Entwicklungen noch lebender Arten anzeigen. Rechts unten verzweigt sich eine Linie, welche die Abstammung der Fische auf einfache Organisationen zurückverfolgen läßt.43 Die untere Krakelur (Abb. 4)44 bildet bereits am Ausgangspunkt eine Verästelung, die in den nach links abgehenden Punkten eine hypothetische Abstammungslinie zeigt.45 Bei aller Übernahme der formalen Elemente könnte der Unterschied gegenüber Lamarcks Mischung aus Stufenleiter und Baum größer nicht sein. Während dieser die Punktlinien einsetzte, um die ungesicherten Erkenntnisse der Forschung anzuzeigen, markierten die Punkte bei Darwin nicht etwa die Zonen des noch Unbekannten, sondern die nur in Fossilien überlieferten Bereiche der ausgestorbenen Arten. Einschneidender noch ist Darwins Abwendung von der Baummetapher. Über den beiden Skizzen, die in der Forschung als erste Baummodelle gelten, hält Darwin das lapidare Statement fest: „The l tree of life should perhaps be called the coral of life."46 Der Grund N' i^. für diesen Wechsel vom Baum zur Koralle liegt in einer neuerlichen Zurückweisung Lamarcks. Mit Blick auf die abgestorbenen Teile / der Korallen konnte Darwin die Lamarcksche These vom kontinuierlichen Wandel zugunsten eines Dramas zurückweisen, in dem es um Tod und Überleben geht: „base of branches dead; so that passages cannot be seen. - this again offers contradiction to constant succession Abb 4 of germs in progress"47. Darwins dritte Zeichnung bekräftigt diesen Gedanken (Abb. 5, nächste Seite)48. In diesem Modell streben drei Linien von einem mit der Ziffer 1 bezeichneten Strang ab. Nach links geht allein ein kurzer, durch einen Buchstaben charakterisierter Strich, wohingegen sich die nach rechts abgehende Linie auffächert. Rechts unten sind ihre als A-Klasse charakterisierten drei abgestorbenen Arten durch Querbalken zum Ende gebracht. Die nach oben gehende Linie zeigt entsprechend die abgestorbenen Spezies der Gruppen B, C und D. Den dreizehn verendeten Arten stehen insgesamt dreizehn noch lebende Spezies in Form von Zweigen ohne finalen Querstrich gegenüber, womit die Balance von Sein und Vergehen, der Darwin zu diesem Zeitpunkt im Rahmen seiner Monadenlehre anhing, gewahrt ist.49 Da er die Ausgangslinie 1 mitzählt, ist auch diese in den Wachstumsprozeß eingebunden und könnte potentiell ebenfalls ausschlagen.
42 43 44 45
46 47 48 49
Darwin, 1987, B 25, 177. „It is thus fish can be traced right down to simple organization" (Darwin, 1987, B 26, 177). Darwin, 1987, B 25, 177. Gruber, 1988, 126. Das Gebilde zeigt die gegenüber den Fischen komplexere Abstammung der Vögel (Darwin, 1987, B 27, 177). Darwin, 1987, B 25, 177. Darwin, 1987, B 25, 177. Darwin, 1987, B 36, 189. Darwin, 1987, B 36, 189; vgl. Graber, 1974, 143 f.
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Abb. 5
Die Koralle weist eine weitaus variablere Bewegungsrichtung auf als der hierarchisch ausgerichtete Baum. Besonders an dem gezeichneten Korallenmodell von Darwins Monadologie besticht, daß die Verzweigungen nicht allein nach oben, sondern in alle Richtungen wuchern zu wollen scheinen. Die Fülle der Bewegungen des Zufalls, wie Darwin sie im Bild der Koralle beschrieb, bezeugte die Evolution als freies Lebenskampfspiel besser als die Hierarchie der Bäume und ihrer Äste.50 Jenem „law of chance", das Darwin in der scheinbar unendlichen Fülle und Verteilung der Formen wirken sah,51 widersprach das suggestive Telos der arboresken Natural Selection. Die Koralle vermochte nicht nur das Bild der Evolution als ein Schlachtengemälde mit lebendigen Siegern und versteinerten Toten besonders plastisch zu vermitteln; in ihrer metamorphotischen Qualität und ihrer anarchischen Wachstumsform stand sie zudem für eine freiere Art des Wachstums, und hierin konnte sie dem Zufallscharakter der Evolution weitaus eher entsprechen.
6. Die Koralle der Naturgeschichte Darwins Korallenschema war jedoch seinerseits keineswegs zufällig; vielmehr bezog er sich auf einen Organismus, der bereits seit der Antike als Bildsymbol der gesamten Natur gedient und in dieser Bestimmung eine größere Rolle gespielt hatte als das Baummodell. Korallen waren verehrt worden, weil sie unter Wasser als weiche und schillernde Pflanzen 50
51
Gruber sieht im Baum das Prinzip des Zufalls dominieren (1988, 131); für Darwin aber bedeutete er umgekehrt eine zu regelhafte Ordnung. Darwin, 1987, B 55e, 185. Dem stehen Darwins Regeln der Evolution gegenüber. Das Schlußbild der Origin ofSpecies mit der entangled bank enthält beide Seiten: Darwin, 1859, 489 f.; vgl. Gruber, 1988, 124.
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erschienen, in der Sonne aber zu kostbarem Stein härteten und dadurch als Symbolwesen aller Metamorphosen gelten konnten. Ovid hatte diese Verwandlung in die berühmten Verse gebracht: „Immer noch bleibt den Korallen das nämliche Wesen: sie werden / Hart, wenn die Luft sie berührt, und was in dem Meer Gezweig war, / Wird, enthoben dem Meer, zu starrem Stein gestaltet."52 Durch ihre Überbrückung von Wasser- und Erdreich schienen Korallen ein Gegenbild zu den zerstörerischen Kräften der Natur zu bieten. So zeigt etwa das Gemälde der Korallenfischer Pietro da Cortonas (Abb. 6), wie ein Tritone einer Erdnymphe die Wasserkoralle als Symbol einer Vermählung zwischen Meer und Land zum Geschenk macht. Sie wird zum Zeichen des Friedens und des Einklanges zwischen den Menschen und einer Wassernatur, die im Luftreich nicht abstirbt, sondern zum prachtvollen Präsent transmutiert.53 Korallen gehörten in ihrer einzigartigen Mittelstellung zu den bevorzugten Studienobjekten der Mineralogie, und sie waren eine der Hauptgruppen der Exponate von Kunstkammern.54 Dort wurden sie mit anderen Gebilden wie etwa Nautilusschalen auf besonders kostbare Weise zusammengefügt. 55
Abb. 6
Darwin hat diese naturphilosophische Strahlkraft der Koralle nicht etwa verabschiedet, sondern vollendet. Auch für ihn war die Koralle das Modell einer Natur, die den Konflikt von Meer und Land überwunden hatte. Selten erreichte seine Sprache eine solch literarische Inspiration wie anläßlich der Begegnung mit einem Korallenriff, gegenüber dem die Ozeanbrandung ein unbesiegbarer Feind zu sein scheint: „The ocean throwing its waters over the 52
53
54 55
Ovid, Metamorphosen, IV, 750-753, in: Ovidius, 1958, 286/287; vgl. Plinius, XIII, LI, Nr.140, in: Plinius, 1977, 178/179. Solinas, 2001, 237 f.; vgl. Cole, 1999, 228 ff. Die Quellen liegen bei Ovid, Metamorphosen, IV, 740 ff. und Plinius, XXXII, 11; XXXVII, 164; grundlegend: Frontisi-Ducroux, 1996. Solinas, 2001,238. Syndram, 1999, 133.
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broad reef appears an invincible, all-powerful enemy, yet we see it resisted and even conquered by means which at first seem most weak and inefficient."56 Angesichts dessen, daß die unwiderstehliche, geradezu erhabene Gewalt der Ozeanbrecher künstliche Inseln selbst aus Porphyr, Granit oder Quarz zertrümmern würde, rühmt Darwin die Kraft der lebendigen Korallen mit der denkwürdigen Preisung: „Let the hurricane tear up its thousand huge fragments; yet what will this tell against the accumulated labour of myriads of architects at work night and day, month after month. Thus we do see the soft and gelatinous body of a polypus, through the agency of the vital laws, conquering the great mechanical power of the waves of an ocean, which neither the art of man, nor the inanimate works of nature could succesfiilly resist."57 Durch ihre unermüdliche Tätigkeit in winzigen, über lange Zeiträume aber effektvollen Schritten hätten die Korallen, so Darwin, riesige Bauwerke errichtet, die eindrucksvoller seien als die größten antiken Ruinen.58 Auch die kreisförmigen Riffe, die eine innere Riffnadel umhüllen, vergleicht Darwin mit einem Kunstwerk: „Can any thing be more singular than this structure? It is anlogous to that of a lagoon, but with an island standing, like a picture in its frame, in the middle."59 Der Kontrast zwischen den schwarzen Wogen des Ozeans und der hellen, fast unbewegten Glätte des vom Riff beschützten Wassers bedeutet fur Darwin einen der großartigsten Eindrücke seiner gesamten Reise.60 Auch für ihn bietet die Koralle eine Befriedung des Konfliktes von Meeresgewalt und Land, und ihre in Jahrtausenden errichteten, aus einer Unzahl winziger Prozesse hervorgegangenen, kilometerlangen Bauwerke mögen ihm im Rückblick wie Symbolkathedralen der Evolution erschienen sein, deren noch so winzige biologische Motorik jedweder mechanischen Gewalt überlegen war.
7. Der Tang und der Eigensinn des Bildes Die Koralle war nicht die einzige Alternative zur Metapher des Baumes. Stricklands Votum für das Baummotiv war mit seinem Plädoyer für die Wiedergabe einer geradezu anarchischen Entfaltung der Natur nicht bei dieser Metapher stehengeblieben; vielmehr hatte er bestimmt, daß selbst der irregulär wachsende Baum eine zu stark ordnende Semantik besäße, so daß eher an eine „assemblage of detached trees and shrubs of various sizes and modes of growth" zu denken sei.61 Eine nicht datierbare Äußerung Darwins, in der er seinerseits die Metapher des Baumes in Frage stellt, geht in dieselbe Richtung wie Stricklands Vorschlag, eher das Bild eines Baumhaufens oder des Durcheinanders verschiedener Buschzweige zu nutzen. „Tree no good simile", so lautet die lapidare Bemerkung, die erneut eine Alternative unter Wasser findet: „endless piece of seeweed dividing"62. Tangmodelle von Darwins Hand sind nicht überliefert,
56 57 58 59 60 61 62
Darwin, 1989, 338; übers, nach: Darwin, 1962, 782. Darwin, 1989, 338; übers, nach: Darwin, 1962, 783. Darwin, 1989, 342. Darwin, 1989, 343. Darwin, 1989, 343 f. Strickland, 1840, 190. Gruber, 1988, 127, ohne Nachweis.
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aber seine Korallenskizzen hatten bereits ins Spiel gebracht, was ihn auf das Bild des Seetanges kommen ließ und was Stricklands Argumentation unterstützte. Die Lösung findet sich unter jenen Naturobjekten, die Darwin im Januar 1834 in Argentinien gesammelt und nach England überfuhrt hatte. Unter ihnen befanden sich korallenförmige Arten von Algen und Seetang, deren Formen zwischen der Gestalt hierarchisch gestaffelter Bäume und sich verschlingender Büsche variieren.63 Die am Strand von Puerto Deseado der Provinz Santa Cruz stammende Amphiora obrignyana (Abb. 7)64 weist eine auffallende Ähnlichkeit zum rechten Arm des Diagramms auf. Ihr Umriß fugt sich so eng zum oberen Fächerteil der Abb. 7 Spezies I (Abb. 8, nächste Seite), daß hier nicht von einem abstrahierten Baumzweig, sondern von der Umsetzung einer korallinen Tangart gesprochen werden kann. Damit aber hat Darwin eine Form jener Spezies in sein Modell der gesamten Natur eingeschrieben, die er im Auge hatte, als er erstmals im Jahre 1837 über die Visualisierung seines Evolutionsprinzipes nachdachte. Indem Darwin der Verzweigung des Diagramms die Form eines korallenförmigen Seetanges eingeschmuggelt hat, vermochte er den Konflikt zwischen Gerichtetheit und Kontingenz zu mildern. Darwin hat seine Dynamisierung der Naturgeschichte zunächst in ein diagrammatisches Bild gebracht, in dem das Gespinst des Struggle for Life auf einen Blick erkennbar sein sollte. Der Gedanke war ohne das Bild nicht zu begreifen. Der durch das Zusammenspiel von Punkt und Linie, Buchstabe und Ziffer symbolisierte Überlebenskampf der Arten wurde damit zum Medium der Explikation des Systems an sich. Der Bildkommentar erlaubte eine analytische Präzision, die der Primärstoff der Natur in seiner unbegrenzbaren Variabilität nicht zu bieten vermochte. Das Bild wurde zur wahren Natur der Evolution. Nicht als Naturbeschreibung, sondern als Kommentar zu einem Diagramm hat Darwin die Essenz seiner Evolutionstheorie formuliert. Um seine Origin of Species fertigzustellen, hat sich Darwin durch zwei Jahrzehnte schwerer Bedenken kämpfen müssen. Das Diagramm trägt noch die Spur seines Selbstzweifels, und gerade hierin ist es so überzeugend. Darwin war zu skrupulös, um nicht den eigenen Einwänden gegenüber der Baummetapher Raum zu geben. Medium dieser Bedenken war das Diagramm. Wenn Darwin bei der Beschreibung der Graphik mit keinem Wort auf das wenige Seiten später so aufwendig inszenierte Baummotiv Bezug nimmt, so liegt dies daran, daß das Diagramm nicht etwa das Sprachbild der Baummetapher illustrierte, sondern eine korallen- und tangartige Alternative bot.
63 64
Porter, 1987. Porter, 1987, Fig.4.
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Abb. 8
Darwin hat nur ein Buch vom Format der Origin of Speeles geschrieben, und er hat nur ein Bildmodell von der Präsenz seines Evolutionsdiagramms erfunden. 65 Das Evolutionsbild einer Tang-Koralle verdankt seine Qualität, aber auch seine Problematik dem Umstand, daß Bilder niemals vollständig mit sprachlich gebildeten Gedanken in Deckung zu bringen sind. In der semantischen Kluft, daß Darwin im Diagrammkommentar kein Wort über das Baummotiv und in der Aufrufung des Lebensbaumes keine Silbe über das Diagramm verlor, zeigt sich der komplexe, bisweilen auch verstörende Umstand, daß der Mensch durch Bilder lebt, die anderes offenbaren als die Sprache erreicht. Sie bergen Gedanken, in denen sich die Grenzen des Diskursiven ausloten. Es handelt sich um ein zentrales Problem einer Erkenntniskritik, die zu einer Grenzerweiterung führen kann, wenn diese Grenzbestimmung erkannt wird. Aus diesem Grund sollte das Distanz-, Konflikt- und Kongruenzverhältnis zwischen sprachlich und bildlich gefaßten Gedanken ausgeschöpft werden. Zu lange wurden die Zweige der Korallen und die Büschel des Seetanges vor dem Wald der Lebensbäume übersehen.
65
Gruber, 1988, 132.
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Anmerkungen Zu danken ist Till Kreische für seine Beobachtungen zur Koralle und Gerhardt Scholtz für die kritische Lektüre des Textes.
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Charles Darwin, Diagramm der „Natürlichen Auslese", in: Darwin, 1859, 116. Abbildung 2: Jean-Baptiste Lamarck, Transformationsdiagramm, in: Lamarck, 1809, Bd.2, 463. Abbildung 3: Charles Darwin, 1. Evolutionsdiagramm aus Notebook B, Federzeichnung, 1837, Cambridge, University Library, Dar. Ms. 121, Fol. 26. Abbildung 4: Charles Darwin, 2. aus Notebook B, Federzeichnung, 1837, Cambridge, University Library, Dar. Ms. 121, Fol. 26. Abbildung 5: Charles Darwin, 3. Evolutionsdiagramm aus Notebook B, Federzeichnung, 1837, Cambridge, University Library, Dar. Ms. 121, Fol. 36. Abbildung 6: Pietro da Cortona, Korallenfischer, Gemälde, um 1619-21, Tsarskoie Selo, Nationalmuseum. Abbildung 7: Amphiora obrignyana, von Darwin im Januar 1834 gesammelt, London, The Natural History Museum, Darwin 1770. Abbildung 8: Überlagerung der Koralle mit dem rechten Arm des Evolutionsdiagramms.
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WOLFRAM HOGREBE
Schlußwort
Am Ende eines Kongresses, zumal am Ende eines Kongresses von Philosophen, greift Erleichterung um sich, und zwar von der Basis bis zum Überbau. Die Referenten, die die Basis sind, fühlen sich erleichtert, weil ihr Vortrag gut angekommen ist. Die Diskussionsteilnehmer sind erleichtert, weil es ihnen ungeschoren gelang, einen Referenten argumentativ in die Enge zu treiben. Der Veranstalter, hier beginnt der Überbau, ist erleichtert, weil sich das Ausmaß der Pannen in Grenzen hielt. Der Weltgeist ist erleichtert, weil er sich aufs neue dokumentiert fühlen darf. Schließlich, und das ist die Instanz der ultimativen Erleichterung, ist auch der Hausmeister erleichtert, weil er in absehbarer Zeit die ganze Bande los ist. Alle sind irgendwie gelöst, vielleicht sogar, etwa im Sinne der aristotelischen Tragödienwirkung, affektbereinigt, und alle sind, da es sich schließlich um Philosophen handelt, am Ende sogar ein bißchen weiser geworden. Oder vielleicht doch nicht? Ist es wirklich so, daß, wenn Philosophen zusammenkommen, die Aktien der Weisheit steigen? In der Geschichte der Philosophie gibt es erstaunlicherweise kein Beispiel dafür. Eher gibt es Beispiele für das genaue Gegenteil. Die Tugend eines entgegenkommenden Verstehens, wie Frege das hier Erforderliche nannte, ist merkwürdigerweise gerade unter Philosophen nicht eben häufig anzutreffen. Heidegger trifft Cassirer in Davos und sucht alles andere als eine Chance wechselseitiger Verständigung. Moritz Schlick trifft mit Ludwig Wittgenstein zusammen. Wittgenstein, später nach diesem Gespräch befragt, antwortete: „Wir haben uns gegenseitig für verrückt gehalten."1 Natürlich sind das zwei extreme Beispiele, aber die Foltergeräte der Philosophie auch unterhalb dieser Ebene sind gut sortiert. Die Zangen der Unverständlichkeitsvorwürfe, die Brenneisen der Unwissenschaftlichkeitsunterstellungen, die Daumenschrauben der übersehenen historischen Parallele gehören beispielsweise dazu. Ich hoffe sehr, daß diesem Kongreß solche peinlichen Methoden erspart geblieben sind.
1
Zitiert nach Hans Blumenberg, Die Verfiihrbarkeit des Philosophen, Frankfurt/M. 2000, 187.
SCHLUßWORT
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Aber ich hoffe es nicht nur, ich bin mir fast sicher. Man kommt schließlich nicht nach Bonn, um das Mittelalter ausbrechen zu lassen. Clemens August ist schließlich auch für Philosophen eine stilistische Verpflichtung. So ist mein erstes Wunschergebnis dieses Kongresses, daß es sich gelohnt hat, nach Bonn zu kommen. Hier jedenfalls war es nicht verboten, auch von Kollegen zu lernen, und wir haben es mit Gewinn getan. Mein zweites Wunschergebnis ist dies: Das Thema Grenzen und Grenzüberschreitungen wird der Philosophie zwar nicht abhanden kommen, da sie mit diesem Thema nahezu identisch ist, sollte nach diesem Kongreß aber wie wir alle für eine Weile erschöpft sein. Mit anderen Worten: Was vor diesem Kongreß thematisch implizit war, ist nach ihm zumindest für eine Weile paradigmatisch explizit geworden. Und zwar durch gemeinschaftliche Anstrengung. Mein drittes Wunschergebnis ist, daß in Bonn die Sensibilität für die Plastizität begrifflicher Architekturen geschärft wurde. Und zwar dadurch, daß das Kongreßkonzept Klang, Gedanke, Bild stimulierende Effekte bewirkt hat. Gerade die informellen Zonen unserer Gedankenwelt halten den Anschluß an bildliche und klangliche Arten des Gegebenseins, ohne die unser Resonanzbedürfnis unbefriedigt bliebe. Von Hans Blumenberg stammt die bemerkenswerte Notiz: „Philosophie darf nicht schwer sein. Sonst ist etwas faul bei dem, der sie vertritt - und natürlich ist bei jedem, der etwas vertritt, auch etwas faul. So werden die Sachen ,schwer'." 2 Wenn wir das beherzigen, dann werden wir um der Leichtigkeit der Philosophie willen, und weil wir das in Bonn gelernt haben, inskünftig Philosophie etwas weniger vertreten und etwas mehr nur versuchen. Gerade dies: das Doktrinale zu meiden und das Tentative zu forcieren fallt uns gerade in Deutschland schwer, aber wir sind lernfahig. Meine Damen und Herren! Der XIX. Deutsche Kongreß für Philosophie ist damit an sein offenes Ende gekommen. Ich danke nochmals allen Teilnehmern, den Mitgliedern der Gesellschaft wie den Gästen, den Leitern der Kolloquien und Sektionen, vor allem den Rednern, von denen wir lernen durften. Insbesondere danke ich auch unseren Festrednern, den Herren Flasch, Wieland, Mittelstraß und Bredekamp, die in besonderer Weise zum Gelingen dieses Kongresses beigetragen haben. Lassen Sie mich abschließend auch dem Chef unserer Kongreßorganisation, Herrn Dr. Martin Booms, ebenso wie den Mitgliedern seines Teams ganz herzlich danken, Sie alle haben einen Klasse-Job gemacht. Meine Damen und Herren, kommen Sie gut nach Hause. In drei Jahren treffen wir uns in Berlin und wir wünschen schon jetzt unserem neuen Präsidenten, Herrn Günter Abel, eine glückliche Hand bei der Planung des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie in Berlin.
2
Ebd., 146.
Hinweise zu den Autoren
Günter Abel ist seit 1987 Professor für Philosophie an der Technischen Universität Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie; Erkenntnistheorie; Zeichen und Symboltheorie; Philosophie des Geistes. Veröffentlichungen (Auswahl): Stoizismus und Frühe Neuzeit, Berlin/New York 1978; Nietzsche, Berlin/New York 1984, 2. Aufl. 1998; Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/M. 1993, 2. Auflage 1995; Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt/M. 1999; Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2003. - Zahlreiche Aufsätze zu Fragen der Zeichen-, Sprach- und Interpretationsphilosophie, der Epistemologie und der Metaphysikkritik. Werner Becker, 1963 Promotion bei Th. W. Adorno und M. Horkheimer, 1970 Habilitation, 1971 Professor für Philosophie an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/M., 1987-2002 Professor für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Giessen, 1988-1993 Geschäftsführer der DGPhil, 1991-1992 Gründungsdirektor des Instituts für Philosophie der Friedrich Schiller-Universität Jena, 1992-1995 Präsident des Institut International de Philosophie Politique (Paris), 1996-2002 Wiss. Leiter der Merton-Lectures der Deutsche Börse AG. Wichtigste Bücher: Idealistische und materialistische Dialektik (1971); Kritik der Manschen Wertlehre (1972); Die Freiheit, die wir meinen (1982); Das Dilemma der menschlichen Existenz (2000). Ansgar Beckermann, geb. 1945, Studium der Philosophie, Mathematik und Soziologie; 1974 Promotion; 1978 Habilitation; von 1982 bis 1992 Professor für Philosophie an der Universität Göttingen. 1992-1995 Professor für Philosophie an der Universität Mannheim, seit 1995 Professor für Philosophie an der Universität Bielefeld. Seit September 2000 ist er Präsident der Gesellschaft für Analytische Philosophie. Veröffentlichungen (Auswahl): Einfuhrung in die Logik, Berlin/New York 1997; Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, 2. Aufl., Berlin/New York 2001; Herausgeber: Emergence or Reductionl Essays on the Prospects ofNonreductive Physicalism (zus. mit H. Flohr und J. Kim), Berlin/ New York 1992. Aufsätze zur Handlungstheorie, zum Leib-Seele-Problem und zur Erkenntnistheorie. Dieter Birnbacher, geb. 1946, Studium der Philosophie, Anglistik und der Allgemeinen Sprachwissenschaft in Düsseldorf, Cambridge und Hamburg; Promotion 1973, Habilitation
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HINWEISE ZU DEN AUTOREN
1988. 1993 Professor für Philosophie an der Universität Dortmund, seit 1996 an der Universität Düsseldorf. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Ethik, Angewandte Ethik, Anthropologie. Er ist 1. Vizepräsident der Schopenhauer-Gesellschaft e. V., Frankfurt/M, Mitglied der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer, Mitglied der Zentralen Kommission Somatische Gentherapie der Bundesärztekammer und Mitglied der Schriftleitung der Zeitschrift Ethik in der Medizin. Hauptveröffentlichungen: Die Logik der Kriterien. Analysen zur Spätphilosophie Wittgensteins (1974); Verantwortung für zukünftige Generationen (1988); Tun und Unterlassen (1995); Analytische Einfiihrung in die Ethik (2002). Gernot Böhme, geb. 1937, Studium der Mathematik, Physik, Philosophie. Promotion 1965, Habilitation 1972. Wiss. Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wiss.-techn. Welt, Starnberg 1970-1977, 1977-2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt, Sprecher des Graduiertenkollegs Technisierung und Gesellschaft 1997-2001. Forschungsschwerpunkte: Klassische Philosophie, besonders Piaton und Kant; Wissenschaftsforschung; Theorie der Zeit; Naturphilosophie; Ästhetik; Ethik; Technische Zivilisation; Philosophische Anthropologie; Goethe. Bücher zur Ästhetik: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt/M., 3. Aufl. 1999. Atmosphäre, Frankfurt/M., 3. Aufl. 2000. Anmutungen, Ostfildern 1998. Theorie des Bildes, München 1999. Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. Tilman Borsche, geb. 1947, Professor für Philosophie an der Universität Hildesheim. Herausgeber der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie, Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Weitere Veröffentlichungen: Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts, Stuttgart 1981; Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Piaton, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche, München 1990 (1992);, Centauren-Geburten'. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (hg. mit F. Gerratana und A. Venturelli), Berlin 1994; Klassiker der Sprachphilosophie (Hg.), München 1996, Denkformen - Lebensformen (Hg.), Hildesheim 2003; zahlreiche Aufsätze und Artikel vorwiegend zu sprach- und zeichenphilosophischen sowie philosophiehistorischen Themen von Heraklit bis Lyotard. Horst Bredekamp, geb. 1947; Promotion in Kunstgeschichte an der Universität Marburg (1974); Volontär am Liebighaus, Frankfurt/M. (1974); Assistent (1976), dann Professor (1982) für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg; Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin (seit 1993). Jüngere Buchveröffentlichungen: Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung, Berlin 2000; Florentiner Fußball: Die Renaissance der Spiele, Berlin 2001; Thomas Hobbes. Der Leviathan, Berlin 2003. Alex Burri ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Erfurt. Er ist Mitbegründer und Mitherausgeber von Facta Philosophica, einer internationalen Zeitschrift für Gegenwartsphilosophie. Hubertus Busche, geb. 1958, Studium der Philosophie, Germanistik und Vergleichenden Religionswissenschaft in Bonn; Promotion in Philosophie 1985; Habilitation 1996; apl.
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Professor am Philosophischen Seminar der Universität Bonn, Lehr- und Forschungsbereich I. - Bücher: Das Leben der Lebendigen. Hegels politisch-religiöse Begründung der Philosophie freier Verbundenheit in seinen frühen Manuskripten, Bonn 1987; Bewußtsein und Zeitlichkeit. Ein Problemschnitt durch die Philosophie der Neuzeit (hg. mit G. Heffernan u. D. Lohmar), Würzburg 1990; Leibniz' Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, Hamburg 1997; Die Seele als System. Aristoteles' Wissenschaft von der Psyche, Hamburg 2001. Aufsätze zur Erkenntnistheorie und Metaphysik, zur Ethik und Philosophie der Wirtschaft. Martin Carrier, Studium der Physik und Philosophie in Münster, Promotion in Philosophie ebd. 1984. Ab 1984 zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann Akademischer Rat an der Universität Konstanz. Habilitation in Konstanz 1989. Aus der Habilitationsschrift ist das Buch The Completeness of Scientific Theories (1994) hervorgegangen. Ab 1994 Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie an der Universität Heidelberg, ab 1998 in gleicher Funktion an der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen: Neben das erwähnte Buch treten zwei weitere Buchpublikationen: Geist, Gehirn, Verhalten mit Jürgen Mittelstraß (1989, engl. 1991) und Nikolaus Kopernikus (2001). Daneben Aufsätze aus vielen Bereichen der Wissenschaftsphilosophie. Gregory Chaitin ist tätig am IBM Watson Research Center in New York. Seine algorithmische Informationstheorie greift Ideen aus Leibniz' Discours de métaphysique, VI, auf und beschäftigt sich mit dem Begriff des Zufalls und den Grenzen der axiomatischen Methode. Seine Arbeiten an dieser Theorie führten auch zur Entdeckung der vielbeachteten OmegaZahl. Zu Chaitins jüngsten Publikationen zählen die Bände Conversations with a Mathematician (2002) und Exploring Randomness (2001). Chaitin bekam von der University of Maine die Ehrendoktorwürde verliehen und ist Professor ehrenhalber an der University of Buenos Aires und Gastprofessor an der University of Auckland. Eva-Maria Engelen, Studium der Philosophie, der Geschichte und der Rechtswissenschaften. Promotion in Philosophie. Zwischen Promotion und Habilitation war sie Wissenschaftliche Angestellte am Konstanzer Zentrum für Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stipendiatin der DFG mit Forschungsaufenthalten in Yale und Harvard. Seit 1998 ist sie Hochschuldozentin in Konstanz mit Unterbrechung für die Vertretung einer Professur in Frankfurt/M. In ihrer mit dem Heinz-Maier-Leibnitz-Preis der DFG ausgezeichneten Dissertation setzt sie sich mit einem Kapitel der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte des Mittelalters auseinander. Einen Vorschlag zur Naturalisierung semantischer Normativität erarbeitet sie in ihrer Habilitation. Ihre neueste Monographie untersucht den Zusammenhang von ,Erkenntnis' und ,Liebe' sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht. Rainer Enskat, geb. 1943, Studium an den Universitäten Hamburg, Marburg und Göttingen, seit 1984 Professor an der Universität Heidelberg, seit 1992 Professor an der Universität Halle. Buchpublikationen: Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes, Berlin/New York 1976; Wahrheit und Entdeckung, Frankfurt/M. 1986; Die Hegeische Theorie des praktischen Bewusstseins, Frankfurt/M. 1986; wichtigste Abhandlungen: Universalität, Sponta-
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neität und Solidarität (1990); Personale Identifikation. Wie man mit Wittgenstein an einer Metaphysik der Subjektivität arbeiten kann (1994); Kausalitätsdiagnosen. Die Musterbedingung der Möglichkeit der Erfahrung in Kants transzendentaler Beschreibung der Natur (1995); Aufklärung trotz Wissenschaft (1997); Authentisches Wissen. Was die moderne Erkenntnistheorie beim Platonischen Sokrates lernen kann (1998); Autonomie und Humanität. Wie kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren (2001). Brigitte Falkenburg ist promovierte Philosophin und Physikerin. Sie habilitierte sich 1992 in Philosophie an der Universität Konstanz und ist seit 1997 Professorin für Theoretische Philosophie mit Schwerpunkt Philosophie der Wissenschaft und Technik an der Universität Dortmund. Bücher: Die Form der Materie. Zur Metaphysik der Natur bei Kant und Hegel (1987); Teilchenmetaphysik. Zur Realitätsauffassung in Wissenschaftsphilosophie und Mikrophysik (2. Auflage: 1995); Kants Kosmologie (2000); Wem dient die Technik? Eine wissenschaftstheoretische Analyse der Ambivalenzen technischen Fortschritts (erscheint 2004). Aufsätze zur Naturphilosophie und zur Wissenschaftstheorie der Physik. Gegenwärtige Arbeitsgebiete: Philosophische Probleme der Teilchenphysik, Semantik physikalischer Größenbegriffe, Naturalismus-Kritik, Philosophie der Technik, Philosophie der Ökonomie. Kurt Flasch, geb. 1930, Promotion 1956, Habilitation 1969, 1970 bis zu seiner Emeritierung 1995 Ordinarius für Philosophie an der Universität Bochum. Er ist Mitglied der Römischen Akademie der Wissenschaften, der Florentinischen Akademie und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Er hat drei Monographien zu Nikolaus von Kues verfasst (Leiden 1973; Frankfurt/M. 1998, 2001 und München 2001), vier Bücher über Augustinus (Stuttgart 1980; Mainz 1991; Frankfurt/M. 1993; München 1997) sowie zwei Studien über Boccaccio (Mainz 1992, München 2001). Weitere Publikationen: Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 1986, zweite, erweiterte Ausgabe 2000; Einfuhrung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1987, mehrere Auflagen und Übersetzungen; Philosophie hat Geschichte, Frankfurt/M. 2003. Winfried Franzen, geb. 1943, Studium in Freiburg i. Br. und Münster i. W.; Promotion (1972) und Habilitation (1980) in Gießen; Lehrtätigkeit in Giessen und (per Lehrauftrag oder Lehrstuhlvertretung) in Bielefeld, Frankfurt/M., Marburg, Karlsruhe und Köln; seit 1991 Professor für Praktische Philosophie in Erfurt. Bücher, Aufsätze und Artikel zu Martin Heidegger, zum Wahrheits- und Realismusproblem, zur Sprachphilosophie und ihrer Geschichte, zur Praktischen Philosophie und Ethik (einschließlich der Angewandten Ethik sowie der Thematik ,Moralerziehung/Ethikunterricht'). Dorothea Frede, Studium in Hamburg von 1961-1963 (Germanistik und Musikwissenschaften), danach Göttingen von 1963-1968, Philosophie und Klassische Philologie. Promotion 1968 mit Dissertation: Aristoteles und die Seeschlacht, Das Problem der Contingentia Futura in De interpretatione 9, Göttingen 1970, Hypomnemata. 1971 Auswanderung nach USA, Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten (San Francisco State, Berkeley, Stanford, Princeton, University of Pennsylvania, Rutgers University, Swarthmore College). 1991 Rückkehr nach Deutschland, Professur für Philosophie in Hamburg. Wichtigste Publikatio-
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nen: Piaton, Philebos, Übersetzung mit Kommentar, Göttingen 1997. Piaton, Phaidon, Darmstadt 1999; Heideggers Tragödie, Hamburg 1999. Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Foreign Fellow der American Academy of Art and Sciences. Gottfried Gabriel, Jahrgang 1943, Studium der Philosophie, Germanistik, Allgemeinen Sprachwissenschaft und Mathematischen Logik an den Universitäten Münster und Konstanz. Promotion 1972, Habilitation 1976 an der Universität Konstanz. 1992 Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum; seit 1995 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Mitherausgeber des Nachlasses von Gottlob Frege, Herausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Neuere Buchveröffentlichungen: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung (1997), Ästhetik und Rhetorik des Geldes (2002). Gerhard Gamm, Studium der Philosophie (Promotion, Habilitation), Psychologie (Diplom) und Soziologie in Tübingen und Frankfurt/M. Professor für Philosophie an der TU Darmstadt, dort tragendes Mitglied des Graduiertenkollegs „Technisierung und Gesellschaft". Veröffentlichte u. a. folgende Bücher: Wahrheit als Differenz. Studien zu einer anderen Theorie der Moderne (1986, 2 2002); Die Macht der Metapher. Im Labyrinth der modernen Welt (1992); Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne (1994); Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling (1997); Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten (2000); Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie (2001); Der unbestimmte Mensch. Subjektivität, Technik und nichtmenschliche Akteure (im Erscheinen). Volker Gerhardt, geb. 1944, lehrte Philosophie in Münster, Zürich, Köln und Halle, ehe er 1992 an die Humboldt-Universität zu Berlin berufen wurde. Er ist Vizepräsident der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Leiter der Wissenschaftlichen Kommission der Union der Akademien in Deutschland, Vorsitzender der Kommissionen für die Gesamtausgaben der Werke Kants und Nietzsches und Mitglied des Nationalen Ethikrats. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Vernunft und Interesse (1976); Immanuel Kant (zus. mit F. Kaulbach) (1980); Friedrich Nietzsche (1992); Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden (1995); Vom Willen zur Macht (1996). Selbstbestimmung (1999); Individualität (2000); Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität (2001); Immanuel Kant. Vernunft und Leben (2002); Die angeborene Würde des Menschen (2003); Existenzieller Liberalismus (2004). Carl Friedrich Gethmann, geb. 1944, Studium der Philosophie in Bonn, Innsbruck und Bochum; 1971 Promotion an der Universität Bochum; 1978 Habilitation an der Universität Konstanz. 1968 wiss. Assistent; 1972 Universitätsdozent für Philosophie an der Universität Essen; 1978 Privatdozent an der Universität Konstanz; seit 1979 Professor für Philosophie an der Universität Essen; weitere Lehrtätigkeiten an den Universitäten Düsseldorf und Göttingen. Direktor der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlichtechnischer Entwicklungen in Bad Neuenahr-Ahrweiler GmbH (seit 1996); Mitglied der
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Academia Europaea (London); o. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter: Verstehen und Auslegung, Bonn 1974; Protologik, Frankfurt/M. 1979; kürzlich erschienen: Integrative Modellierung zum Globalen Wandel, hg. zus. mit Stephan Lingner, Berlin/Heidelberg 2002. Annemarie Gethmann-Siefert hat seit 1991 eine Professur für Philosophie an der FernUniversität in Hagen. Veröffentlichungen zu den Forschungsschwerpunkten Philosophie der Kultur (Ästhetik, Religionsphilosophie), Philosophie des Deutschen Idealismus und Phänomenologie u. a. Die Funktion der Kunst in der Geschichte (1984); Einführung in die philosophische Ästhetik (1995); Martin Heidegger und die praktische Philosophie (hg. zus. mit O. Pöggeler 1988); Philosophie und Technik (hg. zus. mit C. F. Gethmann 2000); Die Philosophie und die Wissenschaften. Zum Werk O. Beckers (hg. zus. mit J. Mittelstraß 2002); zusätzlich Dokumentationsbände und Aufsätze zur Ästhetik und Kunsttheorie. Publikationen im Bereich der Medizinethik und Tätigkeit in einem weiterbildenden Studiengang sowie im Aufbau eines Masterstudiengangs Medizinethik an der Fern-Universität in Hagen. Stephan Grätzel, Univ.-Prof. an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Philosophisches Seminar, Arbeitsbereich: Ethik und Anthropologie, Schwerpunkte: Schnittstellen von Ethik, Religion und Recht; Philosophische Anthropologie und aktuelle Menschenbilder. Publikationen: Die philosophische Entdeckung des Leibes, Stuttgart 1989; Organische Zeit, Freiburg 1993; Verstummen der Natur, Würzburg 1997; Utopie und Ekstase, St. Augustin 1997; Religionsphilosophie (mit Armin Kreiner), Stuttgart 1999; Dasein ohne Schuld (erscheint Frühjahr 2004). Armin Grunwald, Jahrgang 1960, Studium von Physik, Mathematik und Philosophie. Berufstätigkeiten in der Industrie (1987-1991), im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (1991-1995) und als stellvertretender Direktor der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen (1996-1999). Habilitation bei Peter Janich (Marburg) mit einer Arbeit über kulturalistische Planungstheorie. Seit 1999 Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Forschungszentrums Karlsruhe (ITAS) und Professor an der Universität Freiburg. Seit 2002 auch Leiter des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). Arbeitsgebiete: Wissenschaftstheorie, konzeptionelle und methodische Fragen der Technikfolgenabschätzung und der Ethik in der Technikgestaltung, Nachhaltigkeit und Technik. Paul Guyer ist Professor für Philosophie an der University of Pennsylvania. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Kant, die Geschichte der modernen Philosophie und die Geschichte der Ästhetik. Er verfasste vier Abhandlungen über Kant: Kant and the Claims of Taste (1979, 2. Aufl. 1997); Kant and the Claims of Knowledge (1987); Kant and the Experience of Freedom (1993) und Kant on Freedom, Law, and Happiness (2000). Zwei weitere Bände seiner Arbeiten, Kant 's System of Nature and Freedom und The Taste for Beauty: Historical Essays in Aesthetics, werden demnächst veröffentlicht. Prof. Guyer ist Herausgeber zahlreicher Bände, u. a. The Cambridge Companion to Kant (1992). Er ist Mitherausgeber der Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant, für welche er bei der Überset-
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zung der Kritik der reinen Vernunft (1998) und der Kritik der Urteilskraft mitgewirkt hat (2000). Jens Halfwassen, Studium der Philosophie, Geschichte und Altertumswissenschaften an der Universität zu Köln, Promotion 1989, Habilitation 1995, seit 1999 Ordinarius für Philosophie an der Universität Heidelberg. Wichtigste Publikationen: Der Aufstieg zum Einen, Untersuchungen zu Piaton und Plotin, Stuttgart 1992; Geist und Selbstbewußtsein, Studien zu Plotin und Numenios, Mainz 1994. Hegel und der spätantike Neuplatonismus, Bonn 1999. Zahlreiche Aufsätze und Artikel zur Philosophie der Antike (besonders Piaton und Neuplatonismus) und des Deutschen Idealismus. Wolfram Hogrebe, geb. 1945, studierte an den Universitäten Münster, München und Düsseldorf. Seit 1980 lehrte er als Professor für Philosophie an der Universität Düsseldorf, seit 1992 an der Universität Jena, seit 1996 an der Universität Bonn. 1978 war Wolfram Hogrebe Gastprofessor an der staatl. Universität von Belo Horizonte/Brasilien, 1998/99 Fellow des Institute for Advanced Study in Budapest; 2000 Prof. an der American University in Cairo. Von 1999-2002 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Veröffentlichte Monographien (Auswahl): Kant und die Probleme einer transzendentalen Semantik (1974; ital. Per una semantica trascendentale, 1979); Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert (1987); Prädikation und Genesis (1989); Metaphysik und Mantik (1992); Das Absolute (1998); Frege als Hermeneut (2001); The Real Unknown (2002). Ludger Honnefelder ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Er ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik an der Universität Bonn sowie des Albertus Magnus-Instituts in Bonn und des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften in Bonn. Seit 1992 gehört er der deutschen Delegation im Lenkungsausschuß für Bioethik des Europarats (CDBI) an und war von 2000-2002 Mitglied der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages. 1999 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Innsbruck. Christoph Horn, geb. 1964, ist Professor für Antike und Praktische Philosophie an der Universität Bonn. Veröffentlichungen: Plotin über Sein, Zahl und Einheit, Stuttgart/Leipzig 1995; Augustinus, München 1995; Antike Lebenskunst, München 1998, Politische Philosophie, Darmstadt 2003, Grundlegende Güter (im Erscheinen). Herausgeber: Augustinus, De civitate dei, Berlin 1997; (mit Ch. Rapp) Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002, (mit N. Scarano) Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2002. Mitherausgeber des Archivs für Geschichte der Philosophie. Paul Hoyningen-Huene, geb. 1946, Studium der Physik und Philosophie in München, London und Zürich. Promotion in theoretischer Physik Zürich 1975. An der Universität Zürich Assistent am Institut für Theoretische Physik 1972-1976, am Philosophischen Seminar 1975-1980; Lehraufträge für Philosophie an der Universität Bern 1980-1998. 1984-1985 Visiting Scholar am M.I.T., USA; 1987-1988 Senior Visiting Fellow am Center for Philo-
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sophy of Science, Pittsburgh, USA. 1989-1990 Oberassistent für Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. 1990-1997 Professor für Wissenschaftsphilosophie und -geschichte an der Universität Konstanz; seit 1997 Professor und Leiter der Zentralen Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik an der Universität Hannover. Christoph Hubig, geb. 1952, Studium der Philosophie und Kulturwissenschaften in Saarbrücken und an der TU Berlin, Promotion 1976, Habilitation 1983. Professuren für Praktische Philosophie in Berlin, Karlsruhe und Leipzig. Seit 1997 Professor für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der Universität Stuttgart; seit 1993 Vorstandsmitglied der DGPhil. Veröffentlichungen (Auswahl): Dialektik und Wissenschaftslogik (1978), Handlung - Identität - Verstehen (1983), Technik und Wissenschaftsethik (2. Aufl. 1995), Technologische Kultur (1997), Mittel (2002); (Hg.): Konsequenzen kritischer Wissenschaftstheorie (1976), Ethik institutionellen Handelns (1983), Dynamik des Wissens und der Werte (1996), Nachdenken über Technik (2000), Unterwegs in die Wissensgesellschaft (2000), Wirtschaftsethische Fragen der E-Economy (2002), Ethische Ingenieurverantwortung (2003). Peter Janich, Lehrstuhl 1 für Philosophie, Universität Marburg; Arbeitsgebiete: Handlungstheorie, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Methodischer Kulturalismus, Technikphilosophie. Bücher (Auswahl): Euklids Erbe (1989), Konstruktivismus und Naturerkenntnis (1996), Kleine Philosophie der Naturwissenschaften (1997), Das Maß der Dinge. Protophysik von Raum, Zeit und Materie (1997), Wissenschaftstheorie der Biologie (m. M. Weingarten) (1999), Was ist Wahrheit? (2000), Was ist Erkenntnis? (2000), Logisch-pragmatische Propädeutik (2001). Wolfgang Kluxen, geb. 1922, Studium in Köln, Bonn, Löwen, 1951 Promotion (Köln), 1953 Assistent an der Universität zu Köln, 1962 Professor der Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Neuß, 1964 ord. Prof. an der Universität Bochum, 1969 an der Universität Bonn, emeritiert 1988. Seit 1975 ord. Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. 1972-1982 Präsident der Société Internationale pour l'Étude de la Philosophie médievale (jetzt Ehrenpräsident); 1978-1984 Präsident der DGPhil (jetzt Ehrenmitglied). Hauptarbeitsgebiete: Philosophie des Mittelalters, Ethik und deren Anwendungsbereiche. Ausgewählte Buchpublikationen: Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin (1964, 31998); Joh. Duns Scotus, Trast. de primo principio, Übers, u. Kommentar (1974, 3 1994); Ethik des Ethos (1974), Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch (1975), Moral - Vernunft - Natur. Beiträge zur Ethik (1997). Eberhard Knobloch, geb. 1943, Studium der Mathematik, Klassischen Philologie, Wissenschafts- und Technikgeschichte, Professor für Geschichte der exakten Wissenschaften und der Technik an der TU Berlin, Leiter der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Mitglied mehrerer nationaler und internationaler Akademien, Präsident des Deutschen Nationalkomitees für Wissenschaftsgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der mathematischen Wissenschaften und der Renaissancetechnik.
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Theo Kobusch, geb. 1948, Promotion 1972 in Gießen; Habilitation im Fach Philosophie in Tübingen; seit 1990 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophisch-Theologische Grenzfragen an der Ruhr-Universität Bochum; Mitherausgeber des HWPh. Veröffentlichungen: Studien zur Philosophie des Hierokles von Alexandrien (1976); Sein und Sprache (1987); Die Entdekkung der Person ( 2 1996); (Hg.) Philosophen des Mittelalters (2000). Zus. mit B. Mojsisch: Piaton (1996); Piaton in der abendländischen Geistesgeschichte (1997). Zus. mit M. Knapp: Religion - Metaphysik(kritik) - Theologie (2001). Zus. mit M. Erler: Metaphysik und Religion (2002). Aufsätze zu verschiedenen Epochen der Philosophiegeschichte. K.-M. Kodalle, geb. 1943, Studium der Philosophie, Pädagogik und Germanistik in Köln. 1969 Promotion. Wiss. Assistent in Regensburg und Hamburg; nach Habilitation 1983 Professor für Religionsphilosophie und Sozialethik; 1992 Professur für Philosophie an der Universität Jena; 1998 Ord. Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Gastprofessuren in den USA, Dänemark, Israel, Italien. Buchpublikationen (Auswahl): Thomas Hobbes (1972); Negative Dialektik und die Idee der Versöhnung (1973); Die Eroberung des Nutzlosen (1988); Dietrich Bonhoeffer. Zur Kritik seiner Theologie (1991); Verzeihung nach Wendezeiten? Über Unnachsichtigkeit und mißlingende SelbstEntschuldung (1994); Schockierende Fremdheit (1996). Über 100 Aufsätze. Ralf Konersmann, geb. 1955, Direktor des Philosophischen Seminars an der Universität zu Kiel. Autor zahlreicher Aufsätze, Essays und Feuilletons, Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Veröffentlichungen: Spiegel und Bild (1988); René Magritte, Die verbotene Reproduktion (1991; span. Ausgabe 1996); Erstarrte Unruhe (1991); Lebendige Spiegel (1991); Der Schleier des Timanthes (1994); (Hg.) Kulturphilosophie (1996; 2 1998); (Hg.) Kritik des Sehens (1997; 2 1999); Komödien des Geistes (1999); (Hg.) Kulturkritik (2001); (Hg.) Vladimir Jankélévitch: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie (2003); Kulturphilosophie zur Einführung (2003). Peter Koslowski ist 2002/2003 Visiting Scholar-in-Residence beim Liberty Fund, Indianapolis, USA, und 2003/2004 Fellow am International Center for Economic Research (ICER), Turin, Italien, sowie api. Professor an der Universität Witten/Herdecke. 19872001 Gründungsdirektor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover. Vorsitzender des Ausschusses Wirtschaftsethik der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Zahlreiche, in mehrere Sprachen übersetzte Bücher zur politischen Philosophie, Wirtschaftsethik und systematischen Philosophie. Sein 1988 auf deutsch veröffentlichtes Buch Prinzipien der Ethischen Ökonomie erschien 2001 in 2. Auflage als Taschenbuch in englischer Sprache; sein Buch Philosophien der Offenbarung. Antiker Gnostizismus, Franz von Baader, Schelling in 2. Auflage 2003. John Michael Krois, Jahrgang 1943, ist api. Professor für Philosophie an der HumboldtUniversität zu Berlin. Er unterrichtete an Universitäten in Deutschland und in den USA, wo er 1975 an der Pennsylvania State University promovierte. Er habilitierte sich im Jahr 1988 in Philosophie an der Philipps-Universität Marburg. Er war Gastprofessor an der Universität Wien und an der Université de Lausanne. Er ist Honorary Research Fellow am Centre for
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Intercultural Studies an der University of Glasgow und war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er arbeitet zur Kulturphilosophie und Kulturtheorie. Neben zahlreichen Aufsätzen ist er der Verfasser von Cassirer - Symbolic Forms and History (1987) und Herausgeber u. a. von Edgar Wind - Kunsthistoriker und Philosoph (1998). Er ist Mitherausgeber der zwanzigbändigen Edition von Ernst Cassirers Nachgelassenen Manuskripten und Texten (1995 ff.). Ludger Kühnhardt, geb. 1958, ist seit 1997 Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Universität Bonn. Von 1991 bis 1997 war er Ordinarius für Politische Wissenschaft an der Universität Freiburg. Von 1987 bis 1989 arbeitete Kühnhardt als Redenschreiber für den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Gastprofessuren u. a. an der Universität Jena, am College d'Europe (Brügge), an der Universität Kapstadt. Autor diverser Bücher, unter anderem: Die Universalität der Menschenrechte, München 1987; Von der ewigen Suche nach Frieden. Immanuel Kants Vision und Europas Wirklichkeit, Bonn 1996; Zukunftsdenker. Bewahrte Entwürfe politischer Ordnung für das dritte Jahrtausend, Baden-Baden 1999; Constituting Europe. Identity, institution-building and the search for a global role, Baden-Baden 2003. Franz von Kutschera, geb. 1932, ist em. Professor für Philosophie an der Universität Regensburg, wo er seit 1968 lehrt. Sein Arbeitsgebiet ist die Philosophie in ihrer ganzen Breite. Zu seinen Buchpublikationen gehören: Gottlob Frege - Eine Einfuhrung in sein Werk (1989), Die Teile der Philosophie und das Ganze der Wirklichkeit (1998), Piatons Philosophie, 3 Bde. (2002), Jenseits des Materialismus (2003). Anton Leist, Studium der Philosophie, Soziologie und Germanistik in München und Frankfurt/M.; wissenschaftlicher Assistent an der Freien Universität Berlin; Habilitation und Privatdozent an der Universität Frankfurt/M.; seit 1992 Professor für praktische Philosophie an der Universität Zürich. Leiter der Arbeits- und Forschungsstelle für Ethik. Arbeitsschwerpunkte: Normative Ethik, Metaethik, angewandte Ethik und politische Philosophie; Mitherausgeber der Zeitschrift Analyse & Kritik. Buchpublikationen: Die gute Handlung. Eine Einführung in die Ethik, Berlin 2000; Eine Frage des Lebens. Ethik der Abtreibung und künstlichen Befruchtung, Frankfurt/M. 1990. Als Herausgeber: Moral als Vertrag? Beiträge zum moralischen Kontraktualismus, Berlin 2002; Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, Frankfurt/M. 1990. Karl-Heinz Lembeck, geb. 1955, Promotion (1986) und Habilitation (1993) an der Universität Trier; 1995-1996 Stiftungsprofessor für Philosophie an der Universität Ulm; seit 1996 Ordinarius für Philosophie an der Universität Würzburg; 2000-2003 Präsident der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschungen. Publikationen (Auswahl): Gegenstand Geschichte, Dordrecht/Boston/London 1988; Einführung in die phänomenologische Philosophie, Darmstadt 1994; Piaton in Marburg Würzburg 1994. Als Herausgeber (Auswahl): Edmund Husserl, Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, Hamburg 1986; Geschichtsphilosophie, Freiburg i. Br. 2000. Weitere Artikel zu Phänomenologie, Neukantianismus, Geschichtsphilosophie, Sprachphilosophie.
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Hans Lenk, geb. 1935, ist ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Karlsruhe sowie mehrfach Ehrenprofessor u. a. in Budapest, Moskau, Texas. Einst Olympiasieger und mehrfach Europameister im Rudern. Er war Präsident der DGPhil und ist derzeit Präsident der internationalen bilateralen Philosophischen Gesellschaften mit Argentinien, Chile, Rumänien, Russland und Ungarn. Seit 1994 ist er Mitglied des Institut International de Philosophie und seit 1995 der Internationalen Akademie für Philosophie der Wissenschaften sowie seit 2003 Ordentliches Auslandsmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. 1998-2003 Vizepräsident der Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie. Über 110 Bücher als Autor und Herausgeber, über 1.200 Fachbeiträge und -artikel, darunter: Kritik der logischen Konstanten, Berlin 1968 und Interpretationskonstrukte, Frankfurt/M. 1993. Hermann Lübbe, Jahrgang 1926, Dr. phil. Dr. theol. h.c. ist em. Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich. Zuvor lehrte er an den Universitäten Erlangen, Hamburg, Münster, Köln, Bochum und Bielefeld sowie als Gastprofessor an weiteren Universitäten des In- und Auslands. Von 1966-1970 war er als Staatssekretär in Düsseldorf tätig. Er ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz sowie der Akademien der Wissenschaften zu Düsseldorf und Berlin. Von 1975-1978 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Uwe Meixner ist seit 1997 außerplanmäßiger Professor an der Universität Regensburg. Seither hatte er mehrere Professurvertretungen und Gastprofessuren inne. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Logik, Ontologie, Philosophie des Geistes und Wissenschaftstheorie. Mit seinen systematischen Interessen aus dem gesamten Bereich der theoretischen Philosophie verbindet sich ein nicht weniger starkes Interesse an der Philosophiegeschichte. Zusammen mit Albert Newen ist er Herausgeber des Jahrbuchs Philosophiegeschichte und logische Analyse. Die hauptsächlichen Veröffentlichungen von Uwe Meixner sind die Monographien Ereignis und Substanz (1997), Axiomatic Formal Ontology (1997), Theorie der Kausalität (2001) und der umfangreiche Aufsatz „Die Aktualität Husserls für die moderne Philosophie des Geistes" (2003, in Seele, Denken, Bewusstsein, hg. von Uwe Meixner und Albert Newen). Jürgen Mittelstraß, geb. 1936, 1956-1961 Studium der Philosophie, Germanistik und evangelischen Theologie in Bonn, Erlangen, Hamburg und Oxford. 1961 Promotion in Erlangen, 1968 Habilitation. Seit 1970 Ordinarius für Philosophie und Wissenschaftstheorie in Konstanz, seit 1990 zugleich Direktor des Zentrums Philosophie und Wissenschaftstheorie. Unter den Veröffentlichungen: Die Rettung der Phänomene, Berlin 1962; Neuzeit und Aufklärung, Berlin 1970; Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt/M. 1974; Wissenschaft als Lebensform, Frankfurt/M. 1982; Der Flug der Eule, Frankfurt/M. 1989; (mit M. Carrier) Geist, Gehirn, Verhalten, Berlin/New York 1989, engl. 1991; (mit W. Frühwald u. a.) Geisteswissenschaften heute, Frankfurt/M. 1991; Leonardo-Welt, Frankfurt/M. 1992; Die unzeitgemäße Universität, Frankfurt/M. 1994; Die Häuser des Wissens, Frankfurt/M. 1998; Wissen und Grenzen, Frankfurt/M. 2001. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie I-IV, 1980-1996.
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Burkhard Mojsisch, geb. 1944, Ordinarius für „Geschichte der Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Philosophie der Antike und des Mittelalters" an der Ruhr-Universität Bochum seit 1992. Foreign Fellow of the Georgian Academy of Sciences seit 2002. Forschungsschwerpunkte: Intellekttheorie, Metaphysik und Metaphysikkritik, Sprachphilosophie, Ethik, Religionsphilosophie, Possibilitätstheorie; Edition philosophischer Texte aus dem Mittelalter. Mitherausgeber: Bochumer Studien zur Philosophie (1982 ff.), Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi (1983 ff.), Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter (1997 f f ) . Herta Nagl-Docekal ist Professorin am Institut für Philosophie der Universität Wien und Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie ist Mitherausgeberin der Deutschen Zeitschrift für Philosophie und der Wiener Reihe. Themen der Philosophie. Sie publizierte u. a.: Die Objektivität der Geschichtswissenschaft (1982); Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten (hg. 1996); Politische Theorie: Differenz und Lebensqualität (Mhg. 1996); Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven (2000 und 2001); Continental Philosophy in Feminist Perspective (Mhg. 2000); Freiheit, Gleichheit und Autonomie (Mhg. 2002); Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien (Mhg. 2003). Henning Ottmann, geb. 1944, Professor für Politikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung von Politischer Theorie und Philosophie an der Universität München. Studium der Philosophie und Politikwissenschaft in München und Yale. 1986-1987 Professor für Philosophie an der Universität Augsburg. 1987-1995 Professor für Politische Philosophie und Theorie an der Universität Basel. Mitherausgeber der Zeitschrift für Politik, des Jahrbuches für politisches Denken, der Basler Studien zur Philosophie und des Philosophischen Jahrbuches. Zahlreiche Bücher, u. a. Individuum und Gemeinschaft bei Hegel (1977), Philosophie und Politik bei Nietzsche (1987); Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts (1990, zus. mit K. Graf Ballestrem); Nietzsche-Handbuch (2000); Geschichte des politischen Denkens von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit (2001/2002). Hans Poser, geb. 1937, Professor für Philosophie an der TU Berlin seit 1972. Vizepräsident der G. W. Leibniz-Gesellschaft Hannover. 1994-1996 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Arbeitsgebiete: Wissenschaftsphilosophie, Technikphilosophie, Modaltheorie, Geschichte der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Veröffentlichungen u. a.: Zur Theorie der Modalbegriffe bei G. W. Leibniz (1969); Philosophie und Mythos (Hg., 1978); Formen teleologischen Denkens (Hg., 1981); Wandel des Vernunftbegriffs (Hg., 1981); Philosophische Probleme der Handlungstheorie (Hg., 1982); Ontologie und Wissenschaft (Mhg., 1984); Leibniz in Berlin (Mhg., 1990); Wahrheit und Wert (Hg., 1992); Neue Realitäten — Herausforderung der Philosophie (Mhg., 3 Bde., 1995 ff); Wissenschaftstheorie (2001); Nihil sine ratione (Mhg., 4 Bde., 2001 f.). Graham Priest ist Professor für Philosophie an der University of Melbourne und Arche Professorial Fellow an der Universität St. Andrews. Er ist Mitglied der Australian Academy of Humanities. Er unterrichtete Philosophie an der University of Western Australia und der
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University of Queensland, und war Gastprofessor an zahlreichen Institutionen, darunter der Australian National University, der Universität Cambridge und der Universität von New York. Er verfasste über hundert Aufsätze und gab sechs Sammelbände heraus. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen: In Contradiction, Beyond the Limits of Thought und An Introduction to Non-Classical Logic. Insbesondere ist Prof. Priest bekannt geworden durch seine Arbeiten zur parakonsistenten Logik und deren Anwendung auf metaphysische Fragestellungen. Christof Rapp, geb. 1964, Studium der Philosophie, Griechisch, Logik und Wissenschaftstheorie in Tübingen und München; 1993 Promotion in München; 2000 Habilitation in Tübingen, 2001 Ernennung zum Professor für Philosophie an der Universität Berlin; seit 2001 Mitherausgeber der Zeitschrift für philosophische Forschung', seit 2001 Erster Vorsitzender der „Gesellschaft für antike Philosophie e. V."; Buchveröffentlichungen: Identität, Persistenz und Substantialität (1995); Aristoteles, Metaphysik, Herausgeber und Mitautor (1996); Vorsokratiker (1997); Aristoteles zur Einführung (2001); Aristoteles, Rhetorik, Neuübersetzung und Kommentare (2002); Begriffslexikon der antiken Philosophie, hg. zusammen mit Christoph Horn und Mitautor (2002); zahlreiche Aufsätze, Lexikonartikel und Buchbesprechungen zu Aristoteles, zur antiken, zur praktischen und zur sprachanalytischen Philosophie. Birgit Recki ist Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg; ihre Arbeitsgebiete liegen systematisch in der Ethik (Grundlegungsprobleme der Moralphilosophie; das Verhältnis von ästhetischem Gefühl und moralischer Orientierung), Ästhetik (Theorie der ästhetischen Erfahrung; Ästhetik des Films) und der Kulturphilosophie, historisch im 18. Jahrhundert (Kant, Aufklärung) und in der Moderne (Nietzsche, Frankfurter Schule, Neukantianismus, Cassirer). Bücher: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei W. Benjamin und T. W. Adorno, Würzburg 1988; Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt/M. 2001; Kultur als Praxis. Eine Einführung in die Philosophie Ernst Cassirers, Berlin 2003 (in Vorbereitung); Herausgeberin der Gesammelten Werke Ernst Cassirers (Hamburger Ausgabe); zahlreiche Aufsätze. Thomas Rentsch, geb. 1954, Studium der Philosophischen Literaturwissenschaften und Ev. Theologie an den Universitäten Konstanz, Münster, Zürich und Tübingen. Promotion Konstanz 1982 {Heidegger und Wittgenstein, 1985, 22003); Habilitation Konstanz 1988 (Die Konstitution der Moralität, 1990, 2 1999), Heisenberg-Stipendiat der DFG. Nach Lehrtätigkeit an den Universitäten Konstanz, Halle und der FU Berlin seit 1992 o. Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie/Ethik an der TU Dresden. Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, der Wittgenstein-Studien und der Dresdner Hefte für Philosophie. Weitere Publikationen: Martin Heidegger - Das Sein und der Tod (1989); Negativität und praktische Vernunft (2000). Friedo Ricken, Dr.phil., Dr. theol., ist Professor für Geschichte der Philosophie und Ethik an der Hochschule für Philosophie München. Veröffentlichungen: Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (1976), Allgemeine Ethik (1983/31998), Philosophie der
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Antike (1988/32000), Antike Skeptiker (1994); Religionsphilosophie (2003); Aufsätze zur Philosophie der Antike, allgemeinen Ethik und Religionsphilosophie; als Herausgeber: Lexikon der Erkenntnistheorie und Metaphysik (1984); Klassische Gottesbeweise in der Sicht der gegenwärtigen Logik und Wissenschaftstheorie (1991/ 2 1998), (mit F. Marty) Kant über Religion (1992), Philosophen der Antike, 2 Bde., Stuttgart 1996. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Theologie und Philosophie und der Reihe Münchener philosophische Studien. Wolfgang Rod, geb. 1926, seit 1977 o. Prof. für Philosophie an der Universität Innsbruck, seit 1996 emeritiert. Veröffentlichungen (u. a.): Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus (31995); Erfahrung und Reflexion (1991); Der Gott der reinen Vernunft (1992); Der Weg der Philosophie I—II (22000); B. de Spinoza. Eine Einführung (2002). Herausgeber: Geschichte der Philosophie Bd. I ff. (1976 ff.), zugleich Verfasser einiger Bände des noch nicht abgeschlossenen Werkes. Peter Rohs, geb. 1936, Habilitation in Frankfurt/M. 1975, Professor in Münster seit 1986, seit 2001 im Ruhestand. Wichtigste Bücher: Johann Gottlieb Fichte, München 1991, FeldZeit-Ich, Frankfurt/M. 1996, Abhandlungen zur feldtheoretischen Transzendentalphilosophie, Münster 1998, außerdem zahlreiche Aufsätze. Christiane Schildknecht habilitierte sich 1999 in Konstanz und ist seit 2000 Professorin für Philosophie an der Universität Bonn. Sie ist Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes; zu ihren jüngsten Veröffentlichungen gehören Sense and Seif Perspectives on Nonpropositionality, Paderborn 2002; „Ein vielfarbiges verschiedenes Selbst'? Bewußtsein und Selbstbewußtsein bei Kant", in: U. Meixner/A. Newen (eds.), Seele, Denken, Bewußtsein. Zur Geschichte der Philosophie des Geistes, Berlin/New York 2003 sowie „Anschauungen ohne Begriffe? Zur Nichtbegrifflichkeitsthese von Erfahrung", Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003). Herbert Schnädelbach, geb. 1936, 1965 Promotion an der Universität Frankfurt/M. bei Theodor Adorno. 1970 Habilitation an der Universität Frankfurt/M. bei Theodor Adorno und Jürgen Habermas. 1971-1978 Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt/M., 1978-1992 Professor für Philosophie, insbesondere der Sozialphilosophie, an der Universität Hamburg. 1988/90 Präsident der DGPhil. 1993-2002 Professor für Theoretische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2002 emeritiert. Auswahl an Publikationen: Erfahrung, Begründung und Reflexion, Frankfurt/M. 1971; Reflexion und Diskurs, Frankfurt/M. 1977; Vernunft und Geschichte, Frankfurt/M. 1987; Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankfurt/M. 1992; Philosophie in der modernen Kultur, Frankfurt/M. 2000; Hegels praktische Philosophie, Frankfurt/M. 2000; Erkenntnistheorie zur Einführung, Hamburg 2002.. Hans Julius Schneider, geb. 1944, Studium der Philosophie, Germanistik, Anglistik und Linguistik in Berlin, Austin und Erlangen; Promotion 1970; ab 1970 Wiss. Assistent in Konstanz, Habilitation dort 1975; 1978-1983 Heisenberg-Stipendiat der DFG; 1983-1996
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Professor an der Universität Erlangen; seit 1996 Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Potsdam. Hauptarbeitsgebiete: Sprachphilosophie, Allgemeine Wissenschaftstheorie, Theorie der Geisteswissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Pragmatik als Basis von Semantik und Syntax, (1975); Über das Schweigen der Philosophie zu den Lebensproblemen, (1979); Phantasie und Kalkül, 1992 (Tb. 1999); Hg.: Enteignen uns die Wissenschaften? (Mit R. Inhetveen) (1993); Metapher, Kognition, Künstliche Intelligenz, (1996); Mit Sprache spielen: Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein (mit M. Kroß) (1999). - Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften. Rolf Schönberger, geb. 1954, Studium der Philosophie, Kath. Theologie und Geschichte an der Universität München. Dort 1983 Promotion in Philosophie, 1990 Habilitation. 19941996 Professor für Philosophie an der PH Weingarten. Seit 1996 Professor für Philosophie an der Universität Regensburg. Publikationen: Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. Berlin/New York 1986; Was ist Scholastik? Hildesheim 1991; Repertorium edierter Texte aus dem Bereich der mittelalterlichen Philosophie und ihrer angrenzenden Gebiete, Berlin 1994; Relation als Vergleich, Leiden 1994; Thomas von Aquins Summa contra gentiles, Darmstadt 2001; Hg. (zus. m. W. Vossenkuhl): Die Gegenwart Ockhams, Weinheim 1990; Übers.: Thomas von Aquin, „Über die sittliche Handlung" [Sum. theol. III, q. 18-21], Einl. v. R. Spaemann, Weinheim 1990; Stuttgart 22001. Rudolf Schüßler, seit 2001 Professor für Philosophie an der Universität Bayreuth. Nach einem Doppelstudium der Volkswirtschaftslehre und Soziologie/Philosophie (Magister) in Giessen promovierte er 1989 in Soziologie an der LMU München. Es folgte ein Wechsel an das Fach Philosophie der Universität-GH-Duisburg. 1996 Habilitation in Duisburg mit einer Arbeit zur Sprachphilosophie Quines, Kripkes und Putnams für das Fach Philosophie. Buchpublikationen: Kooperation unter Egoisten: Vier Dilemmata, München 1997 (2. Aufl.); Moral im Zweifel, Bd.l: „Die scholastische Theorie des Entscheidens unter moralischer Unsicherheit", Paderborn 2003. Gegenwärtige Forschungsinteressen: Scholastische Entscheidungslehre und frühneuzeitliche Philosophie; Praktische Ethik (Wirtschaftsethik, Klimaschutz, Friedensethik). Oswald Schwemmer, geb. 1941, 1970 Promotion bei Paul Lorenzen. 1970 Wiss. Assistent an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1975 Habilitation in Erlangen-Nürnberg. 1978-1982 Professor für Philosophie an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1982-1987 Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der Universität Marburg. 1987-1993 Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der Universität Düsseldorf. Seit 1993 Lehrstuhlinhaber an der Humboldt-Universität zu Berlin. Auswahl an Publikationen: Philosophie der Praxis, Frankfurt/M. 1971; (mit Paul Lorenzen) Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie Mannheim/Wien/Zürich 1973; Ethische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1986; Handlung und Struktur, Frankfurt/M. 1987; Die Philosophie und die Wissenschaften, Frankfurt/M. 1990; Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin 1997. Martin Seel, geb. 1954, 1992 Professor für Philosophie an der Universität Hamburg, seit 1995 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Buchveröffentlichungen: Die Kunst der Ent-
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zweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt/M. 1985; Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/M. 1991; Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt/M. 1995; Ethischästhetische Studien, Frankfurt/M. 1996; Ästhetik des Erscheinens, München 2000; Vom Handwerk der Philosophie, München 2000; Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2002. Ludwig Siep, Professor der Philosophie an der Universität Münster. Fachgutachter der DFG 1988-1992. Vorsitzender der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung. Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Mitglied der Nordrhein-Westfälischen und (korrespondierend) der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hauptarbeitsgebiete: Praktische Philosophie und ihre Geschichte, allgemeine und angewandte Ethik. Wichtigste Veröffentlichungen: Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804 (1970); Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie (1979); Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus (1992); Zwei Formen der Ethik (1997); Der Weg der Phänomenologie des Geistes (2000). Josef Simon, geb. 1930, Studium der Philosophie, Germanistik, Geographie und der Geschichte in Köln; dort 1957 Promotion. Von 1957-1960 Referent bei der Studienstiftung des deutschen Volkes. Ab 1960 Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Frankfurt/M.; 1967 Habilitation; 1971 Professor an der Universität Frankfurt/M.; dann ab 1971 o. Professor für Philosophie an der Universität Tübingen, seit 1982 an der Universität Bonn; seit 1995 Emeritus. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart 1966; Philosophie und linguistische Theorie, Berlin/New York 1971; Sprachphilosophie. Handbuch Philosophie, hg. v. Elisabeth Ströker und Wolfgang Wieland. Freiburg/München 1981, Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989. Pirmin Stekeler-Weithofer, geb. 1952, Studium der Mathematik, Philosophie, Linguistik und Literaturwissenschaft in Konstanz, Berlin, Prag und Berkeley (California). Promotion 1984, Habilitation 1987. Seit 1992 Professur für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Analytische Philosophie der Sprache und Wissenschaft, Handlungstheorie. Grundprobleme der Logik. Buchveröffentlichungen: Elemente einer Kritik der formalen Vernunft, Berlin 1986; Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn 1992; Sinn-Kriterien. Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie von Piaton bis Wittgenstein, Paderborn 1995. Aufsätze zur Sprachphilosophie und Semiotik, zur Philosophie der Handlung, des Geistes, der Mathematik, zu Piaton, Kant, Hegel, Nietzsche. Achim Stephan verwaltet seit 2001 die Professur für Philosophie der Kognition im Cognitive-Science-Programme der Universität Osnabrück, zuvor Gastprofessor für Philosophie an der Universität Ulm und Fellow des Hanse Wissenschaftskollegs in Delmenhorst. Promotion 1988 in Göttingen bei Günther Patzig mit der Arbeit Sinn als Bedeutung. Bedeutungstheoretische Untersuchungen zur Psychoanalyse Sigmund Freuds (Berlin 1989), habilitierte sich 1998 an der Universität Karlsruhe mit der Arbeit Emergenz (Dresden 1999); Herausgeber u. a. von Animal Mind (mit H. Hendrichs und F. Dreckmann; Erkenntnis 1999: special
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issue), Ethik ohne Dogmen. Aufsätze für Günther Patzig (mit K. P. Rippe, Paderborn 2001) und Phänomenales Bewusstsein - Rückkehr zur Identitätstheorie? (mit M. Pauen; Paderborn 2001). Christian Streffer, Studium der Chemie an verschiedenen deutschen Universitäten. 1959 Diplom. 1963 Promotion im Fach Biochemie in Freiburg i. Br. Es folgte ein Forschungsaufenthalt am Department of Biochemistry in Oxford, England. Anschließend Assistent und Oberassistent am Radiologischen Institut der Universität Freiburg, 1967 Habilitation im Fach Molekulare Strahlenbiologie und 1972 Ruf auf die Professur für Strahlenbiologie in Freiburg i. Br. 1974 Ruf auf den Lehrstuhl für Medizinische Strahlenbiologie an die Universität Essen, gleichzeitig Direktor des Institutes für Medizinische Strahlenphysik und Strahlenbiologie, 1988-1992 Rektor der Universität, 1999 emeritiert. Gastprofessuren in Rochester, N.Y., USA und Kyoto, Japan. Gründungsmitglied des Institutes für Wissenschaft und Ethik an den Universitäten Bonn und Essen, Geschäftsf. Direktor der Abteilung für Ethische Fragen in Naturwissenschaft und Technik. Läszlö Tengelyi, Studium der Philosophie, der klassischen Philologie und der Geschichte an der Universität Budapest. Promotion 1986; Habilitation 1995; längere Studienaufenthalte in Leuven, in Wuppertal und Bochum sowie in Paris, kürzere in Wien und Washington, D. C. Nach langjähriger Tätigkeit als Hochschuldozent und später als Professor an der Universität Budapest seit 2001 Professor an der Universität Wuppertal. 1998-2000 Gastprofessor an der Universität Poitiers. 2003 Gastprofessor an der Universität Nizza. Buchveröffentlichungen in ungarischer Sprache: Autonomie und Weltordnung (1984); Kant (1988); Schuld als Schicksalsereignis (1992), Lebensgeschichte und Schicksalsereignis (1998). Buchveröffentlichung in deutscher Sprache: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte (1998). Zahlreiche Aufsätze zu Kant und dem Deutschen Idealismus sowie zu Husserl, Heidegger und der französischen Phänomenologie. Holm Tetens, geb. 1948, Studium der Philosophie, Mathematik und Soziologie in Bochum und Erlangen, Promotion 1977, Assistenzprofessor in Brasilia 1978-1979, Assistent in Marburg 1980-1986, Habilitation in Marburg 1986, Lehrstuhlvertretung in Göttingen 19871988, 1988-1994 Professor für Philosophie an der Universität Paderborn, seit 1994 Professor für theoretische Philosophie mit dem Schwerpunkt Wissenschaftstheorie an der Freien Universität Berlin. Bücher: Experimentelle Erfahrung (1987), Geist, Gehirn, Maschine (1994), Philosophisches Argumentieren (erscheint 2003). Gianni Vattimo, geb. 1936, studierte u. a. in Heidelberg bei H. G. Gadamer und K. Löwith. Seit 1964 lehrt er an der Universität Turin. Gastprofessuren nahm er in Yale, New York und anderen Universitäten wahr. Er ist Ehrendoktor der Universität von La Plata (Argentinien) und der Universität von Palermo (1998). 1997 erhielt er den großen Verdienstorden der italienischen Republik. Er ist zudem Mitglied des Europäischen Konvents. Sein philosophisches Werk ist der zeitgenössischen Hermeneutik in Auseinandersetzung mit Nietzsche und Heidegger gewidmet und ebenso einer Theorie der Moderne unter Einbeziehung anthropologischer Analysen. Rezente Arbeiten: Credere di credere, Mailand 1996; Dialogo con Nietzsche. Saggi
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1961-2000, Mailand 2001; Vocazione e responsabilità del filosofo, Genua 2000 und Dopo la cristianità. Per un cristianesimo non religioso, Mailand 2002. Ernst Ulrich von Weizsäcker, ehemals o. Prof. iur Interdisziplinäre Biologie an der Universität Essen; ehemals Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie; seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages; Vors. der Enquetekommission Globalisierung der Weltwirtschaft. Bernhard Waidenfels, geb. 1934, Studium der Philosophie, Psychologie, klassischen Philologie und Geschichte in Bonn, Innsbruck, München und Paris. Seit 1976 Professor für Philosophie in Bochum, seit 1999 emeritiert. Gastprofessuren u. a. in New York, Prag, Rom, Rotterdam und Wien. Veröffentlichungen u. a.: Phänomenologie in Frankreich (1983), In den Netzen der Lebenswelt (1985), Ordnung im Zwielicht (1985), Der Stachel des Fremden (1990), Einführung in die Phänomenologie (1992), Antwortregister (1994), DeutschFranzösische Gedankengänge (1995), Studien zur Phänomenologie des Fremden, 4 Bde. (1997-1999), Leiblichkeit des Selbst (2000), Verfremdung der Moderne (2001), Bruchlinien der Erfahrung (2002). Hg.: Husserl. Arbeit an den Phänomenen (2003). Sammelbände zu Derrida, Foucault, Merleau-Ponty und Schütz / Gurwitsch. Wolfgang Welsch, Jahrgang 1946, 1988-1993 Professor für Philosophie an der Universität Bamberg, 1993-1998 an der Universität Magdeburg, seit 1998 Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Jena. Gastprofessuren: Erlangen-Nürnberg (1987), Freie Universität Berlin (1987-1988), Humboldt-Universität zu Berlin (1992-1993), Stanford University (1994-1995), Emory University (1998), Humboldt-Professor des HumboldtStudienzentrums der Universität Ulm (Sommersemester 2003). Fellowships: 1985-1987 Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien; 1996 Japan Society for the Promotion of Science; 2000-2001 Stanford Humanities Center. 1992 Max-Planck-Forschungspreis. Zuletzt erschienen: Aesthetics and Beyond (Changohun, PR China: Jilin, 2003). Nicholas White ist Professor für Philosophie an der University of California, Irvine und unterrichtete Philosophie an der University of Michigan, Ann Arbor, USA. Er war CassirerProfessor an der Universität Hamburg im Sommersemester 1999 und Gastprofessor für Philosophie an der Universität Salzburg im Sommersemester 2003. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Plato on Knowledge and Reality (1979); Companion to Plato's Republic (1982) und Individual and Conflict in Greek Ethics (2002). Wolfgang Wieland, geb. 1933, Philosophiestudium 1952-1955, Promotion 1955, Habilitation 1960. Professuren in Hamburg, Marburg, Göttingen, Freiburg i. Br., Heidelberg, Emeritierung 1998. Studium der Humanmedizin 1965-1970, Ärztliche Approbation 1973. - Veröffentlichungen u. a.: Die aristotelische Physik (1962); Diagnose - Überlegungen zur Medizintheorie (1975); Piaton und die Formen des Wissens (1982); Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik - Philosophische Überlegungen zu Grundfragen einer praktischen Wissenschaft (1986); Aporien der praktischen Vernunft (1989); Verantwortung - Prinzip der Ethik? ( 1999); Urteil und Geßhl - Kants Theorie der Urteilskraft (2001 ).