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German Pages 566 [576] Year 2000
Zukunft des Wissens XVIII. Deutscher Kongress für Philosophie
Die Zukunft des Wissens XVIII. Deutscher Kongress für Philosophie Konstanz, 4.-8. Oktober 1999
Vorträge und Kolloquien Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß
Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - C I P - E i n h e i t s a u f n a h m e Die Z u k u n f t des W i s s e n s : Vorträge und Kolloquien / XVIII. Deutscher Kongreß für Philosophie, Konstanz, 4 . - 8 . Oktober 1999. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß. - Berlin : Akad. Verl., 2000
ISBN 3-05-003536-6 © A k a d e m i e Verlag G m b H , Berlin 2000 Der A k a d e m i e Verlag ist ein Unternehmen der R. O l d e n b o u r g - G r u p p e . Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf o h n e schriftliche G e n e h m i g u n g des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, M i k r o v e r f i l m u n g oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von v e r w e n d b a r e Sprache übeltragen oder übersetzt werden. Satz / Lektorat: Tobias Jentsch und Alexander Schmitz Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Druck: G A M M E D I A , Berlin Bindung: D r u c k h a u s „ T h o m a s Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of G e r m a n y
Datenverarbeitungsmaschinen,
Zukunft des Wissens XVIII. Deutscher Kongress für Philosophie
Vorwort
Vom 4. bis zum 8. Oktober 1999 fand in Konstanz der XVIII. Deutsche Kongreß für Philosophie, veranstaltet von der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland (AGPD), unter dem Rahmenthema „Die Zukunft des Wissens" statt. Mit diesem Thema und dem ihm entsprechenden Programm sollte deutlich gemacht werden, daß die Philosophie bereit und in der Lage ist, ihren Beitrag zur kritischen Analyse und zur konstruktiven Weiterentwicklung der modernen Welt und der modernen Gesellschaft zu leisten. Der vorliegende Band dokumentiert neben der Eröffnungsveranstaltung die Beiträge in den Kolloquien und die öffentlichen Vorträge. Kurzfassungen der Sektions- und WorkshopBeiträge lagen publiziert bereits zum Kongreß vor (Die Zukunft des Wissens. XVIII. Deutscher Kongreß für Philosophie, Konstanz 1999. Workshop-Beiträge, Konstanz [Universitätsverlag Konstanz GmbH] 1999). Ich danke allen Beiträgern dieses Bandes für die zügige Fertigstellung der Manuskripte, dem Akademie Verlag für eine intensive verlegerische Betreuung und die vorzügliche Ausstattung des Bandes sowie meinen Mitarbeitern Tobias Jentsch und Alexander Schmitz, in deren kundigen Händen die redaktionellen Arbeiten lagen.
Konstanz, März 2000
Jürgen Mittelstraß Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland (1997-1999)
Inhalt
Eröffnungsveranstaltung Jürgen Mittelstraß (Konstanz) Von der Philosophie - Begrüßung und Einfuhrung Rudolf Cohen (Konstanz) Rektor der Universität Konstanz, Grußwort
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Klaus von Trotha (Stuttgart) Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, Grußwort . . . .
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Hans Lenk (Karlsruhe) Vizepräsident der FISP, Grußwort
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Dieter Simon (Berlin) Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Festvortrag: Die Glaubensgesellschaft
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Öffentliche Vorträge Ian Hacking (Toronto) Paul Feyerabend after Dada
35
Hubert Markl (München) Lug und Trug als Preis des Wissens?
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Günther Patzig (Göttingen) Veritas filia temporis? Ein Vorschlag zur Differenzierung
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Inhalt
Kolloquien I. Wissen und Information Walther Ch. Zimmerli (Marburg) Einführung
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Peter Janich (Marburg) Information und Sprachphilosophie
78
Nico Stehr (Vancouver/Duisburg) Wissen und Information als Problem in der modernen Gesellschaft
92
Albert Borgmann (Missoula, Mont.) Information und Wirklichkeit
103
Walther Ch. Zimmerli (Marburg) Vom Unterschied, der einen Unterschied macht. Information, Netzwerkdenken und Mensch-Maschine-Tandem
115
II. Grenzen des Wissens / Grenzen der Wissenschaft Gereon Wolters (Konstanz) Einführung: Grenzen der Wissenschaft - eine Taxonomie
129
Holm Tetens (Berlin) Kommt die Grundlagenforschung an ein Ende? Wissenschaftstheoretische Überlegungen zu den Grenzen der Wissenschaft
132
Klaus Peter Rippe (Zürich) Darf die Ethik dem Wissenserwerb Grenzen setzen?
146
III. Rationalitätstheorien Herbert Schnädelbach (Berlin) Einfuhrung
159
Wolfgang Spohn (Konstanz) Über die Struktur theoretischer Gründe
163
Julian Nida-Rümelin (Göttingen) Was ist ein praktischer Grund?
177
Inhalt
IV. Wissensformen in den Geisteswissenschaften Annemarie Gethmann-Siefert (Hagen) Einführung
189
Rudolf Lüthe (Koblenz) Verstehen als analogisierendes Begreifen. Anmerkungen zum Problem des Verstehens in den historischen Wissenschaften im Anschluß an Überlegungen von Günther Patzig
192
Hans Seigfried (Chicago) Transparenz
204
Wolfram Hogrebe (Bonn) Mimesis und Mimik. Bildprobleme der Moderne
218
V. Von der Arbeits- zur Wissensgesellschaft? Hans Poser (Berlin) Einführung
233
Klaus Kornwachs (Cottbus) Vom Wissen zur Arbeit?
237
Friedrich Kambartel (Frankfurt a. M.) Arbeit und Wissen. Zur Politischen Ökonomie gegenwärtiger Entwicklungen
267
VI. Technik und Langzeitverantwortung Julian Nida-Rümelin (Göttingen) Einführung
279
Carl Friedrich Gethmann (Essen) / Georg Kamp (Bad Neuenahr-Ahrweiler) Gradierung und Diskontierung von Verbindlichkeiten bei der Langzeitverpflichtung
281
Christoph Hubig (Stuttgart) Langzeitverantwortung im Lichte provisorischer Moral
296
Angelika Krebs (Frankfurt a. M.) Wieviel Natur schulden wir der Zukunft?
313
Inhalt
VII. Orientierungswissen Volker Gerhardt (Berlin) Einführung: „Sich Orientieren"
335
Gerhard Vollmer (Braunschweig) Können wir den sozialen Mesokosmos verlassen?
340
Gottfried Seebaß (Konstanz) Was heißt, sich im Wollen orientieren?
353
Julian Nida-Rümelin (Göttingen) Normatives Orientierungswissen
374
VIII. Wirtschaftsethik Peter Koslowski (Hannover) Einführung: Globalisierung, Unternehmensführung und Wirtschaftsethik
387
Peter Koslowski (Hannover) Die Globalisierung und die Rolle der Wirtschaftsethik in der Untemehmensführung
390
Lee A. Tavis (Notre Dame, Ind.) Economic Advantage and Moral Issues in Corporate Governance
408
Josef Wieland (Konstanz) Corporate Governance und Unternehmensethik
430
Cornelius Fetsch (Düsseldorf) Die Globalisierung und die Rolle der Wirtschaftsethik in der Unternehmensführung. Kommentar aus der Sicht des Großunternehmens
441
IX. Bio- und Medizinethik Richard Schröder (Berlin) Einführung
455
Dieter Birnbacher (Düsseldorf) Selektion von Nachkommen. Ethische Aspekte
457
Heleen M. Dupuis (Leiden) What Is Knowledge but Grief?
472
Christoph Rehmann-Sutter (Basel) Die Interpretation genetischer Daten. Vorwort zu einer genetischen Hermeneutik . . . .
478
Inhalt
X. Abschlußkolloquium: Wissen und Gehirn Hans Lenk (Karlsrahe) Einführung: Gehirn, Schematisierung und Gedächtnis
499
Wolf Singer (Frankfurt a. M.) Wissen und seine Quellen aus neurobiologischer Sicht
518
Dietrich Dörner (Bamberg) Sprache und Gedächtnis
529
Martin Carrier (Bielefeld) Bedeutung und Naturbeschreibung
544
Abschlußveranstaltung Jürgen Mittelstraß (Konstanz) Schlußwort
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Hinweise zu den Autoren
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Eröffnungsveranstaltung
Jürgen Mittelstraß
Von der Philosophie - Begrüßung und Einführung Es ist ein schönes Gefühl, nach Wochen und Monaten anstrengender Vorbereitungen, für deren glänzende Erledigung ich schon jetzt meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herzlich danken möchte, den XVIII. Deutschen Kongreß für Philosophie eröffnen zu dürfen. Mit dem Thema „Die Zukunft des Wissens" haben wir für diesen großen Kongreß, der zum ersten Mal in der kleinen, aber feinen Universität Konstanz stattfindet, ein ebenso naheliegendes wie anspruchsvolles Thema gewählt. Naheliegend ist dieses Thema, weil heute alle Welt nach einem kurzen Frühling einer Informationsgesellschaft, die wohl irgendwo zwischen einer informierten und einer Wissen in seinen bisherigen Formen durch Information ersetzenden Gesellschaft liegen sollte, die Wissensgesellschaft beschwört, womit nunmehr eine Gesellschaft gemeint ist, die (1) über einen klaren Wissensbegriff verfügt und diesen von einem bloßen Informationsbegriff zu unterscheiden weiß, die (2) ihre Entwicklung und damit ihre Zukunft auf die Leistungsfähigkeit des wissenschaftlichen und des technischen Verstandes setzt und (3) daher auch im Wissen ihre wesentliche Produktivkraft erkennt. Anspruchsvoll ist dieses Thema, weil mit der Wissensgesellschaft nicht nur in dem genannten Sinne eine besser ausgebildete und besser produzierende' Gesellschaft, sondern auch eine klug zwischen Verstand - als Ausdruck eines Verfügungswissens - und Vernunft - als Ausdruck einer Orientierungskompetenz - unterscheidende Gesellschaft gemeint sein sollte. Diese wäre nämlich nichts anderes als die Einlösung des Versprechens der europäischen Aufklärung, die Verwandlung der Welt in eine rationale, auf Verstand und Vernunft setzende Welt zu bewerkstelligen. Mit anderen Worten, mit dem Thema „Die Zukunft des Wissens" soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß dem Wissen als Ressource, als Problemlösungsinstanz und als Orientierungsfaktor eine weiterhin wachsende Bedeutung zukommen wird. Davon zeugen sowohl innerwissenschaftliche Entwicklungen, z. B. in Biologie und Informatik, als eben auch Begriffe wie Informations- und Wissensgesellschaft, mit denen in einer außerwissenschaftlichen Perspektive neue Schnittflächen zwischen Wissen und Gesellschaft beschrieben werden. Es geht, auf der (allerdings noch ein wenig Zeit in Anspruch nehmenden)
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Wende zu einem neuen Jahrhundert und einem neuen Jahrtausend, um eine neue Dynamik zwischen Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Das wiederum sollte auch die Stunde der Philosophie sein - Philosophie hier verstanden als ein auf kritische Reflexivität, produktive Transdisziplinarität und methodische Konstruktivität angelegtes Wissen. Dabei galt die Philosophie lange als etwas, das im wesentlichen über den Wolken, in der Nähe des absoluten Geistes, stattfindet, nicht unter den Wolken, d. h. dort, wo auch unsere Probleme sind. Dieser Kongreß soll dagegen zeigen, daß unsere Welt auch die Welt der Philosophie ist und auch die Philosophie ihren Beitrag zur Lösung der Probleme dieser Welt zu leisten hat. Davon zeugen denn auch die Kolloquien und Workshops des Kongresses. Ich nenne stellvertretend für alle: Wissen und Information, Grenzen des Wissens, Orientierungswissen, Von der Arbeits- zur Wissensgesellschaft, Wissensmanagement, Technik und Langzeitverantwortung, Wissenschaftsethik, ferner Wirtschafts-, Bio- und Medizinethik, Wissen und Macht, Philosophie und Ethik in der Schule, Wissen und Gehirn. Erlauben Sie mir, daß ich an dieser Stelle, zur Fortsetzung einer allgemeinen Einfuhrung in unser Thema, noch einige kurze Bemerkungen zum Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft, Universität und Öffentlichkeit mache, und zwar zur Erinnerung daran, daß die Zukunft des Wissens immer schon ein Thema der Philosophie und - in Form ihres Verhältnisses zur Wissenschaft - auch ein Teil ihres (wissenschaftlichen und institutionellen) Schicksals und ihres schwierigen Standes in der Öffentlichkeit war. Im Anschluß daran wird Sie zunächst der Hausherr dieser Universität, Magnifizenz Rudolf Cohen, dann der Hausherr aller wissenschaftlichen und künstlerischen Hausherren in diesem Lande, Minister Klaus von Trotha, begrüßen. Bevor schließlich der Festredner des heutigen Vormittags, der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Dieter Simon, das Wort ergreift, wird uns auch noch die FISP (Fédération internationale des sociétés de philosophie), unsere institutionelle Übermutter, mit einem weiteren Grußwort, dargebracht durch ihren Vizepräsidenten, unseren Kollegen Hans Lenk, ihre Referenz erweisen. Ich begrüße die Grüßenden und den Festredner herzlich und freue mich darüber, daß sie unserem Kongreß Glanz verleihen. Damit wieder zu meinen Bemerkungen, zweiter Teil. Das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft ist ein notorisch schwieriges, immer wieder durch Mißverständnisse auf beiden Seiten belastetes. So sehen diejenigen, die das völlig Andere der Philosophie gegenüber den (Fach-)Wissenschaften betonen - und dies ist geradezu eine Standardvorstellung, wiederum auf beiden Seiten - , durchaus etwas Richtiges und tragen doch gleichzeitig zur Marginalisierung der Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft bei. Daß die Probleme der Philosophie überall gesucht und gefunden werden können, daß die Philosophie - und auch das kommt in dieser Vorstellung zum Ausdruck im Unterschied zu den Wissenschaften keinen eigenen Gegenstandsbereich besitzt und kein (für die Wissenschaften geradezu konstitutives) Lehrbuchwissen ausbildet, gehört zu den Besonderheiten der Philosophie und macht ihre eigentümliche Reflexions- und Wissensform aus. Doch eben dies könnte, von seiten der Philosophie verzagt oder eskapistisch vorgetragen, die Vorstellung nähren, Philosophie sei derart grundsätzlich von wissenschaftlicher Rationalität unterschieden, daß sie (schon jetzt oder in Zukunft) keinen Platz in der wissenschaftlichen oder akademischen Welt mehr habe. Das aber ist (glücklicherweise) ein Irrtum.
Von der
Philosophie
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Die Philosophie entstand aus demselben Geiste, aus dem die Wissenschaft entstand, oder anders ausgedrückt: die (griechische) Entdeckung der Möglichkeit von Wissenschaft war auch die Entdeckung der Möglichkeit von Philosophie. Ein Forschungsprinzip - in griechischer Formulierung ATO^EIV T& cpaivöjaeva (Rettung der Phänomene) - und ein Begründungsprinzip - in griechischer Formulierung Xöyov öiöovai - ergänzen einander; auch sie sind Ausdruck desselben Geistes. Und dies gilt nach wie vor für die wissenschaftliche und die philosophische Rationalität. Das aber bedeutet für die Philosophie, daß sie ihrem Wesen nur nahebleiben wird, wenn sie auch den Wissenschaften nahebleibt - was auch umgekehrt gilt: Auch die Wissenschaften entfernen sich von ihrer Rationalitätsidee, wenn sie sich aus ihrer Nachbarschaft mit der Philosophie entfernen, jedenfalls einer solchen, die Wissenschaft nicht als das Fremde, der eigenen Rationalitätsidee Entlegene, sondern als das in dieser Idee Verwandte begreift. Die Philosophie ist, wie wir alle wissen, in einem langen wissenschaftlichen Differenzierungsprozeß selbst zu einer Disziplin insofern geworden, als sie neben einer mit den Wissenschaften gemeinsamen Rationalitätsidee eine eigene Rationalitätsform, nämlich die der philosophischen Reflexion, besitzt und in dieser Form auf die Rationalitätsformen der anderen Disziplinen grundlagenorientiert bezogen bleibt. Wo sich die Philosophie anders versteht, verliert sie ihr symbiotisches Wesen mit den Wissenschaften, die ihrerseits eine wesentliche Rationalitätsform rationaler Kulturen darstellen, und partikularisiert sich in ihren Geltungsansprüchen. Sie folgt damit dem Trend der modernen Wissenschaftsentwicklung zu immer höherer Spezialisierung, gegen den sie in ihrem Anfang und ihrem bleibenden griechischen' Wesen gerichtet ist, und sie historisiert sich selbst, wenn sie sich auf philosophiehistorische Analysen, d. h. auf Philosophiegeschichte, beschränkt. Die Frage ist, wie sie in Zukunft - vorausgesetzt, daß sie ihrem systematischen Wesen nahebleiben will - ihre Aufgaben unter den Wissenschaften, und damit auch in der Universität, erfüllen wird. Eine moderne Form dieser Erfüllung, in der die Philosophie in ein kooperatives Verhältnis zu den Wissenschaften tritt, ist die Wissenschaftstheorie. Diese befaßt sich vor allem mit Analysen, die sich auf die Darstellungsformen von Wissenschaft, insbesondere auf Fragen der Theorienstruktur, der Theoriendynamik und der Theorienexplikation, beziehen. Hier geht es - Stichwort Theorienstruktur - aus philosophischer wie aus wissenschaftlicher Perspektive um Strukturen einer Wissenschaftssprache, um Strukturen wissenschaftlicher Gesetze und Erklärungen sowie um den Aufbau von Theorien. In diesen Fällen entscheidet nicht eine Disziplin jeweils allein darüber, wie sie es mit der wissenschaftlichen Sprache, mit Gesetzen, Erklärungen und einem theoretischen Aufbau halten will; sie folgt vielmehr in der gesamten scientific Community geltenden, sich an ,guter theoretischer Praxis' und einer ständigen systematischen Reflexion orientierenden Regeln, die vor allem wissenschaftstheoretisch reflektierte Regeln sind. Das gleiche gilt vom Stichwort Theoriendynamik, das sich auf eine (rationale) Rekonstruktion wissenschaftlicher Entwicklungen (Theorieentwicklungen) bezieht, wobei es im engeren theoretischen Sinne vor allem um Probleme einer semantischen Reduzierbarkeit zweier Theorien aufeinander geht, ferner um das Problem transtheoretisch anwendbarer Kriterien im Leistungsvergleich von Theorien untereinander. Auch diese Probleme sind nicht trivial, und ihre Behandlung erfordert in der Regel einen erheblichen systematischen Aufwand, der weit über etwas in einer Disziplin einfach Mitzuerledi-
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gendes hinausgeht. Noch anders im Falle des Stichworts Theorienexplikation, mit dem es um konkrete Fragen wie etwa die geht, ob es eine physikalische Grundlage für die Anisotropie der Zeit oder deren Einsinnigkeit, d. h. eine (nicht nur definitorische) Auszeichnung der Zukunft, gibt. Derartige Fragen sind selbst wissenschaftliche Fragen, aber eben auch solche, die eine wissenschaftsnahe Philosophie mit ihren (wissenschaftstheoretischen) Mitteln, etwa in Form einer Philosophie der Physik oder einer Philosophie der Biologie, zu beantworten sucht. Und wie es scheint, nehmen derartige Fragen in der Wissenschaft zu, d. h. Fragen, die den gewohnten fachlichen oder disziplinaren Rahmen sprengen und insofern zu neuen Formen der Zusammenarbeit zwingen. Dies gilt z. B. auch für die moderne Philosophie des Geistes, insofern diese sich sowohl in analytischer als auch in konstruktiver Form kooperativ in die Arbeit der Psychologie und der Neurowissenschaften einschaltet. Eine andere konstruktive Form eines kooperativen Verhältnisses der Philosophie zu den Wissenschaften, mit ihren wissenschaftstheoretischen Formen unmittelbar zusammenhängend, ist ihre gegebene oder aufs neue wieder zu entwickelnde transdisziplinäre Kompetenz. Damit ist eine Kompetenz gemeint, die nicht nur der modernen wissenschaftlichen Entwicklung folgt, einer Entwicklung, die die Wissenschaften immer stärker aus ihren fachlichen und disziplinaren Kernen fuhrt, sondern die diese in methodischer und anderer, z. B. auch institutionelle Aspekte einschließenden, Weise ,orchestriert'. Transdisziplinarität hier verstanden als ein wissenschaftliches Arbeits- und Organisationsprinzip, das problemorientiert über Fächer und Disziplinen hinausgreift, kein transwissenschaftliches - und etwa in diesem Sinne philosophisches - Prinzip. Die Optik der Transdisziplinarität ist eine wissenschaftliche Optik, auch in ihrer philosophischen Wahrnehmung, und sie ist auf eine Welt gerichtet, die selbst mehr und mehr zu einem Werk des wissenschaftlichen und des technischen Verstandes, zu einer Leonardo-Welt wird. Unter den Wissenschaften ist Transdisziplinarität zugleich Ausdruck der Zukunft einer wissenschaftsnahen Philosophie. Philosophie, die den Wissenschaften nahebleibt und in der Zukunft des Wissens auch Konturen einer eigenen Zukunft erkennt, ist aber nicht nur Wissenschaftstheorie und, auf die wissenschaftliche Arbeit bezogen, transdisziplinäre Kompetenz, sondern, zumindest im universitären Kontext, auch eine Reflexionsschule. Sie vermittelt ihre eigene Rationalitätsform, nämlich die einer philosophischen Reflexion, im Forschungs- und Lehrkontext und nimmt zugleich eine in der modernen Universität heimatlos gewordene bildende Aufgabe, d. h. die Aufgabe einer bildenden wissenschaftlichen Rationalität wahr. Die philosophische Rationalitätsform findet allgemein im Wissenschaftszusammenhang ihren Ausdruck darin, auch dort noch auf Klarheit aller wissenschaftlichen Verhältnisse in analytischer und konstruktiver Form zu dringen, wo sich das wissenschaftliche Bewußtsein selbstbewußt auf erfolgreiche Theorien und wissenschaftliche Praxen beruft. Seit Piaton gilt hier in der Philosophie der Grundsatz, daß nichts für (theoretische oder praktische) Orientierungsbemühungen Relevantes einer begründungsorientierten und in diesem Sinne philosophischen Reflexion entzogen werden kann und soll. Im gelingenden Fall führt dieser Grundsatz die Philosophie in eine wissenschaftstheoretisch und transdisziplinär reflektierte Einheit des philosophischen und des wissenschaftlichen Bewußtseins. Das gleiche gilt unter dem guten alten Gesichtspunkt Bildung durch Wissenschaft (W. v. Humboldt). Derzeit sind im allgemeinen öffentlichen Bewußtsein und im Bewußtsein
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der Universität Wissenschaft und Bildung weitgehend entkoppelt. Die Vermittlung einer wissenschaftlichen Arbeitsform und - wenn es sie denn doch noch geben sollte - einer wissenschaftlichen Lebensform mit den nicht-wissenschaftlichen Arbeits- und Lebensformen der Gesellschaft gehört jedenfalls nicht mehr zu den von der Universität in Form einer institutionellen Einheit von Forschung, Lehre und Bildung wahrgenommenen Aufgaben. Ausbildung im üblichen, Sachverstand allein auf begrenzten Feldern vermittelnden Sinne ist an die Stelle einer derartigen Einheit getreten, ferner Spezialisierung um jeden Preis. In einer Welt, die ihre Bildungs- und Ausbildungsgewohnheiten vornehmlich an Märkten orientiert und in der sich der Wissenschaftler nicht mehr als Träger einer allgemeinen Bildungsidee versteht, hat die Vorstellung, daß Bildung sich an den Idealen einer durch Wissenschaft aufgeklärten Gesellschaft orientiert, kaum mehr eine Chance. Dabei wird sich Bildung sicher nicht mehr auf die aufklärerische Vorstellung berufen können, daß allein das wissenschaftliche Bewußtsein wahrhaft gebildet ist. Sie wäre aber auch als eine mehr oder weniger betuliche Alternative zur fortschreitenden Verwissenschaftlichung der Welt gründlich mißverstanden. Bildung hat schließlich stets etwas mit dem Wesen einer rationalen Kultur, anspruchsvoll formuliert: mit Identitätsfindung in einer rationalen Kultur zu tun. Sie ist ein Medium, in dem es dem einzelnen, der Subjektivität, gelingen soll, in seiner besonderen Lebensform das Allgemeine (im Sinne einer überwundenen reinen Subjektivität) zu verwirklichen. Das gilt auch in einer Leonardo-Welt, d. h. in einer Welt, in der der wissenschaftliche (und der technische) Verstand herrscht, und das könnte daher auch, ineins mit dem wissenschaftlichen Verstand, die Stunde der Philosophie in der Universität sein. Ihre Rationalitätsform als philosophische Reflexivität ist schließlich auch eine (auf wissenschaftliche Verhältnisse abgestimmte) Bildungsform. Eine ganz andere Frage ist, wie dies in der Öffentlichkeit (dem letzten Stichwort meiner einführenden Bemerkungen) wahrgenommen wird. Hier scheint es das eigentümliche Schicksal der Philosophie (zumindest in Deutschland) zu sein, daß sie von der Öffentlichkeit in der Regel (erst) dann wahrgenommen wird, wenn sie selbst aus ihrer wissenschaftlichen Form heraustritt und - gemessen an ihren eigenen Rationalitätsstandards - unsolide wird. Ein lehrreiches Exempel dafür ist die zum Teil gespenstische Formen aufweisende Debatte über das wachsende interventionistische Potential der neuen Biologie. Anlaß dieser Debatte ist ein Vortrag (von P. Sloterdijk), der - so läßt sich feststellen, nachdem wir ihn endlich lesen durften - in bisweilen geistreicher, allerdings durch begriffliche Klarheit nicht übermäßig belasteter Weise den Stab über das Wesen des Humanismus zu brechen sucht - mit einer abenteuerlichen Piatoninterpretation, einigen oberflächlichen Ausflügen ins Biologische und Überlegungen über Züchtung und Anthropotechnik, die im wesentlichen in nebulösen und insinuierenden Andeutungen und Halbheiten steckenbleiben. Also viel Lärm um nichts? In jedem Falle Lärm, der einer ernsthaften Arbeit der Philosophie und ihrer Wahrnehmung im öffentlichen Bewußtsein abträglich ist. Diese Arbeit wird im übrigen seit langem auf eine professionelle, wissenschaftlich informierte und es mit dem Denken ernstnehmende Weise getan, z. B. dort, wo es um ethische Probleme der pränatalen Diagnostik, der Xenotransplantation und der Keimbahnintervention geht. Die Vermutung ist berechtigt, daß viele unserer Medien in Sachen Philosophie an sachlicher Arbeit und deren Ergebnissen weniger interessiert sind als an intellektuellen Schattenspielen.
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Und auch wer Aufklärung mit totaler Selbstschöpfung des Menschen (auf Züchtungsoder anderen Wegen) verwechselt, wie es ebenfalls derzeit aus der Gespensterdebatte schallt, macht es sich zu leicht. Aus der Forderung nach Selbstbestimmung, die die Autonomie des Menschen mit ethischen Maßen mißt, wird hier ein Homunkulusszenario, in dem es gerade nicht um Selbstbestimmung im ethischen Sinne, sondern um die Durchsetzung eines technologischen' Paradigmas gegenüber jeder Form von Autonomie geht. Das aber ist nicht der Triumph der Aufklärung, sondern deren zynische Verabschiedung. Daß dies auch noch auf dem Hintergrund eines radikalen Biologismus geschehen könnte, den nicht einmal die Biologie selbst vertritt, wenn sie über den Menschen nachdenkt, zeigt nur die besondere Naivität, mit der sich hier das Denken über alle wissenschaftlich und philosophisch legitimierbaren Grenzen zu erheben sucht. Kurz: die Philosophie redet sich, wenn sie in der von den Medien offenbar geschätzten Weise verfährt, nämlich ihre eigene Rationalitätsform verläßt, um Kopf und Kragen. Die Wissenschaften stehen konsterniert daneben, und die Öffentlichkeit glaubt einmal wieder zu wissen, was Philosophie ist, nämlich ein Denken, in dem vor allem geraunt, verdunkelt, provoziert und auf eine alte Rattenfängerart der halbgebildete Verstand in die Orientierungslosigkeit gezogen wird. Dagegen ist festzuhalten - und unser Kongreß, so denke ich, wird dies in seiner Arbeit bestätigen - , daß Philosophie noch immer in erster Linie Aufklärung ist, nicht nach Propheten- oder Dogmatikerart, sondern in Form eines auf nüchterne analytische Kompetenz, argumentativen Ernst und methodische Durchsichtigkeit gestützten Denkens. Ich weiß, daß dies in Zeiten postmoderner Disziplinlosigkeit, hermeneutischer Unfruchtbarkeit und modischer Effekthascherei beinahe schon ein wenig wie von gestern, eben unzeitgemäß, klingt, doch dürfte es mal wieder an der Zeit sein, die Philosophie, und damit das Denken, daran zu erinnern, daß ihre Zukunft in der Konkurrenz um das bessere Argument, die größere Klarheit, die forderlichere Entwicklung des Bewußtseins und des verantwortlichen Handelns, nicht in der Konkurrenz um den besseren Platz in Feuilleton und Talkshow liegt. Die entscheidende Frage nach dem Humanum und seiner bleibenden Gegenwart in einer LeonardoWelt, in der alles machbar und manipulierbar scheint, läßt sich jedenfalls nicht durch eine Humanismusschelte und ein paar verwegene Klassikerinterpretationen beantworten. So viel zu den Stichworten Philosophie, Wissenschaft, Universität und Öffentlichkeit. Hegels wirkungsvoller Vergleich der Philosophie mit der Eule der Minerva, die in der Abenddämmerung ihren Flug beginnt, wenn die Wirklichkeit längst ,ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat', hat die Philosophie tagesmüde gemacht. Sie gefällt sich seither darin, mit Bedacht zu spät zu kommen, also notorisch unpünktlich zu sein, wenn es um das Werden und um die Gegenwart einer noch unfertigen Wirklichkeit geht. Wie wäre es da mit einem kleinen Paradigmenwechsel? Allerdings nicht auf jenen modischen Wegen, auf denen die Philosophie, verliebt in ihre literarischen und raunenden Qualitäten, einer oberflächlichen Wirklichkeit in die Falle geht. Warum - so darf man vielmehr fragen sollte nicht auch einmal die Morgendämmerung die Stunde der Philosophie sein? Die Morgendämmerung des Wissens und einer neuen Zeit. Dieser Kongreß wird sich jedenfalls vorwiegend mit Fragen beschäftigen, die sich heute und morgen stellen. Er wird, so hoffe ich zuversichtlich, demonstrieren, daß auch die Philosophie eine junge Wissenschaft ist, daß eine neue Dynamik zwischen Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft auch die Philosophie einschließt, und daß die Zukunft des Wissens auch ihre Zukunft ist.
Rudolf Cohen
Grußwort Es ist für die Universität Konstanz eine Ehre und Freude, daß dieser - wie man mir sagte größte und wichtigste deutsche Philosophenkongreß in diesem Jahr an unserer Universität stattfindet. Wir verdanken dies zum einen der sympathischen Regel, daß der Kongreß immer an der Heimatuniversität des jeweiligen Präsidenten der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland stattfindet, und wir - zum anderen - die Freude und Ehre haben, mit Herrn Mittelstraß ihren derzeitigen Präsidenten zu den Unseren zählen zu dürfen. Erlauben Sie mir drei Bemerkungen, warum ich es besonders begrüße, daß dieser Kongreß unter dem Thema „Die Zukunft des Wissens" steht, aber auch, daß dieser Kongreß gerade jetzt hier in Konstanz stattfindet: Erstens: Die Organisatoren und das Programm dürften Gewähr bieten, daß sich mit diesem Kongreß in Konstanz - dem man mindestens jene Beachtung in der Öffentlichkeit wünschen möchte wie gewissen Treffen in Elmau oder in Lech - , daß sich mit diesem Kongreß die Darstellung der Philosophie in der Öffentlichkeit endlich wieder von dem skandalumwitterten, peinlich-polemischen und ähnlich eitel wie infam anmutenden Medienspiel der letzten Wochen löst. Herr Mittelstraß hat dieses Problem in seiner Einführung kurz angesprochen. Es ist höchste Zeit, daß die Philosophie nach diesem Profilierungsexzeß und diesem zunehmend langweilig werdenden Nachspielen in der Presse wieder zu einer ernsthaften und - erlauben Sie mir das altmodische Wort - würdigen Auseinandersetzung zurückkehrt mit den Fragen, um die es teils schon immer, ganz gewiß aber heute und in absehbarer Zukunft für die Menschheit und für die Wissenschaft geht. Wie dem Programm zu entnehmen, wird dabei keinem der Themen ausgewichen, von denen seit den Vorgängen um einen Vortrag in Elmau der Eindruck erweckt wird, sie seien stets unter dem Teppich gehalten. Zweitens: Mit dem Thema „Die Zukunft des Wissens" stellen Sie ein Thema in den Vordergrund Ihrer Auseinandersetzungen, das wie kaum ein anderes in den letzten Jahren die Forschung in meinem eigenen Fach - der Psychologie - bestimmt hat: Was hat man sich unter „Wissen" vorzustellen? Wie kann man sich den Erwerb oder auch den Verlust an Wissen - etwa im Gefolge von Hirnschäden - vorstellen? Welche Rolle spielt beim Erwerb und beim Besitz von Wissen das Bewußtsein, welche Rolle die Sprache? Wie steht es um die Beziehung des „Wissens" zu dem, was gemeinhin unter Begriffen der Emotion, der Motorik und der Handlungsplanung behandelt wird? Fast eine jede dieser Fragen wird auf Ihrem Kongreß in dem einen oder anderen Kontext angesprochen - zumal in dem Abschlußkolloquium über „Wissen und Gehirn". Drittens: Gleichsam als Vorgeschmack auf Ihr Thema und Ihren Kongreß konnte ich vorletzte Woche in Bonn die Ausstellung „Alexander von Humboldt: Netzwerke des Wissens" sehen. Wohl für jeden von uns ist der Name Humboldt zu einem Inbegriff des systematischen und unermüdlichen Wissens-Erwerbs geworden, sowie der erstaunlichen Fähig-
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Rudolf Cohen
keit, dieses Wissen quer über die Disziplinen hinweg zu verbinden. Dabei vermochte er wie kaum ein anderer - offenbar auch mit großem Vergnügen - , andere an diesem Wissen teilhaben zu lassen, und sich - mit ähnlich großer Entschiedenheit wie diplomatischer Vorsicht - dem Gedankengut eines aufgeklärten, politisch engagierten Humanismus verpflichtet zu wissen. Interessanterweise brachte die Bonner Ausstellung den Namen Alexander von Humboldts im Untertitel nicht nur - wie Ihr Kongreß - mit „Wissen" in Verbindung, sondern mit „Netzwerken des Wissens". Humboldt selbst verwendete gerne diesen Begriff des Netzwerkes, der zumindest in der Psychologie und anderen Neurowissenschaften, in der Linguistik und in der Künstlichen Intelligenz einer der am häufigsten gebrauchten Begriffe ist, wenn es um die Modellierungen dessen geht, was wir als „Wissen" zu begreifen suchen. Über sich selber schreibt Humboldt in einem Brief: „Mein eigentlicher, einziger Zweck ist es, das Zusammen- und Ineinander-Weben aller Naturkräfte zu untersuchen" (1799). Mit der Wahl Ihres Themas verknüpfen Sie unweigerlich aufs engste zentrale Fragen, die in gleicher Weise für die geistes- wie für die naturwissenschaftlichen Disziplinen von Bedeutung sind. Eine solche disziplin- und fakultätsübergreifende Orientierung entspricht vorzüglich den ursprünglichen Zielsetzungen dieser Universität und sie entspricht ganz genauso dem, was wir auch in unserer neuen, zum 1. Oktober 1999 vom Ministerium in Kraft gesetzten Grundordnung anstreben. Diese neue Grundordnung erwuchs im wesentlichen der intensiven Auseinandersetzung mit den Empfehlungen einer vom Senat der Universität eingesetzten Kommission, die von dem Präsidenten Ihrer Gesellschaft und dieses Kongresses, von Herrn Mittelstraß, ohne alle inhaltlichen oder personellen Vorgaben gestaltet und geleitet worden war. In den Empfehlungen dieser Kommission heißt es, die Universität sei „ein Ort, an dem Wissen methodisch erzeugt, zusammengeführt, systematisch geordnet, bewertet und vermittelt wird [...]. Vor diesem Hintergrund kommt ihr in der modernen Informations- oder Wissensgesellschaft eine herausragende Stellung auch bei der Erledigung der Aufgabe zu, neue Formen des Wissens zu entwickeln und zu vermitteln." 1 So paßt es bestens zu unseren Wunschvorstellungen, daß Sie in diesem Sinne Ihren Kongreß an unserer Universität ausgerichtet haben, und daß dabei dieser Ihr Kongreß noch dazu eine Größenordnung erreicht, wie wir sie sonst nur aus den Naturwissenschaften kennen. Ich wünsche dem Kongreß ein gutes Gelingen und Ihnen allen anregende und hoffentlich auch vergnügliche Tage in Konstanz!
1 Bericht der Strukturkommission: Modell der Universität,
Konstanz 1998, 39 f.
Konstanz.
Empfehlungen
zur strukturellen
Weiterentwicklung
Klaus von Trotha
Grußwort Im Namen der Landesregierung von Baden-Württemberg und besonders im Namen von Herrn Ministerpräsident Erwin Teufel, der die Schirmherrschaft für diesen XVIII. Deutschen Kongreß für Philosophie gerne übernommen hat, heiße ich Sie in unserem Lande - und in einer unserer schönsten Städte, Konstanz am Bodensee - sehr herzlich willkommen. Die über 200 Vorträge zu aktuellen Themen der Philosophie sind nicht nur quantitativ, sondern auch intellektuell eine Herausforderung, die beeindruckt. Das Tagungsprogramm zeigt, daß die Philosophie dabei ist, sich von ihrer starken historischen Orientierung der vergangenen Jahre abzuwenden und sich umzuorientieren auf anwendungsnahe Themen mit gesellschaftspolitischer Relevanz. Und dennoch - Sie werden mir diesen Hinweis als Wissenschaftsminister nachsehen vermisse ich auf Ihrem Kongreß ein Thema, zu dem die Philosophie - gerade in Umbruchzeiten - bahnbrechende Beiträge geleistet hat: Das Nachdenken über Wesen und Aufgaben der Einrichtung, die in besonderer Weise für die „Zukunft des Wissens" Verantwortung trägt, die Universität. Ich erinnere an die Krise der Universität zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch innere „Zeitbedürfnisse" (Fichte) und äußere Bedrohungen und die entsprechenden Vorschläge von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt. Es war die damalige geistige Neubegründung der Universität durch letzteren, die bis heute durchdringt und die bis heute (nach-)wirkt. Ich erinnere an Karl Jaspers' Buch Die Idee der Universität als „Dokument eines verzweifelten Bemühens um geistige Kontinuität nach den politischen Erfahrungen des Nationalsozialismus" (Wolf Lepenies). Trotz ihrer Bedeutung ist in dieser Schrift das Dilemma vorgezeichnet, das bis heute die Diskussion über das Gestern, Heute und Morgen der Universität bestimmt: Als Leitmaxime beschwört Karl Jaspers die Treue zur Humboldtzeit, die trotz des politisch-militärischen Zusammenbruchs radikale Neuschöpfungen im Bildungssektor verbiete. Idee und Wirklichkeit der deutschen Universität fallen - damals wie heute auffallend auseinander. Gerade das emsthafte Nachdenken über dieses Spannungsverhältnis zwischen Idee und Wirklichkeit des Wissenschaftssystems müßte ein wesentlicher Teil der intellektuellen Arbeit der Universität und hier nicht zuletzt der Philosophie sein. Der in diesem Jahr veröffentlichte Bericht der internationalen Kommission zur Systemevaluation der DFG und MPG enthält hierzu eine Vielzahl von Ansatzpunkten und zeigt Schwachstellen - hier des deutschen Wissenschaftssystems - auf. Die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts, das Thema dieses Kongresses, mit ihren bestimmenden Entwicklungslinien - Produktionsfaktor Wissen, Globalisierung und Digitalisierung - erzwingt geradezu die theoretische und perspektivische Beschäftigung mit der Dynamik und der Wesensfrage der Universität. Voraussetzung dafür ist eine selbstkritische Standortbestimmung. Im Grunde genommen geht es dabei aber um nichts weniger als „um die Idee der Universität im öffentlichen Inter-
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esse nach dem Anbruch einer neuen wissenschaftlichen Zeitrechnung" (Klaus Michael Meyer-Abich). Nur wenn diese Diskussion öffentlich und offen von allen Beteiligten geführt wird, besteht die Chance, daß die Universität trotz ihrer unbestreitbaren Legitimationskrise ihre ehemals zentrale Stellung im Wissenschaftssystem zurückgewinnt. Dazu gehört auch eine (selbst-)kritische Überprüfung des herkömmlichen Wissenschaftsverständnisses. Die Philosophie kann und muß zu dieser öffentlichen Auseinandersetzung einen gewichtigen Teil beitragen. Wenn ich diese Fragen aufwerfe, dann klopfe ich auch an die eigene Brust. Auch die Politik und die Gesellschaft müssen ihren Beitrag leisten und dürfen nicht erwarten, daß die Hochschulen ihnen fertige Konzepte liefern. Wir müssen uns gemeinsam bemühen, die richtigen Fragen zu stellen und nach den richtigen Antworten zu suchen. Bei den vor uns liegenden Aufgaben verbietet es sich, sich in Konfliktstrategien aufzureiben. Stärker denn je sind gesellschaftliche Vielfalt und Offenheit gefordert für verschiedene Lösungsansätze und, wo immer möglich, auch für eine breite Konsensbildung. Diese darf allerdings nicht zu Lasten notwendiger Entscheidungen und Maßnahmen gehen. Konstanz als Tagungsort scheint mir für diese Fragestellungen gut gewählt. Denn hier in der Philosophischen Fakultät und insbesondere im Zentrum für Philosophie und Wissenschaftstheorie bilden Fragen zur Zukunft des Wissens und zu Wissenschaft und Ethik einen Schwerpunkt der Forschung. Dies ist Ihnen allen bekannt und bedarf nach der Einführung von Herrn Professor Mittelstraß in das Thema des Kongresses auch keiner weiteren Erläuterung. Hervorheben möchte ich, daß gerade Professor Mittelstraß der immer wieder eingeforderten intensiven Einmischung der Geisteswissenschaften im allgemeinen und der Philosophie im speziellen in die bildungs- und wissenschaftspolitische Diskussion nachgekommen ist: Sein Buch Die unzeitgemäße Universität, in dem er mit einer unbequemen Zustandsbeschreibung der heutigen Universität und tiefgreifenden Lösungsvorschlägen an tradierten wissenschaftsimmanenten Tabus rüttelt, ist dafür ebenso Beweis wie seine Bereitschaft, sich als Vorsitzender einer international besetzten Expertenkommission zur strukturellen Weiterentwicklung der Universität Konstanz selbst in das Getümmel der Handlungsebene zu begeben und damit gleichsam den Transfer der Ergebnisse wissenschaftstheoretischer Reflexion in die wissenschafts- und gesellschaftspolitische Praxis zu leisten. Die von ihm geleitete Expertenkommission hat mit ihrer nüchternen Standortbestimmung und mit ihrem „Modell Konstanz" einen viel beachteten Beitrag zur bundesweiten Strukturdebatte über die Universitäten geliefert. Ich freue mich darüber deshalb, weil hier - wenn auch unter gewissem Druck aus Politik und Gesellschaft - die Wissenschaft selbst die Initiative ergriffen und eine neue Grundordnung für die Universität Konstanz beschlossen hat. Diese Grundordnung ist ein richtiger und mutiger Schritt zur Reform der Universität Konstanz und ihrer strukturellen Weiterentwicklung. Ich bin zuversichtlich, daß der breite Konsens über die Notwendigkeit eines professionelleren Managements und über das Erfordernis einer noch stärker fachübergreifenden Forschung und Lehre rasch umgesetzt wird. Daß die Universität Konstanz sich nun in fakultätsübergreifende Sektionen gliedert und einen Universitätsrat erhält, der ausschließlich mit externen Mitgliedern besetzt sein wird, begrüße ich nachdrücklich, da
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Konstanz damit eigene Reformansätze verfolgt und sogar über die in Baden-Württemberg geplanten gesetzlichen Vorgaben hinausgeht. Ich bin überzeugt, daß die Universität auf diese Weise die Herausforderungen der Wissensgesellschaft eher bewältigen und bestehen kann als in ihrer überkommenen Struktur. Ich denke dabei an -
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den Wandel von Bildung und Ausbildung in der Informationsgesellschaft, die Pluralisierung der institutionellen Strukturen von Bildung und Ausbildung nach dem Verlust der wissenschaftlichen Ausbildung als Alleinstellungsmerkmal der Universitäten, die zunehmende Kommerzialisierung von Bildung und Ausbildung mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Ausbildung zum Dienstleistungsgewerbe, die Bedeutung der Forschung und des Technologietransfers als Grundlage und Voraussetzung jeglicher Innovation, den hohen Finanzbedarf der Universitäten bei schwieriger öffentlicher Haushaltsituation, die öffentliche Legitimationskrise der Universitäten als Folge des Wegbrechens der früher selbstverständlichen Leistungsvermutung der Öffentlichkeit zu Gunsten der Wissenschaft und die Positionierung der Universitäten im nationalen und globalen Bildungswettbewerb.
Ich freue mich, daß die Weiterentwicklung des Konstanzer Reformmodells in wesentlichen Punkten parallel zu der Richtung verläuft, die wir in Baden-Württemberg mit dem Inkrafttreten der dritten Stufe der Hochschulreform zum 1. Januar 2000 für die Universitäten insgesamt verfolgen. Für mich sind fünf Orientierungspunkte für die künftige Struktur des Wissenschaftssystems wesentlich: -
Transparenz, Qualität, Wettbewerb, Kooperation und Internationalität.
Mit den überkommenen Strukturen haben wir noch kein Optimum an Handlungsfähigkeit im Interesse der Nutzung von Wissen und Ressourcen erreicht. Zentrales hochschulpolitisches Ziel ist es, die Selbststeuerungsfähigkeit der Hochschulen zu verbessern, um die Effizienz beim Einsatz der Finanzmittel weiter zu erhöhen und das Leistungspotenzial der Hochschulen zu stärken. Dies bedeutet unter anderem: -
Delegation von Aufgaben und Deregulierung vor allem durch Einschränkung von Verordnungsermächtigungen und Verwaltungsvorschriften sowie Zustimmungsvorbehalten des Wissenschaftsministeriums.
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Neuordnung der Leitungsstrukturen und Straffung der Gremienarbeit: Der Senat ist das von den Mitgliedern der Universität gewählte Repräsentativorgan für alle akademischen Belange, der Hochschulrat ist Kontrollorgan für finanziell-administrative Fragen und wirkt maßgeblich an der strategischen Entwicklung der Universität mit. Das operative Geschäft auf der Zentralebene und auf der Fakultätsebene wird jeweils durch Kollegialorgane, ein gestärktes Rektorat und einen Fakultätsvorstand mit einem hauptamtlichen Dekan wahrgenommen. Globalisierte Haushalte sollen die finanzielle Steuerung der Hochschulen aus dem Korsett der Kameralistik befreien, eine parametergestützte leistungsorientierte Mittelverteilung soll dazu dienen, Ressourcen dort einzusetzen, wo sie hohen wissenschaftlichen Ertrag versprechen.
Im Bereich der Lehre soll die Hochschulreform eine deutliche Verbesserung der Studienstruktur im Sinne von Transparenz, Effizienz und Intemationalisierung bewirken. Stichworte dazu sind: -
Orientierungsprüfung nach dem zweiten Semester, Verstärkung des Praxisbezugs, Modularisierung, Einführung eines Creditpointsystems, Der Intemationalisierung soll durch Einführung der Abschlußgrade „Bachelor" und „Master" Rechnung getragen werden. Zur Qualitätssicherung wollen wir ein Evaluationssystem mit interner und externer Evaluation aufbauen.
Um die Zukunft des Wissens zu sichern, müssen wir auch die finanziellen Rahmenbedingungen entsprechend gestalten. Wir sind stolz darauf, daß bei uns die Geisteswissenschaften kein Kümmerdasein führen. Allein die Zuschüsse an unsere nichtstaatlichen geisteswissenschaftlichen Einrichtungen betragen jährlich 8,6 Millionen DM. Von den insgesamt 30 geisteswissenschaftlichen Sonderforschungsbereichen, die es gibt, sind sieben in Baden-Württemberg und davon drei in Konstanz. Darauf kann die Universität Konstanz mit Recht stolz sein. Für den vielseitigen Umgang mit Wissen kommt es darauf an, auch die ethischen Aspekte wissenschaftlicher Entwicklungen immer im Blick zu haben. Baden-Württemberg hat deshalb gezielt den Aufbau entsprechender Strukturen gefordert. Ich nenne beispielsweise die Akademie für Technikfolgenabschätzung. Aber auch an den Universitäten hat sich viel getan. Ich nenne hier exemplarisch das Zentrum für „Ethik in den Wissenschaften" an der Universität Tübingen. Wir müssen jedoch mit der Entwicklung des ethischen Bewußtseins bei der Frage des Umgangs mit Wissen noch viel früher ansetzen. Ich bin deshalb besonders froh darüber, daß Sie Philosophie und Ethik in der Schule zum Thema eines Ihrer Workshops gemacht haben.
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Im Zuge der Lehramtsreform, die von der Landesregierung bereits beschlossen wurde, wird künftig der Lehramtsstudiengang Philosophie durch einen doppelqualifizierenden Studiengang Philosophie und Ethik ersetzt werden. Vor allem aber werden wir für sämtliche Studiengänge des gymnasialen Lehramtes zusätzlich zur Verbesserung der pädagogischen und fachdidaktischen Kompetenz ein ethisch-philosophisches Grundlagenstudium verbindlich einführen. Francis Bacon hat uns vor nunmehr bald 400 Jahren mit der These Wissen ist Macht konfrontiert. Lange Zeit war das eine nicht hinterfragte Leitidee, die das Zeitalter der Industrialisierung ebenso geprägt hat wie die heutige Informations- und Mediengesellschaft. Vor dem Hintergrund großer Katastrophen, die wir mit den Namen „Seveso", „Bophal", „Tschernobyl" oder jetzt mit der unkontrollierten Kettenreaktion in einer Wiederaufarbeitungsanlage nahe Tokio verbinden, wissen wir aber auch um das Risiko, mit dem wir in unserer wissensreichen Welt leben. Wir müssen heute erkennen, daß wir nicht nur die naturwissenschaftlich-technische Seite unseres Wissens erweitern dürfen, sondern daß wir gleichzeitig auch die Risiken neuer Entwicklungen mit bedenken müssen. Eine Gesellschaft, die nur den technologischen Fortschritt fördert, die Auseinandersetzung mit den Risiken aber vernachlässigt, handelt unverantwortlich. Ich bin deshalb dankbar, daß Ihr Kongreß in vielen Einzelveranstaltungen die vielfältigen Aspekte der „Zukunft von Wissen" beleuchtet. Die Verteufelung wissenschaftlichen Fortschritts ist keine Antwort auf die großen Herausforderungen, die vor uns liegen. Wir brauchen ein neues Verständnis für den Umgang mit Wissen, damit wir die Zukunft der nächsten Generationen nicht verspielen. Auf uns ganz allein lastet diese Verantwortung. Lassen Sie mich deshalb den Satz Francis Bacons für das 3. Jahrtausend, das vor uns steht, abwandeln: „Wissen bedeutet Verantwortung". Nur so werden wir der geistesgeschichtlichen Entwicklung seit Bacon wirklich gerecht. Ich wünsche Ihnen in diesem Sinne einen kreativen Gedankenaustausch, fruchtbare Diskussionen, viele anregende persönliche Begegnungen und das Gefühl und das Wissen, in diesem schönen Lande willkommen zu sein.
Hans Lenk
Grußwort Im Namen der Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie (FISP) und ihres Comité Directeur überbringe ich Ihnen die besten Glückwünsche für den Kongreß und die Allgemeine Gesellschaft für Philosophie in Deutschland und auch die Grüße der Präsidentin Professor Dr. Dr. h.c. Ioanna Kuçuradi. Jürgen Mittelstraß hat darauf verwiesen, daß die Philosophie die Mutter aller Wissenschaften ist: Herkömmlich ist die Weisheit, die Sophia, ja nicht nur mütterlich, sondern vielfach göttlich - zumindest weiblich. Wir in der FISP haben das Glück, nunmehr erstmalig in der Geschichte der Weltphilosophie eine (ihrerseits recht mütterliche) Repräsentant/« als Präsidentin an der Spitze zu haben. Die FISP fördert und begrüßt besonders regionale und internationale sowie interdisziplinäre Initiativen in Gestalt von Kongressen regionaler, aber internationaler Provenienz. (Leider sind die mehrfach geplanten Zwischenkongresse zwischen den nur alle fünf Jahre stattfindenden Weltkongressen für Philosophie - der nächste wird 2003 in Istanbul stattfinden - nach der jeweiligen Planungsphase aus finanziellen Gründen mangels zureichender lokal-nationaler finanzieller Unterstützung abgesagt worden.) Grüße darf ich Ihnen auch seitens des neu gewählten Präsidenten der Weltakademie der Philosophen (Institut International de Philosophie), deren Vorstandsmitglied ich noch bin, übermitteln. (Prof. Dr. Jaakko Hintikka ist kürzlich zum Präsidenten der Weltakademie gewählt worden.) - FISP und IIP, diese beiden obersten Weltgremien der Philosophie, veranstalten und fordern selbst internationale und regionale Kongresse bzw. Workshops und begrüßen besonders regionale diesbezügliche internationale und auch interdisziplinäre Veranstaltungen. Unser Kongreß in Konstanz erfüllt beide Zielsetzungen in bestem Maße: Er widmet sich zumal der interdisziplinären Verflechtungen der Wissenschaften zum Thema „Wissen" und stellt zugleich - in guter Tradition der Deutschen Kongresse für Philosophie, wie sie die Allgemeine Gesellschaft fur Philosophie in Deutschland seit langem durchführt ein exemplarisches Beispiel der internationalen und regionalen Initiativen dar: Konstanz, an der Dreiländergrenze zu Österreich und der Schweiz gelegen, ist ein idealer Ort für einen Kongreß, der sich der gesamten deutschsprachigen Philosophengemeinschaft öffnet. (Gerne erinnere ich mich noch daran, daß ein Deutscher Kongreß für Philosophie, jener von 1981, in Innsbruck stattgefunden hat.) Seit Jahrzehnten ist jeweils mindestens ein Vertreter oder eine Vertreterin der österreichischen Philosophie Mitglied im erweiterten Vorstand der AGPD, mit denen zusammenzuarbeiten jeweils eine kollegiale, ja, freundschaftliche Freude gewesen ist und sicherlich bleiben wird. (Warum manche Bemühungen zu einer ständigen Repräsentation Schweizer Philosoph(inn)en bisher nicht von Erfolg gekrönt waren, ist mir nicht ganz klar: Man sollte dies wieder versuchen. Von Seiten der FISP wäre jedenfalls eine engere ständige Zusammenarbeit der deutschsprachigen philosophischen Gemeinschaft, die sich institutionell, etwa in einer wechselseitigen Vorstandsvertretung, konkretisiert, sehr erwünscht.)
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Zum Thema des Kongresses: „Die Zukunft des Wissens" Im Anfang steht natürlich das Wort, sprich: die Definition. Der geniale Definitionsaphoristiker Ambrose Bierce - bekannt besonders durch seine Philosophiedefinition: „Philosophy: A route of many intersections leading from nowhere to nothing" - definierte , Wissen' als „eine besondere Art von Ignoranz, die von zivilisierten Völkern zur Schau gestellt wird"; sie sei zu unterscheiden von jener „Erfahrenheit 1 , die Wilde auszeichnet". Nachdem wir nun wissen, was Wissen ist, kommen wir zu philosophischen Aussagen über das Wissen, d. h. zunächst zu Aussagen von traditionellen, berühmten Philosophen. Früher als unser geistiger Urahn Sokrates betonte LaoZi „Wer weiß, daß er nicht weiß, ist der Fortgeschrittenste"; und der fortgeschrittene, relativ Unwissende lernt aus dem Unwissen, wie besonders Konfuzius und die Konfuzianer immer wieder betonten. Unser philosophischer Urheiliger des Abendlandes, die selbstadressierte geistige „Stechfliege", die immer die Experten 2 auf ihr Wissen oder vorgebliches Wissen hin „stichelte", Sokrates, meinte bekanntlich: „Ich weiß, daß ich nichts weiß". Das ist allbekannt. Weniger bekannt ist, daß Metrodoros von Chios noch viel raffinierter (Diogenes Laertius zufolge) kommentierte: Sokrates „wisse nicht einmal das, daß er nichts wisse". Ist also diese Reiteration des Nichtwissens charakteristisch für das Wissen - frei nach dem leicht abgeänderten Satz von Ringelnatz: Nur eines weiß man sicher: Nichts weiß man sicher. Und selbst das nicht? Jetzt sind wir schon in eine Sektion geraten, die beim Kongreß leider nicht vertreten ist, die der transzendentalphilotristischen Jokologie. Wilhelm Weischedel hat in seiner joko-poetischen oder faustisch-knittelversjokologischen „Geschichte der Philosophie" Sokrates' Wissen um sein Unwissen als Zeichen der Weisheit gedeutet:
1 Diese „Erfahrenheit" - eine irreführende Übersetzung spricht von „Gelehrtheit", erinnert an Aristoteles' Empeiria. 2
Der postmodern Wissende, vertreten durch den Erfinder der Postmoderne, Lyotard, weiß, daß der Philosoph kein Experte ist: „Dieser weiß, was er weiß, und er weiß, was er nicht weiß: Jener w e i ß es nicht. Der eine folgert, der andere fragt, das sind zweierlei Sprachspiele." War nun Sokrates ein Experte nach dieser postmodemen Definition? Wußte er doch um sein Unwissen und, was er nicht wußte. Heute gilt als Fachexperte ironischerweise derjenige, der immer mehr über immer weniger weiß. Weiß er also schließlich alles über nichts, hat er ein umfassendes Wissen über den Wissensbereich mit einem Radius, der gegen Null konvergiert? Dagegen gilt der Generalist als jener, der immer weniger über immer mehr weiß, somit am Ende - als umfassender Universalist - also nichts über alles weiß. (Und damit wird oft der Philosoph gemeint.) Sind die Philosophen gar eine Umkehrung der französichen volkstümlichen Redeart über die Experten („polytechniciens"), „die alles wissen - und sonst nichts", gar jene, die nichts wirklich wissen, aber typischerweise glauben, vieles oder gar alles zu wissen? Ist erst deijenige, der sein Wissen um sein Nichtwissen iterativ und kumulativ in ein System zu bringen vermag, ein wissend-unwissender Philosoph?
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Hans Lenk „Indes er fragend andere erschreckt, hat Sokrates auch bei sich selbst entdeckt, daß er, obschon ein recht gereifter Greis, noch immer selber nichts vom Wahren weiß. Ob man ihn auch als einen Weisen preise: Er weiß, daß er nichts weiß; so ist er weise. Und doch ist er in aller Finsternis des rechten Weges völlig sich gewiß. Denn ganz untrüglich kündet ihm davon die innre Stimme, das Daimonion."
Ist also das Wissen und das Wissen um das Wissen und um das Unwissen wißbar? So fragte schon der bekannte Popularphilosoph Woody Allen (dem immerhin sein Gehirn „das zweitliebste Organ ist") in seiner „Erkenntnislehre: Ist das Wissen wißbar? Wenn nicht, wie können wir das wissen?" „Wovon können wir sicher sein, daß wir es erkennen, oder sicher sein, daß wir wissen, wir kennten es, wenn es überhaupt wirklich erkennbar ist?" - Wittgenstein, der sprachanalytische Jahrhundertphilosoph, würde dem zitierten Popularphilosophen entgegen halten: „Es ist richtig zu sagen: ,Ich weiß, was du denkst', und falsch: ,Ich weiß, was ich denke'. (Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre)." 3 Wittgenstein meinte in der Tat mit seinem restriktiven sprachanalytischen Philosophieprogramm, das eigene philosophische „Sprachspiele" (why not?) nicht zulassen wollte, aber sonstige fiktionale Sprachweisen durchaus (!?): „The difficulty in philosophy is to say no more than we know". Doch vielleicht müssen, wollen wir mehr sagen - z. B. über das Wissen vom Wissen und Nichtwissen. Mit aller gebotenen tentativen Bescheidung in einer sich formierenden Wissensgesellschaft, einer Hightech-systemtechnologischen Informationsgesellschaft, in der sozial-realen wie auch in cyber-virtuellen Welten stellen sich diese Fragen in ganz neuer Zuspitzung. Die Wissensingenieure sind auf dem Vormarsch: „Knowledge engineers" und „Brainworkers" sind jetzt Praktiker und Vertreter der angewandten Kognitionswissenschaften... Man fühlt sich versucht, Hamlets Spruch umzukehren: „Hat es auch Methode, ist es doch Wahnsinn" - immerhin Wahnsinn mit System ... Wer seinen Wahn argumentativ in ein System zu bringen verstand, galt herkömmlich immer schon als Philosoph. Deshalb sollen gegen Schluß des Grußwortes noch einige die Argumentation anregende nichtjokologische Fragen dem Kongresse aufgegeben werden:
3 Hat er dies von seinem Vorläufer und Gewährsmann Lichtenberg, der bereits von einer „falschen Philosophie" sprach, die „unserer ganzen Sprache einverleibt" ist: „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauches"? „Man bedenkt nicht, dass Sprechen ohne Rücksicht von was eine Philosophie ist. Jeder, der Deutsch spricht, ist ein Volksphilosoph", so Lichtenberg, „und unsere Universitätsphilosophie besteht in Einschränkungen von jener". Nicht Kripkenstein, sondern Lichtenstein oder Wittgenberg - das ist hier die transzendentaljokologische Frage.
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1. Gibt es praktisch sicheres Realwissen? (Referenzproblem, Realismusproblem)? 2. Gibt es normatives Orientierungswissen und in welchem Sinne? (Schließen sich nicht funktionale Normativität und Wissen - als prototypisch kognitiv-deskriptiv verstanden - aus? 3. Nicht nur die „Zukunft des Wissens", sondern auch Wissen von oder über Zukunft ist ein Problem. Der Status des Vorhersage- Wissens ist keineswegs methodologisch oder wissenschaftstheoretisch geklärt. Schon Voltaire meinte augenzwinkernd ahnungsvoll: „Alles ist schwer vorherzusagen - besonders die Zukunft!" 4. Ist Wissen notwendig wahres Wissen? Das heißt: Setzen Wissensprobleme die Lösung der Pilatusfrage voraus - oder wenigstens eine soziale und wissenschaftsgeschichtlich erfolgreiche Referentenjagd (Harre)? 5. Ist Wissen ein epistemisch-perspektiv(ist)isches Repräsentationskonzept, das sich notwendig in Interpretationskonstrukten darstellt, nur so (erfaßbar ist, und dennoch einen objektivierbaren Erkenntnisgehalt besitzt (der unter Umständen auf höherer metatheoretischer Stufe modelltheoretisch oder metastufen-interpretationistisch zu charakterisieren ist)? Am Ende des Kongresses werden wir es wissen - zumal, was die „Zukunft des Wissens" und die Zukunft des Wissens über die Zukunft des Wissens sein wird. Hoffentlich! Es sollte doch nicht so sein und bleiben, wie Tucholsky knittelreimte: „Da jibt et 'n Waschkorb voll Philosophen. Dat liest man. Und haste det hinta dir, dreihundert Pfund bedrucktet Papier, dann lechste die Weisen bei't alte Eisen und sachst dir, wie Kuhle, innalich: Sie wissen et nich. Sie wissen et nich." da capo Finis
Dieter Simon
Die Glaubensgesellschaft l. Vor nicht ganz 2.000 Jahren brachte ein Mann namens Jesus von Nazareth seine Mitmenschen durch eine Reihe von sogenannten Wundern außer Fassung. Blinde konnten wieder sehen, Lahmen befahl er zu gehen, Krankheiten verschwanden, Tote standen auf. Die Reaktion der Zeitgenossen bestand nicht nur in Freude und Begeisterung, sondern - auch und überwiegend - in Angst und Schrecken. Nicht ohne Grund: Die Geschehnisse stellten die Fundamente ihres Wissens und ihrer Erfahrung von Mensch und Natur in Frage. Wunder sind die Erdbeben der Wissenswelt. Und Erdbeben sind schlimmer als alle Katastrophen, wie sie sich bei riskanter menschlicher Tätigkeit immer wieder ereignen, weil sie unser Bewußtsein von Gefahrlosigkeit hintergehen, die unbefragte Sicherheit der vertrauten Welt vernichten, die Sekunden liefern, in denen die Festigkeit des Alltags zu taumeln beginnt. Jesus wußte das. Er bot den Zitternden die einzig mögliche, die göttliche Hilfe an, indem er jedem einzelnen zurief: Me phobou, monon pisteue - Fürchte Dich nicht, glaube nur! Jahrhundertelang ist die christliche Menschheit mit dieser Weisung gut zurechtgekommen. Bis in die Neuzeit konnten das Wissen und sein nachgeborener markiger Protagonist, die Wissenschaft, dem Glauben nichts anhaben. Erst vor etwa 200 Jahren ist die auf Harmonie angelegte Koexistenz von Wissen und geoffenbarter Wahrheit, von Vernunft und Glauben, von Philosophie und Theologie endgültig gescheitert. Die monistische Formel: „Unser Wissen ist unser Glaube" konnte nicht wirksam installiert werden. Statt dessen haben wir eine säkularisierte Version des Christuswortes gewählt: „Fürchte Dich nicht, wisse nur!" Die selbstbewußte Losung schien besser geeignet, unsere Sicherheit in dieser Welt zu garantieren. Der staunende Glaube wurde von der kausalen Erklärung verdrängt. Die Wunder wurden abgesetzt und dürfen die Menschheit seither in der Erlebnissparte „unwahrscheinliche Ereignisse" ergötzen. Der Glaube wurde in die Kirche verbannt, und die Kirche ist ein kunsthistorisches Museum, an das sich viel wissenschaftliches Wissen knüpft. Deshalb sind wir in Schwierigkeiten. Denn inzwischen ist das Wissen alt geworden und hat seine Wahrheit verloren. Es hat seine Anmaßung, sein zu wollen wie Gott, mit dessen Schicksal geteilt, von Vorwitzigen für tot erklärt zu werden. Es ist porös geworden für Nebulöses und durchsichtig. Es liegt danieder, und die Wärter und Wächter beugen sich besorgt über sein Lager und fragen sich nach seiner Zukunft - wie dieser Kongreß. Gibt es noch Hoffnung für die Wissensgesellschaft, kommt die rationale Kultur, die doch immer noch erst versprochen ist, oder müssen wir zurück zum Glauben? Aber wie sollte das möglich sein, eine Glaubensgesellschaft zu werden, nach Abbruch aller mythischen Brücken? Und wenn es nicht möglich ist, müssen wir dann wieder voller Furcht unbehütet im Ungewissen leben, ohne jede Sicherheit, im eisigen Atem selbstreferentieller Reflexion?
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2. Über berechtigte Hoffnungen auf Therapie entscheidet die Diagnose. Sie ist deprimierend. Fünferlei hat das Wissen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts des zweiten Jahrtausends in Bedrängnis gebracht: Erstens: Das Wissen ist feist geworden. Es hat zugenommen, zugenommen, zugenommen. Jetzt ist es ein Gebirge, das sich unermeßlich und unabmeßbar vor den Gehirnen auftürmt. Ein Massiv, dessen Grenzen sich in der Ferne verlieren. Keine Hoffnung auf Faßbarkeit. Längst tot der letzte Universalgelehrte. Leibniz: unvorstellbar. Helmholtz: ein bewundertes Phänomen. Und immer noch Wachstum. Die Statistiker jubeln: Alle 5 bis 7 Jahre verdoppelt sich das Wissen der Menschheit; von den gesamten Kenntnissen der Gegenwart wurde das erste Drittel bis 1850, das zweite bis 1950, das dritte in den letzten 50 Jahren aufgehäuft; jeden Tag erscheinen weltweit mehr als 20.000 Publikationen; alle 2 Minuten eine neue biowissenschaftliche Veröffentlichung; die Computerwelt erneuert sich im Rhythmus von 18 Monaten; die hinzukommenden Wissensdaten füllen in je 40 Minuten eine neue Encyclopedia Britannica\ die Summe der heute auf der Welt arbeitenden Wissenschaftler entspricht der Gesamtsumme aller Wissenschaftler der letzten 2.000 Jahre ... und so weiter. Niemand kann oder will das wirklich nachprüfen. Schließlich sind es keine Daten des Triumphs, sondern Exkremente der Verzweiflung. Aber man hat das unbehagliche Gefühl: Es wird schon stimmen! Und ein Ende ist nicht in Sicht. Zwar tauchen immer wieder Propheten der Erschöpfung auf. Die Masse des noch Erforschbaren könnte zu schwinden beginnen. Alles bekannt, jeder Stein umgedreht. Pessimistische Prognosen, die doch auch Anlaß für Hoffnung sein könnten. In der Tat muß irgendwann der letzte Käfer beschrieben und bestimmt worden sein. Alle Elementarteilchen identifiziert. Das Leben restlos entziffert. Schon jetzt gibt es nirgendwo mehr eine Handbreit Boden, auf dem noch keines Menschen Fuß gestanden hat. Die endgültige Enzyklopädie könnte geschrieben werden. Kein Brockhaus, der sich die Beständigkeit seines Umfangs durch zyklische Kürzungen und eine schlaue Vergessenspolitik sichert, sondern die finale Sammlung des je Gewußten. Aber Sorge und Hoffnung gehen gemeinsam ins Leere. Bisher hat noch jede Antwort eine neue Frage gezeugt. Jedenfalls auf dieser Erde. Welche Fragen der Kosmos bereithält, ist unbekannt. Hinter den Bergen des Wissens weitet sich die unendliche Ebene der Ahnungslosigkeit. Keine Chance, alles Wißbare demnächst auf eine Scheibe brennen zu können. Und wenn schon - es würde dadurch gleichwohl nicht zum Gewußten. Die Speicher sind voll. Die Gehirne wachsen zu langsam. Statt zu wissen, muß immer umfänglicher geglaubt werden. Jeder Text vermehrt die Masse des Für-wahr-zu-haltenden. Die Vervielfältigung des Wissens hat den Glauben potenziert. Die Riesen, auf deren Schultern wir stehen, hatten bereits das meiste nicht mehr selbst gesehen. Unser Blick schweift zwar weiter, aber wir müssen auch mehr glauben. Zweitens: Das Wissen ist unsichtbar geworden. Die Abstraktion hat die Anschauung überwältigt. Herrliche Zeiten: die 50er Jahre des 17. Jahrhunderts. Otto von Guericke hatte soeben die Luftpumpe erfunden. Auf dem Reichstag von 1654 durfte er den Großen des Landes die luftverdünnende Wirkung seiner Erfindung demonstrieren. Man war beein-
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druckt: das Vakuum! Aber Guericke war mit dem Echo nicht zufrieden. Alle sollten von der Erzeugbarkeit des vacuum spatium und der Kraft der Atmosphäre überzeugt werden. Die Lösung des Problems waren die Magdeburger Halbkugeln. Wer 1661 auf dem Rathausplatz gestanden und gesehen hatte, wie sich die insgesamt 16 Pferde vergebens mühten, die dicht aneinander gepreßten und leer gepumpten kupfernen Schalen auseinanderzuziehen, der wußte. Glaube war nicht gefragt. Auch ohne Lektüre der von Guericke publizierten Magdeburgica de vacuo spatio waren Vakuum, Atmosphäre und Luftdruck für die Zeitgenossen konkrete und verstandene Anschauung. Sie standen für Wissen, das jeder einzelne prüfen, jedermann imitieren, alle Welt sich aneignen konnte. Inzwischen hat sich das Wissen spiritualisiert und seine Sichtbarkeit verloren. Die Grenzen zu den Nachbarn „Meinung", „Vermutung" und „Glauben", die in den Domänen der Unsichtbarkeit hausen, sind fließend geworden. Schon der roten Blutkörperchen sind die wenigsten ansichtig geworden. Aber man glaubt sofort, daß andere sie sehen, wenn sie durch ein Mikroskop blicken. Mit den schwarzen Löchern ist es viel schwieriger. Daß manche Atome sehen, wenn sie den richtigen Apparat benutzen, glauben wir auch. Aber wer hat schon ein Proton gesehen? Wir wissen, daß viele glauben, daß andere eines gesehen haben oder etwas gesehen haben, das anzeigt, daß ein Proton vorbeigekommen ist. Und wir glauben, daß dieser Glaube berechtigt ist. Was könnten wir auch sonst tun? Das unsichtbare Wissen hat uns zu Konsumenten fremden Wissens degradiert. Immer mehr Zeitgenossen fehlt für immer die Fähigkeit oder die Möglichkeit zur Teilnahme an der Diskussion und zur Kenntnisnahme der Entwicklung. Unwissend reduziert auf die Nutznießung des technischen und kognitiven Fortschritts, können die wenigsten die Wege und Mechanismen der Forschung überhaupt begreifen und nachvollziehen, geschweige denn sich die Ergebnisse aneignen, sie autonom nutzen oder weiterentwickeln. Wir glauben an die unsichtbare Hand, die das ewige Funktionieren der Marktwirtschaft garantiert, wir glauben an die Elektronik in unserem Auto, an die Milch von glücklichen Kühen, die Richtigkeit der Wahlergebnisse, das Ozonloch und die Ökokartoffel. Wir glauben, weil andere glauben, daß sie ihren Glauben jederzeit in Wissen überführen könnten. Und wir nennen diesen unseren Glauben Wissen, obwohl wir im Inneren wissen, daß wir glauben müssen. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt. So wie früher das Wissen in den Glauben eindrang, dringt jetzt das Reich des Glaubens in das Wissen ein. In den Köpfen Abhängiger werden Kreationismus und Evolution langsam zu gleichberechtigten Partnern. Drittens: Das Wissen ist suspekt geworden. Obwohl man ihm immer mehr glauben muß, glaubt man nicht mehr an es. Denn Wissen hat offenbar keine Scheußlichkeit des 20. Jahrhunderts verhindert. Fortschrittsdenken und Fortschrittsglauben sind unter Ideologieverdacht geraten. „Machbarkeitswahnwitz". Prinzipieller Zweifel hat den fabelhaften Optimismus des 19. Jahrhunderts ersetzt. Zu oft wurde dasselbe Stück aufgeführt: Im ersten Akt - ein dramatischer Ausruf: „Das Herz des Landes bricht. Der Wald stirbt!". Im zweiten Akt - Auftritt der Politiker, teils beschwichtigend und gönnerhaft („Wir wissen: Kein Grund zur Beunruhigung!" - so die Regierenden), teils sorgenvoll und erregt („Wir wollen wissen: Wohin treibt das Land?" so die Opposition). Im dritten Akt - die Wissenschaften: Einerseits, andererseits. Vermut-
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lieh viel zu spät, vermutlich nicht zu spät. Gutachten A: leider falsche Voraussetzungen, Gutachten B: irrige Folgerungen, Gutachten C: eine Gefälligkeit, Gutachten D: wie zu erwarten! Überhaupt, nach heutigem Stand, keinerlei Klarheit. Vierter Akt: Die Bürger. Sie lesen ihre Zeitung und glauben ihr. Die Zeitung der anderen lesen sie nicht. Das Wissen ist ihnen ein Achselzucken wert. Inzwischen sind die heiligen Vokabeln der Wissenswelt („Forschung", „Wissenschaft", „Wahrheit", „Kausalität", „Beweis") abgewetzt und verbraucht: Unsere Zahnpaste ist wissenschaftlich geprüft und empfohlen. Neuere Forschungen haben die Schädlichkeit des Buttergenusses erwiesen. Neueste Forschungen haben die schon immer vermutete Unschädlichkeit des Buttergenusses bestätigt. Die Wahrheit über ein Eisenbahnunglück liegt in 12 Versionen mit insgesamt 350 Beweisen vor. Zitat aus der Klageschrift der Generalstaatsanwältin Janet Reno, die gegenwärtig versucht, im Auftrag der amerikanischen Regierung die Tabakindustrie in die Knie zu zwingen: „Die Tabak verarbeitenden und verkaufenden Gesellschaften haben in den letzten 45 Jahren eine planvolle und koordinierte Betrugs- und Täuschungskampagne gefuhrt, in der Absicht, ihre enormen Profite, koste es, was es wolle, zu retten." Wie wurde diese Kampagne geführt? Mit Hilfe der Wissenschaft. Seit 1953, als der erste handfeste Verdacht auftauchte, durfte die Raucherwelt den Auftritt der Gutachter genießen (Brille auf, Brille ab): Im Tabak ... zwar an sich ... nicht unstrittig ... aber nicht durchweg ... vielleicht im Einzelfall ... nicht auszuschließen ... unsere Marke jedenfalls ... im Hinblick auf andere ... nahezu gesund. Den Rest besorgte die Werbung: „Test it!" Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht - jedenfalls nicht mehr wie zuvor. Wer sich vielfach irrt, dem glaubt man auch nicht mehr. Wer zum wissenschaftlichen Hellsehen bestellt ist, muß klarer sein als Nostradamus und zuverlässiger als die Tarot-Karten, sonst wird er schnell dubios. Suspekt zu sein ist das Schicksal der wissenschaftlichen Prognose. Gewiß, beim Wetter ist die Welt noch in Ordnung. Niemand möchte zu Bauernregeln und Wetterfröschen zurückkehren. Und wir glauben auch an den Fortbestand der Arbeitslosigkeit und an das exponentielle Wachstum der Erdbevölkerung. Aber jenseits zählender, wägender und messender Techniken beginnt das Imperium der Spekulation. Schon bei Wahlen ist der menschliche Faktor für allerlei Überraschungen gut, wie die nachhaltige Verwirrung zunächst der SPD über ihren Bundessieg und danach der CDU über ihre Ländersiege zeigt. Stehen komplexere Sachverhalte auf der Tagesordnung, wie das Wachstum des Bruttosozialprodukts, die Zahl der zu erwartenden Patentanmeldungen oder die Wirkung des Klimawandels im nächsten Jahrzehnt, wird die Distanz zum Wochenhoroskop bedenklich kurz. Epistemologie braucht nicht erst bemüht zu werden. Schon weit diesseits von Skeptizismus, Relativismus und Konstruktivismus haben sich Wahrheit und Objektivität verflüchtigt. Geblieben sind der prinzipielle Verdacht und der Glaube an die Kraft von Werbung und Verkauf. Viertens: Das Wissen ist bodenlos geworden. Es droht, sein empirisches Fundament einzubüßen. Der heilige Grundsatz aller Wissenschaft von der Natur heißt Wiederholbarkeit des Experiments. Wiederholbar, wie das Zitat eines Philosophen. Ein Versuch, der nicht wiederholt werden kann, ist wertlos. Ein Schwindel oder bestenfalls ein Irrtum, weil auf Bedingungen gegründet, deren Wirkungen der Experimentator nicht überblickte. Die be-
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rühmte Verunreinigung, deren unglückliches Fehlen es Mister Hyde nicht mehr gestattete, als Doktor Jekyll zurückzukehren. Schaf Dolly war nahe daran, in diese Lage zu geraten, bevor ihm rechtzeitig und, wie man „weiß", unabhängig die jederzeitige Nachbildbarkeit verbrieft wurde. Allerdings ist das genaugenommen nichts anderes, als ein Versprechen des Glaubens an den Glauben. Wer wirklich strenge Maßstäbe anlegen will, müßte behaupten, daß auf dem Forum der Wissenschaft Dolly nicht existiert. Denn bislang war das prinzipiell von jedermann wiederholbare und jedenfalls von einem Jedermann wiederholte Experiment die hermetische Scheidewand, die die Spekulation von der Empirie, die Theorie vom Glauben, die Wahrheit von der Lüge trennte. Es ist der feste Boden, auf dem die Wissenschaft steht. Heute sind Experimente jedoch aufwendiger als zu Guerickes Zeiten, teurer, und die Wiederholung ist nur selten interessant. Glückt sie, hat man bewiesen, was andere schon bewiesen haben, und hat Geld und Zeit verschwendet. Glückt sie nicht, hat man es entweder nicht richtig angestellt oder aber bewiesen, daß andere nichts bewiesen haben, was zwar dem Triumph der Wahrheit dient und der Schadenfreude bekommt, aber kein wirklich lohnendes Unternehmen ist für ehrgeizige Forscher. Die Folge ist: immer öfter unterbleibt die Wiederholung. Der Beweis zieht aus, der Glaube zieht ein. Manchmal ist allerdings schon der Anfang defekt. Als 1993 aufgrund des Sparbeschlusses des US-Kongresses der Superconducting Supercollider scheiterte, mußten die Elementarteilchenphysiker ihre Hoffnung aufgeben, jenseits der Quarks und Elektronen tiefere Einsichten in den Mikrokosmos zu erlangen. Nachdem bereits 2 Milliarden Dollar verbaut worden waren, machten die ausbleibenden finanziellen Aufwendungen der weiteren Ausdehnung des physikalischen Wissens ein vorläufiges Ende. Nicht schlimm insofern, als die Entwicklung einer Theorie nicht von der Durchführung des Experimentes abhängig ist. Ohnehin gilt für die Physik die Konstellation, daß die Theorie der experimentellen Bestätigung um Jahrzehnte vorauseilt, fast als normal. Aber was, wenn sich ergeben sollte, daß in diesem und in zahlreichen anderen Fällen eine Bestätigung niemals erfolgen wird - einfach, weil der Menschheit die Mittel fehlen für die Beschaffung immer entfernterer und immer komplizierterer Daten? Dann ist der Ausstieg aus der Empirie erfolgt, der Boden verlassen, das Ende von Wissen und Wissenschaft erreicht und der Übergang zum Glauben vollzogen. Nicht alles, was man zu Recht vermutet, ist freilich durch Experimente zu erhärten. Man muß sich mit statistischen Befunden begnügen. Statistiken liefern keine Wahrheiten, sondern Wahrscheinlichkeiten. Das Hinweisschild am Institut für Wahrscheinlichkeitsforschung lautet: „Öffnungszeiten: Häufig von 8 Uhr bis 12 Uhr. Nicht selten statt dessen von 1 Uhr bis 5 Uhr". Vages Wissen und Kompromiß wissen sind auch Wissen. Aber Wissen ohne Bodenhaftung. Wissen ohne Verläßlichkeit für andere und ohne Haftung für Fehlschläge. Wie der Glaube. Fünftens: Das Wissen ist beängstigend geworden. Der Teufel und seine Hölle haben ausgedient. Der große Angstmacher hat heute weder Schweif noch Pferdefuß, sondern trägt einen weißen Kittel und heißt „Wissenschaft". Was auch immer es ist: Das Menschenohr auf der Maus oder die 3OO-Kilogramm-Tomate; Embryonenforschung für Hautcreme; Tierversuche zur Entwicklung von Rauchtabak; Organzüchtung für Transplantation; der Rinderwahnsinn und die Fütterungsmethoden für Nutztiere; Reproduktionsmedizin und Inten-
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sivmedizin; der Treibhauseffekt: Packeis am Alexanderplatz, und die Nordsee schwappt durch das Portal des Kölner Doms - überall hat das Wissen der Wissenschaft irgendwie seine Hand im Spiel. Wenig hilfreich der Hinweis, daß es sich nicht um einen globalen Vertrauensverlust in die Wissenschaft als Ganze handele, sondern um partielle Distanziertheit gegenüber ihren biologischen und medizinischen Disziplinen. Letztlich ist doch die ganze Klasse in Verruf geraten. Zwar hängt Historikern und Philosophen seltener die Fama an, Vertreter des instrumentellen Herrschaftswissens zu sein, aber statt dessen bezeichnet man sie als Diskussionswissenschaftler und hält sie gern für Spinner. Die latente Wissenschaftsfeindlichkeit hat ihre Geschichte. Sie beginnt nicht mit dem Homunkulus. Der war noch ein Spiel mit der Schöpfungsgeschichte und der Gottähnlichkeit des Menschen. Der moralische Verdacht beginnt mit Hiroshima, dem Kainsmal der modernen Physik, und läuft in einem ersten Trakt über Seveso und Bhopal nach Tschernobyl, in einem zweiten über die seit Beginn der 60er Jahre sprunghaft gewachsene industrielle Indienstnahme der Forschungsergebnisse aller einer marktfähigen Verwertung zugänglichen Disziplinen, in einem dritten Zug über die mangelnde kritische Selbstreflexion der Forschung, die ihre Probleme, die sie mit der Umwelt hat, jedenfalls in Deutschland jahrzehntelang ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer grundgesetzlich garantierten Forschungsfreiheit diskutierte - ein Verfahren, das besserer Einsicht zum Trotz bei den Debatten über Tierversuche auch heute noch das Feld beherrscht. Auftrumpfende Harmlosigkeit hat auch im Gutwilligsten den Argwohn gestiftet, es werde etwas verborgen oder - schlimmer noch - es sei nicht einmal begriffen worden, daß etwas zu verbergen sei. Die Position, nicht der Wissenschaftler, sondern der Anwender sei verantwortlich, gilt seit den Physikern von Dürrenmatt als nicht mehr vertretbar. Der Versuch, die unbestreitbare Überforderung der Forscher mit der Abschätzung von Risiken und Folgen ihres Tuns durch den pauschalen Hinweis auf die Selbstverantwortung der Wissenschaft zu kaschieren, konnte nicht glücken angesichts des Umstandes, daß dem besorgten Beobachter bereits der eigene Klon im Traum erscheint. Die Abweisung jeglicher Fremdkontrolle und das Beharren auf Selbstkontrolle hat nur Mißtrauen gesät. Da helfen auch die feurigsten und ehrlichsten Selbstverpflichtungen auf ethische Höchststandards nichts. Sie mögen ein Beleg sein für das gewachsene Verantwortungsbewußtsein der scientific Community. Dennoch verraten sie die Absicht, die Alleinkontrolle der Wissenschaft zu retten; manche sagen auch: unbewußt die Steuerungsinteressen des wirtschaftlichen Verwertungskontextes zu sichern. Vergebens fleht die Wissenschaft um das Vertrauen ihrer Umwelt und um den Glauben an sie. Ihr Wissen sieht sich dem Vorwurf des seelenlosen Materialismus ausgesetzt. Der Glaube der Resignierten gehört anderen, und die Ängstlichen hat der Obskurantismus fest im Griff.
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3. Solche Bilder müssen jeden betrüben, der es mit dem Wissen gut meint. „Neue Zeiten, neue Besen!" war die Losung der Menschheit, als sie in das Zeitalter der Wissenschaft aufbrach, um den Glauben das Fürchten zu lehren. Die alten Besen waren verbraucht und flogen auf den Müll. Die „Neuen Rationalen" machten Schluß mit Metaphysik, Religion, Schönheit, Gefühl und Glauben. Jetzt sind sie ihrerseits ergraut und zerrupft und befürchten, entlassen zu werden. Und uns beschleicht eine bange Frage: Ist es möglich, daß das fröhliche Wissen schon ein Scherbenhaufen ist? Wie sollen wir es schaffen, mit dergestalt beschädigtem Vehikel sicher in die Zukunft der Wissensgesellschaft zu gelangen? Meine Vermutung ist: Wir werden es nicht schaffen. Aber noch stecken wir in der Gegenwart. Das Nachher steht erst bevor, ist ungewiß und für manche Hypothesen offen. Vielleicht kommt die „Stunde der Philosophie" (Mittelstraß). Wir haben noch Optionen. Wer in der Antike etwas von der Zukunft wissen wollte, wandte sich an das Orakel. Das war realistisch. Denn es galt als sicher, daß niemals der Mensch, sondern allenfalls ein Gott die Zukunft erkennen könne. Der Gott aber äußerte sich im Orakel. Das Orakel lieferte die göttlichen Auskünfte, die durch geeignete Priester formuliert, das heißt aus den Schwefeldämpfen, den Wassern, den Eingeweiden gelesen und in menschliche Sprache übersetzt, aber nicht gedeutet wurden. Die Auslegung überließ man den Fragestellern. Sie trugen damit auch die Last von Mißverständnissen. Später ging man etwas weiter. Die Auskunftheischenden durften die Weissagungen in Form ihrer Träume selbst beibringen. Immerhin stellte man sich vor, daß ihnen diese von den Göttern geschickt worden seien. Erst Freud hatte den Mut, völlig auf das Jenseits zu verzichten, den Hilfesuchenden ihre Träume selbst zuzurechnen und durch seine Interpretation auch noch die Verantwortung für das Resultat zu übernehmen. Die Transzendenzlücke füllte er elegant, indem er seine seelenkundlichen Deutungen als Wissenschaft ausgab. Damit folgte er der allgemeinen Linie. Das Orakel, das langlebige, noch dem Mythos zugehörige Modell für den neugierigen Blick in die Zukunft verlor ständig an Terrain. Überall haben die im Gefolge der Aufklärung aufblühenden professionellen Wahrheitszentren sich angemaßt, den alten Glauben zum Aberglauben zu erklären und zumindest die Definition der gegenwärtigen Wirklichkeit in die eigene Hand zu nehmen. Seit das christliche Abendland das „glaube nur" flächendeckend durch das „wisse nur" ersetzt hat, zappelt auch die Zukunft im Netz der Wissenschaft. Das Orakel ist unfein geworden. Freilich nicht ohne Einschränkungen. Was kümmert es den Zukunftsbangen, daß noch kein Seher der Zukunft wirklich ansichtig wurde. Wenn die Besorgnis umgeht, riskiert man doch wieder einen Blick in die Kristallkugel. Schaden kann es schließlich nicht. Natürlich glaubt kein wirklich Wissender an Sterne und ihre Konstellationen. Aber wer ist schon wirklich wissend - und wem ist nicht schon beim Blick in die Prophezeiungen die eine oder andere seltsame Stimmigkeit aufgefallen. Doch sieht man von solchen Rückfällen ab, dann triumphieren der Analyst und die wissensgesättigte „Hochrechnung". Sie versprechen doch größere Gewißheit, wenngleich nicht ohne jegliche Irritation. Wir sind schon ein bißchen beunruhigt, wenn das Tokio Institute of Technology uns ankündigt, daß bereits in einer Milliarde Jahren die durch die Abkühlung des Erdkerns be-
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wirkte Austrocknung der Erdoberfläche das Ende des irdischen Lebens bedeute, denn wir hatten bislang mit einem längeren Verweilen gerechnet. Aber immerhin ist auch ausgerechnet worden, daß die von der amerikanischen Mondsonde „Clementine" angeblich am Südpol des Erdtrabanten entdeckten immensen gefrorenen Wasservorräte unsere Frist wieder erheblich verlängern könnten. Vielleicht sogar solange bis, wie frühere Prognosen mit „hoher Wahrscheinlichkeit" vermeldet haben, die Erde in die Sonne stürzt. Diese Aussicht beruhigt uns wieder. Was für die Ferne gut ist, taugt allerdings nicht unbedingt für die Nähe. Wo die Dinge in Reichweite kommen, haben wir wenig Grund zur Gelassenheit. Das hat sich vor genau einem Jahrzehnt herausgestellt, als zur allgemeinen Verblüffung und buchstäblich über Nacht die sozialistische Welt unterging. Wo waren die Repräsentanten der wissenschaftlichen Vorhersagen? Nicht ein einziger hatte vorher etwas bemerkt oder vorausgesagt. Dabei lag die Sache, wie man heute zu wissen vorgibt, „doch eigentlich" auf der Hand. Die späteren umständlichen Erklärungen und Entschuldigungen der amtlich zum Hellsehen Bestellten klangen und klingen - bei theoretischem Aufwand erst recht - durchweg nach faulen Ausreden. Ausnahmsweises Auftreten säkularer Weitsicht erweist sich bei genauerem Hinsehen entweder als wenig eindrucksvolle Prophezeiung, daß die Sache eines fernen Tages ein böses Ende nehmen werde, oder als Zufallstreffer - nicht von Professionellen, sondern von Schelmen, die nicht einmal selbst an ihre Voraussagen glaubten. Die anderen waren felsenfest von der immerwährenden Stabilität der westöstlichen Weltenteilung überzeugt. Orakel hätten demgegenüber wenigstens den Charme der Zweideutigkeit gehabt.
4. Während nun aber gutgläubige Soziologen, hartnäckige Gesellschaftswissenschaftler und andere wohlgemute Beobachter sozialer Entwicklungen noch wähnen, sich eines Tages von dieser Blamage erholen und wieder in die Gilde respektierter Weissager zurückkehren zu können, spricht vieles dafür, daß die Gesellschaft der Zukunft sich diesem frommen Wunsch versagen, dem Wissen weitgehend den Laufpaß geben und den Heimweg ins Lager des Glaubens einschlagen wird. Schon daß das sogenannte Millenium uns veranlaßt, fortwährend angestrengt in die Zukunft zu starren, beweist die abergläubischen Affinitäten unserer geistigen Existenz. Die Welt läßt sich überwältigen von einer faszinierend gerundeten Zahl, und niemand kann sich zur Wehr setzen. Weder der Nachweis, daß die famosen 2.000 Jahre erst mit Beginn des Jahres 2001 abgelaufen sein werden, noch der Hinweis auf die historisch bedingten Ungenauigkeiten der Zählung (ganz zu schweigen von den - nach wenigstens einem Historiker im Mittelalter möglicherweise zuviel gezählten drei Jahrhunderten), noch die Abwehr euroatlantischer Bevormundung durch Staaten, die anders zählen, können die grassierende Begeisterung dämpfen. Der Gedenktag einer Addition wird unsinnig bejubelt, mögen die Athos-Mönche und die Moslems, die Chinesen und zigtausend andere ihre Jahre und Jahrhunderte berechnen, wie immer sie wollen. Mit dem Festjahr ist verständlicherweise der
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Bedarf an Zukunft gestiegen. Noch während der sentimentale Rückblick abgefeiert wird, möchten alle wissen, was ihnen bevorsteht. Amerika, das es bekanntlich immer - und nicht bloß bei der Vollbeschäftigung - besser hat, verfugt bereits über beneidenswert üppige Informationen über das, was nach dem Millenium kommen wird. Das vom New Age Collective herausgegebene Handbuch der New Millenium Predictions gibt auf 455 Seiten einen genauen Überblick über das, womit der transatlantische Bruder zu rechnen hat, sei es laut Astrologie („Der Plutozyklus lädt zur radikalen Änderung des persönlichen und kollektiven Lebens ein"), nach Zahlenmystik („Was bedeutet es, mit der 2 zu leben?"), beim Kartenlegen (,,A perfect way to see how a year will go in general"), in der Handlesekunst („Beschreibt Ihre Hand Ihre Karriere?") oder gemäß den Regeln des psychischen Intuitionismus („Gegenwärtig liegt die Sterblichkeitsrate für das Leben bei 100%"). Natürlich gilt das alles auch schon hierzulande - aber unsere Propheten haben das übliche time lag, so daß wir es vorerst noch nicht recht glauben dürfen. Aber wir sind auf gutem Wege. In der Wissenswelt werden Auszeichnungen einstweilen noch als Belohnung für eigene Leistung entgegengenommen. Aber wenn im Fernsehen ein bei Jugendlichen beliebter Musiksender Preise vergibt, erfährt der staunende Zuschauer aus dem Munde der Gepriesenen, daß dieser Umstand im wesentlichen der direkten Mithilfe aus dem Jenseits zu verdanken sei. Keine Rede von „gewußt wie". Überall ist der Glaube auf dem Vormarsch, wenngleich häufig nicht in den ordentlichen, schon etwas ausgefahrenen Gleisen der klassischen Religionsgemeinschaften. Doch auch die müssen nicht auf Dauer zurückstehen. Seit längerem versuchen ganze Heerscharen von professionellen Moralisten die liberal-kapitalistische Marktgesellschaft wieder zu entrationalisieren, ihre Ökonomie zu ethisieren, dem anonymen Sozialsystem religiöse Bindungen einzuweben, Vernunftkalküle und Eigennutz durch Glaubensnormen zu zügeln. Ganze Bibliotheken frönen gegenwärtig dem Versuch, Glauben ein- und Wissen auszureden. Kümmerlich demgegenüber die tapferen Bemühungen, das Ethos mittels Vernunft in eine civil society zu pressen. Sogar Religionskriege sind wieder en vogue, mögen sie sich auch modernistisch hinter nationalistischen Wahnbildern ethnischer Reinheit verstecken. Das Betrüblichste aber ist das, wovon hier überwiegend die Rede war. Das Wissen selbst, die Mutter der Moderne, kränkelt. Für-wahr-halten hat sich auf breiter Front in das Wissen hineingefressen. Die Wissenschaftsgesellschaft, noch 1986 liebevoll und hoffnungsfroh vom Zukunftsforscher Rolf Kreibich auf 804 Seiten beschrieben, ist ausgeblieben. Im science war, der wahrscheinlich nicht mehr lange auf Amerika beschränkt bleiben wird, leisten sich Wissenschaftler sogar den Luxus, sich wechselseitig mangelnde intellektuelle Redlichkeit oder grobe Ignoranz vorzuwerfen und einander zur mäßigen Erheiterung des Publikums als Hochstapler und Scharlatane zu beschimpfen. Semper aliquid haeret: Ein bißchen böser Glaube bleibt immer hängen. Die sanftere Wissensgesellschaft hat sich bisher nicht eingestellt. Sie macht obendrein nicht einmal den Versuch, die Rettung vor dem guten oder bösen Glauben in Aussicht zu stellen. Wie kommt das? Meine Mutmaßung ist: Das hochmütig verworfene Orakel hat uns einen letzten, schlauen Streich gespielt, indem es uns bei seiner Entlassung ins Ohr flüsterte:
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„Die Wissensgesellschaft sei Euer fester Glaube und Ihr werdet eine sichere Zukunft gewinnen." Wir sind ihm, aus alter Gewohnheit, in autonomer Auslegung gefolgt. Wir glauben an die Wissenschaft, aber irgendwie nicht an deren Subjektivität. Wir glauben an unsere Vernunft, aber irgendwie nicht an deren Geschichtlichkeit. Wir glauben an unser Wissen, aber irgendwie nicht an dessen Relativität. Wir glauben an die Gegenwart, aber irgendwie nicht an unseren Tod. Wir glauben an uns und vielleicht bald auch wieder an Götter. Der Rückweg ist also nicht weit. Wir haben ihn schon eingeschlagen. Wir leben bereits in den barocken Vorstädten der Glaubensgesellschaft. Die mythischen Brücken waren nicht wirklich abgebrochen. Wir brauchen uns nicht ängstlich mit dem Denken und seinen Resultaten abzufinden. Was sollen uns Erkenntnisse oder gar Erkenntnis, wo wir doch Erleuchtungen haben. Neue Geborgenheit ist nahe. Also: Fürchtet Euch nicht!
Abendvortrage
Ian Hacking
Paul Feyerabend after Dada It is a well known saying that after death our friends live on, for a while, in our memories, and then in stories we have told to our children. A person is not quite extinguished, perhaps, until the third generation. A few individuals may become historical figures, but those are no longer persons. They may be part of a grand narrative, historical or cultural; they may even become icons for a civilization, but they are no longer people whom we experience with their warts, their joy, their confusions, their suffering. Paul Feyerabend, you will think, is now at the stage of living in memory. Worse, he is becoming a historical figure, for tonight we are officially opening his archive at the University of Konstanz. But we are not quite there yet! For there is one last new thing, his last words, a new book, or rather, half a book, an unfinished book, which has been brilliantly put together by an unexpected editor.1 Conquest of Abundance appears in the United States this month (October) and should be out in Europe by the end of the year. It allows me not yet to consign the person, Paul Feyerabend, to the slowly fading transmission of memory, and it allows me not yet to treat him as a historical figure fossilized in an archive. It allows me to talk this evening of a new book by an old friend. Feyerabend will be forever cursed by a statement of his own making, and for which he is fully responsible, the notorious aphorism, 'anything goes'. That did not mean that anything except the scientific method (whatever that is) 'goes'. It meant that lots of ways of getting on, including the innumerable methods of the diverse sciences, 'go'. It also meant that an anti-rationalist, like Feyerabend, was perfectly entitled to use rationalist arguments to discomfit the rationalists whom he opposed. What he did dislike was any kind of intellectual or ideological hegemony. His favoured text was Mill's On Liberty, even if his preferred style was Dada. Single-mindedness in pursuit of any goal, including truth and understanding,
1 P. Feyerabend: Conquest of Abundance: A Tale of Abstraction versus the Richness of Being, edited by B. Terpstra, Chicago 1999.
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yields great rewards. But single vision is folly if it makes you think you see (or even glimpse) the truth, the one and only truth. His title was exact: he was against method. We are taught in school about the wonderful discovery of 'the scientific method' without being told much about what that method is. But Against Method had a more specific target. It was a powerful critique of the 'methodology of scientific research programmes' developed by his closest philosophical friend, Imre Lakatos. Lakatos saw himself as defending rationality against a horde of irrationalists who had promoted T. S. Kuhn to be their honorary general. Lakatos in turn was Feyerabend's target, but his book was, almost incidentally, a devastating criticism of more modest kinds of rationalism as well. He rightly observed that Lakatos's methodology of scientific research programmes was entirely backward-looking, and gave no hint at what it was rational to believe or work on now - which is, after all, the core problem of rationality. The book was written as one side of a debate between the two men, but Lakatos did not live to write the other half of the dialogue. In the extensive correspondence between the two men, 1968-1974, which has just been published, one sees Lakatos trying to impale Feyerabend on a charge of inconsistency. 2 If he really claims that there is neither a rational scientific method, nor anything that serves as a surrogate for such a thing, then he should confess to absolute scepticism, denying the possibility of knowledge. I recall this small and familiar history to remind ourselves that alongside the playfulness of Against Method was a thoroughly serious philosophical debate. Yet I fear that in the future Paul Feyerabend will be remembered, first of all, for that 'Anything goes'. He cheerfully called himself an anarchist, but on reflection realized his attitude was more akin to Dada. Perhaps the reasons for this have not come out clearly. A newly published letter helps us understand. On 10 October 1970, at the height of the student rebellions, he wrote to Lakatos that he considered saying in the preface to Against Method: 'I am for anarchism in thinking, in one's private life, BUT NOT in public l i f e I take it that Dada became his code name for anarchy in thinking, in one's private life, with no implications for public life. When Against Method came out as a book in 1975 (there had been a 1970 version in volume 4 of the Minnesota Studies in the Philosophy of Science) he was still a Dadaist, a seemingly rather arrogant gadfly. That changed. That is why I want to talk about Feyerabend after Dada, and to use as my text his most recent communication to us, Conquest of Abundance. *
In fact that newly published book turned out not to be Feyerabend's last word. A rather amazing thing happened the Sunday after I gave this talk in Konstanz. The archivist Brigitte Uhlemann had found a floppy disc of Feyerabend's which she gave to his widow the day that the archive was officially opened, Wednesday 6 October. On the weekend Dr. Borrini-
2 I. Lakatos/P. Feyerabend: For and Against and the Lakatos-Feyerabend cago 1999. 3 Ibid., 219.
Correspondence,
Method,
Including
Lakatos's
Lectures
on Scientific
Method
edited by and with an introduction by M. Motterlini, Chi-
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Feyerabend opened the disc, and found nothing less than the Forward to the book, a 'Letter to the Reader'. I find it to be a moving document.4 But here I restrict myself to Conquest. *
In Killing Time, his autobiography, Feyerabend wrote that, 'in an incautious moment I promised Grazia that I would produce one more collage, a book no less, on the topic of reality'. He stopped work in November 1993 when he became ill, and died soon after, aged seventy. So now we have even more of a collage than he intended. Half of Conquest of Abundance is literally half a book, for at page 128 we find the final footnote, 'Here ends the manuscript.' (The remaining 140 pages are versions of papers written after 1990, and which run parallel to the book he was writing.) We owe the excellent editing to Bert Terpstra, a Dutch employee of Shell Oil whose job description at the time was 'information planner'. He had written an intelligent fan letter out of the blue, which was received too late for Feyerabend to have read it. On the strength of that letter Dr. Borrini-Feyerabend had the wit to choose him as editor. I am glad that both Grazia and Bert are in the audience tonight. The abundance of the ironic title refers to our world of incredible variety, almost boundless in its perspectives. We who are the heirs to the civilizations of Europe, the Mediterranean, West Asia and North America, have tamed and trammeled that abundance. The subtitle makes the point: Abstraction versus the Richness of Being. Since the Richness of Being sounds like a Good Thing, we infer that Feyerabend thought Abstraction is a Bad Thing. Well, not quite, for what he really opposed was what William Blake called single vision. To complete the quotation, 'May God us keep/From Single vision & Newton's sleep'. 4 It will be published in an issue of the London Review of Books sometime in February 2000. The letter is in English, some 800 words long. A few sentences may give you its flavor. He says that in this book his intention is not 'to inform, or to establish some truth. What I want to do is to change your attitude.' 'The life we lead is ambiguous. It contains not only one future, but many and it contains them neither ready-made nor as possibilities that can be turned into any direction. It is not at all different from a movie, or a specially constructed play. Imagine such a play. It has gone on for about forty minutes. You know the characters, you have become accustomed to their idiosyncrasies, you are already tired of their peculiar habits. Now they stand before you with their familiar gestures and it seems that nothing interesting is ever going to happen - when suddenly, because of a trick used by the writer, the 'reality' you perceived turns out to be a chimera. (Alfred Hitchcock, Anthony Shaffer and Ira Levin are masters of this kind of switch.) Looking back you can now say that things were not what they seemed to be and looking forward with the experience in mind you will regard any clear and definite arrangement with suspicion, on the stage, and elsewhere. Also, your suspicion will be the greater the more solid the initial story seemed to be. This is why I have chosen a scholarly essay as my starting point.' 'Being, or God, or whatever it is that sustains us cannot be captured that easily. The problem is not why we are so often confused; the problem is why we seem to possess useful and enlightening knowledge. ' 'Is there a name for an attitude or a view like this? Yes, if names are that important I can easily provide one - mysticism - though it is a mysticism that uses examples, arguments, tightly reasoned passages of text, scientific theories and experiments to raise itself into consciousness.'
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This half-book is not, however, a paean for proliferation and a denunciation of abstraction. There is a new concern, the way in which different visions can learn from each other. Also, the way in which one vision can grow out of another. Feyerabend and Thomas Kuhn between them made famous the idea that competing or successive scientific theories or world views are 'incommensurable'. That sloganeering word acquired a lot of meanings, but the core idea was that different principles or ways of thinking could not speak to each other. No common language could encompass both. No shared standards could decide which was best. Kuhn spent the last years of his life trying to produce a precise theory of language and classification that both explained incommensurability and made it inevitable. (Yes, there is a 2/3 finished last book by Kuhn, too, but his editors seem not to want speedy publication.) Feyerabend happily went in exactly the opposite direction. He came to realize that incommensurability, when it did exist, was the result of dogmatism or excessive abstraction, usually both together. One could continue the argument, suggesting that Kuhn came to expect incommensurability because he turned flexible ordinary languages into abstract structures between which mutual translation or adaptation had been engineered out. Many readers take incommensurability to be part of Feyerabend's Dadaism. In fact, he grew out of it precisely because it was too abstract, too inflexible, the very vices to which Dada is opposed. Karl Popper long inveighed against 'the myth of the framework', of which incommensurability is a special case. There is no arrangement of ideas and practices so rigid that it constrains human creativity. Paradigms may begin with achievements, and end in laziness. But we don't need to get stuck in a rut. Feyerabend became increasingly hostile towards Popper the infallible fallibilist, but he too came to acknowledge that frameworks of thought, if not exactly myths, are far from rigid. And his targets ranged further afield than the sciences. He had once been pretty much a cultural relativist, allowing every culture to do its own thing, so long as, in Millian spirit, it did not intrude too much on others. In the names of respect and variety we should not impose our values on other peoples. Although it does not say so exactly in this book, Feyerabend became increasingly incensed at cruelties he could not bear, even when they were sanctioned within the cultures that practiced them. He thought that clitoral excision was unconscionable. Only in one polemic against the banality of philosophers does he argue for active and armed intervention in the lives of other people, who have been torturing, raping and killing each other. But he did think, in not very practical ways, that we have the right to intervene in whatever ways can seem useful to help mitigate against what we deem to be evil. He had one theoretical justification for interventionism, summed up in an aphorism that pleased him: Potentially every culture is all cultures. Distinct peoples have been learning from each other ever since they separated at Babel and re-met. Mutual adaptation may be difficult, but it is always possible - that is why the abstract doctrine of incommensurability must be superseded. Moreover revolutionary thoughts can take hold within a culture. Feyerabend combines this part of the argument with another thread of his book, flagged by the subtitle. This is his uncompleted tale - a sort of intellectual archaeology - of abstraction overcoming abundance. The tale begins in Greece. Another way in which Feyerabend resembled Popper was his glossing bits of pre-Socratic, Platonic, and even Aristotelian philosophy in ways that makes
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the hair of classical scholars stand on end. Both men had a very traditional vision of their culture, once cultivated in German gymnasia and Oxford Colleges: Western civilization was formed and is still formed by its Greek roots. The ancient texts are keys to understanding ourselves, and this is especially so of those called pre-Socratic. But now I turn not to prephilosophers but to an epic hero. Feyerabend uses Achilles to illustrate breaking away from custom, surging away from established language, changing a world. By Book 9 of the Iliad the Greeks are terrified. Trojan fleets are near; their fires are visible at night. The enemy strength seems overwhelming. Agamemnon has treated Achilles shabbily, taking back booty and women granted for heroic exploits. Achilles is bitter. He will decamp and sail home. Desperately needing Achilles' army, leadership, and charisma, Agamemnon offers to restore all the wealth and women, plus a goodly share of the prospective loot from Troy. Achilles says in effect, 'Screw you, I'm going home.' Now I'm ignorant of Greek and use an up-to-date 1997 colloquial translation into English by Stanley Lombardo. In that rendering I do not scent even a whiff of 'incommensurability' in the story. Achilles has wised up to a pointless war which isn't even profitable because the commanding officer steals his spoils. I cannot imagine Agamemnon Or any other Greek, persuading me, Not after the thanks I got for fighting in this war Going up against the enemy day by day. It doesn't matter if you stay or fight In the end, everybody comes out the same. Yet Feyerabend had found scholars, even in the august Transactions and Proceedings of the American Philological Association, or the Harvard Studies in Classical Philology, claiming that Achilles is 'the one Homeric hero who does not accept the common language ... [who] has no language to express his disillusionment. Yet he does it in a remarkable way. He does it by misusing the language he disposes of.' Worse, says the philologist, he cannot absent himself from that language. It is honour, or rather the Homeric word, that is in question. For example old Phoenix tells Achilles that it is no good to come and save the Greeks at the last moment. Come while there are gifts, while the Achaeans Will still honour you as if you were a god. But if you go into battle without any gifts, Your honour will be less, save us or not. To which Achilles retorts, I don't need that kind of honour, Phoenix. My honour comes from Zeus, and I will have it Among those beaked ships as long as my breath Still remains and my knees still move.
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There are other contretemps about honour throughout Book 9. A scholarly claim is that the archaic notion of honour includes, for example, being possessed of rewards as one enters battle. Achilles breaks with that concept of honour, moving to something more abstract (and more recognizable to me as honour). But he has no word to express this new idea, one that Feyerabend overstates as 'Achilles' passionate conjecture.' Feyerabend argues that although we do not know what actually happened on the Ionian shores, or even if there was an historical Achilles, we should use Homer's story as a parable for the flexibility of language. But also as a parable for the coming separation of reality and appearance, for the notion of real, invisible, honour, free of the visible trappings of gifts. The Achilles story has the merit here, of being a new move. The subsequent ramble through early philosophy, Xenophon, Parmenides, and on, traverses terrain that in this context is more familiar. Always Feyerabend casts the events as a battle of abstraction against abundance, with abstraction taking the laurels every time. Greeks defined by a list of instructive examples until Socrates moves in, saying he wants piety (or justice, or whatever) one definite thing - and is given a multitude of pious actions, but not piety. Socrates wins, so that we reject a 'mere' list of morally compelling examples; we are supposed to produce an abstract, explicit, definition. The invention of geometrical proof is another waystage. Kant thought that 'A new light flashed upon the mind of the first man, (be he Thales or some other), who demonstrated the properties of the isosceles triangle.' Feyerabend is not much impressed by the invention of proof, rightly holding that it is not the momentary flash upon a single mind, but wrongly implying that mathematical proof is just one among many tricks to persuade people. Here I have to protest. I'm at one with Kant. Mathematical proof is one of the most astonishing inventions of the human mind, and I am persuaded that it must reflect some innate features of the human brain. I've said nothing of the avowed topic of this book in preparation, namely 'reality'. Feyerabend underlined his opinion thus: ' We regard those things as real which play an important role in the kind of life we prefer.' He called this the 'existential' component of his philosophy, meaning that at heart, reality is a matter of how we choose to live. He thought this is true of Achilles, whose 'disappointments made him see a different world'. He thought it equally true of the high energy physicists who had just seen a different world, namely the W and Z particles - items discovered at the CERN research facility in Geneva, near where, and not long before, Feyerabend was writing these words. He nicely puts down what he did respect, and what I very much respect, the analysis of the use of the English word 'real' produced by the Oxford philosopher J. L. Austin. That analysis shows just what plays an important role in the kind of life preferred by Oxford dons (and by implication, by me too, sometimes, in one of my philosophical states). He was on the edge of using the phrase 'forms of life.' To grasp the realities of Achilles, Oxford, or CERN, you have to live their respective lives. And: this was his key point, you can move into CERN and live its life, even if you begin as a scholar of Homeric Greek. I have been talking as a philosopher who has been fairly close to some of the issues addressed by Feyerabend. It is well to remember that he has a wider audience that finds in him a source of profound liberation. He is great fun, but there is more to it than that. The story of the editing of this book is a perfect parable with which to end. Bert Terpstra was a very
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successful employee of Shell Oil. He had a world view entirely consonant with his scientific corporate work. But in the rest of his life he had an entirely different vision. And his scientific view, he thought, was inconsistent with that, for among other things it taught single vision - that only one view is true. Reading Feyerabend's previous work, he wrote with deep feeling asking if that was the point, that many visions can and should coexist. The high seriousness of the question made Dr. Borrini-Feyerabend choose him to edit the uncompleted manuscript. Those pedants who dismiss the gadfly as a joker should remember that Paul Feyerabend speaks to many people in intellectual turmoil with exactly that high seriousness that so moved Mr. Terpstra.
Hubert Markl
Lug und Trug als Preis des Wissens? Daß Wissenschaft nach Wahrheit strebt, wird meist nicht einmal von jenen bestritten, die es für grundsätzlich unmöglich halten, den Beweis zu führen, was Wahrheit ist und ob wir sie überhaupt jemals erkennen können, oder die wahre Aussagen immer nur als Wahrheit in bezug auf ein selbst nicht als wahr beweisbares, sondern allenfalls gläubig hinzunehmendes, sozial vorgegebenes menschliches Bezugssystem anerkennen. Wirklich wahr, so die Meinung anderer, könnten ohnehin nur tautologische, analytisch wahre Aussagen sein; denn alle Feststellungen, die sich auf eine außerhalb des denkenden Geistes befindliche Wirklichkeit bezögen, also synthetische Wahrheit beanspruchten, müßten dazu von Annahmen über diese Wirklichkeit ausgehen, die selbst nur hypothetisch und keinesfalls zwingend als wahr beweisbar anzusehen seien. Deshalb gebe es zwar lupenreine logische Wahrheiten in den selbstbezüglichen geistigen Meisterdenkspielen der reinen Mathematik, deren kunstvolle intellektuelle Esoterik es allerdings ausschlösse, sie als für Jedermann oder Jedefrau einsichtig gültige Wahrheit auszugeben. Kaum werde aber der Versuch gemacht, solche Perlen mathematisch-logischer Wahrheit vor die Säue physischer Wirklichkeit zu werfen, so würden sie unvermeidlich durch die gleichen Probleme beschmutzt, die allen vorgeblich wahren Behauptungen über vermeintliche Wirklichkeiten unvermeidlich anhaften. Mehr als vorläufig unwiderlegte oder unwiderlegbare Vermutungen seien davon nicht zu erwarten, selbst wenn auf deren Grundlage Flugzeuge flögen, Sonnenaufgänge oder gar Sonnenfinsternisse einträten, Mondlandungen gelängen, Krankheitserbgänge aufgeklärt würden oder elektronische Wegfahrsperren funktionierten - es könne ja keiner beweisen, daß dies alles morgen noch genauso sei (obwohl uns praktische Lebenserfahrung belehrt, daß selbst die, die solches theoretisch bezweifeln, nichtsdestoweniger mit dem Rechtsanspruch auf Schadenersatz aufbrausen, wenn es denn einmal nicht so sein sollte, denn Wahrheit hin oder her, auf Zuverlässigkeit der Grundlagen unserer wissenschaftlich-technischen Verfugungswelt möchte keiner verzichten). Dies alles könnte bei Ihnen sicher den Eindruck erwecken, ich hätte die Absicht, über die Wahrheit zu sprechen, als wüßte ich nicht, daß ich hierüber nichts weiß, was die hier versammelten nicht sozusagen per approbationem besser wüßten oder jedenfalls besser wissen sollten als ich. Nein, das ist schon deshalb ganz und gar nicht meine Absicht. Ich halte mich gerne an mein Thema, das sich mit Lug und Trug beschäftigen soll. Aber wer über die absichtsvolle Unwahrheit nachdenkt, der kommt an der Wahrheit einfach nicht ganz vorbei. Denn der Gegensatz zu vorgeblichem, vorgelogenem und betrügerisch vorgespiegeltem Wissen ist eben nicht die Unwissenheit, sondern die Wahrheit, deren Anspruch die absichtlich dafür ausgegebene Unwahrheit gröblich verletzt. Und selbst wenn wir den absoluten Wahrheitsanspruch beiseite ließen und uns damit zufrieden gäben, daß Wissenschaft nach für jeden Menschen vertrauenswürdiger Zuverlässigkeit ihrer Aussagen strebt, so endeten wir doch rasch damit, daß Lüge und Betrug in der Wissenschaft zu Behauptungen fuhren, auf die man sich nicht verlassen kann, die eben unzuverlässig sind, weil sie nämlich erstunken und erlogen, mit anderen Worten mit voller Absicht wahrheitswidrig sind.
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Deshalb brauchen wir zumindest eine Leitvorstellung vom Wahrheitsbezug jeder Wissenschaft und von der Pflicht zur Wahrhaftigkeit jedes Wissenschaftlers, wenn wir überhaupt über Lug und Trug in der Wissenschaft sprechen wollen. Eine Wissenschaft ohne Wahrheitsanspruch, oder sagen wir besser: ohne Bemühung um Wahrheit, könnte sich nämlich gar nicht über Lüge und Betrug aufregen, so wenig wie man von einem verlogenen Eistanz oder einer betrügerischen Sonate sprechen kann - allenfalls mit der Ausnahme, daß durch Plagiat eine eigene originelle Leistung von Urhebern betrügerisch vorgespiegelt wird. Plagiate sind ja sowieso ein Sonderfall akademischen Fehlverhaltens: Sie können sich durchaus auf ganz und gar wahre wissenschaftliche Aussagen beziehen - betrügerisch an ihnen ist nur der Autorenanspruch kreativer eigener Leistung. Sie müssen daher - obwohl klare Fälle von Lug und Trug - der Wissenschaft als epistemologischem System keinen großen Schaden tun; für die Wissenschaft als soziales System sind sie freilich schädlich genug und eine Schande, die wir nicht dulden dürfen, genauso wenig wie Ehrenautorenschaft und ähnliche akademische Eigentumsdelikte. Aber die Notwendigkeit des Wahrheitsanspruchs und -nachweises für jede Wissenschaft hat natürlich auch noch eine andere, manchmal durchaus beunruhigende Seite. Ich bin nämlich, offen gestanden, gar nicht so sicher, ob Wissenschaften ohne das Vermögen oder wenigstens das Bemühen logischer bzw. empirischer Überprüfbarkeit ihrer Aussagen überhaupt zur Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit fähig sind, schärfer gesagt: ob sie überhaupt wahrheitsfähig und daher auch unwahrheitsfähig sein können (wie gesagt, mit Ausnahme des Nachweises, daß deren Vertreter ihre Behauptungen nicht plagiatorisch abgekupfert haben). Aber da ich heute abend weder auf einem Theologenkongreß noch auf einem literaturwissenschaftlichen Kolloquium und auch nicht auf einer Versammlung einer psychoanalytischen Vereinigung spreche, brauche ich diese gelegentlich aufsteigenden und sicherlich/hoffentlich unberechtigten Zweifel nicht weiter zu vertiefen. Selbstverständlich meine ich damit nicht Theologie als Grundlage des sozialen Systems Religion und dessen seelsorgendem Handeln, sondern nur soweit als sie sozusagen als metaphysische Wissenschaft auftritt; und selbst dann ist sie selbstverständlich genauso wie die historische Philologie in den Literaturwissenschaften ohne Zweifel in der Lage, strengen Überprüfbarkeitskriterien der Wahrheitstreue ihrer Aussagen über ihre Texte zu genügen. Aber ob diese Texte inhaltlich wahre oder fiktionale Aussagen machen, da wird es schon schwieriger. Und auch der Psychoanalyse will ich keineswegs ihre Berechtigung als Grundlage psychotherapeutischen Handelns bestreiten - dessen Erfolg sie dann freilich wieder nach überprüfbaren Wahrheitskriterien nachweisen muß - ; es fragt sich nur, ob ihre Theoriegebilde dem genügen, was wissenschaftsmethodische Standards einer Wahrheitsbemühung verlangen, und ob sie daher nicht Schwierigkeiten damit hat, phantasievolle Erfindung - also sozusagen schöpferische künstlerische Arbeit - von Lug und Trug, also absichtsvoller Verletzung wissenschaftlicher Wahrheitsbemühungspflicht zu unterscheiden. Ich will hierzu keine unzutreffenden Behauptungen aufstellen und schon gar nicht jemanden in seiner Wissenschaftlerehre beleidigen: Aber fragen wird man schon noch dürfen. Solche Fragen könnten sich dann freilich auch an die Philosophie, die Mutter aller wahrheitssuchenden Wissenschaften - im arabischen Sinn dieser Redewendung - richten, jedenfalls an bestimmte Art und Weise zu philosophieren. Denn ihre selbstzweiflerische Art, sich
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selbst bei allem was sie sagt zu dekonstruieren, hat ja etwas von einer selbstzersetzenden Säure an sich, die wenig Substantielles übrig läßt, so daß das Wahrheitsverständnis solcher Philosophie wie die Schlange, die sich vom Schwänze her selbst auffrißt, recht selbstreferentiell verschlungen wirkt. Solche Philosophie - vor allem wenn sie sich literarisch elegant auszudrücken weiß, denn jede Philosophie ist ja immer auch literarischer Text, im Idealfall hoher Qualität - gerät dadurch freilich in Gefahr, sich vollends in Fiktion aufzulösen, in eine Art „Transzendentalbelletristik" (Odo Marquardt), zur Freude der Feuilletons: Aber wie könnte man ihr dann noch Lug und Trug vorwerfen? Und wenn nicht: Wo bliebe dann bei ihr am Ende die Wahrheit? Denn woran ich festhalten muß ist, daß eine Wissenschaft, der es um Wissen - also zuverlässige Aussagen über eine allen Menschen gemeinsame Wirklichkeit - geht, nicht auf das Bemühen um Wahrheit verzichten kann, das alle Aussagen mit wissenschaftlichem Anspruch einer Überprüfung nach vereinbarten Richtigkeitskriterien zu unterwerfen bereit ist, wenn sie sich und vor allem jene, die als Steuerzahler für die Kosten ihrer Forschungspraxis aufkommen, nicht Lug und Betrug ausliefern will. Deshalb gehört zu jeder Aussage mit wissenschaftlichem Anspruch die Reflektion über die Methoden ihrer Überprüfbarkeit nach Wahrheitskriterien. Je vertrackter allerdings Erkenntnistheoretiker den Wahrheitsbegriff machen, umso schwieriger kann das werden, wovon uns die vielfältigen Facetten der sogenannten „Sokal-Affäre" 1 , ganz abgesehen von ihrem intellektuellen Preiscatching-Unterhaltungswert, schönes Anschauungs- und Nachdenkmaterial geliefert haben. Kurzum: Wer keinen verbindlichen Wahrheitsbegriff hat wenigstens als methodischen Ausweis rationaler Argumentation - , kann bald auch keinen Begriff von Lüge und Betrug mehr haben. Denn Lug und Trug in der Wissenschaft ist gleichsam die deutlichste Anerkennung des Wahrheitsgehaltes von wirklicher Wissenschaft, geradezu eine Hommage an die Wahrheit: Geben sie sich doch dafür aus! Lassen Sie mich deshalb - für die Zwecke dieses Vortrags - von dem „naiven" Wahrheitsbegriff der Arbeitspraxis empirisch-experimenteller Naturwissenschaften und ihrem wiederum „naiven" hypothetisch-realistischen Wirklichkeitsbegriff ausgehen; zudem von ihrer erneut „naiven" Annahme, daß alle Menschen gesunden Verstandes, die man nicht sorgfältig anders indoktriniert hat, durch die Befunde und Argumente dieser empirischen Wissenschaften, dieser in Logik und Empirie begründeten Wirklichkeitswissenschaften, zu denen ich selbstverständlich gerne auch den größten Teil aller Geistes- und Sozialwissenschaften rechnen möchte, zu denselben Schlußfolgerungen über die allen Menschen zugängliche Wirklichkeit gelangen können; und auch noch von der gewiß ebenso „naiven" Hoffnung, daß diese Wirklichkeit durch eine einzige, in sich widerspruchsfreie und über alle real existierenden Seinsbereiche hin zusammenhängend gültige Erklärung wissenschaftlich umfassend - wenngleich vielleicht niemals vollständig - verständlich gemacht werden kann; durch ein Gebäude aus Sätzen und deren logischen Verknüpfungen, deren Gesamtheit wir dann als das wissenschaftlich begründete Wissen der Menschheit über die Wirklichkeit, in
1 Siehe dazu A. Sokal/J. Bricmont: Intellectual 1999.
Impostures,
London 1998; dt. Eleganter
Unsinn,
München
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der sie entstanden ist und in der sie existiert, bezeichnen können. Und da uns diese Wirklichkeit individuell nur in der Form unserer Wahrnehmungen und Gedanken, gemeinsam nur in sprachlich verfaßter Form zugänglich ist, schließt ein solcher Wirklichkeitsbegriff selbstverständlich die Wirklichkeit geistiger Phänomene mit ein - wie könnte er nicht! Zwar sind wir Naturwissenschaftler dank der beständigen Bezweiflungshilfen unserer philosophischen Brüder und Schwestern im Geiste vielleicht nicht mehr allesamt ganz so „naiv" wie dies alles klingt, aber ich halte an dieser Vorstellung wahrheitssuchender und wahrhaftigkeitsverpflichteter Wissenschaft dennoch fest, wenn ich im Folgenden über Lug und Trug in der Wissenschaft spreche, weil ich erstens meinen Vortrag sonst auf der Stelle beenden müßte (und ich sehe nicht ein, warum ich ausgerechnet der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie diese Freude machen sollte, sie macht mir ja auch keine); und - wesentlich wichtiger-, weil an dieser Reihe zugegebenermaßen „naiver" Annahmen über Wissenschaft erstens deren Zuverlässigkeit für lebenspraktische Anwendungen und deshalb zweitens zugleich das Vertrauen der forschungsfinanzierenden Öffentlichkeit in die Vertrauenswürdigkeit solcher forschenden Wissenschaft hängt. Und darauf muß es uns sehr ankommen, denn Wissenschaft ist kein Freizeithobby verspielt-versponnener Gelehrter, sondern ein überaus lebensnotwendiger Dienst der Wissenschaftler an der menschlichen Gesellschaft, die sie dafür teuer genug bezahlt. Wenn dies aber so ist, warum habe ich dann buchstäblich die Axt an die Wurzel solchen Vertrauens und das Messer an die Kehle der heiligen Kuh der Förderungswürdigkeit von Wissenschaft und Forschung gelegt, indem ich im Titel meines Vortrags von Lug und Trug als Preis des Wissens sprach, wobei das Fragezeichen nur auf ausdrückliche Bitte des Vorsitzenden Ihrer ansehnlichen Gesellschaft hinzugefügt wurde, der offenbar vor der Vorstellung erblaßte, ich könne dies am Ende gar affirmativ-konkret behaupten und nicht etwa nur hypothetisch-zweifelnd fragen. Nun, ich habe dies deshalb so getan, weil ich erstens tatsächlich behaupten möchte und zu belegen suchen werde, daß Wissenschaft Lüge und Betrug benötigt, ja, daß es ohne sie gar keine Wissenschaft gäbe. Weshalb sie zweitens auch die beachtlichen Kosten an Verunsicherung und Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit dafür zu tragen hat, die unter anderem gerade darin bestehen, daß sie unaufhörlich gegen Lüge und Betrug ankämpfen muß, um dieses Vertrauen stets erneut zu erlangen. Allerdings ohne jede Aussicht, dabei jemals ganz obsiegen zu können, es sei denn in jenen fernen Zeiten, in denen die Wissenschaft die gesamte Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungsformen einmal vollständig erklärt haben könnte, was allerdings aus ganz prinzipiellen Gründen unmöglich ist, worauf ich hier allerdings nicht eingehen kann - es genügt ja festzustellen, daß wir wahrhaftig weit genug von einem solchen Zustand vollendeten Wissens entfernt sind. Mit anderen Worten: Ein wissenschaftliches Studium und Forschung als Beruf lohnen sich noch auf unabsehbare Zeit! Daß Wissenschaft ohne Lüge und Betrug nicht existieren kann und auch trotz aller Gegenwehr niemals existieren wird, ist allerdings gar nicht so schlimm - so meine dritte These weil Wissenschaft als wahrheitsanstrebendes System dadurch niemals nachhaltig zerstört werden kann, weil sie nämlich nicht nur inhärent betrugsanfallig ist, sondern ebenso inhärent selbständig betrugsaufklärend wirkt. Allerdings können Lüge und Betrug der Akzeptanz von Wissenschaft in der Gesellschaft, die sie trägt, schweren Schaden zufügen, doch
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dürfte auch der jeweils nur vorübergehend sein, weil die ab Oktober 1999 Sechs-PlusMilliarden-Menschheit von Wissenschaft und von ihr geleiteter Anwendungspraxis auf Gedeih und Verderb, also buchstäblich überlebensnotwendig abhängig ist, so daß sie, selbst wenn sie ihr mißtraut, gar nicht mehr auf sie verzichten kann, es sei denn, sie wollte sich dadurch einen noch viel größeren Schaden zufügen, als sie schlimmstenfalls von den Folgen der Wissenschaft befurchten kann. Die - biologische und kulturelle - Evolution der Wissens- und damit auch der Wissenschaftsfähigkeit hat nämlich sozusagen mit der biologischen Evolution der sexuellen Fortpflanzung gemeinsam, daß wer leichtfertig - z. B. wegen der damit zweifellos verbundenen Ungelegenheiten - auf sie verzichtet, mit einiger Wahrscheinlichkeit ausstirbt. Lassen Sie mich nun zunächst betrachten, warum Lug und Trug geradezu Voraussetzung, jedenfalls aber Preis des Wissens und damit auch der Wissenschaft als sozialer Manifestation menschlicher Kulturen sind. Dazu brauchen wir nur die neurobiologischen Voraussetzungen der Wissensfähigkeit von Lebewesen ins Auge zu fassen. Voraussetzung für Wissen über die Umwelt sind sicher die Fähigkeit, Umweltgegebenheiten mit Sinnesorganen zu erkennen, Unterschiede darin wahrzunehmen und beides zusammen mit eintretenden Folgen so in einem Gedächtnis bewahren zu können, daß diese Wahrnehmungen mit Handlungen verknüpfbar, also verhaltenswirksam werden. All dies finden wir bei den allermeisten Tieren, wenngleich unterschiedlich differenziert ausgebildet. Zu Wissen - als einem nach Zuverlässigkeitsstandards überprüften Erkenntnisstand - können solche Wahrnehmungen allerdings erst dann werden, wenn sie nicht nur gleichsam abbildhafte - obgleich auch als Abbild bereits aktiv konstruierte - Repräsentationen einer mutmaßlichen Wirklichkeit sind, sondern wenn diese Repräsentationen einer reflektierenden Bewertung auf ihren Zuverlässigkeits- oder Wahrheitsgehalt hin unterworfen werden können. Solches - notwendig bewußt-einsichtige - Denken über Repräsentationen meinen Verhaltensforscher allenfalls den höchstentwickelten Primaten, außer dem Menschen also vor allem den Menschenaffen, zuschreiben zu können, wobei die Beobachtungen und Ergebnisse von Verhaltensexperimenten durchaus Spielraum für unterschiedliche Interpretationen lassen, was uns hier aber nicht zu beschäftigen braucht. Denn zu Wissenschaft - also sozial gemeinsam verfugbarem Wissen - können die wissensfÖrmigen Resultate solcher kognitiven Evaluation von Repräsentationen nämlich nur durch sprachliche Mitteilung, also der erneuten Repräsentation solchen Wissens in einem neuen Medium werden, wozu keine uns bekannten Tiere fähig sind. Die futterplatzweisenden Bienentänze scheinen auf den ersten Blick Ähnliches zu leisten, doch enthalten sie „Wissen" über Entfernung und Richtung wohl nur für den menschlichen Beobachter; für die Empfängerbiene der Botschaft handelt es sich eher um etwas wie eine Verhaltensanregung, für deren Wirkung wir noch nicht einmal Spuren bewußten Denkens zu unterstellen brauchen. Offenbar hat allein die menschliche Spezies ihr Zentralnervensystem zu jener Perfektion entwickelt, die ihm nicht nur das wissenserzeugende Denken über aktuelle oder erinnerte sensorische Repräsentationen gestattet, sondern die deren sprachliche Weitergabe an Mitmenschen ermöglicht und damit gemeinsames Wissen, die Urform von Wissenschaft, herstellt. Tiere mögen gelegentlich täuschen und damit andere irreführen, aber lügen können sie wohl - vielleicht mit Ausnahme der Menschenaffen und weniger anderer höchstentwik-
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kelter Warmblüter - nicht, denn dazu müssten sie wissen, daß sie nicht wissen und dennoch zu wissen vorgeben, oder daß sie anderes wissen als sie mitteilen, mit anderen Worten: Sie bräuchten eine Vorstellung von Wahrheit: Ich kenne keine Befunde, die so etwas für Tiere wahrscheinlich machen. Erst die Verbindung von Reflexion über Repräsentationen und deren sprachlichem Ausdruck macht unsere Spezies somit wissenschaftsfahig und notabene zugleich im vollen Sinne menschlich. Deshalb ist nicht nur jeder Wissenschaftler ein Mensch, obwohl man es ihnen manchmal nicht ansieht, sondern auch jeder Mensch ein (potentieller) Wissenschaftler, aber leider nicht immer ein guter. Nun belehren uns Theorie wie Empirie evolutionärer Verhaltensforschung, daß ein solches Gehirn nicht eine Selbstzweckdenkmaschine ist - sozusagen zur eigenen Unterhaltung in einem Bewußtseinstheater - und auch nicht dazu entstanden, um Philosophen ihre berufliche Grundausstattung zu geben. Die Intelligenz, die sich in solcher Wissens- und Wissenschaftsfähigkeit äußert, dürfte sich vielmehr vor allem - übrigens genauso wie der Verständigungstanz der Honigbienen! - zu nur einem Zweck mit der biologischen Evolution unseres überdimensionierten Gehirns entwickelt haben: um nämlich so wirkungsvoll wie nur möglich Artgenossen in ihrem Verhalten beeinflussen und dabei zugleich deren Verhaltensmöglichkeiten möglichst zutreffend einschätzen zu können. Spieltheoretisch inspirierte Psychologen können aus einer solchen Betrachtungsweise, wie man gesagt hat: einer „macchiavellischen" Art von Intelligenz des Menschen manche scheinbar „irrationalen" Eigentümlichkeiten menschlicher Rationalität - Reinhard Selten nennt dies: eingeschränkter Rationalität - erklären, denn eine solche „Denkmaschine" entwickelt sich in durchaus erklärbarer Weise anders, wenn sie als ein Wissen um seiner selbst willen suchendes, epistemisches Organ oder als ein soziales, man könnte auch sagen als ein politisches Organ, also als ein Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen in den Gewinnmaximierungsspielen sozialer Auseinandersetzungen und Kooperationen entstanden ist. Die in unserem Zusammenhang wichtigste Eigenschaft eines solchen Wissen zur Durchsetzung eigener und gemeinsamer Interessen einsetzenden intelligenten Gehirns ist zweifellos die damit verbundene Fähigkeit, andere nicht nur durch eigenes Wissen, sondern auch durch dessen absichtsvolle Vorspiegelung - also durch Lug und Betrug - zu beeinflussen. Dafür gibt es wiederum schon bei Tierprimaten höchst spannende Hinweise, für Menschen ist diese Fähigkeit jedoch geradezu der kennzeichnendste Ausdruck eines zur Selbstreflexion fähigen bewußt einsichtigen Denkens geworden: Ich denke, daß er denkt, daß ich denke, daß er denkt ..., wie solche selbstund fremdbezüglichen Ketten der Rationalität und Intentionalität zunehmend höherer Ordnung sich formulieren lassen. Selbstbewußt reflektiertes Wissen als Mittel sozialer Verhaltensmanipulation von Artgenossen benötigt also eine Leistungsform von zentralnervös koordinierter Intelligenz, die zugleich untrennbar mit der Befähigung zur Täuschung von Artgenossen, zur Verbergung oder Vorspiegelung von Tatsachen, zu Lüge und Betrug befähigt: ohne Wissensfähigkeit keine Täuschungsfähigkeit; aber auch: ohne Täuschungsfähigkeit keine Wissensfähigkeit; beide sind die zwei Seiten der gleichen Medaille, die uns als die höchstintelligenten und zugleich höchstsozialen Lebewesen auszeichnet. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben, denn ein wirklich denkfahiges, intelligentes Gehirn leistet immer beides zugleich.
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Wir sollten uns dieser Herkunft unserer stupenden Intelligenz - und notabene genauso unserer sprachlichen Eloquenz - aus den Wurzeln sozialer, durchaus eigensüchtig interessengeleitet motivierter Verhaltensspiele mit manipulativen Zwecken immer bewußt bleiben, selbst wenn selbstverständlich damit nicht behauptet werden soll, unsere Wissens- und wissenschaftsfähige Intelligenz sei in biologischen Zwängen solcher Herkunft gefangen geblieben. Es ist ja das Schöne an so vielen biologisch-evolutionären Innovationen, daß man mit ihnen oftmals weit mehr bekommt als man bestellt hat. Dieselbe permeabilitätskontrollierende Haut, die Fischen das Leben im Süßwasser ermöglichte, eröffnete ihnen auch die Möglichkeit der Landeroberung; dasselbe Federkleid, das den Körper von manchen Dinosauriern nachts warm hielt, ließ sich auch dazu verwenden, um damit auf Vogelflügeln den Luftraum zu erschließen; und ein sozial-manipulativ perfektioniertes Wissen-, Täusch- und Sprachproduktionsgehirn humaner Primaten bescherte uns am Ende auch die „Kritik der reinen Vernunft" und die „Duineser Elegien" (allerdings auch „Mein K a m p f ' und „Telekom, die machen das"). Aber so richtig es ist, daß dieses Gehirn der Wissenschaft das Tor zur Wahrheitsfähigkeit oder wenigstens zum emsthaften Bemühen darum geöffnet hat, so richtig bleibt auch, daß jeder einzelne Wissenschaftler, so rein auch sein Wahrheitsstreben sich darzustellen versteht, ab unguibus usque ad verticem summum immer noch auch ein biogenes Wesen bleibt, vor allem aber in seinem Gehirn, das nicht nur ein Denkorgan, sondern auch ein Wunsch- und Willensorgan ist und bleibt, von Interessen motiviert, von vielerlei Begierden und Befürchtungen angetrieben und daher auch allen menschlichen Versuchungen ausgesetzt, seine - hoffentlich zumeist besonders ausgeprägte - Intelligenz nicht nur im Dienste der Wahrheit, sondern auch zu profaneren Zwecken einzusetzen in der Lage ist und sich dabei gelegentlich nicht nur redlicher Mittel zu bedienen. Die Fähigkeit zu Lug und Trug ist sozusagen die Konsequenz unserer für jede menschliche Kultur konstitutiven Fähigkeit zur Einsicht und Einfühlung in das Denken, Fühlen, Wünschen und Wissen von Mitmenschen zu eigenen Gunsten. Sie ist keine Fehlentwicklung des Menschen, schon gar nicht eine Verfallserscheinung, sondern sozusagen Grundbestand unseres Wesens als eine besonders geschickte neue Option zur Optimierung eigenen Nutzens zu Lasten anderer, also zu sozialschmarotzerisch erlangbaren Vorteilen, denn darum handelt es sich ja bei Lug und Trug. Daher bedarf sie der begleitenden Gegenwirkung durch moralische Erziehung und soziale Kontrolle, nicht weil der Mensch von Grund auf schlecht ist, sondern weil er nicht zwanghaft gut ist (was sowieso eine contradictio in adiecto wäre!). Wer meint, daß er niemals täuscht, täuscht wohl damit nur sich selbst, er stempelt sich geradezu zum Un-Menschen, weil er einen wesentlichen Teil dessen negiert, was ihn als Menschen ausmacht. Allerdings ist diese Fähigkeit zur Selbsttäuschung in der Form der Selbstüberschätzung wohl bei Wissenschaftlern nicht wenig verbreitet, denn es bedarf ja schon besonderer Intelligenz, um in der Wissenschaft als Hochstapler erfolgreich zu sein, also andere zu täuschen. Wenn solch intelligente Menschen sich aber sogar selbst täuschen, müssen sie es offenkundig noch intelligenter anstellen. Hilft allerdings nichts: So gescheit täuscht keiner, daß neidische Kollegen es nicht doch über kurz oder lang bemerken! Wissenschaft, richtig betrieben, mag oftmals unwissend sein oder irren, aber sie betrügt nicht (allenfalls zeitweise sich selbst). Aber Wissenschaftler können lügen und betrügen,
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denn dasselbe Gehirn, das sie zu Wissenschaft befähigt, liefert ihnen auch Versuchungen, Motive und Geschicklichkeit genug, um sie zu Lug und Trug fähig zu machen. Nicht weil Wissenschaftler gleichsam genetisch dazu programmiert wären, sondern weil ihnen genetisch die Freiheit zu solchem Handeln eröffnet worden ist! Wissenschaft ist selbstverständlich ein Produkt menschlicher Kulturtradition, also geradezu erstrangig kulturabhängig, weil sie vielleicht - neben der Religion - der vornehmste Ausdruck einer alle Menschen aller Kulturen umfassenden Kulturfähigkeit des Menschen ist. Ihre Leitwerte Wahrheit, d.h. innere analytische Konsistenz, plus Wirksamkeit, d. h. äußere synthetische Konsistenz oder zuverlässige Anwendbarkeit in der Lebenspraxis, und in der Folge von beidem ihre prädiktiv zielflihrende und retrodiktiv erklärende Kraft sind nicht gleichsam naturwüchsig mit ihr verbunden, sondern sind eine hochentwickelte sozial aufrechterhaltene Organisationsleistung menschlicher Gemeinschaft; naturwüchsig ist allenfalls die untrennbare Verknüpfung mit der Befähigung zu mitunter höchst lohnendem Lügen und Betrügen, die zu ihr gehört wie der Schlagschatten zu dem Aufklärungslicht, das sie zu verbreiten vermag. Wissenschaftliches Forschen und Lehren sind eben immer auch Formen sozialen Handelns zu Zwecken, die außer auf Erkenntnisziele durchaus auch auf manch anderes abzielen können: Ruhm und Rang, Ansehen, Einkommen und Fortkommen, Erfolg und Gewinn und manchmal vielleicht auch die Selbstbefriedigung charismatischer Wirkung auf ein Publikum aus Kollegen und Adepten, Jüngern und mitunter auch Jüngerinnen, besonders wenn diese zugleich auch noch jünger sind. Und deshalb - dies meine zweite These - benötigt Wissenschaft als soziales System, das Wahrheit und Zuverlässigkeit und Vertrauen in beides zu höchsten Leitwerten hat, immer auch strenge soziale Kontrolle - wie andere soziale Institutionen mit hehren Zielen auch. So wenig es den Rechtsstaat infrage stellt, wenn gelegentlich Richter klauen und Anwälte morden; so wenig es ein religiös begründetes Sittensystem widerlegt, wenn ein Pfarrer die Hände nicht von jungen Mädchen oder gar ein Kardinal dieselben nicht von kleinen Buben lassen kann; so wenig stellt es Wissenschaft als wahrheitsfähiges und wahrheitsgeleitetes soziales System infrage, wenn hin und wieder ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin das Risiko des erfolgreich scheinenden Betrugs der Mühsal selbst erarbeiteter Entdeckungen vorzieht. Dies liegt in der Wissenschaft leider sogar besonders nahe: Während ein Richter kraft Ausbildung keinesfalls ein besonders geschickter Taschendieb zu sein braucht und ein Pfarrer in der Regel nicht auf Don Juan-Qualitäten getrimmt wird, sind Wissenschaftler geradezu auf intellektuelle Spitzenleistung hin ausgewählt (sie sollten es jedenfalls so sein!) und verfügen daher auf Gebieten, in denen sie selbst sich am besten auskennen, auch noch über die besten Voraussetzungen zu Lug und Trug. Da die Belohnung für erfolgreiche Täuschung in Zeiten gesteigerten Wettbewerbs und wachsender Unübersichtlichkeit gleichzeitig forschenden Handelns von Millionen Wissenschaftlern auf immer mehr und immer schwerer überschaubaren Gebieten der Forschung gleichsam überproportional wächst, zumal wenn mit möglichst vielen Publikationen auch noch Karriere und Geld zu gewinnen sind, sollte es uns gar nicht verwundern, wenn die Gefahr von akademischen Missetaten gegenüber vergangenen Zeiten wächst - in denen es diese allerdings auch schon gab.2 Wo publish or perish oder neuerdings wohl noch öfter: 2 Siehe z. B. W. Broad/N. Wade: Betrug und Fälschung in der Wissenschaft, Basel 1984; F. di Trocchio: Der große Schwindel, Frankfurt 1994; M. Finetti/A. Himmelrath: Der Sündenfall, Bonn 1999.
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apply or die gilt, wächst auch die Versuchung zum corriger la fortune (oder wohl noch zutreffender: la misfortune) und deshalb muß auch die Ernsthaftigkeit der sozialen Selbstkontrolle im Wissenschaftssystem wachsen. Das sollte nicht die Stunde entrüstet-zerknirschten oder höhnisch-schadenfrohen Händeringens und Augenrollens sein - am allerwenigsten vielleicht von Seiten von Journalisten, die in ihrer eigenen Stallung knietief im Mist waten können - , sondern die Herausforderung, schlampige Prozeduren von Aufsicht und Auswahlentscheidungen streng qualitätsbewußt und rücksichtslos wahrheitsfördernd zu reformieren, Lug und Trug begünstigende Strukturen, Gewohnheiten und Privilegien des Wissenschaftsbetriebs so zu verändern, daß ehrliche wissenschaftliche Arbeit allein deshalb mehr lohnt als betrügerische Vorteilserschleichung. Weil letztere nicht geduldet und so vorbehaltlos ohne Ansehen der Person bestraft wird, daß der Preis von Lug und Trug eben wesentlich höher als jener der Redlichkeit in der Wissenschaft ist (obwohl diese immer ihren Preis an die menschliche Schwäche für Unredlichkeit zu entrichten haben wird). Sie haben alle von einigen Fällen mehr oder weniger massiven akademischen Fehlverhaltens, vulgo Lug und Trug, von zum Teil sehr angesehenen Wissenschaftlern in Deutschland gehört und gelesen, die ich daher hier auch nicht noch einmal auszubreiten brauche. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Universitäten und andere Forschungsorganisationen haben inzwischen Verfahrensregeln festgelegt, wie mit solchen Fällen vorbehaltlos, zügig und rechtsstaatlich einwandfrei umzugehen ist, denn sie werden uns, wie gesagt, auch künftig plagen. Wichtiger noch ist eine breite Sensibilisierung für die Gefährdung des sozialen Systems Wissenschaft durch solche Vorkommnisse, die sich weltweit vor allem im biologisch-medizinischen Wissenschaftsbetrieb häufen, und noch mehr dafür, daß es besser ist, das Kind nicht am Brunnen spielen zu lassen, als nach dem Hineinsturz darüber zu lamentieren. Die größten Einwirkungsmöglichkeiten liegen dabei in richtig verstandener Kollegialität, vor allem im korrekten und fairen Umgang mit jungen Wissenschaftlern, und in der sozialen Kontrolle, die von Kollegen ausgehen muß, die es nicht hinnehmen, daß in ihrer Institution mit akademischen Rechten und Pflichten Schindluder getrieben wird: sei es durch Ausbeuten der Abhängigkeit von Doktoranden und anderen Nachwuchskräften, sei es durch unverdiente Ehrenautorenschaften, die eigentlich Unehrenautorenschaften heißen sollten, sei es durch Hinwegsehen über andere unakzeptable Praktiken der Selbstbegünstigung von Inhabern von Positionen akademischer Macht. Dekane, Direktoren, Rektoren und Präsidenten wissenschaftlicher Einrichtungen sind hier als autorisierte Repräsentanten nicht nur akademischer Autonomie, sondern auch eines akademischen Ethos gefordert, ohne dessen Einhaltung und Durchsetzung die Autonomie nichts als unberechtigte Usurpation von Macht wäre. Unglücklicherweise ist allerdings akademische Kollegialität, von der die Selbstkontrolle der Wissenschaft als soziales System so sehr abhängt, zugleich auch die größte Gefahr für sie: Denn falsche „kollegiale" Rücksichtnahme, die zum Wegsehen von und Hinwegsehen über Mißstände führt, ist hier genauso schlimm wie bei jedem Corpsgeist, der Übeltaten aus Rücksichtnahme decken zu müssen meint. Wobei die größte Gefahr darin liegt, daß geduldete Mißstände auch noch zur Nachahmung durch die Dulder anreizen. Wer über die verschiedenen Formen der Pflichten zur institutionellen Selbstkontrolle der Wissenschaft unter
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Orientierung an den Wahrheitsleitzielen in Lehre und Forschung sowie des Vorgehens gegen Missetäter Genaueres nachlesen will, dem empfehle ich das Buch Academic Duty von Donald Kennedy (Cambridge, MA 1997), in dem die acht Grundpflichten eines Hochschullehrers sehr klar expliziert sind: To Teach, To Mentor, To Serve the University, To Discover, To Publish, To Teil the Truth, To Reach beyond the Walls, To Change. Sieht man allerdings vom empörenden oder auch nur beschämenden oder schlicht ärgerlichen Einzelfall ab, der der Wissenschaft durch Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit allerdings viel Schaden zufügen kann, so ist der Schaden solcher Vorkommnisse für die Wissenschaft als Ganzer, als Wissenssystem der Menschheit, aus einigen zum Wesen der Wissenschaft selbst gehörigen Gründen wohl in der Regel eher vorübergehend und meist eher gering - so meine dritte These. Das liegt vor allem daran, daß dort, wo das Interesse der gesamten Gesellschaft an den Leistungen der Wissenschaft besonders berührt ist, die gleichsam automatischen Kontrollmechanismen wirklicher Wissenschaft, vor allem des „organisierten Skeptizismus" im Sinne Robert Mertons in der Regel recht wirkungsvoll greifen, am nachhaltigsten wohl durch den Ansehensverlust für die gravierenden Fehlverhaltens Überführten. Denn Ansehen unter Fachleuten ist für Wissenschaftler zumeist noch wichtiger als Amt und Geld. Je wichtiger, bedeutender, weitreichender und damit aufmerksamkeitsträchtiger (und somit potentiell lohnender) eine vorgeblich neue wissenschaftliche Entdeckung oder Behauptung ist, umso rascher und erbarmungsloser macht sich meist der vom nimmermüden Kollegenneid angetriebene Zahn kritischer Nachprüfung darüber her. Allerdings nur, das sei noch einmal betont, in Wissenschaften mit methodisch sauber definierten Wahrheitskriterien. Wenn Wissenschaft zur literarischen Fiktion wird: Wie könnte man sie denn dann noch der Lüge und des Betrugs überführen? Allenfalls doch der Verführung der Jugend! Daß Wissenschaften am schärfsten durch sich selbst überwacht werden, hat zur Folge, daß fast alle Betrügereien in der Wissenschaft durch andere Wissenschaftler aufgedeckt werden. Allerdings in der Regel leider eher durch jüngere Nachwuchskräfte, die ein Ergebnis nicht zu reproduzieren vermögen, als durch die eigentlich eher berufenen, angeblich so kritisch gutachtenden Peers - womit ich nochmals auf das oben zu falscher Kollegialität Gesagte hinweise, freilich oftmals verbunden mit Schlamperei aus chronischer Überlastung von multifunktionär infizierten akademischen All-round-Unternehmern. Die Einzelheiten sind dabei oft unerfreulich und häufig ganz und gar kein Ruhmesblatt für das akademische System. Aber dennoch bleibt es richtig, daß anscheinend besonders bedeutende Ergebnisse betrügerischer Wissenschaft in frei organisierten Gesellschaften keine sehr guten Lebenschancen haben. Daß dies in Diktaturen ganz anders sein kann - ich erinnere zum Beispiel an den Fall Lyssenko - sollten wir freilich auch nicht übersehen. Kommt zur wissenschaftlichen Bedeutung einer vorgeblichen Entdeckung allerdings dann noch der verschärfte Härtetest behaupteter praktischer Anwendbarkeit des Ergebnisses - in der medizinischen Therapie, in Technik oder Landwirtschaft oder wo auch immer - , so nehmen die Entdeckungswahrscheinlichkeit für Lug und Trug weiter zu und deren längerfristige Gewinnchancen weiter ab, denn es liegt in der Natur der Sache: the proof of the pudding is in the eating, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.
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Dies hat nun allerdings auch eine eher mißliche Folge: Wer besonders unwichtige und für praktische Anwendung bedeutungslose pseudowissenschaftliche Ergebnisse in großer Zahl zu veröffentlichen vermag, z. B. weil das Begutachtungssystem für veröffentlichungswürdige Leistungen versagt, der hat keine geringe Chance, sein Akademikerdasein unbehelligt zum beerdigenden Abschluß zu bringen, jedenfalls solange die Privilegien der Unkündbarkeit und mangelnder institutioneller Leistungskontrolle ihn dabei schützend umhegen. Die Wissenschaft als System geht allerdings mit ihm und seinen mangelhaften Produktionen durchaus wiederum in angemessener Weise um, er und sie werden in klassisch-kakanischer Methode nämlich „noch nicht einmal ignoriert" (was freilich die Gefahr in sich birgt, in solchen Spreuhaufen gelegentlich auch einmal einen veritablen Diamanten wissenschaftlicher Originalität zu übersehen; was allerdings, aus höherer Warte betrachtet, in der Regel auch nur ein begrenztes Unglück ist, weil in der Wissenschaft wirklich wichtige Befunde ohnehin immer aufs Neue erhoben werden!). Ganz unwichtige Täuschungen sind eben genau dies: unwichtig, so wie ganz nichtssagende Informationen ganz und gar datensicher sind, aus dem gleichen Grund, warum jemand, der nichts weiß, auch nicht ausspioniert werden kann. Es verlockt natürlich, in diesem Zusammenhang das komplette Bestiarium akademischen Fehlverhaltens aufmarschieren zu lassen, jeweils mit den konkreten neueren oder historischen Belegexemplaren, die die Wissenschaftssoziologen, -historiker und -detektive in ihren Sammelwerken zum Zwecke der Belustigung einer gar nicht immer nur amüsierten Öffentlichkeit oder besser noch zur moralischen Aufrüstung in erschröcklicher Genauigkeit aufgespießt haben. Altbekannte Prachtstücke darunter wie Mendel, Kammerer, Moewus, Abderhalden oder Sir Cyril Burt, bis zu immer neuen Varianten wissenschaftskrimineller Taxonomie: Denn der Geist ist ein Wühler, und er hört auch beim Wühlen im Schmutz sicherlich niemals auf, jedenfalls solange gilt, daß dirt pays und daß noch niemand damit arm wurde, daß er die Dummheit der Mitmenschen überschätzt hat. Damit nicht immer alles an den Naturwissenschaftlern hängen bleibt, vergessen wir auch nicht den Hinweis auf die Konstantinische Schenkung und ähnliche Prachtexemplare historischer Fälschungen beflissen dienstbereiter Geisteswissenschaftler. Vergessen wir weiter nicht - und das macht den Gegenstand besonders vertrackt - , daß manchmal bedeutende Genies der Wissenschaft, denen wir große und unbezweifelbar wahre Entdeckungen verdanken, bei anderen Gelegenheiten grausam geschummelt haben - siehe den Titel meines Vortrags und seine Explikation! Nachdem wir Unwissenheit als wissenschaftliche Unschuld und Irrtum als unvermeidliche läßliche Sünde hinter uns gelassen haben, wobei aus der Bereitschaft zu ihr für die Wissenschaft allein deshalb viel Gutes entspringt, weil nur, wer gar nichts behauptet, dem Irrtum sicher entgeht, die Wissenschaft aber nun einmal von kritisierbaren, überprüfbaren Behauptungen lebt, wäre dann also von Schlimmerem zu reden. Etwa von der beharrlichen Selbsttäuschung vermeintlichen Wissens wider mögliches besseres Wissen, der aktiven Irrtumspflege sozusagen, in den meisten Fällen nicht schwer erkennbar an der damit verbundenen manischen Repititis, als Altersform beharrlicher wissenschaftlicher Tätigkeit und als Ausdruck des Unvermögens, entweder zuzulernen oder beizeiten damit aufzuhören alles allgemein wohlbekannt.
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Von da ist es freilich mitunter kein großer Schritt zur echten Täuschung anderer, zur Lüge, der Vorgabe von Wissen trotz besserer Kenntnis zum Zweck der eigensüchtigen absichtlichen Irreführung anderer zum Schaden der Wissenschaft als Ganzer, Betrug genannt, wenn konkreten Anderen daraus Schaden entsteht. Gegen echten Betrug läßt sich dabei zivil-, disziplinar- oder strafrechtlich noch am ehesten mit Aussicht auf Erfolg vorgehen. Täuschung zum Schaden der Wissenschaft ist, wie sich zeigt, schon weit weniger leicht justitiabel, denn die Wissenschaft kann leichter darüber jammern als dagegen klagen. Datenfalschung, Datenfrisieren, Datenfabrikation bis hin zur luftigsten Form des Umgangs mit Daten: Der Inanspruchnahme oder Hinnahme der Autorenschaft auch durchaus wahrheitsgetreuer Daten, mit deren Gewinnung man allerdings ganz und gar nichts zu tun hatte - in dieser Schublade finden wir die reichhaltigste Käfersammlung wissenschaftlicher Monstrositäten. Vielleicht im Wettbewerb mit den verschiedensten Arten wissenschaftlichen Diebstahls, also der Aneignung oder Anmaßung von Eigentumsrechten am geistigen Eigentum anderer. Dazu gehört eigentlich auch die unehrenhafte Ehrenautorenschaft ohne eigenen geistigen Leistungsbeitrag. Genauso zählt dazu die Nutzung der geistigen Leistung von wissenschaftlichen Mitarbeitern, insbesondere solchen in besonderem Abhängigkeitsverhältnis, für eigene Publikationen ohne umfassende Kennzeichnung und Würdigung des fremden Beitrags. Dazu zählt selbstverständlich auch das altehrwürdige Plagiat, aber nicht minder die Nutzung der Ideen und Forschungspläne anderer Wissenschaftler, die dem Dieb als Gutachter bei der vertraulich gewährten Einsicht in Forschungspläne oder zur Publikation eingereichter Schriften bekannt werden. Es gibt da also eine reiche Biodiversität zu bestaunen, die freilich keine naturschützende Sorge verdient. Schwer zu sagen, wie selten oder wie häufig solche Verfehlungen sind. Manche vermuten, es könnte sich dabei so ähnlich wie bei der Häufigkeit von Seitensprüngen verhalten was übrigens weder das Institut der Ehe noch das der Wissenschaft als soziales System infrage zu stellen braucht. Wobei manche ja auch nur aus Mangel an Gelegenheit treu sind und sich dennoch für höchst moralisch halten. Damit sind wir jedoch in der Betrachtung der akademischen Schreckenskammer noch gar nicht am Ende. Vergessen wir zum Beispiel nicht die gar nicht so seltene Praxis, die inspirierende Arbeit anderer an einem Problem zwar nicht zu plagiieren, sie aber anders herum auch nicht zu zitieren, sondern durch Verschweigen und Ignorieren in den Hintergrund zu verdrängen. Oder erinnern wir uns an Praktiken der Entmutigung und Einschüchterung gegenüber vor allem noch nicht etablierten - Kritikern oder Konkurrenten oder ganz einfach von Studenten, die auf neue Ideen kommen, die nicht selbst gehabt zu haben beschämt. Oder daran, daß Gutachter vorgelegte Arbeiten so lange unbearbeitet liegen lassen oder so oberflächlichschludrig bewerten, daß den Autoren daraus schwerwiegende Nachteile entstehen. Eher Kleinigkeiten? Nun: Wie wäre es dann mit sachlich ungerechtfertigten Gefalligkeitsgutachten für Freunde oder eigene Schüler und die damit verbundene schädigende Zurücksetzung anderer, würdigerer Wissenschaftler? Das Inhaltsverzeichnis akademischer Widerwärtigkeiten hat viele häßliche Einträge, scheinbar weniger bedeutende bis hin zu solchen strafrechtlicher Relevanz. Ich habe hier nur eine unsystematische, unvollständige Auswahl vor-
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gefuhrt. Vergessen wir auch nicht die immer wieder berichtete Flucht junger Menschen aus der Wissenschaft, im schlimmsten Fall sogar in die Selbsttötung, weil sie sich massiv ungerechter diskriminierender Schikane ausgesetzt fanden. Alles Gottseidank weder hier noch anderenorts die Regel oder gar häufige Ausnahme, aber doch auch wieder nicht so selten, daß man nicht energisch dagegen vorgehen sollte, wenn einem an Sauberkeit und Wohlergehen des akademischen, wissenssichernden und wissensschaffenden Systems und am Vertrauen der Öffentlichkeit in die verantwortungsbewußte Ausübung der ihm gewährten Freiheit zur Selbstgestaltung gelegen ist. Keine neue Aufgabe, eine schwere Aufgabe, vor allem eine, die niemals zu Ende gebracht werden kann und die immer wieder die Bereitschaft zu unbeliebtem Eingreifen verantwortungsbewußter Mitglieder des akademischen Systems erfordert, mit Mut und Augenmaß zugleich. Allerdings auch kein Exerzierplatz für Selbstgerechtigkeit: Wer sich ganz ohne Schuld weiß, werfe den ersten Stein. Daher Mut, gegen Mißstände vorzugehen, und Augenmaß bei der Art der Vorgehensweise, nicht Übermaß! Es ist also schon ein beachtlicher Preis, den die Wissenschaft oder, genauer gesagt, den Menschen in der Wissenschaft dafür entrichten, daß sie im Laufe von Natur- und Kulturevolution nicht nur klug genug für Wissenschaft, sondern auch schlau genug für Lug und Trug in der Wissenschaft geworden sind. Und man meine auch nicht, das sei doch wohl immer noch eine Angelegenheit der Wissenschaft selbst, das Schmuddeln wie das Reinemachen. Sicherlich, aber keineswegs nur ihre Angelegenheit. Denn wenn unsere wie andere fortentwickelte Gesellschaften (ich zögere „hochentwickelte" zu sagen) sich tatsächlich immer mehr zu wissensabhängigen, wissensbestimmten Gesellschaften entwickeln - was freilich noch lange nicht bedeutet, daß sie wirklich Wissensgesellschaften geworden sind, wie manche meinen, denn dazu werden sie wohl auf absehbare Zeit immer noch allzusehr von Unwissen und Scheinwissen, ja von Lug und Trug durchdrungen, die sich dazu manchmal sogar noch das Mäntelchen der Wissenschaft umhängen - , wenn dies also so ist, dann werden sie zwangsläufig auch immer mehr zu politischen Wissensrege/angsgesellschaften werden. Denn wo Macht ist, da muß auch Politik sein. Politik wird in solchen wissensgetriebenen Gesellschaften sicher zunehmend zu beeinflussen versuchen, was als nützliches, zulässiges Wissen gefördert wird und was nicht, wer Zugang dazu hat und wer nicht, welche Wissensbereiche prioritär vorangetrieben werden sollen und welche nicht, und was mit dem Wissen geschehen soll und was nicht; und sie wird dies nicht allein - im Wettstreit der Parteien - zu beeinflussen suchen, andere werden sich um solchen Einfluß nicht weniger bemühen: Wirtschaft, Medien, das Rechtssystem, die Religionen, NGOs usw. mit ihren jeweiligen nationalen und internationalen Lobbies und Hilfstruppen. Das ist in Demokratien ganz normal, wenn es um Dinge von Belang für Jedermann geht, und bei Wissen handelt es sich genau darum. Darum ist die Wissenschaft schon gut beraten, sich sehr aktiv darum zu kümmern, daß sie nicht auch noch die Definitionshoheit darüber verliert, was als wissenschaftlich valides Wissen gelten darf und wie wir zu ihm gelangen, unter anderem indem sie selbst gegen Lug und Trug und alle sonstigen Fehlentwicklungen in der Wissenschaft nicht nur wachsam bleibt, sondern auch energisch dagegen vorgeht. Wenn sie dann allerdings den Eindruck erweckt, selbst nicht daran zu glauben, daß sie wahr von falsch unterscheiden kann, dann braucht sie sich nicht darüber zu wundern, wenn das Vertrauen der Gesellschaft in ihre Wissensfähigkeit dadurch auch nicht wächst.
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Dennoch dürfen wir bei aller Ernsthaftigkeit solchen Bemühens auch nicht den Fehler machen, aus lauter Eifer für die Selbstreinigung zu meinen, es gebe nicht auch ganz andere und vielleicht sogar größere Gefahren für die Wissenschaft, die wir nicht deshalb übersehen dürfen, weil wir ja nur allzu gerne an dem Baum hinaufbellen, auf dem wir zuletzt eine Katze gesehen haben. Ich will zwei solche Gefahren zum Schluß ganz kurz nennen, die für die Wissenschaft nicht minder gefährdend sind als Lug und Trug. Zum einen droht beim Bemühen, Wissenschaft unbefleckt sauber zu halten, immer das überspitzte Übermaß an Wahrheitsbesitzanspruch, selbst wo die Wissenschaft sich tatsächlich gar nicht so sicher sein kann. Wie jedes erfolgreiche gesellschaftliche System verfällt auch die Wissenschaft allzuleicht der Haltung, das für alle als wahr vorschreiben zu wollen, was sie gerade für wahr hält, was aber keineswegs immer als zweifelsfrei bewiesen gelten kann - wobei es beim „zweifelsfrei beweisen", wie eingangs gesagt, ja sowieso nicht wenig hapert. Aber selbst wenn die Wissenschaft gute Gründe hat, eine Aussage oder eine Theorie für überaus plausibel und wohlfundiert zu halten, muß sie dennoch akzeptieren, daß der freie Bürger nicht gezwungen werden darf, diese wissenschaftlich begründete Feststellung nun auch widerspruchslos zu glauben. Sie kann ihm sehr wohl verweigern, seine beliebig gewählten Ansichten seinerseits als wissenschaftlich gleichwertig auszugeben - creation science statt Evolutionsbiologie zum Beispiel; sie kann ihn widerlegen und sich dafür einsetzen, daß seine Minderheitsmeinung einflußlos bleibt; aber sie kann ihm in gar keiner Weise verbieten, selbst den größten Unsinn zu glauben. Nur wenn die Wissenschaft nicht einem Allmachtsanspruch der Welterklärung verfällt, bleibt sie in freien Gesellschaften mit all ihrer krakenhaft vielarmigen Wissensmacht überhaupt erträglich. Wissenschaft kann schon innerhalb der eigenen Mauern mit viel Widerspruch leben, wie viel mehr noch muß sie mit dem Widerspruch leben, der ihr von außen entgegengebracht wird. Eigentlich kann sie sich überhaupt erst einer vertrauensvollen Zustimmung zu ihren Wissensangeboten erfreuen, wenn diese so frei erfolgt wie eben erst daran erkennbar wird, daß Widerspruch gegen sie nicht weniger frei möglich ist. Das fordert zwar unaufhörliche lästige Überzeugungsarbeit, aber dafür gibt es ja genügend unter uns, die nichts lieber tun, als andere zu überzeugen. Dies scheint mir deshalb so wichtig, weil die Wissenschaft nur durch begründeten Widerspruch gegen etablierte, aber unzutreffende oder einfach nicht gründlich genug geprüfte Lehren weiterwachsen kann. Der Hang zur fundamentalistischen Orthodoxie schadet der Wissenschaft bei freidenkenden Menschen nicht weniger als in der Religion. Neben der Wachsamkeit gegen Lug und Trug muß also gleichrangig die Wachsamkeit gegen selbstzufriedene Wissensgewißheit treten, so paradox dies auch zunächst klingen mag. Aber ein zweites scheint mir nicht weniger wichtig. Wir müssen uns nämlich immer wieder fragen, ob Lug und Trug in allen Spielarten wirklich die schlimmsten Formen wissenschaftlichen Fehlverhaltens sind. Es wird ja gerne in aufklärerischem Gestus behauptet, daß Wahrheit, insbesondere wissenschaftlich geprüfte Wahrheit, frei mache von Aberglauben und grandlosen Ängsten, von Irreführungen und Indoktrination. Schon richtig, ich habe selber niemals gezögert, dies so zu behaupten und zu begründen. Dennoch ist das aber nicht alles, was dazu zu sagen ist. Denn Wissenschaft ist immer in Gefahr, mehr als wahr zu behaupten als sie begründen kann und daraus Folgerungen politischen Handelns zu fordern, die sich wissenschaftlich überhaupt nicht begründen lassen, da es sich dabei um normative
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Wertungen und nicht u m Wissenstatbestände handelt. Wissenschaft, die sich solche Macht über Menschen anmaßt, von rassistischen Menschenzüchtungsprogrammen bis zu sozialen Menschenmassenversuchen durch Indoktrination auf der Grundlage angeblich geschichtswissenschaftlich unwiderlegbar zwingender Gesetze der Entwicklung von Wirtschaftssystemen, verfehlt sich an den davon betroffenen Menschen viel schlimmer als nur durch Lug und Trug, sondern gerade durch die hypertrophierende Überzeugung, nicht nur im Besitz wissenschaftlicher Wahrheit, sondern dadurch auch noch dazu ermächtigt zu sein, das Leben und oft genug auch Leiden und Sterben von Mitmenschen eigenmächtig zu bestimmen. Wenn nicht alles täuscht, stehen wir derzeit wieder einmal vor einer ganz grundsätzlichen Debatte darüber, was der Mensch ist und wie er sein eigenes Dasein gestalten kann, soll und darf. Manches daran wirkt zwar wie ein Musterbeispiel, ja fast schon wie eine groteske Parodie einer feuilletonistischen Selbstentzündungsdiskussion der philosophical chattering c l a s s - , aber erstens kann auch Selbstentzündung zum Flächenbrand fuhren und zweitens wird dabei mit Ideen und Begriffen großer Sprengkraft hantiert. Denn es geht dabei u m den Kern des Menschlichen. Die unserem Handeln zugrunde gelegten Vorstellungen über diese Fragen scheinen zunehmend brüchig und widerspruchsvoll. Wie könnte es sonst sein, daß wir einerseits immer mehr einer biologistisch-genfundamentalistischen Menschendefinition verfallen, in der sich strengstkatholische wie freigeistig linksliberale Morallehrer, heilig, unheilig oder scheinheilig vereint, darin zu übertreffen suchen, den Gensatz einer befruchteten menschlichen Eizelle für sakrosankt zu erklären? Als hätte es niemals eine aufklärende Debatte darüber gegeben, daß der Mensch eben gerade kein genetisch definierbares Wesen ist, daß er erst in seiner Entwicklung in Wechselwirkung mit seiner Umwelt zum Menschen heranwächst und dadurch zu etwas grundlegend Anderem als irgendeine beliebige andere Organismenart wird, die in der Tat durch einen Satz genetischer Informationen endgültig zu einer Fliege, einem Fisch oder einer Maus determiniert wird. Während sich ein Diskussionszirkus in den Medien monatelang kaum über die aus solchem Genfundamentalismus rührenden Schrecken darüber zu fassen weiß, daß Menschen klonbar werden könnten, weil ein Schaf geklont wurde (ungeachtet der Tatsache, daß allenthalben Millionen monozygoter Zwillinge völlig problemlos mit ihrem genetischen Ebenbildern als durchaus freie und unabhängige Individuen mit unverkürzter Menschenwürde zusammenleben), stört es viele der gleichen Kommentatoren anscheinend überhaupt nicht, wenn weltweit jährlich mehr als 50 Millionen voll funktionsfähige und bereits weit fortentwickelte Träger solcher unendlich kostbarer und vor jeder genetischen Veränderung, und geschehe diese in bester therapeutischer Absicht, zu schützende Genome durch Fruchtabtreibung hingemetzelt werden; während andererseits ihre erzkatholischen genfundamentalistischen Brüder im Geiste zwar ganz konsequent eben dagegen Sturm laufen, es aber gelassen, ja offenbar als Gottes Wille ergeben hinnehmen, wenn dank unzureichender Möglichkeiten der Empfängnisverhütung Abermillionen solcher bereits geborener Genomwertstücke im Massenelend darben und von Hunger und Seuchen wie irgendwelche wertlosen Fliegen dahingerafft werden. Da sich in beiden Fällen die selbsternannten Wächter über die Menschenwürde mit all ihrer Widersprüchfichkeit auf angeblich unwiderlegbare - diesmal biologische - wissenschaftliche Tatsachen berufen, muß sich die biologische Wissenschaft gegen solche mißbräuchlichen naturalistischen Fehlschlüsse verwahren. Die Biologie kann Homo sapiens zwar als
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Säugetierspezies definieren, ein normativem Handeln zugrunde zu legendes Bild vom Menschen oder gar von Menschenwürde und Menschenrechten kann sie gar nicht haben, geschweige denn begründen, weil ihr dafür alle Begriffe fehlen, da diese nämlich zu einer Bewertungssphäre gehören, in der der individuelle Mensch eben mehr ist als ein Angehöriger irgendeiner biologischen Spezies. Der in diesen philosophischen und paraphilosophischen Debatten so beliebte Rekurs auf das, was nach Meinung der Autoren „natürlich" oder „widernatürlich" sei, entbehrt nur allzu häufig - mangels Sachkenntnis - der guten biologischen Begründung und überdies aufgrund fehlgeleiteter Schlüsse aus vermeintlichen biologischen Fakten auf normative Konsequenzen auch noch der guten philosophischen Begründung. Nehmen Sie das Argument, daß ein Mensch, der nicht durch zufallsbedingte Genlotterie zustande gekommen ist, seine Freiheit und damit den wesentlichen Teil seiner Menschenwürde verlöre. Als ob Willensfreiheit, die uns zu moralischem Handeln befähigt, aus der zufälligen Kombination unserer Erbanlagen und nicht vielmehr nur aus der (als Wechselwirkung von Naturanlagen und Kultureinfluß verstehbaren) Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit herrührte. Übrigens würde dieses irregeleitete Argument gegen das Klonen sich am Ende geradezu selbst aufheben, weil der Klon eines sexuell, also rein genstatistisch zusammengewürfelt zustande gekommenen Menschen ja - da genetisch identisch - auch wieder das Produkt solcher Genstatistik wäre. Es gibt wahrhaftig viele, meines Erachtens zwingende moralische Gründe gegen das Klonen von Menschenindividuen, aber der Rekurs auf vorgebliche Widernatürlichkeit kann einen nur das logische Grausen lehren. Ist es denn wirklich unbekannt, daß sich zigtausende von Organismenarten durch Klonen vermehren, ganz natürlich, aber selbstverständlich ohne jede daraus folgende normative Konsequenz, die das Klonen von Menschen „natürlich" approbieren könnte? Und was die vermeintliche „genetische Sklaverei" von Klonen angeht - deren Erzeugung ich, noch einmal wiederholt, für moralisch aus anderen Gründen für unvertretbar halte - , so darf doch auch zurückgefragt werden, ob ein Mensch, der an einer schweren genetisch bedingten Krankheit leidet, die - selbst wenn sie gentechnisch heilbar wäre - kraft Einspruchs einer Bioethikkommission nicht geheilt werden darf, nicht in viel eigentlicherem Sinne fremdbestimmt leben und leiden muß, als jemals ein gesunder monozygoter Mehrling an seiner genetischen Nichteinmaligkeit leiden kann? Wer das, was dem Menschen Menschenwürde verleiht, an der Entwicklungsbiologie von Gameten und Zygoten festmachen will, der ist zu einer genbiologistischen Anthropologie verfuhrt oder verdammt, die bis hin zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts reicht und zu unsinnigen Konsequenzen führen kann, da sie am Ende eine Frau, die eine Morning-after-Pille zur Empfängnisverhütung verwendet, des Totschlags oder gar Mordes bezichtigen könnte. Als wäre ein Jahrhundert von Entwicklungsbiologie und -psychologie spurlos an uns vorübergegangen, das uns lehrte, daß menschliche Personalität und Identität gerade kein bloßes Genprodukt sind, und daß daher eine befruchtete Eizelle niemals ein Mensch genannt werden kann, selbst wenn ein Mensch daraus werden kann. Während man fasziniert dem disziplinbellezistischen Wettstreit von Philosophen oder sagen wir besser von Philosophieliteraten lauscht, die sich im Erfinden anthropotechnischer Horror- oder Beglückungsszenarien zu übertreffen suchen, kann man als Biologe über die offenkundige Unwirksamkeit langjährigen Biologieunterrichts an unseren höheren Schulen
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beinahe verzweifeln. Nehmen Sie nur den Begriff „Selektion", das Schlagtotwort einer politisch korrekten Debatte, mit dem sich manche offenkundig Aufmerksamkeit durch Provokation erhoffen, als gäbe es für diesen Begriff nur eine einzige, rassistisch verwerfliche Bedeutung. Es ist aber nun einmal so, daß genetische Selektion auch stattfindet, wenn eine Frau sich nach einem Amniozentesebefund für Austragen oder Abtreiben entscheidet völlig legal und, wie ich meine, moralisch durchaus legitim. Selektion findet auch statt, wenn wir für das fortpflanzungsfähige Überleben von Frühgeburten von weniger als 1 kg Geburtsgewicht und unzähliger anderer Erbkranken sorgen, also gar nicht etwa nur dann, wenn Erbkranke verbrecherisch vernichtet oder sterilisiert werden; sie findet sogar statt, wenn ein Ehepaar nach Geburt eines behinderten Kindes auf weiteren Nachwuchs verzichtet; sie findet selbst dann statt, wenn wir uns - wie wir wohl alle als Menschenrecht gesichert sehen wollen - gerade nicht zufällig verpaaren, sondern nach sorgfältiger Partnerwahl verheiraten und dann Kinder zeugen; ja, sie findet sogar statt, wenn sich bestimmte Menschen zu lebenslanger zölibatärer Keuschheit entschließen, was, da sie nicht züchten, rein biologisch betrachtet, geradezu wie „Un-Zucht" wirkt. Selektion ist also, schon rein biologisch, wieviel mehr noch auf Menschen angewandt, ein sehr vielschichtiges Konzept, über das gründlich und differenzierend nachzudenken ist, wie gerade Ernst Tugendhat3 ganz richtig betont hat. Dazu gibt es ganze Bibliotheken wissenschaftlicher Fachliteratur. Manches, was man dazu jetzt liest, erscheint dagegen wie Beispiele aus jenen Sphären, die eher wie Sprechblasen, um nicht zu sagen Blähungen wirken. Es ist zwar richtig, daß gelegentlich auch berühmte - zumeist etwas in die Jahre gekommene - Biologen, wie Herman Muller oder James Watson, Unsinniges über die „genetische Verbesserung" der Menschheit durch Auswahlzüchtung, Keimbahnveredelung oder Menschenklonung von sich gegeben haben. Die überwältigende Mehrzahl von Genetikern und Evolutionsbiologen hält dies jedoch aus vielen Gründen biologisch für Unsinn und moralisch für unzulässig. Bei uns zudem auch strikt verboten. Freie, aufgeklärte Gesellschaften werden dies hoffentlich auch künftig nicht zulassen, worin wohl der positive Wert der gegenwärtigen Debatte liegen kann, die ja sonst durchaus Züge eines Hysterikerstreits hat. Jeder genetische Eingriff kann - wenn überhaupt - nur unter Bezug auf Linderung oder Heilung individuellen genetisch bedingten Leidens gerechtfertigt werden. Wer freilich aus fehlgeleitetem Genomfundamentalismus embryonale Stammzellen, nur weil sie pluripotent sind, zu Menschenindividuen erklärt und verklärt, die nicht geklont werden dürfen, der braucht sich über die abgrundtiefe Verwirrung des Publikums nicht zu wundern. Aber wenn ich die Ahnenreihe philosophischer Menschenzuchtfantasten ansehe - von Piaton über Thomas More, Tommaso Campanella, Friedrich Nietzsche bis Peter Sloterdijk - , dann weiß ich nicht, ob nicht die Philosophen den argumentativen Kehrbesen fast noch nötiger haben als wir Biologen. Vielleicht darf dabei auch gleich noch daran erinnert werden, daß „Frankenstein" nicht die Ausgeburt machtwütiger Medizinergehirne, sondern das literarische Fantasiegebilde von Mary Shelley war.
3 Vgl. Die Zeit Nr. 39 vom 23.9.1999, 31 f.
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Zusammengefaßt gesagt: Vielleicht bedarf es für ein zu ethischer Wertung und normengeleitetem Handeln befähigendes Menschenbild doch mehr als eines Schnellkurses im Vokabular um Gentechnik und Evolutionsbiologie und politisch korrekter Pawlowscher Schreckreflexe über Begriffe wie „Klon" oder „Selektion" und deren Nutzung zur Provokation öffentlicher Aufmerksamkeit, wenn wir uns darüber klar werden wollen, was für uns ein jeder Mensch mit voller Würde und allen Rechten bedeuten soll. Ein solches Bild des Menschen kann niemals allein das Bild eines molekulargenetisch begründeten Naturprodukts sein, wenn wir nicht allesamt in krudestem Materialismus enden wollen, der absurderweise jede sexuell zufallig zusammengewürfelte molekulare Genansammlung wie eine Heiligenerscheinung behandelt sehen möchte. Warum sage ich all dies so ausfuhrlich zum Schluß eines Vortrags über Lug und Trug als Preis des Wissens? Weil mitunter mit dem vorgeblichen Wissen der Wissenschaft noch weit mehr Schindluder getrieben werden kann und getrieben wird, als durch eigensüchtige Täuschung und betrügerische Verfälschung. Während wir letztere mit allem Nachdruck zu verhindern suchen, sollten wir zugleich gegenüber diesen anderen Formen des Mißbrauchs im Namen der Wissenschaft nicht weniger wachsam bleiben.
Günther Patzig
Veritas filia temporis? Ein Vorschlag zur Differenzierung Als ich meinen Vortrag für den XVIII. Kongreß der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland vorbereitete, erinnerte ich mich aus einem besonderen Grund, den ich gleich nennen werde, an den VII. Kongreß 1962 in Münster, der unter dem Thema „Fortschritt" stand. Dieser Kongreß wurde von der plötzlich sich zuspitzenden Kuba-Krise überschattet, von der ich erst dadurch erfuhr, daß mich Herr Kambartel anrief, als ich gerade im Philosophischen Seminar Freges Nachlaß studierte: Ich möchte doch bei Fliegeralarm den Koffer mit den unersetzlichen Frege-Dokumenten mit in den Keller nehmen. Damals dachte ich, es wäre wohl ein passendes, wenn auch etwas frühes Ende, beim Versuch der Rettung von Freges Nachlaß ums Leben zu kommen. Nun der besondere Grund: Auf diesem Kongreß hielt Karl Löwith, für mich damals 36jährigen ein verehrungswürdiger Greis von 65 Jahren, einen Vortrag. Er plädierte eindringlich für eine Philosophie, die das Bewußtsein einer „unveränderlichen und für sich seienden Natur" als Hintergrund und Maßstab für ihre Reflexion auf menschliche Kultur und sittliches Handeln sich bewahrt. In der Verkürzung des „mundus rerum", des „Kosmos", wie er mit fast religiösem Pathos sagte, zum „mundus humanuni", verliere die Philosophie das Recht auf den Anspruch, „Weltweisheit" zu sein. Sie verfehle so auch ihre Aufgabe, die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaften mit dem bleibenden natürlichen Substrat des Menschen zu vermitteln.' Damals empfand ich für Löwith und seine an antiken Mustern orientierte Position lebhafte Sympathie; zugleich war ich überzeugt, daß sein Appell gegen den Zeitgeist der beginnenden 60er Jahre wenig würde ausrichten können. Es kommt mir nun so vor, als wäre meine heutige Situation als Vortragender der von Löwith 1962 nicht unähnlich. Auch ich möchte für Auffassungen eintreten, die in der akademischen und auch, vielleicht besonders, außerakademischen Öffentlichkeit, soweit sie sich überhaupt für philosophische Fragen interessiert, zur Zeit eher als erledigt gelten. Wenn ich auch davon überzeugt bin, daß die menschliche Vernunft nicht alle Probleme in Theorie und Praxis überzeugend wird lösen können, so bin ich doch ebenso davon überzeugt, daß wir das Potential der „Rationalität" bei weitem noch nicht ausgeschöpft haben, und daß es im übrigen nichts gibt - jedenfalls weit und breit nichts zu sehen ist das an ihre Stelle treten könnte. Nun zur Sache: Es sind seit 1962 (etwas willkürlich nenne ich hier das Erscheinungsjahr von Thomas Kuhns bedeutendem Buch The Structure of Scientific Revolutions) in der Philosophie allgemein, besonders aber in Wissenschaftstheorie und Ethik aus einigen wichtigen, bis dahin nicht genügend berücksichtigten Tatsachen über den Pluralismus und den historischen Wandel von Theorien und ihren Grundlagen, auch über die massiven Einwirkungen
1 Vgl. Löwith 1964, 15-29.
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von außerwissenschaftlichen Interessen auf den Fortgang der Forschung eine Reihe von radikalen und meist auch pauschalen Konsequenzen gezogen worden, von denen auch die an solchen Fragen interessierte Öffentlichkeit stark beeinflußt worden ist. Dabei hat mitgewirkt, daß bei dem anschwellenden Hintergrundrauschen durch die Medien radikale Thesen beim Publikum mehr Aufmerksamkeit finden als Versuche, durch sorgfältige Abwägung von Argumenten zu einem differenzierterem Urteil zu kommen. Dies sollte uns nicht davon abbringen, die Tradition des unaufgeregten Austauschs von Argumenten fortzusetzen. Der Ausspruch „veritas filia temporis" kann in (mindestens) drei Weisen verstanden werden: Die erste, nach meiner Auffassung richtig und nicht trivial, hebt hervor, daß überlieferte Auffassungen, wie unsere eigenen, in einem zeitlichen Zusammenhang stehen, den man, will man sie korrekt auffassen, berücksichtigen muß. Ein prominentes Beispiel für die Wichtigkeit dieser Forderung bietet schon Aristoteles, der die vorsokratische Philosophie als „stammelnde" Vorwegnahme seiner eigenen fortgeschrittenen Philosophie betrachtete. Die Redeweise z. B. von der ocpxn> die für die frühe Naturphilosophie der zeitliche Anfang, der Urzustand war, verstand Aristoteles im Sinne seines eigenen Sprachgebrauchs als Hinweis auf „Prinzipien", die sich in aller Entwicklung durchhalten. Man sieht: Will man die Behauptungen der Autoren der Vergangenheit richtig verstehen, muß man sie in ihrem Sinne lesen; und das kann, entgegen anderslautenden Meldungen aus der Hermeneutik, in vielen Fällen durchaus gelingen, verlangt jedoch oft erhebliche Anstrengung, Kenntnis der historischen Veränderungen des Sprachgebrauchs und des jeweiligen intellektuellen Umfelds. Im günstigen Falle kann man den intendierten propositionalen Gehalt aus den Texten vergangener Epochen herausdestillieren, und dann können wir ihn auch hinsichtlich seines Wahrheitsanspruchs beurteilen. Das letztere ist das Spezifikum einer philosophischen Interpretation, die nicht, wie Heidegger meinte, das Gegenteil einer philologischen Interpretation ist, sondern ihr Komplement, oder vielmehr ihre Krönung. 2 Eine zweite, idealtypisch vereinfachte, Auffassung ist die folgende: Es gibt zwar Wahrheit und Wahrheiten. Diese sind aber von den historischen Randbedingungen, unter denen sie erdacht und geäußert wurden, so durchweg gefärbt und beeinflußt, daß es unmöglich ist, sie aus dieser ihrer Einbettung in ihre intellektuelle und soziale Umwelt herauszulösen. Dies wäre die Auffassung eines „Wahrheitsrelativisten". Für diesen ist jede Epoche, auch was die Wahrheit angeht „unmittelbar zu Gott": Wenn Piaton als eigentliche Wirklichkeit die in der Idee des Guten und des Einen gipfelnde Ideenpyramide allgemeiner Formen ansah, so hatte er mit dieser seiner Auffassung zu seiner Zeit Recht, ebenso Aristoteles, einige Jahrzehnte später, mit seiner Lehre, das eigentlich Wirkliche sei die individuelle oücria, und diese sei (in der Version der „Kategorienschrift") das konkrete Einzelding, und später (in der Version von „Metaphysik Z") das individuelle Eidos, das die jeweilige Sache zu dem macht, was sie
2 Ich möchte hier auf die Festschrift verweisen, die unter dem Titel Veritas filia temporis? zu Ehren von Rainer Specht zu dessen 65. Geburtstag erschienen ist. Unter den interessanten Beiträgen des Bandes ist für das hier behandelte Problem besonders der hervorragende Aufsatz von W. Wieland: „Über den Grund des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte" zu nennen. R. W. Puster (Hrsg.): Veritas filia temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte, Berlin/New York 1955, 9-30.
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ist. Schon diese tiefgreifenden Revisionen, die Aristoteles selbst an den Grundlagen seiner Ontologie vorgenommen hat, könnten Zweifel daran aufkommen lassen, ob seine Philosophie, hegelisch gesprochen, „ihre Zeit, in Gedanken erfaßt", ein Ausdruck seiner Epoche und sonst nichts war. Ähnliches würde dann auch für seine Kritik an einigen Grundauffassungen Piatons gelten, unter Berufung auf den Satz, daß Respekt vor der Wahrheit sogar die Zuneigung zu verehrten Lehrern und Freunden überwiegen müsse. Für den entschiedenen Wahrheitsrelativisten und Traditionalisten sind die Versuche von heutigen, die Klassiker „sub ratione veritatis" interpretierenden Lesern, aus den klassischen Texten bedeutende Einsichten zu gewinnen, in ihnen aber auch Argumentationslücken und Einseitigkeiten nachzuweisen, Symptome einer unberechtigten Selbstüberschätzung. Solche Leser, so heißt es, setzen einen absoluten Standard voraus, den dann wohl die gegenwärtige Philosophie liefern müßte: Welch ein Hochmut! Eine dritte Deutung des Spruchs „veritas filia temporis" ist die des „Skeptikers". Angesichts der unaufhörlichen Ablösung einer Theorie durch eine andere, in den Wissenschaften wie auch in der Philosophie, sollte, so der Skeptiker, die Redeweise von einer „Wahrheit", um die es in diesen Theorien gehe, ehrlicherweise aufgegeben werden. Wahrheit als Übereinstimmung unserer Meinung mit einer vorausgesetzten Wirklichkeit sei eine bloße Illusion, ein Mythos. Kandidaten einer wissenschaftlichen Beurteilung können nach dieser Auffassung nicht einzelne Sätze, sondern, wenn überhaupt etwas, dann ganze Theorien, oder sogar ganze Weltbilder sein, und diese stehen allenfalls nach ihrer inneren Konsistenz und Kohärenz oder auch nach ihrem praktischen Erfolg bei der Anwendung auf unsere technischen Überlebensprobleme zur Beurteilung an, da wir ja nicht aus unserem jeweiligen Weltbild heraustreten und es mit der Wirklichkeit vergleichen können. Aber auch diese, schon eingeschränkte Möglichkeit, verschiedene Weltbilder zu beurteilen, steht unter zusätzlichen, bisher nicht geklärten Bedingungen. Denn setzten nicht Kohärenz und Konsistenz die Gültigkeit logischer Standards, im Regelfalle also die Gültigkeit der klassischen, zweiwertigen Aussagen- und der Prädikatenlogik der 1. Stufe voraus? Und haben hier nicht auch schon bedeutende Physiker und Wissenschaftstheoretiker, angesichts der Probleme der Quantenphysik, lebhafte Bedenken geäußert? Vielleicht, so hören wir, ist die aristotelische zweiwertige Logik mit der indogermanischen Sprachstruktur, nach der in jedem Satz einem oder mehreren Gegenständen eine Eigenschaft oder Relation zugesprochen wird, zu eng verbunden, als daß sie noch zur Darstellung z. B. quantenmechanischer Vorgänge dienen könnte. Und da diese physikalischen Vorgänge die Basis auch der makrophysikalischen Wirklichkeit sind, brauchten wir eine neue, vermutlich mehrwertige Logik und damit ganz neue Konzepte von Konsistenz und Kohärenz. Daß die Logik die allgemeinsten Strukturen der Wirklichkeit „abbilden" müsse, ist eine Vorstellung, die immer wieder in die Diskussion eingebracht worden ist, sogar von Klassikern der Logik wie Bertrand Russell. 3 Aber natürlich ist die formale Logik, eben als formale Logik, keineswegs auf solche Sätze eingeschränkt, die Sachverhalte einer bestimmten Form ausdrücken. Was man
3 Russell 1919, 169. „Logic is concerned with the real world just as truly as zoology, though with its more abstract and general features."
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überhaupt sinnvoll behaupten kann, läßt sich als Stellenbesetzer für p, q usw. in die Schemata der Aussagenlogik einbringen, und Entsprechendes gilt für die formalen Strukturen der Prädikatenlogik. Die weiteren Probleme, die mit dem Holismus, den wir heute nach Duhem und Quine benennen, zusammenhängen, können wir hier als nicht unmittelbar einschlägig wohl beiseite lassen. Es geht uns ja zunächst um Wahrheitswerte von Sätzen oder Theorien in dem durch die Geschichte verfolgbaren Wechsel. Besonders der Einwand, es gebe keine konstanten Standards der Wahrheit und Objektivität im niemals abgeschlossenen Wechsel der Theorien, ist hier durchaus ernst zu nehmen: Es wäre ganz verfehlt, den heutigen Kenntnisstand, besser die heute mehrheitlich akzeptierten Auffassungen und Hypothesen, naiv als das vorgegebene Maß der Beurteilung früherer Auffassungen anzusehen und vergangene Thesen nur in dem Maße als akzeptabel zu beurteilen, in dem sie sich als Vorstufen und Schritte in Richtung auf den heutigen Stand des Wissens darstellen lassen. Es bleibt uns hier nur der riskante Ausweg, unsere gegenwärtigen Meinungen als den Standpunkt zu wählen, von dem aus wir dort urteilen, wo wir mit Wahrheitsansprüchen aus der Vergangenheit konfrontiert werden. Und wenn wir unter „Philosophie" eine Bemühung um rational begründete Antworten auf tiefliegende Fragen verstehen wollen, die menschliches Denken, Fühlen und Handeln betreffen, so können wir auch vergangenes Philosophieren nur verstehen, wenn der jeweils vorgetragene Wahrheitsanspruch ernst genommen wird, und das heißt schon, daß wir uns verpflichten, die überlieferten Auffassungen kritisch zu prüfen. Wenn man als Philosoph seine eigene Auffassung der Sache oder einen sich abzeichnenden Konsens zeitgenössischer philosophischer Diskussion als Maßstab für die Beurteilung früherer philosophischer Theorien heranzieht, verhält man sich, wie es die Historiker der Medizin oder der Mathematik schon immer getan haben. Beide benutzen das Koordinatensystem des gegenwärtigen Kenntnisstandes als Maßstab für das Verständnis und die Beurteilung der Leistungen vergangener Epochen. Dabei wird die Möglichkeit einer Revision des gegenwärtigen Kenntnisstandes keineswegs ausgeschlossen, sondern gerade in die Reflexion einbezogen, und die Chance bleibt immer offen, daß mit der Wandlung der Auffassungen, die wir jeweils in unserer Gegenwart akzeptieren, sich auch das Bild der Vergangenheit der Wissenschaft wandeln wird. Jene einst herrschende Auffassung ist heute aufgegeben, die in der Wissenschaft wie in der Philosophie (wenn wir sie, wie eben vorgeschlagen, als Bemühung um rationale Antworten auf tiefliegende Fragen auffassen) einen gleichsam selbstgesteuerten ständigen Fortschritt sah und kontinuierliche Akkumulation von neuen Erkenntnissen und Errungenschaften anzutreffen meinte. Natürlich gibt es Fortschritte in der Wissenschaft und in der Philosophie (das gegen Kuhn oder jedenfalls den, wie Hilary Putnam gern sagt, „von den Erstsemestern mißverstandenen" Kuhn); es gibt aber auch Rückschritte sowohl in den Wissenschaften wie in der Wissenschaftsgeschichte und in der Philosophie. Als ein klares Beispiel aus der Philosophie (das mir natürlich besonders nahe liegt) kann die Entwicklung der formalen Logik gelten. Hier finden wir einen bewundernswerten Anfang (besonders im Hinblick auf Klarheit der Grundlagenfragen und Strenge der Durchfuhrung) bei Aristoteles, der sich freilich auf einen eher kleinen, wenn auch wichtigen Ausschnitt der Logik, die klassische Syllogistik, beschränkte. Die stoischen Logiker entwickel-
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ten dann mit ähnlicher formaler Strenge die Elemente dessen, was wir heute „Aussagenlogik" nennen. Es gab dann einen unfruchtbaren Streit zwischen Stoikern und Peripatetikern, welche dieser beiden Logiken denn nun die eigentliche oder richtige sei. Wie so oft in Philosophie und Wissenschaften sah man als konkurrierende Theorien an, was in Wahrheit komplementäre Teile eines Ganzen waren. Im Mittelalter (um sehr pauschal zu sprechen) wurde die aristotelische Logik, nach erheblichen Verlusten an logischem Raffinement, bloß tradiert; Rückschritte traten ein, als die Logik mit Erkenntnistheorie, Psychologie und Sprachtheorie vermengt wurde. Erst im 19. Jahrhundert gab es dann wieder einen Aufschwung, der in England bei Boole und de Morgan, in den Vereinigten Staaten bei Peirce und in Deutschland bei Frege schnell das von Aristoteles schon erreichte Niveau wieder erlangte und sogar übertraf, und das Einzugsgebiet logischer Studien gewaltig vergrößerte. So erklärt es sich auch, daß in der Philosophie immer wieder Rückgriffe auf Theorieansätze vergangener Perioden zu einer Neugewinnung fruchtbarer Einsichten und Methoden geführt haben. Manchmal kann auch in Fachwissenschaften bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit entdeckt werden, daß zunächst als moderne Einsichten angesehene Erkenntnisse schon vor langer Zeit, z. B. in der klassischen Antike, bekannt waren. So ist vor einiger Zeit aus arabischen Quellen bekannt geworden, daß schon griechische Ärzte zwei Formen der Hepatitis unterschieden haben, die wir heute Hepatitis A und Hepatitis B nennen. Die griechischen Ärzte wußten, daß die eine Form der Hepatitis leicht übertragen wird, aber im allgemeinen ohne bleibende Schäden ausheilt, während die andere Form weniger infektiös ist, aber relativ häufig schwere Folgeerkrankungen der Leber nach sich zieht. Während wir anhand solcher Beispiele geneigt sind, verschiedene Stadien der Wissenschaftsentwicklung miteinander zu vergleichen, Fortschritte und Rückschritte, Neuentdekkung von etwas schon Bekanntem und Vergessen schon einmal erreichter Resultate festzustellen, ist die heute eher vorherrschende Lehre auf die Inkommensurabilität einander ablösender Epochen der Wissenschaftsgeschichte eingestellt: Der „Paradigmenwechsel" in einem Fach verändert die Bedeutung der Leitbegriffe einer Wissenschaft so sehr, daß sich die Adepten verschiedener Paradigmata nicht einmal mehr über ihre Differenzen verständigen können. Der Übergang von einer Theorie zu der ihr nachfolgenden Theorie ist daher eher wie ein Naturereignis, wie eine politische Revolution oder religiöse Konversion zu beurteilen, durch die einstweilen noch vorherrschende Vorstellungen ausgelöscht werden. In den Fällen, in denen Kuhn die Redeweise vom „Paradigmenwechsel" für wohlbegründet hielt, besteht für ihn eine unüberwindbare Kommunikationsschwelle zwischen den Anhängern des alten und des neuen Paradigmas. Kuhn ist schließlich so weit gegangen, den Gedanken eines Vergleichs von Theorien „als Behauptungen darüber, was irgendwo da draußen wirklich existiert" scharf zurückzuweisen, da so etwas wie eine größere oder geringere Annäherung einer Theorie an eine der Theorie entsprechende Wirklichkeit „nicht gefunden werden kann." 4 Dieser Gedanke, der durchaus auf einige hochabstrakte und erfahrungsfeme Theorien naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung zutreffen dürfte, ist von allzuvielen Lesern auf Theoriebildung überhaupt, z. B. auch auf die Geisteswissenschaften bezogen worden. So hat man die Akzentverschiebung in der Geschichtswissenschaft von der Darstellung von
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Kuhn 1970, 265; vgl. dazu auch Hoyningen-Huene 1993.
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Haupt- und Staatsaktionen zur Analyse der Wirkungen sozialen Wandels, von der Ereignisgeschichte zur Strukturgeschichte als einen „Paradigmawechsel" bezeichnet. Eine solche Veränderung des Blickwinkels und Interesses der Historiker genügt aber keinem der von Kuhn angegebenen Kriterien, deren Erfüllung notwendig wäre, um von einem Paradigmawechsel in seinem Sinn zu sprechen. Ebenso wenig dürften für den Übergang von der Produktions- zur Rezeptionsästhetik in der Literaturwissenschaft die entsprechenden Kriterien erfüllt sein. Die neuesten wissenschaftlichen Modeerscheinungen jeweils „Paradigmawechsel" zu nennen, ist wohl bloß eine weitere Modeerscheinung. Für diesen Mißbrauch des Terminus „Paradigmawechsel" kann man Thomas Kuhn nicht verantwortlich machen, wohl aber für die Wirkung auf die akademische Öffentlichkeit, die nun meinte, auch die Naturwissenschaften seien nun nicht mehr eine Zitadelle der Rationalität, wenn doch der Übergang von z. B. der Newtonschen Mechanik zur Relativitätstheorie Einsteins eher wie eine religiöse Konversion erscheint. So konnte denn Richard Rorty unter starkem Beifall, gleichsam a fortiori, auch der Philosophie jeden Anspruch auf objektive Wahrheit absprechen und sie der schönen Literatur als eine ihrer Gattungen einordnen, die man nicht zur Belehrung, sondern zur gebildeten Unterhaltung liest. Natürlich sind auch die Schriften der Philosophen literarische Texte und können durchaus auch als solche bewertet, geschätzt oder kritisiert werden. Aber diese literarische Beurteilung fällt, und darauf kommt es allein an, mit der philosophischen nicht zusammen: Piaton war ein ebenso großartiger Schriftsteller wie Philosoph, Aristoteles kein ähnlich glänzender Autor, als Philosoph aber Piaton durchaus ebenbürtig - Schopenhauer war ein weitaus besserer Schriftsteller als Kant, als Philosoph aber mit ihm nicht zu vergleichen. Seit Kuhns bedeutendem Buch von 1962 ist, wie ich es einmal ausgedrückt habe, der „Babygehalt des wissenschaftstheoretisch weggeschütteten Badewassers" sprunghaft angestiegen. Angesichts der in der Tat undurchsichtigen Situation in wissenschaftlichem Neuland und Grenzgebieten, z. B. in der Quantenmechanik, der Kosmologie, der Mikrobiologie und der Genetik, wo schwer zu erkennen ist, inwiefern die Forschung die Objekte erst erschafft, die sie dann beschreibt, liegt es ja auch nahe, die sogenannte „Wirklichkeit", auf die sich die Forscher in ihrer Theorie beziehen, als ein Konstrukt zu bezeichnen, auf das sie sich in ihren Labors geeinigt haben, so daß zur Erklärung solcher Konstrukte legitimerweise auch soziologische Gesichtspunkte herangezogen werden können. Damit wäre die Verbindung zwischen Theorie und Wirklichkeit in der Tat so gut wie aufgelöst. Aber niemand schien sich dann darüber zu wundern, als sich, entsprechend der Voraussage der Astronomen, am 11. August 1999 der Mond tatsächlich in unseren Breiten auf die Minute pünktlich zur angegebenen Zeit vor die Sonnenscheibe schob. Wenn das nicht eine Übereinstimmung der Theorie mit der Wirklichkeit ist, was dann? Damit braucht man keinem „naiven Realismus" das Wort zu reden, der, wenn nicht schon lange vorher, durch Bertrand Russells Argument erledigt wurde: „Naive Realism leads to Physics, and Physics, if true, shows that naive Realim is false. Therefore, naive Realism, if true, is false; therefore it is false." 5
5 Russell 1940, 15.
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Unsere wissenschaftlichen Theorien sind natürlich kein Abbild der Wirklichkeit. Aber sie stehen mit der Wirklichkeit, wie auch immer die aussehen mag, in einer Beziehung, derart, daß unsere wissenschaftlichen Hypothesen - und sei es en bloc - durch die Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden können, und das erlaubt uns die Redeweise, daß wir die Aspekte der Wirklichkeit, für die unsere Theorien gleichsam sensibel (hinsichtlich der Dimension „wahr - falsch") sind, besser oder schlechter erfassen können. Und mehr braucht man für eine realitätsbezogene wissenschaftliche Diskussion nicht. Es scheint also wenig dagegen zu sprechen, auch die uns überlieferten Thesen und Ansichten der Wissenschaftler und Philosophen aus den verschiedenen Epochen daraufhin zu prüfen, ob sie wahr und gut begründet waren. Beides geht natürlich zusammen. Wir können dann jeweils entscheiden, ob eine These richtig oder falsch war, ob sie richtig und gut begründet, oder richtig aber unzureichend begründet, ob sie falsch, hingegen gut begründet oder falsch und schlecht (oder gar nicht) begründet war. „Veritas filia temporis" wird in der wissenschaftlichen Tradition besonders für die Fälle gelten, in denen wir (unter den damaligen Verhältnissen) akzeptabel begründete, nach unseren heutigen Auffassungen aber falsche Thesen vor uns sehen. So behauptete z. B. Aristoteles, das Herz sei das Vitalzentrum des Menschen, Sitz der Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle. 6 Vor ihm hatten Alkmaion von Kroton, Diogenes von Apollonia und auch Piaton 7 diese Funktionen dem Gehirn zugewiesen. Aristoteles hatte aber für seine Auffassung gute Gründe: Nur das Herz schien durch das System der Adern mit jedem anderen Körperteil in Verbindung zu stehen. Daß ebenso auch das Nervensystem eine solche den ganzen Körper erfassende Verbindung zum Gehirn schafft, wurde erst von dem großen alexandrinischen Arzt und Anatomen Herophilos, etwa 50 Jahre später, entdeckt. Ähnlich gut begründet, aber falsch, war des Aristoteles These, daß Aale weder lebend geboren werden noch aus Eiern schlüpfen, sondern vielmehr in schon erwachsenem Zustand z. B. aus Algenschlamm im Meer durch Urzeugung entstehen. 8 In der Tat konnte man im Meer bei Lesbos, wo Aristoteles seine biologischen Forschungen betrieb, keine Jungaale fangen oder beobachten. Aristoteles wußte nichts von der Wanderung der Aale zu den Laichplätzen im Sargossa-Meer, die erklärt, warum keine neugeborenen Aale im östlichen Mittelmeer zu finden sind, und wenn man ihm davon erzählt hätte, wäre er sicher sehr skeptisch gewesen. Entsprechend kann man die griechischen Ärzte nicht dafür tadeln, wenn ihnen auffiel, daß Besucher der Olympischen Spiele oder etwa der Festspiele auf der Insel Delos häufig mit einer, und bei verschiedenen Besuchern aus verschiedenen Städten gleichen, Krankheit nach Hause zurückkehrten, und sie das damit erklärten, daß in Olympia oder auf Delos ungesunde Verhältnisse herrschten (man denke an die Krankheitsbezeichnung Malaria (Mal-
6 Aristoteles, De somno 2, 455 b 34 - 456a6; De juventute et senectute 1 - 3, 467 b 10 - 469 a 27; De partibus animalium III, 4, 666 a 5 - b 4 und III, 7, 670 a 23 - 26 (wo das Herz als die Zitadelle („Akropolis") des Körpers bezeichnet wird). 7 Piaton, Timaios 44 c - 45 b; 73 b - c. 8 Aristoteles, Hist. anim. IV 11, 538 a 2 - 13; VI, 16, 570 a 13 - 25.
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aria = „schlechte Luft"). Wenn man den antiken Ärzten gesagt hätte, daß kleine, unsichtbare Lebewesen, von Mensch zu Mensch (besonders bei Massenveranstaltungen, wo das Volk sich zusammendrängt) überspringen und so eine Krankheit von einem auf den anderen Menschen übertragen, hätten sie das wohl für eine eher phantastische Vorstellung gehalten. Auf entsprechenden Unglauben sind ja auch die Pioniere der Bakteriologie im 18. und 19. Jahrhundert gestoßen. Bei den Kenntnissen, die seinerzeit vorlagen, war für die Antike die Theorie von den „Miasmen", die das Gleichgewicht der Körpersäfte stören, durchaus plausibel. Da hätten wir eine „Wahrheit", die in vollem Umfang Tochter ihrer Zeit war und es lange blieb. Wenn aber Aristoteles z. B. sagt, daß Frauen weniger Zähne haben als Männer,9 so kann man nur mit Bertrand Russell sagen, daß er doch einmal Mrs. Aristotle (alias Pythias) hätte bitten sollen, den Mund aufzumachen. Wenn er das getan hätte und sie zufällig nur z. B. 28 Zähne gehabt hätte - auch schon damals werden viele Menschen ihre Weisheitszähne erst spät oder gar nicht bekommen haben - hätte er weitere Daten sammeln müssen. Schon Goethe hat ihm wie „den Alten" allgemein die unglückliche Neigung zugesprochen, zwar hervorragende Einzelbeobachtungen zu machen, sich dann aber bei der Erklärung dieser Befunde zu übereilen (Brief an Zelter vom 21. März 1827). Offenbar war man, verständlicherweise, bereit, aus wenigen Einzelfällen auf die Allgemeinheit einer Beobachtung zu schließen und abweichende Beobachtungen zu verdrängen. Man denke an Anaximenes von Milet (um 540 v. Chr.), der seine Beobachtung, daß Atemluft, die durch fast geschlossene Lippen gepreßt wird, kühl, der bei weit geöffnetem Mund ausgehauchte Atem aber warm ist, als Beweis seiner globalen These von dem Zusammenhang von Druck und Kälte einerseits und Lockerheit und Wärme andererseits ansah.10 Ein weiteres, berühmtes Beispiel: Es ist ja in gewisser Weise klar, daß das geozentrische Weltbild falsch und das heliozentrische wahr ist und daß der Sache nach schon in der Antike und im Mittelalter die Wahrheitswerte entsprechend verteilt waren. Aber wir müssen natürlich auch sagen, daß die Gegner Galileis seinerzeit gute Gründe hatten, ihm nicht zu glauben. Sie konnten sich u. a. auf die Tatsache berufen, daß die angebliche Bewegung der Erde bei ihrem Umlauf um die Sonne über eine Distanz von etwa 300 Millionen Kilometern keine beobachtbare Veränderung ihrer Position gegenüber den Fixsternen zur Folge habe. Daß schon die Milchstraße so groß ist, daß die in der Tat entstehende Parallaxe mit damaligen Mitteln nicht gemessen werden konnte, lag verständlicherweise außerhalb des Vorstellungvermögens der damals Diskutierenden. Im Hinblick auf theoretische Behauptungen, mit denen wir uns in der Tradition konfrontiert sehen, gibt es also, um es noch einmal zusammenzufassen, verschiedene Fälle, deren
9 Aristoteles, Hist. anim. II 3, 501 b 20 - 23. 10 Ein Kollege aus der Physik, den ich vor einigen Jahren nach der heutigen Erklärung dieser von Anaximenes beschriebenen Phänomene fragte - um die Hörer eines Vorsokratiker-Kollegs entsprechend zu unterrichten - sagte mir, das sei ein sehr komplexes Phänomen, in das Tatsachen der subjektiven Wahrnehmung der Abkühlung der Haut bei Verdunstung von Flüssigkeit, und auch Wärmeentwicklung bei höherem und geringerem Druck hineinspielten. „Das wäre vielleicht einmal ein Thema für eine experimentelle Diplomarbeit".
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Verschiedenheit unsere Stellungnahme bestimmen sollte: Zunächst werden wir die Fälle nennen, in denen Ansichten, die wir auch heute akzeptieren können, mit auch uns überzeugenden Gründen vorgetragen wurden. Hier können wir, als wäre gar keine Zeitschwelle zu überwinden, ohne alle Umstände zustimmen. Zweitens können wir eine Auffassung richtig finden, wenn auch die Begründung uns falsch oder unvollständig erscheinen mag. Drittens haben wir den interessanteren Fall, daß wir eine These falsch finden, aber die Begründung unter den damals gegebenen Rahmenbedingungen - uns einleuchtet; so daß wir gut verstehen können, warum die Autoren diese Thesen damals plausibel fanden. Der vierte Fall ist dann der einer nach unserer Auffassung falschen Meinung, für die auch im Rahmen des damaligen Horizonts keine irgend einleuchtende Begründung gegeben wurde. Das wird besonders der Fall sein, wo ohne Begründung oder mit einer Scheinbegründung behauptet wird, was für die Autoren ein Dogma war oder aus einem solchen Dogma folgte. Nachdem ich nun einiges darüber gesagt habe, wie man rationalerweise mit theoretischen Konzepten, die uns in überlieferten Texten begegnen, umgehen sollte, möchte ich nun ein viel heikleres Gebiet, nämlich das der moralischen Beurteilung von Handlungen, die in der Vergangenheit liegen, betreten und fragen, ob wir auch in der Ethik darauf angewiesen sind, die moralischen Normen, die zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Gesellschaften und Gruppen anerkannt wurden, und die verschiedenen „Üblichkeiten" (wie O. Marquard und H. Lübbe dergleichen gerne nennen) als nicht weiter hinterfragbare historische Fakten hinzunehmen. Ich möchte dabei an eine konkrete Erfahrung anknüpfen, die auch ein Anlaß zu den hier vorgetragenen Überlegungen war. Vor einiger Zeit hielt in Göttingen aus festlichem Anlaß ein bekannter mittelalterlicher Historiker, der Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris, Prof. Paravicini, einen interessanten Vortrag mit dem Titel „Hagenbachs Hochzeit". Es handelte sich um einen durch neue Dokumentenfunde bereicherten Bericht über einen burgundischen Statthalter im Elsaß, der 1474 in Breisach zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Dieser Peter von Hagenbach, darüber sind sich die Historiker einig, war ein brutaler, herzloser, ja böser Mensch. Der Vortragende sagte dann, wenn man die Handlungen seiner Standesgenossen in dieser Zeit näher betrachte, so sei er doch nur einer von vielen gewesen; eine Vergewaltigung unter Stande z. B. habe man damals doch eher als ein „Kavaliersdelikt" angesehen, so daß eine moralische Beurteilung solcher Aktionen nach unseren heutigen, empfindlicheren Maßstäben nicht recht am Platze sei. Der Vortragende ging dann auch darauf ein, daß man die erstaunlichen Formulierungen in einem 1942 in Straßburg geschriebenen Aufsatz" zu demselben Thema aus der Feder Hermann Heimpels, in dem Heimpel „welsche Kälte" biederem deutschen Wesen gegenüberstellte, in ähnlicher Weise in ihren Zeithorizont stellen müsse. Er wolle Heimpel, wie peinlich uns auch heute solche Entgleisungen berühren mögen, doch nicht verurteilen; zu sehr sei er, der Vortragende, von Heimpels intellektuellem Format, seinen großen Verdiensten um die Geschichtswissenschaft und seiner menschlichen Souveränität, auch seinen späteren Gewissensqualen, beeindruckt. Wie Peter von Hagenbachs Untaten im Kontext des Spätmittelalters, so müsse
11 Heimpel 1942.
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man auch Heimpels nationalistische Äußerungen im Kontext der damaligen Verhältnisse (Universität Straßburg, Kriegsjahr 1942) sehen. Nach diesem eindrucksvollen Vortrag hatte ich mit dem Vortragenden einen Briefwechsel. Ich fragte ihn, ob seine Meinung über die moralische Beurteilung von Handlungen, die nicht in unsere Gegenwart fallen, nicht zu einem moralischen Relativismus fuhren müsse, der es uns unmöglich mache, überhaupt ein Urteil zu fällen. Entsprechende Auffassungen hätte ich auch bei anderen führenden Vertretern der jüngeren Historiker-Generation vorgefunden, oft auch kombiniert mit einem uneingeschränkten Währheitsrelativismus im Hinblick auf theoretische Probleme. Und in der Tat schiene mir der Relativismus hinsichtlich der Kriterien von Wahrheit und Objektivität von einem moralischen Relativismus untrennbar zu sein. Man meine wohl, wenn wir am Begriff einer zeitlosen wissenschaftlichen Wahrheit und entsprechend an absoluten moralischen Maßstäben festhalten wollten, müßten wir die Angehörigen früherer Epochen für Dummköpfe halten, wenn sie an Theoreme geglaubt haben, die wir heute als falsch ansehen, oder sie als Schurken verurteilen, wenn sie, offenbar ohne Skrupel, getan haben, was wir heute für moralisch jedenfalls problematisch oder sogar schlicht für unzulässig halten. Ich meine, daß sich diese Alternative so nicht stellt. Wir können durchaus sagen, das Verhalten z. B. eines von Hagenbach sei in vielen Punkten (objektiv) moralisch falsch, ja verbrecherisch gewesen; wir könnten aber zugleich sagen, daß er (oder viele Menschen) aus mancherlei Gründen die moralische Qualität solcher Handlungen nicht deutlich vor sich sahen, ihr keine Wichtigkeit beimaßen, oder daß sie nicht die Kraft aufbrachten, den Antrieben zu solchem Handeln zu widerstehen. Wir könnten auch sagen, daß Hermann Heimpel (für den ich wie der Vortragende aus Kenntnis von Werk und Person eine der Verehrung benachbarte Hochachtung hege) von der Aufbruchstimmung 1933 sich zu manchen Äußerungen und Handlungen (wie etwa der führenden Mitwirkung an der regelwidrigen Einsetzung Heideggers als Rektor in Freiburg) hat bestimmen lassen, die uns im Rückblick als kaum entschuldbar, jedenfalls als objektiv unzulässig erscheinen. Man kann ja geradezu sagen: Wie stark muß der Druck des Zeitgeistes in Deutschland in der Zeit zwischen 1918 und 1933 gewesen sein, wenn er selbst einen so klugen und sensiblen jungen Mann wie Heimpel dazu brachte, etwas zu veröffentlichen oder zu tun, das er besser unterlassen hätte, und anderes zu unterlassen, was er hätte tun sollen! Indem wir so die persönliche Schuldfrage zwar nicht aufheben, sie aber doch von der Frage nach dem moralischen Charakter einer Handlung, einer Rechtsordnung, einer Institution, strikt trennen, würden wir auch die sehr berechtigte Befürchtung los, als selbstgefällige Pharisäer aufzutreten, wenn wir über die Vergangenheit unter moralischen Aspekten nachdenken und urteilen. Die Frage: „Wie würdest du selbst in solcher Situation gehandelt haben?" muß, kantisch gesprochen, „alle unsere Überlegungen begleiten können." In jeder Zeit gibt es nun einmal nur wenige moralische Helden, eine erhebliche Zahl honoriger Nichthelden, eine sehr große Zahl von Opportunisten und leider eine Menge, wenn auch keine vergleichbar große Menge, von wirklichen Schurken. Die Sklaverei, in der Antike allgegenwärtig, war und ist moralisch unzulässig, weil kein Mensch als Sache behandelt und der uneingeschränkten Verfügung eines anderen Menschen unterworfen werden darf. Und sie ist nicht etwa erst seit dem Zeitpunkt moralisch unzuläs-
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sig geworden, an dem die Quäker die öffentliche Meinung in England erfolgreich gegen den lukrativen Sklavenhandel aufgewiegelt haben. Auch die Inquisition und die Hexenprozesse waren moralisch verwerflich, mögen sie auch in ihrer Zeit weithin gebilligt und begrüßt worden sein.12 Man kann ja in den meisten Fällen daraufhinweisen, daß auch damals schon unabhängige Köpfe Protest gegen solchen Mißbrauch eingelegt haben, die Stoiker z. B. gegen die Sklaverei, der Jesuit Spee von Langenfeld mit seiner Cautio criminalis von 1631 gegen die Hexenprozesse, und, ein leuchtendes Beispiel aus unserer Zeit, Graf Galen 1941 mit seiner berühmten Münsterer Predigt gegen die sogenannte „Euthanasie". Aristoteles versuchte - guten Glaubens, wie ich unterstellen möchte - in seiner Politik (A 4-7) Gründe für die Naturgegebenheit und moralische Zulässigkeit der Sklaverei zu geben (schon, daß er solche Gründe vorlegte, zeigt, daß es auch zu seiner Zeit schon Kritik an dieser Institution gab). Es gebe eben Menschen (vor allem Barbaren), denen es an der Fähigkeit mangele, ihr eigenes Leben zu steuern; daher sei es - so Aristoteles - für sie geradezu eine Wohltat, wenn ein überlegener Mensch ihnen diese Aufgabe abnehme, und, als Lohn für diesen Dienst, die Arbeitskraft des Sklaven nütze. Aristoteles gibt dabei offen zu, daß es viele Sklaven gebe, die nicht durch Mangel an Geisteskraft, sondern durch Krieg oder persönliches Unglück in die Sklavenrolle versetzt würden. Auch hier kann man sehen, wie eingewurzelte Institutionen und Verhaltensweisen, auf denen das angenehme Leben einiger auf Kosten vieler beruht, selbst Denker vom Range des Aristoteles daran hinderten, die Rechtsnatur einer Institution vorurteilsfrei zu prüfen.13 Solche eklatanten Fälle sollten uns auch gegenüber unseren eigenen moralischen Urteilen in der Gegenwart mißtrauisch machen. Gedanken, deren konsequente Anwendung für uns offensichtlich mit erheblichen Opfern und Unbequemlichkeiten verbunden wäre, schlagen in unserem Bewußtsein nicht so leicht Wurzeln. Es wäre auch nicht schwer, einige Beispiele zu nennen, im Hinblick auf die uns nachfolgende Generationen über mangelnde moralische Sensibilität und Solidarität unserer Generation den Kopf schütteln werden. Alle solchen Betrachtungen wären aber ganz eitel, wäre es wirklich so, daß „moralische Standards stets zeitbedingt sind", wie mein Korrespondent, Herr Paravicini, in seinem Brief antwortete. Dem theoretischen Relativismus stehe er, wie ich, entschieden kritisch gegenüber; aber in der Moral könne er keinerlei zeitübergreifende Standards erkennen. „Ist nicht genug getan, wenn wir uns einig sind, daß der lang erkämpfte humanitäre Standard nun der geltende sein solle? Letztbegründungen sind, soweit ich sehe, leider nicht zu beschaffen." Gut, das mag so sein; aber gibt es denn Letztbegründungen in den theoretischen Bereichen? Sicher nicht, aber das entbindet uns in theoretischen wie in moralischen Diskussionen nicht von der Verpflichtung, nach den vorläufig bestbegründeten Prinzipien zu suchen.
12 Die Inquisition ist übrigens noch 1957 in der RGG (Religion in Geschichte
und Gegenwart,
3. Aufl.)
verteidigt worden. 13 Zur vielverhandelten Frage, ob die aristotelische Theorie der Institution der Sklaverei ein klassisches Beispiel einer „Ideologie" (im marxistischen Sinne) ist, vgl. besonders den Aufsatz von Schofield 1990 sowie die Comments
on M. Schofield
von Kahn (1990).
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Wir haben in der Ethik kein evidentes oberstes Prinzip - wie es Kant in seiner Lehre vom kategorischen Imperativ eindrucksvoll nachzuweisen versuchte. Gerade das Beispiel Kants zeigt, daß jede ethische Theorie in Konflikte mit unserer durch Erfahrung geschulten moralischen Urteilskraft gerät, wenn sie den Versuch macht, ein einfaches und eindeutiges Kriterium moralischer Beurteilung von Handlungen festzusetzen. Aber über die Grandlagen einer solchen kritischen Prüfung kann man sich rational verständigen und bessere von schlechteren Argumenten unterscheiden. Daß als Kriterium der moralischen Beurteilungen allein die Anweisungen eines allmächtigen Stammesgottes, in der Interpretation seiner irdischen Beauftragten, dienen könne, war lange Zeit eine freilich nicht durchweg herrschende Meinung; das Wohl und die Macht der je eigenen Nation oder Rasse oder Klasse als höchstes Ziel jeder moralisch richtigen Handlung hat ebenso, bis in unsere Zeiten, als moralische Richtschnur für ganze Völker gedient (mit den entsprechenden entsetzlichen Folgen). Immer wieder trat aber in der Geschichte der moralischen Diskussion auch der Gedanke auf, das recht verstandene Wohl der von den Folgen einer Handlung betroffenen Menschen müsse das Kriterium der moralischen Beurteilung von Handlungen sein. Seit 1789 (Bentham) wird öfters das Wohl nicht nur der Menschen, sondern aller leidensfähigen Lebewesen als Prüfstein moralischer Normen genannt.14 Wenn wir nun meinen, z. B. diese Auffassung vernünftig begründen zu können, sind wir berechtigt, ja sogar verpflichtet, nach diesem Grundsatz auch die Handlungen und Institutionen der Vergangenheit zu beurteilen. Wie gesagt, verpflichtet und berechtigt uns nichts dazu, diejenigen, die nach bestem Wissen und Gewissen andere moralische Prinzipien ihrem Verhalten zugrunde gelegt haben, wegen ihrer Verhaltensweise zu verurteilen; aber ohne solche persönliche Schuldzuweisung können und sollten wir doch sagen, daß sie objektiv moralisch falsch gehandelt haben. Natürlich sind es gerade auch die Erinnerungen an das Dritte Reich, die uns klar machen können, daß wir der Auffassung, jede Zeit könne nur nach ihren eigenen Maßstäben und Voraussetzungen beurteilt werden, nicht zustimmen dürfen. Auf einen Protestbrief des Göttinger Psychiaters Ewald von 1940 gegen die geplante „T4-Aktion" (Tötung unheilbar Geisteskranker) - Ewald hatte eine Vorbereitungstagung in Berlin mit dem Ausruf „Was Sie planen, ist Mord!" unter Protest verlassen - schrieb ihm der damalige Reichsärzteführer Conti, der Herrn Ewald aus Studienzeiten kannte, folgendes: „In Ihren Darlegungen ist manches sicher voll berechtigt, wie auch ich weiß, trotzdem bin ich anderer Ansicht, kann und will das aber zurzeit nicht schriftlich niederlegen. Ich möchte nur so viel sagen, ich bin fest überzeugt, daß die Anschauungen des ganzen deutschen Volkes in diesen Dingen in einer Wandlung begriffen sind und kann mir sehr wohl vorstellen, dass Dinge, die in einer Zeitspanne als verwerflich galten, in der Nächsten als das einzig Richtige erklärt werden, das haben wir im Lauf der Geschichte ja unzählige Male erlebt [,..]."15
14 Bentham 1948, 310, Anm. 1. 15 Zitiert nach Becker 1998, 224.
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Günther Patzig
Aus diesem verworrenen Argument würde wohl abgeleitet werden können, daß man alles, was man zu tun gedenkt, ohne moralische Skrupel tun darf, da man ja nie weiß, ob sich nicht sehr bald schon die moralischen Auffassungen radikal verändert haben werden. Selbst ein moralischer Relativist hätte Conti auf sein Schreiben antworten können: „Daß sich die moralischen Anschauungen im Lauf der Zeit wandeln können und sich im Lauf der Geschichte auch tatsächlich oft geändert haben, weiß ich; aber das interessiert mich nicht. Ich halte mich an die in meiner Generation und in meinem Kreis zur Zeit gültigen Maßstäbe, und die verbieten eindeutig die Tötung oder vielmehr Ermordung unheilbar Kranker." Und jemand, der kein Relativist ist, würde Herrn Conti darüber hinaus wohl antworten müssen: „Es ist wahr, daß die Geschichte lehrt, wie sich moralische Werturteile in verschiedenen gleichzeitigen Gesellschaften, aber auch innerhalb einer Gesellschaft über die Zeit hin erheblich unterscheiden und verändern können - einmal davon abgesehen, daß es auch eine durchaus beachtliche Übereinstimmung in zentralen moralischen Wertungen gibt. Aber es ist unsere Aufgabe als selbständig denkende Menschen, nicht alle Regelungen unbefragt gelten zu lassen und sie hinzunehmen, wie sie nun einmal historisch ausgefallen sind. Wir müssen vielmehr auch auf die massiven irrationalen Vorurteile, Herrschaftsinteressen und bloße, zum Teil abergläubische, Traditionen hinweisen, die bei ihrer Entstehung beteiligt waren. Auf diese Weise könnte man dann, unter ständigem Blick auf solche wirksamen Fehlerquellen, die Umrisse eines vernünftig begründbaren moralischen Regelsystems herausarbeiten, dessen Anwendungen auf die konkreten, oft neuen Verhältnisse (wie z. B. in der heutigen Bioethik, speziell Medizinethik) von vielen sachlichen Voraussetzungen und technischen und ökonomischen Entwicklungen abhängig sein mögen. Unsere Vorstellung von einem idealen Regelsystem wird, wie alle menschliche Erkenntnisbemühung, nicht fehlerfrei sein. Das entbindet uns nicht von der Verpflichtung, uns um eine möglichst sachgerechte Normierung zu bemühen, wie auch unsere Erkenntnisbemühung als Historiker, Naturwissenschaftler oder Philosophen nicht deshalb erlahmen darf, weil wir einsehen, daß evidente Wahrheiten und letztgültige Erkenntnisse, jedenfalls in den anspruchsvolleren Gebieten der Wissenschaft, nicht zu haben sind. Was wir sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht vor uns sehen, ist ein begründbares Ideal und die Möglichkeit, sich ihm in anstrengender Detailarbeit schrittweise zu nähern. Das ist zwar weniger als wir uns wünschen würden, aber es reicht aus als Basis für sinnvolle wissenschaftliche und philosophische Arbeit."
Veritas filia temporis? Ein Vorschlag zur
Differenzierung
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Literaturverzeichnis Bentham, J.: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, The Hafner Library of Classics VI, New York 1948. Becker, H./H.-J. Dahms/C. Wegeier (Hrsg.): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, 2. erw. Ausgabe, München 1998. Heimpel, H.: Das Verfahren gegen Peter von Hagenbach zu Breisach (¡474), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 94 (1942), 321-357. Hoyningen-Huene, P.: Reconstructing Scientific Revolutions. Thomas S. Kuhn 's Philosophy of Science, Chicago 1993. Kahn, Ch.: Comments on M. Schofield, in: G. Patzig (Hrsg.): Aristoteles' „Politik", Akten des XI. Symposium Aristotelicum 1987, Göttingen 1990, 28-31. Kuhn, T.: Reflections on my Critics, in: I. Lakatos/A. Musgrave (Hrsg.): Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970, 231-278. Löwith, K.: Das Verhängnis des Fortschritts, in: H. Kuhn/F. Wiedmann (Hrsg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, Verhandlungen des VII. Deutschen Kongresses für Philosophie, München 1964, 15-29. Puster, R. W. (Hrsg.): Veritas filia temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte, Festschrift zu Ehren von Rainer Specht, Berlin/New York 1955. Russell, B.: Introduction to Mathematical Philosophy, London 1919. Ders.: An Inquiry into Meaning and Truth, London 1940. Schofield, M.: Ideology and Philosophy in Aristotle's Theory of Slavery, in: G. Patzig (Hrsg.): Aristoteles' „Politik", Akten des XI. Symposium Aristotelicum 1987, Göttingen 1990, 1-27. Wieland, W.: Über den Grund des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte, in: R. W. Puster (Hrsg.): Veritas filia temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte, Festschrift zu Ehren von Rainer Specht, Berlin/New York 1995, 9-30.
Kolloquium I Wissen und Information
Walther Ch. Zimmerli
Einführung Während der ganzen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Wandel angebahnt, dessen umstürzende Konsequenzen seit rund einem Jahrzehnt niemand mehr leugnen kann: die Revolution der Gesellschaft durch Informationstechnologie zunächst in der vom Geist des Abendlandes geprägten Nordhemisphäre, in den letzten Jahren allerdings nun auch weltweit. Die alte Leibnizidee einer Universalcharakteristik durch Reduktion von Semantik auf Syntax wurde - auf den ersten Blick harmlos und unscheinbar - durch die Konzeption einer Maschine operationalisiert, die in der Lage sein soll, jede andere Maschine zu simulieren, der sogenannten Turingmaschine. 1 Im Vergleich mit der Zeit eines Leibniz war inzwischen allerdings in Hinblick sowohl auf Technologie und Werkstoffe als auch auf theoretische Modellierung und Programmiertechnik eine Situation erreicht worden, in der außer der bloßen Idee auch deren Umsetzung möglich wurde: Es kam zur Geburt des Computers aus dem Geist von Formalisierung, Kalkülisierung und Mechanisierung. 2 Und zeitgleich mit der Idee der Turingmaschine entwarf Alan Turing auch den Turing-Test, der mit der Enttabuisierung der Frage nach der Dankfähigkeit von Maschinen auch die Debatte um die Künstliche Intelligenz anstieß. 3 Daß damit indessen die Revolution erst begonnen hatte, zeigte sich nicht zuletzt darin, daß etwas geschah, was niemand vorhergesehen hatte: Die Umsetzung der Turingmaschine blieb nicht ein auf einige wenige gigantische High-Tech-Rechner beschränktes Privileg, sondern trat, dem Prinzip des industriellen Zeitalters entsprechend, in die Phase ihrer massenhaften technischen Reproduzierbarkeit ein. Über den von nahezu allen Experten für eine
1 Zur Turingmaschine und dem mit der Operationalisierungsfrage verbundenen Halteproblem vgl. Albert/Ottmann 1983, 259 ff. 2
Vgl. hierzu Zimmerli/Wolf 1994, bes. 8 ff.
3 Turing 1950. (dt. 1964 von P. Gänßler unter dem Titel Kann eine Maschine in: Zimmerli/Wolf 1994, 39-78.)
denken?,
wieder abgedruckt
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Walther Ch. Zimmerli
Sackgasse gehaltenen Umweg via PC wurde der Computer zu einem Konsumgut ersten Ranges, das heute aus keinem Büro, keinem Haushalt und keinem kaufmännischen oder industriellen Betrieb mehr wegzudenken ist. Damit und mit der bereits vorhandenen informations- und kommunikationstechnologischen Vernetzung, wie sie durch Telegraf und Telefon weltweit bereitstand, waren die Voraussetzungen dafür gegeben, daß sich das Internet als weltweites Netz (WWW) entwickeln konnte, das zum technologischen Träger- und Antriebsmedium für die Globalisierung werden und damit den Aufstieg der Netzwerkgesellschaft vorbereiten sollte." Alan Turing hat - weitblickend - schon 1950 seinem zum „locus classicus" avancierten Aufsatz über „Computing Machinery and Intelligence" ein Sprichwort vorangestellt: „Denken ist noch lange nicht Wissen". 5 Damit machte er darauf aufmerksam, daß, selbst wenn sich ohne Verstoß gegen die logische Grammatik davon sprechen ließe, eine Maschine könne denken, dies noch nicht heiße, sie könne auch wissen. Daran ändert im übrigen auch die Tatsache nichts, daß wir heute über eine nach oben hin prinzipiell offene Anzahl von wissensbasierten Systemen, vordringlich in der Form von Expertensystemen, verfügen. Denn es handelt sich dabei, wie unschwer zu erkennen ist, um Systeme, deren Basis Wissen ist, von denen es aber keinen expliziten Sinn machen würde zu sagen, sie „wüßten" etwas. Trotzdem ist aber zum einen die sich im Zusammenhang der entstehenden Netzwerkgesellschaft aufdrängende Frage immer stärker ins Zentrum der Diskussion gerückt, ob und inwiefern in einem Netzwerksystem von miteinander verknüpften Computern nicht doch auf eine neue Art und Weise Wissen generiert werde und welche Auswirkungen dies auf die MenschMaschine-Interaktion haben könne. Zum anderen ist in der Soziologie und der Sozialphilosophie im Anschluß an Daniel Beils Thesen zum Übergang der Industriegesellschaft in eine postindustrielle Gesellschaft 6 die Annahme formuliert worden, bei der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft handle es sich um eine Wissensgesellschaft. 7 Dies zusammen mit der Tatsache, daß sich im Kontext von Molekularbiologie, Neurophysiologie und der informationstheoretischen Facette des „linguistic turn" das Konzept der Informationsverarbeitung im kognitivistischen ebenso wie im konnektionistischen Paradigma durchgesetzt hat, hat zum Ergebnis, daß das Thema „Information und Wissen" von einer eher epistemologischen Marginalfrage zu einem Kern- und Hauptstück sich gegenwartsanalytisch verstehender theoretischer wie praktischer Philosophie geworden ist. Das spiegelt sich auch in den folgenden Beiträgen, die vom Naturalismus-Kulturalismus-Streit (Janich) über die soziologischen (Stehr) und ethischen (Borgmann) Aspekte bis zur Konzeption eines integrativen Informationsverständnisses (Zimmerli) reichen.
4 Vgl. Castells 1996; zur Pionierzeit des Internet vgl. Rheingold 1993; zu den philosophischen Implikationen des N e t z w e r k d e n k e n s vgl. Zimmerli 1998. 5 Turing 1950, 39. 6 Bell 1973. 7 Vgl. Kreibich 1986 und Stehr 1994.
Kolloquium
I-
Einführung
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Literaturverzeichnis Albert J./Th. Ottmann: Automaten, Sprachen und Maschinen fiir Anwender, Mannheim 1983. Bell, D.: The Coming of the Postindustria! Society, 1973, 2., erw. Aufl. New York 1976. Castells, M.: The Rise of the Network Society, Cambridge/Oxford 1996. Kreibich, R.: Die Wissensgesellschaft, Frankfurt/Main 1986. Rheingold, H.: The Virtual Community. Homesteading on the Electronic Frontier, Reading Mass. 1993 Stehr, N.: Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt/Main 1994. Turing, A. M.: Computing Machinery an Intelligence, in: Mind 59 (1950), 433-460. Zimmerli, W. Ch.: The Context: Virtuality and Networking after Postmodernism, in: F. Theron/A. van Royen/F. M. Uys (Hrsg.): Spanning the Global Divide: Networking for Sustainable Delivery, Stellenbosch 1998, 1-17. Ders./S. Wolf: Einleitung, 5-37.
in: Dies. (Hrsg.): Künstliche Intelligenz. Philosophische Probleme, Stuttgart 1994,
Peter Janich
Information und Sprachphilosophie 1. Vorbemerkung Es ist ein Topos geworden, die drei Termini „Syntax, Semantik, Pragmatik" gemeinsam und in dieser Reihenfolge zu nennen, nicht nur in Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie, sondern auch in Informationstheorien und naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern wie der Molekularbiologie. Ihre Anordnung ist so kanonisch wie die der Zahlwörter „eins, zwei, drei" (bei denen assoziativ die Alltagssprache Fortsetzungen wie „schnell herbei!" oder „vorbei!" kennt, während die antikanonische Reihenfolge „drei, zwei, eins" nur noch „null" oder „Feuer!" als Fortsetzung nahelegt). Die kanonische Reihenfolge hat ihren Urheber in den Grundlagen der Zeichentheorie von Ch. W. Morris (1938, im folgenden abgekürzt GdZ). 1 Diesen Leittext mit sprachphilosophischer Aufmerksamkeit ins Verhältnis zu setzen zu der wohl prominentesten mathematischen Kommunikationstheorie und ihrem Informationsbegriff, soll in folgenden vier Thesen geschehen: (1) Die Parallelität der Semiotik nach Morris und der Kommunikationstheorie nach Shannon und Weaver 2 erklärt, warum Kommunikation auf einen lediglich syntaktischen Informationsbegriff zusammengezogen wird. (2) Die dem syntaktischen Informationsbegriff zugrunde liegende Morris-Semiotik hat eine Reihe praktischer Defizite, die sich aus stillschweigenden Prämissen des Programms „Logischer Empirismus" erklären. (3) Sprache als menschliche Kulturleistung kann nur aus ihrer Einbettung in gemeinschaftliche Praxis und aus der kultürlichen Form des individuellen Spracherwerbs heraus begriffen werden. (4) Der Informationsbegriff ist - für alle Anwendungen - einer sprachphilosophischen Revision zu unterziehen.
2. Semiotik und Kommunikation Die prominenteste Theorie der Kommunikation, der das heute übliche informationstheoretische Vokabular von der Nachrichtentechnik bis zur Molekularbiologie und Genetik geschuldet wird, ist wohl Die mathematische Theorie der Kommunikation von C. Shannon und W. Weaver (im folgenden kurz MTK). Sie ist zudem durch die Erläuterungen von Weaver (und durch die explizit angesprochene Nähe zur Kybernetik N. Wieners 3 ) auch für das philosophische Selbstverständnis von Informationstheoretikern und Bindestrich1 Monis 1938. 2 Shannon/Weaver 1949. 3 Wiener 1948, 1961.
Information und Sprachphilosophie
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Informatiken von der Wirtschaftsinformatik bis zur Biosemiotik prägend geworden. Im klassischen Text dieser Theorie von 1949 finden sich allerdings so wenig wie bei Wiener Fußnoten, Literaturangaben oder sonstige Hinweise auf den von den Autoren investierten, semiotisch-sprachphilosophischen Hintergrund. (Über Lektüre oder Kontakte der drei Autoren zu Vertretern des Wiener Kreises ist uns nichts bekannt.) Dennoch springt eine frappierende Übereinstimmung in diesen Prämissen sofort ins Auge, wenn man den Text von Shannon und Weaver parallel zu den GdZ von Morris liest. Diese Übereinstimmung erstreckt sich nicht nur auf die Reihenfolge von Syntaktik (wie Morris, sprachlich sorgfältig die drei semiotischen Teildisziplinen betrachtend, statt Syntax sagt), Semantik und Pragmatik. Sie betrifft insbesondere auch die in beiden Ansätzen behaupteten Abhängigkeiten der drei Teildisziplinen voneinander: Weaver bestimmt „Kommunikation" in seiner „analytischen Behandlung" in einem möglichst umfassenden Sinne, der alle Vorgänge einschließt, „durch die gedankliche Vorstellungen einander beeinflussen können", was sich „eigentlich auf alles menschliche Verhalten'" bezieht (alle Hervorhebungen von mir, P. J.). Hinzuzunehmen seien außerdem maschinelle Vorgänge sowohl in Mensch-Maschine- als auch in Maschine-MaschineWechselwirkungen. Dieser weit gefaßte Begriff von Kommunikation führe zu Aufgaben auf drei Ebenen, die bei Weaver „technisch", „semantisch" und „Effektivitätsproblem" heißen (MTK, 11-12). Bekanntlich ist die gesamte Theorie dann der Lösung des technischen Problems gewidmet, strukturell, also syntaktisch treu Nachrichten von einer Quelle zu einer Senke mit den Hilfsmitteln von Codierung in einem Sender und Decodierung in einem Empfänger zu übertragen. „Die semantischen Probleme betreffen die völlige Übereinstimmung oder genügend gute Näherung der Interpretation der Nachricht beim Empfänger, verglichen mit der vom Sender gewünschten Bedeutung. [...] Die Effektivitätsprobleme beziehen sich auf den Erfolg, mit dem die Nachricht, die dem Empfänger übermittelt wurde, zu einem vom Sender beabsichtigten Verhalten führt. [...] Mit einer einigermaßen weiten Auslegung des Begriffs Verhalten ist jedoch klar, daß Kommunikation entweder das Verhalten beeinflußt oder aber ohne irgendeine ersichtliche oder wahrscheinliche Wirkung bleibt. Das Problem der Effektivität führt zu ästhetischen Betrachtungen im Fall der schönen Künste. "(MTK, 13-14) (Da wir im weiteren darauf nicht eingehen werden, sei darauf verwiesen, daß auch Morris seinen Grundlagen der Zeichentheorie ein Jahr später eine Ästhetik der Zeichentheorie folgen läßt.) Zum Verhältnis dieser drei Problemebenen heißt es dann bei Weaver: „Das Effektivitätsproblem ist eng mit dem semantischen Problem verbunden und überschneidet sich mit ihm auf eine schwer bestimmbare Art; tatsächlich bestehen Überschneidungen zwischen all den hier vorgeschlagenen Kategorien von Problemen." Und in einem „Kommentar": „Die weitaus größere Bedeutsamkeit der Ebene A [das ist die Ebene der syntaktisch treuen, technischen Nachrichtenübertragung, P. J.] ergibt sich jedoch dadurch, daß die Analyse ihrer Probleme eine stärkere Überlappung dieser Ebene mit den anderen beiden offenbart, als man sich als Laie vorzustellen vermag. Dadurch ist die Theorie der Ebene A zumindest in einem bedeutsamen Grad auch eine Theorie der Ebenen B [der semantischen Probleme, P. J.) und C (der Effektivitätsprobleme, P. J.]" (MTK, 14-15).
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Peter Janich
Die GdZ von Morris weisen nicht nur in den Kapiteln III bis V die Reihenfolge (und Überschriften) Syntaktik, Semantik und Pragmatik auf, nachdem (nach einer Einleitung) die Begriffe Semiose, Zeichen und Sprache abgehandelt wurden. Die Reihenfolge wird vielmehr ausdrücklich hervorgehoben. Zeichen sind für Morris „nichts anderes als an bestimmten Funktionsprozessen beteiligte Gegenstände der Art, wie sie die Biologie und die Naturwissenschaften untersuchen." (GdZ, 18) Dabei wird durchgängig Bezug darauf genommen, daß ein Zeichen Z Zeichen eines Gegenstandes „für ein Verhalten" ist, und daß Morris den „Akt der mittelbaren Notizname" „für eine Behandlung aus behavioristischer Sicht, die wir im folgenden zu der unsrigen machen", für geeignet hält. Kurz, der „Zeichenprozeß" (Semiose) wird Gegenstand einer naturwissenschaftlich-empirischen Verhaltenswissenschaft, in der Zeichen „selbst ein rein semiotischer Begriff (wird), der weder innerhalb der Syntaktik noch der Semantik noch der Pragmatik allein definierbar ist" (GdZ, 26). Bei Weaver wie bei Morris finden sich Hinweise, daß „in der Syntaktik [...] in gewisser Hinsicht leichter Fortschritte zu machen [sind] als in den beiden anderen Teildisziplinen [Semantik und Pragmatik]". „Aus diesem Grunde kann die Einführung bestimmter Unterscheidungen in syntaktischen Untersuchungen die Einfuhrung analoger Unterscheidungen in semantischen und pragmatischen Untersuchungen anregen." (GdZ, 35) Nochmals auf „die experimentelle Verfahrensweise der Behavioristen" (GdZ, 42) hinweisend behauptet Morris, „ein strenger Aufbau der Semantik setzt eine relativ weit entwikkelte Syntaktik voraus, [...] abstrahiert aber von der Pragmatik" (GdZ, 43). A m Ende seiner Ausführungen zur Semantik heißt es: „Wenn auf den Seiten, die die Semantik behandelten, pragmatischen Faktoren häufig auftauchten, dann deshalb, weil die gängige Einsicht, die Syntaktik müsse durch die Semantik ergänzt werden, noch nicht durch die Erkenntnis erweitert worden ist, daß die Semantik ihrerseits der Ergänzung durch die Pragmatik bedarf." (GdZ, 51) Dennoch darf diese Reihenfolge der „semiotischen Teildisziplinen" Syntaktik, Semantik und Pragmatik nicht als These einer methodischen Abhängigkeit interpretiert werden: „Das enge Verhältnis zwischen den semiotischen Teildisziplinen [...] ändert nichts an der Tatsache, daß die drei Teildisziplinen drei nicht reduzierbare und gleichwertige Perspektiven darstellen, die den drei objektiven Dimensionen des Zeichenprozesses entsprechen." (GdZ, 81) Damit ist die Parallelität zwischen Weaver (1949) und Morris (1938) für das Verhältnis der drei semiotischen Teildisziplinen offenkundig. Der Bezug zu einer behavioristischen Psychologie bzw. Biologie (Morris: „Der Interpret eines Zeichens ist ein Organismus; der Interprétant ist die Gewohnheit (,habit') des Organismus, [...] so zu reagieren, [...]" (GdZ, 54) findet im durchgängigen Bezug von Weaver auf Verhalten seine Entsprechung. Geradezu verblüffend wird die Parallelität der beiden Ansätze im Abschnitt „Individuelle und soziale Faktoren in der Semiose". Morris: „Stimmgesten [...] zeichnen sich dadurch aus, daß der Sender des Lauts den Laut genauso hört wie der Empfänger [...] Jeder, der an einer gemeinschaftlichen Tätigkeit teilnimmt, übt auf sich selbst und auf die anderen durch seine Stimmgesten einen Reiz aus. [...] dann hat man eine mögliche Erklärung dafür, wie sprachliche Zeichen in einer willens gesteuerten Kommunikation funktionieren." (GdZ, 61) Entsprechend bei Weaver: „Bei der gesprochenen Sprache ist die Nachrichtenquelle das
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Sprachphilosophie
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Gehirn, der Sender sind die Stimmbänder [...] Der Empfänger ist eine Art umgekehrter Sender, der das übertragene Signal in eine Nachricht zurückverwandelt und diese Nachricht an das Ziel weitergibt. Wenn ich zu Ihnen spreche, ist mein Gehirn die Nachrichtenquelle und das Ihre das Ziel; meine Stimmbänder sind der Sender und Ihre Ohren und die damit verbundenen Gehörnerven sind der Empfänger." (MTK, 16-17) Auch wo sich nicht direkt die Parallelität der Formulierungen zeigt, bleibt eine verblüffend weite Übereinstimmung in der Sache - etwa wenn Weaver betont, „Information" dürfe „nicht der Bedeutung gleichgesetzt werden", und Morris auf das Wort „Bedeutung" als semiotisch überflüssig verzichtet, „da die Bedeutung eines Zeichens durch die Feststellung seiner Gebrauchsregeln vollständig bestimmt ist [...] sich durch eine objektive Untersuchung [...] vollständig feststellen" lasse. „Zeichenanalyse ist die Bestimmung der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimension gegebener Zeichenprozesse". (Hervorhebungen P. J.) Zusammenfassend läßt sich behaupten (und vermutlich historisch erklären), daß die Hintergrundphilosophien von Morris und Weaver dieselben sind. Kommunikation (einschließlich derer zwischen einem menschlichen Sprecher und einem Hörer) ist ein empirisch-verhaltenswissenschaftlich beobachtbares Wechselwirkungsgefüge zwischen Organismen, das primär strukturell-syntaktisch, darauf aufbauend sekundär semantisch und tertiär von den Wirkungen her, also pragmatisch zu beschreiben sei. Und da ja schon aus chronologischen Gründen die Richtung des Einflusses nur von Morris zu Weaver gehen kann, sind im nächsten Schritt die Probleme der stillschweigenden Prämissen im Ansatz von Morris zu erörtern.
3. Die Hintergrundphilosophie der Morris-Semiotik Die GdZ erscheint als Beitrag zur International Encyclopedia of Unified Science, in der der Wiener Kreis sein Programm der Einheitswissenschaft entwickelt. Morris bezieht sich mehrfach auf R. Carnap und teilt die Zielsetzung des Logischen Empirismus, Scheinprobleme als solche zu entlarven und in seiner semiotischen Wissenschaft metaphysikkritisch auf logischsyntaktische und auf naturwissenschaftlich-empirische Mittel beschränkt zu bleiben. Die Gegenstandsbereiche, die seinem semiotischen Ansatz als unproblematisch vorgegeben unterstellt werden, sind Mathematik und Naturwissenschaften sowie die vorfmdliche kulturhistorische Situation einschließlich einer begrifflich unklaren Philosophie (am Beispiel der semiotischen Lösung des Universalienproblems vorgeführt). Dieser Ausgangslage steht die Zielsetzung gegenüber, in der Semiotik „die Teildisziplinen Syntaktik, Semantik und Pragmatik" (GdZ, 26) wegen ihrer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander zusammenzuführen; die Formalisten, die dazu neigen, „jedes axiomatische System als Sprache anzusehen", die Empiristen, die dazu neigen, „zu betonen, daß die Zeichen in Beziehung zu Objekten stehen", und die Pragmatisten, die dazu neigen, „die Sprache als eine Art kommunikativer und sozial bedingter Tätigkeit zu betrachten" (28), sehen je für sich immer nur einen von drei Aspekten „ein und desselben Phänomens". Semiotik übernimmt „eine Aufgabe, die man traditionell der Philosophie zugewiesen hat [...] Nach alter Überlieferung
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sollte die Philosophie doch Einsicht in die charakteristischen Formen menschlicher Aktivität gewähren und nach größtmöglicher Allgemeinheit und Systematisierung streben. Die Wirksamkeit dieser Tradition zeigt sich heute in der Identifikation der Philosophie mit der Zeichentheorie und in der Integration der Wissenschaft durch ihre Ausrichtung auf die allgemeineren und systematischeren Gesichtspunkte der reinen und deskriptiven Semiotik" (GdZ, 88). Dieser hohe Anspruch, die gesamte Philosophie zu beerben (oder als Irrweg auszuweisen) hat erhebliche Folgen für das Verständnis von Sprechen und Handeln, für die Einteilung, Aufgabe und Leistung der einzelnen Wissenschaften, ja letztlich für das Menschenbild mit seinen erkenntnistheoretischen und ethischen Aspekten. Der Ansatz zeigt starke naturalistische und erkenntnistheoretisch-realistische Züge („Wie es zu Systemen zusammenhängender Zeichen kommt, ist ohne Schwierigkeit zu erklären. Als Naturobjekte haben Zeichenträger Teil am Zusammenhang außerorganischer und organischer Vorgänge. Gesprochene und gesungene Wörter sind buchstäblich Teil von Organreaktionen, während Geschriebenes, Gemaltes, Musik und Nachrichten direkte Ergebnisse des Verhaltens sind. [...] Der Zusammenhang der Ereignisse auf der einen Seite [gemeint sind Naturereignisse wie Blitz und Donner, P. J.] und der Zusammenhang der Handlungen auf der anderen Seite läßt auch Zeichen in einen gegenseitigen Zusammenhang treten und Sprache als ein System von Zeichen entstehen. Daß die syntaktische Struktur der Sprache im allgemeinen weder eine Folge der objektiven Ereignisse allein noch eine Folge des Verhaltens der Sprecher allein ist, sondern beides zusammen, läßt sich in der These von der dualen Kontrolle der Sprachstruktur zusammenfassen." (GdZ, 31) Hier taucht bei Morris das Wort „Handlung" auf. Ersichtlich ist die These nicht, das System der Zeichen bilde den Zusammenhang der Ereignisse einfach ab. „Die syntaktische Struktur hat nicht nur empirische, sondern auch instrumenteile Aspekte, sie ist mehr als bloß ein Spiegel der Natur und kann nicht unabhängig von den Sprachbenutzern gesehen werden" (GdZ, 51). Vielmehr komme es auch auf den Zusammenhang der Handlungen an aber ersichtlich verweist die Formulierung „weder eine Folge der objektiven Ereignisse allein noch eine Folge des Verhaltens der Sprecher allein" zumindest auf die terminologische Gleichsetzung von „Handlung" und „Verhalten" und auf eine nicht problematisierte Rede von „objektiven Ereignissen". Stillschweigende Prämissen und das philosophische Gesamtprojekt von Morris im GdZ sind keineswegs Züge eines isolierten und längst überholten Ansatzes, sondern bilden auch gegenwärtig über die Vermittlung durch moderne kommunikations- und informationstheoretische Umsetzungen höchst wirkungsvoll den Nährboden für eine naturalistische Selbstverständigungsphilosophie der Naturwissenschaften. Diese übt ihrerseits über den Kredit, den die modernen Naturwissenschaften durch ihren technischen, explikativen und prognostischen Erfolg erworben haben, auf die öffentliche Meinung, ja auf den gesamten Zeitgeist unserer Zeit in erkenntnistheoretischer, ethischer und politischer Hinsicht eine bestimmte Wirkung aus. Deshalb geht es im nächsten Abschnitt um die Entfaltung einer nichtnaturalistischen Gegenposition, aus der Gründe und Mittel für die Kritik an der MorrisWeaver-Doktrin sichtbar werden sollen.
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4. Sprache als Kulturleistung Es ist eine philosophisch legitime Frage, was den Menschen prinzipiell vom Tier unterscheidet. Diese Frage macht keine Unterstellung der Art, Naturwissenschaften vom Menschen für unmöglich (im Sinne gültiger Resultate für nicht fähig) zu halten. Schon wer Gewicht, Volumen oder Temperatur des menschlichen Körpers mißt, treibt eine Physik des Menschen, die nach Maßgabe ihrer Methoden und Gegenstandsbestimmungen für viele Zwecke höchst sinnvoll sein kann, vom Fahrzeugbau bis zur Medizin. Analoges gilt für Chemie und Biologie bis hin zu Fächern wie Verhaltenswissenschaften, Hirnforschung und Genetik. 4 Einen prinzipiellen Unterschied des Menschen vom Tier zu vertreten, bestreiten auch keine naturhistorischen Behauptungen etwa der Evolutionsbiologie oder sonst irgendwelche, im Rahmen naturwissenschaftlicher Begriffsbildung und Methoden belegbaren Resultate. Anders verhält es sich mit gewissen naturalistischen Philosophien und Glaubensbekenntnissen (bei denen es übrigens nicht darauf ankommt, ob sie von Naturwissenschaftlern oder Philosophen stammen). Ein prinzipieller Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt nämlich dort, wo Wissenschaften überhaupt getrieben werden, d. h. wo in kulturgeschichtlicher Entwicklung ein gemeinschaftliches Unternehmen entsteht, das mit normativen Geltungsansprüchen versehen ist. Tiere treiben keine Wissenschaft und erheben keine Geltungsansprüche. A fortiori gilt ein prinzipieller Unterschied zwischen einer Wissenschaft und ihrem Gegenstand bei den Naturwissenschaften vom Menschen. Die Naturwissenschaften vom Menschen können sich nicht selbst zum Gegenstand haben und ihre eigenen Geltungsansprüche aus ihrem Gegenstandsbereich her auch nur formulieren, geschweige denn einlösen. Sogar nach neuester Selbstdefinition des Naturalismus ist prinzipiell nur der Mensch und nicht das Tier in der Lage, ein Naturalist zu werden, weil das dafür unverzichtbare Stück Metaphysik (G. Vollmer) 5 als metasprachlicher Irrtum nur Menschen mit Handlungskompetenz zugänglich ist, nicht aber dem Tier. Unauflösbar schließlich ist die prinzipielle Grenze zwischen Mensch und Tier, wo es nicht mehr um die Wissenschaften, die Naturwissenschaften oder die Naturwissenschaften vom Menschen geht, sondern um Moral und Recht: Auch der überzeugteste Naturalist wird von seinen Mitmenschen sittlich und rechtlich als Person betrachtet und damit in die Pflicht genommen, in kultürlich, historisch und geographisch variierender Form; nicht aber das Tier durch das Tier. Bekanntlich werden Menschen nicht mit voll entwickelter Handlungs- und Sprachkompetenz geboren, sondern haben diese erst in einer Lerngeschichte zu erwerben. Das Neugeborene ist infantil und inagentil (mit einem Kunstwort für „handlungsunfähig", das dem lateinischen Wort für „redeunfähig" nachgebildet ist). Daß dem Säugling genetisch allerlei in die Wiege gelegt ist, braucht dabei nicht ignoriert zu werden.
4 Zur Naturwissenschaft vom Menschen vgl. Janich 2000. 5 „Es hat sich aber gezeigt, daß wir ohne metaphysische Annahmen nicht auskommen, auch nicht in der Wissenschaft." Vollmer 2000, 50.
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Die Angewiesenheit des Säuglings, Kleinkindes, Kindes und Adoleszenten (je nach Kultur) auf die Gemeinschaft der Versorger bedingt, daß der (nur nachträglich begrifflich zu trennende) Erwerb von Handlungs- und Sprachfähigkeit nicht in Selbstbestimmung, sondern in Fremdbestimmung beginnt. Wird die Handlungsfähigkeit einer Person im kognitiven, moralischen und rechtlichen Sinne nach den Kriterien der Zwecksetzungsautonomie, der Mittelwahlrationalität und der Handlungsfolgenverantwortlichkeit bestimmt, so werden ersichtlich dem infantilen und inagentilen Menschen Zwecke primär vom Versorger gesetzt, Mittelwahlen vorgelebt bzw. gemeinsam eingeübt sowie die Anerkennung von Folgen des eigenen Tuns als solche durch Verpflichtungen und Sanktionen auferlegt. Während sich das Tier naturwüchsig entwickelt, was je nach zugrunde liegendem Begriff des Lernens auch eine Lerngeschichte einschließen kann, beginnt die Bildungsgeschichte des menschlichen Individuums kulturrelativ dadurch, daß es von den erwachsenen Personen einer Kulturgemeinschaft in Versorger-Rolle verpflichtet wird. Dabei wächst es in eine gemeinsame Praxis hinein, die sehr schnell nur dadurch eine gelingende Praxis werden kann, daß sich eine Wechselseitigkeit des Verpflichtens einspielt. Die Einübung kulturell akzeptierter Reaktionsmöglichkeiten des Kindes auf Aufforderungen, Fragen, sprachfrei durchgespielte gemeinschaftliche Aktionen usw. mit dem Versorger wird immer auch dessen Verpflichtung durch das Kind einschließen. Handeln als nur dem Menschen zukommende Fähigkeit ist demnach bestimmt als dasjenige, was (im Unterschied zum bloßen Verhalten) dem Individuum von den Mitgliedern seiner Kulturgemeinschaft als Verdienst oder Schuld zugerechnet wird. Gelingen und Mißlingen im Sinne vorgeführter und nachgeahmter Handlungsschemata, Erfolg und Mißerfolg im Sinne des Erreichens und Verfehlens von Zwecken (die zunächst vom Versorger vorgegeben, später in eigener Verantwortung des Versorgten gesetzt werden können) charakterisieren Handeln im Unterschied zum bloßen Verhalten. Das Unterlassenkönnen von Handlungen erweist sich als analytisch zwangsläufiges Kriterium, sonst wäre ein Zurechnen von Verdienst bzw. Schuld sinnlos. Bereits die ersten Schritte im Erwerb von Handlungsfähigkeiten in gemeinschaftlicher Praxis haben den Normalfall gelingender Handlungsdeutung zur Bedingung. Wenn im Wechselspiel von Zögling und Erziehern nicht immer auch eine wechselseitige Einschätzung stattfindet, was die andere Seite jeweils gerade tut und beabsichtigt, und wenn dies nicht der gelingende Normalfall ist, kann es (relativ zu diesem) auch keine Mißverständnisse und keine Fehldeutungen geben. Insofern kann sogar die Irrtumsfähigkeit des Menschen, die sprachlich als Störung gegenüber dem gelingenden Normalfall des (hinreichend) zutreffenden Handlungsdeutens gefaßt wird, als einzigartig gegenüber der Tierwelt behauptet werden. Tiere können in diesem Sinne nicht irren. Auch wenn sie sich im Verhalten eines Freßfeindes, eines Nebenbuhlers oder eines Geschlechtspartners „irren", ist dies als Störung nur relativ zu einem in sprachlicher Beschreibung normativ ausgezeichneten Normalfall durch einen menschlichen Beobachter möglich. Die handlungstheoretischen Grundunterscheidungen wie Handlungsschema und Aktualisierung, Zweck und Mittel, Handlung versus Widerfahrnis, Handlung versus (bloßes) Verhalten, Gelingen und Mißlingen, Erfolg und Mißerfolg, um nur die wichtigsten zu
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nennen, sind geeignet, auch die speziellen Handlungen zu erfassen, die man zu den sprachlichen rechnet. Sprache im weiteren Sinne des symbolischen Handelns oder im engeren Sinne des wortsprachlichen Redens läßt sich, und zwar in allen Typen von Sprechakten, wie die sprachfreien Handlungen der eigenen Körperbewegungen und der Poiesis, nach Gelingen und Mißlingen, nach Erfolg und Mißerfolg unterscheiden. Verstanden werdenwollen und Verstehen sind immer beiläufige Zwecke der Sprecher und Hörer, der Autoren und Adressaten. (Deshalb kann ein Streit darüber, ob in reflektierender, theoretischer Explikation die Philosophie des Handelns oder die des Sprechens Primat hat, nur auf einem Mißverständnis beruhen. Selbstverständlich bedarf eine zweckadäquate, begrifflich-semantisch und begründungsbezogen-syntaktisch tragfähige Handlungstheorie entsprechender sprachlicher Mittel, die ihrerseits etwa in einer sprachphilosophischen Propädeutik normativ auf Verfahren gebracht werden. Aber dieses ganze Geschäft ist per se selbst immer schon ein Handeln, das sich nach Erfolg und Mißerfolg beurteilen lassen muß. Die Philosophie des Handelns ist also umfassender, auch wenn sie sich selbstverständlich nach Vortrag ihrer Ergebnisse der sprachtheoretischen Überprüfung stellen muß. Der fiktive Glücksfall, eine Philosophie des Handelns sei sprachphilosophisch im ersten Wurf bereits perfekt geglückt, hat kein symmetrisches Pendant darin, eine Sprachphilosophie könnte als solche ein handlungstheoretischer Glücksfall sein: sie kann nämlich, so die hier vertretene These, nicht ohne handlungstheoretisches Vokabular auskommen - wohl aber die Handlungstheorie ohne sprachphilosophisches.)6 Sprechen als Handeln ist Kommunikation unter Menschen, die ihrerseits im Erwerb von Handlungs- und Sprachfähigkeit keine Bedienung der Signifikationsrolle der Sprache gegenüber einer menschenunabhängigen Welt ist, sondern sich auf gemeinsame Praxis, auf Kooperation bezieht. Idealtypisch beginnt Reden als Kommunizieren im gemeinsamen, sprachfreien Handeln, wobei Verstehen und Verstandenwerden an (normal richtig) gedeuteten sprachfreien Handlungen des Gegenübers eingeübt und überprüfbar werden. Wer die Aufforderungen „Komm her" oder „Geh weg", „Vorsicht heiß!" oder „Halte fest!" nach Meinung des Auffordernden richtig befolgt, hat sie per definitionem richtig verstanden. (Der lange Weg zur Zwecksetzungsautonomie des Zöglings wird selbstverständlich die Zwischenstation durchlaufen, das Repertoire an Verweigerungsmöglichkeiten gegenüber Aufforderungen zu erwerben.) Hier kann nicht die ganze Bandbreite verschiedener Sprechakttypen einerseits und die ganze Bandbreite von Handlungstypen, die Gegenstand von Aufforderungen sind, andererseits auch nur aufgezählt, geschweige denn durchgespielt werden. Aber das Lernen von sprachfreien Handlungsketten, deren Teilhandlungen nur bei Strafe des Mißerfolgs vertauscht werden können, oder das Lernen von Zählen und Rechnen gehören ebenso dazu wie die Unterscheidung von Sprechakttypen durch die eingespielten Antworthandlungen wie Behaupten, Auffordern, Fragen und die für die Kooperation und das Verständnis der Mitmenschen ebenso wichtigen performativen Sprechakte des Lobens und Tadeins, der
6 Hartmann 1996.
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Zuneigungs- und Abneigungserweise, des Versprechens, Grüßens, Schmeicheins, Drohens usw. Aus Sicht eines methodischen Philosophierens ergibt sich aus diesem elementaren Spracherwerb auch, die Schnittstelle zwischen Sprache und Welt primär zwischen den Sprechhandlungen selbst und den (eigenen und fremden) Handlungen als Gegenstand des (auffordernden, fragenden, behauptenden usw.) Redens zu setzen.7 Die idealtypische Rekonstruktion eines Erwerbs von Handlungs- und Sprachfähigkeit wird also mit Handlungen und mit der Unterscheidung der kooperierenden und kommunizierenden Personen beginnen. In diesen Kontext sind dann Dinge und Geschehnisse, die keine Handlungen sind, einzubeziehen. Mit dem eigenen Handlungswissen lassen sich anschließend Dinge und Geschehnisse in handelnd provozierte und in „natürliche" einteilen und sozusagen ganz am Ende der Skala die Dinge und Geschehnisse einer menschenunabhängigen Natur erreichen. Parallel dazu wird sich das Reden über das Reden etablieren, das sich wieder idealtypisch zunächst einmal z. B. an Aufforderungen einüben läßt, lauter, leiser oder deutlicher zu sprechen, dann auf die Korrektur semantischer oder alethischer Fehler, parallel zu grammatischen Fehlern, und dann erst allmählich zu den Stufen der Metasprachenhierarchie des täglichen Lebensvollzuges übergehen wird. Sprechen als Kulturleistung, die den Menschen gegenüber dem Tier spezifiziert, ist (in einem nicht degenerierten Verständnis) Kommunikation. Damit kommen wir zurück zu den in den ersten beiden Teilen besprochenen Ansätzen von Kommunikationstheorie und Semiotik, um deren prinzipielles Defizit zu benennen. Da das „semiotische Dreieck" von Zeichen, Bezeichnetem und Interpret nach Morris sowohl beim Sprecher als auch beim Hörer Anwendung findet, also nach Weaver bei Nachrichtenquelle und -senke, sei das prinzipielle Defizit am technischen Modell des Nachrichtenübergangs von einem Sprecher zum Hörer erläutert: Dieses Geschehnis (auch hier mit der Unterstellung des gelingenden Normalfalls betrachtet) kann nicht als die kleinste Einheit eines Kommunikationsprozesses betrachtet werden; sie ist vielmehr, bildlich gesprochen, weniger als dessen eine Hälfte.
5. Die kommunikative Revision von Sprachphilosophie und Informationsbegriff Weder der Semiotik von Morris noch der Kommunikationstheorie von Shannon und Weaver wäre vorzuwerfen, daß sie die Sprecher- und Hörer-Rolle nicht unterschieden hätten. Ausdrücklich kann der „Interpret" im Zeichenprozeß nach Morris Urheber oder Rezipient sein, und auch die Begriffe der Nachrichtenquelle und Nachrichtensenke als Anfang und Ende eines Nachrichtenweges bei Shannon und Weaver werden diesen beiden Rollen gerecht. Dennoch bleibt der ganze Ansatz monologisch. Hier schlägt sich am Ende nieder, daß die sprachphilosophischen Überlegungen des Wiener Kreises auf Probleme der Wissenschaftssprache gerichtet waren. Man hat sozusagen den Logiker, Mathematiker oder naturwissen7 Janich 1999.
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schaftlichen Theoretiker vor Augen, der vor einem Blatt Papier mit den Problemen der wissenschaftlichen Begriffsbildung ringt, monologisch, bestenfalls im Dialog mit sich selbst. Und ein wesentliches Verdienst von Morris, die Unterscheidung von Sprachebenen nach Objektsprache und einer Hierarchie von Metasprachen eingefordert zu haben, verweist auf dieselben charakteristischen Züge: Der ganze Gegenstandsbereich der Sprache wird von einem archimedischen Standpunkt aus diskutiert, von dem aus nur die Struktur schon vorgefundener Sprachstücke, weniger die Sprachproduktion in den Blick kommt, kaum noch mögliche Rezipienten, schon gar nicht deren Antwort. Philosophisch pointiert läßt sich deshalb kritisieren, daß die Ansätze von Morris und Shannon/Weaver naiv sind gegenüber der eigenen Beobachter- und Beschreiberrolle. Tatsächlich aber kann die Gemeinschaft der sprechenden Menschen einschließlich ihrer Theoretiker und Philosophen einen solchen archimedischen Standpunkt nicht abgehoben von allen lebensweltlichen Umständen des Spracherwerbs und der Sprachkompetenz einnehmen. Das heißt, tatsächlich muß an die Stelle des monologischen Modells von Sprache bzw. Kommunikation ein dialogisches treten, in dem - idealtypisch - zwei Personen beteiligt sind, von denen jede den Rollenwechsel vom Sprecher zum Hörer bzw. vom Hörer zum Sprecher (mindestens einmal) durchlaufen haben muß; anders hat „Kommunikation" nicht stattgefunden. Hier ist „Kommunikation" so bestimmt, daß nicht ein Theoretiker aus archimedischer Beobachtersicht entscheidet, ob eine sprachliche Botschaft von einer Person verstanden wurde, sondern die miteinander sprechenden Personen entscheiden selbst. Was lebensweltlich als der Normalfall sprachlicher Kommunikation gilt, nämlich daß der Sprecher verstanden werden möchte und den Erfolg seiner Bemühungen selbst beurteilt, trifft auch für den Hörer zu, der an seinen eigenen Antworthandlungen und deren Wirkung auf den Gesprächspartner beurteilt, ob er recht verstanden hat. Der hier kritisierte monologische Charakter von Sprachphilosophie und Kommunikationstheorie aus der Tradition des Wiener Kreises betrifft also den Umstand, daß hier offensichtlich ein naturwissenschaftliches Ursache-Wirkungs-Modell („Was löst ein Sender bei einem Empfanger aus?") aus der Perspektive des Experimentators zugrunde gelegt wurde. Ohne Extravaganz des Begriffs „Kommunikation" ist damit der Titel „Mathematische Theorie der Kommunikation" bei Shannon und Weaver ebenso deplaziert wie die Verwendung von „Kommunikation" bei Morris. Kommuniziert wird nämlich erst, wenn kontrollierbar ein „Kommunes", also etwas Gemeinsames erzeugt worden ist. Mit anderen Worten, das Erzeugen einer Gemeinsamkeit mit sprachlichen Mitteln muß durch die Gemeinsamkeit der Praxis, in die dieses Erzeugen eingebettet ist, im Dialog kontrollierbar werden. Hieran zeigt sich, daß eine Fülle historisch aufgetretener Probleme der Sprachphilosophie und der Wissenschaftssprachtheorie ihre Ursache darin haben, zunächst einmal die syntaktischen von den semantischen und dann die semantischen von den pragmatischen Fragen abgelöst zu haben, weil im Ursache-Wirkungs-Modell die Nachrichten-Übertragung von syntaktischen Strukturen in der Tat überzeugend begrifflich und technisch beherrschbar gemacht worden ist. Daß aber semantische und Geltungsfragen erst aus der (sprachlichen oder nichtsprachlichen) Reaktion der angesprochenen Person erkennbar werden, wurde im monologischen Ansatz nicht berücksichtigt. (Hier ist „Reaktion" im wörtlichen Sinne einer
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Handlung, nicht im behavioristischen Sinne eines Reiz-Reaktions-Schemas als kausal erklärbares Verhalten gemeint.) Läßt man sich bezüglich „Geltung" als sprachphilosophischem Problem nicht sogleich auf die historisch belastete Frage nach der Wahrheit ein, sondern betrachtet Alltagsbeispiele gelingender Kommunikation durch Aufforderungen, wird sofort ersichtlich, wieso der Rollenwechsel beider an einer Kommunikation beteiligter Personen konstitutiv für den Kommunikationsprozeß wird: Eine aufgeforderte Person muß in diesem Falle zweierlei leisten, nämlich die Aufforderung verstehen und sie befolgen (oder anders re-agieren). Und auch der Auffordernde muß zweierlei leisten, nämlich eine verständliche Aufforderung ergehen lassen und dann deren Erfüllung (oder andere Handlungen) durch den Aufgeforderten erkennen. An dieser kleinsten, nicht weiter teilbaren Einheit eines Kommunikationsprozesses wird sichtbar, daß erst die Befolgung einer Handlungsaufforderung, also erst Handeln (des Hörers) selbst die Kontrolle durch den Sprecher eröffnet, ob der Hörer richtig verstanden hat. Das heißt, erst die pragmatische Beschreibung einer Kooperation, nämlich eines mitwirkenden Handelns durch den Aufgeforderten, eröffnet dem Sprecher einen ersten Zugang zur Beurteilung des semantischen Sprachverstehens. „Geltung" im Sinne der Anerkennung einer Aufforderung durch den Aufgeforderten (und ihrer Befolgung) ist eine notwendige Bedingung für die Kontrolle des Gelingens von sprachlicher Kommunikation im semantischen Sinne. Und daß diese durch gestörte syntaktische Verhältnisse gestört werden kann, ist eine nachträgliche Einsicht in Zusammenhänge, bei denen es - wie z. B. bei der Störungsbeseitigung einer nachrichtentechnischen Signalübertragung - um Wirkungen eines gestörten Nachrichtenkanals geht. Ein minimaler Aufforderungsdialog, in dem beide beteiligten Personen den Rollenwechsel vom Hörer zum Sprecher bzw. vom Sprecher zum Hörer vollziehen und darin Verständnis und Anerkennung von Kommunikationshandlungen kontrollieren können, schreibt der Kommunikationsfunktion einen methodischen Primat vor der Signifikationsfunktion der Sprache zu. In einer idealtypischen Rekonstruktion von Sprache als Mittel der Kommunikation beginnt man also zuerst bei der Rede von Handlungen, d. h. mit Handlungsprädikatoren (wie „gehen", „sagen"), dann mit Apprädikatoren (wie „schnell" oder „laut"), geht erweiternd über auf Prädikatoren für Dinge und Ereignisse, die als Objekte von Handlungen in Frage kommen, erweitert andererseits den Sprachgebrauch um Eigennamen zur gezielten Adressierung einzelner Personen aus einer Gruppe heraus, überträgt dann die Verwendung von Eigennamen (und funktional äquivalenten Kennzeichnungen) auf Dinge und Ereignisse als Objekte des Handelns, um schließlich so in die bekannten, weiteren Ergänzungsmöglichkeiten der Sprache durch Logik, Metasprachenbildung usw. einzutreten. Die Probleme der Signifikation sind nach diesem Verständnis auf der Grundlage eines sprachphilosophisch geklärten Repertoires der Kommunikation zu lösen. Der hier nur als Skizze angedeutete, methodische Aufbau einer Sprachrekonstruktion ist bereits in den chronologisch letzten Schriften aus der Erlanger Schule8 bekannt. Gegründet
8 Vgl. Lorenzen 1993.
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werden muß aber eine solche Rekonstruktion auf das Repertoire von Kontrollmöglichkeiten, die über einen (selbst wieder methodisch geordneten) Kanon von Typen von Handlungen eröffnet werden. Diese etablieren unterschiedliche Typen von Geltung\ Hier wäre wohl bei den eigenen Körperbewegungen zu beginnen, über die poietischen Handlungen zu speziell der Poiesis von Werkzeugen und dann wiederum spezieller zur Poiesis von kognitiven Werkzeugen (wie Meßgeräten oder Rechenmaschinen) überzugehen. Handlungen, die durch schematische Regelbefolgung (wie in der Grundlegung von Arithmetik und Analysis) eine Rolle spielen, sind ebenso zu berücksichtigen wie Handlungen, die (wie z. B. im öffentlichen Geldverkehr) zu Institutionen führen. Hier kann nur auf die einschlägige methodischkulturalistische Literatur verwiesen werden. Die kommunikative Revision des sprachphilosophischen Ansatzes ist folgenreich auch für den Informationsbegriff. Konstitutiv für „Information" werden schon in lebensweltlicher Praxis solche Bedürfnisse und Interessen, die sich explizit als Zwecke von Invariantenbildungen verstehen lassen.' 0 Die sprachliche Organisation gemeinsamer Praxen (von den archaischen Beispielen der Treibjagd, des Kampfes, der Bewegung großer Lasten, bis zu den modernen Aufgaben der technischen Bedienung eines großen Segelschiffs oder den modernen bürokratischen oder organisatorischen Aufgaben z. B. der legalen Bewältigung des Straßenverkehrs) ist immer auf spezifische Unabhängigkeiten sprachlicher Kommunikation vom individuellen Sprecher, vom individuellen Adressaten und von der individuellen Form der Darstellung angewiesen. So erwarten z. B. alle Studenten einer Universität gleichermaßen, unabhängig von der Person des Nachfragenden Auskünfte über Studien- und Prüfungsordnungen zu erhalten, und es soll dabei auch nicht auf den speziellen Auskunftgeber ankommen, von denen jeder gleichermaßen die gültigen gesetzlichen Bestimmungen mitzuteilen hat. Und schließlich soll nicht die spezielle Wahl der sprachlichen Mittel, gar des Dialekts oder dergleichen, über Verständlichkeit und Geltung der Auskunft entscheiden. In diesem Sinne läßt sich „die Information" eines sprachlichen Kommunikats durch ein (logisches) Abstraktionsverfahren bestimmen. Logische Abstraktion besteht in der Invarianz bezüglich relevanter Äquivalenzrelationen, von denen hier also die Sprecher-, Hörer- und Darstellungsäquivalenz von Kommunikaten in Frage kommt. Diese sprachphilosophische Erläuterung ist nur eine Hochstilisierung einer lebensweltlich längst vertrauten und bewährten Kommunikationspraxis. Sie ist also nicht unabhängig als „Informations-" oder „Kommunikationstheorie" eine anwendungsneutrale und wertfreie Theorie, über die sekundär bezüglich lebensweltlicher Anwendung befunden werden kann. Vielmehr dient sie primär als gemeinsame Praxis immer der Lösung praktischer Lebensprobleme. Die hier skizzierte kommunikations- bzw. informationstheoretische Verwissenschaftlichung der Beschreibung von Kommunikation über die Bildung entsprechender informationsbegrifflicher Terminologie macht Information zu einem Gegenstand, der Bedeutung und Geltung hat.
9 Janich 1993. 10 Vgl. Janich 1998.
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Ist dieser erst einmal terminologisch bestimmt, kann z. B. im Stil der Theorie von Shannon und Weaver methodisch sekundär das nachrichtentechnische Problemfeld bearbeitet werden. Allerdings ist die gelungene technische Beherrschung von Information in einem syntaktischen Sinne keine Lösung von semantischen oder pragmatischen Problemen. Vielmehr setzt die Lösung der technischen Probleme auf der syntaktischen Kommunikationsebene eine Definition der Störungsfreiheit voraus, die nicht ohne Semantik, ohne semantisches Verständnis der beteiligten Personen auskommt. Und dieses hätte ihrerseits keinen Sitz in tatsächlicher Redepraxis, wenn es nicht in pragmatischer Einbettung durch Befolgungshandlungen oder Re-aktionen kontrollierbar wäre. Damit ergibt sich folgende methodische Schrittfolge: Ein Begreifen menschlicher Kommunikation in seinem Mittelcharakter für gemeinschaftliche Lebensbewältigung erlaubt (1) ein sprachphilosophisch geklärtes Verständnis von Bedeutung und Geltung menschlicher Rede. Diese kann (2), mit Verweis auf eine erfolgreiche Technik, in speziellen ihrer Aspekte technisch substituiert werden, um Nachrichten durch Raum und Zeit zu transportieren oder zweckgerichtet zu transformieren - in allen bekannten Formen der Datenverarbeitung. Dieser technisch erfolgreiche Weg eignet sich (3) vorzüglich zur Modellbildung für naturwissenschaftliche Beschreibungen und Erklärungen. Diese kann sich (4) wieder auf den Menschen selbst beziehen und z. B. kognitive Leistungen naturwissenschaftlich untersuchen. Als Kognitionen müssen sie allerdings bereits auf eine sprachphilosophisch etablierte Unterscheidung von wahr und falsch" zurückgreifen, um z. B. als kognitiv relevante Vorgänge von kognitiv irrelevanten Stoffwechselprozessen unterscheidbar zu werden. Nicht anders steht es (5) mit der Reflexion auf die Naturwissenschaften vom Menschen, die ja ihrerseits nur durch Handlungsvollzüge von Menschen möglich werden, die Handlungskompetenz und Sprachkompetenz im oben erläuterten Sinne schon besitzen. Um auf den Einleitungssatz dieses Textes zurückzukommen: Der Topos „Syntax, Semantik, Pragmatik" beruht in dieser kanonischen Reihenfolge auf prinzipiellen Vorentscheidungen einer Sprachphilosophie, die an degenerierten Formen einsamer Begriffs- und Theoriebildung ansetzt, aber mit Sprache als spezifisch menschlicher Kulturleistung wenig zu tun hat.
Literaturverzeichnis Hartmann, D.: Kulturalistische
Handlungstheorie,
in: Ders./P. Janich (Hrsg.): Methodischer Kulturalismus.
Zwischen Naturalismus und Postmoderne, Frankfurt/Main 1996. Janicn, P.: Erkennen
als Handeln.
Von der konstruktiven
Wissenschaftstheorie
zur Erkenntnistheorie,
in:
W. Hogrebe (Hrsg.): Jenaer philosophische Vorträge und Studien, Erlangen/Jena 1993. Ders.: Informationsbegriff
und methodisch-kulturalistische
Philosophie,
Streitforum für Erwägungskultur 9 (1998), Heft 2, 169-182.
11 Vgl. Janich 1996.
in: Ethik und Sozialwissenschaften.
Information und
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Ders.: Handwerker und Mundwerker, in: M. Wehr/M. Weinmann (Hrsg.): Die Hand. Werkzeug des Geistes, Heidelberg/Berlin/Oxford 1999, 271-292. Ders.: Was ist Wahrheit? Eine philosophische Einführung, München 1996. Ders.: Was ist Erkenntnis? Ein philosophische Einführung, München 2000. Lorenzen, P.: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, Mannheim/Wien/Zürich 1993. Morris, Ch. W.: Foundations of the Theory of Signs, Chicago 1938. (dt. Grundlagen der Zeichentheorie, Frankfurt/Main 1988.) Shannon, C. E./W. Weaver: The Mathematical Theory of Communication. Illinois 1949. (dt. Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, München 1976.) Vollmer, G.: Was ist Naturalismus?, in: G. Keil/H. Schnädelbach, (Hrsg.): Naturalismus, Frankfurt/Main 2000, 46-67. Wiener, N.: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, MIT 1948, 2 1961. (dt. Kybernetik, Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf/Wien 1963.)
Nico Stehr
Wissen und Information als Problem in der modernen Gesellschaft1 1. Übersicht Wenn Wissen in steigendem Maß nicht nur als konstitutives Merkmal für die moderne Ökonomie, ihre Produktionsprozesse und -beziehungen, sondern insgesamt zum Organisationsprinzip und zur Problemquelle der modernen Gesellschaft wird, ist es angebracht, diese Lebensform als Wissensgesellschaft zu bezeichnen. Und dies heißt nichts anderes, als daß wir uns unsere Wirklichkeit durchweg aufgrund unseres Wissens einrichten. Es heißt allerdings nicht, daß wir entscheidende Fortschritte auf dem Weg gemacht haben, den einst verbreiteten Traum der Rationalisierung des Irrationalen in der Welt, also etwa der angeblich unaufhaltsamen Beherrschung des Materials, zu realisieren, bzw. daß wir dem Alptraum einer objektiven Beherrschung der gesellschaftlichen oder natürlichen Realität wirklich näher sind. Meine Überlegungen zum Thema Wissen und Information in der modernen Gesellschaft als Wissensgesellschaft sind wie folgt gegliedert: Ich beginne mit zwei Anmerkungen zum Begriff der Wissensgesellschaft, um mich dann direkt dem Thema der sozialen Beschaffenheit und des gesellschaftlichen Stellenwerts des Wissens bzw. von Informationen zuzuwenden. Im Rahmen dieser Reflexionen kommt es mir vor allem darauf an, einige grundsätzliche Bemerkungen zum Wissens- und Informationsbegriff anzuführen. Im Zentrum meiner Überlegungen wird die These stehen, daß Wissen Handlungsvermögen ist.
2. Einleitung: Die moderne Gesellschaft als Wissensgesellschaft Abgesehen von der Behauptung, die moderne Gesellschaft könne mit weitaus besseren Begriffen beschrieben werden, gibt es zwei nicht unbedingt präzise voneinander zu trennende, aber angeblich durchschlagende Einwände gegen die Idee der Wissensgesellschaft. Der häufigste Einwand ist wohl der der historischen Redundanz. Skeptiker betonen schnell und mit großer Überzeugung, daß wir schon immer in Wissensgesellschaften gelebt haben. Infolgedessen ist dieser Begriff weder neu, noch erlaubt die Idee irgendwelche frischen Einsichten in die Architektur unseres gegenwärtigen Sozial- und Wirtschaftssystems. Schließlich ist doch der Aufstieg ganzer vergangener Zivilisationen, wie zum Beispiel die der Azteken, der Römer oder Chinesen, ein Frage der Überlegenheit ihres Wissens oder sogar ihrer Informationstechnologien gewesen. Macht und Herrschaft waren auch in ver-
1 Ausführlicher Stehr 1994 und 2000.
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gangenen Gesellschaften niemals nur eine Angelegenheit der physischen Dominanz. Anders ausgedrückt, Wissen ist eine universelle, anthropologische Eigenschaft des Menschen. Der zweite Einwand bezieht sich in der Regel auf den für viele Kritiker ambivalenten, widersprüchlichen und unzureichend definierten Begriff des Wissens und damit auf die Frage, ob es in Wirklichkeit überhaupt sinnvoll und praktisch ist, eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Attribute unter diesem theoretischen Dach zusammenzufuhren, um somit den Wissensbegriff zum Grundpfeiler einer Theorie der modernen Gesellschaft zu machen. Der erste Einwand ist sicher nachvollziehbar, aber meiner Ansicht nach keineswegs entscheidend. Wissen hat in der Tat immer eine Rolle im menschlichen Zusammenleben gespielt. Es geht deshalb eher darum, daß sich der Stellenwert des Wissens in modernen Gesellschaften, also in jüngster Zeit, grundlegend ändert und zunehmend die Faktoren ablöst oder modifiziert, die bisher konstitutiv für gesellschaftliches Handeln waren, und daß das Selbstverständnis einer wachsenden Anzahl von Akteuren in der modernen Gesellschaft in einem umfassenden Maß durch Wissen gefiltert und bestimmt wird. Angesichts der vehementen Kritik der angeblichen Redundanz und Inkohärenz des Wissensbegriffs überrascht es aber, daß Wissen (und technischer Wandel) weiter die AchillesSehne der gegenwärtigen ökonomischen Theorie bleibt. In ökonomischen Diskursen ist Wissen allenfalls eine residuale Kategorie und damit eine oft unsichtbare Komponente der Produktion, der Investition und der Vermögenswerte von Wirtschaftsunternehmen. Wissen besteht nicht zuletzt vor allem aus „qualitativen" Komponenten. Qualitative Elemente wiederum sind bisher von Ökonomen kaum erfolgreich spezifiziert worden. Sie bleiben weiter schwer faßbare, wenn nicht sogar trügerische Elemente des ökonomischen Diskurses. Mit anderen Worten, was in vielen Diskursen zu einer weitgehend selbstverständlichen Kategorie deklariert wird, ist in der Mehrzahl der Wissenschaftsdiskurse zugleich fast unsichtbar. In der Tat, unser Wissen über Wissen ist mangelhaft. U m den Wissensbegriff zur Grundlage einer Theorie der modernen Gesellschaft machen zu können, muß man sich deshalb primär aus wissenssoziologischer und sekundär aus wissenschaftstheoretischer Sicht intensiv um das Konzept Wissen bemühen und es von anderen, scheinbar identischen Begriffen, wie zum Beispiel Information oder Humankapital, abgrenzen. Kurzum, ich möchte betonen, daß die Idee der modernen Gesellschaft als einer „Wissensgesellschaft" sinnvoll ist und praktische Bedeutung hat, obwohl es auch in der Vergangenheit Gesellschaften gegeben hat, die durch wissensbasierte Handlungsformen gekennzeichnet waren, genauso wie es sinnvoll war, von der Industriegesellschaft zu sprechen, obwohl es schon vorher Sozialsysteme gegeben hat, die sich auf „Maschinen" stützten.
3. Wissen über Wissen Erst in jüngster Zeit haben Wissenschaftler, die sich mit der Strukturierung und Entwicklung der Gesellschaft befassen, begonnen, in diesen Untersuchungen die Wissensproduktion, -Verteilung und -reproduktion zu einem zentralen Thema aufzuwerten. Daß Wissen eine kritische gesellschaftliche Funktion erfüllt, ist in den Sozialwissenschaften schon häufiger problematisiert worden; daß es jedoch auch in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung
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eine bedeutende und zunehmend entscheidende Rolle spielt und damit für die Sozialwissenschaften in hohem Maße relevant wird, ist erst in den letzten Jahrzehnten erkannt worden. Die Tatsache, daß Sozialwissenschaftler die soziale, politische und ökonomische Tragweite von Wissen erkannt haben, könnte geradezu als symbolisches Zeichen für diese Einflußnahme auf den Verlauf der modernen Gesellschaft und auf die Entwicklung des allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtseins darüber verstanden werden. Für die Analyse moderner Gesellschaften stellt sich also die Frage: Kann Wissen zum Leitprinzip werden für soziale Hierarchien und soziale Ungleichheit, für den Aufbau der Klassenstruktur, für die Chancenverteilung bei sozialer und politischer Machtausübung und für die Lebensweise des Individuums? Und könnte sich Wissen schließlich auch in irgendeiner Weise als Leitprinzip für soziale Kohäsion und Integration erweisen? Um die Diskussion über den neuartigen gesellschaftlichen Stellenwert des Wissens voranzubringen, aber auch um mögliche Mißverständnisse zu vermeiden, sollte ich einige grundsätzliche Überlegungen zu dem Begriff „Wissen" anführen und in größerem Detail darlegen, wie dieser Begriff im Kontext meiner Analyse der modernen Gesellschaft verwendet wird. Den Prozessen der Distribution und Reproduktion muß in der Wissensgesellschaft ebensoviel Bedeutung beigemessen werden wie der Wissensproduktion sowie der Regulierung der Anwendung von Wissen (d. h. der Wissenspolitik). Um die soziale Bedeutung von Wissen verstehen zu können, müßte man zunächst Wissen selbst soziologisch definiert haben. Wissen, Ideen und Information, um vorläufig bewußt relativ allgemeine und ambivalente Bezeichnungen zu benutzen, sind höchst merkwürdige „Wesenheiten" oder Entitäten mit ganz anderen Eigenschaften als zum Beispiel Güter, Waren oder auch geheime Botschaften. Werden sie verkauft, so gehen sie an den Käufer über und bleiben doch auch Eigentum ihres ursprünglichen Produzenten. Außerdem verliert man in einem Tauschprozeß nicht die Verfügungsgewalt über das Wissen. Wissen hat keine Nullsummeneigenschaften. Im Gegenteil, Wissen ist ein Positivsummenspiel: Alle können gewinnen. Allerdings ist die gleichgewichtige Verteilung des Gewinns keineswegs garantiert. Für viele Bereiche des Lebens mag es durchaus vernünftig, ja sogar notwendig sein, Wachstumsgrenzen zu setzen; für das Wissen scheint das nicht zu gelten. Dem Wachstum des Wissens sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Wissen, so hat es den Anschein, ist ein Gemeingut {public good), es ist prinzipiell für alle da und verliert, auch wenn es bekannt wird, nicht an Einfluß. Daß die „Wissensschöpfung" voller Ungewißheiten steckt, ist seit langem bekannt. Zu der Überzeugung, daß die Wissensnutzung keineswegs risikolos ist und der Wissenserwerb nicht unbedingt Ungewißheit zu reduzieren hilft, kam man dagegen erst sehr viel später. Wissen gilt wie gesagt häufig als das öffentliche Gemeingut par excellence; das in der Institution Wissenschaft verankerte Ethos verlangt zum Beispiel, daß Wissen - zumindest im Prinzip - allen zugänglich ist. Aber handelt es sich wirklich um „gleiches" Wissen für alle? Unterliegt wissenschaftliches Wissen, das in Technologie umgewandelt wurde, noch den gleichen normativen Regeln? Welche Kosten sind mit der Übertragung von Wissen verbunden? Wissen ist fast immer, auch trotz seines guten Rufes, anfechtbar. Diese Eigenschaft gilt in der wissenschaftlichen Theorie als ein großer Vorteil und als Tugend; in der
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Praxis wird diese prinzipielle Anfechtbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis häufig verdrängt. Es kommt entweder zu einer gravierenden Überschätzung oder systematischen Unterbewertung wissenschaftlichen Wissens. Da Wissen in anscheinend unbegrenzten Mengen verfugbar ist, ohne dadurch an Bedeutung zu verlieren, verbindet es sich nur sehr begrenzt mit privaten Eigentumsansprüchen.
4. Wissen als Handlungsvermögen Ich möchte Wissen als Fähigkeit zum sozialen Handeln (Handlungsvermögen) definieren, als die Möglichkeit, etwas in „Gang zu setzen". Und damit hebe ich, wenn auch nur zeitweise und vorläufig, die Verbindung von sozialem Handeln und Wissen auf. Im Sinn dieser Definition ist Wissen ein universales Phänomen oder eine konstante anthropologische Größe. Meine Begriffswahl stützt sich unmittelbar auf Francis Bacons berühmte und faszinierende These „scientia est potentia" oder, wie diese Formulierung häufig, aber irreführend, übersetzt wurde: Wissen ist Macht. Bacon behauptet, daß sich der besondere Nutzen des Wissens von seiner Fähigkeit ableitet, etwas in Gang zu setzen. Der Begriff potentia, die Fähigkeit, umschreibt hier die „Macht" des Wissens. Wissen ist Entstehen. Genauer gesagt, Bacon unterstreicht am Anfang seines Novum Organum, „menschliches Wissen und menschliche Macht treffen in einem zusammen; denn bei Unkenntnis der Ursache versagt sich die Wirkung. Die Natur kann nur beherrscht werden, wenn man ihr gehorcht; und was in der Kontemplation als Ursache auftritt, ist in der Operation die Regel" (Bacon, N.O. I, Aph. 3). Menschliche Naturerkenntnis ist demzufolge Ursachenwissen, aber auch gleichzeitig Kenntnis der Handlungsregeln und damit das Vermögen, den fraglichen Prozeß in Gang setzen oder etwas erzeugen zu können. Erfolge oder Folgen menschlichen Handelns lassen sich demnach an der Veränderung der Realität ablesen. Wissen erfüllt nur dort eine „aktive" Funktion im gesellschaftlichen Handlungsablauf, wo Handeln nicht nach im wesentlichen stereotypisierten Mustern (Max Weber) abläuft oder ansonsten weitgehend reguliert ist, sondern wo es, aus welchen Gründen auch immer, einen Entscheidungsspielraum oder -notwendigkeiten gibt. Für Karl Mannheim 2 beginnt soziales Handeln deshalb auch erst dort, „wo der noch nicht rationalisierte Spielraum anfangt, wo nicht regulierte Situationen zu Entscheidungen zwingen." 3 „Befähigung" zum Handeln heißt auch, daß Wissen unbenutzt bleiben oder für irrationale Zwecke genutzt werden kann. Die Vorstellung, daß wissenschaftlich-technisches Wissen fast ohne Kontemplation der Konsequenzen notwendigerweise implementiert wird, ist eine Idee, die zum Beispiel C. P. Snow4 vertritt, aber auch unter Beobachtern bestimmter technologischer Entwicklungen häufig anzutreffen ist. Die Vorstellung, daß wissenschaftliche Erkenntnis und Technik ihre eigene praktische Realisierung sozusagen automatisch 2 Mannheim 1929, 74. 3 Vgl. auch Hayek 1945, 82. 4 Vgl. Sibley 1973.
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erzwingt, übersieht natürlich, daß der Kontext der Anwendung und die Anwender eine gewichtige Rolle bei der Realisierung von Wissen spielen. Eine solche Konzeption einer Art unmittelbaren praktischen Effizienz wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse überschätzt die „immanente" oder eingebaute praktische Leistungsfähigkeit von in der Wissenschaft produzierten Wissensansprüchen. Ich werde später noch näher auf diese Problematik der Grenzen der praktischen Verwertbarkeit und somit der „Macht" wissenschaftlicher Erkenntnisse eingehen und gleichzeitig auf die gesellschaftliche Bedeutung derjenigen Berufsgruppen verweisen, die dieses „praktische Defizit" wissenschaftlicher Erkenntnis sozusagen „wettmachen". Der besondere, geradezu herausragende Stellenwert des wissenschaftlichen und technischen Wissens in der modernen Gesellschaft resultiert allerdings nicht aus der Tatsache, daß wissenschaftliche Erkenntnis etwa immer noch weitgehend als wahrhaftiger, objektiver Maßstab oder als eine unstrittige Instanz behandelt wird, sondern daraus, daß wissenschaftliches Wissen mehr als jede andere Wissensform permanent zusätzliche (incremental) Handlungsmöglichkeiten fabriziert und konstituiert. Wissenschaftliche Erkenntnis repräsentiert somit Handlungsmöglichkeiten, die sich ständig ausweiten und verändern, indem neuartige Handlungschancen produziert werden, die, wenn auch nur vorübergehend, sogar „privat appropriiert" werden können.
6. Die Realisierung von Handlungsvermögen Die Definition von Wissen als Handlungsvermögen signalisiert zudem, daß die Realisierung oder die Anwendung von Wissen immer unter bestimmten sozialen und kognitiven Rahmenbedingungen stattfindet. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört unter Umständen eine sehr komplexe, kapitalintensive Infrastruktur. Es ist also nicht der objektive Erkenntnisfortschritt der unmittelbare Motor und Bedingung für die Verwissenschaftlichung der Lebenswelt. Bestimmte Wissensformen transportieren damit nicht unbedingt einen situationsunabhängigen Wert oder konstante Handlungschancen, sondern ihr „Wirken" ist immer eine Frage der aktiven Ausarbeitung, Interpretation und schließlich der praktischen Umsetzung dieses Potentials. Wir können also nicht a priori bestimmen, daß geisteswissenschaftliches Wissen inhärent einen geringeren praktischen Wert hat als etwa Erkenntnisse, die in den naturwissenschaftlichen Disziplinen produziert werden. Die angebliche Zurückgebliebenheit der Geistes- und Sozialwissenschaften, über die häufig Klage geführt wird, ist nicht etwa eine Funktion ihres mangelnden „objektiven Erkenntnisfortschritts", sondern der besonderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, auf die geistes- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Erkenntniszielen treffen. Sie zehren zum Beispiel nicht von dem außerordentlichen Vertrauensvorschuß und der umfassenden Autorität, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse in modernen Gesellschaften genießen. Und insofern die Realisierung von Wissen als Handlungsmöglichkeit bzw. die Technisierung von Handlungskontexten von bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen abhängig ist, haben wir einen ersten entscheidenden Verweis auf die Relation von Wissen und Macht.
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Die Kontrolle der für die Implementation von Wissen notwendigen sozialen und kognitiven Bedingungen erfordert einen bestimmten Grad von Macht. Je größer der Umfang des zu realisierenden Projektes zum Beispiel, desto größer die erforderliche Macht, um die sozialen und kognitiven Rahmenbedingungen, die die Realisierung des Wissens als Handlungsvermögen erlauben, kontrollieren zu können. Der Kreis schließt sich, denn die Mobilisierung von Macht für die Durchsetzung von Erkenntnissen ist auch eine Frage des Vertrauens, das Wissen genießt. Im Hinblick auf gesellschaftliche Machtkonstellationen sollte man Wissen aber nicht ausschließlich als Zwangsmittel, als „entstellendes" repressives Mittel begreifen, wie dies in vielen Konzepten von Macht zumindest stillschweigend unterstellt wird, sondern auch als eine Möglichkeit, Widerspruch, Gegenwehr, Opposition, Ausweichen usw. zu organisieren und durchzusetzen. Mit anderen Worten, ein erweitertes Machtkonzept ist notwendig, das die neuen „produktiven" (enabling) Fähigkeiten oder befähigenden Möglichkeiten wissenschaftlichen oder technologischen Wissens im Kontext widerstreitender Interessen explizit betont. Dieser Aspekt ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil Wissen nicht nur in steigendem Maße zum Handeln befähigt oder die Fähigkeit des „Know-how" insgesamt verbessert, sondern vor allem, weil Wissen immer größeren Bevölkerungsschichten direkt oder indirekt zugänglich ist und zur Disposition steht. Der wachsende Zugang zum Wissen und die neuen Handlungschancen, die sich für bestimmte Akteursgruppen in konfliktgeladenen Machtprozessen ergeben, sind aber nicht gleichmäßig verteilt bzw. fuhren nicht zu einer Gleichverteilung der Handlungsmöglichkeiten. Schon deswegen kann man nicht davon sprechen, daß wir in Wissensgesellschaften über kurz oder lang eine Welt ohne gravierende Machtgefälle und Ungleichheit vor uns haben werden.
6. Zusätzliches Wissen Es gibt zumindest eine Eigenschaft bestimmter Wissensformen, die dazu beiträgt, daß Wissen dieser Art zu einem knappen ökonomischen Gut werden kann: Was in der Regel knapp ist und deshalb nur schwer zugänglich, sind die zusätzlichen Wissensansprüche (incremental knowledge), also neue Handlungsmöglichkeiten und damit nicht eine weitere, marginale „Einheit" von Wissen. Zusätzliches Wissen ist genauso wenig homogen wie gesellschaftlich vorhandenes Wissen. Je schneller Wissen altert oder je schneller bestimmten Wissensformen neue Einheiten hinzugefügt werden, um so größer ist der Einfluß derer, die dieses Wissen erzeugen oder erweitern, und derer, die diese Wissenszuwächse kontrollieren und/oder realisieren, und desto höher dürfte auch der Preis sein. Sofern Wissen überhaupt einen Preis hat und in einen kommerziellen Austauschprozeß eingebunden ist, geht es nach dem Verkauf auf andere Wissensträger über, bleibt jedoch auch weiterhin den ursprünglichen Wissensproduzenten und -Vermittlern erhalten und kann von ihnen noch einmal verwertet werden. Es werden somit nicht unbedingt die kognitive Fähigkeit, die technischen Voraussetzungen oder die oft kostspielige Infrastruktur übertragen, dieses (neue) Wissen produzieren und vermitteln zu können. Oder anders ausgedrückt, das Theoriengebäude oder das technische Regime, aus
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dem Wissen oder Technologie hervorgeht, wird nicht mitübertragen und ist nicht Bestandteil des Verkaufs. Vor allem sind deshalb die kognitiven Fähigkeiten knapp, die es erst erlauben, neue Wissensansprüche zu formulieren und anzubieten. Sie sind aber nicht die einzigen intellektuellen Fähigkeiten, die gesucht sind, denn die Realisierung von Wissen erfordert die Kenntnis und die Kontrolle situationsspezifischer Bedingungen. Experten, Ratgeber und Berater als Vermittler von Wissen finden hier ihre Nische. Diese Berufsgruppe ist nötig, um zwischen der Komplexität wechselnder Wissensinhalte und denen, die sie als Handlungshilfe suchen, zu vermitteln; denn „Ideen wandern" von Mensch zu Mensch wie ein „Gepäckstück", das Können ist an den Einzelnen und an „Netzwerke" von Personen gebunden. Empirische Studien jüngster Zeit haben deutlich gemacht, wie wichtig die enge Koppelung sozialer Netzwerke für die Vermittlung von Wissen und letztlich für den praktischen Erfolg von Innovation in ökonomischen Kontexten ist. Die Untersuchungen zeigen, daß die Mobilität von Personen innerhalb einer Firma und von einer Firma zur anderen zum Beispiel von entscheidendem Einfluß auf den Diffusionsprozeß von Wissen ist.5 Interpretationen müssen zu einem „Schluß" kommen; erst dann werden sie als Handlungsfähigkeit wirksam (Wittgenstein). Und diese Funktion, Reflexion abzuschließen bzw. die mangelnde, unmittelbare Praktikabilität wissenschaftlicher Erkenntnis zu „heilen", damit danach gehandelt werden kann, üben in der modernen Gesellschaft die Experten oder wissensbasierten Berufe aus. Die wachsende Bedeutung von wissensbasierten Berufen in der modernen Gesellschaft heißt nicht, daß das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Gruppe der Experten oder ihre gesellschaftliche Macht unbedingt im gleichen Maß wächst. Im Gegenteil, wir glauben den Experten immer weniger und vertrauen sehr viel seltener auf die idealisierte Vorstellung von der unzweifelhaften, nicht zu hinterfragenden Beratung durch den „Fachmann", obwohl wir sie immer häufiger in Anspruch nehmen. Das ständig wachsende Politikfeld des Setzens von Grenzwerten, von Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften sowie der Formulierung von Risiken und der Berechnung von Gefahren trägt als Nebeneffekt zum Ruin des Rufs der Experten bei. Handelt es sich um eine strittige Frage, ist die Macht der Experten und Gegenexperten eher gering; sie steigert sich erst dann erheblich, wenn das zur Diskussion oder Entscheidung stehende Problem unstrittig wird. Die erfolgreiche Arbeit an der Erarbeitung der Unstrittigkeit von Expertisen wiederum ist nicht zuletzt Ergebnis der sozialen Ressourcen, die Experten, Ratgeber und Berater in relevanten Kontexten mobilisieren können.
7. Erkenntnis und Information Es läßt sich nicht vermeiden, daß man sich in einer Exploration einiger der Eigenschaften des Wissens auch mit der strittigen Frage der Beziehung bzw. der Differenz von Wissen und Information auseinandersetzt. Zunächst sollte muß man sich allerdings fragen, ob es über5 Vgl. Faulkner u. a. 1995.
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haupt noch möglich und sinnvoll ist, zwischen Information und Erkenntnis zu unterscheiden. Angesichts der Tatsache, daß diese beiden Begriffe häufig als Äquivalente benutzt werden, scheint eine derartige Unterscheidung schwierig. In anderen Zusammenhängen wird Information als eine der möglichen Wissensformen bestimmt. Sie wird als kodifiziertes Wissen beschrieben, während Wissen insgesamt auch „tacit kwowledge" umfaßt, Wissenselemente, die ungenau definiert sind, mündlich weiter gegeben werden, durch einen hohen Grad der Personen- und Kontextgebundenheit ausgezeichnet sind und nicht unbedingt explizit gelehrt werden können. Wissen und Information werden damit fast untrennbar. Andererseits gibt es natürlich immer Versuche, zwischen Wissen und Information zu trennen. So schlägt Starbuck vor, daß Wissen sich zu Informationen verhält wie Vermögen zu Einkommen. 6 Eine tradierte und in vielen Sprachen vorhandene Unterscheidung von Wissensformen ist die Gegenüberstellung von knowledge of acquaintance und knowledge-about. William F. James bemerkt zu dieser Zweiteilung der Wissensformen folgendes: „I am acquainted with many people and things, which I know very little about, except their presence in the places where I have met them. I know the color blue when I see it, and the flavor of a pear when I taste it; I know an inch when I move my finger through it; a second time, when I feel it pass; an effort of attention when I make it; a difference between two things when I notice it; but about the inner nature of these facts or what makes them what they are, I can say nothing at all." 7 Die Unterscheidung zwischen Wissen-durch-Kenntnis und Wissen-von-etwas könnte vielleicht der Einteilung in Information und Wissen entsprechen, wobei Information die weniger gründliche und weniger konsequente, die oberflächlichere und flüchtigere Form der Kenntnis einer Sache oder eines Vorganges ist. Aber eine solche Unterscheidung ist selbst im elementarsten Sinne des Wortes nicht nur asymmetrisch, sondern auch voller dynamischer Aspekte. Denn was ,Wissen-von-etwas' genannt werden könnte, wird zu ,Kenntnis-von-etwas', wenn sich das Wissen weiterentwikkelt, vertieft wird oder eine explizitere und artikuliertere Form erreicht. Auch James 8 deutet diese Entwicklung an. Folglich entspricht diese Unterscheidung eher der Dichotomie zwischen wissenschaftlichem Wissen im Sinne von formalem, analytischem, rationalem und systematischem Wissen und nicht-wissenschaftlicher „Information". Information wird somit leicht zur bloßen Information, zum Informationsberg oder zur „erdrückenden Gegenwart des Gegenständlichen" (Frühwald), während Wissen als methodisch erarbeitete, erschlossene und gewichtete Erkenntnis eingestuft wird. Trotz dieser Unstimmigkeiten scheint eine Diskussion der wechselseitigen Beziehung zwischen Wissen und Information sinnvoll, weil sie mir Gelegenheit gibt, einige der zur
6 Starbuck 1992. 7 James 1890, 221. 8 Ebd.
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Rolle des Wissens im sozialen Bereich gemachten Aussagen summarisch auszuprobieren. Wissen stellt, wie ich es definiert habe, eine Handlungskapazität dar. Es gibt dem Handelnden in Verbindung mit der Kontrolle über die Eventualitäten des Handelns die Möglichkeit, etwas in Gang zu setzen. Wissen ist eine notwendige, aber keine ausreichende Fähigkeit zum Handeln. Um etwas in Gang setzen zu können, müssen die Umstände, unter denen dies geschehen soll, der Kontrolle des Handelnden unterliegen. Zu wissen, wie sich zum Beispiel ein schwerer Gegenstand von einer Stelle zur anderen bewegen läßt, reicht nicht aus. Um das Vorhaben in die Tat umsetzen zu können, muß über ein geeignetes Transportmittel verfugt werden. Wie wertvoll Wissen ist, hängt mit seiner Befähigung zusammen, etwas in Gang setzen zu können. Doch sind stets zusätzliche interpretative Fähigkeiten und die Beherrschung der Situation erforderlich. Produktion, Verbreitung und Anwendung von Wissen konstituieren eine Form des Handelns. Wissen hat man nicht. Wissen ist eine Aktivität. Die Information hat, so wie ich das sehe, sowohl eine engere als auch eine allgemeinere Funktion. Informationen hat man, und ihr Zugang stellt relativ geringe kognitive Anforderungen. Man kann deshalb wohl mit Recht von InformationsÜbertragung sprechen. Ob man dagegen von einer Übertragung von Wissen sprechen kann, ist zweifelhaft. Der „Transfer" von Wissen ist mit einem (nicht unbedingt nur individuellen) Lern- bzw. sogar mit einem Entdeckungsprozeß verbunden. Informationen „reisen" ohne allzu große Hindernisse. Sie sind im Vergleich mobiler und auch allgemeiner, weil sie nicht so knapp sind wie Wissen. Außerdem ist der Zugang zur Information und der Nutzen, den die Information bringt, für den oder die Handelnden weniger direkt eingeschränkt. Wissen hat einen restriktiveren, begrenzteren Gebrauchswert, da Wissen allein noch nichts in Gang setzt, Information aber zumindest ein Schritt zur Erlangung von Wissen sein kann. Wissen ist keine zuverlässige Ware; es ist zerbrechlich und stellt eigene Anforderungen. Es ist mit Unsicherheit verbunden.
8. Grenzen der Macht der Erkenntnis Wissen erweitert und begrenzt soziales Handeln. Jahrzehntelang war es wohl das Gefühl einer zwar nicht immer ganz ungeteilten Hoffnung, einer zeitweise sogar ansteckenden Begeisterung und gelegentlich auch nur skeptischen Faszination bezüglich der anscheinend unbegrenzten praktischen Erfolge der modernen Wissenschaft und Technik, das dem Sozialwissenschaftler die Frage nach den systematischen Grenzen der Herrschaft wissenschaftlichen Wissens außerhalb des Wissenschaftssystems theoretisch und politisch als weitgehend gelöst oder unerheblich erscheinen ließ. Für eine kritische Analyse der möglichen Grenzen der gesellschaftlichen Macht wissenschaftlicher Erkenntnis sollte zunächst eine Vorstellung darüber gewonnen werden, worin der Unterschied zwischen wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Wissen und Handeln eigentlich besteht. Aus soziologischer Sicht erweist es sich als ein entscheidender Nachteil der vorherrschenden Begrifflichkeit, das wissenschaftliche Wissen als eine besondere Form menschlichen Wissens zu verstehen, daß sich diese Begriffsbestimmungen in der Regel zu eng an bestimmte und, wenn man den heutigen Stand wissenschaftstheoretischer
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Bemühungen zu Grunde legt, häufig überholte, singuläre wissenschaftstheoretische Ideale wie zum Beispiel Universalität, Rationalität, Notwendigkeit, Wahrhaftigkeit, technischer Erfolg, Erfahrung, Losgelöstheit von menschlichen Handlungsbedingungen usw. - anlehnen. Definitionen dieser Art eliminieren nicht nur die soziale Komponente der Wissenschaft, sondern lassen auch vergessen, daß wissenschaftliches Wissen eine bestimmte Geschichte hat. Die Hypothese, die sich im Zusammenhang mit meiner Problemstellung über die praktischen Grenzen der Macht wissenschaftlicher Erkenntnisse deshalb aufdrängt, ist die Frage nach den die Fabrikation von Erkenntnis beeinflussenden institutionellen und kulturellen Faktoren, die gleichzeitig und in Relation zu praktischen Handlungsbedingungen die praktische Umsetzung wissenschaftlichen Wissens als Handlungsmöglichkeit systematisch fördern bzw. behindern. Zu den besonderen Produktionsbedingungen wissenschaftlichen Wissens, die in die Struktur des Wissens eingehen, gehört insbesondere, so möchte ich unterstreichen, die weitgehende Suspendierung des Handlungsdrucks oder Handlungszwangs. Eines der bedeutendsten Merkmale alltäglicher Handlungsräume ist dagegen gerade ein solcher Handlungsdruck, wie zum Beispiel der Druck, sich für eine bestimmte Handlungsalternative entscheiden oder ex post facto einen vorangegangenen Handlungsablauf erklären zu müssen, einen Feind zu verdammen oder einen Freund zu loben. Alltägliche Handlungsbedingungen unterstützen oder verlangen sogar, wie Rorty9 dies nennt, so etwas wie ein „endgültiges Vokabular". Alltägliche Diskurse sind durchsetzt von schließenden Begriffen wie „wahr", „richtig", „falsch", „schön" oder „nicht akzeptabel". Die performative Funktion dieser Wörter zielt darauf ab, ein Ende zu finden. Einerseits kann man die Handlungsentlastung des wissenschaftlichen Diskurses als Tugend begreifen, indem man etwa unterstellt, daß die mit alltäglichem Handeln typischerweise verbundenen Interessen und Abhängigkeiten die wissenschaftliche Wissensproduktion, wenn auch nur in moderierter und nicht in eliminierender Weise, beeinflussen. Andererseits hat die Suspendierung des Handlungsdrucks in der organisierten wissenschaftlichen Forschung zur Folge, daß wissenschaftliches Wissen solche Qualitäten wie Unfertigkeit, Vorläufigkeit, Expansionstendenz oder Kontrollierbarkeit annimmt, die diesem Wissen in sozialen Kontexten, in denen es in erster Linie auf die Exekution von Handeln ankommt, die Funktionsfähigkeit nehmen können: Wir sind zum Handeln verurteilt oder anders ausgedrückt, „das Leben kann nicht warten", wie Dürkheim 10 es formuliert hat. Die Gesellschaft kann nicht warten, bis ihre Probleme wissenschaftlich gelöst sind. Wissenschaftliches Wissen ist aber in der Regel unter Bedingungen entstanden, die eben dieses Abwarten, diesen Distanzgewinn, ein Überschauen und das Ausschalten von zeitlich fixierten Entscheidungszwängen allgemein oder sogar das Zurücklehnen zu einem entscheidenden Merkmal der Validität oder der Tugenden dieser Wissensform machen.
9 Rorty 1989, 79. 10 Dürkheim 1981,576.
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9. Ausblick oder: Fachwissen schützt nicht vor Machtverlust Sind wir am Ende des Zeitalters der Herrschaft der großen Institutionen wie Staat, Kirche, Wissenschaft, Wirtschaft und Militär? Sowohl in den gesellschaftlichen Funktionen dieser Institutionen als auch in den Verhaltensweisen ihrer Vertreter lassen sich wachsende Zweifel an der Machbarkeit der Verhältnisse ablesen. Ihre Steuerung, Planung oder Prognose ist ungleich schwieriger geworden. Wir haben es anscheinend mit einer sehr viel zerbrechlicheren Gesellschaft zu tun. Woran liegt das? Verantwortlich ist nicht die vielbeschworene Globalisierung oder Ökonomisierung der Gesellschaftsbedingungen, sondern ein Herrschaftsverlust durch Wissen. Die Veränderung in den Handlungsmöglichkeiten, in den Chancen unterschiedlicher gesellschaftlicher Subjekte, etwas in Gang zu setzen bzw. zu be- oder verhindern, ist kein Nullsummenspiel. Es läßt sich beobachten, daß die Ausweitung der Handlungskapazitäten von Individuen und kleinen Gruppen nicht bedeutet, daß etwa der Staat seine traditionellen Handlungsmöglichkeiten einschränken muß. Dennoch wird seine Interventionsfähigkeit geringer, weil sich die Verbesserung und Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten weitgehend auf Einzelne und auf kleine soziale Gruppen beschränkt. Diese werden zu formidablen Widersachern einstmals mächtiger Institutionen. Die Zunahme der politischen Partizipationschancen, das Anwachsen der „informellen" Wirtschaft, die Zunahme abweichenden Verhaltens, der Korruption, der beruflichen Qualifikationen, aber auch das dramatische Wachstum von Geldvermögen können als konkrete Beweise der erheblich erweiterten Handlungskapazität einzelner Gesellschaftsmitglieder und kleiner Gruppen von Akteuren angesehen werden, in denen einerseits der Einfluß des Staates und dessen Kontrollmöglichkeiten nicht zugenommen haben, andererseits aber der Handlungsspielraum vieler erheblich angewachsen ist.
Literaturverzeichnis Dürkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/Main 1981. Faulkner, W./J. Senker/L. Velho: Knowledge Frontiers. Industrial Innovation and Public Sector Research in Biotechnology, Oxford 1995. Hayek, Friedrich A.: The use ofknowledge 1948, 77-91.
in society, in: Ders.: Individualism and Economic Order, Chicago
James, William F.: The Principies of Psychology. Volume One, New York 1890. Mannheim, Karl: Ideologie und Utopia, Bonn 1929. Rorty, Richard: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989. Sibley, Mulford Q.: Utopian thought and technology, in: American Journal of Political Science 17 (1973), 255-281. Starbuck, William H.: Learning by knowledge-intensive firms, in: Journal of Management Studies 29 (1992), 713-740. Stehr, Nico: Arbeit, Eigentum und Wissen: Zur Theorie der Wissensgesellschaft. Frankfurt/Main 1994. Ders.: Die Zerbrechlichkeit der modernen Gesellschaft. Frankfurt/Main 2000.
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Information und Wirklichkeit Während die Philosophie sich weiterhin mit Grundsätzlichem beschäftigt, nimmt die Kultur lustig ihren Lauf, macht angeblich eine Revolution durch und tritt in ein neues Zeitalter ein, ohne daß im Großen und Ganzen die Philosophen es zu bemerken scheinen oder viel dazu zu sagen hätten. Louis Rossetto, ein Mitbegründer der Zeitschrift Wired, meint, die Informationsrevolution sei so umstürzend, daß im Vergleich mit ihr eine politische Revolution ein Kinderspiel sei.1 John Perry Barlow, ein Mitbegründer der Electronic Freedom Foundation, hält die Informationsrevolution für das folgenreichste technologische Ereignis seit der Bewältigung des Feuers. 2 Man mag annehmen, daß Information eine technische Angelegenheit sei, die man wie das Finanzwesen oder die Wasserversorgung am besten den Experten überläßt. Es gibt in der Tat eine technische Informationstheorie. Sie ist jedoch zutiefst fragwürdig und letztendlich enttäuschend. Aber gerade darum bietet sie einen nützlichen Zugang zu den tieferen Problemen von Information und ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit. Ich werde darum kurz mit einigen trockenen Bemerkungen zur Informationstheorie beginnen, um dann auf die philosophisch und kulturell weiteren und aufschlußreicheren Aspekte einzugehen. Das technologische Ereignis, dem wir die Informationsrevolution verdanken, war das Zusammentreffen von zwei Strömungen, von der elektronischen Kommunikationstechnologie mit dem elektronischen Maschinenrechnen. Es fand kurz nach dem Zweiten Weltkrieg statt, und es wurde durch die Erfindung des Transistors und des Computerchips enorm beschleunigt. Die tieferen Wurzeln dieser Entwicklung reichen allerdings bis zum Beginn der Neuzeit zurück. Die vormoderne Wirklichkeit war sinnerfüllt und beredsam. Sie war ein semantisches Plenum. Die Beredsamkeit der Wirklichkeit verstummte jedoch im Licht der Aufklärung. In Amerika ereignete sich dieses Verstummen zum Teil erst im 19. Jahrhundert. Ein Brennpunkt dieser Entwicklung war die Zerstörung der indianischen Lebenswelt durch die Ausrottung der Büffel. Der Historiker Richard White hat die Reaktion der Weißen so beschrieben: „Trotz all ihrer Unterschiede standen diejenigen, die Tiere als Ware betrachteten, und die, die sie als Anlaß zur Fühlsamkeit betrachteten, auf der gleichen Seite einer kulturellen Wasserscheide. Auf der anderen Seite war eine Welt, in der Tiere Personen waren und Mitleid ein Gefühl war, das Tiere den Menschen entgegenbrachten." 3 Die Philosophie des 20. Jahrhunderts versuchte der Sinnentleerung oder Sinnlosigkeit der Wirklichkeit durch die Semantik zu begegnen. Aber die Semantik der natürlichen Welt liegt bis heute im argen. Es waren aber nicht nur die Philosophen, die eine gähnende Lücke im modernen Weltbild feststellten. Obwohl die Naturwissenschaften die gesetzmäßige 1 Rossetto ist zitiert von D. T. Max in The End of the Book, Atlantic Monthly, September 1994, 62. 2 Barlow 1 9 9 5 , 3 6 . 3 White 1994, 237.
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Struktur der Welt immer tiefer und klarer durchleuchteten, schien doch in der Wirklichkeitsordnung von Materie und Energie etwas zu fehlen - ein strukturierender und sinngebender Faktor. Als Claude Shannon 1948 eine quantitative Informationstheorie vorlegte, schien die Gesetzmäßigkeit der dritten Dimension der Wirklichkeit - der Information - erklärt und gesichert zu sein.4 Donald McKay charakterisierte Information als „das, was Form bestimmt", und meinte, eine Informationstheorie „befähigt uns genau und quantitativ zu sprechen. Sie liefert objektiven Ersatz fur intuitive Kriterien und subjektive Vorurteile." 5 Der leitende Gedanke, den Shannon vorfand und weiterentwickelte, war der, daß Informationsmenge und Unwahrscheinlichkeit zusammenhängen. Das Selbstverständliche ist uninteressant und uninformativ. Dagegen tut sich die Wirklichkeit im Unerwarteten am stärksten kund. Eine erste Schwierigkeit ergibt sich aber bereits daraus, daß man den Zusammenhang zwischen Unwahrscheinlichkeit und Information auf dreierlei Art formalisieren kann. Ein genauer Begriff der Unwahrscheinlichkeit setzt einen Möglichkeitsbereich voraus. Der Mörder in einem Krimi ist als Täter ungewiß, wenn er nicht der einzig mögliche Verdächtige ist, sondern, sagen wir mal, einer unter 64 gleichverdächtigen Gästen. Nehmen wir an, ich sei der Gastgeber, und mein Freund, der Detektiv, teilt mir schließlich mit, wer der Täter war. Wie sollen wir diese Information quantifizieren? Da gibt es zunächst zwei offenkundige Möglichkeiten. Weil der Wert der Information mit der Zahl der Möglichkeiten, aus denen sie stammt, steigt, könnte man den Wert der Information mit der Zahl der Möglichkeiten gleichsetzen. Die Information, wer von zwei Verdächtigen der Täter ist, hat dann einem Wert von zwei; die Information, wer von 64 möglichen Tätern der tatsächliche ist, hat einen Wert von 64.6 Die zweite Möglichkeit der Quantifizierung nimmt das Komplement der Wahrscheinlichkeit zu eins als Wert. Die Wahrscheinlichkeit, daß einer von zweien die Untat begangen hat ist 1/2, und das Komplement zu eins ist ebenfalls 1/2. Die Wahrscheinlichkeit, daß es einer von 64 war, ist 1/64, und das Komplement zu eins ist 63/64.7 Der formale Unterschied dieser beiden Arten von Quantifizierung besteht darin, daß im ersten Fall zusätzliche Information immer wertvoller wird, während sie im zweiten Fall immer wertloser wird. Dieser Unterschied entspricht unterschiedlichen Umständen in der Wirklichkeit. Wenn es darum geht, den Schuldigen unter 64 zu finden, ist die Information, daß er sich in einer Gruppe von vier Verdächtigen befindet, wertvoll. Noch wertvoller ist es, zu wissen, daß er einer von zweien ist. Aber für eine Staatsanwältin ist diese Information, falls sie die bestmögliche ist, wertlos. Sie muß das letzte Stück Information liefern können wer von den beiden es war.
4 Shannon, 1998. 5 MacKay 1969, 2 und 17. 6 Dieses Informationsmaß wurde in Betracht gezogen (und dann verworfen) von Hartley 1928. 7 Dieses Informationsmaß wurde entwickelt von Bar-Hillel 1964, 221-274.
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Wenn es aber darum geht, einen Flüchtigen innerhalb von vier Quadratkilometern zu finden, dann ist die Information, daß er sich in den zwei östlichen Quadratkilometern befinden muß, wertvoll; fast ebenso die weitere Information, daß er im nordöstlichen Quadratkilometer zu finden sei. Aber bei jeder weiteren Information, die die vorhergehende Unwahrscheinlichkeit verdoppelt, nimmt der Wert ab, und schließlich ist es unbedeutend, ob wir Information über den letzten Hektar, Ar, oder Quadratmeter haben. Zwischen den Formalismen der zunehmenden und abnehmenden Informationswerte gibt es natürlich einen Mittelweg, wo jedes Stück Information den gleichen Wert hat. Um den dritten Weg zu begreifen, müssen wir den bisher vagen Begriff von einem Stück Information genauer fassen. Das Hilfsmittel ist hier das Zeichen oder Signal. Mit einem Signal kann ich eine Tatsache übermitteln, die keine Alternativen hat, etwa die Tatsache, daß am Morgen die Sonne aufgeht. Aber eine solche Nachricht übermittelt keine Information. Dagegen gibt es an jedem Sonntag der Spielsaison zwei Möglichkeiten, was das Spiel des VfL Konstanz betrifft - Gewinn oder Verlust. Wenn mir zwei Zeichen zur Verfugung stehen, etwa eine Eins und eine Null, kann ich die Information über Sieg oder Niederlage mit einem einstelligen Zeichen übermitteln. Bei einem zweistelligen Zeichen, wo jede der beiden Stellen mit einer Eins oder einer Null besetzt werden kann, kann ich eine von vier Möglichkeiten übermitteln. Mit jeder zusätzlichen Stelle verdoppelt sich die Zahl der Möglichkeiten. Bei drei Stellen sind es also acht Möglichkeiten, bei vier sind es 16 usw. Für Claude Shannon und vor allem für Warren Weaver, der den ersten und einflußreichsten Kommentar zu Shannon geliefert hat, war die exponentiell ansteigende Reihe der Möglichkeiten das grundlegende Phänomen der Information. 8 Um von da zu einer gleichmäßig ansteigenden Reihe zu kommen, gebrauchten sie den Logarithmus zur Basis zwei. Er gibt für die Reihe 2, 4, 8, 16 usw. die Reihe 1, 2, 3, 4 usw., und die Einheit der letzteren Reihe ist das bekannte Bit. Für zwei mögliche Zeichen ergibt sich also eine Informationsmenge von einem Bit, für vier Möglichkeiten zwei Bits, für acht sind es drei usw. Shannons vollständige logarithmische Formel scheint, wie Weaver immer wieder behauptet, das Wesen der Information tief und genau zu erfassen. Es folgt aus ihr z. B., daß einer Tatsache ohne Alternativen eine Informationsmenge von Null entspricht, daß die größte Menge von Information dann übermittelt wird, wenn die Möglichkeiten (wie hier bisher angenommen) gleichwahrscheinlich sind, daß Redundanz die Information verringert, daß ein vierstelliges Zeichen im Vergleich zu einem zweistelligen doppelt so viel und nicht viermal soviel Information enthält usw. Aber all das trifft nur in einem technisch engen und philosophisch enttäuschenden Sinn zu. Der Drehpunkt der Mißverständnisse, die das enttäuschende Ergebnis verschleiern, ist der Begriff des Bit. Weaver und vor allem Shannon betonen immer wieder, daß das Bit nichts mit dem Sinn oder Inhalt von Information zu tun habe, sondern nur ein Maß der Informationsmewge sei. Aber selbst diese Klarstellung ist noch irreführend. Des Rätsels Lösung wird klar, wenn man sich verdeutlicht, daß ein Bit einer von zwei möglichen Buchstaben ist, während ein Buchstabe des Alphabets einer von 26 ist. Ein Bit ist demnach ein
8 Weaver, 1998.
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zweifacher oder binärer Buchstabe, während z. B. das A ein sechsundzwanzigfacher oder vicensinärer Buchstabe ist, ein Vicenisit sozusagen. Zu beachten ist, wie verhältnismäßig eindrucksvoll es klingt, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich Ihnen bisher 60 Kilobits Information vorgetragen habe, wie mysteriös es sich anhört, wenn ich statt dessen von 7,5 Kilovicenisits spreche, und wie leer oder gegenstandslos es klingt, wenn ich Ihnen sage, daß mein Vortrag bisher 7500 Buchstaben lang war. 9 Wieviel Information enthalten 7500 Buchstaben? Weaver versucht immer wieder dieser Frage dadurch eine interessante Antwort zu geben, daß er Informationsmenge mit Wahlfreiheit gleichsetzt, was darauf hinausläuft, daß man Information als Auswahl aus einer Zahl von Möglichkeiten betrachtet. Unter wieviel Möglichkeiten hatte ich zu wählen, als ich die 7500 Buchstaben aneinanderreihte? Es waren 267500 - eine unvorstellbar große Zahl. Selbst wenn man die Zahl halbiert oder viertelt, um der Redundanz der deutschen Sprache gerecht zu werden, ist die Zahl noch unbegreiflich, und Reden oder Schreiben stellen ein Auswählen unter Möglichkeiten nur in einem abstrakten und irreführenden Sinn dar. Natürlich kann ich sagen, daß 7500 Buchstaben 60 Kilobits Information bedeuten. Aber ebenso gut und genau kann ich sagen, daß 7500 Buchstaben 7500 Buchstaben von Information darstellen - was tautologisch ist. Man mag versuchen, den Sinn der Informationsmenge durch eine Ceteris-paribus-Klausel zu retten. Ceteris paribus enthalten 7500 Buchstaben doppelt so viel Information wie 3750 Buchstaben. Aber die Klausel wird nur unter engen und künstlichen Umständen erfüllt. In Wirklichkeit sind die Bedingungen nie gleich. Enthält Der Zauberberg mehr oder weniger Information als Die Buddenbrooks? Man könnte wohl sagen, daß Die Buddenbrooks mehr enthält. Der Roman erzählt von mehreren Generationen und nicht nur von sieben Jahren. Er hat mehr Hauptcharaktere als Der Zauberberg usw. Wir haben wohl einen Sinn dafür, daß in der Odyssee mehr geschieht als in Hermann und Dorothea. Der Begriff von mehr oder weniger Information ist nicht leer. Aber er läßt sich formal nicht fassen. Das Einzige, was man klar und sicher von Buchstaben und Bits sagen kann, ist die Feststellung, daß ihre Anzahl die Länge eines Schriftstückes oder den Informationsraum einer Festplatte angeben. Wie oder womit ein solcher Raum mit Information befrachtet wird, läßt sich a priori nicht sagen. Das ist Informationswissenschaftlern und -technikern durchaus klar. Hat dann das schleichende Mißverständnis von Informationsmenge überhaupt wesentliche kulturelle Folgen? Die Frage muß wohl bejaht werden. Wir leben im Informationszeitalter oder erleben eine Informationsrevolution, so wird immer wieder argumentiert, weil uns so viel mehr und immer mehr Information zur Verfugung steht. Die Gefahr besteht, so heißt es, daß die Oberklasse in informationsreichen und die Unterklasse in informationsarmen Umständen lebt. „Eine Wochentagsausgabe der New York Times", sagt Richard Saul Wurman, „enthält mehr Information als die normale Person im England des 17. Jahrhunderts wohl während ihres ganzen Lebens erfahren hat." 10 Im Hintergrund solcher Behauptungen steht immer die Überzeugung, daß die steigende Anzahl von Bits, Bytes, Kilobytes, Mega-
9 Ohne Leerstellen und Satzzeichen und angenommen, daß ein Buchstabe einem Byte gleichkommt. 10 Wurman 1989, 6.
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bytes, Gigabytes und Terabytes, die uns Computer zur Verfugung stellen, den Beweis dafür bieten, daß wir unvergleichlich informationsreich sind. Die technische Informationstheorie ist für ein philosophisches Verständnis von Information in Kultur und Gesellschaft nicht unerheblich, aber sie ist offensichtlich unbrauchbar als Grundlage für eine philosophische Informationstheorie. Wie kann man aber den tieferen Problemen der Information begrifflich beikommen? Wir wissen vom hermeneutischen Zirkel, daß wir unser Ziel nur erreichen können, wenn wir im voraus eine Ahnung davon haben, wie es wohl aussehen wird. Lassen Sie mich darum vorgreifend sagen, daß Information das Gewebe ist, das uns mit der weiteren Welt verbindet, daß dieses Gewebe drei verschiedene Webarten zeigt, die ich natürliche, kulturelle und technologische Information nenne, und daß schließlich ein erstrebenswertes Leben eine Harmonie der verschiedenen Webarten erfordert." Der Schlüssel zu diesem Gewebe ist die Einsicht, daß Information als Relation zu Verstehen ist. Der Kern dieser Relation ist eine Beziehung von einer Person, einem Zeichen und einer Sache: Eine Person wird von einem Zeichen über eine Sache informiert. Man kann diese Relation grob nach der Fregeschen Semantik verstehen. Die Sache ist die Bedeutung der Information, und was das Zeichen übermittelt, ist der Sinn der Sache. Zwei Termini müssen allerdings dieser Relation noch hinzugefugt werden. Ob Information zustandekommt, hängt davon ab, was jeweils in einem Zusammenhang als Zeichen gilt und ob die Person die erforderliche Intelligenz besitzt. Die ganze Informationsrelation lautet demnach so: Intelligenz vorausgesetzt, wird eine Person von einem Zeichen über eine Sache in einem gewissen Zusammenhang informiert. Information im ursprünglichen Sinn ist eine fünfstellige Relation. Das Wort Information bezeichnet aber auch oft einen impliziten Teil der Relation, nämlich das über-eine-Sache, was wir den Sinn der Sache oder den Inhalt des Zeichens und dann schließlich auch die Information über die Sache nennen. Natürlich könnte die Relation noch verfeinert werden. Intelligenz könnte in ihre angeborenen und erworbenen Teile zerlegt werden, der letztere wiederum in die Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten und die Kenntnis von Umständen usw. Zusammenhang kann in Zeit und Raum aufgeteilt werden. Verschiedene adverbiale Modi und der Wahrheitswert könnten hinzugefugt werden usf. Das Problem ist hier die Uferlosigkeit solcher Verfeinerungen, die schließlich die Relation so komplizieren, daß sie ihre klärende Funktion immer mehr verliert. Information als Relation muß von Information als Struktur unterschieden werden. Der letztere Begriff mag für die Naturwissenschaften wichtig sein, ist aber fur die Kulturkritik unbrauchbar, weil schließlich alles und jedes Struktur besitzt. Information als Struktur ist einer der Begriffe, die zwischen Allem und Nichts unterscheiden und darum die entscheidenden Unterschiede innerhalb von Kultur und Gesellschaft nicht erfassen können. Ähnlich steht es mit dem kognitiven Begriff der Information, der jedwede kognitive Beziehung zwischen Subjekt und Objekt betrifft. Was hier verlorengeht ist der Unterschied zwischen Gegenwart und Bezug, der dem Unterschied zwischen Ding und Zeichen entspricht.
11 Dies habe ich ausführlicher dargelegt in Borgmann 1999.
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Wir müssen darum neben der strukturellen und kognitiven Information eine dritte Art unterscheiden. Wir können sie instruktive Information nennen, weil ihre ursprüngliche Funktion darin besteht, uns über die weitere Wirklichkeit zu unterrichten. Die entfernte Wirklichkeit steht natürlich im Gegensatz zur gegenwärtigen. Gegenwart und Bezug sind die beiden Seinsweisen, die allen Gegenständen irgendwie zu eigen sind. Jeder Gegenstand steht in unendlich vielen Bezügen und hat seine eigene Art von Gegenwart. Aber je nachdem ob Gegenwart oder Bezug vorherrscht, ist ein Gegenstand ein Ding oder ein Zeichen. Spuren im Schnee sind Zeichen. Wenn wir das Reh, das sie hinterlassen hat, plötzlich und aus der Nähe zu Gesicht bekommen, stehen wir einem Ding gegenüber. Gegenwart ist immer vorrangig. Ein Zeichen bezieht sich auf etwas, was anderswo gegenwärtig ist. In der kognitiven Wissenschaft löst sich alles in Bezüge auf, und das mag methodisch fruchtbar sein. Aber fur ein Verständnis von Information in der gegenwärtigen Kultur ist Gegenwart kritisch. Das Zeichen ist der Drehpunkt der Informationsrelation. Zeichen haben sich zuerst in der natürlichen Umgebung enthüllt. Natürliche oder beiläufige Zeichen vermitteln nicht nur Menschen sondern auch Tieren Information. Ohne solche Zeichen wären Menschen und Tiere, den Pflanzen ähnlich, auf ihre unmittelbare Umwelt beschränkt. Gestirne, Wolken und Spuren erleuchten als Zeichen die weitere Welt von Raum und Zeit. Sie machen die Wirklichkeit durchschaubar. Die ursprüngliche Welt, in der sich das Menschenwesen zur Grundstufe der Sammlerund Jägerkultur entwickelt hat, war dank der natürlichen Information durchschaubar und verständlich. Solche Durchschaubarkeit setzt eine bestimmte semantische Ordnung voraus, nämlich eine Welt beredsamer Dinge, unter denen sich gewisse Dinge sowohl durch Gegenwart wie auch durch Bezugskraft auszeichnen. Wir können diese hervorragenden Dinge Wahrzeichen nennen. Ein Berggipfel, ein Baum oder eine Quelle konnten Wahrzeichen sein. Als Orientierungspunkte hatten sie eine beherrschende Gegenwart und besondere Bezugskraft. Sie galten darum als heilig. Was die menschliche Existenz in einer so geordneten Welt betrifft, so kommen vermutlich die eidetische Phänomenologie und die evolutionäre Psychologie zum gleichen Ergebnis. Das Menschenwesen hatte sich so entwickelt, daß es dieser wohlgeordneten Welt gerecht werden konnte und sich darum in dieser Welt wohl fühlte. Natürlich war die Wirklichkeit ständig von der Möglichkeit von Hunger, Verletzung, Erkrankung und Überfällen umschattet. Aber in der Helle von Gesundheit, Fruchtbarkeit und Ruhe war die ursprüngliche Lebensweise wohl gesegnet. Ein Vorzug sowohl wie ein Nachteil natürlicher Information liegt darin, daß natürliche Zeichen aus der Umwelt hervortreten, auf dieses oder jenes verweisen und dann wieder verschwinden, entweder indem sie sich auflösen oder indem die Zeichen wieder zu Dingen werden. Der Vorzug besteht darin, daß die Gegenwart der Dinge nicht durch Zeichen überlagert wird. Der Nachteil ist der, daß Information so flüchtig ist wie die natürlichen Zeichen. Daher gesellten sich allmählich konventionelle und absichtliche Zeichen zu den natürlichen und beiläufigen.
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Natürliche Information unterrichtet uns über die ferne Wirklichkeit. Die Information, die uns durch konventionelle Zeichen vermittelt wird und die ich kulturelle Information nenne, ergänzt und verstärkt zunächst die Funktion der natürlichen. Ein Steinhaufen erinnert uns eindeutiger an die Stelle, wo wir unser Lager hatten als die verblaßten Spuren im Gras. Ein Kerbholz sagt uns zuverlässiger als Erinnerung, wie oft der Mond dieses Jahr voll gewesen ist. Die informierende Macht kultureller Information wurde durch die Erfindung des Schreibens und Zeichnens enorm gesteigert. Als diese beiden Arten der kulturellen Information durch die Erfindung des Druckens im 15. Jahrhundert noch einmal potenziert wurden, begann Information die Wirklichkeit nicht bloß durchschaubar zu machen, sondern geradezu übersehbar und übersichtlich. Listen, Tabellen, Berichte und Land-, See- und Sternkarten trugen dazu bei, daß die Welt in ihrer Ganzheit sichtbar wurde. Kulturelle Information steigerte nicht nur die Funktion der natürlichen, sondern besaß dazu noch eine eigenständige Kraft, nämlich als Information für die Umgestaltung und Bereicherung der Welt. Die Zeichen kultureller Information sind nicht vorübergehend wie die der natürlichen. Sie haben eine Stabilität, die es uns erlaubt, Pläne und Erfindungen allmählich und in allen Einzelheiten zu entwickeln. Schematisch können wir sagen, daß natürliche Information uns über die Wirklichkeit unterrichtet und so die Wirklichkeit durchschaubar macht, während kulturelle Zeichen uns Information für die Wirklichkeit liefern und uns helfen, die Wirklichkeit zu bereichern. Der so entstehende Reichtum ist moralischer wie auch materieller Art. Kulturelle Information erlaubt es uns, nicht nur großartige Musik aufzuführen; sie ermöglicht auch durch geschriebene Verfassungen, Ordnungen, Gesetze und dergleichen ein gemeinschaftliches und gesellschaftliches Zusammenleben, das weit kunstvoller und ausdrücklicher ist als das mündlicher Kulturen. Philosophisch und kulturell ist nun entscheidend, daß dieser Reichtum neue Fertigkeiten erforderte. Kulturelle Information ist paradigmatisch Text, Partitur und Bauplan. Materiell gesehen ist kulturelle Information dünn und unerheblich. Das spiegelt sich im Schrumpfen der Informationsrelation von fünf auf zwei Stellen. Kulturelle Information besteht aus Zeichen über oder für Dinge. Sie wird erst wirksam in der Wirklichkeit, wenn sie von Lesern, Musikern und Bauleuten realisiert wird. Solche Realisierung erfordert, daß die zweistellige Informationsrelation zur fünfstelligen Realisationsrelation erweitert wird: von Zeichen über oder für Dinge zur Intelligenz von Personen, die Zeichen in Dinge innerhalb eines wirklichen Zusammenhangs verwandeln. Das kann aber auf breiter Ebene nur geschehen, wenn es zahlreiche Leute gibt, die sich auf die Künste des Lesens, Spielens und Bauens verstehen. Was philosophisch an der Realisierung kultureller Information so hervorsticht, ist der Gegensatz zwischen der Kargheit der bezeichneten und dem Reichtum der verwirklichten Information. Offensichtlich muß etwas sehr Bedeutsames zu Text, Partitur und Bauplan hinzutreten, damit aus ihnen gemeinschaftliches Leben, musikalische Aufführung und ein wirkliches Gebäude entstehen können. Dieser Zusatz zur Information ist eine tiefe, gemeinschaftliche Kenntnis der Wirklichkeit, aus der heraus es allen klar ist, was eine Diskussion und eine Abstimmung sind, wo der Kammerton a liegt und was Streichinstrumente sind, wie man Steine im Lot aufmauert und waagerechte Balken einzieht und vieles mehr. Kulturelle Information liegt sozusagen zwischen dem kulturellen und gemeinschaftlichen Einatmen
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und Ausatmen, der Diastole und Systole. Musizieren nach Noten verlangt z. B. die vorgängige Vertrautheit mit der Wirklichkeit und liefert dann eine Zugabe zur Gestaltung und zum Reichtum der Wirklichkeit. Wie kam es nun zur technologischen Information? Historisch besehen ist sie der Sprößling der Fernmeldetechnik und der Technik der automatischen Rechner. In ihrer gegenwärtigen reifen Form ist sie ausgezeichnet durch das binäre digitale Alphabet, durch die Grammatik der Booleschen Algebra und durch die Fähigkeit der Computer, ungeheure Massen von Programmen und Daten zu speichern und in Bruchteilen von Sekunden zu verarbeiten. Das Ganze von Hardware, Software, Daten und Leitungen heißt heutzutage Informationstechnologie. Sie verdient als schöpferische Errungenschaft und als Instrument wissenschaftlicher und technologischer Leistungen größte Bewunderung. Das Ausmaß der technischen Erfolge, die im Computer Wirklichkeit geworden sind, ist vor allem daraus ersichtlich, daß sie jedes Vergleichs spotten und alle beispielhaften Superlative erschöpfen. Computer haben Einsichten in der Mathematik und in den Natur- und Sozialwissenschaften ermöglicht, die sonst von der Kompliziertheit oder der Menge der Daten verhüllt geblieben wären. Ähnliches gilt in der Medizin. Die wissenschaftlichen und technologischen Leistungen der Informationstechnologie rühren daher, daß technologische Information die Leistungen ihrer Vorgänger radikal steigert. Die Durchschaubarkeit und Übersichtlichkeit der Wirklichkeit wird nun zur Durchsichtigkeit. Der menschliche Körper, die Erdkruste, die Struktur des Kosmos werden mit Hilfe von Computern transparent. Reichtum und Besitztum werden von der Informationstechnologie zur absoluten Kontrolle gesteigert. Äußerlich unterscheidet sich eine Boeing 707 aus den frühen sechziger Jahren kaum von der 777 der späten neunziger. Aber sowohl in der Konstruktion wie in der Struktur trennt eine neue Welt das erste vom zweiten Flugzeug. Elektronisch vermittelte Information macht den Bau eines Flugzeuges effizienter. Computer und elektronische Regelung machen das Flugzeug sicherer, bequemer und umweltfreundlicher. Ähnliches gilt von der gesamten materiellen Kultur unserer Tage. Sie hat ihre äußeren Formen im wesentlichen vor dreißig bis vierzig Jahren erhalten. Unter den Oberflächen haben sich jedoch überall Computer eingenistet. Sie gestalten unsere Welt schmiegsamer, gefalliger, leichter und heller. Geradeso wie die kulturelle Information die natürliche nach dem Maßstab der natürlichen übertraf, aber dann auch eine eigene und neuartige Funktion besaß, so steht es mit der technologischen. Sie übertrifft die natürliche als Information über die Wirklichkeit und die kulturelle als Information für die Wirklichkeit. Ihre neuartige Funktion besteht darin, daß sie der Wirklichkeit virtuell als Wirklichkeit gegenübertritt und diese gelegentlich verdrängt. Man kann sich begrifflich und beispielhaft den Übergang von der kulturellen zur technologischen Information so vorstellen. Die Partitur einer Kantate kann man als Instruktion für die Verwirklichung oder Aufführung der Kantate verstehen. Die Anweisung ist natürlich sehr unvollständig. Entscheidungen über Tonhöhe, Besetzung, Tempo, Ausschmückung usf. müssen getroffen werden, ohne daß man sich dabei auf die Partitur stützen könnte. Nun stellen wir uns eine Partitur vor, in der all diese Entscheidungen und überhaupt alle denkbaren Einzelheiten entschieden und niedergeschrieben sind. Wieviel mehr Informationsraum würden wir dafür benötigen? Grob geschätzt braucht man zwischen 150 000 und 200 000
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binären Buchstaben oder Bits für die Partitur und den Text einer Bach-Kantate. Eine erschöpfend vollständige und eindeutige Instruktion für die Verwirklichung einer solchen Kantate bedürfte dagegen sieben Millionen mal so viele Bits, d. h. etwa 1,2 Milliarden Bits oder 150 Megabytes. Eine solche Masse von Daten ist natürlich menschlich nicht mehr lesbar. Ein Computer dagegen, der mit einem Leseapparat, Verstärker und Lautsprecher ausgerüstet ist, kann diese Daten nicht nur lesen, sondern auch verwirklichen. Natürlich war ein CD-Spieler nicht die Antwort auf eine vorliegende Masse von Information für die Verwirklichung von Musik, vielmehr war er das digitale Gegenstück zu einer analogen Vinylplatte und das Zubehör zum CD-Spieler. Wenn wir unter technologischer Information nicht nur die Bits meinen, sondern auch die Apparate, die die Bits speichern, verarbeiten und in Ton oder Bild umwandeln, dann können wir den Zweck unseres Gedankenexperiments so fassen: Technologische Information ist auf ihre neuartige und eigenartige Weise selbstrealisierend und verdrängt als solche die ursprüngliche Realität. Was uns von einer Compakt-Disk zu Gehör kommt, wird allgemein nicht als Information über die Wirklichkeit verstanden, etwa als Aufzeichnung von Ereignissen in einem Tonstudio, noch wird es als Information für die Gestaltung der Wirklichkeit verstanden, wie etwa eine Partitur. Vielmehr wird sie als die Wirklichkeit von Musik empfunden. Technologische Information als Wirklichkeit findet ihre reinste Form in der virtuellen Realität, denn hier ist die Verbindung zur ursprünglichen Wirklichkeit vollkommen abgebrochen. Die virtuelle Realität ist streng genommen nicht ein Bericht oder ein Abbild einer wirklichen Region der Welt, sondern eine Welt und Wirklichkeit für sich. Hier schrumpft die Informationsrelation abermals von fünf auf zwei Stellen, aber auf andere Weise. Intelligenz, Dinge und Zusammenhang treten in den Hintergrund, wenn sie nicht gar vollends verschwinden, und die Person verbleibt mit selbständigen, selbstrealisierenden Zeichen. Videospiele sind die bekanntesten Beispiele virtueller Realität. Kulturell am interessantesten und bedenklichsten sind allerdings die gemischten Fälle von Virtualität und Wirklichkeit. In den Mehrfachbenutzer-Domänen (MUDs oder MOOs) liegt das Schwergewicht auf der virtuellen Seite, während es bei e-mail auf der wirklichen Seite ruht. Man kann sich die kulturelle Bedeutung der technologischen Information am besten so klarmachen. Die Gesamtheit digitaler und elektronisch vermittelter Information ist eine eigenständige Wirklichkeit, die wir mit William Gibson Cyberspace nennen können. Seine zentrale Region, die von der ursprünglichen Wirklichkeit am weitesten entfernt ist, wird von der virtuellen Realität beherrscht. Von da reihen sich dann die Mischformen in weiterem oder näherem Abstand zur wirklichen Welt an, und entsprechend haben sie mehr oder weniger Anteil an der charakteristischen Struktur des Cyberspace. Was ist diese Struktur, und was macht sie so berückend? Seit dem Beginn der Neuzeit war es das Ziel der Technik, Raum und Zeit zu überwinden. Die Überquerung des Atlantik, die noch vor zweihundert Jahren ein wochenlanges und mühseliges Unternehmen war, ist heute bequem und in wenigen Stunden zu bewältigen. Um 1800 war man auf dürftige, unregelmäßige und veraltete Nachrichten angewiesen, wenn man sich ein Bild vom Weltgeschehen oder auch vom Leben ferner Verwandter machen wollte. Um die Mitte dieses Jahrhunderts konnte man sich auf Zeitungen, Wochenberichte und den Rundfunk verlassen.
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Aber die Ungeduld und Begier des heutigen Menschen ist unnachgiebig. Wie geht es Harvard in dieser Saison mit dem Rudern? Wie steht es in diesem Augenblick mit meinen Aktien? Ist Ernst Wiecherts Das einfache Leben noch im Buchhandel erhältlich? Vor zwanzig Jahren mögen einem solche Gedanken durch den Kopf gegangen sein. Aber sie wurden nie zu eigentlichen Fragen, weil die Kosten einer Antwort den Wert der Frage weit überstiegen. Im Cyberspace sind jedoch die Antworten sofort erhältlich. Die Struktur des Cyberspace ist abstandslos und allumfassend. Die erstaunlichen Fortschritte in der Computertechnologie, von denen wir fast täglich lesen, dienen vor allem dem Zweck, die letzten Wartezeiten auszumerzen und die übrigen Lücken noch zu füllen. So wird die Durchsichtigkeit, die die Informationstechnologie in den Wissenschaften geschaffen hat, zur unerträglichen Leichtigkeit des Seins. Der Cyberspace ist aber nicht nur eine Sphäre, in die man eintreten muß, um sich kognitiv der Wirklichkeit zu bemächtigen. Er folgt uns mit seinen Fühlarmen hinaus in die Welt und entlastet uns überall. Mit einem GPS kann man sich in der Wildnis von Montana nicht mehr verirren, und mit einem Handy bricht die Verbindung mit dem Cyberspace nie ab. Sobald alle die Rinder im Westen Amerikas mit Computerchips und Sendern ausgestattet sind, können den Ranchern keine Tiere mehr in den Bergen und Schluchten verlorengehen. Aber die Leichtigkeit des Seins wird dort am bedenklichsten, wo man im Cyberspace nicht ein unsichtbarer Beobachter, sondern ein Teilnehmer und Bewohner ist. Von den Fürsprechern der Ausbildung im Cyberspace wird immer wieder betont, daß dort eine neue Art der Gleichberechtigung herrscht. Im Cyberspace kann man die Äußerlichkeiten seines Aussehens, Alters und Geschlechtes ablegen und sich frei und sicher gebärden. In den Unterhaltungsräumen des Cyberspace kann man sogar die Makel des Aussehens und Könnens durch begehrenswerte oder interessante Züge ersetzen. Man kann sich den Charakter und Körper zueignen, den einem ein neidisches Schicksal vorenthalten hat. In der Kultur, zum Unterschied von Wissenschaft und Technik, hat technologische Information also eine zweifache Funktion. Zum einen schiebt sie sich zwischen den Menschen und die ursprüngliche Wirklichkeit in den Fällen, wo jemand sich den Spielen und Unterhaltungen des Cyberspace hingibt. Natürlich kann niemand der wirklichen Welt ganz entkommen. Der Cyberspace ist letztlich in die Wirklichkeit eingefügt, und nicht umgekehrt. Man kann im Cyberspace nicht essen oder schlafen. Es ist aber wohl möglich, daß man den Schwerpunkt seines Lebens in den Cyberspace verlegt und die Wirklichkeit zur Infrastruktur absinken läßt. Hier gibt es dann, wie bei jeder menschlichen Lebensweise, ein Prinzip der Symmetrie, demnach Mensch und Umwelt ein Gleichgewicht finden müssen. Im Cyberspace sind die Schwerkraft und der atmosphärische Druck der Wirklichkeit aufgehoben, und der Mensch wird entsprechend zu einem frei schwebenden und aufgedunsenen Wesen. Aber auch in diesem Zustand kann er die Festigkeit und Anziehungskraft der Erde nicht vergessen und jagt ihnen verzweifelt nach. Aber selbst wenn man gegen die Versuchungen im Innern des Cyberspace gefeit ist, bleibt einem doch das ursprüngliche Gewicht der Wirklichkeit unwiederbringlich. Hier kommt die zweite Funktion der Informationstechnologie ins Spiel. Sie hat uns die gesamte Wirklichkeit erleuchtet und erleichtert. Man kann zwar, wie die Amischen in Amerika, die
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Uhr zum frühen 18. Jahrhundert zurückdrehen und alles Neue fernhalten. Aber so etwas ist nicht die Rückkehr zum Ursprung, sondern die Konstruktion eines Freilichtmuseums. Man wird auf einer Wanderung in den Bergen Montanas auf Handy und GPS verzichten können. Aber das wäre, wie das Klettern ohne Seil, bewußte Waghalsigkeit. Durch die Informationstechnologie hat sich die Wirklichkeit von Grund auf verwandelt. Die Helle und Leichtigkeit des Seins scheinen unerträglich und unentrinnbar. Aber wenn man genauer hinsieht, zeigt sich, daß die Härte und Schwere der Wirklichkeit sich keineswegs aufgelöst, sondern vielmehr verwandelt und verlagert haben. In der Frühzeit der Moderne enthüllte sich die Wirklichkeit als materielle Herausforderung, der die Menschheit durch die aggressive Energie der Technik begegnete. Heute ist die Aufgabe, die uns die Wirklichkeit stellt, eine im weiten Sinne moralische. Wenn die Natur uns gebietet, sie zu achten und zu schützen, so ist das nicht eine Aufforderung materieller Art wie etwa ein Unwetter. Was uns da anspricht ist eine moralische Stimme. Es ist ein Anruf der gleichen Art, der uns gelegentlich dazu bewegt, aus dem Auto auszusteigen und die natürliche Umwelt Schritt für Schritt zu erleben. Die gleiche stille Beredsamkeit erfahren wir, wenn wir den Fernsehsessel verlassen, um an einem Schauspiel, Konzert oder Gottesdienst teilzunehmen. Und endlich schließt sich dieser Kreis moralischer Stimmen, wenn wir uns durch gemeinsames Engagement in der Wirklichkeit einander tiefer erschließen und mitteilen. Technologische Information in ihrer alltäglichen kulturellen Funktion verschlimmert die schlimmsten Züge der gegenwärtigen Kultur - soziale Vereinzelung, geistige Zerstreutheit, körperliche Schwächung. Die Besinnung auf natürliche und kulturelle Information ist ein möglicher Weg, dieser Misere zu begegnen. Das eigentliche Spielfeld der natürlichen Information ist eine natürliche oder urbane Welt, die von Wahrzeichen geordnet, durch das Zusammenspiel von Dingen und Zeichen verständlich und durch körperliche Bewegung erfahrbar ist. Kulturelle Information provoziert durch Texte, Partituren, Pläne und dergleichen unsere Kunstfertigkeit und verbindet uns kräftiger und eindrücklicher mit den weiteren und ferneren Regionen von Zeit und Raum und von Geschichte und Wissenschaft. Wenn wir so durch natürliche Information unsere Orientierung und durch kulturelle Information unsere Tüchtigkeit wiedergewonnen haben, dann werden die Möglichkeiten der technologischen Information von selbst ihre angemessene Verwirklichung erfahren.
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Walther Ch. Zimmerli
Vom Unterschied, der einen Unterschied macht Information, Netzwerkdenken und Mensch-Maschine-Tandem Voraussetzungslos mit einer substantialistischen Erörterung der Frage, was Information sei, oder auch nur mit einer funktionalistischen Begriffsbestimmung von .Information' zu beginnen, ist nicht Sache der philosophischen Reflexion. Daher seien zunächst einige Voraussetzungen oder Vorannahmen mindestens genannt. Erste Annahme: Was auch immer unter Information' verstanden werden mag, für die folgenden Überlegungen gilt jedenfalls eines: .Information' ist nicht gleichbedeutend mit ,Wissen'. Trotzdem gibt es so etwas wie einen konsistenten Zusammenhang der Bedeutung von Information' und ,Wissen', und es ist für niemanden, der Philosophieren gelernt hat, verwunderlich, daß das Verhältnis von Information und Wissen etwas mit Reflexion, und zwar strukturell im Sinne von Selbstreferentialität, zu tun hat. Es kann mithin bereits jetzt schon vermutet werden - und diese Sprachregelung werde ich im folgenden auch vertreten - , daß ,Wissen' so etwas wie .Information einer höheren Reflexivitätsstufe' bedeutet. Zweite - stärker bekenntnishafte - Annahme: Ich glaube nicht an die Wissensgesellschaft. Genauer: Ich vermute, daß der Begriff ,Wissen' im Wort ,Wissensgesellschaft' anders verwendet wird als in anderen Kontexten. Wenn wir sagen, wir lebten in einer Wissensgesellschaft, dann meinen wir sicherlich nicht, daß die Menschen heute mehr wüßten als die vor einer Generation oder mehreren (wenn wir unter ,Wissen' die mit den begründeten Geltungsansprüchen von Wahrheit der kognitiven, Richtigkeit der normativen und Wahrhaftigkeit der performativen Gehalte verbundenen Überzeugungen verstehen). Ich neige dazu zu sagen: Wenn wir einen spezifischen Terminus suchen, um unsere Gesellschaft von anderen Gesellschaften, die in irgendeiner Hinsicht auch auf Wissen beruhen, zu unterscheiden, dann wäre das wohl eher noch als derjenige des Wissens der Terminus ,Informationstechnologie'; wir lebten mithin also in der Informationstechnologieoder Wissenstechnologiegesellschaft. Unsere Gesellschaft unterscheidet sich von früheren und vermutlich auch von späteren nicht dadurch, daß sie auf Wissen gegründet ist, sondern dadurch, daß dieses Wissen in einer technologischen Form verfugbar ist, ohne daß man, um es präziser zu sagen, im selbstreflexiven Sinne davon etwas weiß. Jürgen Mittelstraß hat sehr zu Recht gesagt, daß Wissensgesellschaften eigentlich Gesellschaften seien, die ein Wissen von sich selbst, und zwar sowohl im normativen als auch im deskriptiven Sinne hätten. 1 Insofern könnte man sagen, eine Wissensgesellschaft heute bestehe unter anderem darin zu wissen, daß die Wissensgesellschaft heute gar nicht eine (i/;'.s.sen.s'gesellschaft, sondern eine Wissenstechno/og/egesellschaft ist. Diesen zwei bekenntnishaften gedanklichen Voraussetzungen sei noch eine dritte hinzugefügt: Ich bin ein überzeugter und in der Wolle gefärbter Pragmatist. Das bezieht sich auf
1 Vgl. den Eröffnungsvortrag von J. Mittelstraß in diesem Band, 7-13.
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zwei Bereiche: Der eine ist definiert durch die semiotische Kategorie der Pragmatik. Dementsprechend werde ich also versuchen, hier das Problem der Informationspragmatik anzugehen. - Der andere Bereich ist zu verstehen im Sinne des amerikanischen Pragmatismus. Das bedeutet, daß sich viele Definitions- und Bedeutungsdiskurse über das Verhältnis von Information und Wissen sinnvollerweise dadurch überflüssig machen oder ersetzen lassen, daß wir uns fragen: Welchen Effekt und welchen Nutzen hat eine Anwendung von Wissensinhalten oder Informationen oder beides? Damit komme ich zum Überblick über den Gang der von mir geplanten Argumentation: Zunächst möchte ich etwas zum Verhältnis von Informationspraxis und Theorie, in diesem Falle: Informationsphilosophie sagen (1) und dann zum philosophischen Kern, d.h. zur Frage: Was heißt Information'? vorstoßen, allerdings nicht, um einen weiteren Defmitionsvorschlag zu unterbreiten, sondern um zu zeigen, inwiefern wir, allem gegenteiligen Anschein zum Trotz, konsistent von ,Information' sowohl im wissenschaftlichen als auch im technischen oder im kulturellen Bereich sprechen können (2). Ich möchte drittens auf die Konsequenzen für das Verhältnis von Information, Informationstechnologie und Informationsnutzer in dem, was ich mit von einem von Müller-Meerbach stammenden Begriff ,Mensch-Maschine-Tandem' nenne, 2 eingehen (3), um es einzubetten in das sich gegenwärtig am Horizont abzeichnende Netzwerkdenken (4). Dabei geht es mir nicht so sehr darum, die Konsequenzen des Internet und der virtuellen Realität für unsere Zukunft zu beschwören, sondern eher um einige Gedanken darüber, wie das Denken in Netzwerken unser gesamtes Denken in Zukunft beeinflussen könnte, um daraus etwas zum Verhältnis von Informations-, Wissens- oder Nichtwissensgesellschaft abzuleiten (5).
1. Wie die Informationspraxis die Theorie informiert Den Beginn des ersten Teils mag der Hinweis darauf abgeben, daß sich das Heer der Philosophen hinsichtlich des Informationsbegriffes in (mindestens) zwei Lager trennt: 3 Das eine Lager verwendet und beansprucht so etwas wie einen genuin naturalistischen Informationsbegriff; Manfred Eigen etwa würde vermutlich so vorgehen, daß er zeigen würde, daß das, was wir Information' nennen, eigentlich auf biologische Information zurückgeht und daß deswegen die kulturelle Information, nach der, kulturalistischer Auffassung zufolge, eigentlich zuerst gefragt werden müßte, etwas Abgeleitetes sei. Dagegen geht das kulturalistische Lager - je nachdem, um welche Art von Kulturalismus es sich dabei handelt, mit oder ohne Postulat der methodischen Ordnung - davon aus, daß man bei den elementaren menschlichen Handlungen ansetzen müsse, so daß .Information' letztlich eine Art von Handlungsbegriff wird. Wenn wir uns nun diese philosophische Informationsbegriffs-Debatte etwas genauer ansehen, stellt sich schon bald heraus, daß sie in charakteristischer Weise an dem, was die 2 Vgl. Müller-Merbach 1987. 3 Vgl. Janich 1998 und die dort abgedruckten Kritiken (182-252) sowie P. Janichs Replik (253-268).
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Informationsprom an Begriffen liefert, vorbeigeht. Es ist nicht ganz leicht, sich des Eindrucks zu erwehren, fast alle Philosophen spielten dabei wieder einmal die Nörgler vom Dienst, die es einfach nicht leiden können, daß andere ziemlich unbefangen mit einem Begriff umgehen, mit dem die Philosophen, wie die Begriffsgeschichte zeigt, seit langem umgehen und über den sie sich eben - wie so häufig in der Philosophie - immer noch nicht geeinigt haben. Und infolgedessen wird den anderen jetzt erst einmal gesagt: Was ihr ,Information' nennt, ist gar nicht Information; wir Philosophen verfugen über den eigentlichen und ihr nur über einen uneigentlichen Informationsbegriff, ihr seid nicht präzise und macht das nicht sauber. Und das trifft in den meisten Fallen sogar fraglos zu! Aber die Frage ist doch: Was sollte Philosophie für einen Zweck haben, wenn sie sich nicht darauf einläßt, daß es so etwas wie die normative Kraft eines faktischen Sprachgebrauchs gibt? Wittgenstein würde uns wahrscheinlich ins Stammbuch schreiben, daß wir unser nutzloses Rechten darüber, was denn nun eigentlich die richtige Begriffsverwendung sein sollte, bleiben lassen und uns zunächst darüber informieren sollen, wie denn die in Rede stehenden Begriffe faktisch gebraucht werden, woraus dann vielleicht eine sinnvolle Bestimmung dieser Verwendung über Familienähnlichkeit resultieren könnte. Dies ist genau der Punkt, um den es mir geht. Es darf in Sachen Sprachgebrauch kein Hegelsches „Um so schlimmer für die Wirklichkeit!" geben, sondern wir müssen versuchen, dem Rechnung zu tragen, was uns die Wirklichkeit der Verwendung des Informationsbegriffs - und zwar vom biologischen bis hin zum kulturellen Bereich - zu sagen hat. Das bedeutet, daß gute Philosophie der Information mindestens doch gut informierte Philosophie sein muß, soll heißen: ein philosophischer Versuch, mit dem Problem von Information und Wissen umzugehen, der sich nicht davor scheut, sich anzuschauen, wie diese Begriffe dort verwendet werden, wo sie gesellschaftlich, wissenschaftlich und technologisch relevant geworden sind.
2. Was heißt Information'? Damit komme ich zu dem Unterfangen, in einem zweiten Schritt einige Optionen zu diskutieren. Zunächst bietet sich eine Option an, die von Carl-Friedrich von Weizsäcker und anderen vorgetragen worden ist und die auf einer ontologischen Lesart beruht. Sie manifestiert sich z. B. in der Rede von „Information als einer Wirklichkeitsart neben Materie und Geist". 4 Es ,gibt' sozusagen Geist und Materie, und dann gibt es auch noch Information. Mit dieser These sollen die Schwierigkeiten, die die Philosophie traditionellerweise mit dem Leib-Seele-Problem und mit dem Zusammenhang von Geist und Materie hat, gelöst werden. In Tat und Wahrheit wird jedoch das Problem nur weiter potenziert, denn wir wissen nicht genau, ob nun Information in der Materie oder im Geist .stattfindet' - abgesehen davon, daß wir nicht genau wissen, was Geist und Materie ist, wenn wir diese ontologische Redeweise wählen. Mit anderen Worten: Das in dieser Formel steckende Deutungsangebot unter ,In4 Vgl. dazu Kroker/Dechamps 1995.
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formation' sei sozusagen etwas ontologisch Drittes, neben Geist und Materie zu verstehen, scheint kein gangbarer Weg zu sein. Mindestens nicht solange nicht gesagt werden kann, wie denn nun die Begriffe .Information', ,Geist' und ,Materie' jeweils verwendet werden und was sie mithin bedeuten. Der Weg in diese Richtung läßt sich durch das ebenfalls von Carl-Friedrich von Weizsäcker zitierte Diktum weisen: „What is mind? No matter! What is matter? Never mind!" 5 Weder, was Geist und Materie, noch was Information ist, steht also zur Debatte, sondern elementare Verwendungen des Begriffes ,Information' außerhalb der Philosophie. -
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Und da fällt einem natürlich vordringlich die Bestimmung von Information aus der Informationstheorie ein, die konstitutiv etwas mit Unterschied zu tun hat. Die Bit-Definition von Information bezieht sich zunächst einmal auf einfachen Unterschied: Sobald ich Unterschied erkennen oder feststellen kann, spreche ich im informationstheoretischen Sinne von ,Information'. Nun kann man sich fragen: Wie spreche ich im informationstheoretischen Sinne von .Information'? Ich spreche von Information' als Zeichen fur den einfachen Unterschied und beschränke mich dabei auf den informationstheoretischen Sprachgebrauch. Aber zugleich weiß ich, daß in meinem normalen, umgangsprachlichen Sprachgebrauch Unterschied alleine zur Bestimmung von .Information' nicht ausreicht; nicht jeder Unterschied ist Information im umgangssprachlichen Sinne, sondern es ist nur eine bestimmte Art von Unterschied, nämlich Unterschied, der etwas zu tun hat mit einem Zeichencharakter, also .Unterschied mit Bedeutung': Ich muß erkennen, daß etwas einen Unterschied macht, und dann muß ich auch noch wissen, was dieser Unterschied bedeutet; erst dann spreche ich in einem elementaren umgangssprachlichen Sinne von ,Information'.
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Dieser Unterschied, der etwas bedeutet, nun im biologischen Sprachgebrauch weiter betrachtet, bedeutet eben nicht nur Unterschied, der etwas bedeutet, sondern Unterschied, der etwas bedeutet und einen Unterschied macht. Wir sprechen dann bei einem Gen von ,Expression'. Auf der einen Seite haben wir die Information, die auf der DNA gespeichert ist, und die macht auf der anderen Seite einen Unterschied in den Lebewesen, die wir nachher untersuchen, sie wirkt sich aus, ist also Unterschied, der seinerseits einen Unterschied macht, nämlich Unterschied in der DNA, der einen Unterschied in der Expression macht.
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Wenn wir das noch einen Schritt weiter reflektieren, dann stellen wir fest, daß auch .Bedeutung' schon diese Bedeutung hat. Auch der Ausdruck ,Bedeutung' wird im semiotischen Sprachgebrauch verwendet zur Bezeichnung eines Unterschieds, der einen Unterschied macht. Was brauche ich dazu? Dazu brauche ich die Überlegung der pragmatischen Einbettung des Zeichendiskurses, also die Überlegung, daß wir Zeichen nicht einfach so haben, sondern daß wir Zeichen in
5 von Weizsäcker 1991, 17.
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einem Zeichen- oder Signalübermittlungskontext haben. Also auch die zeichentheoretische alltagssprachliche Bedeutung von .Information' meint bereits .Unterschied, der einen Unterschied macht'. -
Und diese selbstreflexive oder iterative Wendung läßt sich nun noch mal eine Schraubenwindung weiter drehen. Wann sprechen wir denn im engeren Sinne von .Information' im Sinne von Wissen? Nun dann, wenn jemand über Informationen über Unterschiede, die Unterschiede machen, verfügt; wenn also jemand über Unterschiede von Unterschieden, die Unterschiede machen, verfugt: Das bedeutet also, wenn er oder sie nicht nur Informationen hat, sondern auch sich darüber im Klaren ist, daß er oder sie Informationen hat. Ein typisches Beispiel ist die Frage, wer das Recht auf Zugang zu privaten genetischen Daten hat. Da sprechen wir davon, wer das Recht darauf hat, Wissenszugang zu haben, und wir sagen auch, es gebe bestimmte Personen - das kann man dann ausdifferenzier e n - die das Recht zu einem solchen Wissenszugang haben; andere Personen können per Ausnahmeregelung ein solches Recht bekommen, Ärzte zum Beispiel. Anderen Personen sollten - Stichwort Individual- oder Personaldatenschutz - diese Informationen vorenthalten werden. 6
Was ich also versucht habe, ist zu zeigen, daß wir, wenn wir den Begriff der Information als Unterschied iterieren, dadurch so etwas wie einen konsistenten, sinnvollen und einheitlichen Begriff von .Information' erhalten, der seinerseits erlaubt, in verschiedenen Sphären angewendet, trotzdem die Grundstruktur von Information identisch zu halten. Oder mit anderen Worten: Die vierte Facette von Information wäre - das ist sozusagen ein begrifflicher Vorschlag, den man jetzt überprüfen kann, der sich aber seinerseits am Sprachgebrauch jener Disziplinen orientiert, die mit Information zu tun haben - , daß es so etwas wie eine konsistente Verwendung des Begriffes .Information' gibt, wenn ich nur jeweils auf die Iterationsstruktur achte. In der Fichte-Tradition lassen sich entsprechende Bestimmungen von Wissen finden. Nun kann man natürlich fragen, warum sich das nicht weiter iterieren läßt? Warum kann man nicht vom Unterschied, der einen Unterschied macht bezüglich der Unterschiede, die einen Unterschied machen hinsichtlich von Unterschieden, die einen Unterschied machen, reden?... etc. pp. Wenn man solche Formeln möglichst schnell von sich gibt, dann kann man schon bald den Eindruck traditioneller Philosophie erwecken. Das ist aber natürlich nicht gemeint, sondern was ich meine ist dies: Die doppelte Iteration ist eine strukturell vollständige Beschreibung. Alles was wir noch hinzufugen, bringt nichts Neues an Information. Wir haben dann nur eine leere Iteration derselben Information. Das verhält sich nicht anders, als wenn wir sagen: Wie steht es denn mit dem Selbstbewußtsein in der philosophischen klassischen Theorie, wenn das Selbstbewußtsein das Be6 Vgl. Zimmerli 1 9 9 0 , 9 3 - 1 0 2 .
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wußtsein ist, das ein Bewußtsein davon hat, daß es ein Bewußtsein ist? Oder das ,ich denke, was alle meine Vorstellungen begleiten können muß', nach Kant - wie ist es da, kann man da nicht noch eine Reflexionsstufe weiter gehen und fragen: Wie ist es denn mit dem „ich denke, das meine Vorstellungen bezüglich des ,ich denke' begleiten muß, und dann stellt man fest, daß man immer nur dieselbe Struktur iteriert. Es resultiert keine neue Strukturinformation, wir haben in bezug auf diese ersten vier Schritte nur jeweils eine zusätzliche Information in bezug auf den Begriff ,Information' bekommen. Wenn das aber so ist, dann wird nun der Begriff ,Information' in bezug auf die naiv-ontologische Bestimmung leichter durchschaubar. Wir stellen dann nämlich fest, daß wir immer über Information sprechen, nur können wir es in verschiedenen Vokabularen tun. Die Philosophy of Mind hat uns gelehrt, daß wir unterscheiden müssen zwischen einem physikalistischen und einem mentalistischem Vokabular. Und genau dies gilt auch hier. Was wir meinen, wenn wir ,Materie' sagen, ist die im physikalistischen Vokabular angesprochene Information, was wir meinen, wenn wir ,Geist' sagen, ist die im mentalistischen Vokabular angesprochene Information, und die Tatsache, daß es einen Unterschied gibt zwischen diesen beiden Vokabularen, ist ihrerseits eine Information.
3. Information im Mensch-Maschine-Tandem Weit über die Fachkreise hinaus allgemein bekannt geworden ist der in der Debatte um die Künstliche Intelligenz und deren sprachphilosophische Interpretation notorisch gewordene Streit um das Chinesische Zimmer. John Searle hat den Vorschlag gemacht, die Frage, ob eine Maschine Intelligenz besitze oder noch genauer: ob eine Maschine eigentlich eine Sprache sprechen könne, durch ein anderes Setting des Turing-Tests zu beantworten. Der Turing-Test - ich bringe die vereinfachte und zweite Version - bestand ja in dem Vorschlag, daß eine Maschine dann als denkfähig oder intelligent bezeichnet werden dürfe, wenn für einen außenstehenden Beobachter nicht unterscheidbar ist, ob es sich dabei um einen Menschen oder eine Maschine handelt, anders: daß eine Maschine dann ,denkfähig' genannt werden darf, wenn der Test der Unterscheidbarkeit fehlschlägt und zwar in statistisch signifikantem Ausmaß. Nun versucht Searle das auszuhebein, indem er sagt: Wählen wir einmal die Binnenperspektive, nicht die Beschreibung des außenstehenden Beobachters, sondern die des sozusagen in der Maschine Sitzenden und stellen wir uns vor, daß jemand, der in einer Maschine sitzt, nur Syntax kann, aber die Semantik nicht beherrscht; mit anderen Worten: keine chinesischen Vokabeln kennt, wohl aber weiß, in welchen Korb er jeweils greifen muß, wenn ihm eine bestimmte chinesische Zeichenkombination hereingereicht wird. Für den außenstehenden Beobachter wäre nicht zu unterscheiden, ob in diesem Zimmer eine Person sitzt, die Chinesisch kann, oder eine Person, die nicht Chinesisch kann, sich zwar manchmal in dem Inhalt der Antwort irrt, aber keine Verstöße gegen die logische Grammatik begeht. 7
7 Vgl. Searle 1986, 30 ff.
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Mein eigenes Exempel geht allerdings noch einen Schritt weiter. Stellen wir uns eine der großen Tinguely-Maschinen vor, etwa jenen wunderschönen Brunnen in Basel vor der Oper, in dem Schöpfkellen dauernd Wasser schöpfen, die nach dem Sisyphus-Prinzip konstruiert sind, d. h. die Löcher, die in sie gebohrt sind, sind gerade so groß, daß die Schöpfkelle sich entleert, bis sie oben ist. Diese Schöpfkellen schöpfen im unermüdlichen emsigen Rhythmus völlig ohne jeden funktionalen Sinn, und das ist - Kunst eben - wunderschön anzuschauen. Stellen wir uns nun eine solche Maschine vor, die in scheinbar sinnlosem Repetitionsablauf bestimmte Bewegungen ausübt. Nehmen wir weiter an, daß diese Maschine aus Konservendosen konstruiert sei, die nur zwei Zustände einnehmen können, nämlich ,Deckel offen' oder ,Deckel geschlossen'. Stellen wir uns nun weiter vor, diese Maschine laufe nach einem bestimmten, von uns nicht eingegebenen Programm unter mächtigem Klappern und höchst wundersam ab. An einer Stelle dieser Maschine wären zwei Flaggen angebracht, die sich ebenfalls rhythmisch mit großer Geschwindigkeit bewegten, und wir ständen vor diesem Kunstwerk von klappernden Dosendeckeln und sich bewegenden Flaggen und bewunderten dieses Spitzenprodukt menschlicher Kunst. Neben uns aber steht ein weiterer Ausstellungsbesucher, der uns nach einer gewissen Zeit mitteilt, er sei Seemann, und die Flaggenbewegung habe ihm per Flaggenalphabet - gleichsam als Eröffnungsmenü - mitgeteilt, er solle an die rechte Konservendose gehen und dort per Morsealphabet eine Frage eingeben. Und er geht hin und klappert munter drauf los, und die Maschine läuft mit sich bewegenden Fahnen weiter; die beiden interagieren, und was für uns als nicht funktionale Koordination von Bewegungsabläufen die Inkarnation eines Kunstwerks gewesen war, wird für ihn ein informationsverarbeitendes, interaktives semantisches Gerät. Bei einer etwas höheren terminologischen Disziplin würden wir wohl gut daran tun, uns daran zu gewöhnen, das, was die Maschine prozessiert, ,Daten' zu nennen, während wir den Ausdruck ,Information' für die am Eingang oder Ausgang des prozessierenden Systems vorliegenden interpretierten Daten reservieren sollten. Noch etwas genauer: Am Eingang und Ausgang müssen wir nochmals unterscheiden zwischen dem dort maschinell implementierten Wörterbuch, das die Lexik und Semantik liefert, der zweiwertigen Syntax, die im Gerät implementiert ist, und der situativen semantischen Bedeutung im Sinne von Freges Begriff ,Sinn', die allein durch das die Information eingebende und wiederum abrufende intentionale Subjekt in Kooperation mit dem datenprozessierenden System gegeben werden kann. 8 Das läßt sich auch daran erkennen, daß für einen dritten Beobachter vielleicht weder das eine noch das andere Verhalten situationssemantischen Sinn9 machen würde. Stellen Sie sich etwa vor, daß ein wissenschaftlicher Beobachter aus einer nicht auf Computernutzung aufgebauten Kultur, etwa ein Ethnologe, in teilnehmender Beobachtung unsere Computerkultur beschreiben und zum Schluß kommen würde, es handele sich bei uns um eine hochreligiöse Kultur, in der die Menschen Tage und Nächte vor ihren erleuchteten Hausaltären verbrächten, um mit ihren Hausgöttern zu kommunizieren. Die Lehre, die wir daraus ziehen müssen, lautet: Obwohl die Maschine gewisse Bedingungen erfüllen muß, liegt die Beant-
8 Vgl. Zimmerli 1 9 8 8 , 4 8 . 9 Vgl. Barwise/Perry 1987.
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wortung der Frage, ob wir sie als situationssemantische, d. h. auch pragmatisch sinnproduzierende Maschinen verstehen, letztlich weder allein an der Maschine noch allein am Nutzer derselben, sondern, wie man nun sagen kann, am „Mensch-Maschine-Tandem".10 Erst in einem solchen Mensch-Maschine-Tandem wird sich herausstellen, ob das, was als Lexikon an der Ein- und Ausgabestelle des technischen Gerätes angebracht ist, in der Tat ein Lexikon ist, das mit dem Lexikon des Benutzers übereinstimmt oder nicht. Es gibt so etwas wie nackte Datenverarbeitung in Maschinen, nicht aber gibt es dort eine situative oder pragmatische Informationsverarbeitung, es sei denn, es seien menschliche Elemente in diese MenschMaschine-Tandems eingebaut. Und dabei fällt eine Ähnlichkeit ins Auge, die informationsverarbeitende Maschinen innerhalb von Mensch-Maschine-Tandems mit dem aufweisen, was wir ,Texte' nennen. Manche Texte kann man lesen, andere Texte kann man nicht lesen, manche Menschen können Texte, die andere lesen können, nicht lesen, andere wiederum können Texte, die andere nicht lesen können, doch lesen. Auch hier also kommt es auf das jeweilige Mensch-TextTandem an. Diese hermeneutische Lehre zeigt uns, daß wir im Übergang ins Informationszeitalter von Mensch-Text-Hybriden zu Mensch-Maschine-Hybriden, also zu Informationskentauren vierter Ordnung geworden sind. Das Verbindende daran ist, daß Menschen offenbar immer schon Mensch-Kulturtechnik-Hybride gewesen sind. Das galt bereits, als diese Kulturtechnik nur in der Verwendung kommunikativer und interaktiver gesprochener Zeichen bestand, es galt vermehrt natürlich seit Erfindung der Schrift und in noch stärkerem Maße im Rahmen der Gutenberg-Galaxis. Selbstverständlich sind wir alle bücherausgerüstete Menschen, die schon zuvor schriftgekoppelte und noch früher mindestens sprachgekoppelte Wesen waren. Als solche Mensch-Kulturtechnik-Kentauren existieren wir. Das, und nicht die irrtümliche Deutung, die wir seit dem Mittelalter hiermit verbinden, daß nämlich die Menschen vernünftige Lebewesen seien, ist mit der antiken Bestimmung gemeint, der Mensch sei ein ítoov Xóyov e/tov.
4. Informationstechnologie und Netzwerkdenken Die Medien haben darüber breit berichtet: Wir haben soeben das dreißigjährige Jubiläum von ARPAnet erlebt. TröÄe(joc ircerrip ttocvtwv (Der Krieg ist der Vater aller Dinge), hatte schon Heraklit gewußt. In bezug auf das ARPAnet war es zwar nicht der Krieg, wohl aber das Pentagon, das vor dreißig Jahren den Auftrag erteilte, dezentrale Computersysteme zu entwickeln, worauf die Universitäten in Kalifornien und Utah, die mit diesem Auftrag befaßt waren, diese Aufgabenstellung zunächst einmal so gelöst hatten, daß sie die Großrechner, die sie hatten, miteinander verknüpften. Damit war das Grundmodell eines Computernetzes entwickelt, das per Definition dezentral ist, da Dezentralität eine optimale Flexibilitätsstrategie darstellt. Diese ist besonders für Verteidigungszwecke gut geeignet, da der Gegner dann nie weiß, wo die von ihm zu zerstörende zentrale Schaltstelle liegt, da es keine 10 Diesen Ausdruck übernehme ich, wie bereits angedeutet, von H. Müller-Merbach 1987 (vgl. Anm. 2).
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zentrale Schaltstelle gibt; jeder Knotenpunkt kann die Funktion der anderen Knotenpunkte übernehmen. Und dieses ist die Grundidee des technischen Netzes. Allerdings hätte diese technische Innovation wahrscheinlich - wenn ein solcher „counterfactual conditional" erlaubt sein möge - nicht diesen durchschlagenden Erfolg gehabt, wenn sich nicht gleichzeitig so etwas wie ein Meta-Paradigma entwickelt hätte. Wer, theoriehistorisch aufmerksam geworden, jetzt auf die sechziger Jahre blickt, stellt fest, daß in dieser Zeit geradezu ein Boom des Begriffes ,Netzwerk' zu verzeichnen ist. Das beginnt mit Debatten über semantische Netzwerke im Anschluß an die Pionierarbeiten von Ross Quillian, der die Idee eines „associational network model of semantic memory" entwickelt hatte." Um etwa dieselbe Zeit begann eine vergleichbare Diskussion unter KI-Forschern: Rosenblatt untersuchte Netzwerke im neuronalen System und Rumelhart und Norman verbanden diese Idee mit Quillians bereits angesprochener Idee semantischer Netzwerke.12 Auf diese Weise wurde die Konzeption des PDP (parellel distributed processing) für Computer vorbereitet,13 zugleich wurde hierdurch der konnektionistische Versuch, die Geist-Gehirn-Differenz auf dem Wege der Modellierung kognitiver Prozesse durch neuronale Netzwerke zu überbrücken, inspiriert.14 Aber es gibt durchaus noch weitere Felder, in denen der Begriff des Netzwerks Prominenz erhält. In den Sozialwissenschaften und besonders in der Soziologie ist der Bergriff ,Netzwerk' seit den siebziger Jahren häufiger anzutreffen. 1974 veröffentlichte Jeremy Boissevain, damals Professor für Sozialanthropologie an der Universität Amsterdam, ein Buch mit dem Titel Friends of Friends. Networks, Manipulators and Coalitions. Der Zweck seines Zugangs liege darin, „to reintroduce people into sociological analysis, from which they have been banished since Dürkheim".15 Etwa um dieselbe Zeit wurde der Begriff .Netzwerk' von verschiedenen Autoren in die Politikwissenschaft und Ökonomie eingeführt. Unter Rückgriff auf Clyde Mitchells frühe Arbeit über „Social Networks in urban situations" geben David Knoke und James Kuklinski die folgende eher abstrakte Definition: „a network is generally defined as a specific type of relation linking a defined set of persons, objects or events."16 Aber erst in den neunziger Jahren wurde daraus ein zunächst disziplinares, dann disziplinenübergreifendes Meta-Paradigma, was sich daran ablesen läßt, daß 1991 sogar ein Standardlehrbuch den Titel tragen konnte: Markets, Hierarchies and Networks Der Hintergrund liegt darin, daß in den Informationswissenschaften, der Neurophysiologie, den Naturwissenschaften und den Sozialwissenschaften Modelle entwickelt werden mußten, die erlaubten, Knotenpunkte relativ selbständig zu behandeln und trotzdem als Knotenpunkte von verschiedenen relationalen Netzen zu begreifen. Und das heißt natürlich, daß die Modellbildung die einer dezentralen Selbstorganisation ist, und ,dezentrale Selbstorganisa-
11 Vgl. Quillian 1967, 1968 und 1969. 12 Rosenblatt 1961; Rumelhart/Norman 1973. 13 Rumelhart/McClelland 1986. 14 Vgl. Churchland 1986; Ramsey/Stich/Rumelhart 1991. 15 Boissevain 1974, 9. 16 Knoke/Kuklinski 1991. 17 Thompson/Francis/Levacic/Mitchell 1991.
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tion' setzt sich bis hinein in die Sozialwissenschaften in den siebziger und insbesondere achtziger Jahren als Leitbegriff machtvoll durch, so daß wir von ,Dezentralität, Selbstorganisation und Netzwerkdenken' als von dem einen Großparadigma sprechen können. Greift man noch etwas kühner zu strukturalistischen Parallelen, dann kann natürlich der Triumphzug der Wiederentdeckung des Textes, von dem ich bereits sprach, nur als das geisteswissenschaftliche Äquivalent zum Netzwerkbegriff verstanden werden. Deswegen kann es kaum als verwunderlich gelten, daß, da Text und Textur - bis in die Metaphorik hinein läßt sich Übereinstimmung erkennen - in dieser engen Verwandtschaft zum Netzgedanken stehen, semantische Termini nun ihrerseits in den Biowissenschaften und Informationswissenschaften so große Erfolge feierten. Der Text ist die Meta-Metapher, die zum Meta-Paradigma des Netzwerks paßt. Und wenn man noch einen Schritt weiter geht, dann läßt sich feststellen, daß die Dezentrierungsthese die Hauptgedanken der Selbstorganisationstheorie und die These vom Tod des Subjekts, wie sie von postmodernen Autoren vorgetragen und, wie etwa von Derrida, ganz wörtlich als „Dezentrierung des Subjekts" aufgefaßt worden ist, strukturell zusammenfaßt und sich nun auf eine Erfahrung stützen kann, sich in einem wirklichen solchen Netz aktuell oder virtuell bewegen zu müssen. Wer dies tut, hat nicht nur ein theoretisches Konzept, sondern macht die Erfahrung von Dezentralität und Selbstorganisation. Die Benutzer sind eben nicht das Zentrum des Netzes. Sie sind auf vieles angewiesen, auf andere Autoren, wenn sie in einem Hyper-Textsystem sich bewegen oder in einem Net Chat sich äußern. Die User sind nicht mehr „Herr im eigenen Haus", nicht einmal im eigenen Netz; die Dezentralitätserfahrung scheint zu einer zentralen Beschreibungskategorie des Denkens in Netzwerken geworden zu sein. Und damit komme ich zu einer Konsequenz, die man, stellt man nur die Informationswirkungen und -Wechselwirkungen im Mensch-Maschine-Tandem in Rechnung, nicht angemessen würdigen könnte. Betrachtet man nämlich die Rückwirkung, die die Vernetzung der Welt auf die in ihr agierenden Subjekte hat, und verbindet sie mit der modernekritischen Wendung der dekonstruktivistischen Philosophie, so ergibt sich eine Konsequenz, die Manuel Castells von einem soziologischen Blickwinkel aus bereits gezogen hat: daß das Subjekt sich nun wiederfindet in einer Situation, die Castells als „bipolar Opposition between the net and the s e i f beschreibt. 18 Das bedeutet aber, daß sowohl die personale als auch die soziale Identität zu einer Variablen von Information wird. Das, was die Philosophie traditionell das , Selbst' nennt, diese selbstreflexive Struktur, die alle modernen Ich-Theorien von Anfang an auszeichnet, hält angesichts der Erfahrung im Netz nicht stand. Und daran ist sicher etwas Richtiges, aber auch viel Falsches: Es trifft sicher zu, daß, wie bereits ausgeführt, die Dezentralitätserfahrung des Ich, das in der Moderne noch als im Zentrum der Welt stehend gedacht wurde, eine entscheidende Rolle spielt. Was daran indessen falsch ist, ist die Konsequenz, daß es deswegen eines Ichs bedürfe, das keine konventionelle personale Identität mehr habe, sondern gleichsam aufgelöst sei in die verschiedenen Netzwerkbeziehungen, in denen es stehe, also in so etwas wie eine „patchwork identity" postmoderner Art.
18 Castells 1996, 3.
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Der Trugschluß der postmodemen Theoriebildung besteht eben darin, daß hier eine lineare Extrapolation von der Beschreibung der Erfahrung, die ein Individuum in einer komplexen pluralistisch werdenden Situation in einem technologischen Umfeld macht, auf die eigene Selbstverständnisform, die dieses Individuum nun brauche, vorgenommen wird. Diese Extrapolation ist in Wahrheit ein Kurzschluß, weil sich zeigt, daß in solchen Situationen, in denen man in ganz verschiedenen situativen Kontexten reagiert und somit in unterschiedlichen situationssemantischen Zusammenhängen eingebunden ist, gerade nicht die Auflösung in diese verschiedenen Kontexte und das nachträglich erfolgende gleichsam additive Zusammenfugen dieser Kontextaspekte zu einem „patchwork" die Identitätsstrategie der Wahl ist. Wäre das der Fall, wäre weder Information noch Kommunikation möglich. Was wir vielmehr voraussetzen müssen, ist die Wiederkehr der klassischen Ich-Identität. Gerade durch die Konstruktion, die als das Netzwerkdenken und -handeln der Menschen charakterisiert ist, wird die Voraussetzung einer starken Persönlichkeit nicht nur erst sozial, sondern schon logisch notwendig. Ob das wünschenswert ist oder nicht, ist eine ganz andere Frage, aber die Empirie in der durch Mensch-Maschine-Hybride geprägten Informationsgesellschaft lehrt uns, daß nicht die patchwork-identity, aber sehr wohl die Fähigkeit, unterschiedliche Rollen zu spielen, ohne die Gewißheit preiszugeben, dabei auf das traditionelle ich-identische oder personale Identitäts-Konstrukt zurückgreifen zu können, sich als Denknotwendigkeitsbedingung erweist. Das hat zur Folge, daß die allergrößte argumentative Skepsis am Platze ist, wenn lineare Extrapolationen von Erfahrungen mit dem Internet oder mit virtueller Realität vorgenommen werden.
5. Informations-, Wissens- oder Nichtwissensgesellschaft? Handelt es sich nun bei dieser Gesellschaft, in der wir uns als Knotenpunkte eines auch technologisch realisierten globalen Netzes dennoch wieder in konventioneller Ich-Identität in konstanter Mensch-Maschine-Hybridinteraktion vorfinden, denn nun um eine Wissensgesellschaft? Um diese Frage abschließend zu beantworten, mag es hilfreich sein, daran zu erinnern, daß im Hintergrund der Debatte um die Wissensgesellschaft Daniel Beils These vom Heraufkommen der postindustriellen Gesellschaft steht.19 Wer den Versuchungen einer linearen Extrapolation unserer gegenwärtigen, von Bell als postindustriell' apostrophierten Gesellschaft widersteht, kann feststellen, daß in der Tat einiges von dem, was Bell für die postindustrielle Gesellschaft prognostiziert hatte, eingetreten ist. Von den elf Charakteristika, die er in diesem Zusammenhang genannt hat, möchte ich nur zwei nennen, die hier einschlägig sind: Es bildet sich so etwas wie eine eigene Wissensproduktion heraus, und es entsteht eine Technologie des Transfers dieses Wissens. Wissensproduktion und Technologie des Wissenstransfers, das sind Charakteristika, die, handelte es sich dabei um Charakteristika der Wissensgesellschaft, eindeutig und konklusiv wären. Allerdings zeigt schon ein genauerer 19 Bell 1973.
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zweiter Blick, daß die postindustrielle Gesellschaft keineswegs in dem Sinne eine Wissensgesellschaft wäre, daß der Bereich des Wissens sich in ihr immer mehr ausbreitete und das zuvor vorhandene Nichtwissen einschränkte. Allen semantischen Engführungen des Informationsbegriffs und allen Fehlkonsequenzen der Extrapolation des Wissensbegriffs aus der Industriegesellschaft in die Gegenwart zum Trotz läßt sich leicht zeigen, daß nicht eine Zunahme von individuellem menschlichen Wissen, sondern eine wachsende Fähigkeit des operativen Umgangs (.Managements') von Nichtwissen sich ereignet. Eine Gesellschaft, die, so betrachtet, eher als .Nichtwissenstechnologie-Gesellschaft' bezeichnet werden müßte, erweist sich vor dem Hintergrund des hier zugrunde gelegten Informations- und Wissensbegriffes als eine Gesellschaft, in der es nötig wird, dasjenige, was an Information zur Verfügung steht, aber nicht bewältigt, also nicht in den Zustand der Selbstreflexivität überfuhrt werden kann, trotzdem zu managen. Wir sprechen - irrtümlicherweise, wie ich denke - dabei von ,Wissensmanagement'. Dabei geht es gar nicht darum, das Wissen, das wir haben, zu managen. Was wir wissen, brauchen wir gar nicht zu managen, Management ist immer ,second best Solution'. Vielmehr geht es darum, in den Bereichen, in denen wir gerade nichts wissen, in denen wir höchstens Informationen zur Verfügung haben, die wir aber nicht in unseren eigenen pragmatischen Wissensfundus überfuhren können, Strategien zu entwickeln, wie wir mit diesem Nichtwissen - und zwar dem als solchen identifizierten Nichtwissen, das wir nun auch .Information' nennen - umgehen können. Zu diesen Strategien gehört unter anderem, wie ich nicht verschweigen will, zwar nicht die Moral, wohl aber die Ethik. Ethik nämlich ist ein Element jenes instrumenteil eingesetzten Bereiches, der uns dabei behilflich ist, mit Zusammenhängen umzugehen, über die wir nichts Genaues wissen. Wüßten wir schon genau, welche Folgen eine Handlung hat, dann würden wir sie, wenn die Folgen schlecht wären, fraglos unterlassen, und wenn sie gut wären, ebenso fraglos ausführen. Da wir aber weder genau wissen, welche Folgen unser technisches Handeln und insbesondere das informationstechnische Handeln, das bisher thematisch war, haben wird, noch auch wissen, was daran als ,gut' und was als .schlecht' zu gelten hat, bedürfen wir verschiedener sozialer Instrumente des Umgehens mit dieser Situation des Nichtwissens, und das nennen wir dann ,Ethik'. Dazu gibt es entsprechende institutionelle Lösungen, Ethikkommissionen, Ethikcodices oder Ethik-Hotlines, auf die ich hier gar nicht eingehen will. Statt dessen gilt es zu verstehen, was aus der Analyse des Informationsbegriffes im Zusammenhang des Wissenskonzepts in einer sich im Netzwerkdenken befindlichen, aber dieses Netzwerkdenken weder voll integriert noch durchschaut habenden Gesellschaft für die Frage folgt, wohin wir uns weiterbewegen. Die Zukunft vorhersagen, das ist unmöglich. Das aber soll uns nicht daran hindern, wenigstens die Konsequenzen, die sich bereits absehen lassen, anzudeuten: Wenn, wie entwikkelt worden ist, wir unter .Information' reflexiv iterierten Unterschied zu verstehen haben, der einen Unterschied macht, und wenn dies im Zusammenhang einer informationstechnologisch überformten Gesellschaft nur im pragmatischen Kontext von Mensch-MaschineTandems zu denken ist, wenn darüber hinaus gilt, daß diese Mensch-Maschine-Tandems im Rahmen des großen Netzwerks-Metaparadigmas unserer Zeit und im Rahmen der realen Vernetzung dazu führt, daß Individuen sich zu Persönlichkeiten mit einer konventionellen
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Identität dadurch entwickeln, daß sie sich der Verschiedenheit ihrer Rollen in den unterschiedlichen Kontexten des einen Textes verstehen, der sie sind, dann liegt eine abschließende Vermutung auf der Hand: In Kontexten von Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen wird in Zukunft Erziehung und Bildung in verstärktem Maße sich nicht an der Maximierung des Wissens, sondern an der Frage orientieren müssen, in welcher Weise es gelingt, mit dem als unhintergehbar durchschauten Nichtwissen, also mit dieser Form von Information, umzugehen. Das bedeutet, daß die Informationsgesellschaft zur Nichtwissensgesellschaft geworden ist.
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Kolloquium II Grenzen des Wissens / Grenzen der Wissenschaft
Gereon Wolters
Einführung: Grenzen der Wissenschaft - eine Taxonomie Die Grenzen des Wissens und der Wissenschaft sind ein altes und seriöses Thema der Philosophie. Schon bei den notorisch erkenntnisoptimistischen Vorsokratikern finden wir erste skeptische Verweise auf grundsätzliche Wissensbegrenzungen. Xenophanes resigniert: „bei allen Dingen gibt es nur Annahme" (DK 21B34) und Heraklit seufzt: „Natur pflegt sich versteckt zu halten" (DK 22B123). 1 Letzthin, zur Jahrtausendwende, neu- und dummdeutsch „Millenium", hat das Thema „Grenzen der Wissenschaft" einen nicht ganz unerwarteten Aufschwung genommen. Grenzen oder gar das Ende der Wissenschaft als eine der vielen Endzeitvisionen, die in den Medien und in einem medienorientierten Buchmarkt breitgetreten wurden. Unabhängig von Modeerscheinungen aber ist die Frage nach den „Grenzen der Wissenschaft" wegen ihrer Perspektivenvielfalt auch eine der faszinierendsten Fragestellungen der Philosophie. Sie umfaßt sowohl die theoretische als auch die praktische Philosophie (wie die beiden Beiträge des Kolloquiums zeigen). In beiden Bereichen, vor allem aber im theoretischen Bereich, läßt sie unterschiedlichste wissenschaftstheoretische und erkenntnistheoretische Annäherungen zu. Die folgende Skizze einer Taxonomie soll einen Überblick über die unterschiedlichen Kontexte geben, in denen Grenzen bzw. Begrenzungen der Wissenschaft auftauchen. Sie stellt weder den Anspruch, die einzig mögliche Taxonomie zu sein, noch erhebt sie Anspruch auf Vollständigkeit oder darauf, daß es zwischen den einzelnen Grenzen-Taxa keine Überlappungen gäbe. Grundsätzlich lassen sich (A) innere Grenzen der Wissenschaft von (B) äußeren Begrenzungen unterscheiden. Innere Grenzen der Wissenschaft sind Ergebnisse des Forschungsprozesses. Sie haben, soweit sie im Rahmen wissenschaftlicher Theorien entstehen (vgl. unten (ai)), als solche die Form wissenschaftlicher Hypothesen und können deshalb die 1 Zitiert nach Mansfeld 1987.
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Gereon Wolters
unterschiedlichsten Grade der Gewißheit, Stabilität2 und Änderungswahrscheinlichkeit besitzen. Sie stehen in Analogie zu den wissenschaftlichen Existenzaussagen. So wie es nur im Rahmen einer Theorie Sinn hat, nach der Existenz theoretischer Gegenstände zu fragen, 3 so läßt sich auch deren Nichtexistenz (oder allgemeiner: die Unmöglichkeit eines Sachverhalts) stets nur theoriebezogen behaupten. Äußere Begrenzungen können die Wissenschaft auf zwei Weisen treffen. Zum einen kann die Forschung in ihrem Fortgang auf äußere Hindernisse treffen (Beispiele kommen gleich), zum anderen können der Wissenschaft explizit und absichtlich Grenzen gesetzt werden, z. B. ethische (womit sich der Beitrag von Klaus Peter Rippe befaßt). Äußere Grenzen der Wissenschaft sind großenteils kulturabhängig, innere nicht. Zunächst zu den inneren Grenzen (mit denen sich der Beitrag von Tetens befaßt). Hier lassen sich (a) erkenntnistheoretische und (b) technische Grenzen unterscheiden. Zunächst zu den erkenntaistheoretischen Grenzen (a,) Grenzen im Rahmen physikalischer Theorien. Beispiele: 4 die spezielle Relativitätstheorie erlaubt keine Signalübertragung mit Überlichtgeschwindigkeit; die UnschärfeRelationen der Quantenmechanik schließen die gleichzeitige Vorhersage von Ort und Impuls eines Teilchens aus; die allgemeine Relativitätstheorie schließt es aus, irgendwelche Information aus dem Innern eines Schwarzen Lochs zu erhalten. (a 2 ) Grenzen der Gewinnbarkeit empirischer Befunde oder Daten aus kontingenten physikalischen Gründen. Dies gilt (a) für eine Unmenge von Befunden aus der Vergangenheit, die unwiederbringlich verschwunden sind (wie z. B. die DNS der Dinosaurier). Andererseits sind (ß) zahlreiche gegenwärtige wissenschaftliche Daten unscharf und ungenau; sie weisen hohe statistische Varianz auf oder beruhen - wie besonders in der Medizin - auf Einzelbeobachtungen. (a 3 ) Grenzen der Wissenschaft auf Grund von Komplexität. Die Fülle kausal wirksamer Faktoren läßt in hyperkomplexen Systemen eine Erklärung oder Prognose von Ereignissen nicht zu. Als Beispiel dafür kann die detaillierte evolutionäre Rekonstruktion der Entstehung einer Art oder auch die Vorhersage ihrer zukünftigen Entwicklung gelten, obwohl die natürliche Selektion als Basismechanismus evolutionärer Entwicklung wohl bekannt ist. Ähnliche Grenzen stellen sich der langfristiger Vorhersage in chaotischen Systemen wegen deren extremer Empfindlichkeit gegenüber Änderungen in Anfangs- und Randbedingungen. Langfristige Wettervorhersagen, Prognosen des Klimawandels oder der ökonomischen Entwicklung sind gute Beispiele.
2 Zur Stabilität oder besser Instabilität der Wissenschaft vgl. Rescher 1999, Kap. 3. Diese zweite Auflage des philosophischen Standardwerks zum Thema „Grenzen der Wissenschaft" ist gegenüber der ersten um fünf Kapitel vermehrt, zwei wurden weggelassen. Man findet in diesem Buch Argumentationen zu vielen der hier angesprochenen Punkte. 3 Man vgl. dazu die klassische Arbeit Carnap 1950. 4
Eine luzide Zusammenfassung dieser Art von Beispielen (und anderer) findet man in Barrow 1998.
Kolloquium II-
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Einführung
(a 4 ) Nicht-Vorhersagbarbeit wissenschaftlicher Innovationen. Wir wissen nicht, ob die Wissenschaft je abgeschlossen werden kann, was auch immer dies genau bedeuten mag. 5 Was die technischen Grenzen der Wissenschaft betrifft, so ist klar, daß theoretisch ausgeschlossene Dinge (wie etwa die Überlichtgeschwindigkeit) auch technisch nicht realisierbar sind (z. B. in einer überlichtschnellen Appparatur zur Signalübertragung). Darüber hinaus lassen sich zwei Typen von technischen Grenzen der Wissenschaft benennen: (b,) Eventuell bestehende Grenzen der Berechenbarkeit mit Computern setzen den Menschen Grenzen des Wissenserwerbs. (b 2 ) Grenzen der Verfügbarkeit von Energie. Teile der gegenwärtige Elementarteilchenphysik erfordern für ihre empirische Bestätigung Energien, die weit außerhalb des auch in absehbarer Zukunft Erreichbaren liegen. Das heißt, daß sich diese Theorien bzw. Theorieteile der empirischen Prüfung entziehen und vorerst als Spekulation zu gelten haben. 6 Die äußeren Begrenzungen der Wissenschaft sind von großer, oft kulturvarianter Vielfalt. Sie reichen von ökonomischen Grenzen der Wissenschaftsforderung über gesellschaftliche und politische Grenzen, einschließlich der sogenannten political correctness (wie etwa das Verbot der Datierung von Knochen von Ureinwohnern in den USA oder die ebenfalls in den USA verbreitete Unerwünschtheit, von manchen behauptete Intelligenzunterschiede zwischen den Rassen zu untersuchen). Zu diesen äußeren Grenzen zählen auch jene Begrenzungen, die sich aus der die Mainstream-Forschung favorisierenden Organisation des Wissenschaftsbetriebs (z. B. im sogenannten peer review der Zeitschriften), aus dem Karrieredruck mit seinen Auswüchsen an Fälschungen, Plagiaten und Ausbeutung und auch aus dem Problem kaum noch handhabbarer Informationsmassen ergeben. Schließlich gehören zu den äußeren Begrenzungen der Wissenschaft als die philosophisch interessantesten ethische und juristische Grenzen. Die beiden folgenden Beiträge am XVIII. Deutschen Kongreß für Philosophie fuhren das Thema „Grenzen der Wissenschaft" wieder in jenen Bereich seriöser Philosophie zurück, den es im Zusammenhang mit den Milleniums-Kapriolen gelegentlich verlassen hatte. 7
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chen 1997. Mansfeld, Jaap: Die Vorsokratiker.
Griechisch - Deutsch, Stuttgart 1987.
Rescher, Nicholas: Limits of Science, rev. ed., Pittsburgh 1999. 5 Vgl. dazu vor allem Rescher 1999, Kap. 7. 6 Noch mehr gilt das für die Superstring-Theorien (vgl. Grotelüschen 1999, 91 ff.). 7 Ein Beispiel dafür ist Horgan 1997, dessen sensationalistischer Originaltitel „The End of Science" nicht Gutes verheißt, wenn auch das Buch sehr interessantes Interview-Material bietet.
Holm Tetens
Kommt die Grundlagenforschung an ein Ende? Wissenschaftstheoretische Überlegungen zu den Grenzen der Wissenschaft Wer Grenzen der Wissenschaft behauptet, läuft offensichtlich leicht Gefahr, sich zu blamieren. Immer wieder mit demselben Beispiel werden die Verkünder von Grenzen der Wissenschaft eindringlich gewarnt: Kurz vor dem Ausklang des vorigen Jahrhunderts wagten einige die Prognose, mit den Grundgesetzen der Newtonschen Mechanik, den Maxwellschen Gleichungen der Elektrodynamik und den Hauptsätzen der Thermodynamik sei die Erforschung der Grundgesetze der Physik im wesentlichen erfolgreich abgeschlossen; neue Fundamentalgesetze ließen sich nicht mehr entdecken; wer talentiert genug sei, als Entdecker grundlegender Naturgesetze in die Annalen der Wissenschaft eingehen zu können, möge die Physik meiden, um statt dessen in einer anderen Wissenschaft die Unsterblichkeit des großen Forschers zu suchen. Doch zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde die Prognose einer abgeschlossenen Physik Lügen gestraft, es begann die Revolution von Relativitätstheorie und Quantenmechanik; was sie ins Rollen brachte, ist bis heute nicht durch eine theoretisch und empirisch befriedigende große vereinigte Theorie aller vier Grundkräfte zum Stillstand gekommen. Noch viel vermessener als gegen Ende des vorigen Jahrhunderts erscheint es daher heute, wenn wieder einige das Ende der Physik 1 ausrufen, ja der Wissenschaftsjournalist John Horgan publizitätswirksam sogar das „Ende der Wissenschaft" 2 . Sind also gegenwärtig wiederum nur falsche Propheten und wissenschaftspolitisch gefährliche Defätisten am Werk, die die eigentlich unmißverständliche Lektion unseres eben zitierten Beispiels partout nicht lernen wollen? Nicholas Rescher hat ein Buch mit dem Titel Die Grenzen der Wissenschaft geschrieben. Mitten in diesem Buch dementiert Rescher dessen Titel: „Der Naturwissenschaft Bereichslimitationen auferlegen zu wollen ist riskant und empfiehlt sich nicht. Das klügste ist es, sich dessen zu enthalten. Die gegenwärtige Wissenschaft kann nicht für eine zukünftige sprechen; sie kann nicht festsetzen, was Wissenschaft als solche leisten kann und was nicht. Es ist sinnlos, der Naturwissenschaft selbst Grenzen zu ziehen; der Titel des Buches „Die Grenzen der Wissenschaft", verweist auf etwas nicht Vorhandenes. Der Ausspruch von Charles Sanders Peirce ist sehr zutreffend: Man darf den Weg der Forschung nicht verbauen." 3
1 Vgl. Lindley 1994. 2 Vgl. Horgan 1997; der Titel des amerikanischen Originals lautet The End of 3 Rescher 1 9 8 5 , 2 0 0 .
Science.
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Nicht minder apodiktisch äußert sich auch Jürgen Mittelstraß zu den Grenzen der Wissenschaft: „Grenzen der Wissenschaft sind entweder Irrtumsgrenzen - der wissenschaftliche Verstand verrennt sich in seine Unzulänglichkeiten - oder ökonomische Grenzen - der wissenschaftliche Fortschritt wird unbezahlbar - oder moralische Grenzen, die immer dann gegeben sind, wenn sich der wissenschaftliche Fortschritt gegen den Menschen selber richtet. In jedem Falle ist jedes Maß der Wissenschaft, auch dasjenige, das ihrem Fortschritt Grenzen setzt, ein praktisches, kein theoretisches Maß. Das heißt, die Wissenschaft hat praktische, aber keine theoretischen Grenzen."4 Bei einer Reihe von Wissenschaftlern hört sich das freilich ein wenig anders an, sie stellen sich ernsthaft auf die Perspektive ein, ihre jeweilige Disziplin könnte positiv oder negativ an ein Ende kommen. In einem Spiegel-Gespräch erklärt der theoretische Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg, warum er an eine, wie er sie nennt, „endgültige Theorie" in der Physik glaubt: „[...] mein Glaube an eine endgültige Theorie beruht [...] darauf, daß unser Bild der Natur immer einfacher geworden ist. [...] Sicher, die Mathematik ist komplizierter, schwieriger, abstrakter geworden. Dafür sind die physikalischen Prinzipien eleganter, natürlicher, und vor allem sind es weniger geworden. [...] Und Fortschritt in Richtung auf Einfachheit muß irgendwann zu einem Ende kommen." 5 Wo Weinberg reelle Chancen sieht, die Fundamentaltheorie der Materie zu einem guten Ende zu bringen, gemahnt der Astrophysiker John Barrow seine Disziplin an eine unübersteigbare negative Grenze: „Vielleicht werden wir eines Tages etwas über die Ursprünge unserer engeren kosmischen Umgebung sagen können. Doch die Ursprünge des Universums können wir niemals kennen."6 Das Thema Grenzen der Wissenschaft, das lassen schon die wenigen hier zu Gehör gebrachten Stimmen vernehmen, ist jedenfalls umstrittener als die apodiktischen Äußerungen der beiden von mir eingangs zitierten Philosophen Rescher und Mittelstraß vermuten lassen. Und auch das legen die zitierten Voten zu den Grenzen in der Wissenschaft nahe: Philosophen gehen möglicherweise das Problem der Grenzen in den Wissenschaften anders an als Wissenschaftler. Es liegt ja in der Natur und Tradition der Philosophie, eher nach a priori bestimmbaren Grenzen Ausschau zu halten als nach empirisch bestimmten. Von dem Unterschied zwischen a priori bestimmten und empirisch bestimmten Grenzen der Wissenschaft soll der erste Abschnitt meines Textes handeln.
4
Mittelstraß 1998, 31.
5 Spiegel-Gespräch mit Steven Weinberg: Die Welt ist kalt und unpersönlich, 26.7.99, 192. 6 Barrow 1998, 160 (Hervorhebung im Original).
Der Spiegel Nr. 30 vom
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1. Wider die Fixierung auf apriorische Grenzen der Wissenschaft Wissenschaftler beantworten Fragen, was in der Welt der Fall ist, teilweise auch, was in der Welt der Fall sein soll. Die Wissenschaft war darin sehr erfolgreich und ist es immer noch. Das festzustellen ist fast eine Trivialität. Weniger trivial ist jedoch die Frage, wie erfolgreich die Wissenschaft bisher gewesen ist und noch sein wird. So erfolgreich, daß sie im Prinzip alle wichtigen Fragen eines Tages beantwortet haben wird? Oder steht zu befürchten, daß sie bestimmte Fragen niemals beantworten wird? Oder hat die Wissenschaft das unerhörte Glück, daß sie immer wieder wichtige Probleme löst, aber hinter jeder beantworteten Frage sofort neue Fragen auftauchen, die die Wissenschaft wiederum irgendwann beantwortet haben wird? Stellt also eine Dialektik von sich wechselseitig aufschaukelnden Fragen und Antworten die wissenschaftliche Forschung auf Dauer? Wer so fragt, fragt nach den Grenzen der Wissenschaft. Die Grenzen der Wissenschaft möchte ich unterteilen in moralisch-ethische und in positive bzw. negative kognitive Grenzen. An eine moralisch-ethische Grenze gelangt die Wissenschaft, wenn Antworten auf bestimmte Fragen nicht erforscht werden sollen, weil der Forschungsprozeß oder mögliche Antworten moralisch unvertretbare Folgen nach sich zu ziehen drohen. Neben den moralisch-ethischen Grenzen lassen sich kognitive Grenzen der Wissenschaft unterscheiden. Eine positive kognitive Grenze hat die Wissenschaft dann erreicht, wenn alle wichtigen Fragen in bezug auf einen Wirklichkeitsbereich beantwortet sind oder in absehbarer Zeit überzeugend beantwortet sein werden; neue und interessante Entdeckungen sind in bezug auf den besagten Wirklichkeitsbereich nicht oder von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr zu erwarten. Weinbergs „endgültige Physik" wäre eine solche positive kognitive Grenze. An eine negative kognitive Grenze stößt die Wissenschaft, wenn die Wissenschaft aus bestimmten Gründen klar formulierte wichtige Fragen nicht beantworten kann. Die von Barrow ohne Wenn und Aber diagnostizierte Unfähigkeit der Astrophysik, jemals den Ursprung des Universums restlos aufzuklären, wäre eine solche negative kognitive Grenze. Wer der Wissenschaft positive oder negative kognitive Grenzen in Aussicht stellt, prognostiziert die Zukunft unseres wissenschaftlichen Wissens. Solche Prognosen kritisiert Nicholas Rescher vehement. Da ist zunächst das bekannte Argument, wonach es schon aus logisch-begrifflichen Gründen unmöglich sei, Fragen, Methoden und Antworten zukünftiger Wissenschaft vorwegzunehmen. Denn ließen sie sich vorhersagen, so wären sie aus den gegenwärtigen Theorien abgeleitet und damit bereits Teil des gegenwärtigen wissenschaftlichen Wissens. Zweitens hebt Rescher darauf ab, daß gerade das Unvorhergesehene in der Wissenschaft das Bedeutsame ist: Neue wissenschaftliche Entdeckungen (neue Daten, neue theoretische Modelle, neuartige Begriffsbildungen, neuartige Untersuchungmethoden, neue methodologische Standards) gelten als besonders bedeutsam, wenn sie völlig unvorhergesehen bisher etablierte und als erfolgreich gelobte Theorien schließlich doch zu Fall bringen. Und schließlich betont Rescher drittens, daß sich Wissenschaft niemals festschreiben und durch einen bestimmten erreichten Forschungsstand definieren lasse: Wissenschaft ist nach Rescher weder durch Inhalte noch durch feste Methoden und methodologische Standards definiert; definiert ist sie nur funktional-pragmatisch über Ziele wie intersubjektiv wieder-
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holbare und nachvollziehbare Beobachtungen, theoretische Erklärungen und Vorhersagen auf der einen, technische Kontrolle und Beherrschung natürlicher und sozialer Prozesse auf der anderen Seite. Wann immer Methoden sich als tauglich für diese Zwecke erweisen, werden sie am Ende als wissenschaftlich legitim akzeptiert, und jedes Resultat, das mit Hilfe solcher wissenschaftlicher Methoden erzielt wird, wird alsdann unter die wissenschaftlichen Tatsachen eingereiht. Aus diesen drei Überlegungen folgert Rescher: Ob und wie die Wissenschaft ein gegenwärtig ungelöstes Problem zukünftig doch noch lösen oder ob sie es durch ein besser gestelltes Problem ersetzen oder es einfach irgendwann vergessen haben wird, lasse sich niemals vorhersagen. Daher solle man gar nicht erst nach angeblichen Grenzen der Wissenschaft suchen und, noch schlimmer und wissenschaftspolitisch besonders verwerflich, die Wissenschaft auf solche vermeintlichen Grenzen festlegen oder verpflichten. Von einem abstrakten logischen und erkenntnistheoretischen Standpunkt läßt sich gegen Reschers Überlegungen wenig einwenden. Aber ihre abstrakte logische und erkenntnistheoretische Stärke könnte gerade ihre Schwäche ausmachen. Rescher markiert nämlich nur eine logisch-erkenntnistheoretische Grenze, der Wissenschaft a priori, also mit anderen Worten ein für alle Mal und mit absoluter Gewißheit Grenzen ziehen zu wollen. Eine a priori bestimmte Grenze könnte man auch eine logisch-mathematische Grenze nennen, weil man nur logische und mathematische Wahrheiten zu Hilfe nimmt, um auf die Grenze zu schließen. Von einer negativen kognitiven Grenze etwa kann man nur dann mit Sicherheit wissen, daß die Wissenschaft sie unmöglich je überwinden kann, falls man die Annahme, die Wissenschaft könne eine bestimmte Frage oder alle Fragen einer bestimmten Art beantworten, mit Hilfe rein logischer und mathematischer Überlegungen zum Widerspruch fuhren kann; und entsprechend für positive kognitive Grenzen. Man könnte in diesem Zusammenhang an Argumente denken, die sich auf die Lügnerantinomie oder den Gödelschen Unvollständigkeitssatz stützen. Apriori-Argumente sind die ureigenste Domäne der Philosophen. Darüber können sie leicht Argumente eines anderen Typs vergessen. Statt ein Argument nur auf logische oder mathematische Wahrheiten zu gründen, kann man empirische Prämissen heranziehen, um Grenzen der Wissenschaft zu identifizieren. In einem solchen Fall legt man zunächst dar, daß sich eine bestimmte Frage X nach unserem gegenwärtigen Wissen nur mit Hilfe ganz bestimmter Forschungsmethoden beantworten läßt. Sodann weist man nach, daß sich wiederum nach unserem gegenwärtigen Wissen die besagten Forschungsmethoden in bezug auf die Frage X nicht anwenden lassen. Aus beiden Prämissen darf man dann schließen, daß sich die Frage X mit den gegenwärtig uns bekannten wissenschaftlichen Forschungmethoden nicht beantworten läßt. Zunächst zwei Beispiele für solche empirisch bestimmten Grenzen der Wissenschaft. Wenn es wahr ist, daß viele Systeme gegenüber solchen Schwankungen der Rand- und Anfangsbedingungen hochgradig sensitiv sind, die weit jenseits unserer Beobachtungsgenauigkeiten liegen, dann wird es, wenn es nicht abermals eine große wissenschaftliche Revolution in den wissenschaftlichen Theorien, der Mathematik oder in den Meßmethoden geben sollte, auch in Zukunft unmöglich sein, die Dynamik solcher Systeme zuverlässig auf mittlere oder längere Reichweite vorherzusagen.
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Informationstragende Signale breiten sich höchstens mit Lichtgeschwindigkeit aus. Um Dinge in der Umwelt beobachten zu können, müssen uns aus der Umwelt informationstragende Signale erreichen. Wenn bestimmte Theorien über die raum-zeitlichen Ausmaße des Universums richtig sind, dann gibt es neben dem für uns sichtbaren Universum Raum-ZeitRegionen des Universums, die wir niemals beobachten können; und Fragen in bezug auf diesen für uns nicht sichtbaren Teil des Universums, soweit sie sich nur durch Beobachtungen beantworten lassen, kann die Wissenschaft dann prinzipiell nicht beantworten. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren; verwunderlich ist diese Beispielftille eigentlich gar nicht. Je mehr die Wissenschaft über die Welt und damit auch über uns in Erfahrung bringt, desto mehr erfährt sie damit auch über die Bedingungen und Möglichkeiten von Forschern, etwas über die Welt in Erfahrung zu bringen. Erfolgreiche Forschung erlaubt früher oder später auch, die Chancen zukünftiger Forschung abzuschätzen. In diesem Sinne gibt es „Forschung an den Grenzen des Wissens", um den Untertitel eines jüngst von John Barrow erschienenen Buches aufzugreifen. 7 Und solche Forschungen an den Grenzen des Wissens sind zugleich Forschungen zu den Grenzen der gegenwärtigen Wissenschaften. Natürlich, Reschers Einwand gegen apriorische Grenzziehungen greift hier sofort. Unser gegenwärtiges Wissen muß nicht das letzte Wort in der Sache sein. Die Theorien, auf die wir uns gegenwärtig berufen, könnten sich entweder als falsch entpuppen oder wir könnten erweiternde Entdeckungen machen, und beides könnte uns Methoden an die Hand geben, eine nachweislich gegenwärtig unbeantwortbare Frage doch noch zu beantworten. Nur, nicht selten bekommt der Hinweis auf eine abstrakte logische und erkenntnistheoretische Möglichkeit einen allzu schalen Beigeschmack. Es ist logisch und erkenntnistheoretisch möglich, daß die Sonne morgen nicht aufgeht; aber wir sind heute trotzdem gut beraten, auf diese Möglichkeit nicht zu setzen und uns statt dessen darauf einzustellen, daß auch morgen ein neuer Tag beginnen wird. Natürlich, es ist p. c., will heißen: philosophically correct, wie alles wissenschaftliche Wissen auch Prognosen über die Zukunft der Wissenschaft unter einen fallibilistischen Generalvorbehalt zu stellen. Doch in einer wissenschaftsdominierten Gesellschaft wie der unsrigen wäre es nun wirklich leichtfertig, die aus unserem gegenwärtigen empirischen Wissen ableitbare Prognosen über Grenzen der Wissenschaft stets mit dem Hinweis zu bagatellisieren, es sei doch prinzipiell nicht auszuschließen, daß die Wissenschaft der Zukunft ganz anders aussehen könnte als die gegenwärtige Wissenschaft. Empirisch-wissenschaftliche Prognosen über die Grenzen der Wissenschaft haben wir so ernst zu nehmen und wir haben uns auf die prognostizierten Sachverhalte so pragmatisch einzustellen, wie wir uns auch sonst auf wissenschaftlich prognostzierte zukünftige Entwicklungen einstellen, unbeschadet der generellen Einschränkung, daß jede Prognose schon am nächsten Tag Makulatur sein kann. Außerdem können sich die empirisch bestimmten Grenzen praktisch Apriori-Grenzen nähern. 8 Das wird deutlich, sobald man sich das schon vorgeführte Begründungsschema für
7 Vgl. Barrow 1999. 8 Auch wenn natürlich v o m logisch-begrifflichen Standpunkt a priori bestimmte Grenzen strikt von empirisch bestimmten Grenzen geschieden sind.
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empirisch bestimmte Grenzen der Wissenschaft noch einmal vor Augen hält: Wenn eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage X nach unserem gegenwärtigen Wissen die Anwendung bestimmter Forschungsmethoden verlangt und wenn sich nach unserem gegenwärtigen Wissen diese Forschungsmethoden in bezug auf die Frage X nicht anwenden lassen, dann läßt sich die Frage X mit den uns gegenwärtig bekannten wissenschaftlichen Forschungmethoden nicht beantworten. Je genereller oder je weniger spezifisch die Forschungsmethoden charakterisiert werden müssen, um bereits eine Grenze der Wissenschaften abzuleiten, desto unwahrscheinlicher ist es, daß die zukünftige Wissenschaft die jetzt erkennbare Grenze noch verrücken könnte; denn dazu müßte sie sehr generelle und im Laufe der Wissenschaftsgeschichte stabil gebliebene Charakteristika wissenschaftlicher Forschungsmethodik aufgeben, was eben nicht sehr wahrscheinlich ist. Zwei empirisch bestimmte Grenzen der Wissenschaft möchte ich nun ansprechen, die mit solchen fundamentalen Charakteristika wissenschaftlicher Methodik zu tun haben. Und ich möchte darüber hinaus kurz skizzieren, warum eine wissenschaftsdominierte Gesellschaft wie die unsrige sich mit den besagten Grenzen auseinandersetzen sollte, zumal dann, wenn wir uns gerade nach eigener Selbstdefinition anschicken, unsere Gesellschaft in eine Wissens- und Informationsgesellschaft zu verwandeln.
2. Empirisch bestimmte Grenzen der Wissenschaft Die beiden Grenzen, die ich im folgenden ansprechen möchte, ergeben sich aus zwei fundamentalen methodologischen Sachverhalten, die eigentlich nur zwei Seiten derselben Medaille sind: Erstens muß sich die Forschung theorierelevante empirische Daten mit Hilfe einer mehr oder weniger aufwendigen Technik beschaffen; zweitens lassen sich viele Theorien quantitativ exakt und in allen theorierelevanten Aspekten vollständig nur auf Laborphänomene anwenden.
2.1 V o m abnehmenden Grenznutzen wissenschaftlicher Datenproduktion Wissenschaftliche Theorien müssen sich testen lassen. Testen lassen sich die naturwissenschaftlichen Theorien anhand von Daten, an die die Wissenschaft nur mit einem mehr oder weniger großen Aufwand an technischen Apparaten und koordinierter Beteiligung mehr oder weniger vieler Forscher herankommt. Das ist keine Novität jüngster Theorieentwicklung; dies war von Anbeginn der neuzeitlichen Naturwissenschaften so. Es begann natürlich bemerkenswert bescheiden und unaufwendig, etwa mit Galileis schiefer Ebene mit Fallrinne und homogenisierten Kugeln; heute ist man allerdings zum Teil bei gigantischen Wissenschaftsmaschinen angelangt; und der Appetit der empirischen Forschung auf immer noch aufwendigere Apparaturen scheint einfach niemals gestillt werden zu können. Die technologische Maßlosigkeit der Wissenschaft hat Methode, die man durch eine einfache Überlegung schnell plausibilisieren kann. Substantiell erweiterte und verbesserte Theorien, ja Durchbrüche zu ganz neuen Theorien müssen Hand in Hand gehen mit neuarti-
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gen und unerwarteten empirischen Daten. Je länger nun der Weg ist, den die wissenschaftliche Forschung bereits zurückgelegt hat, desto wahrscheinlicher ist es, daß die auf einem bestimmten technischen Niveau und mit einem bestimmten technischen Aufwand erreichbaren theorierelevanten Daten (bzw. Arten von Daten) auch tatsächlich ausgeschöpft sind; an neuartige und unerwartete Daten kommt man nur noch durch erhöhte technische Anstrengungen heran. Daraus folgt: Der Grenznutzen theorierelevanter Datenproduktion nimmt in der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaften allmählich ab. Es wird technologisch, von der Anzahl der miteinander kooperierenden Forscher und damit natürlich ökonomisch allmählich immer aufwendiger, wirklich neue empirische Daten beizubringen, die für ernstzunehmende empirische Tests substantiell fortentwickelter oder ganz neuartiger Theorien überhaupt taugen. Der abnehmende Grenznutzen wissenschaftlicher Forschung läßt sich eindrucksvoll an vielen Beispielen illustrieren. Galileis schiefe Ebene, mit der er empirisch das vorher bereits mathematisch abgeleitete Fallgesetz demonstrierte, mutet ebenso einfach und primitiv an, wie die Vorrichtung aus beweglichen Magneten und Stromleitern, die Faraday genügte, u m ein so grundlegendes Gesetz wie das Induktionsgesetz empirisch nachzuweisen. Schon etwas technisch aufwendiger und raffinierter ist das experimentelle Design, mit dem Hertz die bereits aus den Maxwellschen Gleichungen vorausgesagten elektromagnetischen Wellen bestätigte. In der Astrophysik setzte schon gegen Ende des vorigen Jahrhunderts der Trend zu schnell immer größer geplanten Oberservatorien mit immer aufwendigeren und teureren Beobachtungsgeräten ein. Aber es waren vor allem die Quantenphysik, die Chemie und im Gefolge der beiden auch die Biologie, die den Grenznutzen empirischer Forschungsanstrengungen allmählich immer schneller sinken ließen und lassen. Wie stark der Grenznutzen eingesetzter Forscher und Apparate inzwischen gegenüber den forschungsparadiesischen Zeiten eines Galilei, eines Faraday, eines Hertz, ja noch eines Otto Hahn abgenommen hat, wird augenfällig bei den riesigen Teilchenbeschleunigern der gegenwärtigen Physik. Doch mit dem theoretisch notwendigen und möglichen Vorstoß in das räumlich und zeitlich immer Kleinere der Materie hält die Entwicklung der Wissenschaftsmaschinen zunehmend weniger Schritt. Ein Fall hat hier besonders Furore gemacht: Die amerikanische Regierung weigerte sich Anfang der neunziger Jahre, den Bau eines Superbeschleunigers mit einem geplanten Umfang von 87 km noch zu finanzieren. Dabei haben die Grundlagenforscher in der Physik längst Theorieentwürfe vorgelegt, die, so weit sich das übersehen läßt, nur anhand von Experimenten in Teilchenbeschleunigern mit einem Umfang von tausend und mehr Lichtjahren experimentell überprüft werden können. Nur u m das Testdilemma der modernen Grundlagenphysik offenkundig werden zu lassen: unser Sonnensystem hat einen Umfang von einem Lichttag. Derjenige ist nicht tollkühn oder philosophisch vorwitzig, der voraussagt, daß die Wissenschaftlergemeinde solche Beschleuniger niemals ihr Eigen nennen wird. Die Elementarteilchenphysik ist nur die Spitze einer Wissenschaft, die offensichtlich langsam aber sicher ernsthaft unter dem Gesetz vom sinkenden Grenznutzen wissenschaftlicher Forschungsanstrengungen zu leiden beginnt. Bei den Grundlagentheorien in der Physik wird das auch immer offener von den Forschern selber thematisiert. Reschers Maxime, Grenzen der Wissenschaft zu einer Non-Entität zu erklären und vor empirischen Schwierig-
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keiten gegenwärtiger Wissenschaft niemals kleinmütig mit einem „Ignorabimus" zu kapitulieren, schon, um forschungspsychologisch den Durchhaltewillen der Wissenschaftler nicht allzu sehr zu schwächen, weicht unter Physikern immer öfter einer offen ausgesprochenen Skepsis, ob die ins Auge gefaßte große einheitliche Physik der vier Grundkräfte nicht doch mit Testbarkeitgrenzen konfrontiert ist, die sich als unüberwindbar erweisen könnten. Abermals sei stellvertretend für viele Steven Weinberg zitiert: „Wahrscheinlich werden wir nie jene Strukturen untersuchen können, die in einer Weltformel beschrieben werden. Die Strings zum Beispiel, möglicherweise Objekte, die eine solche Formel beschreibt, haben typischerweise Energien, die über tausendbillionenfach über denjenigen liegen, die wir mit den größten heutigen Teilchenbeschleunigern erreichen. Selbst wenn die Menschheit beschließen würde, daß es nichts wichtigeres auf Erden gibt, wäre sie nicht fähig, Experimente bei derartigen Energien durchzuführen." 9 Die hier sichtbar werdende Grenze gegenwärtiger und, wenn nicht bald doch noch ein Theoriewunder geschieht, auch zukünftiger Wissenschaft hat Konsequenzen. Ich will zwei wichtige andeuten. Die erste Konsequenz ist methodologischer Natur. Wenn sich Theorien mit Hilfe bestimmter grundlegender Prinzipien und mit viel Mathematik zwar vereinheitlichen und elegant systemisch abschließen lassen, diese mathematischen Wunderwerke aber nicht weiter empirisch getestet werden können, so ist nicht viel Phantasie für die Voraussage aufzubieten, daß sich die Kriterien wandeln werden, nach denen zumindest Grundlagentheorien akzeptiert werden sollten. Daß solche Fundamentaltheorien empirisch adäquat sind und empirische Tests erfolgreich bestehen, wird in den Hintergrund rücken, daß sie untergeordnete Theorien in hohem Maße vereinheitlichen und dabei mathematisch einfach, ja schön sind, wird in den Vordergrund treten. Edward Witten, einer der Pioniere der SuperstringTheorie, gibt die neue methodologische Losung bereits aus: Auch wenn sie sich niemals direkt empirisch testen lassen sollte, so müsse die Superstringtheorie allein deshalb schon wahr sein, weil sie mathematisch so schön ist. Man muß nicht betonen, wie einschneidend sich das methodologische Verständnis von Theorien wandeln würde, setzte sich dieses Kriterium angesichts der Grenzen, Theorien empirisch zu testen, zumindest für die Grundlagentheorien durch. Die zweite Konsequenz ist forschungspolitischer Natur. Vom sinkenden Grenznutzen wissenschaftlich-technischer Datenproduktion, um Theorien zu testen, bleiben selbstverständlich der Tendenz nach auch andere Wissenschaften nicht verschont. Auch die Grundlagenforschung in der Chemie, in der Biologie steht unter dem Damoklesschwert eines abnehmenden Grenznutzens der Forschung. Abgesehen von technischen Machbarkeitsgrenzen werden die verschiedenen Wissenschaften tendenziell immer stärker um die zunehmend knapper werdenden finanziellen Ressourcen konkurrieren. Der sich allmählich deutlicher 9 Spiegel-Gespräch mit Steven Weinberg: Die Welt ist kalt und unpersönlich,
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bemerkbar machende sinkende Grenznutzen wissenschaftlicher Forschung stellt eine Herausforderung ersten Ranges für eine kluge Forschungspolitik und Forschungsforderung dar.
2.2 Vom Labor als Grenze der Wissenschaft zur Welt „draußen" Die Wissenschaft erforscht alles, was es in der Welt gibt, die Naturwissenschaft alles, was zur Natur gehört. Und doch sind die Naturwissenschaften auf eine bestimmte Teilklasse von Phänomenen besonders bezogen, auf Laborphänomene. Laborphänomene sind Phänomene, die mehr oder weniger technisch aufwendig aus dem Naturgeschehen herauspräpariert werden, Phänomene also, die mit Hilfe technischer Vorkehrungen raum-zeitlich eingegrenzt und hinreichend gegen störende Einflüsse aus ihrer raum-zeitlichen Umgebung kausal isoliert sind. In sehr, sehr vielen Fällen bieten sich den Wissenschaftlern erst unter Laborbedingungen Vorgänge dar, die sie gut beobachten und exakt ausmessen können, die sich wiederholen lassen und die relativ einfach ablaufen, so einfach und übersichtlich jedenfalls, daß sie sich auf eine Weise theoretisch beschreiben lassen, mit der die Wissenschaftler logisch und mathematisch gut zurechtkommen. Unsere Naturwissenschaften 10 beschreiben, erklären und prognostizieren in sehr vielen Fällen nur Laborphänomene quantitativ exakt und in allen relevanten Details. Daraus darf man natürlich nicht schließen, die Geltung unserer Theorien ende an den Grenzen der Laboratorien. Wir haben in der Regel die besten Gründe anzunehmen, daß die an Laborphänomenen entwickelten und getesteten Theorien auch auf die Welt „draußen", die Welt außerhalb der Labore passen. Dieser Annahme liegt letzten Endes ein fundamentales Analogieargument zugrunde. Ich will das Schema solcher Argumente skizzieren. Phänomene P außerhalb der Laboratorien ähneln in relevanten Hinsichten den Laborphänomenen P', auf die eine Theorie T direkt und quantitativ genau und in allen relevanten Details angewendet werden kann. Das ist die erste Prämisse eines solchen Arguments. Die zweite Prämisse besagt, daß es im Vergleich zu den günstigen Laborbedingungen wegen klar benennbarer technischer Schwierigkeiten, Beobachtungsgrenzen und kognitiv-intellektueller Beschränkungen unmöglich ist, die Theorie auf Phänomene außerhalb der Labore quantitativ exakt und detailgenau anzuwenden. Das hat vor allem zwei Gründe, die spiegelbildlich zu den Gründen stehen, derentwegen die Wissenschaftler das Labor aufsuchen: Erstens lassen sich die erforderlichen Messungen, um die Parameter in den fundamentalen Gleichungen spezifizieren und damit diese Gleichungen anwenden und lösen zu können, außerhalb von Laboratorien oftmals nur unter einem völlig unverhältnismäßigen Aufwand oder überhaupt nicht durchführen. Außerdem lassen sich außerhalb der Laboratorien längst nicht alle Faktoren, die ein Phänomen beeinflussen, hinreichend genau oder überhaupt identifizieren. Weil es sich aber nur um Grenzen epistemischer Zugänglichkeit handelt, wird nun zu Recht geschlossen, daß sich die Nicht-Laborphänomene im Prinzip genauso beschreiben 10 Für die Technikwissenschaften gilt das j a sowieso.
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und erklären lassen wie die Laborphänomene. „Im Prinzip" heißt jedoch gerade: Eine explizite, quantitativ exakte und detailgenaue Beschreibung und Erklärung für die NichtLaborphänomene kann nicht präsentiert werden. Selbst wenn wir über die richtigen Theorien verfügen, lassen sich die allermeisten Phänomene in der Welt, weil sie nicht zu der privilegierten Klasse der Laborphänomene gehören, durch die Wissenschaften nicht quantitativ exakt und detailgenau beschreiben und deshalb auch nicht, schon gar nicht langfristig vorhersagen. Wir müssen uns mit Im-PrinzipBeschreibungen und mit Im-Prinzip-Erklärungen begnügen. Doch Im-PrinzipBeschreibungen und Im-Prinzip-Erklärungen nutzen gar nichts mehr, sollen Vorgänge außerhalb der Labore vorhergesagt werden. Beim Austritt aus dem Labor büßt die Wissenschaft oft rasant an zuverlässiger Prognosekraft ein. Genau darin liegt ein gewaltiges Problem. Unsere Umwelt besteht inzwischen zu einem ganz erheblichen Teil aus wissenschaftsbasierten Geräten und Maschinen; einen immer umfänglicheren Teil unseres Lebens bringen wir mit dem Gebrauch wissenschaftsbasierter Geräte und Maschinen zu; unser Zugang zur natürlichen Welt und der Umgang mit unseren Mitmenschen werden immer stärker über Geräte und Maschinen vermittelt. Wissenschaftsbasiert sind diese Geräte und Maschinen deshalb, weil viele der experimentellen Laborvorrichtungen, mit denen die Wissenschaften die Vorgänge in der Natur erforschen, Prototypen derjenigen Geräte und Maschinen sind, die dann in großer Zahl industriell gefertigt und in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens genutzt werden. Durch den Gebrauch dieser Geräte und Maschinen hat sich die Wirksamkeit menschlichen Handelns unglaublich potenziert. Die Wirkungen vieler menschlicher Handlungen erstrecken sich über einen räumlichen und zeitlichen Radius, der vorindustriellen Gesellschaften unbekannt war; und viele Handlungen, einmal ausgeführt, zeitigen eine beängstigende Tiefe der Veränderungen, die sich an den enormen Schwierigkeiten messen lassen, sie gegebenenfalls ganz oder teilweise wieder rückgängig zu machen. Angesichts unserer immer schneller wachsenden Handlungspotenzen wächst der Bedarf an halbwegs zuverlässigen Prognosen über die Wirkungen, die der Gebrauch wissenschaftsbasierter Geräte und Maschinen in der Welt hinterläßt. Die Erwartungen richten sich hier in besonderer Weise auf die Wissenschaften. Sind die Geräte und Maschinen nicht ihre Ziehkinder, und sollten sie dann nicht auch für deren Funktions- und Wirkungsweise sicher prognostisch bürgen können? Das kann die Wissenschaft auch, oftmals mit geradezu atemberaubender Perfektion, solange sie diese Geräte und Maschinen unter Laborbedingungen untersucht. Sobald diese erst einmal in die Umwelt entlassen sind, entziehen sie sich oft dramatisch der prognostischen Kontrolle durch die Wissenschaften. Es öffnet sich also immer stärker die Schere zwischen dem gerade durch den Erfolg der Wissenschaften anwachsenden Bedarf an Prognosen und den begrenzten Möglichkeiten der Wissenschaften, ihn tatsächlich zu befriedigen. Unsere technisch-industriellen Gesellschaften setzen in Wahrheit immer drängender die Frage nach den Prognosemöglichkeiten der Wissenschaften auf die Tagesordnung. Dies ist über weite Strecken eine Debatte über die Grenzen von Wissenschaft, genauer über Grenzen der Prognosefähigkeit von Wissenschaft. Die bereits auf vollen Touren laufende Debatte über komplexe Systeme und deterministi-
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sches Chaos verkürzt jedoch die hier zu führende Diskussion. Das Prognoseproblem ist grundsätzlicher in der methodologischen Struktur der Wissenschaften verankert. Daß unsere Theorien oftmals quantitativ exakt und im Detail nur auf Laborphänomene anwendbar sind, setzt mehr oder weniger dramatische Prognosegrenzen, von denen nicht zu sehen ist, wie sie je überwunden werden könnten. Das Labor ist eine Grenze der Wissenschaft zur übrigen Welt „draußen".
3. Wie stark sinkt der metaphysische „Grenznutzen" der Wissenschaft? Zum Schluß möchte ich, wieder unter der Leitfrage nach den Grenzen der Wissenschaften, noch einen Blick auf das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft werfen. Wenn man es etwas holzschnittartig zeichnet, gehen von der Wissenschaft drei Wirkungen auf unsere Gesellschaft und Kultur aus. Sie entsprechen drei Interessen, die die Mitglieder einer wissenschaftsdominierten Gesellschaft an den Wissenschaften nehmen, selbst dann, wenn sie selber keine Wissenschaftler sind. Menschen sind neugierig, sie wollen wissen, was in der Welt der Fall ist. Niemand befriedigt diese theoretische Neugier besser als die Wissenschaften. Deshalb gibt es neben den Astronomen, den Botanikern oder Zoologen, um nur drei Disziplinen zu nennen, die Hobbyastronomen, die Hobbybotaniker und Hobbyzoologen, die begierig darüber informiert werden wollen, was ihre Lieblingswissenschaften gerade Neues entdecken. Von den Wissenschaftlern und den Wissenschaftsjournalisten wird eigens eine unübersehbar gut florierende Populärwissenschaft betrieben, die die theoretische Neugier der Nicht-Wissenschaftler an der Welt zu befriedigen sucht. Wenn theoretische Neugier befriedigt werden soll, wird die Wissenschaft nie an eine natürliche Grenze stoßen. Es wird, um nur ein einziges Fach hier stellvertretend zu nennen, allein in der Astronomie immer wieder interessante Fragen geben, und die Astronomen werden immer wieder etwas neues entdecken. Eine Supernova zu entdecken und zu beobachten, kann so interessant sein für Laien wie für wissenschaftliche Astronomen, daß darüber die nach Barrow unbeantwortbare Frage nach dem Ursprung des Universums fast vergessen wird. Menschliche Bedürfnisse lassen sich ohne Technik nicht befriedigen. Die Technik ist in vielem eine Frucht wissenschaftlicher Forschung, auch und gerade wissenschaftlicher Grundlagenforschung. Und so liegt denn auch die sichtbarste und nachhaltigste Wirkung der Wissenschaft, der sich niemand auf dem Globus mehr entziehen kann, in dem wissenschaftsbasierten Geräte- und Maschinenpark, der den Lebensraum jedes Menschen mehr oder weniger dicht umgibt und den so viele von uns so extensiv nutzen. Es werden sich der Menschheit immer neue technische Probleme stellen, und nichts deutet darauf hin, daß die Wissenschaft als Quelle technologischer Innovationen und Problemlösungen je versiegen könnte. Doch neben der theoretischen Neugier und dem Interesse und Bedarf an technischer Beherrschung und Kontrolle der Welt ist die Wissenschaft auch noch auf ein drittes Bedürfnis des Menschen bezogen. Menschen wollen ihre metaphysische Lage in der Welt klären. Damit meine ich nichts Geheimnisvolles. Menschen wollen immer wieder unter der Leitfra-
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ge nach dem guten Leben ihre prinzipielle Stellung im Ganzen der Welt begreifen, sie fragen ganz allgemein nach grundsätzlichen Bedingungen und Möglichkeiten von Sinn, Moralität und Glück in ihrem Leben. Auch hierzu haben die Wissenschaften etwas zu sagen, oder hatten es zumindest in der Vergangenheit. Freilich konnten sie metaphysisch im wesentlichen keine frohe Botschaft verkünden. In der Vergangenheit haben die Wissenschaften metaphysisch eher schockiert. Die großen metaphysischen Annahmen des Abendlandes, die dessen Selbst- und Weltverständnis lange nachhaltig geprägt haben, sind von den Wissenschaften grundsätzlich in Frage gestellt worden: die Annahme einer nicht-materiellen Seinssphäre, die Annahme der Existenz Gottes, die Annahme einer immateriellen und unsterblichen Seele, die Annahme der Willensfreiheit, die Annahme der teleologischen Zentriertheit des Universums auf den Menschen. Erinnern wir uns nur kurz an Kant: Ohne die Existenz Gottes, die Willensfreiheit, die Unsterblichkeit der Seele und eine teleologisch auf Glück und Moralität hin ausgerichtete Weltordnung sind für Kant Glück und Moralität des Menschen nicht denkbar. Aber Kant macht sich keine Illusionen: Die empirischen Wissenschaften entziehen in bezug auf die von ihnen erforschte Welt den metaphysischen Annahmen langsam aber sicher den Boden. All das sieht Kant ungeheuer hellsichtig zu einem Zeitpunkt voraus, als die Wissenschaften gerade erst ihren Siegeszug anzutreten begonnen hatten. Heutzutage ist der metaphysische Schock, den die Wissenschaften einst ausgelöst haben, bei vielen verflogen, aber keineswegs ganz; jedoch nicht, weil die von Kant diagnostizierte metaphysische Quintessenz der Wissenschaften inzwischen revidiert worden wäre. Sie ist dieselbe geblieben: Aus der Sicht der Wissenschaften ist der Mensch als Individuum wie als Gattung eine vorübergehende und völlig randständige Episode in einem Universum, in dem das Glück des Menschen nicht eingeplant ist; der Mensch ist als Teil der physischen Welt mit allem, was er tut und erlebt, den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt unterworfen. Welche Konsequenzen wir als Philosophen, als Gläubige oder einfach als Bürger einer von den Wissenschaften ganz wesentlich mitgeprägten Gesellschaft und Kultur aus der kargen metaphysischen Quintessenz der Naturwissenschaften ziehen oder ziehen sollen, ist an dieser Stelle nicht zu erörtern. Interessant für unseren Fragezusammenhang ist vielmehr, daß sich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte an dieser metaphysischen Quintessenz so gut wie nichts geändert hat. Selbst große und größte Veränderungen in den Auskünften der Wissenschaft darüber, was in der Welt der Fall ist, lassen die kurz skizzierte metaphysische Quintessenz völlig unberührt. Ob das Universum seit Ewigkeit periodisch expandiert und anschließend kontrahiert, ob es seit dem Urknall immer schneller expandiert und bis in alle Ewigkeit expandieren wird, ob die Entropie des Universums zu- oder abnimmt, ob die Erde, längst bevor die Sonne erloschen sein wird, von irgendeinem interstellaren Materiemüll getroffen aus ihrer Umlaufbahn trudeln wird, das macht für die Wissenschaft und für die Richtigkeit ihrer Theorien einen gewaltigen Unterschied, nicht jedoch für unsere metaphysische Perspektive: Alle diese wissenschaftlichen Unterschiede ändern nämlich an der metaphysisch allein wichtigen Auskunft nichts mehr, daß wir in diesem Universum eine randständige und vorübergehende Existenz führen, daß wir dem Universum gleichgültig sind, daß, wie es Steven Weinberg ausdrückt, „die Welt kalt und unpersönlich ist" und uns das Universum, „je besser wir es wissenschaftlich begreifen, um so sinnloser erscheint."
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Holm Tetens
Metaphysisch ist die naturwissenschaftliche Forschung schon seit langem völlig unergiebig, oder anders ausgedrückt: der metaphysische Grenznutzen der Wissenschaft scheint gegen Null zu tendieren. Ist also die Wissenschaft mit ihrem Beitrag zu der Frage nach der metaphysischen Situation des Menschen nicht längst an ihr Ende gekommen? Auch das ist eine Grenze der Wissenschaft.
4. Ein Szenario für die Zukunft der Wissenschaft Ich möchte meine Überlegungen zum Schluß in einem Szenario für die Zukunft der Wissenschaft zusammenfassen. Ich werde also das wagen, womit man sich nach Auffassung vieler Philosophen nur blamieren kann. 1. Bei ihrem kosmischen Vorstoß in immer weiter von uns entfernte Raum-Zeit-Regionen des Universums stößt die Astrophysik und Kosmologie auf Beobachtungsgrenzen und auf ökonomische Grenzen, technische Beobachtungsinstrumente zur Verfügung zu stellen. 2. Bei ihrem Vorstoß in den Mikrobereich des räumlich und zeitlich immer Kleineren der Materie stößt die Physik der Materie an Beobachtungs- und Testbarkeitsgrenzen, an technologische und finanzielle Grenzen des Experimentierens. 3. Sowohl die Kosmologie als auch die Fundamentaltheorie der Materie werden mathematisch erfolgreich betrieben und nach metatheoretischen Systemprinzipien mathematisch befriedigend abgeschlossen. 4. Die Mathematik der Kosmologie und der Fundamentaltheorie der Materie ist so komplex, daß kaum noch hinreichend viele Forscher die Theorien unabhängig voneinander mit demselben Resultat durcharbeiten und nachvollziehen, ein bis jetzt wichtiges Kriterium für die Objektivität der Wissenschaft. 5. Die Kosmologie und die Fundamentaltheorie der Materie haben keine technologisch sinnvollen Anwendungen; metaphysisch sind sie unergiebig. 6. Auf der Ebene technologisch sinnvoller Probleme und technologisch anwendbarer Theorien gehen der Wissenschaft weder die Probleme noch die Lösungen aus. 7. Aber auch hier macht der Wissenschaft der abnehmende Grenznutzen wissenschaftlicher Forschung sehr zu schaffen. 8. Immer deutlicher wird erkannt, daß die Wissenschaft die meisten Phänomene und Vorgänge in der Welt nur unter Im-Prinzip-Beschreibungen und Im-Prinzip-Erklärungen subsumieren kann: Prognosebedarf und Prognoseleistung klaffen tendenziell immer weiter auseinander. 9. Immer deutlicher wird: Selbst die wenigen, die die „Theorie über Alles"" kennen, wissen von der Welt fast nichts. 11 Die Fundamentaltheorie der Materie, die große vereinheitlichte Theorie der vier Grundkräfte, würde so etwas wie eine Weltformel enthalten, der jedes Vorkommnis in der materiellen Welt genügen müßte, insofern wird diese Theorie nicht zu Unrecht als „Theorie über Alles" bezeichnet; vgl. Barrow 1992.
Kommt die Grundlagenforschung
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So könnte es mit der Wissenschaft unter anderem weitergehen. Und es ist kein Einwand g e g e n die Plausibilität und Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios, wenn logisch oder erkenntnis-theoretisch nicht ausgeschlossen werden kann, daß die Zukunft der Wissenschaft auch noch ganz anders verlaufen könnte.
Literaturverzeichnis Barrow, J. D.: Theorien für Alles. Die Philosophischen Ansätze der modernen Physik, Heidelberg/Berlin/New York 1992. Ders.: Der Ursprung des Universums. Wie Raum, Zeit und Materie entstanden, München 1998. Ders.: Die Entdeckung des Unmöglichen. Forschungen an den Grenzen des Wissens, Heidelberg/Berlin 1999. Horgan, J.: An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften, München 1997. Lindley, D.: Das Ende der Physik. Vom Mythos der Großen Vereinheitlichten Theorie, Basel/Berlin/New York 1994 Mittelstraß, J.: Das Undenkbare denken. Uber den Umgang mit dem Undenkbaren und Unvorstellbaren in der Wissenschaft, Konstanz 1998. Rescher, N.: Die Grenzen der Wissenschaft, Stuttgart 1985.
Klaus Peter Rippe
Darf die Ethik dem Wissenserwerb Grenzen setzen?* 1. Die Fragestellung In der abstrakten und allgemeinen Formulierung ist die Frage, ob Ethik dem Wissenserwerb Grenzen setzen darf, rasch und leicht mit Ja beantwortet. Es gibt zum Beispiel Experimente am Menschen, die klarerweise moralisch zu verurteilen sind und die nicht ausgeführt werden dürfen. Nehmen wir die von einer amerikanischen Gesundheitsbehörde durchgeführte Tuskegee-Studie:1 Bei 399 an Syphilis erkrankten Afroamerikanern wurde in den 30er Jahren auf eine Behandlung ihrer Geschlechtskrankheit verzichtet, um den „natürlichen Verlauf der Erkrankung" zu studieren. Es ging den beteiligten Forschern und der durchführenden Gesundheitsbehörde um eine Widerlegung der These, daß die Spätfolgen von Syphilis so verheerend seien, wie es die Anti-Syphilis Aufklärung beschrieb. In der Studie wurde eine Bevölkerungsgruppe, männliche Schwarze in Alabama, auf Syphilis gescreent. Die Erkrankten blieben bis zum Tode unter (sporadischer) ärztlicher Beobachtung, erhielten aber keine Behandlung. Die Studie erstreckte sich bis in die 70er Jahre hinein, als der Skandal durch Zeitungsberichte an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Es braucht nicht lange darüber diskutiert zu werden, ob diese Studie moralisch zulässig ist. Eindeutig widerspricht sie unseren tiefliegenden moralischen Grundsätzen und Intuitionen. Alle philosophischen Moraltheorien kommen zur Verurteilung dieser Studie, wenn auch die Schwerpunktsetzung anders aussehen wird. Wie auch immer man aber argumentieren mag, unbestritten bleibt, daß in der Tuskegee-Studie eine Grenze überschritten wurde, welche die Forschung nicht überschreiten sollte. Die Tuskegee-Studie ist ein Skandal - und er ist nicht der einzige, der die Geschichte der modernen Medizin und in Wechselwirkung damit die der Medizinethik prägte. Moralische Überlegungen begrenzen aber auch - unabhängig von diesen großen Skandalen - den Alltag des Forschers, und dies in vielerlei Weise: -
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Wissenschaft und Forschung werden politische und rechtliche Schranken gesetzt, und in die diesbezügliche Gesetzgebung, etwa zu Embryonenversuchen, zum Klonen oder zur biologischen Sicherheit, gehen eindeutig moralische und ethische Überlegungen2 ein. Ethikkommissionen prüfen Tierversuche und klinische Versuche am Menschen.
* Ich danke Silke Jonda und Bettina Schöne Seifert für kritische Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Textes. 1 Vgl. Pence 1990, Kap. 9. 2 Ich unterscheide im folgenden in der üblichen Weise zwischen moralischen Argumenten, die sich auf der Ebene konkreter moralischer Normen und Urteile bewegen, und ethischen Argumenten, die diese Ebene der moralischen Praxis auf einer kritisch-wissenschaftlichen Ebene reflektieren.
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Bei der Vergabe von öffentlich-rechtlichen Forschungsgeldern spielen auch moralische und ethische Überlegungen eine Rolle. Die Forschung muß sich gegenüber der Öffentlichkeit verantworten. Neben diesen äußeren Forschungsrestriktionen setzt auch der eigene Forschungsethos dem Wissenschaftler Grenzen. 3 Dabei geht es nicht allein darum, daß der Wissenschaftler nicht lügen, nicht täuschen und nicht betrügen darf. Schon in der Wahl des Forschungsdesigns fließen eigenverantwortete moralische Überlegungen ein.
Der Umstand, daß Ethik und Moral der Wissenschaft oftmals Grenzen setzen, spiegelt sich in der, wie man sagen könnte, „hohen Ethik-Dichte" des modernen Wissenschaftsbetriebs wider. Aber diese „Ethik-Dichte" ist zunächst einmal die Beschreibung eines empirischen Sachverhalts. Den Moralphilosophen muß mehr die Frage interessieren, ob diese „Ethik-Dichte" moralisch gerechtfertigt ist. Angesichts von Beispielen wie der TuskegeeStudie ist zwar klar, daß die Ethik dem Wissenserwerb Grenzen setzen sollte. Aber unklar ist, welche Grenzen die Ethik der Wissenserwerb setzen soll und setzen darf. Angesichts der hohen Ethik-Dichte ist ferner zu prüfen, ob die jetzigen Grenzziehungen gerechtfertigt werden können oder ob zu einer moralisch verantwortbaren Forschungskontrolle klarere, vorgezogenere oder sogar mehr Grenzen benötigt werden. Es könnte allerdings auch genau anders herum sein: Vielleicht wird die Forschungsfreiheit mitunter in ungerechtfertigter Weise eingeschränkt. Es gilt also auch zu prüfen, ob aus ethischen Überlegungen heraus Forschungsfreiheit gewährt werden sollte, auch wenn die öffentliche Moral ein Vorhaben oder den Einsatz bestimmter Mittel ablehnt. Im folgenden werde ich versuchen, das Verhältnis von Moral, Ethik und Forschungsfreiheit näher zu untersuchen. Ich werde versuchen, die Bedeutung der Forschungsfreiheit herauszuarbeiten und werde Argumente entwickeln, die den Gedanken der Forschungsfreiheit stärken. Ethische Überlegungen können sehr oft dazu beitragen, dem Wissenserwerb Grenzen zu setzen. Aber mitunter gebieten es ethische Gründe auch, dem Forscher die Freiheit zu gewähren, eigene Frage- und Zielsetzungen zu wählen. Bevor ich zu diesem Punkt komme, sind zunächst einige Unterscheidungen zu treffen und einige Beispiele einzuführen, anhand derer die obige Fragestellung näher untersucht werden soll. Die von mir gewählten Beispiele stammen aus den Bereichen der Medizin und der Biowissenschaften. Dies sind jene Bereiche der Forschung, deren Entwicklung in den letzten Jahrzehnten in besonderem Maße eine öffentliche und akademische Diskussion um ethische Grenzen ausgelöst hat. Durch die Beispielwahl ist natürlich nichts darüber gesagt, daß nur im Falle von Medizin und Biowissenschaften ethische Grenzen zu erörtern sind. Dies gilt auch fiir Bereiche der Physik (man denke nur an Forschung zur Kernenergie), der Chemie (man denke an die durch Forschung möglich werdende Herstellung chemischer Waffen) oder auch für Psychologie und Sozialwissenschaften (man denke an die dortigen Untersuchungen an Menschen oder ethnologische Feldforschung). Meine Diskussion erfolgt zudem
3 Vgl. hierzu auch Davis 1999.
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vor dem Hintergrund der derzeitigen Schweizer Diskussion um die Wissenschaftspolitik. Einige der hier genannten Beispiele stammen direkt aus Diskussionen von eidgenössischen und kantonalen Ethikkommissionen. Sie werden aus Datenschutzgründen allerdings so allgemein wie möglich beschrieben.
2. Welche Grenzen setzt die Ethik der Wissenschaftsfreiheit? Wenn es um die Begrenzung der Wissenschaft geht, ist zunächst sinnvoll zu unterscheiden, was moralisch in Frage gestellt wird: das Ziel, die benutzten Mittel, die Nebeneffekte, die mit der Forschung verbunden sind, oder die mögliche Anwendung der (etwa) produzierten Forschungsresultate. Gehen wir diese Kategorien zunächst kurz durch, um die im folgenden zu behandelnden spezifischeren ethischen Fragestellungen herauszuarbeiten.
2.1 Einschränkung der Forschungsfreiheit durch den geforderten Verzicht auf ein mögliches Wissen Wenn man sagt, es sei besser, etwas nicht zu wissen als zu wissen, denkt man in der Regel an Fragen der individuellen Lebensführung. Es geht darum, wie stark ein eventuelles Wissen die Lebensführung des einzelnen negativ verändert und belastet. Viele stimmen zum Beispiel der Aussage der Legende zu, daß es ein Fluch sei, den exakten Zeitpunkt des eigenen Todes zu kennen. Die Abwägung zwischen Nicht-Wissen und Wissen spielt heutigen Tages in einigen medizinethischen Diskussionen eine Rolle, insbesondere bei der Diskussion um pränatale und postnatale Diagnostik. Ist es einer Person zuzumuten, etwas über die eigene genetische Disposition zu wissen, also zum Beispiel zu wissen, daß sie mit der und der Wahrscheinlichkeit im späteren Leben an Alzheimer erkrankt? Hat diese Person ein Recht darauf, etwas nicht zu wissen? Wäre es nicht sogar - im Sinne eines guten Lebens besser, wenn sie es nicht wüßte? Im Zusammenhang dieses Aufsatzes geht es dagegen darum, ob es für die Gesellschaft oder die Menschheit als ganze besser ist, etwas nicht zu wissen als zu wissen. Wer dafür argumentiert, daß es besser sei, auf ein Wissen zu verzichten, bewertet dabei selten allein den Inhalt, den präpositionalen Gehalt des Wissens. Es geht nicht darum, daß es unabhängig von den Auswirkungen des Wissens schlecht ist, etwas über x zu wissen. Es wird vielmehr gesagt, daß das Wissen über x notwendigerweise schlechte Auswirkungen hat. Manche historische Beispiele ähneln hier sehr stark den aufgeführten Fragen der individuellen Lebenspraxis. Sowohl bei den astronomischen Forschungsresultaten des Galilei oder bei Darwins Theorie zur Abstammung des Menschen ging es nicht darum, ob diese Theorien in sich verwerflich seien. Man befürchtete vielmehr, der einzelne Mensch könne in eine Sinn- und Orientierungskrise geraten, wenn er von diesen neuen Erkenntnissen und Theorien erfahre. Indem die Stellung des Menschen im Kosmos in Frage gestellt und neue Deutungen erlaubt schienen, befürchteten die moralischen Kritiker von Galilei und Darwin einen zersetzenden Einfluß auf Glauben, staatstragende Institutionen und nicht zuletzt auf das
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Selbstverständnis des einzelnen. Man befürchtete einen Verlust der individuellen Selbstachtung. Auch bei heutigen Diskussionen befürchtet man die Auswirkungen des Wissens, nicht das Wissen allein. Ein Beispiel sind Forschungen nach den biologischen Ursachen der Homosexualität. In den letzten Jahrzehnten gab es Forschungsprojekte, die sich mit dieser Frage befaßten und die Hypothese aufstellten, Homosexualität sei wesentlich genetisch determiniert, sei durch eine Veränderung des Gehirns verursacht oder sei auf einen Androgenmangel während einer kritischen Entwicklungsphase des Gehirns zurückzuführen. Die Medizinethiker Udo Schüklenk und Michael Ristow vertreten die Ansicht, daß es schwerwiegende moralische Gründe gibt, „solche Forschungen auch in demokratischen, liberalen und säkularen Gesellschaften nicht länger voranzutreiben." 4 Denn sobald Homosexualität auf eine biologische Ursache zurückzufuhren sei, bietet sich Eltern die Möglichkeit, zu verhindern, daß homosexuelle Kinder geboren werden. Es besteht die Option eines pränatalen Screenings, einer Auslese und damit die Gefahr einer Diskriminierung lebender Homosexueller.5 Es wird hier nicht angenommen, daß das Wissen über die biologische Ursache an sich verwerflich sei. Vielmehr träten durch ein etwaiges Wissen Mechanismen in Kraft, die grundlegende Rechte einzelner Bürger bedrohen. Das Gut der Akkumulation von Wissen würde also übertrumpft durch den Vorrang grundlegender moralischer Werte (wie des Prinzips der gleichen Achtung und des gleichen Respekts). Das ist eines der Beispiele, das ich im folgenden noch etwas näher erörtern werde: Soll die Forschung nach den biologischen Ursachen der Homosexualität eingestellt werden?
2.2 Einschränkungen der Forschungsfreiheit, da bei der experimentellen Komponente der Forschung ethische Auflagen vorliegen Es muß nicht lange ausgeführt werden, daß dem Forscher nicht alle Mittel erlaubt sind, um ein Forschungsziel zu erreichen. Die Menschenversuche während des Nationalsozialismus sind ebenso kategorisch abzulehnen wie die der Tuskegee-Studie. 6 Kantianisch ausgedrückt werden die Versuchspersonen in einer Weise in ihrem Personsein verletzt, die nicht gerechtfertigt werden kann. Ein Abwägen gegen andere Güter wie Erkenntnisgewinn oder den Fortschritt der Medizin ist hier nicht erlaubt. In anderen Bereichen wie beim Tierversuch stellen die zugefügte Schädigung des Tieres (das zugefügte Leid, der Streß und die Beeinträchtigung von Funktionen) zwar auch ein ethisches Argument gegen den Versuch dar. Aber dieses Argument verbietet den Versuch nicht kategorisch, sondern gebietet vielmehr eine Güterabwägung. Es ist zu prüfen, ob das Forschungsziel von einer Art ist, die das Zufügen von Leid rechtfertigt. Im allgemeinen wird bereits in den Tierschutzgesetzen festgelegt, welche Gründe einen Tierversuch rechtfertigen können, nämlich Erkenntnisgewinn und
4 Schüklenk/Ristow 1995, 72. 5 A.a.O., 82. 6 Vgl. Wolters 1991,208.
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Fortschritt in Human- und Veterinärmedizin. Die Hauptaufgabe von Tierschutzkommissionen liegt nicht bei der Güterabwägung, sondern bei der Prüfung der involvierten Güter. Die Kommission prüft, ob das rechtfertigende Gut wirklich vorliegt, ob es sich bei dem Gesuch um ein plausibles, methodisch korrektes und angesichts des derzeitigen Wissens erfolgversprechendes Forschungsprojekt handelt. Und sie untersucht, ob der moralische Schaden reduziert werden kann: eine andere Tierart gewählt, weniger Tiere verwendet und ob die zugefugten Schäden durch eine Verbesserung der Methode reduziert werden können, ja, ob eine Alternative zum Tierversuch besteht, die vom Forscher nicht in Erwägungen gezogen wurde. Kategorische ethische Argumente nun könnten zur Folge haben, daß bestimmte Fragestellungen nicht mehr untersucht werden können. Aus kategorischen Argumenten können also praktische Moratorien erwachsen. Aber dies ist nicht notwendigerweise der Fall. Wenn man die Tuskegee-Studie nimmt, wurde das Forschungsziel mit Mitteln angestrebt, die nicht verantwortet werden können. Das heißt aber nicht, daß es verwerflich sei, den natürlichen Verlauf der Syphilis-Erkrankung zu erforschen. Denn wenn eine andere Methode denkbar wäre, wie ein medizinhistorischer Ansatz oder eventuell auch Computersimulationen, könnte man moralisch nichts gegen diese Forschung einwenden. Nehmen wir ein reales Beispiel, wo ein praktisches Moratorium erwogen wurde. Im Rahmen der Diskussion um Xenotransplantation ist einer der tierethisch umstrittensten Punkte der „hohe Verbrauch" von Primaten, die als Empfangertiere verwendet werden. Einige Ethiker argumentieren, daß die Nähe des Primaten zum Menschen diese jetzige Praxis verbieten würde. Auch wenn Xenotransplantation ansonsten moralisch zu begrüßen sei (was ja ebenfalls erst geprüft werden müßte), dürfe in ihrem Rahmen keine Primatenversuche stattfinden. 7 Selbst Autorinnen und Personen, die Primatenversuche ansonsten nicht kategorisch ablehnen, stellen sich auf diesen Standpunkt, da Alternativen zur Xenotransplantation denkbar sind (wie der Übergang von ganzen Organen zu Zellkulturen). Ein solches Verbot von Primatenversuchen würde ein praktisches Moratorium für die Xenotransplantation bedeuten. Aber natürlich könnte es sein, daß neue immunologische Studien dazu führen, daß andere Tiermodelle gewählt werden könnten. Auch wenn die wenigsten ein kategorisches Verbot von Primatenversuchen fordern würden, nehmen diese in der derzeitigen Diskussion eine besondere Stellung ein. Sowohl in Bremen wie in Zürich gibt es eine öffentliche und in Ethikkommissionen geführte Diskussion um den Einsatz von Primaten in der Hirnforschung. Dabei begegnet einem (in der Schweiz) das Argument, Primatenversuche könnten nur dann verantwortet werden, wenn der unmittelbare Nutzen für den Menschen ersichtlich sei. Als Vorstufe zu klinischen Versuchen an Menschen könne der Einsatz von Primaten toleriert werden (etwa wenn Marmosets in der Querschnittslähmungsforschung eingesetzt werden, um Antikörper gegen Nervenwachstums-Hemmer zu testen). Denn Versuche an Primaten gelten als unverzichtbarer Zwischenschritt von Rattenversuchen zu klinischen Versuchen an Menschen. Aber es dürfe
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In der Schweiz stellt dies eine Minderheitsposition dar. In der Eidgenössischen Ethikkommission unterstützt eine Mehrheit ein Verbot von Versuchen an Menschenaffen, aber nicht allgemein an Primaten.
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nicht sein, daß Rhesusaffen oder Makaken leiden, wenn ein solcher konkreter Anwendungsbezug fehlt. So werden Primatenversuche in der Neuroinformatik moralisch abgelehnt, zum Beispiel, wenn es nur darum geht, die Hintergründe des menschlichen Farbsehens zu erkunden. So argumentieren also einige, daß es bei Güterabwägungen im Tierversuch eine Rolle spiele, ob es sich um reine Grundlagenforderung handele oder um anwendungsorientierte Forschung. In der Schweiz gibt es derzeit erste Vorstöße, Primatenversuche in der Grundlagenforschung zu unterbinden. Das heißt, daß Primatenversuche als Vorfeld zu klinischen Versuchen an Menschen noch toleriert, daß aber jene Fragen der Hirnforschung und Neuroinformatik, die mit keiner konkreten Anwendung im klinischen Bereich verbunden sind, unterbleiben sollen. Die Frage ist freilich, wieso Grundlagenforschung moralisch weniger zählen soll als anwendungsorientierte Forschung. Dies ist die zweite Frage, mit deren Beantwortung ich mich etwas eingehender befassen werde.
2.3 Moratorien wegen der negativen Neffeneffekte, die mit der Forschung verbunden sind Ein Aspekt der Forschungsregulierung, der stärker in den Vordergrund getreten ist,8 betrifft die negativen Nebeneffekte der Forschung. Xenotransplantation mag wiederum als Beispiel dienen. Ziel der Forschung ist die Übertragung von tierischen Organen auf den Menschen. Die Übertragung von Retroviren und Zoonosen, also von Tieren übertragene Krankheiten, könnte Nebeneffekt klinischer Versuche sein. Nebeneffekt der vorklinischen Forschung könnten Epedemien sein, die nicht beim Menschen, sondern bei Tieren auftreten. Ein anderes obiges Beispiel, Forschung über die biologische Ursache von Homosexualität, könnte selbst Nebeneffekt von Forschungsprojekten sein. Das Ziel des Human Genome Programs ist nicht, die biologischen Ursachen für Homosexualität zu finden. Vielleicht ist die überwiegende Zahl der Forscher sogar der Ansicht, daß es keine solche Ursache gibt. Aber ein Nebeneffekt des HUGO-Programms könnte sein, daß hier Wissen über die Entstehung der Homosexualität erzeugt wird. Hier könnte Wissen bereitgestellt werden, das Menschen in einer Weise nutzen könnten, die Homosexuelle diskriminiert. Wäre das Argument von Schüklenk und Ristow korrekt, würfe dies auch neues Licht auf das HUGO-Programm.
2.4 Moratorien wegen der möglichen Anwendung der (etwa) produzierten Forschungsresultate Ethische Grenzen zeigen sich zudem, wenn wegen der ins Auge gefaßten Anwendung Forschung geregelt oder eingestellt werden soll. Die Diskussion um die Forschung um die biologischen Ursachen der Homosexualität bezieht sich auf die Anwendung der Forschungsre8 Interessanterweise fehlt diese Kategorie bei Wolters 1991.
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sultate, auf die Konsequenzen, die sich aus der Existenz von pränatalen Test-Kits ergeben könnten, mit denen Homosexualität diagnostiziert werden könnte. Im Beispiel der Primatenversuche in der Neuroinformatik hatte ich von „reiner Grundlagenforschung" gesprochen. Dies ist erklärungsbedürftig. Mitunter wird nämlich gesagt, es gebe keine „reine Grundlagenforschung" mehr. Zumal im Bereich der Biowissenschaften sind die Grenzen zwischen Grundlagen-, Anwendungs- und produktorientierter Forschung in der Tat oft verwaschen. Allerdings gibt es Forschung, bei denen eine Anwendung hypothetisch denkbar ist, aber doch in weiter Feme liegt. Die Neuroinformatik ist ein Beispiel genau hierfür. Die Untersuchung des Farbsehens bei Primaten dient zunächst nur der Untersuchung von Grundlagenfragen und ist in dieser Beziehung Teil eines internationalen Forschungsverbundes, der ein besseres Verständnis des Gehirns erarbeiten will. Eine Anwendung der Forschungsergebnisse im Bereich der Medizin oder durch den Bau von an der Biologie des Gehirns orientierten Computern ist denkbar, aber man kann nicht sagen, daß hier anwendungsorientierte Forschung stattfindet. Zunächst ist es wohl eher als Grundlagenforschung anzusehen. Ziehen wir ein kurzes Zwischenfazit: Die Frage nach den ethischen Grenzen der Wissenschaft teilt sich in eine Vielzahl von Fragenkomplexe: -
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Gibt es Wissen, das notwendigerweise negative Auswirkungen auf grundlegende Rechte von Menschen hat, so daß es besser wäre, auf dieses Wissen zu verzichten? Welche kategorischen ethischen Argumente verbieten bestimmte Experimente? Wie sind bei nicht-kategorischen Argumenten Güterabwägungen durchzuführen? Wie soll man sich angesichts der Risiken verhalten, die mit der Forschung verbunden sind? Soll man Forschungsmoratorien verhängen, wenn die möglichen Anwendungen negativ zu beurteilen sind; oder hat man nur Schritte einzuleiten, die den Mißbrauch verhindern?
Zu jeder dieser Fragestellungen könnte eine eigenständige Monographie geschrieben werden. Im folgenden werde ich mich auf jenen Fragekomplex konzentrieren, ob und wie stark dem Wissenschaftler bei der Wahl seiner Forschungsziele Grenzen gesetzt werden sollten. Dieser Aspekt klang in zwei Beispielen an. Bei der Forschung nach den biologischen Ursachen der Homosexualität geht es explizit darum, daß Forscher bestimmte Fragestellungen nicht bearbeiten sollen. Im Beispiel der Primatenversuche wurde davon gesprochen, daß je nach gewähltem Ziel Forschungsfreiheit in unterschiedlicher Weise begrenzt werden solle. Für den hier gewählten Bereich der Biologie und Medizin wird eine strengere Beschränkung reiner Grundlagenforderung als bei der anwendungsorientierten Forschung gefordert. Tieren und etwaigen anderen moralischen Objekten können demnach eher dann Risiken und Schäden zugemutet werden, wenn ein Nutzen für den Menschen denkbar ist.9 9 Dies gilt natürlich nicht generell für die Forschung, sondern nur für die medizinische Anwendung. Grundlagenforschung in der Gentechnik im außerhumanen Bereich würde dagegen im Vergleich zur anwendungsorientierten Forschung besser bewertet (denn es geht ja „nur" um neue Lebensmittel und „Profite").
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3. Grenzen der Grundlagenforschung Beide Hauptbeispiele bewerten den reinen Wissenserwerb. Kann man in einem oder in beiden Fällen eine Lanze für den Wissenserwerb brechen? Um dies tun zu können, ist zunächst die Bedeutung der Forschungsfreiheit zu untersuchen.
3.1 Warum Forschungsfreiheit? Zur Begründung, warum Forschungsfreiheit10 gewährt werden sollte, werden heute drei Argumente vorgebracht, von denen uns insbesondere das letzte weiterhelfen wird. Das an John Stuart Mills On Liberty angelehnte Standardargument verweist darauf, Forschungsfreiheit sei zu gewähren, damit neue Wahrheiten auf einem freien Markt der Ideen entdeckt und bereits bekanntes Wissen nicht zum Dogma erstarrt, sondern stets hinterfragt und neubedacht werden kann. Dies setzt aber zunächst voraus, daß man Wissen für möglich hält und daß man Wissen einen Wert zuschreibt. Nicht alle würden heute an einem realistischen und rationalistischen Programm festhalten. Und selbst solche, die es tun, müssen nicht jedes Wissen für wertvoll ansehen. Udo Schüklenk und Michael Ristow stehen in einer liberalen Denktradition, und sie akzeptieren sehr wohl die Institution der Forschungsfreiheit. Aber sie behaupten, daß es bestimmte Fragen gibt, bei denen jede gegebene Antwort gefährlicher sei als die nicht-gegebene. Die Forschungsfreiheit müsse deswegen in diesen Bereichen ebenso eingeschränkt werden wie in anderen, wo es nicht um die Fragestellung, sondern um die gewählten Mittel gehe. Man kann Schüklenk und Ristow nicht mit dem Argument überzeugen, daß man hier um des Wissens willen Forschungsfreiheit gewähren sollte. Das zweite Argument wurde von Wilhelm von Humboldt entwickelt. Die Institution der Wissenschaft fuhrt dann zu Nutzen für andere, wenn sie sich selbst überlassen bleibt." Indem die Wissenschaft als eine aristotelische Praxis betrieben wird, in der der Forscher um des Forschens willen forscht, erhält die Gesellschaft jene Güter, die sie sich von der Wissenschaft erhofft: technische Anwendungen, Argumente, die Diskurse rationaler werden lassen oder Orientierungshilfen in Politik und Leben. Aber das Humboldtsche Argument wird nicht jeden überzeugen können. Denn man könnte dagegen einwenden, daß Wissenschaft durch ihre Folgen und Nebeneffekte der Gesellschaft heute eben nicht dasjenige bringt, was sie sich erhofft, sondern im Gegenteil dasjenige bringt, was sie sich nicht erhofft. Man müßte also erst einmal die Frage beantworten, ob die moderne Wissenschafts- und Technikkultur dem Menschen wirklich zu einem besseren Leben verhilft. Ich selbst würde eine bejahende Antwort zwar verteidigen. Aber dies bedürfte einer längerer Ausführung und Diskussion, denn es ist ja zunächst nicht weniger zu klären als die Frage, was genau unter ein „besseres Leben" zu verstehen ist. Wenn besagter externer Nutzen bestritten wird oder tatsächlich 10 Vgl. hierzu auch George 1997, Kap. 3. 11 Vgl. Rippe 1998.
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unterbleibt, scheint bzw. ist Wissenschaft eine Praxis neben anderen, und dann wäre zu fragen, wieso der Staat die eine garantieren sollte aber nicht die anderen. Ein neuerdings von Ronald Dworkin12 entwickeltes Argument könnte genau dieses Zusatzargument liefern, wieso die Praxis der Wissenschaft in der Weise bevorzugt werden sollte, wie dies heute geschieht. Dworkin ist der Auffassung, daß die akademische Freiheit (und damit auch die Forschungsfreiheit) nicht einfach ein Teilaspekt oder eine Anwendung der Freiheit der Rede sei. Denn wieso würde akademische Freiheit dann einigen gewährt und nicht allen? Wieso können Institutionen wie die Kirche die Freiheit der Rede ihrer Angestellten einschränken, während die akademische Freiheit auch gegenüber universitären Instanzen geschützt wird? Dworkin ist der Ansicht, daß akademische Freiheit ein eigenständiger und grundlegender Wert rechtsstaatlicher Gesellschaften ist. Denn es geht in der akademischen Freiheit um weit mehr als um den Schutz von Akademikern und Forschern. Die durch die akademische Freiheit geschützte Sphäre stellt einen integralen Bestandteil einer liberalen Gesellschaft dar. Hier wird eine ethische Grundhaltung verkörpert und symbolisiert, in der Personen frei ihre eigenen Ziele bestimmen und weitgehend ungestört durch die Einwirkung anderer verfolgen können. Dworkin spricht hier (etwas mißverständlich) von einem ethischen Individualismus und (etwas klarer) von einer „Kultur der Unabhängigkeit", der Unabhängigkeit, sich nicht zu etwas bekennen zu müssen, was man für falsch hält, und die Unabhängigkeit, das zu sagen, was man selbst für wahr hält. Forscher und Universitätsprofessoren haben die besondere Pflicht, diese Kultur zu verkörpern: „They have a paradigmatic duty to discover and teach what they find important and true, and this duty is not, even to the degree that medical responsibility may be, subject to any qualification about the best interests ofthose to whom they speak. It is an undiluted responsibility to the truth, (...)."13 Indem in einem geschützten Bereich, der akademischen Welt, die Ideale einer liberalen Streitkultur bewahrt werden, werden insgesamt liberale Tugenden und eine offene Gesellschaft befördert. Dworkin ist darin recht zu geben, daß in der Tat keine andere Sphäre die Kultur der Unabhängigkeit so verkörpern kann wie eine funktionierende und dem eigenen Ethos verpflichtete Universität und Forschungsgemeinschaft. Wenn dies der Fall ist, ist aber zu fragen, ob man nicht Gefahr läuft, diese Kultur der Unabhängigkeit aus moralischen Gründen heraus einzuschränken. Forschungsfreiheit garantiert zwar nicht, daß dem Forscher alle Mittel zur Verfügung stehen, sie garantiert aber, daß jeder Forscher die eigenen Fragestellungen und Zielsetzungen nach eigenem Gewissen und eigenem Urteil wählen darf. Wie dürften Ethikkommissionen reine Grundlagenforschung dann aber anders bewerten als anwendungsorientierte Forschung? Hier kommt eine Ungleichbehandlung der Forscher ins Spiel und eine externe Beurteilung von Forschungszielen, welche die Kultur der Unabhängigkeit verletzt. Und wäre es nicht eine Verletzung der Forschungsfreiheit, wenn bestimmte Forschungsfragen nicht einmal gestellt werden dürfen? Um auf diese Fragen antworten zu können, bedarf es einer weiteren Unterscheidung.
12 Vgl. Dworkin 1996. 13 A.a.O., 251 f.
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3.2 Gibt es ein Recht des Forschers, den eigenen Forschungsbereich zu wählen? Der Forscher darf sich jedes Forschungsziel aussuchen und darf jede Fragen stellen, hat sich bei Verfolgung dieser Zielsetzung aber ausschließlich moralisch legitimer Mittel zu bedienen. Dies heißt natürlich nicht, daß der Forscher damit ein Anspruchsrecht darauf hat, diese Forschung auch auszufuhren. Ob er dies kann oder nicht, hängt an der Bedingung, daß er die finanziellen Mitteln erhält. Bei all jenen Forschern, die auf eine öffentlich-rechtliche Finanzierung angewiesen sind, wird die Zielsetzung durchaus einer politischen und wissenschaftlichen Bewertung unterzogen. Die Fragen, welche Lehrstühle ausgeschrieben und wie sie besetzt werden, wird außer durch wissenschaftliche Aspekte auch durch die Frage entschieden, ob die Forschungsprojekte gesellschaftlich wünschenswert erscheinen. Und sobald der Forscher auf öffentliche Drittmittel angewiesen ist, spielen - wie oben beschrieben - moralische Überlegungen eine Rolle. Sollten Forscher aber auf einen Lehrstuhl gewählt sein und allein mit Hilfe des ihnen zugewiesenen Kredits forschen, haben sie eine - natürlich durch die individuelle Eigenverantwortung begrenzte - Freiheit, ihre Ziele selbst zu wählen. Eine ungleichgewichtige Bewertung von Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung griffe dann aber ungerechtfertigerweise in die Forschungsfreiheit ein. Denn der Forscher hat ein Recht, sein eigenes Forschungsobjekt zu wählen, egal wie anwendungsorientiert es ist. Die Forschungsfreiheit garantiert Wissenschaftlern gerade, Ziele zu setzen, die einer Öffentlichkeit oder privaten Geldgebern auf den ersten Blick nicht nützlich erscheinen. Was folgt daraus für das Beispiel der Primatenversuche? Die Neuroinformatik ist ein Forschungsbereich, in dem öffentlich-rechtliche Gelder fließen. Wahrscheinlich schon bei Einrichtung solcher Lehrstühle, aber mit Sicherheit bei der Berufung war bekannt, daß hier Forschungen an Primaten notwendig sind. Auch bei der Drittmittelvergabe war dieser Sachverhalt bekannt und wurde akzeptiert oder toleriert. Involvierte Ethikkommissionen müßten hier versuchen, die bereits erfolgte moralische Bewertung staatlicher Stellen zu korrigieren. Dies können sie und sollten sie natürlich tun, aber eben nur in Bezug auf die Mittel, nicht in Bezug auf das Ziel. Die Zielsetzung kann nur in dem Sinne geprüft werden, daß Qualitätsstandards der Wissenschaft überprüft werden, nicht so, daß die Zielsetzung selbst moralisch gewichtet wird.14 Mir scheint, Kritiker der Primatenversuche haben nur eine moralische legitime Möglichkeit: Sie können für ein kategorisches Verbot jeder fremdeigennützigen Forschung an Primaten eintreten. Ob ein kategorisches Verbot von Primatenversuchen ethisch zu rechtfertigen ist, wäre dann die nächste Frage. Eine ethische Sonderstellung der großen Menschenaffen ließe sich begründen, denn diese stehen in einem Übergangsfeld zum Personsein. Aber ob sich Primaten in Hinsicht auf Selbstbewußtsein oder moralische Kompetenz von anderen Säugern, Katzen und Schweinen etwa, unterscheiden, bliebe klärungsbedürftig. Hier liefert die derzeitige Ethikdiskussion wohl keine rechtfertigenden Gründe für ein kategorisches Verbot von Primatenversuchen.
14 Vgl. Rippe 1999.
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Klaus Peter Rippe
3.3 Das Beispiel der Homosexualität Im Falle der Forschung über die biologischen Ursachen der Homosexualität liegt der Fall ein wenig anders. Denn hier scheint ein Grundsatz auf dem Spiel zu stehen, der den gleichen Verfassungsrang hat wie die akademische Freiheit. Es geht um nicht weniger als um das Gleichheitsprinzip. Bei der Beurteilung kommt vieles freilich darauf an, wo eine Verletzung des Gleichheitsprinzips liegen soll. Eine erste Möglichkeit wäre zu sagen, schon die Fragestellung verletze den Gleichheitsgrundsatz. Denn nach den biologischen Ursachen der Homosexualität könne nur jemand fragen, der Homosexualität für eine Krankheit halte und diese therapieren möchte. Selbst wenn dies aber der Fall wäre, würde hier die moralische Einstellung des Forschers bewertet. Aber eine solche Gesinnungsprüfung steht kaum im Einklang mit der akademischen Freiheit. Und es kann nicht behauptet werden, daß nur solche Personen die Frage nach den biologischen Ursachen der Homosexualität stellen, die Homosexualität sowieso für eine Krankheit hielten. Auch Homosexuelle könnten - wie Timothy Murphy15 betont - ein Interesse daran haben, zu wissen, warum sie so sind, wie sie sind. Die zweite Möglichkeit besagt, die Anwendung führte zu einer Diskriminierung von Homosexuellen. Würden pränatale Test-Kits zur Verfügung stehen, könne niemand es Eltern verwehren, diese zu benutzen und niemand könne sie hindern, bei einem positiven Befund einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Dies setzt aber voraus, daß ein TestKit wirklich frei zugängig wäre. Wenn das Diskrimierungsargument stimmt, könnte eine liberale Regierung gut beraten sein, dieses Test-Kit nicht zuzulassen. Wenn es zugelassen würde, bestehen in liberalen Gesellschaften in der Tat keine Möglichkeiten, Eltern von der Nutzung und einem möglichen Schwangerschaftsabbruch abzuhalten. Denn diese Entscheidungen werden in liberalen Gesellschaften bewußt der Eigenveranwortung von Eltern übertragen. Man braucht nicht lange zu diskutieren, ob solche Entscheidungen wünschenswert sind oder nicht. Wichtiger ist die Frage, ob hier wirklich eine Diskriminierung von Homosexuellen vorliegen würde. Geborene Homosexuelle blieben gleiche Bürger, sie wären allerdings insofern durch den Umstand in der Selbstachtung verletzt, daß man Menschen wie sie nicht für wünschenswert hält. Aber diese Bedrohung der Selbstachtung rechtfertigt meines Erachtens höchstens eine gesetzliche Regelung der Anwendung, nicht der Forschung. Denn die mögliche Beeinträchtigung der Selbstachtung, die vorliegt, ist zwar zu beachten, aber damit wird kein Verfassungsgut verletzt. Ein Verfassungsgut wäre nur dann verletzt, wenn Homosexuelle nicht als Gleiche behandelt würden. Die dritte Möglichkeit behauptet genau dies. Sie könnte erstens davon ausgehen, daß bereits im pränatalen Bereich eine Gleichbehandlung notwendig sei. Damit hätten wir allerdings nur dann ein Argument von Verfassungsrang, wenn Embryonen als gleiche Personen zählen. Aber wenn man dies voraussetzt, wäre die Anwendung bereits untersagt, da es keine liberale Schwangerschaftsregelung geben dürfte. Man könnte zweitens sagen, daß durch die Praxis eine Entwicklung in Gang gesetzt würde, in der Homosexuelle schließlich als Bürger 15 Vgl. Murphy 1997.
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zweiter Klasse gelten. Allerdings müßte dann gezeigt werden, daß die gegenwärtigen liberalen Gesellschaften so porös sind, daß dieser Dammbruch plausibel ist. Solange man von stabilen liberalen Gesellschaften ausgeht, ist ein Dammbruch nicht zu befürchten. Die vierte Möglichkeit akzeptiert die Stabilität liberaler Gesellschaften, furchtet aber die Auswirkungen in nicht-liberalen Gesellschaften. So argumentieren auch Schüklenk und Ristow. Sie haben ohne Zweifel recht, daß Homosexuelle in vielen Ländern illegitimerweise diskriminiert werden und daß die Ergebnisse der Homosexuellen-Forschung in diesen Ländern mißbraucht werden könnten. Aber im Gegensatz zu diesen beiden Autoren würde ich ein Verbot der Forschung in liberalen Gesellschaften ablehnen. Denn eine liberale Gesellschaft würde dann ein Verfassungsgut verletzen, um in anderen Ländern Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen. Damit jedoch würde sich eine liberale Gesellschaft ihr Hauptargument im Umgang mit nicht-liberalen Gesellschaften nehmen. Denn dieses besteht meines Erachtens darin, daß sie diesen Ländern zeigen, was es heißt, in einer liberalen Gesellschaft zu leben. Man darf die Zugkraft freier und offener Gesellschaften niemals unterschätzen. Der Verzicht auf ein Verfassungsgut käme Regierungen nicht-liberaler Gesellschaften meines Erachtens also gerade entgegen. Forschungsfreiheit ist zu gewähren, auch wenn in anderen Ländern mit diesen Ergebnissen Mißbrauch geübt werden kann.
4. Zusammenfassung Ethik setzt der Wissenschaft eine Vielzahl von Grenzen. Sie prüft die Mittel und Nebeneffekte der Forschung sowie die Anwendung der Forschungsergebnisse. Allerdings sollte bei der Beschränkung der experimentellen Komponente eine ethische Bewertung des Erkenntnisziels keine Rolle spielen. Zudem habe ich dafür argumentiert, daß man schon auf Güter von Verfassungsrang verweisen muß, wenn man einen Verzicht auf ein mögliches Wissen fordert. Denn Forschungsfreiheit gehört zu den strukturellen Merkmalen jeder liberalen Gesellschaft.
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Klaus Peter Rippe
Literaturverzeichnis Davis, M.: The New World of Research Ethics: A Preliminary Map, in: Ders.: Ethics and the University, London 1999, 45-58. DeGeorge, R. T.: Academic Freedom and Tenure. Ethical Issues, Lanham 1997. Dworkin, R.: Why Academic Freedom?, in: Ders.: Freedom's Law. The Moral Reading of the Moral Constitution, Cambridge 1996, 244-260. Murphy, T. F.: Gay Science. The Ethics of Sexual Orientation Research, New York 1997. Pence, G. E.: Classical Cases in Medical Ethics. Accounts of the Cases that Have Shaped Medical Ethics, With Philosophical, Legal, and Historical Backgrounds, New York 1990. Rippe, K. P.: Schlag nach bei Humboldt! Gedanken zu einer liberalen Hochschulpolitik, in: M. Hermann u. a. (Hrsg.): Elfenbeinturm oder Denkfabrik. Ideen für eine Universität mit Zukunft, Zürich 1998, 45-54. Ders.: Ethikkommissionen und die Frage der finalen Unerlässlichkeit, in: Arbeitsblätter des Schweizerischen Arbeitskreis für ethische Forschung 2 (1999), 21-36. Schüklenk, U./M. Ristow: Sollte Forschung nach den Ursachen der Homosexualität stattfinden?, in: Ethik in der Medizin 7 (1995), 71-86. Wolters, G.: Einschränkungen der Forschungsfreiheit aus ethischen Gründen, in: H. Holzhey/U. P. Jauch/H. Würgler (Hrsg.): Forschungsfreiheit. Ein ethisches und politisches Problem der modernen Wissenschaft, Zürich 1991, 199-214.
Kolloquium III Rationalitätstheorien
Herbert Schnädelbach
Einführung Bei diesem Kolloquium ist besonders der Plural im Titel zu beachten, denn eine einheitliche Rationalitätstheorie hat es nie gegeben. Was unter diesen Titel fällt, ist außerdem in außerphilosophischen Zusammenhängen entstanden: Als mit Hegels Tod die große Tradition der Philosophie der Vernunft zu Ende gekommen war und sich die Philosophen fast nur noch mit der Vernunft£n/z'£ beschäftigten, sahen sich philosophierende Wissenschaftler genötigt, sich nunmehr mit ihren eigenen Mitteln des Vernunftthemas anzunehmen, sofern es nämlich ihr eigenes Geschäft betraf. Dabei änderte es Gesicht und Namen, und es erscheint seitdem im modernen und nicht länger metaphysikverdächtigen Gewand mit der Aufschrift,,Rationalität". An zumindest vier Einführungskontexte dieses zugleich alten und neuen Problemfeldes möchte ich kurz erinnern. Da ist zunächst die Ökonomie: Als John Stuart Mills den homo oeconomicus erfand, glaubte er, nur in ein Bild zu setzen, was wir alle als ökonomische Rationalität kennen und furchten, wenn es Arbeitsplätze betrifft: „Minimierung der Kosten bei gleichzeitiger Maximierung des Gewinns" lautet hier die „Philosophie". Was es mit dieser MinimaxRationalität auf sich hat, und daß es auch hier wieder mal nicht ganz so einfach ist, haben uns die rationale Entscheidungstheorie und die Spieltheorie inzwischen gelehrt. Dann die Soziologie: Hier war es vor allem der gelernte Ökonom Max Weber, der bemerkte, daß in der sozialen Welt Rationalisierungsprozesse stattfinden, die sich nicht in Modellen monetärer Größen erfassen lassen, weil sie Lebensformen und Weltbilder betreffen. Der Versuch, so etwas genauer zu fassen, führte ihn zur Konstruktion handlungstheoretischer Idealtypen, und dies machte ihn zum Stammvater der modernen Theorie der Handlungsrationalität. Seitdem gilt die Zweckrationalität - meist noch in einer polemischen Verkürzung als „instrumentelle Rationalität" (Horkheimer) - vielfach als Rationalität überhaupt. Was die riesige kulturkritische Literatur seit den 20er Jahren mit ihrem rationalitätskritischen Lamento ins Auge faßte, war genau das: nicht primär ökonomische, sondern technische und dann auch bürokratische Rationalisierung und ihre beklagenswerten Neben-
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Herbert
Schnädelbach
folgen: die „verwaltete Welt" (Adorno). Was Max Weber betrifft, so wurde dabei meist übersehen, daß er mit dem wertrationalen, affektuellen und traditionellen Handeln ebenfalls Typen rationalen Handelns vorgestellt hatte; differenziertere Handlungstheorien wie die von Jürgen Habermas, die zumindest zwischen instrumenteller, strategischer und kommunikativer Rationalität unterscheiden, sind Versuche, sich in der Fortbildung des Ansatzes von Max Weber der tatsächlichen Komplexität der Handlungsrationalität gewachsen zu zeigen. Ein weiterer Punkt: Ich möchte daran erinnern, daß Max Weber in seinen Schriften zur Wissenschaftslehre auch die Frage erörterte, wie man rationales Handeln wissenschaftlich fassen kann: Was heißt es, rationales Handeln zu verstehen und es dann auch in seinem tatsächlichen Ablauf zu erklären? So wurde Max Weber auch zum Begründer der modernen Theorie der rationalen Handlungserklärung. Skeptiker, die bezweifeln, daß so etwas überhaupt möglich sei, weil nur kausale Erklärungen als wissenschaftliche gelten können, versuchten seitdem immer wieder, das Verstehen aus den Handlungswissenschaften zu verbannen. Dabei hätten sie weitere Argumente bei Sigmund Freud beziehen können, der noch einen anderen Aspekt von „Rationalisierung" ins Spiel brachte als den ökonomischen und technischen: die Einsicht nämlich, daß wir uns über unsere wahren, unser tatsächliches Handeln verursachenden Motive in der Regel selbst zu täuschen pflegen und uns statt dessen nachträglich etwas Rationales zurechtlegen, was unseren Narzißmus weniger kränkt. Aber die Sozialwissenschaftler, die der rationalen Handlungserklärung mißtrauten, waren eben noch mißtrauischer, was die Seriosität der Psychoanalyse betrifft - selbst ein Fall von Rationalisierung? Schließlich die Wissenschaftstheorie: Seit dem Aufstieg ihrer modernen Form im Wiener Kreis der 20er und 30er Jahre ging es ihr um die Klärung und Sicherung wissenschaftlicher Rationalität, und dies in einem kulturellen Klima, das man in heutiger Perspektive getrost als irrationalistisch bezeichnen kann. Die Konjunktur Nietzsches und der Lebensphilosophie, die erneute Beschwörung der totgeglaubten Metaphysik, aber auch ein allgemeines Unbehagen an der technisch und ökonomisch rationalisierten Kultur schaffte einen tönenden Resonanzboden nicht nur für die allgemeine Rationalitätskritik, sondern auch für eine durchgreifende Wissenschaftsi^epi«, die die Wissenschaftstheoretiker herausfordern mußte. Deren Verteidigung wissenschaftlicher Rationalität verstand sich mit Recht als Verteidigung der Aufklärung, und dies um so mehr, als dies in der Folgezeit stets mit eindrucksvoller Selbstkritik verbunden war. Genau daraus aber erwuchs den Verteidigern der Feind innerhalb der eigenen Mauern: die „Rationalitätslücke" (Stegmüller) in der Theorie der Wissenschaftsentwicklung, entdeckt durch philosophische Wissenschaftshistoriker wie Thomas Kuhn und Paul Feyerabend, dessen im Rahmen des XVIII. Deutschen Kongresses für Philosophie besonders gedacht wurde.' Wo also sollte die allseits bedrängte Rationalität nun noch Zuflucht finden, wenn selbst die Wissenschaft als ihr traditioneller Maßstab und Garant sich tatsächlich als ein durch und durch irrationales Geschäft herausstellen sollte?
1 Insbesondere durch eine Ausstellung des Feyerabend-Archives und den Vortrag Paul Feyerabend Dada von Ian Hacking, 35-41 in diesem Band.
after
Kolloquium III - Einführung
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„Rationalitätstheorie" ist somit ein Plural, und kein Kolloquium von endlich vielen Stunden, das dies in seinem Titel anerkennt, kann diese Pluralität ausschöpfen. Aber es wird noch „pluraler", denn auch Rationalität" ist ein Plural. Wir haben uns daran gewöhnt, Rationalität mit Begründung zusammenzudenken - im Anschluß an das lateinische rationem reddere, was aber nur die lateinische Übersetzung von lögon didönai ist, und das heißt buchstäblich „Rede stehen", „vernünftig antworten" - auch „sich verantworten" - und dann freilich auch „argumentieren" oder „einen Grund angeben". So wäre es verfehlt anzunehmen, daß das, was das animal rationale — das lateinische zoön lögon echon - kann, bloß darin bestünde, zu „begründen": Man stelle sich einmal ein solches Lebewesen vor, das gar nichts anderes könnte und täte, als von früh bis abends zu „begründen"! Zum Glück kann es viel mehr. Es kann reden, denn es hat Vernunft und Sprache, wie Aristoteles meint, d. h. es kann Begriffe bilden und gebrauchen, aber auch: Evidentes einsehen, überlegen und dementsprechend handeln, Strategien und Theorien entwerfen und vor allem: sich selbst kritisieren, denn immer und unter allen Umständen Recht haben zu wollen, ist irrational. Das Kolloquium hat sich zu einer zweifachen Reduktion von Komplexität entschlossen: Einmal sollte es um Gründe gehen, denn Gründe haben zu können und , nicht bloß kausal verursacht zu sein' ist sicher eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür, jemandem Rationalität zusprechen zu können. Und so stellt sich die Frage: Was sind Gründe? Aus welchem Stoff sind sie gemacht? Wo gehören sie hin in unserer Welt von Tatsachen, Zuständen und Ereignissen? Vielleicht sind hier einige wort- und begriffsgeschichtliche Hinweise nützlich: ,Gründe' sind eine deutsche Spezialität; im Englischen steht für , Grund' reason und im Französischen raison. Aber auch im Deutschen ist ,Grund' zwar ein altes Wort, aber ein junger Terminus; so wird erst in der deutschsprachigen Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts Leibniz' principium rationis sufficientis mit „Satz vom zureichenden Grund" übersetzt. Bei Kant kommt ,Grund' erstaunlich selten vor, und dann vor allem an Stellen, wo er sich kritisch mit der metaphysischen Interpretation des Leibniz-Prinzips befaßt; ,Begründung' ist bei ihm so rar, daß selbst das Kant-Lexikon von Eisler einen Eintrag nicht für nötig hielt. Berühmt ist der Titel von Schopenhauers Dissertation „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" (1813), der sich direkt auf Aristoteles zurückbezieht. Aristoteles hatte gemeint, es sei das Spezifische der Wissenschaft, daß sie Warum-Fragen (dihöti) beanworten kann, und das, worauf die sich beziehen, nannte er archäi und/oder aitiai, was die Lateiner mit principia und causae übersetzten. Günther Patzig wies bei seinem Abendvortrag2 daraufhin, daß Aristoteles an dieser Stelle keinen terminologischen Unterschied macht, weil er die zeitlich gedachten archäi (Anfänge) der Alten als ständig wirkende aitiai (Gründe oder Ursachen) umdeutet. Der uns geläufige Unterschied zwischen ontischen und epistemischen aitiai erscheint zwar auch schon bei Aristoteles, insofern er in den Analytiken die Schlußprämissen ebenfalls aitiai nennt, aber man erfährt bei ihm nichts Näheres über jenen Unterschied. Nachdem die lateinische Terminologie meist undeutlich zwischen causa und ratio geschwankt hatte, wird dann bei Leibniz klargestellt: ,causa1 ist ontisch und ,ratio' ist
2 Vgl. 60-74 in diesem Band.
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Herbert Schnädelbach
epistemisch zu verstehen; seitdem gibt es für die Philosophen keine ,^?ea/gründe" mehr, d. h. ,Grund-Folge' betrifft nur noch eine Beziehung zwischen Sätzen, nicht mehr eine zwischen Dingen oder Ereignissen. Die moderne Wissenschaft und die ihr folgende Wissenschaftstheorie versuchten seitdem beharrlich, die Gründe aus ihrem Gegenstandsbereich zu verbannen, sofern sie sich nicht als Ursachen interpretieren ließen: Haben Gründe als von Ursachen verschiedene überhaupt eine Existenzberechtigung im wissenschaftlichen Diskurs? Der Differenz ,Grund-Ursache' entspricht der Streit über Verstehen versus Erklären, d. h. mit den Gründen verschwände auch das Verstehen aus dem Bereich des Wissenschaftlichen. Dies zur ersten Leitfrage dieses Kolloquiums: Was sind Gründe? Zum anderen ging es um die Identität von und die Differenz zwischen theoretischen und praktischen Gründen: Sind Gründe dafür, etwas für richtig zu halten, und Gründe dafür, etwas zu tun, der Art oder bloß dem Grad nach verschieden?
Wolfgang Spohn
Über die Struktur theoretischer Gründe Dieser Aufsatz schickt die geneigten Leser auf eine kurze, schnelle Reise durch die Topographie unserer Gründe und Begründungen. Für die Reise ist nicht viel Platz; also mache ich große Sprünge, derer ich mir sehr bewußt bin und die alle sorgfältiger Prüfung und Diskussion bedürften. Über manche bin ich mir nicht wirklich im Klaren; viele meine ich verteidigen zu können. Doch verzichte ich hier, der größeren Strecke zuliebe, auf die nötige philosophische Detailarbeit. Die Stationen der Reise liegen auf Gebieten, die aus der Philosophiegeschichte und der zeitgenössischen Diskussion wohlvertraut sind; darum scheint es mir kaum nötig, diese reichhaltige Einbettung in extenso zu belegen. Die Wege, die ich gehe, sind jedoch vielleicht weniger bekannt und mögen so ein eigenes Interesse für sich beanspruchen. Vor allem aber liefert diese Reise einen Leitfaden zu einer Reihe meiner Schriften, die sich jeweils nur an einer Station aufhalten, dort die philosophische Detailarbeit wenigstens ein Stück weit zu leisten versuchen, für sich alleine jedoch den größeren Zusammenhang wenig deutlich machen. Nur aus diesem Grund und nicht aus Überheblichkeit oder Blindheit werde ich nur auf meine eigenen Schriften verweisen. Der Leitfaden mag nützlich sein. Doch ist meine eigentliche Hoffnung, daß es durch die umfassende Streckenführung gelingt, eine Begrifflichkeit zu demonstrieren, die offenbar geeignet ist, wesentliche Grundfragen der Erkenntnistheorie und der Metaphysik in einheitlicher und fruchtbarer Weise zu erfassen, und daß diese Demonstration ihre eigene Überzeugungskraft entfaltet. Beginn - Gründe: Gründe und Begründungen stiften Beziehungen doxastischer Natur; sie beziehen sich auf das, was wir glauben, für wahr oder für falsch halten können, also auf das, was die Philosophen in diesem Jahrhundert vor allem Propositionen nennen, die primär durch Daß-Sätze ausgedrückt werden, z. B. die Proposition, daß heute in Konstanz die Sonne scheint, oder die, daß heute auf den Tag genau vor 25 Milliarden Tagen an dieser Stelle ein Brachyosaurus geäst hat. Über die trotz umfänglichster Diskussion nicht wirklich geklärte Frage, was Propositionen genau sein sollen, will ich mich hier aber nicht weiter auslassen.1 Worin dann genau die Beziehung bestehen soll, daß eine Proposition eine andere begründet oder für eine andere ein Grund ist, bleibt in der reichhaltigen erkenntnistheoretischen Literatur fast durchweg seltsam vage; a fortiori gilt das für die einstellige Eigenschaft der Begründetheit, die ich in diesem Vortrag nicht weiter thematisieren will. Es gibt einen deduktiven Begriff der Begründung. Der ist präzise, und sogar objektiv, so objektiv eben die deduktive Logik ist; und er ist der, zu dem derjenige, der seine vage Rede schärfer bestim-
1 Siehe aber Spohn 1997a.
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Wolfgang Spohn
men soll, gerne Zuflucht nimmt. Aber er ist offensichtlich viel zu eng. Es gibt eine Reihe weiterer Leitideen zur Fassung eines Begründungsbegriffs, auf die man sich berufen mag, die meinem Überblick nach jedoch samt und sonders nicht theoriefähig sind; zu meinem Verdruß wird das Desiderat der Theoriefähigkeit in der einschlägigen Literatur nicht hinreichend ernst genommen.2 Dabei wäre es so einfach: Wir reden intuitiv von den Gründen für oder gegen eine Proposition, philosophendeutsch gesprochen, oder eine Annahme oder Behauptung, umgangssprachlich gesprochen, von den Gründen, die für oder gegen sie sprechen, die sie stützen oder entkräften, und dergleichen mehr. Das fuhrt unmittelbar zu der folgenden Definition: Die Proposition A ist ein Grund für die Proposition B genau dann, wenn B unter der Annahme oder der Bedingung A stärker oder fester geglaubt wird als unter der Bedingung non-A; d. h., ein Grund ist fürs Begründete positiv relevant und nichts weiter.3 An dieser Definition ist fünferlei bemerkenswert: Erstens heißt, daß eine Proposition eine andere begründet, nicht, daß man über den Grund verfügt. Z. B. ist die Proposition, daß ein Tag später an dieser Stelle charakteristische Fußabdrücke und viele abgerupfte Pflanzen zu finden sind, ein starker Grund für die erwähnte Proposition über den Brachyosaurus; aber natürlich ist uns keine der beiden Propositionen gegeben; wir haben nicht den leisesten Schimmer, ob sie wohl zutreffen oder nicht. Es ist also zu beachten, daß mein Begründungsbegriff völlig neutral hinsichtlich des Habens von Gründen oder ihrer Verfügbarkeit ist. Zweitens ist dieser Begründungsbegriff ersichtlich auf ein Erkenntnissubjekt bzw. seinen doxastischen Zustand relativiert; was des einen Grund, mag des anderen Gegengrund sein. Wie hier eine stärkere Objektivierung zu erreichen ist, ist eine offene und oft skeptisch beantwortete Frage; diese Relativierung ist vielleicht nicht nur vorderhand offenkundig, sondern auch letztlich unvermeidlich.4 Drittens muß der doxastische Zustand, auf den sich die Begründungsrelation bezieht, Glaubensgrade, und in der Tat bedingte Glaubensgrade, zulassen; anders ergibt die Definition mit ihrer Rede vom "stärker oder fester glauben" keinen Sinn. Das Standardmodell hierfür liefert natürlich die subjektivistisch interpretierte Wahrscheinlichkeitstheorie, die mir darum für jeden Erkenntnistheoretiker obligatorisch erscheint. Doch läßt sich in der Wahrscheinlichkeitstheorie die Rede davon, daß ein Subjekt etwas glaubt oder für wahr hält, gar nicht angemessen nachvollziehen. Die optimale Alternative, die beides zuläßt - sowohl bedingte Glaubensgrade wie die Rede vom Für-wahr-Halten - , scheint mir die von mir ent-
2 Diese Klage habe ich in Spohn 2000a etwas genauer ausgeführt. 3 So rede ich seit Spohn 1983a. Aber natürlich ist der Gedanke, daß Bestätigung positive Relevanz ist, aus Carnaps induktiver Logik und der darum geführten Diskussion wohlbekannt. 4 Das ist meines Erachtens die Moral aus Goodmans Induktionsskeptizismus.
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wickelte Theorie der sogenannten Rangfunktionen zu sein.5 Diese ist es, die im Hintergrund aller meiner weiteren Ausfuhrungen steht und sie im gewünschten Maße theoriefähig macht. Aber natürlich kann ich, und werde ich, mich im folgenden auf die philosophische Umgangssprache beschränken. Viertens umfaßt die obige Begründungsrelation deduktive Begründungsbeziehungen; sie ist aber viel umfassender. Nicht-deduktive Gründe nenne ich auch induktiv, im weitesten und vielleicht nicht ganz glücklichen Sinn von „induktiv". Fünftens ist auf einige bemerkenswerte formale Eigenschaften der Begründungsrelation als positive Relevanz hinzuweisen: Von deduktiven Begründungen ist man gewohnt, daß sie transitiv und nicht symmetrisch sind. Mit den hier erklärten deduktiven oder induktiven Gründen verhält es sich genau umgekehrt: Sie sind symmetrisch - wenn A ein Grund für B ist, so ist immer B auch ein Grund für A; Stützung ist immer wechselseitig - , und sie sind nicht transitiv - wenn A ein Grund für B und B ein Grund für C ist, so braucht A trotzdem kein Grund für C zu sein. In allem weiteren beziehe ich mich auf eine fiktive Menge aller Propositionen überhaupt, über deren Nicht-Wohldefiniertheit ich mir völlig im Klaren bin. Die Alternative wäre, sich lediglich auf die gewiß veränderliche Menge von Propositionen zu beziehen, die von einem Subjekt bzw. in einem doxastischen Zustand erfaßt oder verstanden werden. Dies machte uns das Leben in mancher Hinsicht schwerer und setzte allerlei voraus, etwa eine nach wie vor kaum existierende philosophische Theorie des Begriffswandels. Darum werde ich es bei der fiktiven Allmenge belassen. Den angegebenen Begründungsbegriff will ich hier nicht problematisieren6; vielmehr will ich im weiteren doxastische Zustände auf der Menge aller Propositionen betrachten und die Struktur der relativ zu diesen Zuständen bestehenden Begründungsrelationen untersuchen, d. h. untersuchen, welche Form diese Begründungsrelationen rationalerweise annehmen sollten bzw. a priori annehmen müssen. (Noch mehr) Beginn - Apriorität: Da habe ich gerade einen Ausdruck benutzt, der erst noch zu klären ist, bevor die Reise losgeht; ich meine den Begriff der Apriorität: Ein Merkmal eines doxastischen Zustandes heißt a priori, wenn es jedem doxastischen Zustand notwendig zukommt. Das ist absichtlich allgemein ausgedrückt; ein solches Merkmal könnte auch darin bestehen, daß gemäß einem doxastischen Zustand eine bestimmte Begründungsbeziehung besteht. Das normalerweise betrachtete Merkmal ist aber, daß eine bestimmte Proposition in einem doxastischen Zustand geglaubt wird. Also heißt eine Proposition a priori, wenn sie
5 Erstmals dargelegt in Spohn 1983b, Abschn. 5.3, und veröffentlicht in Spohn 1988. Dort hießen sie noch, absichtlich gräßlicherweise, ordinale Konditionalfunktionen; der viel schönere Ausdruck „ranking functions" stammt von Judea Pearl. 6 Siehe aber Spohn 2000a für eine ausfuhrlichere Verteidigung.
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notwendig in jedem doxastischen Zustand für wahr gehalten wird. Umgekehrt heißt eine Proposition a posteriori, wenn sie nicht a priori ist, wenn sie also in einem möglichen doxastischen Zustand geglaubt wird und in einem anderen nicht. Passen diese Definitionen auf mathematische Überzeugungen? Diese Frage und ihre Weiterungen fur empirische Überzeugungen stechen in ein Wespennest heikler Probleme; wir lassen sie besser links liegen.7 Manche - z. B. Quine, wenn er in seiner berüchtigten Attacke auf den Analytizitätsbegriff Analytizität mit Aprioriät verwechselt - verstehen unter Apriorität Unrevidierbarkeit: Ein Merkmal eines doxastischen Zustands ist a priori, wenn es unrevidierbar ist, wenn es also keine mögliche Änderung oder Dynamik dieses Zustands gibt, in dem sich dieses Merkmal ändert. Diese Definition nimmt auf dynamische Gesetze der Veränderung doxastischer Zustände und den von ihnen offen gelassenen Möglichkeiten Bezug. Das ist natürlich eine wesentliche Ingredienz jeder epistemologischen Theoriebildung, die erst auszuformulieren wäre. Doch ist es eine entscheidende Stärke der oben erwähnten formalen Repräsentationen doxastischer Zustände, daß sie hierzu präzise und allgemeine Vorschläge machen.8 Wie immer diese Dynamik genau aussieht, die beiden Definitionen von Apriorität sind nicht äquivalent. Im ersten Sinn ist eine Proposition a posteriori, wenn sie in verschiedenen doxastischen Zuständen in unterschiedlichem Grade geglaubt wird. Das heißt aber nicht unbedingt, daß sich ihr Glaubensgrad in einem gegebenen Zustand ändern läßt; dieser Zustand könnte in bezug auf diese Proposition völlig unbeeindruckbar oder unrevidierbar sein. Dies erschiene freilich als ein unvernünftiger Dogmatismus. Wenn man eine Proposition glauben muß, sie also im ersten Sinne a priori ist, dann kann man das offenbar nicht ändern. Wenn man sie jedoch glauben kann, aber nicht muß, so wäre es dogmatisch, an ihrer Einschätzung unter allen denkbaren Umständen unbeirrbar festzuhalten. Das nenne ich: Das Prinzip des Dogmatismusverbots: Für jede Proposition a posteriori und jeden doxastischen Zustand gibt es eine mögliche Dynamik, die ihn in einen Zustand überführt, in dem diese Proposition einen anderen Glaubensgrad hat. Dieses Verbot ist leicht auf andere doxastische Merkmale ausgedehnt. Weil der darin verwandte Dogmatismusbegriff ungeheuer stark ist, ist dieses Verbot ungeheuer schwach so schwach, daß ich nicht weiß, wie ich noch dafür argumentieren soll. Die naheliegende Option ist, dieses Verbot als ein Rationalitätspostulat aufzufassen, und als solches leuchtet es gewiß ein. Doch frage ich mich, ob die geforderte Variabilität nicht einfach zum Erfassen oder Verstehen der Aposteriori-Proposition im fraglichen doxastischen Zustand gehört und das Dogmatismusverbot insofern ein apriorisches Prinzip darstellt. Der erste Effekt dieses Verbots liegt jedenfalls auf der Hand; es macht die beiden Definitionen von Apriorität äquivalent, so daß wir sie nicht unterscheiden müssen und gleichermaßen heranziehen können: Apriorität ist gleich Unrevidierbarkeit.
7 Daß dies vernünftig ist, habe ich in Spohn 1997a, Abschn. 5, und Spohn 2000a, begründet. 8 Vgl. Spohn 1988, Abschn. 5.
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Freilich müssen wir davon einen zweiten, wirklich ganz anderen Begriff der Apriorität unterscheiden, das entkräftbare Apriori (zu englisch: defeasible a priori); ohne Adjektiv ist immer das unrevidierbare Apriori gemeint: Ein doxastisches Merkmal heißt entkräftbar a priori, wenn es allen doxastischen Zuständen vor jeder Dynamik zukommt, also bevor sie durch Erfahrungen geändert werden. Entkräftbar und somit ganz verschieden vom ersten Aprioribegriff ist das insofern, als ein solches Merkmal gewisse Änderungen oder Erfahrungen nicht überleben muß. Ein prominentes und diskussionswürdiges Beispiel ist das sogenannte Prinzip vom ««zureichenden Grunde, welches a priori gleiche Wahrscheinlichkeiten für einander nicht vorzuziehende Ereignisse, etwa die möglichen Ergebnisse des Wurfes eines Würfels, empfiehlt; das ist entkräftbar, weil uns Testreihen die Unausgewogenheit des Würfels offenbaren können. Ich werde andere Beispiele gleich noch wesentlich verwenden. Ohne Zweifel ist dieser Begriff entkräftbarer Apriorität problematisch, ebenso wie die Kantische Charakterisierung „vor aller Erfahrung" anhaltenden Angriffen ausgesetzt ist. Gleichwohl halte ich diesen Begriff für legitim. Jedenfalls haben wir nun genug an Treibsatz beieinander, um sogleich mächtig in Fahrt zu kommen. 1. Station - Dispositionen: Wir müssen zunächst der ehrwürdigen Wasserlöslichkeit eine Stippvisite abstatten. Diese mag randständig erscheinen; wer sich aber erinnert, wie zentral sie für den logischen Positivismus geworden war, der wird erahnen, daß diese Stippvisite in Wahrheit eine Beschleunigungsrunde ist. Die alte penibel-kritische Diskussion war dahin gekommen, daß Dispositionsbegriffe sich nicht definieren, sondern durch sogenannte Reduktionssätze nur partiell charakterisieren lassen, z. B.: (1)
Wenn x in Wasser gegeben wird, so ist x genau dann wasserlöslich, wenn x sich auflöst.
Man war einerseits versucht, solche Reduktionssätze analytisch zu nennen; andererseits zeigten Beispiele mit mehrspurigen Dispositionen, daß das nicht ganz richtig sein kann. Daher floh man zu solchen Charakterisierungen wie, daß Reduktionssätze quasi-analytisch oder daß Dispositionsbegriffe theoretische Begriffe seien; doch landete man damit bestenfalls bei uneingelösten Programmen. Der oben eingeführte Begründungsbegriff stand damals nicht zur Verfugung - oder genauer: damals war positive Relevanz nur in ihrer probabilistischen Form bekannt, die für die Wasserlöslichkeit nicht einschlägig schien. Mit diesem Begriff steht der Reduktionssatz (1) aber in anderem Licht; seine diversen Wenn-Danns sollten nicht mit den Mitteln der extensionalen Logik, sondern mit diesem Begründungsbegriff gelesen werden. Das liest sich dann so:
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Wolfgang Spohn Unter der Bedingung, daß x in Wasser gegeben wird, ist die Proposition (Annahme), daß x wasserlöslich ist, entkräftbar a priori ein Grund für die Proposition (Annahme), daß x sich auflöst, und vice versa.
Entkräftbar ist das insofern, als immer besondere Umstände vorliegen können, unter denen sich ein wasserlöslicher Gegenstand in Wasser gegeben nicht auflöst, und vice versa, und wir lernen können, solche besonderen Umstände in Rechnung zu stellen. Und entkräftbar a priori ist dieses Begründungsverhältnis, da es, so scheint mir, im Begriff der Wasserlöslichkeit selbst liegt und insofern vor jeder Erfahrung mit wasserlöslichen Gegenständen.9 Dieser Punkt ließe sich vertiefen. Aber beobachten wir lieber, daß Dispositionen nun wahrhaft ubiquitär sind; damit gewinnen wir unmittelbar an Fahrt: Ein den Philosophen teures Beispiel für Dispositionen liefern natürlich die sekundären Qualitäten; nach wie vor heiß diskutiert ist der Status des Reduktionssatzes: (3) x ist rot genau dann, wenn x unter Normalbedingungen für uns rot ausschaut.10 Doch wie wir bei der Wasserlöslichkeit (1) in (2) umgeschrieben haben, so ist (3) folgendermaßen zu reformulieren: (4)
Die Proposition, daß x rot ausschaut, ist entkräftbar a priori ein Grund für die Proposition, daß x rot ist, und vice versa.
Der Bezug auf die Normalbedingungen ist dabei im entkräftbaren Apriori aufgegangen; im entkräftbaren Sinne liegen a priori immer Normalbedingungen vor. Welche Ausnahmen sich unter den Normalbedingungen versammeln, darüber gibt uns die Erfahrung Aufschluß. Nun schauen aber nicht bloß manche Gegenstände für uns rot aus. Alles schaut irgendwie für uns aus; die gesamte Welt hat die Disposition, in der einen oder anderen Weise für uns auszuschauen. Das führt uns zu einer entscheidenden Verallgemeinerung der Aussage (4): Das Schein-Sein-Prinzip: Für jede Proposition A, zu der es auch die Proposition gibt, daß es so ausschaut, als ob A, gilt: daß es so ausschaut, als ob A, ist entkräftbar a priori ein Grund für A, und vice versa. Das ist arg unbestimmt. Für wen schaut es so aus? Für wen ist das ein Grund? Das darf man, so denke ich, beliebig ergänzen, selbst so, daß das Begründungsverhältnis für denjenigen besteht, für den es gerade so ausschaut. Es ist ein sehr großer Schritt von der Aussage (4) zum Schein-Sein-Prinzip, der meines Erachtens legitim ist, auch wenn das gründlichst zu erörtern wäre. Hinter dem konstanten Zusatz „und vice versa" verbirgt sich formaliter nichts 9 Das alles ist viel ausführlicher in Spohn 1997b dargelegt. 10 Vgl. dazu auch die in Spohn 1997c, 366 ff., ausgeführten Ambiguitäten und Subtilitäten.
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weiter als die oben festgestellte Symmetrie der Begründungsrelation. Freilich wäre auszuführen, daß dieser Zusatz und diese Symmetrie in diesen Fällen auch inhaltlich berechtigt ist, daß also etwa die Proposition, daß etwas für mich rot aussieht, nicht einfach eine mir unmittelbar gegebene Basisproposition ist, von der alle Begründung ihren Anfang nimmt, sondern ihrerseits Gründe hat und sogar durch Gegengründe entkräftet werden kann; obwohl ich jetzt in völlig gesunder Geistesverfassung glaube, daß dieser Gegenstand für mich rot ausschaut, kann es sich auch für mich selbst herausstellen, daß er für mich nicht rot ausgeschaut hat. Ich glaube, das läßt sich verteidigen; aber ich räume sofort ein, daß wir uns im Moment in ganz sumpfigem Gebiet bewegen." Der Witz des Schein-Sein-Prinzips springt gewiß ins Auge. Wie ist doch Hume daran verzweifelt, den Hiatus zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Schein und Sein zu überwinden, und was hat es nicht alles an tiefen, lehrreichen und verstiegenen Reaktionen auf die Humesche Skepsis gegeben! Unser Prinzip gibt darauf eine direkte unkomplizierte Antwort; und seine Aussicht auf Erfolg liegt darin begründet, daß es den angemessenen, nämlich entkräftbaren Aprioritätsbegriff verwendet. 2. Station - Kohärenzprinzipien: Das Schein-Sein-Prinzip macht schon eine relativ allgemeine Aussage zur Struktur der Begründungsrelation, weil für sehr viele A-posterioriPropositionen A auch das Ausschauen-als-ob-^ eine sinnvolle Proposition liefert. Hinter der absichtlichen Vagheit des „sehr viel" steckt der von der einschlägigen Diskussion nahegelegte Verzicht auf den Versuch zur Auszeichnung einer fixen Beobachtungssprache. Mit der kräftigen Unterstützung dieses Prinzips gelangen wir leicht zu völlig allgemeinen Strukturaussagen. Deren erste ist: Das spezielle Kohärenzprinzip: Zu jeder A-posteriori-Proposition B gibt es eine andere, A, derart, daß A ein Grund für B ist. Der logisch Gewitzte mag sogleich einwenden, daß dieses Prinzip völlig trivial sei, weil es immer deduktive Gründe gebe, die ja, wie ich festgestellt hatte, immer auch Gründe im hier zugrunde gelegten Sinn der positiven Relevanz seien. So meine ich das spezielle Kohärenzprinzip natürlich nicht. Grob gesagt, soll es eher besagen, daß es zu jeder Proposition B eine davon logisch unabhängige Proposition gibt, die für B ein induktiver Grund ist; und auch diese Formulierung wäre noch zu verbessern. Diese Sorte von Bemerkung wäre im folgenden laufend zu machen; ich werde sie mir ersparen.12 Das spezielle Kohärenzprinzip schaut gewiß plausibel aus. In der Tat schaut es wie eine vernünftig abgeschwächte Version der berühmt-berüchtigten Verifikationstheorie der Bedeutung aus, derzufolge ein Proposition sinnlos, d. h. eigentlich gar keine Proposition ist, wenn es keine Methode zu ihrer Verifikation gibt. Wenn wir darin das viel zu starke Verifi-
11 Siehe aber die ausführlichere Diskussion in Spohn 1997/98. 12 In Spohn 1991, 178 f., war ich da sorgfältiger.
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zieren durch das viel schwächere Begründen ersetzen, landen wir anscheinend direkt beim speziellen Kohärenzprinzip. Diese Überlegung setzt freilich voraus, daß Propositionen über ihre Begründungsbeziehungen individuiert sind. Das scheint mir mittlerweile kurzschlüssig. Diese Methode der Individuation ist meines Wissens nirgendwo konstruktiv eingelöst, und ihr Verhältnis zur wesentlich üblicheren Individuation von Propositionen durch ihre Wahrheitsbedingungen liegt nach wie vor sehr im Unklaren. Schließlich wird sich, wie zu erahnen, zum speziellen in Kürze ein allgemeines Kohärenzprinzip hinzugesellen, das sich über die Individuation von Propositionen überhaupt nicht etablieren zu lassen scheint. Wenn das also kein guter Weg zum speziellen Kohärenzprinzip ist, wie gelangen wir dann zu ihm? Nun, ich sagte, wir müssen nur unseren bisherigen Weg weitergehen. 13 Fragen wir uns zunächst, wie man obigem Dogmatismusverbot Genüge tun und den Glaubensgrad, den man einer gegebenen Proposition B gibt, ändern kann. Vor allem dadurch, daß man Gründe für oder gegen B erhält. Permanent bekommen wir Gründe für dieses und Gegengründe zu jenem, und rationalerweise sind es genau diese Gründe, die unsere Glaubensdynamik antreiben. Wenn nun aber besagte Proposition B das spezielle Kohärenzprinzip verletzte und es keinerlei Gründe für sie und damit auch keinerlei Gründe gegen sie gäbe, so gäbe es also nichts, was ihren Glaubensgrad ändern könnte, und sie verletzte mithin auch das Dogmatismusverbot. Diese Argumentation hat allerdings eine Lücke. Der erkenntnistheoretische Fundamentalist wird sagen, daß manche Gründe, die wir bekommen, sich nicht auf andere Gründe zurückführen lassen; von manchen Propositionen, den Basispropositionen im erkenntnistheoretischen Sinne, erhalten wir durch Wahrnehmung auf direkte Weise Kenntnis und ändern so auf direkte Weise ihren Glaubensgrad; für diese Basispropositionen gibt es weiter keine Gründe. Doch irrt der Fundamentalist: Diese Lücke wird gerade von unserem Schein-SeinPrinzip geschlossen. Welche Propositionen in diesem Sinne basal sein sollen, ist notorisch wenig klar. Doch gibt es vor allem zwei Kandidaten: Entweder wird die Basis phänomenologisch konzipiert; dann besteht sie aus lauter Propositionen der Form „es schaut so aus, als ob A". Oder die Basis wird physikalistisch konzipiert; dann besteht sie aus lauter Propositionen A, für die es auch so ausschauen kann, als ob A. In beiden Fällen besagt aber das Schein-Sein-Prinzip, daß auch die vorgeblichen Basispropositionen des Fundamentalisten in Begründungsbeziehungen stehen. Quod erat demonstrandum. Diese Form der Argumentation läßt sich in der Tat verallgemeinern und führt dann auf ein wesentlich stärkeres Kohärenzprinzip und somit auf eine wesentlich stärkere Aussage über die Struktur der Begründungsrelation 14 :
13 Wie ich in Spohn 1999 ausgeführt habe. 14 Vgl. Spohn 1999, Abschn. 7.
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Das allgemeine Kohärenzprinzip: Wie immer man die Menge aller Propositionen a posteriori in zwei Teilmengen M und N zerlegt, es gibt eine Proposition A in M und eine Proposition B in N derart, daß A ein Grund für B ist. Das spezielle Prinzip sagt nur etwas für den Fall, daß N eine Einermenge ist; insofern ist das allgemeine Prinzip in der Tat entscheidend stärker. Ich will dafür jetzt nicht argumentieren. Aber es ist vielleicht erahnbar, daß der eben beschrittene Argumentationsweg auch hier verfängt, ebenso wie wohl plausibel ist, daß Annahmen über die Individuation von Propositionen dieses allgemeine Prinzip gar nicht erreichen. Etwas pathetisch, aber gewiß nicht falsch ausgedrückt, beinhaltet das allgemeine Kohärenzprinzip so etwas wie die Einheit der (empirischen) Wissenschaften, die Einheit und Unzerlegbarkeit unseres Weltbildes. Für sich genommen ist das gewiß bedeutsam, doch fehlt es mir noch an wirklich interessanten theoretischen Querverbindungen für dieses starke Prinzip. 3. Station - Wahrheit und Stabilität: So weit bilde ich mir ein, relativ festen Boden unter den Füßen zu haben und all die Versprechen, die ich gegeben habe - viel mehr habe ich ja nicht getan - , auch einlösen zu können. Für die weitere Reise bin ich mir teilweise viel weniger sicher. Aber sei's drum; stoßen wir mutig weiter vor ins All der Gründe. Die aktuelle erkenntnistheoretische Diskussion ist sehr geprägt von der Auseinandersetzung zwischen Internalisten und Externalisten. In ihr geht es um die Frage, wie denn in der Gleichung „Wissen = gerechtfertigte wahre Meinung" der Rechtfertigungsbegriff zu verstehen sei. Die Internalisten insistieren darauf, daß die Gerechtfertigtheit einer Meinung etwas sei, was dem Subjekt aus seiner eigenen Binnenperspektive heraus im Prinzip zugänglich sein müsse, während die Externalisten darauf insistieren, daß die Wissensträchtigkeit und insofern Gerechtfertigtheit von Meinungsbildung auf der Zuverlässigkeit ihrer Methoden beruht, welche der Binnenperspektive des Subjektes freilich verborgen sein kann. Mit meinem Begründungsbegriff habe ich mich so weit auf die Seite der Internalisten geschlagen; die Begründungsrelation ist dem Subjekt ebenso zugänglich wie sein eigener doxastischer Zustand. Umso drängender ist die Frage der Externalisten, was das Begründen mit der Wahrheit zu tun habe. All das Gründe Suchen und Finden, alles Ausrichten der Glaubensdynamik an den Gründen, die man erhält, ist eitel, wenn es darauf keine Antwort gibt. Nun, zunächst ist klar, daß alle Gründe, die wir für eine Proposition oder eine Annahme haben, natürlich Gründe für ihre Wahrheit sind; so viel ist tautologisch. Doch heißt das nur, daß wir, wenn wir etwas annehmen, es als wahr annehmen; darüber, ob es auch wahr ist, ist damit nichts gesagt. Hier sind also substantiellere Aussagen vonnöten. Die erste, die ich vorschlagen möchte, ist: Das schwache Entdeckbarkeitsprinzip: Für jede wahre Proposition a posteriori und jeden doxastischen Zustand gibt es eine realmögliche Dynamik, die ihn in einen Zustand überfuhrt, in dem diese Proposition für wahr gehalten wird.
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Hieran ist vor allem der dunkle Ausdruck „realmöglich" zu erläutern. Das soll etwas zwischen „tatsächlich" und „möglich" sein. Tatsächliche Glaubensdynamiken sind die, die tatsächlich vorkommen; es gibt ihrer so viele, wie es Menschen gibt, und sie sind in Raum und Zeit sehr beschränkt. Mögliche Glaubensdynamiken, von denen im obigen Dogmatismusverbot die Rede war, waren beliebige mögliche Erfahrungswege in beliebigen möglichen Welten; Science-Fiction-Filme gaukeln uns solche möglichen Erfahrungswege in immer phantastischerer Weise vor. Realmögliche Glaubensdynamiken sollen hingegen mögliche Erfahrungswege in der tatsächlichen Welt sein. Das „real" ist ganz eng und läßt nur diese Welt zu; das „möglich" soll darin aber denkbar weit gefaßt sein. Die Wahrheit über jenen Brachyosaurus vor genau 25 Milliarden Tagen herauszufinden, d. h. wahre Gründe dafür zu finden, wäre ja ganz einfach, wenn man an jenem Tag und jenem Ort bloß hinschaute. Das soll realmöglich sein, auch wenn wir natürlich keine Zeitreise machen können und de facto höchstens ein Jahr später alle Spuren der Ereignisse jenes Tages vollkommen ausgelöscht waren. Realmöglich soll es also zumindest sein, all unsere Untersuchungsmethoden vom Hinschauen bis zu kompliziertesten Experimenten auf alle Raum-Zeit-Stellen unserer Welt anzuwenden. Wiederum scheint mir das schwache Entdeckbarkeitsprinzip hoch plausibel. Doch abermals ist mir nicht ganz klar, warum. Die einfachere Antwort ist wiederum, daß das ein Rationalitätspostulat ist: so sollten sich doxastische Zustände und ihre Dynamiken verhalten; und da das Postulat nicht, quasi zufällig, nur für die eine wirkliche Welt gelten kann, die uns ja weitgehend unbekannt ist, sollte es zumindest für alle Welten, die wir für möglich halten, gelten. Doch frage ich mich, ob nicht auch dieses Prinzip apriorische Gültigkeit für sich beanspruchen kann, ob eine hinreichend schwach verstandene Entdeckbarkeit nicht schon im Begriff der Wahrheit a posteriori liegt. So oder so folgt freilich das Dogmatismusverbot aus dem schwachen Entdeckbarkeitsprinzip. Ähnlich wie an der letzten Station folgt analog zum speziellen Kohärenzprinzip: Das schwache Prinzip der Wahrheitskohärenz-. Zu jeder wahren Proposition gibt es eine andere wahre Proposition, die ein Grund für erstere ist. Inwiefern ist das bisher formulierte Entdeckbarkeitsprinzip ein schwaches? Insofern, als es nur sagt, daß die Erfahrung uns im Prinzip dazu bringen kann, eine wahre Proposition auch für wahr zu halten; das schließt aber nicht aus, daß wir sie aufgrund weiterer Informationen wieder für falsch halten. Doch haben wir diesen Fall gewiß nicht gemeint, wenn wir denken, daß die Wahrheit im Prinzip entdeckbar sei. Dieser Gedanke führt auf eine stärkere Aussage: Nennen wir dazu ein Merkmal eines doxastischen Zustandes stabil unter der Menge D möglicher Dynamiken oder kurz D-stabil, wenn es auch allen Zuständen zukommt, die sich aus dem ersten durch Dynamiken aus der Menge D ergeben können. Unrevidierbare Apriorität etwa ist also Stabilität unter allen möglichen Dynamiken, d. h. die stärkste Stabilität überhaupt, während entkräftbar Apriorisches gar nicht stabil zu sein braucht. Mithilfe dieses Begriffs können wir den Gedanken, Wahrheit sei im Prinzip entdeckbar, besser ausdrücken:
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Das starke Entdeckbarkeitsprinzip: Für jede wahre Proposition a posteriori und jeden doxastischen Zustand gibt es eine realmögliche Dynamik, die ihn in einen Zustand überfuhrt, in dem diese Proposition realmöglich stabil (d. h. stabil unter allen realmöglichen Fortsetzungen dieser Dynamik) für wahr gehalten wird. Mit anderen Worten, die Erfahrung kann uns im Prinzip dazu bringen, eine wahre Proposition so für wahr zu halten, daß uns weitere Erfahrungen nicht mehr davon abbringen können. Was ich zur möglichen Begründung des schwachen Entdeckbarkeitsprinzip sagte, gilt, scheint mir, in gleicher Weise für die starke Version. Nennen wir analog A einen schließlich stabilen Grund für B, wenn es eine wahre Proposition C gibt, so daß A unter allen wahren Bedingungen, die C verstärken, ein Grund fur B ist. Man beachte, daß diese Form der Begründungsstabilität ebenso wie obige realmögliche Stabilität implizit, aber massiv auf unsere tatsächliche Welt relativiert ist. Damit können wir aus dem starken Entdeckbarkeitsprinzip analog ein weiteres Prinzip gewinnen, nämlich: Das starke Prinzip der Wahrheitskohärenz: Zu jeder wahren Proposition gibt es eine andere Proposition, die ein schließlich stabiler Grund für erstere ist. Natürlich implizieren die starken Prinzipien die jeweiligen schwachen Versionen. Dieser Stabilitätsbegriff spielt in der aktuellen erkenntnistheoretischen Diskussion, in verschiedenen Varianten, eine nicht unprominente, aber einigermaßen unsystematische Rolle; sein erstes zeitgenössisches Vorkommen finde ich im sogenannten Kriterium der maximalen Bestimmtheit in Hempels Theorie der induktiv-statistischen Erklärung. Seine Eigenschaften systematisch auszuarbeiten, scheint mir ein dringendes Desiderat zu sein. Den stärksten Verbündeten dieser Prinzipien der Entdeckbarkeit und der Wahrheitskohärenz sehe ich in Putnams internem Realismus, welcher, grob gesagt, behauptet, daß die (eine?) ideale Theorie nicht falsch sein könne - wobei die ideale Theorie jedenfalls eine ist, die alle realmöglichen Erfahrungen verarbeitet hat. Mit der Wahrheitskohärenz wird das weiter expliziert: wenn alle wahren Gründe unmittelbar bzw. auf hinreichend umfassenden wahren Hintergründen immer nur gegen die Proposition B sprechen, dann kann B nicht wahr sein; so muß es die ideale Theorie sagen, und so sagen es das schwache bzw. das starke Prinzip der Wahrheitskohärenz. Dieses Bündnis ist mir durchaus willkommen, und vielleicht hilft es nicht nur mir, sondern auch Putnam. 4. Station - Metaphysik: Auch Sachverhalte, die man sich neuerdings wieder metaphysisch zu nennen traut, sind fest in Begründungszusammenhänge eingespannt; dadurch und nur dadurch werden sie uns zugänglich. Eine wichtige Klasse solcher Sachverhalte liefern Kausalbeziehungen. Werfen wir also noch einen ganz kurzen Blick aufs weite Feld der Kausalität: Ein schließlich stabiles Begründungsverhältnis bleibt, so sagte ich, unter allen weiteren wahren Informationen bestehen. Etwas anderes ergibt sich, wenn die weitere wahre Information sich nur auf die Vergangenheit des Begründeten beziehen darf: Seien A und B zwei Propositionen oder Einzelsachverhalte, die sich jeweils auf einen bestimmten Zeitpunkt
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beziehen, A dabei auf den früheren. Dann heiße A ein schließlich vergangenheitsstabiler Grund für B, wenn es eine wahre, die Vergangenheit von B betreffende Proposition C gibt, so daß A unter allen wahren, die Vergangenheit von B betreffenden Bedingungen, die C verstärken, ein Grund für B ist. Wenn meine vor langem vorgelegte Explikation des Ursachenbegriffs und die dahinterstehenden Argumentationen15 überzeugend sind, so gilt in der Tat: A ist genau dann eine direkte Ursache von B, wenn A ein schließlich vergangenheitsstabiler Grund für B ist. Hier ist von Kausalverhältnissen in der tatsächlichen Welt die Rede. Aber natürlich kann man all die darin benutzten Begriffe und damit auch den Begriff der direkten Ursache auf eine beliebige mögliche Welt beziehen. Diese Explikation, die den Ursachenbegriff unmittelbar in den hier dargelegten theoretischen Zusammenhang stellt, führt sogleich zu aufschlußreichen Folgerungen: Da haben wir etwa: Das sehr schwache Kausalitätsprinzip-. Jeder Einzelsachverhalt B hat in wenigstens einer möglichen Welt, in der er besteht, eine direkte Ursache oder eine direkte Wirkung. Sehr schwach in der Tat: „In einer möglichen Welt" ist schwach und „Ursache oder Wirkung" ebenfalls. Doch erweist sich unter der eben gegebenen Explikation das sehr schwache Kausalitätsprinzip als äquivalent mit dem ja auch sehr schwachen speziellen Kohärenzprinzip.16 Etwas interessanter ist: Das schwache Kausalitätsprinzip: Jede Einzeltatsache hat eine direkte Ursache oder eine direkte Wirkung. Dieses Prinzip ist nicht mehr sehr schwach, da es sich auf die tatsächliche Welt und nicht bloß auf mögliche Welten bezieht; aber es ist immer noch schwach, da es nur die Existenz von Ursachen oder Wirkungen behauptet. Nun läßt sich beweisen, daß das schwache Kausalitätsprinzip das schwache Prinzip der Wahrheitskohärenz impliziert; die umgekehrte Implikation gilt allerdings nicht. Man könnte hoffen, daß es wenigstens vom starken Prinzip der Wahrheitskohärenz impliziert wird; aber das ist wegen des subtilen Unterschieds zwischen der Stabilität und der Vergangenheitsstabilität von Gründen nicht klar.17 Doch zeigen
15 Vgl. etwa Spohn 1983a und Spohn 2000b. 16 Siehe Spohn 1983b, Abschn. 6.3, und Spohn 1991, 180. 17 Siehe dazu Spohn 1991, 181 ff.
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diese Beispiele, daß hier eine mathematisch präzise Theoriebildung mit philosophischem Gehalt möglich ist, welche der Weiterführung harrt. Doch tun wir noch einen weiteren Schritt und stoßen zuallerletzt zum Wesen der Dinge vor. Kripke hat uns gelehrt, daß metaphysische Notwendigkeit und Apriorität zwei unabhängige Begriffe sind. Daraus ergibt sich für uns zunächst, daß sich Notwendigkeiten a posteriori - wie etwa „der Abendstern ist der Morgenstern", „Wolfgang Spohn ist ein Mensch", „Wasser ist H 2 0 " oder „Wale sind Säugetiere"- ebenso in Begründungszusammenhänge einbinden wie alle anderen Propositionen a posteriori. Das heißt insbesondere, daß sich all die bisher formulierten Prinzipien auch auf Notwendigkeiten a posteriori erstrecken; mithin sind etwa auch Essenzen im schwachen und im starken Sinne entdeckbar. Freilich wüßte man gerne, ob sich solche metaphysischen Notwendigkeiten auch begründungstheoretisch auszeichnen. Ich glaube ja. Bekanntlich ist die Eigenschaft G wesentlich für die Eigenschaft F, wenn notwendigerweise jedes F ein G ist; und alles, was für F wesentlich ist, ergibt zusammen das Wesen des F-Seins. Wenn darin F die Eigenschaft ist, mit dem Gegenstand a identisch zu sein, so erklärt sich damit das Wesen von a. Mit der Möglichkeit, Gründe zu finden, scheint mir das in der folgenden Weise zusammenzuhängen: Falls G wesentlich für F ist, so ist zunächst plausiblerweise zu erwarten, daß die Proposition, daß x ein F ist, ein schließlich stabiler Grund dafür ist, daß x ein G ist, und zwar nicht nur in der tatsächlichen Welt, sondern in allen Welten, in denen G wesentlich für F ist. Das ist aber noch zu schwach. Vielmehr scheint darüber hinaus zu erwarten, daß die Proposition, daß x ein F ist, ein schließlich ausschlaggebender Grund dafür ist, daß x ein G ist - in dem Sinne, daß die erste Proposition auf einem hinlänglich umfassenden wahren Hintergrund nicht bloß ein Grund, sondern ein hinreichender Grund für die zweite Proposition ist und bei beliebigen wahren Verstärkungen dieses Hintergrundes bleibt; es kann sich dann also kein Umstand mehr finden, unter dem die Proposition, daß x ein F ist, die Proposition, daß x ein G ist, nicht glaubhaft macht.18 Ob das die geeignete Formulierung des gesuchten Zusammenhangs ist, steht freilich sehr dahin und ist ohne umfassende Diskussion nicht zu klären. Hier kam es mir zuletzt nur auf den Hinweis darauf an, daß auch solche metaphysischen Sachverhalte ihren begründungstheoretischen Ort haben. Doch ist nur zu offenkundig, daß diese schnelle Jagd durchs Reich der Gründe mit aller erdenklichen philosophischen Umsichtigkeit noch einmal abgeschritten werden sollte. Hier habe ich nur angestrebt, in den geneigten Lesern die philosophische Neugier auf diesen bedächtigen Nachvollzug zu wecken.
18 Diese Form von Zusammenhang habe ich in Spohn 1997c, 373 f., konkret zur Begründung einer Typidentität mentaler und physischer Zustände verwandt.
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Julian Nida-Rümelin
Was ist ein praktischer Grund? Die wohl nach wie vor dominierende Standardauffassung besagt, ein praktischer Grund, also ein Grund dafür, eine bestimmte Handlung auszufuhren, bestehe in einem Wunsch der betreffenden Person zusammen mit einer Überzeugung der betreffenden Person, daß gerade diese Handlung jenen Wunsch besser als jede andere in dieser Situation (ihr) mögliche Handlung erfüllt. Ein praktischer Grund für eine Handlung besteht in einer geeigneten Kombination eines Wunsches und einer Meinung. Im Geiste ist das alles zu indizieren, die Handlung, der Wunsch, die Meinung jeweils mit klein i - i für die betreffende Person, die handelt, wünscht, meint. Diese verführerisch einfache Theorie praktischer Gründe wird in der englischsprachigen Literatur meist als „humean" oder „subhumean" (nach David Hume) bezeichnet wird. Ich möchte es gern offenlassen, ob diese Theorie tatsächlich von David Hume vertreten wurde, und nenne sie daher die Standardtheorie. Sie ist eine Theorie praktischer Gründe in Gestalt einer Theorie der normalen oder rationalen Handlungsmotivation. Meine eigene Auffassung praktischer Gründe weicht von dieser ab, ja vielleicht kann man sogar sagen, sie sei dieser entgegengesetzt. Ich habe jedoch keine Chance, Sie davon zu überzeugen, daß diese die richtige ist, wenn nicht zuvor - wenigstens im Umriß klargeworden ist, daß und warum die Standardtheorie scheitert. Ich werde daher die inhaltliche Kritik der Standardtheorie in drei Schritten entwickeln und dann mit einer Überlegung zum Status dieser und der Theorie praktischer Rationalität generell zum konstruktiven Teil übergehen. Dieser kann knapp gehalten werden, weil im Laufe der Kritik der Standardauffassung schon die wichtigsten Elemente meiner eigenen Auffassung deutlich geworden sein sollten.
1. Die Standardtheorie Die Frage ist: Was bringt uns dazu, eine bestimmte Handlung auszuführen? Die Standardtheorie beantwortet dies folgendermaßen: Handlungen sind das Ergebnis eines inneren Antriebs (driving force) der handelnden Person - ohne diesen inneren Antrieb würde die Person nicht handeln. Dieser innere Antrieb nimmt allerdings erst dann den Charakter eines konkreten handlungsleitenden Wunsches an, wenn bestimmte (deskriptive) Überzeugungen hinzutreten. Ich bilde den Wunsch aus, einen Teller Spaghetti Marinara zu bestellen, weil ich (1) Hunger habe (der innere Antrieb) und (2) erwarte, daß mein Hunger durch den Verzehr eines Tellers Spaghetti Marinara gestillt wird. Ohne diese Überzeugung (2) wäre der innere Antrieb (meinen Hunger zu stillen) gewissermaßen richtungslos. Der innere Antrieb und die Erwartung, der Wunsch und die Meinung, sind ein (guter, praktischer) Grund einen Teller Spaghetti Marinara zu bestellen (die Optionen auf eine andere Bestellung lassen wir hier wegen der besonderen Qualität dieser Speise außer Betracht).
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Es liegt nahe, die Analyse einen Schritt weiterzutreiben und einen Wunsch, der ausschließlich auf das Stillen des Hungers gerichtet ist, und einen handlungsleitenden Wunsch, der einen konkreten Weg bestimmt, dieses Ziel zu erreichen, zu unterscheiden. Der erste gibt meinem Handeln im Vergleich zum zweiten noch keine Richtung vor, weil die Überzeugungen, auf welchem Wege der Hunger zu stillen ist, noch nicht ins Spiel kommen. Im Hinblick auf seine handlungsleitende Kraft ist der erste Wunsch noch ungerichtet. Um Hunger zu empfinden und einen entsprechenden Wunsch, diesen Hunger zu stillen, auszuprägen, bedarf es keiner Abwägung. Hungergefühle kommen und gehen; sie sind für die meisten Menschen, jedenfalls direkt, nicht beeinflußbar. Hunger muß gestillt werden, damit dieses Gefühl verschwindet. Für die meisten von uns reicht es nicht aus, sich vorzunehmen (sich zu entscheiden), keinen Hunger zu haben, um das Hungerempfinden zu beseitigen. Dabei gäbe es, besonders für Übergewichtige, oft gute Gründe, die gegen Hungergefühle sprechen. Hungergefühl und der damit verbundene Wunsch, seinen Hunger zu stillen, kann man als paradigmatisch für die Standardtheorie ansehen. Stellen wir uns einen Fluß von Empfindungen in der Zeit vor, die mit einer bestimmten subjektiven Gefühlslage verbunden sind. Diese wiederum werden begleitet von einem zeitlichen Fluß ungerichteter Wünsche, die auf eine Verbesserung dieser Gefühlslagen zielen.' So wie der Fluß der Empfindungen in der Zeit nicht unserer direkten Kontrolle untersteht, so sind auch die korrespondierenden ungerichteten Wünsche unserer Kontrolle entzogen. Rationalität kommt erst ins Spiel, wenn deskriptive Überzeugungen hinzutreten, die ungerichtete Wünsche in gerichtete, handlungsleitende Wünsche überführen. Diese Überzeugungen können richtig und falsch sein, und es mag gute Gründe geben, die eine Überzeugung für richtig und die andere für falsch zu halten. Rationalität verlangt, diese Abwägung in angemessener Weise vorzunehmen. Überzeugungen allein können jedoch Handlungen nicht anleiten, da diese eines Movens bedürfen, und dieses Movens speist sich aus der Quelle ungerichteter Wünsche, die unserer Kontrolle generell und einer rationalen Bestimmung speziell entzogen sind. Für die Standardtheorie bestehen praktische Gründe aus einem der Rationalität zugänglichen (Überzeugungen) und einem der Rationalität nicht zugänglichen (ungerichtete Wünsche) Element. Während der rationale Teil sich an der Welt messen muß, ist der irrationale dem handelnden Subjekt und dessen mentaler Verfaßtheit überlassen. Der irrationale Teil praktischer Gründe steht in keiner rationalen Beziehung zu anderen praktischen Gründen. Lediglich der rationale Teil, die (deskriptiven) Überzeugungen bilden ein idealiter kohärentes System - verbunden über theoretische Gründe. Die Rationalität der Begründung von Handlungen, die praktische Rationalität, reduziert sich auf die Rationalität deskriptiver Überzeugungen.
1 Diese müssen deshalb weiterhin als ungerichtete Wünsche verstanden werden, da ihr propositionaler Gehalt sich auf die Verbesserung des eigenen mentalen Zustandes beschränkt. Man könnte auch sagen, sie sind auf die innere und nicht auf die äußere Welt gerichtet und daher nicht geeignet, dem Handeln, das in die äußere Welt eingreift, eine Richtung zu geben.
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2. Kritik der Standardtheorie: Begründete Wünsche Gegen die Standardtheorie praktischer Gründe und ihre spezifische Verkürzung der praktischen Rationalität auf die Rationalität deskriptiver Überzeugungen, bzw. gegen die Vorstellung, es gebe keine genuine praktische, sondern in letzter Instanz lediglich theoretische Rationalität, spricht, daß wir in der Regel Gründe nicht nur für unsere Handlungen, sondern auch für unsere Wünsche angeben können. Wenn jemand sich z. B. wünscht, daß eine bestimmte Person bestraft wird, dann hat sie auf Nachfrage Antworten parat wie: „Diese Person hat sich schließlich schuldig gemacht", oder: „Wenn Menschen, die so etwas tun, nicht bestraft werden, dann käme es häufiger zu solchen Verbrechen", oder: „Dies gebietet die Gerechtigkeit" etc. Gründe solcher Art können in Zweifel gezogen werden, und zur Verteidigung stehen oft ausgewachsene (z. B. rechtsethische) Theorien zur Verfügung. Selbst in den Fällen, in denen Wünsche eine unmittelbare Folge von Gefühlen sind, können Gründe angegeben werden, die für oder gegen die betreffenden Gefühle sprechen. Wenn jemand sagt: „Ich wünsche mir, daß er mit diesem Projekt scheitert", und nach den Gründen befragt antwortet: „Weil ich ihn hasse", dann ist auch dieses Gefühl wiederum begründungsbedürftig. Begründungen von Gefühlen sind dabei in der Regel keine kausalen Erklärungsskizzen. Bestimmte Gefühle gelten uns allen als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, d. h. wir halten es für angemessen oder unangemessen, richtig oder falsch, daß eine Person unter bestimmten Bedingungen bestimmte Gefühle hat. Gefühle sind ausweislich unserer Alltagskommunikation nicht der normativen Kritik entzogen. Wo Gründe und Gegengründe angegeben werden, steht die Rationalität in Frage. Die Beweislast liegt bei denen, die behaupten, daß das, für welches Gründe und Gegengründe angeführt werden, grundsätzlich keiner Begründung fähig sei, d. h. zu einer Kategorie von Gegenständen gehört, die einer Rationalitätskritik entzogen sind. Wenn wir Menschen tatsächlich so beschaffen wären, daß unsere primären (ungerichteten) Wünsche eine kausale Reaktion auf Empfindungslagen wären und auf eine Verbesserung dieser Empfindungslagen zielten, dann könnte die Begrenzung von Rationalität auf theoretische Rationalität, d. h. auf die Begründung von deskriptiven Überzeugungen, gut verteidigt werden. Wenn wir zum Zweck des Argumentes zwischen epistemischen und konativen Zuständen einer Person unterscheiden - wobei die epistemischen Zustände durch die deskriptiven Überzeugungen charakterisiert sind, die die Person zum betreffenden Zeitpunkt hat, und die konativen durch die Wünsche, Präferenzen, Hoffnungen etc. - , so bietet die hedonistische Anthropologie eine Möglichkeit an, das Gesamt der konativen Zustände aus fundamentalen, arationalen, ungerichteten, hedonistischen Primärwünschen unter Einbeziehung der jeweils einschlägigen epistemischen Bedingungen abzuleiten. Die hedonistische Variante der Standardtheorie ließe sich allerdings nur dann aufrechterhalten, wenn (1) die basalen Wünsche in der beschriebenen Weise (hedonistisch) aus Empfindungslagen hervorgehen und sich (2) alle übrigen Elemente eines konativen Zustandes, und d. h. unter anderem alle nicht-basalen Wünsche, aus den basalen herleiten lassen, indem entsprechende (deskriptive) Überzeugungen herangezogen werden. Um die hedonistische Variante der Standardtheorie zurückzuweisen, würde es genügen, (1) oder (2) zu bestreiten. Tatsächlich scheinen mir beide Annahmen (1) und (2) ganz unplausibel zu sein.
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Einen solchen kausalen Mechanismus der Festlegung basaler Wünsche gibt es nicht, und eine Reduktion der beschriebenen Art auf basale Wünsche (unabhängig davon, wie diese bestimmt sind) ist nicht möglich. Beginnen wir mit (2). Wie soll diese Reduktion im obigen Beispiel aussehen? Der jeweilige Wunsch müßte durch den basalen Wunsch unter der jeweiligen epistemischen Prämisse hervorgehen. a) b)
Ich wünsche p Ich weiß, daß p nur zu erreichen ist, wenn q
c)
Ich wünsche q
Prüfen wir, ob dieses Schema mit einiger Plausibilität auf den Wunsch, daß eine Person bestraft wird, weil sie ungerecht gehandelt hat, anwendbar ist. a') b')
Ich wünsche p Ich weiß, daß p nur zu erreichen ist, wenn q
c')
Ich wünsche, daß diese Person bestraft wird
Für a' müßte ein basaler Wunsch angegeben werden und für b' eine Überzeugung, die die Bestrafung dieser Person notwendig macht, um diesen Wunsch zu erfüllen. Naheliegend sind folgende Einsetzungen: a') Ich wünsche, daß alle Personen für ihre ungerechten Handlungen bestraft werden b l ' ) Ich weiß, daß diese Person ungerecht gehandelt hat Woraus sich ergibt: b2') Ich weiß, daß nur wenn diese Person bestraft wird, sich mein Wunsch a' erfüllen kann
c')
Ich wünsche, daß diese Person bestraft wird
Das Schema ist erfüllt. Dennoch können wir mit dieser Analyse nicht zufrieden sein, denn die Rückführung des konkreten Wunsches c' auf den Wunsch a' stellt die Motivationsstruktur nicht angemessen dar. Im Rahmen dieses Schemas scheint es auch keine Möglichkeit zu geben, die Analyse wesentlich zu verbessern, denn der Wunsch, daß diese Person bestraft wird, repräsentiert eine (normative) Überzeugung, nämlich die, daß Personen für ihre ungerechten Handlungen bestraft werden sollten. Es ist nicht möglich, diese Motiv-
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struktur durch die Angabe eines basalen Wunsches (also einer entsprechenden Einsetzung für p bei a') zu rekonstruieren. Der Wunsch c' ist begründet bzw. rational bezüglich der genannten normativen Überzeugung und der zusätzlichen (deskriptiven) Annahme, daß die betreffende Person ungerecht gehandelt habe. Die Motivstruktur wäre etwa in der folgenden Weise wiederzugeben: a " ) Personen (der Art x) sollten für Handlungen (der Art y) bestraft werden b ' ' ) Diese Person (ist von der Art x und) hat eine ungerechte Handlung (der Art y) vollzogen
c " ) Diese Person sollte bestraft werden Explizit auf die wünschende Person bezogen: a ' " ) Ich bin davon überzeugt, daß a " b ' " ) Ich bin davon überzeugt, daß b "
c " ' ) Ich bin überzeugt, daß c " und daher wünsche ich, daß diese Person bestraft wird Hartnäckige Verteidiger der Standardtheorie könnten an dieser Stelle wieder rückfällig werden und darauf beharren, daß der Übergang von der singulären normativen Überzeugung zum Wunsch in c ' " ein non sequitur sei und man daher schon a ' " in einen Wunsch umformulieren müsse. Nun mag es durchaus Menschen geben, die einen konkreten Wunsch nach Bestrafung einer Person auf einen grundlegenderen eigenen Wunsch zurückführen. Das ist aber alles andere als zwingend, und in diesem Fall wäre es für nicht-sadistische Personen äußerst ungewöhnlich. Eine rationale Person hat Wünsche, die ihren normativen und deskriptiven Überzeugungen entsprechen, das ist Teil der Charakterisierung einer rationalen Person.2
3. Kritik der Standardtheorie: Intertemporale Koordination Selbst wenn sich alle unsere Wünsche auf basale hedonistische Wünsche zurückführen ließen - was, wie dieses Beispiel zeigt, nicht sehr plausibel ist - , bliebe das für die Standardtheorie unlösbare Problem der intertemporalen Koordination.3 2 Die betreffende normative Überzeugung erzwingt dabei den korrespondierenden Wunsch nicht in einer Weise, die man als „logisch" oder „kausal" bezeichnen kann. 3 Vgl. Nagel 1970.
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Aus der Perspektive einer Person, die bestimmte basale Wünsche hat, ist es irrational, in jedem Zeitpunkt die jeweils bestehenden (basalen) Wünsche zu befriedigen. Klugheit, hier verstanden als intertemporale und intrapersonelle Kohärenz, verlangt nach einer Distanzierung von den im jeweiligen Zeitpunkt bestehenden Wünschen. Die punktuelle Optimierung meiner Wünsche bringt, wenn ich die Folge der Handlungen insgesamt betrachte, die daraus resultieren, ein geringeres Maß an Wunscherfüllung als der (gelegentliche) Verzicht auf punktuelle Optimierung. In Kenntnis dieses Zusammenhangs stelle ich die Erfüllung eines Wunsches zurück. Ich entscheide mich, etwas zu tun, was die gegebenen basalen Wünsche nicht optimiert. Die natürlichste Interpretation nimmt hier keine Verschiebung der Wunschsituation an, sondern eine Veränderung der Motivlage, die durch die bloße (deskriptive) Erkenntnis des beschriebenen Zusammenhanges hervorgerufen wird. Es ist die strukturelle Irrationalität punktueller Optimierung, die mich zu einer Distanzierung von meiner gegebenen Wunschlage veranlaßt. Es ist diese Erkenntnis selbst, die das Handlungsmotiv bestimmt. Eine solche Veränderung der Handlungsmotive dadurch wieder mit der Standardtheorie kompatibel zu machen, daß man eine entsprechende Verschiebung basaler Wünsche annimmt, scheint ganz unplausibel zu sein. Es haben sich nicht meine basalen Wünsche verändert, vielmehr hat sich das Objekt der Beurteilung von den punktuell zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen auf intertemporale Handlungsstrukturen erweitert. Wer die Standardtheorie gegenüber diesem Argument immunisieren möchte, wird das in folgender Weise versuchen: Er kann darauf beharren, daß diese veränderte Motivlage ja nun offensichtlich bestimmte Wünsche der Person zum gegebenen Zeitpunkt verändert hat, denn schließlich wird mit der betreffenden Handlung ja ein Wunsch realisiert. So elegant dieser Rettungsversuch auf den ersten Blick erscheinen mag, zu Ende gedacht ist er für die Standardtheorie verheerend. Denn wenn Wünsche, die das Ergebnis rationaler Abwägung sind, in das Grundmodell der Standardtheorie einbezogen werden, dann verliert diese jede Trennschärfe gegenüber anderen, z. B. Kantischen oder stoizistischen Handlungstheorien. Die Achtung vor dem moralischen Gesetz resultiert schließlich ebenfalls in einem Wunsch, nach Maximen zu handeln, die mit dem Kategorischen Imperativ vereinbar sind. Die Standardtheorie unterscheidet sich von der Kantischen oder der stoizistischen gerade darin, daß Handlungsmotivationen auf etwas zurückgeführt werden, das der rationalen Kontrolle entzogen ist. Der englische Ausdruck „desire" mag das stärker nahelegen als der deutsche Ausdruck „Wunsch". Zulässige Wünsche der Standardtheorie lassen sich durch Rekursion bestimmen: Einen Wunsch W' auf einen Wunsch W reduzieren, heißt diejenigen deskriptiven Überzeugungen (E) angeben, für die gilt: W & E -> W \ Die Standardtheorie ist trennscharf nur, wenn für alle Wünsche gefordert wird, daß sie sich in einer Kette von Reduktionen auf einen basalen Wunsch zurückführen lassen, der „gegeben" ist und nicht selbst wieder das Ergebnis einer (rationalen) Abwägung ist. Ein Wunsch, der auf Einsicht in das moralische Gesetz (Kant) oder auf einer Stellungnahme des Logos (Stoa) beruht, ließe sich in dieser Weise nicht rekursiv reduzieren. Wenn Menschen solche Wünsche - oder allgemeiner: Wünsche, die sich in dem genannten rekursiven Verfahren nicht auf basale gegebene unbegründete Wünsche zurückführen lassen - de facto haben, wäre die Standardtheorie praktischer Gründe, verstanden als
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eine empirische Theorie der Motivation, falsch. Wenn unser Verständnis der rationalen Person Wünsche dieser Art vorsieht, dann wäre die Standardtheorie, verstanden als normative Theorie, falsch. Beides scheint mir zweifellos zuzutreffen.
4. Handeln ohne Impetus Die Standardtheorie bezieht ihre bis heute anhaltende Überzeugungswirkung aus einer Art Physik des Wollens und des Handelns. Dieses „physikalische" Verständnis ist bei Thomas Hobbes noch ganz explizit ausgeführt. Liebe und Haß werden in Analogie zu Abstoßungsund Anziehungskräften interpretiert, und diese halten die menschlichen Körper in Bewegung. Handeln ist eine Form der Bewegung. Diese bedarf daher einer Kraftwirkung, die von Liebe und Haß - bzw. genereller von Wünschen - hervorgebracht wird. Das kognitive Element, unsere Wahrnehmung der Welt und unsere Urteile über sie, ist dagegen inert. Es kann für sich genommen keine Bewegung, und damit kein Handeln, hervorbringen. Gemäß der „Impetus-Theorie" ist Handeln Bewegung. Dies erklärt, daß (entsprechend alltagsphysikalischen Intuitionen) Antriebskräfte angenommen werden, die für diese Bewegungen ursächlich sind und die in den konativen Zuständen der Person verortet werden: Ohne Impetus keine Handlung. Eine Handlung überwindet gewissermaßen Widerstände äußerer und innerer Natur, und um diese Widerstände zu überwinden, bedarf es eines Antriebs. Die deskriptiven Überzeugungen geben diesem Antrieb dann erst eine Richtung. Diese hier skizzierte Physik der Motivation würde Sinn machen, wenn wir nicht schon über eine physikalische Theorie verfügten, von der wir annehmen können, daß sie grundsätzlich in der Lage ist, alle physikalischen Aspekte menschlichen Handelns vollständig zu beschreiben. Natürlich wäre eine vollständige Beschreibung so ungeheuer komplex, daß sie auch mit den besten Rechnern der Welt nicht zu bewältigen wäre, und es mag dahingestellt sein, ob es nach dem heutigen Stand des Wissens bei ausreichend zur Verfügung stehender Informationsverarbeitungskapazität überhaupt möglich wäre, die Vorgänge vollständig zu beschreiben, da z. B. neurophysiologische Vorgänge noch nicht zureichend geklärt sind. Jedenfalls wissen wir, wie eine solche Beschreibung auf der Grundlage der heute zur Verfügung stehenden physikalischen (und chemisch-biologischen) Theorien aussehen würde: Sie würde keinerlei Bezug auf konative Zustände (Wünsche etc.) beinhalten. Um eine solche vollständige Beschreibung zu erhalten, bedürfen wir keiner Verdoppelung der physikalischen Beschreibung auf der Ebene mentaler Zustände. Kraftfelder, Energiepotentiale, Molekülstrukturen, neurophysiologische Prozesse, Muskelkontraktionen und äußere Bewegungsabläufe lassen sich grundsätzlich mit den Mitteln der Naturwissenschaft vollständig beschreiben. Da besteht keine Lücke, die durch die Annahme des Impetus konativer Einstellungen gefüllt werden müßte. Es spricht zwar viel dafür, Handlungen begrifflich so zu fassen, daß sie in jedem Falle mit äußeren Bewegungsabläufen verbunden sind. Zur Erklärung dieser äußeren Bewegungsabläufe steht die zeitgenössische Physik als eine naturwissenschaftliche Theorie zur Verfugung. Philosophen sollten nicht versuchen, diese durch eine andere, reichlich obskure Theorie, die aus einer Zeit stammt, in der die moderne Physik noch nicht entwickelt war, zu er-
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setzen oder zu komplettieren.4 Um die mit menschlichem Handeln verbundenen Bewegungsabläufe und körperlichen Vorgänge zu erklären, genügen die Analyseinstrumente, die die moderne Naturwissenschaft bereitstellt. Die Frage bleibt, ob es auf der Ebene der Analyse mentaler und speziell intentionaler Vorgänge eines psychischen Analogons zur physikalischen Energie oder Kraft bedarf. Die weitgehende Analogie theoretischer und praktischer Gründe spricht dagegen. Betrachten wir die Wirksamkeit sogenannter „theoretischer" Gründe an einem Beispiel aus der Mathematik. Angenommen, jemand stellt eine mathematische Behauptung M auf. Jemand fragt: „Warum meinst Du, daß M gilt?". Der Befragte könnte sich z. B. hinsetzen, ein Blatt Papier zur Hand nehmen und (wortlos) einen Beweis von M skizzieren. Wenn der Fragende von der Korrektheit dieser Beweisskizze überzeugt ist, wird er nicht weiter verwundert sein, daß der Kollege von M überzeugt ist. Er wird keine weiteren Fragen stellen. M ist damit wohlbegründet. Es wurden Gründe für M, d. h. genauer dafür, M für wahr zu halten, angegeben. In der Regel erschiene es uns unverständlich, wenn der Fragende - überzeugt, daß der skizzierte Beweis für M gültig ist - dennoch weiterfragen würde, warum der Kollege an M glaubt. Wer über einen Beweis (oder wenigstens eine plausible Beweisidee) für eine mathematische Aussage M verfügt, hat einen guten Grund, an M zu glauben. Es bedarf keiner zusätzlichen Motivation, etwa in Form eines persönlichen Interesses, an M zu glauben, oder einer Empfindung moralischer Verpflichtung, mathematische Aussagen, für die eine Beweisskizze verfügbar ist, in das jeweilige Überzeugungssystem zu integrieren. „Theoretische" Gründe akzeptieren wir in diesem Sinne als selbstgenügsam. Sie reichen hin, um eine entsprechende Modifikation (Erweiterung oder Veränderung) unseres Überzeugungssystems zu motivieren. Ja noch mehr: Eine Person, die über theoretische Gründe verfügt, ohne motiviert zu sein, entsprechende Modifikationen ihres Überzeugungssystems vorzunehmen, gilt uns als irrational. Es ist kein zusätzliches Motiv nötig, damit theoretische Gründe für unsere Überzeugungen wirksam werden.5 Zwischen Meinungsänderungen und Handlungen besteht ein Unterschied insofern, als Handlungen mit äußerlich feststellbarem Verhalten verbunden sind. Nur extreme Behavioristen vertreten das Gleiche für Meinungen. Meinungsänderungen erfolgen - so könnte man meinen - gewissermaßen ohne Aufwand, während Handlungen mit einem Aufwand verbunden sind, die ein entsprechendes Motiv als Antrieb benötigen. Es sollte genügen, diesen Gedanken auszusprechen, um einzusehen, wie abwegig er ist. Es muß nichts durch psychische Energie überwunden werden, weil diese mit Handlungen verbundenen Körperbewegungen zur Welt der natürlichen Tatsachen gehören, die von einer Naturwissenschaft beschrieben wird, die keine mentalen und intentionalen Entitäten kennt. Dort, wo ein Impetus
4 Das klingt verdächtig nach Physikalismus. Tatsächlich halte ich eine schwache Form des Physikalismus damit für vereinbar, daß wir mit unseren Intentionen gelegentlich in den Lauf der Dinge eingreifen. 5 Daß theoretische Gründe erst dann wirksam werden können, wenn sie von einer Person als solche erkannt werden, müßte nicht betont werden, wenn ein analoges Argument nicht im Falle praktischer Gründe immer wieder vorgebracht würde, um die Standardtheorie zu verteidigen. Vgl. z. B. Williams 1981, 101-113. (dt. Königstein/Taunus 1984, 112-124.)
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benötigt wird, stellt ihn die Physik zur Verfügung. Die handlungskonstitutiven Intentionen benötigen ihrerseits keinen Impetus, sondern (praktische) Gründe. Die Impetustheorie des Handelns, die Rede von inerten epistemischen Zuständen einerseits und die Handlung antreibenden oder motivierenden Wunschelementen andererseits, sollte ad acta gelegt werden.6
5. Zum Status praktischer Gründe Wir haben eingangs gesagt, für die Standardtheorie bestehe ein praktischer Grund für eine Handlung in einer geeigneten Kombination eines Wunsches und einer Meinung, wobei alles zu indizieren sei, die Handlung, der Wunsch, die Meinung jeweils mit klein i - i für die betreffende Person, die handelt, wünscht, meint. Die Frage stellt sich daher: Ist auch der praktische Grund zu indizieren? Ist ein so charakterisierter praktischer Grund nur einer für die betreffende Person? Oder werden (auch) wir anderen sagen, wenn die Person entsprechendes wünscht und meint, dann sollte sie die, so mit einem praktischen Grund versehene, Handlung tun? Sollte die Person i die Handlung h tun, wenn sie einen Wunsch w und eine Meinung m hat, die in Kombination einen (guten) praktischen Grund für h darstellen? Kurz: Sollte i h tun? Natürlich unter der genannten Bedingung. Aber angenommen, diese Bedingung sei erfüllt, sollte i dann h tun? („sollte" natürlich nicht in einem irgendwie gearteten moralischen, sondern in einem rationalen Sinne.) Ist h, ausgeführt von i, unter der genannten Bedingung, rational (ohne Index)? Oder ist doch auch der praktische Grund zu indizieren und damit die Rationalität der Handlung? Wenn der praktische Grund nichts anderes wäre als die besagte Kombination eines Wunsches und einer Meinung, dann könnte das nicht in Frage stehen. Wenn der Wunsch und die Meinung etwas von i ist, dann ist auch die Kombination etwas von i. Der praktische Grund wäre also ebenfalls indiziert. Aber wollen die Vertreter der Standardauffassung wirklich sagen, daß der praktische Grund nichts anderes sei, als eine für die Handlung günstige Kombination eines Wunsches der betreffenden Person und einer Meinung der betreffenden Person? Soll nicht zusätzlich etwas behauptet werden, nämlich, die betreffende Handlung sei rational? Wenn das so ist - und nur dann wäre die Standardauffassung so etwas wie eine Theorie - dann kann der praktische Grund, muß aber nicht indiziert werden. Nicht indiziert würde gelten: die Handlung, ausgeführt durch i und bei gegebenem Wunsch w von i und Meinung m von i, ist rational - simpliciter, ohne Index. Wir hätten ein nicht-indiziertes Prädikat „rational" angewandt auf eine individuelle Handlung und eine Kombination eines subjektiven Wunsches und einer subjektiven Meinung der betreffenden Person. Wir würden eine Handlung als rational auszeichnen.
6 Das heißt selbstverständlich nicht, daß Wünsche, zumal eigene Wünsche, für die Bestimmung unserer Handlungsgründe keine Rolle spielten. Die Existenz eines Wunsches ist in vielen Fällen ein guter Grund, das zu tun, was diesen Wunsch erfüllt.
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Wenn „rational" etwas mit Rechtfertigung zu tun hat - und dieser Meinung scheinen die meisten zu sein - dann würde die betreffende Handlung durch den Verweis auf w und m gerechtfertigt. Gegenüber wem gerechtfertigt? Nur gegenüber i, das wäre doch sehr merkwürdig. Könnte man da überhaupt noch von Rechtfertigung sprechen? Was soll das heißen „eigene Handlungen gegenüber sich rechtfertigen", wenn diese Rechtfertigung nicht auch potentiell gegenüber anderen etwas taugt? Andere aber haben in der Regel andere Wünsche und Meinungen. Bleibt die rechtfertigende Kraft der Wünsche und Meinungen der handelnden Person dennoch bestehen? In der Standardtheorie bleiben diese Fragen ungeklärt. Was verständlich ist, denn ihre Klärung macht die Unhaltbarkeit der Standardtheorie deutlich. Angenommen ein praktischer Grund für eine Handlung sei nichts anderes als die betreffende Kombination7 eines Wunsches und einer Meinung, dann wäre die Feststellung, daß die Person für ihre Handlung einen Grund habe, nichts anderes als ein Verweis darauf, daß die betreffende Kombination eines Wunsches und einer Meinung de facto gegeben sei. Die Standardtheorie wäre entgegen allem Anschein keine Theorie praktischer Gründe. Nehmen wir jedoch zu ihren Gunsten an, daß das die falsche Interpretation ist. Tatsächlich besage die Theorie: Wenn die Person die betreffende Kombination eines Wunsches und einer Meinung aufweise, dann habe sie einen guten Grund diese Handlung auszuführen. Allerdings gilt - das ist ja der Inhalt der Theorie - , daß der zweite Sachverhalt (sie hat einen guten Grund, h zu tun) genau dann gegeben ist, wenn der erste (sie weist die betreffende Kombination von w und m auf) gegeben ist. Der erste Sachverhalt ist zweifellos ein deskriptiver. Den zweiten würden wir gerne als einen normativen verstehen, denn das entspricht dem normalen Gebrauch des Ausdrucks „einen guten Grund haben". Der Sachverhalt, daß die Person einen guten Grund hat, diese Handlung auszufuhren, ist ein (intensional) anderer Sachverhalt, als der, daß die Person die betreffende Kombination eines Wunsches und einer Meinung aufweist. Wenn allerdings der zweite Sachverhalt ein normativer ist, dann versteht man gar nicht, wie er zu indizieren wäre. Der erste, deskriptive Sachverhalt besteht objektiv, es ist tatsächlich der Fall, daß die Person die betreffende Kombination eines Wunsches und einer Meinung aufweist, der zweite sollte auch objektiv bestehen, es sollte tatsächlich der Fall sein, daß die Person einen guten Grund hat, diese Handlung auszuführen. Wie sollen wir das „die Person hat einen guten Grund, diese Handlung auszufuhren" normativ verstehen, wenn daraus nicht folgt, daß sie diese Handlung tun sollte? Oder sollen wir zulassen, daß normative Sachverhalte indiziert werden, sie bestehen für i aber nicht für j? Nein es gibt hier kein Drittes: Entweder unter einem „praktischen Grund" wird nichts anderes verstanden als das Vorliegen der betreffende Kombination eines Wunsches und einer Meinung, dann gibt es keine genuinen praktischen Gründe, oder es gibt praktische Gründe, dann rechtfertigt die betreffende Kombination eines Wunsches und einer Meinung die Handlung h von i - „rechtfertigt" simpliciter, nicht für i.
7 „betreffende Kombination..." steht hier als Kurzform für „ein Wunsch der betreffenden Person zusammen mit einer Überzeugung der betreffenden Person, daß gerade diese Handlung jenen Wunsch besser als jede andere in dieser Situation (ihr) mögliche Handlung erfüllt".
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6. Praktische und theoretische Gründe Theoretische und praktische Gründe haben gleichermaßen etwas mit Begründung zu tun. Sie begründen zwei Arten propositionaler Einstellungen: Die eine Art, die von theoretischen Gründen begründet wird, läßt sich in die allgemeine Form „ich bin überzeugt, daß p", oder „ich meine/vermute, daß p" oder einfach „p" bringen. Eventuell brauchen wir hier Grade des Überzeugtseins, also Wahrscheinlichkeiten. Wolfgang Spohn ist darauf in seinem Text8 eingegangen. Die andere Art läßt sich in die allgemeine Form bringen: „ich bin überzeugt, daß h richtig ist" - oder „ich meine, vermute, daß h richtig ist/daß ich h tun sollte" oder einfach „h ist richtig"/„Ich sollte h tun". Eventuell brauchen wir auch hier Grade des Überzeugtseins, also Wahrscheinlichkeiten. Wenn ich überzeugt bin, daß h richtig ist, bin ich überzeugt, daß p, wenn „p" für „h ist richtig" steht. Damit praktische Gründe nicht lediglich eine Spezialform theoretischer Gründe werden, müssen wir „p" im Falle theoretischer Gründe als eine deskriptive Proposition und im Falle praktischer Gründe als eine normative Proposition charakterisieren. Im Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen ethischen Realisten, die zugleich Naturalisten sind, bin ich der Meinung, daß sich normative und deskriptive Propositionen unterscheiden lassen, uns also der einfache Weg, praktische als eine Sonderform theoretischer Gründe in diesen aufgehen zu lassen, nicht offensteht. Aber das kann ich hier nur postulieren, nicht begründen. Abgesehen von dieser Differenz spielen theoretische und praktische Gründe ganz analoge Rollen. Sie dienen dazu, ungewissere oder bestrittene Propositionen - deskriptive im Falle theoretischer, normative im Falle praktischer Gründe - gewisser zu machen, bzw. gegen Kritik zu rechtfertigen. Dies geschieht in überaus komplexer und vielfältiger Weise. Deduktive, induktive und reduktive Argumentationstypen spielen dabei eine Rolle. Die Begründungsrelationen verlaufen nicht parallel zu logischen Ableitungsbeziehungen, wie es der traditionelle Rationalismus annahm, es wird nicht nur die konkrete Proposition durch die allgemeinere begründet, sondern auch umgekehrt. Die Begründungslinien sind untereinander vernetzt und einzelne sind in der Regel nicht isolierbar. Insofern kann man von einem holistischen Bild der Begründungsrelationen sprechen. Wenn wir von einem Grund für x sprechen, greifen wir aus einem komplexen Zusammenhang ein Element heraus, das auf sich gestellt die Last der Begründung nicht tragen kann. Dieses künstliche Verfahren drängt deskriptives und normatives Wissen in den Hintergrund impliziter Annahmen, was natürlich zum Zweck des Argumentes, um es überhaupt formulierbar zu machen, notwendig ist. Um eine deskriptive Überzeugung zu begründen, nehmen wir unseren Ausgangspunkt bei gewisser erscheinenden Propositionen, teilweise sehr allgemeiner, teilweise sehr konkreter Art. Wir verwenden Symmetrieargumente in der Physik, wie die der Isotropie des Raumes oder Einzelbeobachtungen, die gewiß erscheinen. Ebenso nehmen wir bei praktischen Begründungen auf Fairneßkriterien hohen Abstraktionsgrades genauso Bezug, wie auf moralische Einzelfallbeurteilungen, bei denen wir glauben, unserer Intuition vertrauen zu 8 Vgl. 163-176 in diesem Band.
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können. Was hier skizziert wird, ist keine Theorie, wenn es eine solche wäre, müßte man sie als Kohärenztheorie der Begründung bezeichnen, die mit einer objektivistischen Interpretation unserer deskriptiven und normativen Überzeugungen verbunden ist, also gerade nicht die idealistischen oder rationalistischen Implikationen hat, die man ihr häufig unterstellt. Es ist deswegen keine Theorie, weil hier nur das wiedergegeben wird, was wir alle tun, wenn wir begründen, einschließlich der Vertreter aller Spielarten des Fundamentalismus (im Sinne von „Foundationalism"). Ein von einer Person i akzeptierter praktischer Grund - wenn wir zum Schluß trotz dieser holistisch-kohärentistischen Skizze noch einmal eine solche Isolierung zulassen - verknüpft die propositionalen Einstellungen deskriptiven und normativen Inhaltes von i so miteinander, daß i eine Handlung (nicht notwendigerweise eine eigene) geboten oder gerechtfertigt erscheint. Da sie sich in ihren deskriptiven und normativen Propositionen ebenso irren kann, wie in den Inferenzregeln, ist es möglich, daß der akzeptierte praktische Grund nur ein vermeintlicher ist. Objektive praktische und theoretische Gründe bestehen ganz unabhängig davon, daß sie auch als solche akzeptiert werden. Unsere Hoffnung ist (anderes steht uns nicht offen, den archimedischen Punkt der Begründung gibt es nicht), daß wir bei zunehmender Kohärenz unserer normativen und deskriptiven Überzeugungssysteme die von uns akzeptierten den tatsächlichen theoretischen und praktischen Gründen annähern, das heißt am Ende die richtigen deskriptiven und normativen Urteile aus den richtigen Gründen fallen, also zutreffende und begründete Meinungen haben und richtig und begründet handeln.
Literaturverzeichnis Nagel, T.: The Possibility of Altruism, Oxford 1970. Williams, B.: Internal and External Reasons, in: Ders. (Hrsg.), Moral Luck, Philosophical Papers 19731980, Cambridge 1981, 101-113. (dt. in: Moralischer Zufall. Philosophische Aufsätze 1972-1980, Königstein/Taunus 1984, 112-124)
Kolloquium IV Wissensformen in den Geisteswissenschaften
Annemarie Gethmann-Siefert
Einführung Die Frage nach der Zukunft des Wissens kann und sollte nicht vor jenen Formen des Wissens halt machen, die sich im Prinzip seit den ersten philosophischen Reaktionen auf die Vernunfteuphorie der Aufklärung wieder eingestellt und nach und nach immer mehr an Boden gewonnen haben. Bereits die Reaktionen des Idealismus auf die Kantische Vernunftkritik, ebenso aber die Allergie der Romantiker gegen idealistische Vernunftsysteme brachten mit der Rehabilitierung des Mythos an der Seite oder anstelle des Logos Wissensformen ins philosophische Bewußtsein zurück, die die Philosophie seit ihren Anfängen zu integrieren und eigentlich zu überwinden suchte. Zunächst setzt die Forderung umgreifender und alles Einzelne im Licht eines Ganzen mit Sinn versehender Welt-Anschauung der analysierend-kritischen Vernunft eine Grenze, dann aber gewinnen mit der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften alternative, nicht durcheinander ersetzbare Wissensiormen - das Verstehen gegen das Erklären - an Boden und schließlich soll in der sogenannten Postmoderne gar eine Form des desintegrativdestruktiven Zugriffs die Herrschaft der begrifflichen Disziplin in jeder Wissensform ablösen. Das ultimative Wissen und Verstehen läge somit im Rücksinken der Klärungsversuche sowohl der analysierenden wie der verstehend-umgreifenden Wissensformen in die Pluralität des sonst noch Kombinierbaren. Erklären wie Verstehen werden der Dekonstruktion unterzogen. Wie jede historische Erscheinung hat auch die Postmoderne ein „Nachher". In der Frage nach Wissensformen in den Geisteswissenschaften wird ein solches nachpostmodernes Programm manifest, das aber gerade in der Kritik des Vernunftabfalls perturbatorischer Begriffsauflösung zugleich den Rückfall in die am naturwissenschaftlichen Wissensmodell orientierte Wissbarkeitseuphorie der frühen Moderne vermeidet. Als mögliche Wissensformen in den Geisteswissenschaften müßten sowohl die Formen des historischen Verstehens lebensweltlicher Zusammenhänge eine methodische Klärung erfahren als auch weitere Formen des verstehend gewonnenen Wissens erschlossen werden, die die Begriffsform des Wissens und des Gewußten durch Anschauungsform (Bild) und parasprachliche Ausdrucksform (Gestik und Mimik) ergänzen. Die Frage nach Wissensfor-
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men in den Geisteswissenschaften greift das Programm der Philosophie der symbolischen Formen auf und erweitert es zur Forderung einer symbolischen Vernunft, die über die Sprache hinaus weitere Ausdrucksformen analysierend in den Blick nimmt, die parasprachlichen Formen Bild und Gestik aber gleichermaßen als Deutungsleistung, also als dem sprachlichen Symbol äquivalent auffaßt. Galt als die methodische Grundlage des geisteswissenschaftlichen, d. h. des historischen wie des im umfassenderen Sinn geschichtlichen Verstehens die Hermeneutik, das auslegende Verstehen im Sinn Gadamers oder im weiter gefaßten Sinn, den Heidegger vorgeschlagen hatte, so findet s i c h - zunächst ebenfalls im Anschluß an die transzendentalphänomenologische Philosophie - eine Form des aufzeigenden (Sinn-)Verstehens, die Mantik. Diese steht ebenso wie die Hermeneutik in der Gefahr, sich als einzige Form des Sinnverstehens über alle bzw. für alle Formen des Verstehens als grundlegend darzustellen. Daß aber weder Hermeneutik noch Mantik nicht wie in der Verstehenstradition üblicherweise angenommen, eo ipso philosophische oder gar jeweils die philosophische Methode sind und sein können, sondern Formen der Wissenssicherung in unterschiedlichen Bereichen, deren Triftigkeit und Tragfestigkeit zu prüfen ist, daraufhat Heidegger hingewiesen. Hermeneutik und/oder Mantik als Methode der Erschließung symbolischen Sinntransfers (Sprache, Bild, Gestik/Mimik), sind also Auslegung oder Darlegung von Verstehens-, d. h. Wissensformen. Als solche sind sie selbst nochmals zu prüfen. Heideggers Argument hierfür ist wie überhaupt seine frühe Weiterführung der Phänomenologie im Sinne der Begründung geschichtlichen Wissens sowohl in der hermeneutischen Philosophie im engeren Sinn durch die Konzentration auf die Historizität des Geschichtlichen als auch durch die Konzentration der Mantik auf die Ahistorizität des Seinsverstehens in Vergessenheit geraten. Dennoch bleibt sein Programm ein bedenkenswerter Ansatz, will man Wissensformen in den Geisteswissenschaften insgesamt, nämlich zunächst einmal als Formen geschichtlichen Wissens aufgreifen. In seiner Vorlesung aus dem Sommersemester 1925, den Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, nimmt Heidegger eingangs die für die jeweiligen Wissenschaften der Natur und der Geschichte, Kultur bzw. des Geistes konstitutive Trennung zurück, um phänomenologisch „die Sachgebiete vor der wissenschaftlichen Bearbeitung verständlich zu machen" und auf der Basis „ihrer Genesis aus der vortheoretischen Erfahrung", ihres spezifischen „Zugangs zur vorgegebenen (sc. erfahrenen) Wirklichkeit" sowie der für die wissenschaftliche Behandlung „vorgängigen Begrifflichkeit" zu erschließen. In einer solchen Betrachtung ist jegliche Wissenschaft eine „konkrete Möglichkeit des menschlichen Daseins selbst, sich über seine Welt, in der es ist, und über sich selbst auszusprechen". Die Rücknahme der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften hat nichts mit der oft fehlgedeuteten Nivellierung jeglichen Wissens zum historisch-relativierenden Vermeinen zu tun, sondern schärft den Blick für die Erfordernisse, denen sich Wissen generell - in welcher Form auch immer es sich spezifisch artikuliert, sei es in der Weise des Erklärens oder des geschichtlichen Sinnverstehens - unterstellt sieht. Auf die Frage nach den Wissensformen in den Geisteswissenschaften angewandt bedeutet dies: Als Weise der sprachlichen, selbst der parasprachlichen Sinndeutung über sich selbst und seine Welt ist jede Form des Wissens, eben auch die der geschichtlichen Kultur- und Geisteswissenschaften eine Weise der Sinndeutung, deren symbolische Formen, d. h. deren
Kolloquium IV - Einführung
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Weisen, in denen der Mensch „sich über sich ausspricht", bestimmten Kriterien genügen müssen. Als Formen des in der geschichtlichen Lebenswelt gründenden Wissens weisen sie über die Unmittelbarkeit des Lebens- und Sprachvollzuges hinaus und fuhren zu für andere faßlichen, d. h. wiederholbaren und (ggf., nämlich im Störungsfall) rekonstruierbaren Formen des durch Sinndeutung gewonnenen Wissens. Sprachliche wie parasprachliche symbolische Formen unterstehen ebenso wie die Weise ihrer methodischen Erschließimg (oder Wiedererschließung) in Hermeneutik oder Mantik der Forderung nach intersubjektiver Verallgemeinerbarkeit.
Rudolf Lüthe
Verstehen als analogisierendes Begreifen Anmerkungen zum Problem des Verstehens in den historischen Wissenschaften im Anschluß an Überlegungen von Günther Patzig Die Wissenschaften sind insgesamt damit befaßt, die komplexe Wirklichkeit durch Reduktion der Vielfalt der sie konstituierenden Gegenstände, Tatsachen und Ereignisse begreiflich zu machen. In den Wissenschaften begreifen wir die Wirklichkeit durch deren methodische Reduktion. Die auf diese Weise begriffene Welt ist dann erklärbar und verständlich; dies schließt ein: Ereignisse und Handlungen in ihr sind (mit gewissen Einschränkungen) prognostizierbar. Erklären, Verstehen und Prognostizieren sind demnach zentrale Erkenntnisleistungen der Wissenschaften. Die Prognose scheint jedoch eine nachrangige Leistung zu sein; denn sie wird erst möglich, wenn man ein Objekt (in der Regel eine Handlung oder ein Ereignis) erklärt oder verstanden hat. Andererseits besteht der pragmatische Sinn wissenschaftlicher Forschung häufig gerade in dieser nachrangigen Prognoseleistung. Die Prognose orientiert unser Handeln; sie ist ein entscheidender Beitrag zu unserer Orientierung in der Welt; und insofern tragen auch die Wissenschaften Entscheidendes zu unserer Orientierung in der Welt bei. Nun ist es seit dem 19. Jahrhundert, insbesondere seit den Arbeiten Wilhelm Diltheys, üblich geworden, die Methoden des Verstehens und des Erklärens zwei verschiedenen Wissenschaftstypen zuzuordnen, nämlich das Verstehen den Geisteswissenschaften, das Erklären dagegen den Naturwissenschaften. Die einschlägigen Diskussionen der letzten Jahrzehnte haben sich von dieser schroffen Dichotomie jedoch längst gelöst. Es gilt allgemein als sinnvoll, auch von einem Erklären in den Geisteswissenschaften zu sprechen und den Naturwissenschaften hermeneutische Elemente zuzusprechen. Diese Entwicklung halte ich für fruchtbar. Wenn ich über „Verstehen in den historischen Wissenschaften" spreche, so will ich daher keinen traditionellen hermeneutischen Standpunkt vertreten und die historischen Wissenschaften als ausschließlich „verstehende" Wissenschaften darstellen. Vielmehr geht es mir darum, Vorüberlegungen für die Klärung des für die historischen Wissenschaften spezifischen Verhältnisses von Erklärung, Verstehen und Prognose zu entwickeln. Zu der Rolle der Prognose werde ich jedoch erst im letzten Teil, im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Günther Patzigs Idee eines „hermeneutischen Dreiecks" kommen. Zunächst wende ich mich der traditionellen Unterscheidung von Erklären und Verstehen zu, um deren Verhältnis im Rahmen der historischen Wissenschaften zu kennzeichnen. Bei der hierzu notwendigen Klärung der Ausgangsbegriffe beziehe ich mich auf hilfreiche Unterscheidungen bei Wilhelm Dilthey und bei Wilhelm Windelband.
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1. Nomothetische und idiographische Wissenschaften Im Unterschied zu den Naturwissenschaften, innerhalb derer unabhängig vom menschlichen Handeln gegebene Ereignisse durch Bezugnahme auf Naturgesetze erklärt werden, muß der (historisch arbeitende) Geisteswissenschaftler nach Dilthey seinen Gegenstandsbereich, die (symbolisch erzeugten) Zusammenhänge der gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit des Menschen, durch eine spezifische Art des Nachvollziehens von Lebensäußerungen verstehen. Diese Lehre vom Verstehen symbolischer und lebensweltlicher Ereignisse und Situationen wird allgemein als Hermeneutik bezeichnet. Bei der Formulierung der Prinzipien der Hermeneutik greift Dilthey auf Theoreme zurück, die den philosophischen Theorien von Friedrich Schleiermacher und Johann Gustav Droysen entstammen. Einer der besonderen Akzente der Hermeneutik Diltheys ist die Lehre, die Methode des Verstehens sei spezifisch für die (historischen) Geisteswissenschaften, die Naturwissenschaften seien dagegen geprägt durch die Anwendung der Erklärung. Dieser Beschreibung der Unterschiede zwischen diesen Wissenschaftstypen gemäß sind die Geisteswissenschaften demnach verstehende (hermeneutische), die Naturwissenschaften dagegen erklärende (explanatorische) Wissenschaften. In diese Phase der Theorieentwicklung gehört auch eine Unterscheidung hinein, die von dem Neukantianer Wilhelm Windelband stammt: Dieser beschreibt die Geisteswissenschaften als „idiographische", die Naturwissenschaften dagegen als „nomothetische" Wissenschaften. In seiner Straßburger Rektoratsrede aus dem Jahre 1894 führt er zu dieser Unterscheidung unter dem Titel „Geschichte und Naturwissenschaft" das folgende aus: „(...) die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum anderen Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist - wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf - in dem einen Falle nomothetisch, in dem anderen idiographisch."1 Diese Lehre läßt sich wie folgt erläutern: Die Erfahrungswissenschaften (modern: die empirischen Wissenschaften) haben als gemeinsame Aufgabe die Erforschung des Wirklichen. Zu diesen empirischen Wissenschaften gehören sowohl die Naturwissenschaften als auch die historischen Geisteswissenschaften. Gegenstand der Naturwissenschaften ist „das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes"; dagegen befassen sich die Geisteswissenschaften mit dem „Einzelnen in der geschichtlich bestimmten Gestalt". Die Naturwissen-
1 Windelband 1921, 145.
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Rudolf Lütke
Schäften sind daher Gesetzeswissenschaften (nomothetisch), die Geisteswissenschaften dagegen Ereigniswissenschaften (idiographisch). Unterstellt wird hier allerdings, daß im Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften (der Kultur) nichts streng Allgemeines zu erforschen wäre und im Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften nichts im strengen Sinne „Idiographisches" (individuell Bestimmtes) vorkommt. Die systematischen Geisteswissenschaften (z. B. die empirische Psychologie) sind insofern in dieser Aufteilung noch nicht berücksichtigt. Sie orientieren sich methodisch an den Naturwissenschaften und behandeln kulturelle Phänomene unter dem Gesichtspunkt der Verallgemeinerbarkeit und Gesetzesbestimmtheit. Insofern sind diese nomothetische Geisteswissenschaften. Windelband aber hatte nur solche Geisteswissenschaften im Auge, welche historisch arbeiten, und in ihnen sah er eine eindeutig idiographische Orientierung.2 Dennoch ist seine Unterscheidung in unserem Problemzusammenhang fruchtbar; denn hier geht es ja nicht um eine Philosophie der Geisteswissenschaften im allgemeinen, sondern um eine Theorie der historischen Erfahrung (Historik). Historisches Wissen aber ist seinem Grandzuge nach zweifellos idiographisch im Sinne Windelbands. Mit der Kennzeichnung des historischen Wissens als idiographisch ist dabei gemeint, daß das für die historischen Wissenschaften relevante „Wirkliche" das „Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt" ist. Dem historisch arbeitenden Wissenschaftler geht es nicht um das „Allgemeine in der Form des Natur-Gesetzes"; in diesem Sinne arbeitet er nicht nomothetisch.
2. Historische Reduktionen Wenn nun aber das gemeinsame Ziel aller Wissenschaften die Reduktion der unüberschaubaren Wirklichkeit ist, so darf „das Einzelne in seiner geschichtlich bestimmten Gestalt" nicht als die Gesamtheit alles geschichtlich Gegebenen aufgefaßt werden. Tatsächlich findet bereits zu Beginn der historischen Arbeit eine zweifache Reduktion der geschichtlichen Wirklichkeit statt. Die erste dieser Reduktionen ist vom Willen des historisch arbeitenden Wissenschaftlers unabhängig: Sie besteht darin, daß nur ein kleiner Teil der geschichtlichen Wirklichkeit Spuren hinterläßt, die dem später lebenden Historiker noch historisch (methodisch) zugänglich sind (Quellen und Monumente). Die zweite Art dieser Reduktion hängt dagegen vom Erkenntnisinteresse des historisch Arbeitenden ab. Karl R. Popper hat dieses Interesse in Das Elend des Historizismus einprägsam beschrieben:
2 Im Anschluß an diesen auf dem Kongreß gehaltenen Vortrag erhielt ich von dem Erlanger Kollegen Volker Peckhaus den Hinweis, daß diese Argumentation Windelbands im Kontext von zeitgenössischen Bemühungen gesehen werden kann, die neu entstehenden Formen der wissenschaftlichen Psychologie ausdrücklich aus dem Bereich der Geisteswissenschaften auszuschließen.
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„Wie die Naturwissenschaften muß auch die Geschichtsforschung selektiv sein, wenn sie nicht unter einem Wust von wertlosem und unzusammenhängendem Material ersticken will. (...) Der einzige Ausweg aus dieser Schwierigkeit ist meiner Auffassung nach die bewußte Einführung eines vorgefaßten selektiven Standpunkts in die historische Forschung, d. h. wir schreiben die Geschichte, die uns interessiert. (...) Wenn ein solcher selektiver Standpunkt oder Brennpunkt des historischen Interesses nicht als prüfbare Hypothese formuliert werden kann, werden wir ihn als eine historische Interpretation bezeichnen. (...) Der Historizismus verwechselt diese Interpretation mit Theorien. Dies ist einer seiner Kardinalfehler."3 Ich kann hier nicht auf alle Implikationen dieser Lehrmeinung Poppers eingehen. Ich begnüge mich vielmehr mit der Feststellung, Popper bestätige in dieser Passage die Annahme, daß die zweite Form der Reduktion von Wirklichkeit in den historischen Wissenschaften unter dem Gesichtspunkt der „historischen Bedeutung" und des spezifischen Erkenntnisinteresses des Historikers stattfindet. Meine eigenen Überlegungen gehen nun dahin, daß es mehr als nur diese beiden Formen von Reduktion geben muß, damit historisches Wissen überhaupt möglich ist. Wenn Windelband (zu Recht) als den zentralen Gegenstand des historischen Wissens das „Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt" bezeichnet, so darf uns dies nicht dazu verleiten, Einzelheit mit Einmaligkeit zu verwechseln. Historisches Begreifen nimmt dem zu begreifenden Objekt notwendig den Nimbus der Einmaligkeit im Sinne von Singularität. Die dritte relevante Form der historischen Reduktion ist demnach zu beschreiben als (a) Reduktion des geschichtlichen Ereignisses auf einen „Fall von..." (typischen geschichtlichen Strukturen und Vollzügen) - dies ist charakteristisch für die historische Erklärung - oder (b) als dessen Reduktion auf das Element einer Ähnlichkeitsbeziehung, wie dies im Rahmen des historischen Verstehens geschieht. Zwar ist in einem spezifischen Sinne jedes geschichtliche Ereignis auch „einmalig", nämlich in dem Sinne, daß es als genau dieses Ereignis natürlich nur jeweils ein einziges Mal stattgefunden hat. Die naheliegende Assoziation ist jedoch, als in diesem Sinne einmaliges sei das Ereignis auch unvergleichlich (singulär). Träfe dies zu, so wäre historisches Wissen unmöglich: Unvergleichliche Ereignisse sind weder im Sinne der Erklärung noch in demjenigen des Verstehens zu begreifen. Historische Erkenntnis ist daher nur deshalb möglich, weil die geschichtlichen Ereignisse trotz ihrer „Einmaligkeit" gerade nicht unvergleichlich (singulär) sind. Sowohl Erklären als auch Verstehen setzen nämlich voraus, daß der zu begreifende Gegenstand in einen Zusammenhang gebracht werden kann mit ihm ähnlichen Gegenständen. Nur was die Einordnung in einen solchen Ähnlichkeitszusammenhang erlaubt, ist zu erklären bzw. zu verstehen.
3 Popper 1974, 117 f.
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3. Erklären und Verstehen in den historischen Wissenschaften Hier bietet sich nun eine erste Unterscheidung von Erklären und Verstehen in den historischen Wissenschaften an: Im erklärenden Begreifen erfasse ich das thematische Ereignis als einen „Fall von (Revolution, Krieg, Tyrannenmord, Imperialismus, Staatsgründung etc.)" und subsumiere es unter den allgemein beschriebenen entsprechenden Ereignistyp. Dabei benutze ich, wie Patzig in seinem Aufsatz über „Erklären und Verstehen" zu Recht hervorhebt, in der Regel „Gesetze" aus der Ökonomie, der Psychologie, der Medizin und anderen (nicht-historischen) Wissenschaften.4 Richtig ist auch, daß solche Gesetze häufig nicht explizit genannt, sondern stillschweigend vorausgesetzt werden. So impliziert die Erklärung der Gegnerschaft des Adels gegen einen mittelalterlichen Herrscher durch dessen Versuch, adelige Privilegien einzuschränken, nach Patzig die folgenden zwei Gesetze: (1) Inhaber von Vorrechten betrachten die Einschränkung dieser Vorrechte als eine Verschlechterung ihrer Lage. - (2) Menschen neigen im allgemeinen zu einem aggressiven Verhalten gegenüber denjenigen, die sie für eine Verschlechterung ihrer Lage verantwortlich machen.5 Diese psychologischen Gesetze sind nun in gewissem Sinne trivial und werden deshalb in historischen Erklärungen meistens nicht explizit genannt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sie nicht logisch impliziert würden und daß hier keine Erklärung im strengen Sinne stattfände. Im verstehenden Begreifen dagegen vergleiche ich ein einmaliges geschichtliches Ereignis mit anderen, ähnlichen (geschichtlichen) Ereignissen, ohne es unter allgemeine Gesetze zu subsumieren. Vielmehr beziehe ich das Ereignis vergleichend auf andere einzelne Ereignisse. Statt des für das historische Erklären typischen Argumentationsmusters - „Dies ist ein Fall von (Revolution, Krieg, Imperialismus, Tyrannenmord, Staatsgründung etc.). Er kann mit Hilfe der folgenden (psychologischen, ökonomischen u. a.) Gesetze erklärt werden."kommt beim historischen Verstehen ein ganz anderes Argumentationsmuster zur Anwendung. Die Ähnlichkeit mit mir bekannten anderen einzelnen Ereignissen erlaubt mir ein Begreifen jenseits solcher Subsumtion und Gesetzesanwendung. Das Argumentationsmuster ist also etwa so zu beschreiben: „Diese Handlung, dieses Ereignis hat eine signifikante Ähnlichkeit mit den folgenden mir bereits bekannten Handlungen und Ereignissen. Es kann durch Vergleich mit diesen verstanden werden." (Ich werde dieses Muster später noch näher als „analogisierendes Begreifen" erläutern.) Verstehen kann daher in einem ersten Schritt beschrieben werden als ein Begreifen durch Vergleichen ohne Subsumtion unter allgemeine Gesetze. Das und nichts sonst ist der zentrale Sinn der Unterscheidung von „nomothetischem" und „idiographischem" Begreifen. Im Gegensatz zu Windelband aber sehe ich in dieser methodischen Unterscheidung nicht zugleich auch die Demarkationslinie zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Vielmehr sind in meiner Sicht die (historischen) Geisteswissenschaften sowohl nomothetisch als auch idiographisch. Sie sind allerdings nomothetisch in einem anderen Sinne als die Naturwissenschaften, weil die Logik geschichtlicher und psychologischer Gesetze eine andere ist als diejenige der Naturgesetze. Gleichwohl aber
4 Vgl. Patzig 1996, 126. 5 Vgl. ebd.
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machen auch die historischen Wissenschaften in der oben skizzierten Weise von „Gesetzen" Gebrauch. Spezifischer für die Arbeit des „Historikers" aber ist die Anwendung idiographischen, d. h. vergleichenden, aber nicht gesetzesorientierten Begreifens. - Auf dessen Spezifika will ich daher im nächsten Abschnitt ausführlicher eingehen.
4. Typen des (historischen) Verstehens nach Patzig In dem bereits zitierten Aufsatz unterscheidet Patzig drei verschiedene Typen von (historischem) Verstehen. Sein Ausgangspunkt ist dabei die Kritik jeder Reduktion solchen Verstehens insgesamt auf den Nachvollzug eines seelischen Vorgangs (im Sinne Diltheys). Diese Kritik und die erwähnte Differenzierung innerhalb des Begriffs des „Verstehens" fuhren Patzig zu der - wie mir scheint: interpretations- und ergänzungsbedürftigen - These, „daß eine besondere Art des Verstehens [nämlich das empathische] in den Geisteswissenschaften als heuristisches Prinzip dienen kann."6 Die von Patzig unterschiedenen Formen des Verstehens sind: das „Zusammenhangsverstehen", das „Ausdrucksverstehen" und das „einfühlende Verstehen (Empathie)". Das Verstehen von Zusammenhängen ist nun „offensichtlich ein notwendiges Element in jeder Wissenschaft"7 und in jeder rationalen Lebenspraxis. Anders liegen die Verhältnisse beim Ausdrucksverstehen. Zwischen dieser Form des Verstehens und den Geisteswissenschaften bestehen tatsächlich spezifische Bezüge; denn die Geisteswissenschaften (die philologischen wie die historischen) haben Methoden entwickelt, „die dieses Ausdrucksverstehen in schwierigen Fällen (...) ermöglichen (...)." Daraus ergibt sich aber nach Patzig keineswegs, daß diese Art von Verstehen eine spezifische Methode der (historischen) Geisteswissenschaften wäre. Er führt aus: „(...) die geisteswissenschaftlichen Methoden sind dazu da, um das Verstehen zu ermöglichen, nicht ist das Verstehen im Sinne des Ausdrucksverstehens selbst eine Methode der Geisteswissenschaft."8 Einfühlendes Verstehen schließlich kommt nach Patzig nur in den Geisteswissenschaften, und zwar sowohl in den philologischen als auch in den historischen vor. Es ist jedoch keine wissenschaftliche Methode, sondern lediglich ein heuristisches Prinzip; denn es dient bloß der Entwicklung, nicht aber der Prüfung historischer Hypothesen. Zu Patzigs Einschätzung der von ihm unterschiedenen Formen des Verstehens läßt sich in meiner Sicht zusammenfassend das Folgende feststellen: (1) Das Verstehen von Zusammenhängen ist tatsächlich nicht spezifisch für die (historischen oder philologischen) Geisteswissenschaften. Vielmehr gehört es wirklich zu allem wissenschaftlichen Begreifen und auch zur rationalen Alltagspraxis. 6 Patzig, a.a.O., 121. (Erläuterung von mir, R. L.) 7 Patzig, a.a.O., 130. 8 Ebd.
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(2) Das Ausdrucksverstehen ist zwar ein Verfahren zum Umgang mit Texten. Es ist aber auch von Bedeutung für das Verstehen nicht-schriftlicher verbaler und nonverbaler Kommunikation. Es kommt in der Gestalt von Textinterpretation nicht nur in den philologischen, sondern auch in den historischen Geisteswissenschaften vor; und tatsächlich interpretieren auch Naturwissenschaftler die schriftlichen und nicht-schriftlichen Äußerungen ihrer Kolleginnen und Kollegen. - Warum aber ist dieses Verfahren keine Methode der (historischen) Geisteswissenschaften? Hier scheint Patzig nun das Folgende zu meinen: Die Methoden der Interpretation von Texten und anderen (historischen) Quellen gehören zwar zu den wissenschaftlichen Verfahren, sie spielen auch eine zentralere Rolle in den Geistes- als in den Naturwissenschaften, eine Methode im eigentlichen Sinne aber sind sie deshalb nicht, weil das Verständnis von Texten (und anderen Quellen) bei den historischen Wissenschaften nicht den eigentlichen Zweck der wissenschaftlichen Bemühungen darstellt. Methoden aber sind in Patzigs Sicht offenbar nur solche wissenschaftlichen Verfahren, welche sich auf die Prüfung von Sätzen beziehen, die den eigentlichen Erkenntniszweck der jeweiligen Wissenschaften betreffen. Übernimmt man diese (sinnvolle) implizite Definition, so bleibt hier dennoch ein Problem bestehen: In dieser Hinsicht unterscheiden sich philologische und historische Wissenschaften; denn das Verständnis von Texten kann sehr wohl als der eigentliche Zweck der philologischen Wissenschaften bezeichnet werden. Insofern würde zumindest für diese Geisteswissenschaften durchaus gelten, daß das Verstehen ihre genuine Methode ist. Für die historischen Wissenschaften aber gilt dies tatsächlich nicht im gleichen Sinne. Hier ist das Verständnis der Quellen (Dokumente, Texte, Monumente) nicht der Zweck, sondern nur ein wichtiges Mittel zur Erreichung der eigentlichen Erkenntnisabsicht dieser Wissenschaften, nämlich des Verstehens geschichtlicher Handlungen und Ereignisse. (3) Auch das einfühlende (empathische) Verstehen ist nach Patzig keine Methode der Geisteswissenschaften, sondern nur ein mögliches heuristisches Prinzip. Es kann „eine der verschiedenen Methoden der Geisteswissenschaften sein (...), sich durch eine solche Einfühlung dem Gegenstand anzunähern." Dadurch wird empathisches Verstehen jedoch nicht zu einer Methode der Geisteswissenschaften. Patzig erläutert dies wie folgt: „Aber hier muß man darauf achten, daß diese Art von Einfühlung keineswegs eine Methode ist, die für sich selbst Ergebnisse sichern kann, z. B. durch die ,Evidenz' der inneren Überzeugung, wie Dilthey wollte; vielmehr kann die Einfühlung nur ein heuristisches Prinzip sein. Ob sie im Einzelfalle das Richtige trifft oder nicht, muß dann durch wissenschaftliche Methoden ermittelt und abgesichert werden."9 Sofern empathisches Verstehen in den (historischen) Geisteswissenschaften überhaupt eine wichtige Rolle spielt, scheint es in Patzigs Sicht eher der HypothesenZx'Wuwg als der wissenschaftlichen Beweisführung (also der Hypothesenprüfung) zu dienen. Dies ist offensichtlich die Bedeutung von „heuristisches Prinzip": Als ein solches leitet das Verstehen die Bildung 9 Ebd.
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einer wissenschaftlichen Hypothese, welche anschließend durch geeignete Methoden geprüft und gesichert werden muß. Nach dieser Analyse gibt es für Patzig keinen Anlaß, Verstehen als eine für die historischen Geisteswissenschaften besonders zentrale Methode aufzufassen.10 Dazu müßte gezeigt werden können, daß das Verstehen ein entscheidendes Element auch bei der Prüfung wissenschaftlicher Hypothesen in den historischen Geisteswissenschaften darstellt. Patzig scheint dies nicht annehmen zu wollen. Ich aber glaube, daß dies tatsächlich der Fall ist und ich will im folgenden dafür argumentieren.
5. Verstehen als analogisierendes Begreifen Der erste Schritt dieser Argumentation ist die ausdrückliche Thematisierung der bereits erwähnten vierten Form historischen Verstehens, des „analogisierenden Verstehens". Diese Art von Verstehen findet nach meiner Einschätzung bei Patzig keine angemessene Berücksichtigung, und der Verzicht auf ihre Behandlung scheint mir nicht durch das Argument begründbar zu sein, Analogisierung sei keine geeignete Methode zur Prüfung von Hypothesen in den historischen Wissenschaften. Vielmehr scheint es mir durchaus möglich, eine historische Hypothese über ein geschichtliches Ereignis dadurch zu prüfen, daß nach Handlungen und Ereignissen gesucht wird, die als bereits begriffene mit dem zu verstehenden Ereignis bzw. der zu verstehenden Handlung analogisiert werden können. Ist eine solche Suche erfolglos, so ist die Prüfimg negativ verlaufen. Entsprechend muß die Verstehenshypothese als problematisch eingestuft werden. Ein solches analogisierendes Verstehen scheint mir gerade die Methode zu sein, welche bei der Prüfung von Verstehenshypothesen bezüglich geschichtlich gegebener Ereignisse und Handlungen dominant wird. Es ist dadurch charakterisiert, daß der Erkennende eine Verstehenshypothese durch deren Analogisierung mit einer bereits als erfolgreich geltenden Hypothese zu bestätigen sucht. Verstehen heißt immer: etwas als etwas begreifen. Eine Verstehenshypothese prüfen, heißt entsprechend: prüfen, ob ein bestimmtes Ereignis tatsächlich als das „etwas" verstanden werden kann, als welches es in der Hypothese präsentiert wird. Dies kann durch den Nachweis geschehen, daß ein ausreichend ähnliches Ereignis bereits erfolgreich auf Basis eben dieser Verstehenshypothese begriffen wurde. Wichtig ist es jedoch, das hier angesprochene „etwas als etwas Verstehen" nicht als Subsumtion des zu verstehenden Ereignisses unter einen abstrakt beschriebenen Typ von Ereignissen zu verstehen. So vollzieht sich das Erklären, nicht jedoch das Verstehen. Etwas als etwas verstehen, heißt ferner auch nicht, es als Teil eines Ereigniskontinuums zu verstehen. Im historischen Verstehen wird das Ereignis zwar in einen Zusammenhang mit anderen Handlungen und Ereignissen gebracht; jedoch ist dieser Zusammenhang nicht der Zusammenhang raumzeitlicher Kontinuität. Das hier angesprochene „etwas als etwas Verstehen" 10 Auch in der Diskussion des Vortrags verteidigte Patzig seine Einstellung, Verstehen sei ein Ziel geisteswissenschaftlicher Arbeit, nicht jedoch eine geisteswissenschaftliche Methode.
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läßt sich vielmehr am besten durch Bezugnahme auf Wittgensteins Rede von den „Familienähnlichkeiten" erläutern. Die die Prüfung leitende Frage ist hier nicht: Ist dies tatsächlich ein Fall von (...) oder ein Teil von (...)? Vielmehr ist die entscheidende Frage: Ist dies tatsächlich so ähnlich wie (...)? Ein solches analogisierendes Verstehen stellt für mich einen eigenständigen Typus von Verstehen dar, der sich von den bei Patzig beschriebenen Verstehensformen signifikant unterscheidet. - Ich will ihn im Folgenden noch etwas genauer beschreiben. Den Anfang dieser Beschreibung bildet die Skizzierung einiger grundsätzlicher Probleme bei der Anwendung analogisierenden Begreifens im Rahmen historischer Forschung. So ist natürlich zunächst einzuräumen: Die Möglichkeit eines analogisierenden Verstehens setzt voraus, daß zwischen geschichtlich gegebenen Handlungen und Ereignissen gruppenweise Familienähnlichkeiten bestehen, die es erlauben, ein Ereignis durch dessen Analogisierung mit einem bereits begriffenen zu verstehen. Ferner gilt: Das Nicht-Begriffene ist das Fremde. Das Noch-Nichtbegriffene ist das Noch-Fremde. Insofern lassen sich Erklären und Verstehen als Formen der Überführung des Noch-Fremden in das Vertraute beschreiben. Die für den Vollzug solcher Überfuhrungen beunruhigende Frage ist dabei diejenige, mit welchem Vertrauten man seine Kette solcher Überführungen beginnen kann. Hier scheint mir nun ein Rückgriff auf Denkfiguren Diltheys fruchtbar: Den Ausgangspunkt des Verstehens fremden Handelns bildet notwendig das eigene Handeln. Dieses liefert die ersten Bezugspunkte für Analogisierungen. Ich verstehe das Handeln Anderer auf der Basis der Annahme, es weise mit dem bereits begriffenen eigenen Handeln Familienähnlichkeiten auf. Gemäß einer Überlegung zu Beginn meiner Ausführungen setzt alles Begreifen die Möglichkeit voraus, das zu Begreifende in einen Ahnlichkeitszusammenhang einzuordnen. Das schlechthin Singuläre ist in diesem Sinn unbegreiflich. Es bleibt notwendig fremd, weil es nicht in relevante Ähnlichkeitszusammenhänge eingegliedert werden kann. - Ich beschränke meine Perspektive im folgenden wieder auf den hier thematischen Typus von Begreifen, nämlich auf das historische Verstehen. Auch für dieses gilt: Das singuläre Ereignis bleibt unverständlich. Nur auf der Basis von Ähnlichkeitsbeziehungen ist historisches Verstehen möglich. Verstehen vollzieht sich nun in den folgenden Dimensionen: Ich verstehe eigenes und fremdes, vergangenes und gegenwärtiges Handeln. Daraus ergeben sich vier verschiedene Objekte des Verstehens von Handlungen: das eigene gegenwärtige und das eigene vergangene Handeln sowie das fremde gegenwärtige und das fremde vergangene Handeln. Historisches Verstehen bezieht sich im Normalfall auf den letztgenannten Typ: das fremde vergangene Handeln. Gemäß der von Dilthey übernommenen Einschätzung, daß alles Verstehen fremden Handelns vom verstandenen eigenen Handeln ausgeht, muß angenommen werden können, daß es zwischen dem eigenen (gegenwärtigen und vergangenen) Handeln einerseits und dem fremden (gegenwärtigen und vergangenen) Handeln andererseits Ähnlichkeitszusammenhänge gibt. Zudem muß vorausgesetzt werden, daß ich das eigene Handeln (sofern es für die Analogisierung relevant ist) bereits verstanden habe. Wie begründet ist die Unterstellung, daß ich mein (methodisch relevantes) eigenes Handeln verstanden habe? Und: Wieso kann ich zwischen meinem und dem fremden Handeln eine „Familienähnlichkeit" unterstellen? - Hier begnüge ich mich mit dem Hinweis, daß für die Richtigkeit
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beider Unterstellungen pragmatische Rechtfertigungen gegeben werden können: (1) Ich orientiere mich einigermaßen erfolgreich in der Welt. Dies setzt wahrscheinlich voraus, daß ich mein eigenes Handeln in gewissem Umfang tatsächlich verstanden habe. - (2) Die historischen Wissenschaften arbeiten im wesentlichen erfolgreich. Dies spricht für die Richtigkeit der Annahme einer Familienähnlichkeit zwischen meinem eigenen und beliebigem fremden Handeln. Selbst wenn man diesen problematischen Weg der pragmatischen Auflösung von Prinzipienfragen geht, bleibt jedoch eine fundamentale Zweideutigkeit bestehen: Wie ist das hier unterstellte Verhältnis von Eigenem und Fremdem, von Gegenwärtigem und Vergangenem zu verstehen? - Verstehe ich das Gegenwärtige nur aus dem Vergangenen (als dessen Vorgeschichte) heraus? Oder ist umgekehrt mein Verständnis des Vergangenen bedingt und präformiert durch mein Verständnis des Gegenwärtigen? Ferner: Verstehe ich tatsächlich das Fremde, wenn ich es vom Eigenen her zu erfassen suche? Muß ich nicht vielmehr auch im Verstehen noch das Fremdartige des Fremden bewahren, weil ich es sonst nicht als solches verstehe? Kann ich aber dann Fremdes überhaupt verstehen? Hier liegen in der Tat problematische Verhältnisse vor. Eine erste Auseinandersetzung mit diesen Problemen fuhrt uns in den Kontext des dritten thematischen Elements des historischen Begreifens: der Prognose. Auch hier möchte ich mich, diesmal jedoch in ganz überwiegend kritischer Absicht, auf eine einschlägige These von Patzig beziehen, nämlich auf seine Idee eines „hermeneutischen Dreiecks".11
6. Das hermeneutische Dreieck und das Dreieck historischer Analogien Patzig faßt seine Überlegungen zum historischen Verstehen wie folgt zusammen: Erklärung der Gegenwart aus der Vergangenheit, Vergegenwärtigung des Vergangenen in seiner Fremdheit und schließlich Entschlüsselung der Vergangenheit mit Hilfe gegenwärtiger Erfahrung: das sind die drei Pole eines hermeneutischen Dreiecks, von denen keiner für den anderen eintreten kann und von denen auch keiner absolut gesetzt werden darf."12 Mit der Bezugnahme auf diese Passage scheinen sich die Probleme auf den ersten Blick jedoch nur noch zu vermehren: Von Verstehen ist hier gar nicht die Rede, wohl aber vom Erklären, jedoch nicht vom erklärenden Begreifen des Vergangenen vom Gegenwärtigen aus, wie ich es zu beschreiben versuchte. Vielmehr geht es hier umgekehrt um die Erklärung der Gegenwart aus der Vergangenheit heraus. Zusätzlich kommen zwei neue Termini ins
11 In der Diskussion des Vortrags hat Patzig sich von diesem Einfall allerdings ohnehin distanziert. 12 Patzig, a.a.O., 135.
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Spiel: Vergegenwärtigen und Entschlüsselung. - Wie lassen sich diese Begriffe sinnvoll auf die skizzierte Theorie des historischen Verstehens beziehen? Mir scheint nun, daß hier seinen Grundzügen nach das Verhältnis des historisch Verstehenden zu seinem Objekt in ganz verschiedenen Perspektiven thematisiert wird, so daß von einer Bezogenheit dieser Wissensformen aufeinander nur in einem sehr abstrakten Sinne gesprochen werden kann: (1) Die Erklärung (oder, was in dieser Hinsicht keinen relevanten Unterschied macht, das Verstehen) der Gegenwart aus der Vergangenheit heraus ist kein genuines Element historischer Arbeit, sei diese erklärend oder verstehend. Vielmehr ist hier die Dimension einer pragmatischen Legitimation historischer Bemühungen angesprochen: Die historische Forschung kann uns helfen, unsere Gegenwart besser zu verstehen; deshalb ist sie sinnvoll. Sie ist auch die Basis für Prognosen bezüglich zukünftiger Ereignisse und Handlungen. Erklären und Verstehen der Gegenwart aus der Vergangenheit heraus ist die Basis für das (prognostische) Begreifen der sinnvollerweise zu erwartenden Zukunft. (2) Historisches Erklären und Verstehen ist immer in gewissem, wenngleich schwer zu beschreibendem Sinne ein Vergegenwärtigen des Vergangenen. Wenn das Vergangene sich der Einordnung in Ähnlichkeitszusammenhänge entzieht, bleibt es im wesentlichen unerklärt und unverstanden. Es ist bloß vergegenwärtigt worden. Dann aber fragt sich, welche Art von Begreifen sich in einer Vergegenwärtigung von Unerklärtem und Unverstandenem überhaupt vollzieht. (3) Die Entschlüsselung des Vergangenen mit Hilfe gegenwärtiger Erfahrung ist in meiner Sicht die eigentliche Leistung des historischen Erklärens und Verstehens. Sie bildet jedoch mit den anderen Formen der wissenschaftlichen Bezugnahme auf das Vergangene kein „hermeneutisches Dreieck". Vielmehr sind die drei bei Patzig als Punkte des hermeneutischen Dreiecks auf einander bezogenen Aspekte der historischen Forschung von einander unabhängige Antworten auf ganz unterschiedliche Fragen. Dem Fernziel meiner Untersuchung, nämlich der Klärung des spezifischen Verhältnisses von Erklärung, Verstehen und Prognose in den historischen Wissenschaften, bringt uns die Beschreibung des Verhältnisses von Vergangenem, Gegenwärtigem (und Zukünftigem), welche in Patzigs Lehre vom hermeneutischen Dreieck impliziert ist, zwar um einen wichtigen Schritt näher. Zufriedenstellend beantwortet ist die Frage dadurch jedoch noch nicht. Dies liegt auch daran, daß in diesem Dreieck das „analogisierende Begreifen" keinen Platz hat. Eine andere, an diese Stelle zu setzende, Idee vom „Dreieck der historischen Analogien" könnte hier vielleicht fruchtbar sein. Mit der Skizzierung dieser Idee will ich meine hier vorgestellten Überlegungen beenden. Ihr Basistheorem ist die Annahme, zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigen seien Analogien anzunehmen, auf deren Basis die drei folgenden wissenschaftlichen Operationen möglich werden:
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(1) Wir können die Gegenwart (und die Zukunft) mit Hilfe unseres Wissens vom Vergangenem begreifen, d. h. erklären oder verstehen. Erklärung setzt dabei „Gesetzmäßigkeit" und Subsumtion voraus, Verstehen dagegen Analogisierbarkeit von Vergangenem, Gegenwärtigem (und Zukünftigem). (2) Weder Verstehen noch Erklären machen das Vergangene zum gänzlich Vertrauten. Im Erklären aber werden vergangene, gegenwärtige und auch zukünftige Handlungen und Ereignisse als Varianten identischer Grundformen möglichen Geschehens begriffen. Im Verstehen begreife ich Ähnlichkeiten, ohne dabei die Unterschiede aufzulösen. Gegenwärtiges Begreifen, sei es erklärend oder verstehend, hebt daher die grundsätzliche Fremdheit des Vergangenen (und des Zukünftigen) nie völlig auf. Dennoch stellt das Begreifen in beiden Formen das Vergangene und das Zukünftige in den Begriffs-, d. h. nämlich: in den Begreifenskontext der jeweiligen Gegenwart. Dieses Hineinstellen kann man sinnvoller Weise „Vergegenwärtigen" nennen. (3)Vergangenes begreifen wir im Erklären und im Verstehen. Jedes Begreifen dieser Art setzt bereits Begriffenes voraus. Die Gesamtheit des jeweils Begriffenen ist die Gegenwart, von der aus wir die Vergangenheit „entschlüsseln". Auf der Basis dieser Überlegungen läßt sich ein „Dreieck der historischen Analogien" formulieren, das eine erste Antwort auf die Frage nach dem spezifischen Verhältnis von Erklärung, Verstehen und Prognose in den historischen Wissenschaften erlaubt: Begreifen der Gegenwart und der (prognostizierten) Zukunft aus der Vergangenheit, Erklären und Verstehen des Fremden im Kontext des Vertrauten und schließlich Entschlüsselung des Vergangenen und des (prognostizierten) Zukünftigen aus dem jeweils gegenwärtigen Kontext des Begreifens heraus: das sind die drei Pole eines „Dreiecks historischer Analogien", von denen keiner für den anderen eintreten kann und von den auch keiner absolut gesetzt werden darf.
Literaturverzeichnis Patzig, Günther: Erklären
und Verstehen. Bemerkungen
zum Verhältnis
von Natur- und
Geisteswissenschaf-
ten, in: Gesammelte Schriften IV, Göttingen 1996. Popper, Karl R.: Das Elend des Historizismus, Windelband, Wilhelm: Geschichte
Tübingen 4 1974.
und Naturwissenschaft,
in: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philoso-
phie und ihrer Geschichte, Zweiter Band, Tübingen 1921.
Hans Seigfried
Transparenz 1. Fragestellung Früher wurde uns gesagt, daß sich Wissen in allen seinen Formen durch seine Durchsichtigkeit und Durchleuchtungskraft als Wissen ausweise und daß ein Leben ohne solches Wissen nicht verdiene, gelebt zu werden. Zur Durchsichtigkeit sei gefordert, daß das ganze Feld unserer Erfahrung von einem einzigen Begriffsgerüst aus zu übersehen sei. Heute wird diese Forderung von vielen nicht mehr ganz ernst genommen und oft als übertrieben abgetan, und zwar nicht nur in den angeblich leichtfertigen Literaturwissenschaften, sondern auch in den exakten Naturwissenschaften. Ich will deshalb die Grenzen dieser Forderung untersuchen und herausfinden, ob sich an Beispielen aus der transzendentalen Hermeneutik und aus den Literaturwissenschaften zeigen läßt, daß die konkreten Bedingungen der Meisterung des Lebens das Ausmaß von Durchsichtigkeit bestimmen und die Forderung von reiner Transparenz, d. h. Transparenz ohne Effizienz, einfach als sinnlos abgelehnt werden sollte.
2. Transparenz in den Naturwissenschaften Ich beginne meine Untersuchung mit einer Skizze der Lage in den Naturwissenschaften. Sie soll durch Vergleich und Kontrast eine genauere Beschreibung der Situation in den Geisteswissenschaften möglich machen. Ich beschränke mich als Nichtfachmann auf (1) Werner Heisenbergs Wandlungen der Grundlagen der exakten Naturwissenschaft in jüngster Zeit und (2) Roger Penroses Nature's Biggest Secret - d. h. auf seine Kritik von Steven Weinbergs Dreams of a Final Theory.' Von der konstruktiven und experimentell-kontrollierten Beobachtung in den empirischen Wissenschaften haben wir gelernt, was Heisenberg als „das wichtigste neue Ergebnis der Atomphysik" kennzeichnet, nämlich, „die Erkenntnis der Möglichkeit, daß verschiedenartige Schemata von Naturgesetzen auf das gleiche physikalische Geschehen angewendet werden können, ohne sich zu widersprechen." Das liege daran, „daß in einem bestimmten System von Gesetzen wegen der Grundbegriffe, auf die es aufgebaut ist, nur ganz bestimmte Fragestellungen einen Sinn haben und daß es sich dadurch gegen andere Systeme, in denen andere Fragen gestellt [und andere Beobachtungen gemacht] werden, abschließt."2 Die Überzeugungskraft der Umarbeitung von Grundbegriffen, beispielsweise der Revision des Zeitbegriffes und der geometrischen Eigenschaften des Raumes in der allgemeinen Relati-
1 Heisenberg 1984, 96-101; Penrose 1993. 2 Heisenberg 1984, 100.
Transparenz
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vitätstheorie, liege daher nicht in der Deutung bisher nicht deutbarer Beobachtungsergebnisse, sondern darin, daß sie neue Denkmöglichkeiten geschaffen haben, die den Naturwissenschaftlern früher entgangen waren.3 Von den Unbestimmtheitsrelationen der Quantenmechanik haben sie dazugelernt, daß sie auf „den Gedanken an eine allen Beobachtern gemeinsame objektive Zeitskala, an objektive, von jeder Beobachtung unabhängige Geschehnisse in Raum und Zeit für immer verzichten müssen."4 Das Gebäude der exakten Naturwissenschaften könne daher kaum noch im erhofften herkömmlichen und naiven Sinne eine zusammenhängende und überschaubare Einheit werden, ein Gebäude also, in dem man gleichsam von einem Punkte aus einfach durch die Verfolgung eines im Bauplan vorgeschriebenen Weges in alle anderen Räume gelangen kann. Auf diese Weise sei die heutige Naturwissenschaft „gezwungen worden, die alte Frage nach der Erfaßbarkeit der Wirklichkeit durch das Denken aufs neue zu stellen und in etwas veränderter Weise zu beantworten." Früher bildeten bestimmte Grundbegriffe oder eine gewisse Wahrheit (z. B. Descartes' cogito, ergo sum) den Ausgangspunkt, von dem aus alle Fragen zur Erfahrung angegriffen werden sollten. Jetzt habe uns unsere Erfahrung mit der Natur daran erinnert, „daß wir nie hoffen dürfen, von einer solchen festen Operationsbasis aus das ganze Land des Erkennbaren zu erschließen."5 Es gibt natürlich Naturwissenschaftler wie Steven Weinberg, die auch heute noch von einer endgültigen Universaltheorie träumen, von deren Prinzipien sich alle Gesetze der Natur ableiten ließen und welche die Grundregeln lieferte, die alles Geschehen in der unbelebten und belebten Materie bis ins Kleinste kontrollieren, unser (zielstrebiges) Handeln mit eingeschlossen.6 Penrose weist in seiner Kritik von Weinbergs Dreams of a Final Theory darauf hin, daß eine solche Theorie allerdings keine physikalische Theorie im herkömmlichen Sinne sein könnte, sondern eher als ein mathematisches Prinzip verstanden werden müßte, das, wie Weinberg selbst zugibt, keinen Raum ließe für Moral, nicht einmal für eine Sonderstellung von Leben oder Intelligenz.7 Mit anderen Worten, die erträumte Durchsichtigkeit wäre bei aller Eleganz völlig sinnlos, wie es Weinberg bereits in The First Three Minutes entschlüpfte: „The more the universe seems comprehensible, the more it seems pointless."8
3 A.a.O., 96. 4 A.a.O., 98. 5 A.a.O., 100 f. (Hervorhebung von H. S.) 6 Vgl. Penrose 1993, 78: „Is there an ultimate theory of nature - a 'Final Theory' - from whose principles all laws that govern the workings of the physical universe may be deduced? Such a theory would provide the complete underlying rules that control, in finest detail, every action of inanimate or animate matter - including all the (non-random) activities of our very selves. Might such a theory even be within the actual grasp of today's physicists? Steven Weinberg, in his new book, Dreams of a Final Theory, provides an unqualified 'yes' to the first of these questions, and he also gives expression to a belief in the genuine plausibility of the suggestion put forward in the second." 7 A.a.O., 82: „I would guess that though we shall find beauty in the final laws of nature, we will find no special status for life or intelligence." 8 Ebd.
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Renommierte Naturforscher versichern uns also, daß volle Durchsichtigkeit in den Naturwissenschaften heute prinzipiell nicht mehr möglich sei, bzw. daß und warum sie völlig sinnlose wäre, selbst wenn der grandiose Traum von ihr in den Naturwissenschaften endlich doch noch realisiert werden könnte.
3. Transparenz in der transzendentalen Hermeneutik Philosophen könnten allerdings glauben wollen, daß sich das Transparenzproblem prinzipiell lösen und die damit verbundenen Krisen in allen Wissenschaften im Laufe der Zeit bewältigen lassen müssen, etwa mit der Methode der transzendental-hermeneutischen Phänomenologie und dem Programm der Fundamentalontologie, die wir aus Heideggers Sein und Zeit kennen.9 Ich erinnere kurz daran, daß das nachdrücklich erklärte Ziel der darin entwikkelten Analytik die grundsätzliche Lösung dieses Problems ist, obwohl diese Lösung ihrerseits einem höheren Zwecke dienen soll, und ich weise nach, daß gerade Heideggers transzendental-hermeneutische Analysen ungewollt und ironischerweise demonstrieren, vielleicht zwingender als Wandlungen in den Naturwissenschaften, warum Transparenz in den Natur- und Geisteswissenschaften letztlich unerreichbar bleiben muß. Ich wähle trotzdem Heideggers Programm als Beispiel, weil es meines Erachtens der bisher radikalste Versuch war, zu zeigen, daß Transparenz das Ziel aller Wissenschaften sei und daß dieses Ziel mit Hilfe der Philosophie grundsätzlich erreichbar sei. Man kann Heideggers Versuch natürlich nur dann als sinnvoll betrachten, wenn man mit ihm annimmt, daß ohne völlig durchsichtige Begrifflichkeit alle wissenschaftliche und philosophische Forschung im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer eigensten Absicht bliebe (SZ 11). Bei der Entwicklung des fundamentalontologischen Programms wird angenommen, daß sich der eigentliche Fortschritt in einer Wissenschaft „in der mehr oder minder radikalen und ihrer selbst durchsichtigen Revision der Grundbegriffe" abspielt (SZ 9), wobei mit „Grundbegriffen" genau jene „Bestimmungen" und Strukturen gemeint sind, „in denen das allen thematischen Gegenständen einer Wissenschaft zugrundeliegende Sachgebiet zum vorgängigen und alle positiven Untersuchungen führenden Verständnis kommt" (SZ 10), zum Beispiel, Begriffe von Raum, Zeit, Bewegung, Geschichte, Gemeinschaft, Volk und dergleichen mehr. Lähmende Krisen seien unvermeidlich, wenn diese Leitbegriffe einfach dem groben, nicht-analysierten Verstehen der alltäglichen Erfahrung entnommen würden und daher undurchsichtig und dunkel blieben. Mit dem fundamentalontologischen Programm übernimmt daher die Philosophie, so Heidegger, nicht nur die begriffliche Fixierung solcher Bestimmungen in dem einen oder anderen Forschungsgebiet, sondern die ausdrückliche, grundsätzliche und systematische Aufhellung des Inbegriffs aller Grundbegriffe, d. h. der Strukturen, die Forschung überhaupt und damit alle Formen des Wissens möglich machen.
9 Heidegger 1953; im Text SZ.
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Das skizzierte Programm kann natürlich nur als die Idee einer transzendentalen Logik der Forschung verstanden werden, weil der Inbegriff aller Leitbestimmungen nicht nachträglich aus Forschungsergebnissen herausanalysiert werden soll, sondern im Sinne Kants als ein „Prinzip" verstanden werden muß, „woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann", so zwar, daß dabei die volle Durchsichtigkeit der gewonnen Ergebnisse nur unter der Voraussetzung der gegebenen Fixierung möglich ist.10 Sie soll „produktive Logik" sein, aber nicht „in dem [regionalontologisch eingeschränkten] Sinne, daß sie in ein bestimmtes Seinsgebiet gleichsam vorspringt, es in seiner Seinsverfassung allererst erschließt und die gewonnenen Strukturen den positiven Wissenschaften als durchsichtige Anweisungen des Fragens verfugbar macht" (SZ 10), sondern in dem radikal weiten Sinne, daß sie vorspringend genau jene Grundstrukturen begrifflich fixiert, die Forschung - und das, wozu sie dienen soll - überhaupt möglich machen (SZ 11). Mit anderen Worten, sie „zielt daher auf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, [...] sondern auf die Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden Ontologien selbst" (SZ 11). Diese transzendentale Theorie der Forschung scheint zwar noch phantastischer und überspannter zu sein als Weinbergs Traumtheorie, ist aber im Grunde recht realistisch. Was „zureichend geklärt", „ausdrücklich zu Begriff gebracht" und „als expliziter Begriff verfugbar" gemacht werden soll, ist „Sein und Seinsstruktur" (SZ 38) überhaupt, d. h. der Satz genau jener Strukturen, die wir immer schon erfaßt haben müssen, um überhaupt denken und sagen zu können, daß etwas ist und zum Gegenstand der Forschung gemacht werden kann. Worum es also geht, ist, in herkömmlicher Terminologie, „das Sein, das, was Seiendes als Seiendes bestimmt, das, woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist" (SZ 6). Die begriffliche Fixierung dieser Superleitstruktur wird natürlich nur dann kein bloßer Traum bleiben, wenn wir sie konkret konstruieren und, im Gegensatz zum Endprodukt der von Weinberg erträumten Universaltheorie, das vom Experimentieren mit dem „Higgs" in seinem Superconducting Super Collider abhängt, experimentell direkt demonstrieren können." Die transzendentale Theorie schlägt vor, daß und wie sich diese Superleiter, d. h. die Seinsstruktur, exemplarisch am Forscher selbst in „aufweisender Grund-Freilegung" (SZ 8) direkt sichtbar machen und im Einzelnen fixieren läßt. Der Vorschlag verblüfft durch seine Einfachheit. Alle Formen des besorgenden Umgangs, des Betrachtens und der uns umgebenden Erscheinungen sollen in ihrer inneren Verklammerung aufweisend demonstriert und als Funktionsformen der Sorge und der ekstatischen Zeitlichkeit begriffen werden. Die Ausarbeitung des Programms in Sein und Zeit kommt zwar über das Fußfassen im Problemzentrum nicht hinaus, das heißt, die begriffliche Fixierung der Strukturen des besorgenden Umgangs und der dazugehörigen Formen der Gegebenheit der Dinge bleibt zwar bruchstückhaft und vorläufig, aber ihr Zusammenhang wird genau demonstriert, beispielsweise in der Diskussion des „existenzialen Ursprungs" der theoretischen Erkenntnis überhaupt (§ 13), der Satzwahrheit (§ 44), der mathematischen Physik (§ 69) und der Historie (§ 76). Es wird gezeigt, daß alle diese Strukturen, sogar jene 10 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 40. 11 Mehr über „Higgs" bei Penrose 1993, 78 f.
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Organisation der Welt, die im distanziertesten Betrachten der mathematischen Physik entdeckt wird, die Grundstruktur unseres Verhaltens „zur Voraussetzung haben" (SZ 363), nämlich, die Sorge um unser Sein im All des Seienden, das heißt, daß die alle Forschung leitende Seinsstruktur als Funktion unseres Bemühens, unser Sein zu meistern und seiner mächtig zu werden, begriffen werden muß.12 Die Durchfuhrung des Programms soll durch die Methode einer hermeneutischen Phänomenologie möglich gemacht werden, d. h. durch eine direkte Auf- und Ausweisung (Hermeneutik) der genannten Strukturzusammenhänge, im Gegensatz zur „aphoristischen" Konstruktion und Deduktion aus „freischwebenden" Forschungsprinzipien (SZ 50, Anm. 1). Der Ausgangspunkt soll dabei immer ein phänomenaler Befund sein, d. h. „solches, was sich zunächst und zumeist zeigt" und offenkundig ist, und das Ziel soll die ausdrückliche Beschreibung von dem sein, was sich unvermeidlich nur als „vorgängig und mitgängig" zeigt und daher dunkel bleibt. Begriffliche Durchsichtigkeit verlangt, daß das Dunkel aufgehellt und die notwendige Zugehörigkeit des einen zum andern direkt demonstriert wird, das heißt, daß eigens sichtbar gemacht wird, daß das eine die notwendige Bedingung der Möglichkeit (Sinn und Grund) des anderen ausmacht (SZ 35). So soll zum Beispiel Sorge als der einheitliche Grund aller unserer Bemühungen aufgewiesen und ekstatische Zeitlichkeit als ihr Sinn ausgewiesen werden. Was bei der hermeneutischen Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit aller Untersuchung und Forschung überhaupt demonstriert werden soll, sind aber nicht die konkreten Bedingungen, Zugehörigkeiten und Verknüpfungen im Einzelfall, sondern ihre Notwendigkeit im allgemeinen.13 Erst im Lichte der demonstrierten Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit solcher Verknüpfungen kann die zufällige Offenkundigkeit des phänomenal Vorgefundenen streng begreiflich und voll durchschaubar werden. Bei der Ausarbeitung zeigt sich dann aber, daß sich die Idee der hermeneutisch-aufweisenden Demonstration der unbedingten Notwendigkeit solcher Verknüpfungen, durch die sich alles Wissen ausweisen und von der die Meisterung unseres Daseins abhängen soll, streng genommen nicht ausfuhren läßt, aus Gründen, die ich anderswo ausführlich und mit Bezug auf Kant diskutiere und die systematisch am sorgfältigsten von John Dewey erörtert werden.14 Phänomenale Angemessenheit (SZ 232, 312) soll garantieren, daß wir bei der Demonstration der notwendig zum Phänomenalen gehörigen Verknüpfungen über „nur dichtende, willkürliche Konstruktionen" und bloße Gewaltsamkeiten hinauskommen (SZ 260). Wir haben solche Garantie nur, versichert uns Heidegger, wenn wir das, was phänomenal offenkundig ist, erst selbst zu Wort kommen lassen, damit es sozusagen von sich aus entscheide, ob es als solches die formalen Verknüpfungen „hergibt", auf welche es in der Demonstration erschlossen werden soll (SZ 315). Mit anderen Worten, die Demonstration der notwen12 Ausführlicher in Seigfried 1991a. 13 Vgl. Heideggers Bemerkungen zur Erörterung der Grundverfassung der Geschichtlichkeit: „Wozu sich das Dasein je faktisch entschließt, vermag die existenziale Analyse grundsätzlich nicht zu erörtern [...] Trotzdem muß gefragt werden, woher überhaupt die Möglichkeiten geschöpft werden können, auf die sich das Dasein faktisch entwirft." 14 Vgl. Seigfried 1988 und Dewey 1984 und 1986.
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digen Verknüpfungen soll bloß die formale Struktur des im Offenkundigen je schon zu Wort gekommenen dunklen Verständnisses fixieren, d. h. sie eigens ergreifen und herausbringen - heraus in „die Helle des Begriffes" (SZ 6). Dieses dunkle, vorbegriffliche Verständnis soll daher bestimmen, was an Verknüpfungen je herausgestellt und erhellt werden kann und worin ihre Notwendigkeit besteht. Das von solchem Verständnis geleitete und geregelte demonstrative Herausstellen der notwendigen Verknüpfungen kann und muß daher seine Rechtmäßigkeit durch seine phänomenale Angemessenheit bzw. seine Durchleuchtungskraft ausweisen, so zwar, daß es sich in dem wahr macht, was es an notwendigen Verknüpfungen am jeweils Offenkundigen sehen läßt bzw. durchsichtig macht.15 Volle begriffliche Durchsichtigkeit ließe sich auf diese Weise natürlich nur dann erreichen, wenn etwas unabhängig von seinen notwendigen Verknüpfungen in einem immer schon fertigen Verständnis phänomenal offenkundig sein könnte. Müßte sich das Verständnis aber in Erwiderung auf unvorhergesehene Zufälligkeiten immer erst, immer noch und immer wieder ausbilden und ausdrücken, dann müßten wir in den zu Wort kommenden Verknüpfungen das jeweils vorläufige Resultat von Operationen sehen, in denen wir uns die uns umgebenden und umdrängenden Dinge in dem unvermeidlich begrenzten Licht von dem zurechtlegen, was wir unter den gegebenen Umständen für erstrebenswert und zunächst erreichbar hielten. Notwendig an den Verknüpfungen wäre dann nicht, daß sie von uns unabhängig immer schon irgendwie in einem Verweisungszusammenhang stünden und in einer Bewandtnisganzheit existierten, und somit nachträglich von uns vorgefunden und „in die Helle des Begriffes" herausgestellt werden könnten, sondern daß sie immer erst und immer wieder vorläufig und behutsam probierend hergestellt werden müßten und deshalb nur innerhalb der Reichweite dieser probierenden Herstellung durchsichtig gemacht werden könnten. Die versuchsweise hergestellten Verknüpfungen bestimmten zwar weiterhin das „Wesen" und den „Sinn und Grund" des phänomenal Offenkundigen und Vorgefundenen, aber ihre Gesetzmäßigkeit wäre eine Funktion von zufälligen Operationen und nur noch in einem genau begrenzten Sinne endgültig, ähnlich wie die der Systeme in den abgeschlossenen Theorien der Physik.16 Mit diesen Konditionalsätzen will ich bloß andeuten, daß der in methodischen Überlegungen wiederholte Versuch, sich für die Rechtmäßigkeit der hermeneutisch-aufweisenden Demonstration an das im auszulegenden phänomenal Offenkundigen zu Wort gekommene Verständnis und an vorbegriffliche Zeugnisse (SZ 197 f.) zu halten, irreführend ist, weil er gerade das verschleiert, was bei der Ausarbeitung des fundamentalontologischen Programms wirklich vor sich geht und entscheidend ist. Zum Beispiel wird die uns in allem bestimmende Sorge-Struktur gewiß nicht von hinreichend vielen Zeugnissen einfach abgelesen oder gar zwingend abgeleitet, sondern sie wird als organisierende Idee strategisch eingeführt. Ich erinnere bloß an die Aufzählung der mannigfachen Weisen des In-seins: Es werden nur solche genannt, die die „Seinsart des Besorgens" haben, und zwar nicht deshalb „weil etwa das Dasein zunächst und in großem Ausmaß ökonomisch und .praktisch' ist" 15 Vgl. Heidegger 1951,210. 16 Für die Diskussion der eingeschränkten, endlichen Endgültigkeit von abgeschlossenen wissenschaftlichen Theorien vgl. Seigfried 1991.
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oder etwa weil sie als dominierende Seinsart in unzähligen Zeugnissen belegt ist, „sondern weil das Sein des Daseins selbst als Sorge sichtbar gemacht werden soll" (SZ 56 f., Hervorhebung von H. S.). Nur was im klaren Licht dieser organisierenden Idee sichtbar werden kann, soll ausgewählt und behandelt werden, und das, was außerhalb seiner Reichweite liegt, bleibt dunkler Hintergrund, gegen den sich das hermeneutische Sichtbarmachen abgrenzt und von dem nur im Vorübergehen gesprochen werden soll - etwa die die „Seinsart des Besorgens" und alle Meisterung des Daseins lähmende Geworfenheit, d. h. die gleichgültige Betroffenheit, in der unser Dasein „als nacktes ,Daß es ist und zu sein hat'" aufbricht, uns „in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt" und „das Woher und Wohin im Dunkel" bleiben (SZ 134 ff.). Der Grund dafür liegt meines Erachtens darin, daß ohne die Wahl und Einführung einer solchen etwas gewaltsamen Strategie das hermeneutische Verfahren ein bloßes Herumtappen unter unzähligen und verwirrenden vorbegrifflichen Zeugnissen von Offenkundigem bleiben müßte. Erst mit einer solchen Perspektive, einer solchen Vorzeichnung, einem solchen Muster und von einem solchen Aussichtspunkt aus kann es gelingen, das vorbegriffliche Feld der Erfahrung für die Meisterung des Daseins adäquat zu vermessen und hinlänglich übersichtlich zu machen. Unter dem Druck der Tradition wird aber immer wieder versucht, den Eindruck der Erdichtung, Willkür, Gewaltsamkeit und freischwebenden Konstruktion mit der Demonstration der Angemessenheit des organisierenden Musters an das phänomenal Offenkundige zu vermeiden. Ein vergeblicher Versuch, weil es trotz wiederholter Versuche nicht gelingt, den Zirkel-Einwand überzeugend zu widerlegen. Der Eindruck kann aber gar nicht erst aufkommen, wenn uns aufgeht, daß es bei dem hermeneutischen Verfahren um eine ganz andere Angemessenheit der regulativen Perspektive geht, nämlich um ihre Angemessenheit für eine Organisation des phänomenal Offenkundigen, die uns wirklich hilft, mit ihm soweit als möglich zu Rande zu kommen, ähnlich wie in den Naturwissenschaften, wo uns in jüngster Zeit aufgegangen ist, daß es uns eigentlich nicht um die Natur selbst geht, sondern um die Durchschaubarkeit des Wechselspiels zwischen Mensch und Natur.17 Ich gebe zu, daß wir bei dem hermeneutischen Verfahren zu Recht darauf bestehen müssen, daß das phänomenal Offenkundige unser Muster „hergeben" und unseren begrifflichen Entwurf „leiten" muß, aber ich erkläre mir diese Forderung mit Frank Lloyd Wrights Entwürfen und Baumformen auf Amerikanisch, d. h. pragmatisch im Sinne von Deweys Theorie der Forschung. Das begriffliche Muster muß in diesem Sinne von dem geleitet sein, was in der vorbegrifflichen Erfahrung gegeben ist, daß es eigens und direkt für das Gegebene entworfen ist, so zwar, daß es eine begriffliche Organisation von Strukturen eigens herstellt für das, was zufallig gegeben ist, genau wie Wrights Bauentwürfe geleitet waren von der Baustelle, dem Klima, den verfügbaren Baumaterialien und der Lebensweise und den Lebensabsichten seiner jeweiligen Auftraggeber. Mit anderen Worten, der Entwurf muß das Resultat sein von behutsamem und überlegtem Probieren, Abwarten und Abwägen von dem, was sich durch unser Begriffsmuster mit allen seinen Verknüpfungen an dem zufällig Gege-
17 Mehr über das Wechselspiel zwischen Mensch und Natur in Seigfried 1990.
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benen als durchschaubar und für ein menschenwürdiges Leben durchführbar erweisen könnte und müßte. Leitung in diesem pragmatischen Sinne ist für die Sachgegründetheit, phänomenale Angemessenheit und Rechtmäßigkeit des hermeneutischen Verfahrens nicht nur notwendig, sondern sie müßte auch ausreichend sein, um es gegen reine Erfindungen, Willkürlichkeiten und Gewaltsamkeiten zu schützen.18 Die auf diese Weise experimentell hergestellte Durchschaubarkeit und Durchführbarkeit muß sich aber immer erst in der Durchfuhrung selbst wahr machen, d. h. ob in einem gegebenen Falle das in hermeneutischer Aufhellung gebrauchte Muster das einzige oder überhaupt das rechte ist und ob die mit ihm versuchte Meisterung des Daseins ans Ziel fuhrt, „das kann erst nach dem Gang entschieden werden", wie Heidegger am Ende seines Versuches mit der Sorge emphatisch einräumt (SZ 437). Die bei der Einfuhrung des fundamentalontologischen Programms und der hermeneutisch-phänomenologischen Methode in Aussicht gestellte volle, reine und definitive Transparenz des Daseins stellt sich daher bei der Ausarbeitung als prinzipiell unmöglich heraus, weil die Muster für die Verknüpfungen, die das „Wesen" und den „Sinn und Grund" des in der Erfahrung Gegebenen ausmachen sollen, immer erst experimentell-konstruktiv und probierend hergestellt werden müssen und somit niemals nur auf- und ablesend herausgestellt werden können. Volle Durchsichtigkeit ist durchaus möglich, nämlich in all den Fällen, in denen unsere hermeneutischen Muster streng begrenzt und fixiert sind, genau wie in den abgeschlossenen Theorien der Naturwissenschaften, die alle, laut Heisenberg, „rational bis ins letzte durchdringbare Systeme sind, die die ihnen zugehörigen Naturgesetze wohl für immer richtig darstellen."19 Problematisch daran sind nur die Preise, die wir bezahlen müssen, wenn die Grenzen unserer hermeneutischen Entwürfe nicht ausdrücklich anerkannt oder überhaupt nicht gesehen werden, das heißt, (1) wenn alles, was außerhalb der Reichweite unserer vorausleuchtenden hermeneutischen Scheinwerfer im Dunkel bleibt, bedachtlos preisgegeben werden soll, oder (2) wenn wir diese Scheinwefer vom dem, was unmittelbar vor uns liegt, ablenken sollen auf reine Wesenheiten und Endgültigkeiten im dunklen Nachthimmel über uns. Ich glaube, man kann aus guten Gründen sagen, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, daß die Literatur mit ihren Tropen, besonders mit ihren Metaphern, ein Bemühen ist um eine rechte Verteilung von Licht und Dunkel, d. h. eine Auflehnung gegen die erste Zumutung. Und Deweys pragmatische Theorie der Forschung ist vermutlich die radikalste Ablehnung der zweiten Zumutung. Sie ist ein großangelegter Versuch, der zeigen soll, daß Fragen der Forschung in allen Disziplinen, um sinnvoll zu sein, sich mit dem beschäftigen müssen, was uns unmittelbar bedrängt und was sich daher im Bereich der Erfahrung durch das Experiment und ohne Rekurs auf erträumte Letztheiten entscheiden lassen muß: They are proximate questions, not ultimate.20
18 Mehr darüber in Seigfried 1988, 149 f. 19 Vgl. Anm. 17. 20 Vgl. Dewey 1984, 36.
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4. Transparenz in den Literaturwissenschaften Gegenstand der Forschung in den Literaturwissenschaften sind Werke der Literatur, also Dinge, die zwar erdichtet, aber durchaus phänomenal vorfindlich sind. Wie in der philosophischen Hermeneutik, so geht es auch in den Literaturwissenschaften um Verknüpfungen, die das „Wesen" und den „Sinn und Grund" von dem ausmachen, was Gegenstand der Forschung ist, also um Werke der Literatur, d. h. um die Machart von literarischen Texten. Die Forschung hat sich in jüngster Zeit weitgehend auf Fragen konzentriert, bei denen es um die Rechtmäßigkeit der Autorität geht, die literarische Texte aufgrund ihrer Machart in der Erschließung unser Lebenswelt beanspruchen oder mit der Zeit einfach angenommen haben. Es geht dabei vor allem um die Durchleuchtung und die Rechtfertigung der Strategien der ursprünglichen Herstellung und der nachfolgenden Interpretation von Texten. Die Untersuchung wird dabei im Namen der Tragik und Abgründigkeit des Daseins von Verdacht und Widerstand gegen die dichterische Allwissenheit getrieben, mit der Dinge angeblich oft so dargestellt werden, daß das, wovon die Rede ist, so erscheint, als ob alles, was damit verknüpft ist und zusammenhängt, völlig vertraut und durchsichtig wäre. Ich will an ein paar Beispielen zeigen, (1) daß die angebliche Durchsichtigkeit der Dinge in der Literatur selbst lange vor den Enthüllungen der dekonstruktiven literaturwissenschaftlichen Forschung fragwürdig geworden war und (2) daß letztlich gerade das sanfte Pochen auf Licht und Schatten, Helligkeit und Dunkel im Dasein und das Hineinlocken ins „Grübeln über Vorsicht, Schicksal und letzten Grund aller Dinge" als die besondere Aufgabe der „Dichtkunst" angesehen wurde. Vor einigen Jahren organisierte ich an meiner Universität eine Konferenz über Philosophy & The Challenge of Poetry, auf der Gerald L. Bruns den Hauptvortrag hielt. Er sprach über Rememberance of the Exile: Or, Celan and the Essence of Poetry und argumentierte, daß sich Dichtung heute in zunehmendem Maße mit abseitig Fremdem und Dunklem beschäftige, so sehr, daß dabei manche Dichtungen völlig undurchsichtig, ja buchstäblich unlesbar werden. Als Beispiel nannte er folgendes Gedicht: ST Ein Vau, pf, in der That, schlägt, mps, ein Sieben-Rad: o oo ooo O
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Ich gab zu bedenken, daß dieses Gedicht21 eine mir aus meiner dörflichen Kindheit völlig vertraute alltägliche Erscheinung beschreibe, und daß es mühelos in Form einer Scharade vorgetragen werden könne: Es sei die graphische Wiedergabe des etwas verdatterten Staunens über das Aufrollen eines Pfauenrades - nur für den Stadtbewohner fremd und dunkel, für den mit dem Dörflichen Vertrauten dagegen ein ganz und gar durchsichtiges Ereignis. Man könnte natürlich versucht sein, diese genau begrenzte Durchsichtigkeit mit Friedrich Hebbel als Dorfgeschichten-Schwindel abzutun - mit der Begründung, daß die beschriebene Freude am Einzelnen und am Kleinleben der Natur nur möglich ist „für alle diejenigen, die nicht imstande sind, ein Ganzes aufzufassen und in sich aufzunehmen." Denn wo das Große und das Ganze nicht sichtbar ist, da fangt das Kleine, das Einzelne, und das „Nebenbei" an zu florieren. „Kurz, das Komma zieht den Frack an und lächelt stolz und selbstgefällig auf den Satz herab, dem es doch allein seine Existenz verdankt."22 Im dörflichen Rahmen ahnt man eben nicht, „daß jedes Bild ohne Ausnahme ein hieroglyphisches Element in sich aufnehmen muß, welches nach allen Seiten die Grenzen zieht," an denen die Durchsichtigkeit endet und die Undurchschaubarkeit beginnt.23 Hebbel protestiert vor allem gegen Adalbert Stifter, den „Mann der ewigen Studien", dem er erneut vorwirft, daß er den Menschen ganz aus dem Auge verlor und „einen ,Nachsommer' schrieb, bei dem er offenbar Adam und Eva als Leser voraussetzte, weil nur diese mit den Dingen unbekannt sein können, die er breit und weitläufig beschreibt" - so zwar, daß er das Einzelne vom alles bedingenden, aber auch alles zusammenhaltenden Zentrum losreißt.24 Der Dramatiker Hebbel betrachtet das Drama „als die Spitze aller Kunst", gerade weil es „den jedesmaligen Welt- und Menschen-Zustand in seinem Verhältnis zur Idee, d. h. hier zu dem alles bedingenden sittlichen Zentrum, das wir im Welt-Organismus, schon seiner Selbst-Erhaltung wegen, annehmen müssen, veranschaulichen" soll.25 „Das Drama stellt den Lebensprozeß an sich dar", so zwar, „daß es uns das bedenkliche Verhältnis vergegenwärtigt, worin das aus dem ursprünglichen Nexus entlassene Individuum dem Ganzen, dessen Teil es trotz seiner unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist, gegenübersteht."26 Es soll die weltgeschichtliche Aufgabe selbst lösen helfen, indem es versucht, zwischen der Idee und dem Welt- und Menschen-Zustand zu vermitteln.27 Die Transparenz und volle 21 Paul Celan, Verstreute Gedichte, Celan 1986, Bd. 3, 136. 22 Friedrich Hebbel, Das Komma im Frack, Hebbel 1963, Bd. 3, 684 f. 23 A.a.O., 685. 24 A.a.O., 685 f. Stifter hat Hebbels früheren Vorwurf, daß ihm die Darstellung des Kleinen so gut gelänge, weil er keinen Sinn für das Große habe, bereits fünf Jahre früher in der Vorrede zu Bunte Steine: Ein Festgeschenk (1853) entschieden zurückgewiesen. Die besonders scharfe Kritik an Stifter in Das Komma im Frack (1858, anonym) war vermutlich durch Stifters beredte Darlegung seiner Ansichten über das Große und Kleine, und die implizite Kritik von Hebbels Anschauungen, veranlaßt. 25 Friedrich Hebbel, Vorwort zur, Maria Magdalene', betreffend das Verhältnis der dramtischen Kunst zur Zeit und verwandte Punkte, Hebbel 1963, Bd. 1, 307. 26 Friedrich Hebbel, Mein Wort über das Drama! Eine Erwiderung an Professor Heilberg in Kopenhagen, Hebbel 1963, Bd. 3, 545. 27 Friedrich Hebbel, Vorwort zur, Maria MagdaleneHebbel
1963, Bd. 1, 322.
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Durchsichtigkeit der Dinge wäre demnach erst mit dem Gelingen einer solchen Vermittlung und Verknüpfung erreicht - und nicht einfach gegeben oder vorfindbar. Solche Überlegungen zeigen zwar nicht, daß die Dinge im Rahmen des Dörflichen und Vertrauten etwas Undurchsichtiges an sich haben, sondern nur, daß jedes Ding ein hieroglyphisches Element in sich aufnehmen muß, wenn es aus diesem Rahmen herausfällt, mit Fremdem verknüpft wird oder mit Hilfe von Ideen in den weiten Zusammenhang des Ganzen gestellt wird. Aber im Dörflichen selbst ist jedes Ding bis ins letzte durchschaubar, eben weil es in ihm durch sorgfaltiges Ein- und Ausgrenzen seinen festen Platz und seine genaue Bewandtnis hat. Es könnte daher durchaus sein, daß Celans o oo ooo O auf eine mögliche Erfahrung hinweisen soll, bei der wir durch betroffenes Staunen zu bedenklichen Fragen verlockt werden, die aus dem engen Rahmen des Bekannten in den weiten Bereich des Großen und Allgemeinen hinausführen. Stifter weist in seiner Antwort auf Hebbels ersten Angriff darauf hin, daß er in seinen Schriften zeigen will, wie wir uns in diesem unbegrenzten, dunklen Bereich, in dem sich uns „eine Fülle von unermeßlichen Erscheinungen" auftut, sanft vorantasten und, genau wie in den empirischen Naturwissenschaften, in geduldigen kleinen Schritten immer wieder die Beziehungen und Verbindungen herstellen müssen, die uns bei unserem Bemühen um das, was wir brauchen, helfen (1) die Zerstörung der Bedingungen des Daseins eines anderen zu vermeiden und (2) die Zusammengehörigkeit und Verbundenheit herzustellen, in der ein Mensch neben dem anderen bestehen und seine menschliche Bahn gehen kann. Er wolle „das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird." Erst wenn wir eine solche Verbundenheit hergestellt haben, „fühlen wir uns befriedigt, wir fühlen uns noch viel höher und inniger, als wir uns als Einzelne fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit." 28 In Stifters Erzählungen geht es also, wie in Hebbels Dramen, um die Herstellung eines „Nexus" zwischen der Fülle von vertrauten Einzelerscheinungen und dem Ganzen, in dem wir den „Lebensprozeß an sich" (Hebbel) überschaubar zu machen versuchen, genau wie „der Geisteszug [in der naturwissenschaftlichen Forschung] vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine geht und nur in ihm allein Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es allein das Welterhaltende ist. Die Einzelheiten gehen vorüber, und ihre Wirkungen sind nach kurzem kaum noch erkennbar."29 In ihrer Machart jedoch sind die Werke der beiden Autoren grundverschieden. Während Stifter, beeindruckt von den Erfolgen in der naturwissenschaftlichen Forschung, die „nur 28 Adalbert Stifter, Bunte Steine: Ein Festgeschenk, 29 A.a.O., 8 f.
VorTede, Stifter 1959, Bd. 3, 10.
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Körnchen nach Körnchen erringt, nur Beobachtung nach Beobachtung macht, nur aus Einzelnem das Allgemeine zusammenträgt", betont, daß er in seiner Werkstatt „nur das Einzelne darstellen [könne], nie das Allgemeine", so besteht Hebbel darauf, daß es die höchste Aufgabe der Kunst sei, das Allgemeine, das wir als organisierende Idee „annehmen müssen", zu „veranschaulichen", so zwar, daß sie das bedenkliche Verhältnis von einzelnen Ideen, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen sind, in den Gestalten des Dramas „vergegenwärtigt" und ihr ursprüngliches Verhältnis wiederherzustellen versucht. Die Hebbelschen Dramen sind daher Darstellungen von Einzelerscheinungen im Lichte einer dogmatisch angenommenen, alles verknüpfenden und ewig fertigen Idee. Die Stifterschen Erzählungen dagegen sind ewige „Studien", wie Hebbel richtig bemerkt, die beiden Großerzählungen Nachsommer und Witiko miteingeschlossen, die durch ihre Darstellung einzelner Erscheinungen, Beziehungen und Lebenswege dazu verlocken sollen, in durch das sanfte Gesetz geleiteten Versuchen, Verbindungen herzustellen und Bedingungen zu schaffen im Bereich des Allgemeinen, der für uns wohl für immer weitgehend im Dunkeln liegt und den wir daher niemals ganz überblicken können, so daß wir ihren Effekt auf unser Schicksal letztlich nicht genau absehen können. Ich will Stifters neue Schreibart mit Bemerkungen aus „Abdias", einer Erzählung in den Studien, belegen und verdeutlichen. Er beginnt die Erzählung mit drei lapidaren Paragraphen: „Es gibt Menschen, auf welche eine solche Reihe Ungemach aus heiterem Himmel fällt, daß sie endlich da stehen und das hagelnde Gewitter über sich ergehen lassen: so wie es auch andere gibt, die das Glück mit solchem ausgesuchten Eigensinne heimsucht, daß es scheint, als kehrten sich in einem gegebenen Falle die Naturgesetze um, damit es nur zu ihrem Heile ausschlage. Auf diesem Wege sind die Alten zu dem Begriffe des Fatums gekommen, wir zu dem milderen des Schicksals. Aber es liegt auch wirklich etwas Schauderndes in der gelassenen Unschuld, womit die Naturgesetze wirken, daß uns ist, als lange ein unsichtbarer Arm aus der Wolke und tue vor unsern Augen das Unbegreifliche. Denn heute kömmt mit derselben holden Miene Segen, und morgen geschieht das Entsetzliche. Und ist beides aus, dann ist in der Natur Unbefangenheit, wie früher."30 Stifter meint zwar, daß es „eigentlich" weder Fatum, eine letzte Unvernunft des Seins, geben mag, noch Schicksal, „ein von einer höheren Macht Gesendetes, das wir empfangen sollen." Er glaubt vielmehr zuversichtlich, daß „eine heitre Blumenkette [...] durch die Unendlichkeit des Alls" hänge, die Kette der Ursachen und Wirkungen, an die wir mit unserer Vernunft Blume um Blume, Glied um Glied anknüpfen und „hinabzählen bis zu jener Hand, in der das Ende ruht." Aber obwohl wir schon seit Jahrtausenden „hinabzählen", können wir die Zählung noch nicht überschauen, „noch fließt das Geschehen wie ein heiliges Rätsel an 30 Adalbert Stifter, Studien, Stifter 1959, Bd. 2, 7.
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uns vorbei, noch zieht der Schmerz im Menschherzen aus und ein - ob er aber nicht zuletzt selber eine Blume in jener Kette ist? wer kann das ergründen? [...] - Wir wollen nicht weiter grübeln, wie es sei in diesen Dingen, sondern schlechthin von einem Manne erzählen, an dem sich manches davon darstellte [...]."31 Aber wozu dann die Erzählung vom seltsamen Lebensweg des Juden Abdias, der in seinem Leben so reichlich Fluch und Segen geerntet hat, wenn sie dieses Grübeln nicht weiterfuhren soll? Auf jeden Fall wird man durch Lebenswege wie den seinen zur Frage angeregt: ,Warum nun dieses?' und man wird in ein düsteres Grübeln hineingelockt über Vorsicht, Schicksal und letzten Grund aller Dinge.32 Diese „Studie" soll also nicht wie ein Hebbelsches Drama durch die Vermittlung zwischen einer vorausgesetzten lichten Idee und dem jeweiligen Welt- und Menschen-Zustand die weltgeschichtliche Aufgabe selbst zu lösen versuchen, sondern sie soll uns zu einem im Dunkeln nach Verbindungen tastenden Nachdenken über den letzten Grund aller Dinge verfuhren. Welche Verbindungen und Zusammenhänge wir dabei noch entdecken werden, „davon können wir kaum das Tausendstel des Tausendstels ahnen."33 Stifters Auseinandersetzung mit Hebbel zeigt allerdings, daß seine Umorientierung der „Dichtkunst" auf das düstere Grübeln über den letzten Grund aller Dinge letztlich doch noch der Metaphysik der Transparenz verhaftet bleibt, denn er glaubt immer noch, daß wir bei unseren „Studien" der Verknüpfungen und Verbindungen und bei unserem „Hinabzählen" der Glieder der Kette von Ursachen und Wirkungen „dereinstens" die Zählung überschauen können und daß uns dann „kein Zufall mehr erscheinen [wird], sondern Folgen, kein Unglück mehr, sondern nur Verschulden; denn die Lücken, die jetzt sind, erzeugen das Unerwartete, und der Mißbrauch das Unglückselige."34 Im Vergleich und Konstrast dazu ist Paul Celans Gedicht, „Sprich auch du", eine endgültige und totale Abkehr von der platonischen Lichtmetaphysik.35 Bei der weiten Verteilung von Schatten und Dunkel um uns und in uns wird es schwer, in der transparenten Darstellung - selbst in Form von „Studien" - die Aufgabe von Literatur und Literaturwissenschaft zu sehen.
31 A.a.O., 8. 32 A.a.O., 9. 33 Ebd. 34 A.a.O., 8. 35 Vgl. Paul Celan, „Von Schwelle zu Schwelle / Inselhin" (1955), Celan 1986, Bd. 1, 135.: „Sprich auch du, / sprich als letzter, / sag deinen Spruch. // Sprich - / Doch scheide das Nein nicht vom Ja. / Gib deinem Spruch auch den Sinn: / gib ihm den Schatten. // Gib ihm Schatten genug, / gib ihm so viel, / als du um dich verteilt weißt zwischen / Mittnacht und Mittag und Mittnacht. // Blicke umher; / sieh, wie's lebendig wird rings - / Beim Tode! Lebendig! / Wahr spricht, wer Schatten spricht. // Nun aber schrumpft der Ort, wo du stehst: / Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin? / Steige. Taste empor. / Dünner wirst du, unkenntlicher, feiner! / Feiner: ein Faden, / an dem er herabwill, der Stern: / um unten zu schwimmen, unten, / wo er sich schimmern sieht: in der Dünung / wandernder Worte."
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Wolfram Hogrebe
Mimesis und Mimik. Bildprobleme der Moderne 1. Vorbemerkung: Zeitdiagnostische Wissensformen Eine Prüfung von Wissensformen in den Geisteswissenschaften wird sich durch die Geschichte der Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften zunächst veranlaßt sehen, methodische Kontraste zu Wissensformen in den Naturwissenschaften zu akzentuieren (Dilthey, Windelband, Rickert etc.), um dann Perspektiven einer Binnendifferenzierung nachzugehen (Wissensformen in Geschichte, Jurisprudenz, Ethnologie, Literaturwissenschaft etc.). Eine anders einsetzende Prüfung von Wissensformen in den Geisteswissenschaften könnte sich durch Ergebnisse der Diskurstheorie motivieren lassen, die Eigenart geisteswissenschaftlicher Diskurse zu beleuchten. Diese erscheinen ja als spezifische Mischformen von Diskurstypen, wie sie Herbert Schnädelbach differenziert hatte: als Mischformen von deskriptiven, normativen und sinnexplikativen Diskursformen, die nicht notwendig als problematische Diskursvermengungen angesehen werden müssen.1 Wenn die Geisteswissenschaften an ihren Gegenständen ein historisches, explikatives, diagnostisches, szenisches und konstellatives Interesse nehmen können, dann mögen sich ihre Wissensformen entsprechend ausdifferenzieren lassen, ohne daß sie je in Reinform vorkommen könnten. Datierungsfragen werden wichtig, wo ein Verständnis einer historischen Konstellation von der Reihenfolge von Ereignissen abhängt, und historische Ereignisse haben ihre Gründe, Veranlassungen und Wirkungen, die geklärt sein wollen, indem ihr Kontext rekonstruiert wird. Darüber hinaus können Ereignisse (z. B. die Öffnung der Berliner Mauer) signifikant für den Geist einer Zeit sein und laden so zu einer diagnostischen Deutung ein. Ferner machen historische Ereignisse häufig dann erst Sinn, wenn man sie in ihrer szenischen Einbettung wahrnimmt, die etwas anderes ist, als eine Datenmenge erkennen ließe. Szenisches Verstehen kann uns auch veranlassen, übergreifende Konstellationen zu bemühen, um Kontrastbilanzen für unser Sinnverstehen fruchtbar zu machen. Schließlich bleibt ein solches Sinnverstehen auch wichtig für unser Interesse am Schicksal von Normen, ja häufig erlauben z. B. erst rechtsgeschichtliche Befunde, die Eigentümlichkeit historischer Konstellationen erklärlich zu machen. Kurz: die Wissensformen in den Geisteswissenschaften sind zwischen historischer Positivität, normativer und szenischer Sensibilität verstrickt und ihre Strickmuster gewinnen auch nur Stabilität, wenn diese drei Momente in einem ausbalancierten Verhältnis zueinander stehen. Das ist allerdings nicht immer möglich. Die Quellenlage begünstigt manchmal nur die historischen Fakten und gibt keinen Blick auf das sie konfigurierende normative oder szenische Muster frei. Manchmal gibt es auch modische Vorlieben für szenische Ein-
1 Vgl. Schnädelbach 1977, 177 ff. und 341 ff.
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bettungen, die etwas Gezwungenes haben und einen verengten Blickwinkel bezeugen (z. B. Gender-Studies). Die zweifellos riskanteste Wissensform der Geisteswissenschaften, aber auch eine ihrer wichtigsten ist da gegeben, wo sie sich zeitdiagnostischen Fragen zuwendet. Denn hier muß sie mit in die Zukunft offenen Konstellationen operieren, deren Unabsehbarkeit der zeitdiagnostischen Wissensform allenfalls ein heuristisches Niveau erreichbar sein läßt. Trotz dieser geringen epistemischen Belastbarkeit ist diese diagnostische Wissensform der Geisteswissenschaften aber keineswegs entbehrlich. Ihre wie immer brüchigen Ergebnisse helfen uns, im opaken Raum des Gegenwärtigen und Wirklichen die Übersicht zu behalten, oder vorsichtiger gesagt: sie verschaffen uns Übersichtsangebote, die mehr oder weniger hilfreich sind, weil sie Daten, die auch uns Zeitgenossen häufig schon bekannt sind, in ein konfigurierendes Muster versammeln, das wir eben nicht schon kannten und das uns überraschend, plausibel oder umgekehrt nicht besonders überzeugend erscheinen kann. In einer einigermaßen globalen zeitgeschichtlichen Perspektive macht auch die Philosophie von solchen diagnostischen Mustern Gebrauch, z. B. in Konstanz, wo hochstilisierte Welten konstruiert werden, wie z. B. Kolumbus- oder Leonardo-Welten; oder auch in Karlsruhe, wo von Menschenparks die Rede ist. Die Begriffsbildung folgt in beiden Fällen demselben Muster. Eine Konstanzer Leonardo-Welt gewinnt man, indem an dem historischen Leonardo allein der Ingenieur bei gleichzeitiger Abbiendung aller sonstiger Eigenschaften akzentuiert wird, so daß der Name für eine Welt zu stehen kommen kann, die als Welt des Engineering erscheint. (Unten werden wir allerdings auf einen Leonardo da Vinci zu sprechen kommen, der nicht Bewohner einer solchen Leonardo-Welt sein könnte.) Ebenso gewinnt man einen Menschenpark, indem man davon absieht, daß ein JurassicPark mit Dinosauriern bestückt ist und sie durch Menschen ersetzt, von denen angenommen sein mag, daß sie gentechnisch modelliert sind. In seinem Buch Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus (Berlin 1998) stellt der amerikanische Soziologe Richard Sennet ein kulturelles Muster der Gegenwart vor, demzufolge wir in unserer Zeit bei wachsendem Flexibilitätsdruck mit der Bilanz einer sich abschwächenden mentalen Bindungsfähigkeit konfrontiert werden. Dieses Muster macht erschrecken, obwohl wir die Daten, die durch dieses Muster konfiguriert werden, auch aus unserer Lebenswelt durchaus schon kannten. Der Historiker Eric J. Hobsbawm bilanziert das 20. Jahrhundert als Das Zeitalter der Extreme (München/Wien 1995) und diagnostiziert im 3. Teil unter dem Titel ,Der Erdrutsch' umstandslos den , Tod der Avantgarde: Die Künste seit 1950': Wir sind erstaunt, obwohl wir die Daten, die er zugrundelegt, allesamt kannten. Daß das Vermögen, eine gegebene Datenmenge in ein eben diese Daten konfigurierendes Muster szenisch zu integrieren, kantisch gesprochen: per reflektierender Urteilskraft zu integrieren, daß also dieses Vermögen eine spezifische Wissensform der Geisteswissenschaft ist, die sie übrigens in eine deutliche Verwandtschaft mit der diagnostischen Wissensform der Medizin einrücken läßt,2 mag einleuchten. Daß dieser Befund allerdings ebenso für die Philosophie gilt, insofern sie ihrer Gegenwart nicht einfach nur ausweicht, ist für man2 Vgl. Wieland 1975.
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che vielleicht ein Ärgernis und für diese ist auch die Erinnerung an Hegel kein Trost, für den die Philosophie ja insgesamt jeweils ihre Zeit in Gedanken gefaßt ist. Aber es gibt andererseits doch noch einige, die es riskieren, die begriffliche Tiefendynamik ihrer/unserer Zeit diagnostisch zu erreichen, ohne sich an der zweifellos unvermeidlichen Gebrechlichkeit solcher Unternehmen irre machen zu lassen. Lehrreich ist hier wieder die Geschichte. Denn es gibt ein glänzendes Beispiel für einen Philosophen, der die hier ins Auge gefaßte szenische Einbettungsstrategie in prominenter Weise eingesetzt hat, um den abstrakten Prozeß der Normgenese und der Staatenbildung durch ein visuelles Muster nicht nur anschaulich zu machen, sondern begrifflich zu erzeugen. Der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat kürzlich ein Buch vorgelegt, in dem er zeigt, daß das Frontispiz, das Thomas Hobbes dem Text seines Leviathan voranschickt, also das bekannte Bild des großen, alle Körper der Menschen integrierenden Leviathan, nicht etwa einer aparten Comic-Laune von Hobbes zu verdanken ist, sondern als Bild auch für Hobbes die einzige Möglichkeit bereitstellt, den aus und gegen die Anomie, gegen das Nichts per Vertrag konstituierten Staat als einen großen künstlichen Androiden körperlich zugänglich zu machen.3 So sind im Rückblick die so ins Bild gefaßten Staaten die ersten wirklichen Bewohner von Peter Sloterdijks Menschenpark. In Hobbes großen Androiden sind wir zudem selbst die Daten und finden uns in ein Muster konfiguriert, das uns domestiziert und zugleich erschreckt, weil sich die Muster, d. h. die Staaten untereinander und für sich im Verlauf der Geschichte ihrerseits nicht im intendierten Sinne domestiziert verhalten haben: In der Weltgeschichte zerfleischen sich von Zeit zu Zeit die hobbesianischen Androiden selbst und untereinander. Auch Androiden bleiben, entgegen Sloterdijk, anomieanfallig. Ohne die Wissensform szenischen Verstehens, und das ist es schließlich nur, worum es hier geht, wäre die Körperszene in der visuellen Strategie von Thomas Hobbes nicht möglich gewesen. Und wenn wir in dieses Bild des Leviathan die zeitgenössischen Diagnosen von Sennett und Hobsbawm hineinprojezieren, dann sehen wir geradezu, wie sich am Ende des 20. Jahrhunderts der große Leviathan wie von schweren Alpträumen heimgesucht in zukkenden, epilepsieähnlichen Krämpfen zu winden beginnt und wir mit ihm. Nun, das sind natürlich szenische Phantasien, die allenfalls unsere visuellen Bedürfnisse befriedigen. Aber gerade die sind es ja, die am Ende des 20. Jahrhunderts dominieren. Dieses Jahrhundert begann mit Bewußtsein, verausgabte sich an die Sprache und endet im Bild. Unsere alltägliche Realität ist zu weiten Teilen eine Realität von Bildern geworden und in ihnen und anderen visuellen Strategien werden die Wettbewerbe unserer Life-Style-Kultur ausgetragen. So möchte ich im folgenden in der Tat auf zeitdiagnostische Erwägungen zugehen, und zwar durch ein gegenwärtiges Tor von ästhetischen Extremen auf das Bildschicksal in der Moderne zugehen, um zeitdiagnostische Gewinne zu erwirtschaften. Das Tor der Extreme möge sein der gegenwärtige Kult des Häßlichen und der Kult des Schönen.
3 Bredekamp 1999.
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2. Kult des Häßlichen Der gegenwärtige Kult des Häßlichen ist etwas Neues, nicht jedoch das Häßliche selbst. Daß es Häßliches gibt, ist nie streitig gewesen, unterschiedlich sind allerdings seine Bewertungen. In der Antike herrscht die Auffassung vor, daß das Häßliche und Deformierte einen geringeren Seinsrang hat als das Wohlgeformte, da Wohlordnung die Präsenz des Idealen verkörpert. Trotzdem ist das Häßliche nicht nutzlos: Es zeigt indirekt die Macht der Form an, unser Mißfallen am Häßlichen ist indirekter Indikator unserer eigentlichen Liebe des Wohlgeformten. Auch im Christentum wird das Häßliche im Programm der Rechtfertigung des Seienden (Theodizee) als indirekte Bestätigung der Wohlordnung der Schöpfung verstanden, als Erbschaft des schuldhaften Abfalls vom Göttlichen. Auch die neuplatonische Renaissance rät dem Künstler, materielle Unzulänglichkeiten mit Kunst auszugleichen, das Materielle durch geeignete Formung zurückzudrängen (Alberti, Da Vinci, Vasari, Danti). Aber hier gibt es schon eine andere Stimme und das ist die Dürers.4 Er verschafft der Darstellung des Häßlichen einen gelegentlichen Kredit, weil es um der Wahrhaftigkeit willen manchmal notwendig ist. Dies ist die Geburtsstunde eines Realismus, wie ihn dem Begriff nach schon Aristoteles kannte, ohne ihn allerdings besonders zu akzentuieren. Aristoteles bestimmt den Spielraum der künstlerischen Darstellung in seiner Poetik ja so, daß z. B. Menschen gestaltet werden, „die besser sind, als es bei uns vorkommt, oder schlechtere oder solche wie wir selber. So tun es auch die Maler: Polygnotos hat schönere Menschen gemalt, Pauson häßlichere, Dionysios aber ähnliche." Die Bemessungsgröße für das Bessere oder Schlechtere, das Schönere oder das Häßliche ist bei Aristoteles so das, was ,bei uns vorkommt'. Er springt nicht aus dem Kreis des Üblichen heraus, die Erfahrung des Gegenwärtigen und Wirklichen bleibt das, woran die Abweichungen verdeutlicht werden mögen. Wenn es denn, wie Dürer zum ersten Mal nahelegt, so sein mag, daß das Gegenwärtige und Wirkliche durch Abwesenheit des Idealen gekennzeichnet ist, dann ist in der Tat, um der Wahrhaftigkeit willen das Häßliche zuzulassen. Man muß aber sehen, daß hier - und genau das ist eben Realismus - der Wahrheitsbegriff eine Verschiebung erfährt: wahr ist nicht mehr das, was die Wohlordnung, und sei es indirekt, beglaubigt, sondern wahr ist, was die Verhältnisse so wiedergibt, wie sie erfahrbar sind. Der Seinsrang bemißt sich nicht mehr am Grad der durch die Formgebung hindurchscheinenden Wohlordnung, sondern verschwindet im Erscheinen, das nur noch anzeigt, daß es so ist, wie es ist. Zu einem Kult des Häßlichen im prägnanten Sinn könnte es daher erst da kommen, wo das was ist, so wie es ist, zwar durchaus noch als transparent aufgefaßt wird; nicht mehr aber im Sinn einer Transparenz einer erreichten oder verfehlten Wohlordnung, sondern als Transparenz einer tiefgründigen Mißordnung, die als das Teuflische oder Dämonische der genaue Gegenpart zum Göttlichen ist. Nur wo diese Energien der Mißordnung als einzige und wahre Energien des Seins anerkannt werden, ist ein Kult des Häßlichen möglich, wie er
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Vgl. hierzu den Artikel ,.Häßliche (das)' von Ursula Franke in: Historisches phie, hrsg. von J. Ritter, Bd. 3, 1003 ff.
Wörterbuch
der
Philoso-
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Mitte des 19. Jahrhunderts in Formen des Satanismus, literarisch in seiner spirituellen Ambivalenz etwa bei Baudelaire greifbar ist. In diesem Sinne spricht man heute, abgesehen von okkulten Szenen der New Age Bewegung, aber nicht vom Kult des Häßlichen. Heute spielt eine andere Matrix die Hauptrolle. Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist der Seinsrang des Seienden nicht mehr durch Partizipation am Göttlichen, auch nicht am Gegen-Göttlichen, sondern durch Partizipation am Natürlichen definiert. Lebensnähe wird prämiert. So erscheint da, wo die Partizipation am Natürlichen gestört ist, wie z. B. in der industriellen Gesellschaft durch Technik, Wissenschaft und Wirtschaft, in den Städten, eine Häßlichkeit, die aufzuzeigen oder bildlich darzustellen, Aufgabe einer moralischen, ja pathetischen Verpflichtung auch der Kunst ist. Diese Matrix beherrschte in etwa die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am Ende seiner zweiten Hälfte ist wieder eine andere Matrix wirksam. Nicht mehr definiert das Natürliche, das Leben, den Seinsrang dessen, was ist, sondern das Gegenteil zum verformenden Funktionalen, also das Dysfunktionale. Das Ungeregelte übernimmt die Werterbschaft des Lebens. Prämiert wird nicht mehr Authentizität, sondern Abweichung, das Deviante. Gerade da, wo die Teilhabe am Dysfunktionalen durch Imperative des Funktionalen gestört ist, gerade da mag eine Symbolik des Dysfunktionalen Indikator dafür sein, daß man sich den Imperativen des Funktionierens nicht unterworfen sieht oder fühlt. Hier bekommt das Häßliche die Symbolvalenz des Protestes gegen die Funktion, hier spricht man in genau diesem Sinne von einem Kult des Häßlichen, der in Wahrheit also eine symbolische Kultur der Funktionsverweigerung ist. Kult heißt hier nur noch: sich auf Überbietungsformen in symbolischer Häßlichkeit einlassen (Individualitätssteigerung), d. h. auf einen Kult des Anomischen. Die Ratte auf der Schulter, der Irokesen-Schnitt, der Ring in Ohr, Nase oder sonstwo, die Tätowierung ebendort, Textilproteste wie Schlabberlook und vernietete Lederbekleidung, Punk-Kultur und Verhaltensweisen der sogenannten autonomen Szene bis zur Kultur der TransvestitenSzene mögen als Belege ausreichen. Hier stehen wir heute. Das Häßliche gefällt als Symbolik einer Funktionsverweigerung. Diese Symbolik der Funktionsverweigerung indiziert aber nicht notwendigerweise zugleich auch, daß ihr Träger ein dysfunktionales Leben führt. Wo dies gleichwohl der Fall ist, spricht man eben von ,Szenen'. Zugleich ruft dieser Kult des Häßlichen auch alternative Kulte wach, oder ist umgekehrt durch diese wachgerufen worden, einen Kult des Schönen mit einer ausgeprägten Symbolik der Funktionsbejahung. Diese Life-Style-Symbolik wird zum großen Teil von der Werbung genutzt, sogar erzeugt, um die Partizipation an der großen Party des perfekten Funktionierens mit seiner Konsumsymbolik schmackhaft zu machen, die umsatzförderlich ist. Dieser Kult des Schönen tritt dem modernen Kult des Häßlichen zur Seite und die Grenzen sind fließend. Die perfekten Anwälte der Funktionsbejahung, die Experten der Computerszene z. B., sind zugleich häufig Repräsentanten des modernen Kults des Häßlichen, Piercing und Internet vertragen sich. Das gilt, bislang jedenfalls, aber nur für die unteren Ebenen der Experten. Auf den höchsten Ebenen der Vorstände ist die Havanna zulässig, nicht jedoch der Ring im Ohr. Das mag allerdings auch eine Frage des Alters sein. Der Kult des Häßlichen ist ein Kult der Jugend, wo dieser Kult ins höhere Alter mitgenommen wird, wirkt er leicht lächerlich, wie schon die 68er in dem Augenblick zum Schmunzeln Anlaß gaben, als einige von ihnen ihre Attribute auch mit 40 oder 50 nicht ablegen wollten. Langes und zugleich schütteres Haar überzeugt nicht
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mehr als Protest-Symbolik, sondern wirkt eher schmuddelig. Aber genau das kann im Rahmen eines Kults des Häßlichen intendiert sein wie bei den Sängern von ,Piep-piep-piep' (Guildo Horn) oder ,Katzeklo' (Helge Schneider). Das Panorama, das ich hier skizziert habe, der moderne Kult des Häßlichen und Schönen, findet sich in nahezu allen Bereichen des Kreativen wieder, in den Segmenten der Malerei (z. B. Knoebel versus Lüpertz, Richter versus Baselitz, Warhol versus Beuys etc.), des Theaters (Wilson versus Zadek), in der E-Musik (Nigel Kennedy versus Ann-Sophie Mutter) im Comic (Ralph Koenig versus Mickey Mouse). Der zweifellos vitalste Ausdruck eines Kultes des Häßlichen und Schönen findet sich schließlich in der Pornographie im Kontrast zwischen Hardcore-, Sado-maso- und Snuff-porno versus Soft-porno. In diesem Bereich ist auch das Bild so essentiell, daß man geradezu vom piktorialen Zentrum der Bildlichkeit sprechen könnte. Zentrum deshalb, weil auch sonstige Bildlandschaften immer Kontakt, oft einen sehr raffinierten Kontakt zur erotischen Zone unterhalten, der die Intensität ihres Bannpotentials steigert und werblich interessant macht. Alles in allem ist das Schöne und Häßliche etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einem Koordinatensystem eingetragen, das keine Vertikale mehr zuläßt, also ohne Ordinatenwerte auskommt, also nur eine Horizontale kennt, d. h. Abszissenwerte. Das besagt: Wenn das, was ist, nicht mehr transparent ist für ein Höheres, Ideales oder auch gegeninstanzlich ein Dämonisches und Böses, wenn also ein sinnliches Scheinen der Idee oder der dämonischen Energien aus dem, was ist, nicht mehr extrahiert werden kann, dann gibt es nichts Höheres mehr als eben das, was ist, in einer strikt horizontalen, d. h. faktizistischen Perspektive. Wenn so seit Mitte des 19. Jahrhunderts das Transparenzprinzip außer Kraft gesetzt ist, d. h. das Prinzip, daß die Dinge auf ein hinter ihnen liegendes Wahres, Schönes, Gutes oder Dämonisches mehr oder weniger transparent sind, dann vermittelt diese Welt keinerlei Spiritualität mehr, weder in bonam noch in malam partem, diese Spiritualität wird von Nervenreizungen beerbt, die ästhetischen Werte verlieren ihr ontologisches Gewicht und werden schließlich zu ästhetischen Werten in einer Designer-Welt, die heute allein noch die Welt der verfugbaren StatusSymbole ist. In diese Welt des Designs wird auch die moderne Kunst integriert, kommt als POP-Art dieser Welt sogar entgegen. So leben wir heute in einer ästhetischen Abszissenkultur ohne Ordinatenwerte.
3. Mimik und Mantik Hieraus erklärt sich die eigentümliche Flächigkeit des gegenwärtigen Ausdruckstableaus, deren Zwängen sich allerdings partiell die sogenannte autonome Kunst verweigert. Das tut sie allerdings ohne Repristinierung des alten Transparenzprinzips, also nicht durch Rückkehr zu Beschwörung eines Wahren oder Idealen oder Dämonischen, was ja auch ein durchaus vergebliches Bemühen wäre, sondern durch bildnerische Evokation eines ,real unknown', das sie gegen die ornamentale Designerkultur, die sich als um alles wissend
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präsentiert, festhält.5 Die autonome Kunst gestaltet allein noch etwas, was ihr selbst wie auch dem Betrachter ein real Unbekanntes und Unverständliches bleibt, aber gerade dadurch als ein solches bezeugt wird. Nur die autonome Kunst übernimmt so die Aufgabe in unserer Gesellschaft, ein reales Anonymes zu bezeugen, jenes irgend etwas, von dem weiter nichts zu sagen ist, das sich jeder Nominalisierung, jeder prädikativen Charakterisierung entzieht. So hält sie im epistemischen Betäubungsfeld unserer Zeit den Geist offen (versucht es). Das macht sie insbesondere fur den Betrachter und einige Kunsthistoriker zum Ärgernis. Der Betrachter weiß sich in einer Welt des vermeintlich totalen Wissens, in der es ein Unbekanntes oder Unverständliches real allenfalls als Kommunikationsstörung gibt, die behoben sein will, und sieht sich irritiert damit konfrontiert, daß es Künstler gibt, die variantenreich etwas gestalten, das als ,real unknown' der Mimik eines Anonymen zuzurechnen ist. So treten in der modernen Kunst den alten mimetischen Bildern abstrakte zur Seite, fur die nie recht klar war, wie sie eigentlich zu begreifen sind und was sie in einzigartiger Weise zum Ausdruck bringen. Diese abstrakten Bilder verlangen ersichtlich ein mimisches Bildverständnis, das sogar älter ist als das mimetische. Aber warum ist das so? Warum wollte die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts ihren abbildenden, repräsentierenden Status so häufig verlassen, von der Mimesis zur Mimik übergehen? Eine denkbare Antwort ist die, die Hans Blumenberg gegeben hat: Die bildende Kunst tritt deshalb aus ihrer mimetischen Façon heraus, weil das, was es ehedem abzubilden galt, nämlich die Natur, ihren Rang im 19. Jahrhundert vollständig verloren hat. Im Lichte der Naturwissenschaft und Technik ist die Natur nichts Geheimnisvolles mehr, nichts mehr, das die Fülle des Seins, den Rang einer göttlichen Schöpfung repräsentiert. So kommt es, wie Hans Blumenberg überzeugend dargestellt hat, daß die Kunst zunehmend aus ihrer mimetischen, verweisenden, allosemantischen Gestaltungsart heraustritt, in dem sie immer konsequenter nur noch Dokumente mit Selbstverweisungscharakter herausbildet, Werke mit autosemantischer Struktur.6 So allein kann es ihr gelingen, das ,Wunder der realen Welt', in der Sinn und Sein, wie MerleauPonty formuliert, ,gänzlich zusammenfällt', in ihren Werken zu realisieren. Blumenberg faßt diesen Prozeß der Moderne entsprechend so zusammen: „das Kunstwerk will nicht mehr nur etwas bedeuten, sondern es will etwas sein."' Damit behauptet die Kunst einen durchaus prekären Anspruch, wie sie ineins das Feld repräsentierender Bildlichkeit für andere Gestaltungsarten freigibt: für Bildtechniken im Dienste von Film und Photographie, für 5 Vgl. die populärwissenschaftliche Studie von Barrow 1998. 6 Von hier aus könnte auch ein Zugang zu Fiedlers Intention eines asemantischen Bildes von reiner Sichtbarkeit gebahnt werden. Vgl. hierzu die lichtvollen Ausfuhrungen von Wiesing 1997, 164 ff. Allerdings muß eingeräumt werden, daß es ein semantikfreies Bildsehen wirklich nicht geben kann. Das behauptet mit vollem Recht auch Gottfried Willems, dem wir eine umfassende Studie zur Bildlichkeit verdanken, gegenüber Max Imdahls These eines .begriffsfreien Sehens' (vgl. Willems 1989, 66, Anm. 43 a). In seinem jüngsten Buch (Willems 1998) hat G. Willems am Beispiel Büschs den Prozeß der ästhethischen Modernisierung gegen die lebensphilosophischen Interpretationsmuster kraftvoll und überzeugend dargestellt. 7 Blumenberg 1957, 280.
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Werbung, Wirtschaft und Wissenschaft. Der Prozeß der Herausbildung einer Mediengesellschaft geht also Hand in Hand mit der Herausbildung einer Kunst, die nicht mehr von der traditionellen Leichtverständlichkeit von Bildern dieser Welt zehren kann, sondern die Schwerverständlichkeit von Bildern anderer Welten auf sich nimmt. Was soll der Betrachter aber mit dieser enigmatischen Leerintention moderner Kunst anfangen? Nun, er könnte sie mit Gedanken füllen, zu denen er sich durch die künstlerische Art des Gegebenseins des Bezugs auf irgendetwas veranlaßt sieht. Aber ist diese Füllung dann nicht nur ein Spiegel seiner individuellen Resonanz? Gewiß. Aber das gerade gehört zum Charakter der autonomen Kunst. Ihre Autonomie, von einigen neuerdings als Autonomie des Arbeitslosen verstanden,8 indiziert bloß den Selbstsinn einer freien Gestaltung und der ist etwas Uraltes, gehört in eine Welt bevor es noch Götter gab. Diese Autosemantik der Moderne wurde bei unseren ältesten Vorfahren schon in der Natur erfahren. So „horchten", heißt es bei Hegel, „die Griechen auf das Gemurmel der Quellen und fragten, was das zu bedeuten habe; (...)."9 Ebenso nehmen unsere Zeitgenossen die Werke der modernen Kunst wahr, achten auf ihre bizarren Gestaltungen und fragen, was das zu bedeuten hat. Und so wie im Gemurmel der Quellen für die Griechen geflüsterte Mitteilungen der Quellnymphen zu hören waren, wie ebenso im Rauschen des Meeres und der Bäume, in Donner und Blitz deutungsbedürftige Mitteilungen zu entnehmen waren, ebenso sind den Werken einer autonom gewordenen Kunst Winke und Hinweise zu entnehmen. Gewiß: Ebenso wie das Rauschen des Meeres in der Muschel am Ohr des Kindes nur ein Echo seines pulsierenden Blutes in den Adern ist, ebenso sind die vernommenen Botschaften im Gemurmel der Quelle, im Rauschen der Bäume, in Donner und Blitz wie ebenso in den Werken der autonomen Kunst ein Echo der Interpreten. Die vernommene „Bedeutung", schreibt Hegel, „ist nicht die objektive Sinnigkeit der Quelle, sondern die subjektive [Sinnigkeit] des Subjekts selbst, (,..)."10 Entsprechend: die vermutete Bedeutung des autonomen Kunstwerkes ist ebenso nicht die objektive Sinnigkeit des Werkes, sondern die subjektive Sinnigkeit des Künstlers und Kunstbetrachters selbst. Er wird durch eine autonome Kunst wie ehedem durch eine autonome Natur divinatorisch stimuliert. Hegel hat das so zusammengefaßt: „Die Auslegung und Erklärung der Natur und der natürlichen Veränderungen, das Nachweisen des Sinns und der Bedeutung darin, das ist das Tun des subjektiven Geistes, was die Griechen mit dem Namen (lavxeia belegten. Wir können diese überhaupt als die Art der Bezüglichkeit des Menschen auf die Natur fassen."" Das rechte Verständnis der autonomen Kunst der Moderne verlangt also nicht nur eine Hermeneutik, d. h. eine Kunstlehre des Verstehens objektiver Sinnigkeit wie sie kennzeichnend war für die vormoderne Kunst mit ihren nor-
8 Vgl. Warnke 1998: „Nicht die Künstler waren es, die sich von den gesellschaftlichen Diensten losgesagt haben, sondern, umgekehrt, die gesellschaftlichen Instanzen haben die Dienste der Künstler in der traditionellen Form nicht mehr benötigt." - Auf diesen Aufsatz Warnkes komme ich unten noch einmal zurück. 9 G.W.F. Hegel, Philosophie 10 Ebd. 11 Ebd.
der Geschichte, in: Werke, hrsg. von Moldenhauer/Michel, Bd. 12, 289.
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mativen Bildtraditionen und einem relativ stabilen Repertoire ikonographischer Bezüglichkeiten, sondern verlangt zusätzlich eine Art Mantik, d. h. eine Kunstlehre des Umgangs mit der subjektiven Sinnigkeit des Kunstbetrachters selbst, der sich durch die Art des Gegebenseins des Verweises auf irgend etwas im modernen Kunstwerk divinatorisch, d. h. zu Ahnungen stimuliert fühlen mag. Der Betrachter der autonomen Kunst müßte von seiner Resonanz- oder Echoerfahrung im Werk berichten. Da mag es, wenn er einer Resonanz oder eines Echos seiner selbst nicht fähig ist, wenn sozusagen, um im Bild des Meeresrauschens in der Muschel zu bleiben, kein Blut in seinen Adern pulst, durchaus zu mantischen Ausfällen kommen. Aber das besagt nur, daß er entweder nicht über eine hinreichend sensible Registratur verfügt oder daß er keine innere Substanz hat, die nach außen gesetzt, echofähige Effekte erzeugt. Kurz: Wer autonomer Kunst begegnet, muß beseelen können wie die Kinder, die mit ihren hölzernen Puppen sprechen. Wer in diesem Sinne nicht animieren kann, für den bleibt die moderne Kunst tot. Solche animierenden Energien können schon im Wahrnehmen, im Hören und Sehen wirksam sein. Leonardo da Vinci hat das in seinem Trattato della Pittura bekanntlich mehrfach betont. So empfiehlt er dem Maler, sich in dieser animierenden Kunst des Sehens zu üben. So möge er bisweilen stehen bleiben, um „auf die Mauerflecken hinzusehen oder in die Asche im Feuer, in die Wolken, oder im Schlamm und auf andere solche Stellen; du wirst, wenn du sie recht betrachtest, sehr wunderbare Erfindungen in ihnen entdecken. Denn des Malers Geist wird zu (solchen) neuen Erfindungen (durch sie) aufgeregt, sei es in Kompositionen von Schlachten, von Tier und Menschen, oder auch zu verschiedenerlei Kompositionen von Landschaften und von ungeheuerlichen Dingen, wie Teufeln u. dgl., die angetan sind, dir Ehre zu bringen. Durch verworrene und unbestimmte Dinge wird nämlich der Geist zu neuen Erfindungen wach."u Es ist bei der Wahrnehmung solcher informellen Milieus, wie Leonardo sagt, ähnlich, „wie beim Klang von Glocken: da wirst du in den Schlägen jeden Namen und jedes Wort wiederfinden können, die du dir einbildest."13 Einige werden es nun merkwürdig finden, wenn die moderne Kunst mit solchen informellen Milieus verglichen wird, die unsere Einbildungskraft mantisch stimulieren, aber es scheint in der Tat so zu sein, daß die Moderne in diese Zone einer mantischen Weltstellung vorgedrungen ist, in der auch die Genese der Bildlichkeit in fundamentaler Weise greifbar wird. Gerade die Beispiele, die Leonardo als für das Training der Einbildungskraft des werdenden Künstlers als nützlich empfiehlt, nämlich Blicke in eine informelle Sicht- oder Geräuschkulisse, lassen erkennen, daß man hier die Bildgenese sehr schön studieren kann. Im Blick auf die informelle Oberflächenbeschaffenheit einer verwitterten Mauer sieht man ja nicht sofort Landschaften und Gestalten, die Bilder sind nicht gleichsam sofort sichtbar. Erst wenn die informelle, oder wie Leonardo sagt ,verworrene und unbestimmte' Oberfläche näher betrachtet wird, ereignet sich die Bildwahrnehmung als verzögerte Anagnorisis, gewinnt die vordem bildlose Gewährung einer informellen Oberflächenbeschaffenheit eine unvermutete Bildlichkeit. Solche Bildereignisse kennen wir alle aus der Kindheit, in der wir
12 Leonardo da Vinci, Traktat von der Malerei, Jena 1909, 53. (Hervorhebung von mir, W. H.) 13 Ebd. - Vgl. die Parallelstelle, 63 f.
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gerne in den Wolken Gestalten wahrnahmen. Man könnte nun die Behauptung wagen, daß solche Bildereignisse ausschließlich unsere Wahrnehmungskonstruktionen sind, Produkte unserer Interpretation. Und im Milieu unseres pragmazentristischen Zeitgeistes, der gerne alle Erkenntnisleistungen als Produkte unserer interpretativen Handlungen verstehen möchte, ist diese Behauptung nicht einmal gewagt, sondern politisch korrekt. Aber trotzdem ist sie nur zur Hälfte wahr. Man muß nämlich zugeben, daß die informelle Oberflächenbeschaffenheit zwar unser interpretierendes Spiel der Einbildungskraft stimuliert, aber diesem Spiel dennoch gewisse Schranken setzt. Die informellen Kontraste, die wir schließlich in einem Bild konfigurieren, lassen zwar verschiedene Bilder zu, aber nicht beliebige. Das heißt, wir müssen anerkennen, daß das sinnliche Milieu unserer visionären Einbildungskraft lizenzierend entgegenkommen muß. In der endlich sich ereignenden Bildwahrnehmung semantisieren wir das sinnliche Milieu und sehen dann z. B. eine weibliche Gestalt. Aber die weibliche Gestalt war doch auch durch die informelle Oberfläche sinnlich lizenziert: Die sinnliche Spur begünstigt eben verschiedene, aber nicht beliebige Bilder. Das kann man auch bei den frühen Bildern der Menschheit in der Höhle von Lascaux studieren. Vor ca. 17.000 Jahren holten die prähistorischen Maler gerade solche Bilder aus dem felsigen Untergrund zeichnend heraus, die dieser Untergrund mit seiner Oberflächenstruktur gewissermaßen lizenziert hatte: „Eine Wölbung im Fels wurde zur Wamme eines Auerochsen, ein Grat zum Widerrist eines Pferdes, ein Loch zum Kuhauge. Lascaux ist ein plastisches Werk. Das Tier war immer schon im Fels verborgen, die Künstler setzten die Gestalt nur frei.'" 4 Den nämlichen Befund bieten die noch älteren Malereien in der Chauvet-Höhle, die jüngst von Jean Clotta erforscht wird. Auch bei diesen über 30.000 Jahre alten Tierzeichungen stimulierte das unebene Relief der Felswand den prähistorischen Maler zu mantischen Wahrnehmungen, die er eben deshalb mimetisch nicht komplett ausführen mußte: „Manche Mammuts, Löwen oder Bisons sind in ihren Umrissen nicht vollendet. Ihre Form wird nicht vom Kohlestrich angedeutet, sondern vom natürlichen Relief des Felsens."15 Das informelle Milieu stimulierte ein mantisches Vollbild der Tiere, das in der realisierten Zeichnung mimetisch nur zitiert wird, um das mantische Vollbild für beliebige Betrachter zum Stehen zu bringen. Auf diese Weise bleibt das Sein des Bildes ebenso abhängig von stimulierenden sinnlichen Markierungen wie von unserer, diese Markierungen konfigurierenden und semantisierenden Einbildungskraft. Wo die Einbildungskraft einbildet, muß auch ein einbildungsfähiges sinnliches Milieu gegeben sein. Gewiß legt dieses Milieu von sich aus das Bild, das in ihm wahrgenommen wird, nicht fest, es determiniert es nicht, aber es regt das mantische Bild doch an und das mimetische Bild wird seine Flüchtigkeit bannen: Mimesis bannt Mantik. Auf diesen Anregungsfaktor des Sinnlichen berechnet, ist das Bild daher nicht gänzlich unser Produkt. Der sinnliche Körper des Bildes mag schließlich völlig im Bild verschwinden, er wird aber sofort wieder spürbar, wenn das Bild beschädigt wird, oder auch, wenn der Halt, den das informelle Milieu unserem Bildsehen gibt, so schwach ist, daß
14 Schomann 1999, 60. Schomann fügt noch hinzu: „In diesem Ausgehen von der Materialität drückt sich eine frappierend moderne Kunstauffassung aus." 15 Evers 1999, 290.
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wir das Bild wieder verlieren und in die Wahrnehmung der diffusen Oberfläche zurückfallen. Manche Bilder der informellen Malerei erzeugen genau diesen Effekt, den Leonardo mit Blicken auf Mauerflecken, die Asche im Feuer, auf Schlamm und in die Wolken beschrieben hat. Wenn man z. B. an die Bilder von Wols, Jackson Pollock oder auch Erich Schumacher denkt, dürfte das besonders offenkundig sein. Jeder von uns, der diese Bilder betrachtet hat, wird zugeben, daß sie ihn mantisch stimulieren, den einen mehr, den anderen weniger, je nach Phantasieausstattung. Diese mantische Bildbegegnung exemplifiziert auch besonders plastisch die Bilddefinition, die Lambert Wiesing in Anlehnung an Konrad Fiedler gegeben hat: „Bilder sind Gegenstände, auf denen etwas gesehen werden kann, das an der Stelle, wo sich das Bild als Gegenstand befindet, nicht vorhanden ist. Das Wesen des Bildes ist gleichermaßen eine Anwesenheit von etwas Abwesendem wie eine Abwesenheit von etwas Anwesendem; (...)"16 Bilder sind hiernach sinnlich fixierte Visionen, Kinder unserer beseelenden Energie, Dokumente eines primären Animismus, ohne den der homo sapiens den Schritt vom Sinnlichen zum Sinnigen nicht hätte vollziehen können. (Fichte z. B. erklärt die Anerkennung des Bildes durch seine Konstruktion des Bildes vom Bilde, aber er erklärt nicht den Übergang vom Sein zum Bild.) Insofern bezeugen Bilder, was Gottfried Böhm zu Recht betont, das Erwachen des Geistes, der sich Gegenstände, die die seinigen werden sollen, erst gleichsam wachküssen muß, damit er sie ansprechen kann. Im Bild zuerst ist der sinnliche Gegenstand, das Sein, gestorben und der Gegenstand des Geistes, der Sinn erwacht, so daß er mit Aby Warburg zu ihm sagen kann: „Du lebst und tust mir nichts." Was speziell bei Warburg soviel heißt wie: Du lebst, aber bitte tu mir nichts!
4. Rettung der modernen Kunst durch die Philosophie Nun sind aber die Werke der modernen Kunst häufig gar keine Bilder, sondern Installationen, Arrangements oder räumliche Konstruktionen. Wesentlich ist ihnen in der Regel ihre Dysfunktionalität, sie montieren bisweilen Gebrauchsdinge wie Zitate, jedenfalls erscheinen die Dinge in neuen Konstellationen, sie erscheinen aus ihrem Funktionskontext herausgelöst, wie z. B. der Fettstuhl von Josef Beuys kein Stuhl mehr ist, auf den man sich setzen könnte. Er wehrt sich gerade mit seinem Fett dagegen, bloß als Stuhl identifiziert zu werden. Ein Großteil solcher Installationen der Moderne ist auf solche Störmanöver unserer Wahrnehmungserwartungen aus und trägt damit deutlich abwehrende, apotropäische Züge, ist so Medusen-Kunst. Trotzdem ist natürlich in solchen Objekten die Welt, in der z. B. Stühle vorkommen, auch präsent, sie erhält durch das Fett nur eine Umzentrierung, einen vollkommen anderen Akzent, der zumindest dafür sorgt, daß der Stuhl als Artefakt am Energiefeld des Organischen partizipiert. Installationen dieser Art sind also szenische Metamorphosen in denen die verbauten Utensilien in einem verdichteten Kontext szenisch verwandelt erscheinen.
16 Wiesing 1997, 160. - Zur Bild-Diskussion vgl. auch die vorzügliche Studie von Scholz 1991.
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Solche Transformationen der Moderne können nun, wie bei Ovid, rettende, belebende oder strafende Metamorphosen sein. Eine rettende Metamorphose liegt bei Ovid z. B. vor, wenn die Nymphe Syrinx auf der Flucht vor dem lüsternen Pan in flüsterndes Schilf verwandelt wird.17 Solche szenisch rettenden Metamorphosen finden sich in Arrangements von Josef Beuys, die das Abfällige szenisch bewahren und das Geringste in ein universalen szenisches Gespräch einbeziehen. Franz-Joachim Verspohl hat in diesen szenischen rettenden Metamorphosen bei Beuys den Einfluß von Novalis herausgearbeitet, bei dem sich der rettende Impuls z. B. in folgender Maxime findet: „Aus einem Menschen spricht für dieses Zeitalter Vernunft und Gottheit nicht vernehmlich, nicht frappant genug - Steine, Bäume, Tiere müssen sprechen, um den Menschen sich selbst fühlen, sich selbst besinnlich zu machen."18 Hier wird auch der belebende Effekt szenischer Metamorphosen deutlich, wie er bei Ovid in der Geschichte des Pygmalion gestaltet wurde. Pygmalion verliebte sich in das von ihm geschaffene Bild aus Elfenbein, das Venus auf seine Bitten hin belebte.19 Solche animierenden Effekte lassen sich in den szenischen Metamorphosen der Moderne am ehesten in Video-Kunst (June Paik, Bill Viola u. a.), in Cyberspace und Internet studieren, die insgesamt der Bild-Kultur eines digitalen Animismus zuzurechnen sind. Eine strafende Metamorphose hat Ovid schließlich in der Figur der Niobe vorgeführt, die zur Strafe für ihren mütterlichen Hochmut ihre Kinder verliert und versteinert: „heute noch entrieseln die Tränen dem Marmor."20 Solche strafenden Metamorphosen stellen in der Moderne am ehesten die szenischen Transformationen von Bruce Nauman vor, die geradezu etwas Folterndes inszenieren. Jedenfalls zerschellt an ihnen Dantos Vorschlag, die Kunst der Moderne als Verklärung des Gewöhnlichen zu verstehen.21 Das breite Spektrum solcher szenischen Metamorphosen in der modernen Kunst indiziert auch das bekannte Flüssigwerden der Gattungen: in den Happenings, Aktionen und Performances verschwimmen die Grenzen zwischen bildender Kunst und Theater, zwischen bildender Kunst und Dichtung, ja im Projekt einer sozialen Plastik von Josef Beuys zwischen Kunst, Alltag und Leben überhaupt. Diese universalistischen Tendenzen der Moderne, Erbe der Frühromantik, kann nur getragen werden von einer autonom gewordenen Kunst, sie allein ist in der Lage, alle bekannten Weltverhältnisse in sich aufzusaugen, um in dem Aufgesogenen dennoch das ,real unknown' hervortreten zu lassen. Sie tut das nicht im Dienste irgendwelcher Weltverhältnisse, im Gegenteil, sie bleibt zu ihnen auf Distanz, und sie muß es. Diese Distanz zu den Weltverhältnissen konnte die Kunst nicht immer beanspruchen, gelegentlich hat sie diese Distanz den Weltverhältnissen abgetrotzt, aber wohl immer ersehnt.
17 Metamorphosen
I, 689 ff.
18 Zit. nach Verspohl 1995, 298. 19 Metamorphosen
X, 243 ff.
20 Metamorphosen
VI, 312.
21 Danto 1984.
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So hat Martin Warnke die Ursprünge der heutigen modernen Marktkünstler in seiner ingeniösen Untersuchung im relativen Freiraum des vormodernen Hofkünstlers aufgespürt und schon für diesen festgestellt: „Wenigstens in Ansätzen ist bei Hofkünstlern die Tendenz erkennbar, sich einer politischen Vereinnahmung durch eine Beschwörung der politischen Indifferenz der ästhetischen Form zu entziehen."21 Wo dies in der Moderne aber wirklich gelungen ist, ist dies nach Martin Warnke nur deshalb geglückt, weil der moderne Marktkünstler eigentlich von niemanden mehr gebraucht wird. Durch die Kunstgeschichte habe diese Überflüssigkeit dann auch noch eine positive Wertung erfahren: „Aus dieser Not einer Obsolenz, einer überflüssig gewordenen Existenz, ist in unserer kunstgeschichtlichen Optik die Tugend einer Resistenz gegen politische Zumutungen gemacht worden."23 Die „vom , System Kunst' eingekapselten Produkte" der Moderne verdienen daher nicht mehr die Aufmerksamkeit der Kunstgeschichte, mit ihr ist sie „am Ende", sie vermag wohl ihre Vorgeschichte am Beispiel des Hofkünstlers zu analysieren, sie selbst aber nicht mehr. Sie muß sich nach einer Kunstform umsehen, die in moderne Dienstverhältnisse eingelassen ist, und das ist die Bildkultur der Massenmedien: „Hier, im Bereich der Werbung, der Kulturindustrie, des Designs und der Medien, haben unsere an alter Dienstkunst entwickelten Methoden ihre Chance." Mit dieser Abdankung der Kunstgeschichte vor der modernen Kunst betritt Martin Warnke dünnes Eis. Er darf das, denn er hat der Kunstgeschichte soviel gegeben, daß er ihr auch etwas nehmen mag. Aber muß es gleich die ganze moderne Kunst sein? Was geschieht hier? Er verfolgt offenbar eine indirekte normative Strategie. Da der Kunsthistoriker natürlich nicht sagen darf, welche Kunst sein soll, erschließt er sich eine indirekte Normquelle. Die Bildproduktion in Dienstverhältnissen wird Norm für das, was bildnerisch auch sein soll. Die Kunst der Kirchen und Höfe war Kunst im Dienste der Kirchen und Höfe und muß daher in diesem politischen Kontext analysiert werden (Warnke 1). Wenn Kunst in diesem Sinne aber von Kirchen und Höfen nicht mehr gebraucht wird, weil es diese Institutionen relevant nicht mehr gibt, braucht sie eigentlich keiner mehr, allenfalls die Museen. Was in post-kirchlicher und post-höfischer Zeit aber massenhaft gebraucht wird, ist Agitprop- und Life-Style-Bildproduktion. Was gebraucht wird, ist das Reelle. Die moderne Kunst wird nicht gebraucht, also ist die moderne Kunst nichts Reelles (Warnke 2). Ein Jahrhundert moderne Kunst erleidet jetzt den Liebesentzug der Kunsthistoriker. Ob sie daran stirbt? Vielleicht braucht sie jetzt die Liebe der Philosophen? Können wir hier von einer translatio imperii, von der Herrschaftsübergabe der Kunstwissenschaft an die Philosophie sprechen? Martin Warnke hält es mit Schillers Nänie in negativer Version. Denn auch das Nicht-mehr-Schöne, die nicht mehr schöne Moderne muß sterben. Nach Martin Warnke sind die Sarkophage schon belegt. Die Sarkophage der Moderne sind die Museen. In diesen Totenbehausungen wünscht Martin Warnke das ,real unknown' als beigesetzt und empfiehlt zum Trost Ausflüge ins Disney-Land der Massenmedien, ins Paradies des ,real known', ins Internet. Hat er Angst vor dem ,real unknown' - wie Aby Warburg vor den Bildern? Sagt er
22 Warnke 1996, 321. 23 Warnke 1998. Die folgenden Zitate ebd. - Vgl. ferner Wamke 1999.
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nicht zu diesem ,real unknown': Du lebst, aber bitte tu mir nichts? Muß das ,real unknown' nicht deswegen in den modernen Pyramiden der Museen eingesargt werden? Die Kunst stand zunächst immer im Dienste einer sinnlichen Vergegenwärtigung eines anders nicht präsentierbaren Wissens. Sie transportierte ein Wissen zur Stabilisierung der kollektiven Identität, in dem sie mythisches Wissen theatralisch, literarisch und bildnerisch präsentierte. Sie bot sinnliche Exempla eines Wissens um das Göttliche, bezeugte das sinnliche Scheinen der Idee. Im 20. Jahrhundert erst ist die Kunst aus dieser Obsession, ein apartes Wissen zu bezeugen, herausgetreten. Weltgeschichtlich zum ersten Mal bezeugt sie ein reales Nicht-Wissen, tritt als sinnliche Inszenierung dieses Nicht-Wissens der gesellschaftlichen Obsession des Wissens im 20. Jahrhundert entgegen. Diese Obsession des Wissens wurde ebenso von der Religion in der privilegierten Wissensform des Offenbarungswissen getragen wie heute von der technischen Illusion der kommunikativen Allwissenheit in den Medien und im Internet. Das Internet übernimmt die Attribute des être suprême: Allwissenheit, Omnipräsenz und Allmacht. Aber das ist ein anderes Thema. Ist schließlich fur die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts Paul Klees Stichwort von der ,Verwesentlichung des Zufälligen' ein recht guter Schlüssel für das Verständnis der modernen Kunst, könnte in Abwandlung dieses Wortes für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wendung ,Verwesentlichung des Nichtwissens' als Interpretationshilfe dienen. Denn eine solche Verwesentlichung des Nichtwissens ist es gerade, die in der rezenten Moderne Gestalt findet. Einzig die moderne, autonome Kunst tritt der Realität einer kommunikativen Verschnullerung durch die Medien, einer wachsenden kollektiven Infantilisierung entgegen. Darin liegt ihre Bedeutung und Funktion, ihre Macht und ihre Herrlichkeit. Denn: Was (emotional und epistemisch zugleich) wirkt, ist nicht ausschließlich, aber letztendlich unverstanden.
Literaturverzeichnis Barrow, John D.: Impossibility. The Limits of Science and the Science of Limits, Oxford 1998. Blumenberg, Hans: ,Nachahmung der Natur'. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen in: Studium generale 5 (1957), 266-283. Bredekamp, Horst: Thomas Hobbes. Visuelle Strategien, Berlin 1999.
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Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/Main 1984. Evers, Marco: Das Genie der Schamanen, in: Der Spiegel 45, 8.11.1999. Schnädelbach, Herbert: Reflexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie, Frankfurt/Main 1977. Scholz, Oliver R.: Bild, Darstellung, Zeichen, Freiburg/München 1991. Schomann, Stefan: Die Macht der Bilder. Eine Wanderung von Lascaux nach Les Eyzies, in: Die Zeit, 23.9.1999. Verspohl F. J.: Beuys, in: Saur Allgemeines 10, München/Leipzig 1995, 295-306. Warnke, Martin: Hofkünstler, Köln 2 1996. Ders.: Beschreibung von Dienstverhältnissen,
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begr. und mithrsg. von Günter Meißner, Bd.
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Wolfram Hogrebe
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Kolloquium V Von der Arbeits- zur Wissensgesellschaft?
Hans Poser
Einführung Das Kontinuum des Geschichtlichen durch Zeiten, Epochen oder Phasen zu ordnen und Schnitte zu legen, erwächst aus einem unverzichtbaren Orientierungsbedürfnis, ohne doch mit solchen Schnitten mehr erzielen zu können als eine unserem Selbstverständnis dienende Gliederung. Nun trifft dieses Bedürfnis nicht allein Vergangenes, sondern ebensosehr die Absetzung vom Vergangenen, um die eigene Gegenwart und die eigenen Zukunftserwartungen als Projektion vom Bisherigen abheben zu können, indem die Andersartigkeit, das Neue und damit auch der Motor, der Grund oder wenigstens das Besondere der Entwicklung hervorgekehrt wird. Solche Kennzeichnungen, die im Rinascimento oder in der Querelle des Anciens et des Modernes noch nach Generationen zählten, wechseln heute - geschuldet der Empfindung einer rasanten Dynamik und Dramatik der Gegenwartsveränderung - ungleich schneller: War in den Fünfziger Jahren vom Plastikzeitalter, in den Sechzigern vom Atomzeitalter die Rede, so führte dies in rascher Folge zu Bestimmungen, die nicht mehr oder nicht ausschließlich technik- oder materialbezogen waren, sondern die die mit dominant werdenden Techniken verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen und deren Probleme zu bezeichnen suchten, wie postindustrielle Gesellschaft, Wegwerfgesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Risikogesellschaft, Informationsgesellschaft oder Wissenschaftsgesellschaft - und dies vielfach in Absetzung von einer Arbeitsgesellschaft im Sinne der durch das späte 19. Jahrhundert geprägten Vorstellung von Hand-, Manufaktur- und Fabrikarbeit gegenüber dem, was Marx als Kopfarbeit bezeichnet hatte. In diese Sequenz reiht sich der modische Terminus ,Wissensgesellschaft' ein - zumeist als emphatischer Begriff, dessen Emphase vielfach in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Präzision steht. Denn weder hat es je eine Gesellschaft gegeben, die ohne Wissen hätte auskommen können, noch ohne Risiko, ohne Information oder gar Arbeit. So ist die Bezeichnung keine Wesensbestimmung und schon gar nicht das Ergebnis einer aus der platonischen Unterscheidung von doxa und episteme erwachsenden Analyse. Kurz, es ist kein philosophischer Terminus, um den es hier geht, sondern er entstammt der Soziologie. Dort bezeichnet er nicht etwa ,wahre Meinung mit Begründung', wie Piatons Definition von episteme lautet,
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Hans Poser
es geht nicht um Wissen als begründete Wahrheit, auch nicht um Erkenntnis, auf die eine Gesellschaft baut, sondern um etwas, das deshalb für ein Wissen genommen wird, weil es in einer Gesellschaft für wahr gehalten wird und darum zur Leitschnur des Handelns dient; platonisch gesehen hätte man es also mit einer ,Meinungsgesellschaft' zu tun. Die These, die mit dem Ausdruck , Wissensgesellschaft' lanciert werden soll, lautet denn auch, daß Wissen als Handlungswissen heute prominenter sei als früher: Schlagworte wie lebenslanges Lernen', ,Umgang mit Information', dienstleistendes ,know-how' statt arbeitsabhängiger Produktion bilden den Dunstkreis. Die gegenwärtige Prominenz der nicht mehr ganz neuen Wortschöpfung1 wird nur verständlich, wenn sie als Artikulation eines Unbehagens zum einen gegenüber Negativbestimmungen wie ,Postmoderne' verstanden wird, die nicht zum Ausdruck bringen, wohin die Post geht, ja nicht einmal, worin sie besteht, zum anderen gegenüber defizitären Bestimmungen wie ,Informationsgesellschaft', weil eine Information sinnvoll oder unsinnig, wahr oder falsch, brauchbar oder unbrauchbar sein kann und damit wenig zum Kandidaten zur Kennzeichnung einer Gesellschaft taugt. „Mehr denn je", leitet Nico Stehr seine sozialwissenschaftliche Analyse der Wissensgesellschaft ein, „ist Wissenschaft in allen Bereichen unserer Gesellschaft Grundlage und Richtschnur menschlichen Handelns. Dies hat weitreichende soziale Folgen, die praktisch irreversibel sind."2 ,Unsere' - das ist die Gesellschaft weniger Industrienationen. Doch um welches Wissen geht es, da sich Stehr von dem von Rolf Kreibich verwendeten Terminus der Wissenschaftsgesellschaft als zu eng abgrenzt?3 Wissen ist von Jürgen Mittelstraß in Orientierungswissen einerseits, Verfügungswissen andererseits geschieden worden.4 Von diesen beiden Zweigen wird in den Analysen zur Wissensgesellschaft in der Regel nur der zweite Anteil behandelt, nicht zuletzt, weil dieser institutionell faßbar wird, während der erste sich einem empirisch-soziologischen Zugriff weitgehend entzieht. Der zweite Wissensbereich läßt sich wiederum weiter unterteilen, denn es geht nicht einfach um ein know-how, sondern -
-
um die Rechtfertigung und theoretische Begründung als kognitives Wissen, was ein entsprechendes theorieorientiertes, insbesondere wissenschaftsorientiertes Lernen voraussetzt, und um das Vermögen, über das Wissen als Handlungswissen, also als faktisches Können, zu verfügen.
Eben dieses Vermögen ist für Stehr zentral, wenn er ,Wissen' als „Fähigkeit zum sozialen Handeln" definiert, als „Fähigkeit, etwas in Gang zu setzen".5 Auch wenn solches Wis-
1 Vgl. Böhme/Stehr 1986. 2 Stehr 1994, 11. 3 A.a.O., 37; mit Bezug auf Kreibich 1986. 4
Mittelstraß 1982, 16.
5 Stehr 1994, 208 und 520.
Kolloquium
V-Einführung
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sen, wie er betont, „ein universales Phänomen oder eine konstante anthropologische Größe" ist, so kommt dem wissenschaftlichen und technischen Wissen insofern ein „herausragender Stellenwert" zu, als es „permanent zusätzliche Handlungsmöglichkeiten fabriziert".6 Mit der herausragenden Bedeutung des Wissens, insbesondere des wissenschaftlichen Wissens, kommt dem Wissenserwerb eine dominierende Stellung zu. Gerade darum, so betont Gernot Böhme, läßt sich eine dramatische Verschiebung im Verhältnis von .lernender' zu arbeitender' Bevölkerung beobachten; denn belief sich dieses zahlenmäßig 1960 noch auf 1:3, „so kamen 1980 auf einen Lernenden nur noch zwei Erwerbstätige".7 Damit nähern wir uns dem Wissensbegriff der Wissensgesellschaft und zugleich dem der Arbeit; wird doch von den verschiedenen Autoren übereinstimmend darauf hingewiesen, daß insbesondere Bildungseinrichtungen und Forschungsinstitutionen einen „riesigen Sektor der gesellschaftlichen Arbeit" ausmachen.8 Gerade diese Form von Arbeit ist in der Absetzung von einer ,Arbeitsgesellschaft' zugunsten einer ,Wissensgesellschaft' nicht gemeint. So definiert Böhme, eine Gesellschaft werde als Wissensgesellschaft bezeichnet, „wenn und insofern -
Wissenschaft und Technik zur Leitvariable gesellschaftlicher Entwicklung geworden ist, Wissenschaft zur (unmittelbaren) Produktivkraft geworden ist, die Lebenschancen für den größten Teil der Bevölkerung vom jeweiligen Wissen abhängen."9
Daß Wissen hierbei einen sehr weiten Kreis umspannt, zeigt kaum etwas unmittelbarer (und äußerlicher) als Stehrs differenziertes Sachregister, das vom „alltäglichen" bis zum „wissenschaftlichen" Wissen 25 sehr heterogene Wissensformen ausweist.10 Die kurze Skizze belegt bereits, daß die Gegenüberstellung von Arbeit und Wissen genau die von (manuellem) Können einerseits und (kognitivem) Wissen unter Einschluß dessen Mehrung andererseits betrifft, so daß der im Labor experimentierende Wissenschaftler, der fraglos auch über manuelle Fähigkeiten verfugen muß, der Wissensseite zugeschlagen wird. Sind die Begriffe Arbeitsgesellschaft und Wissensgesellschaft sozialwissenschaftlichen Ursprungs, so schließen sie doch philosophische Analysen und Konsequenzen nicht aus, sondern fordern sie geradezu heraus, sei es in klärender, sei es in kritischer Absicht - gleichviel, ob ,Wissensgesellschaft' als wesentliche Kennzeichnung, als Periode eines geschichtlichen Prozesses oder als anthropologischer Bestand gesehen wird. Deutlich wird dies an der Sichtweise Daniel Beils, wonach die heutige, von ihm als „postindustriell" bezeichnete „Dienstleistungsgesellschaft" erstens durch das „axiale Prinzip" der „Zentralität
6 A.a.O., 208 bzw. 210. 7 Böhme 1997,53. 8 So Böhme 1997, 54; vgl. Stehr 1994, 30 f. und Bell 1979, 214. 9 Böhme 1997, 54. 10 Stehr 1994,621.
Hans Poser
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theoretischen Wissens als Quelle von Information und Ausgangspunkt der gesellschaftlichpolitischen Programmatik", zweitens durch „Zukunftsorientierung" im Sinne einer „Steuerung des technischen Fortschritts" und durch Technikbewertung, sowie schließlich drittens durch die „Schaffung einer neuen intelligenten Technologie" gekennzeichnet sei" - letzteres formuliert noch in Zeiten eines weitgehend ungebrochenen Technikoptimismus. Die philosophischen Fragen, die sich hier auftun, betreffen neben technikphilosophischen Fragen, die seit der Technokratiediskussion nicht zur Ruhe gekommen sind, sehr zentral das Verhältnis von Information, Wissen und Wissenschaft, dem Klaus Kornwachs verschiedentlich nachgegangen ist, sowie das ökonomisch-philosophische Feld des Verständnisses von Arbeit und Wissen, dem sich Friedrich Kambartel in den letzten Jahren verschrieben hat.12 Die These, die sich implizit im Titel verbirgt, die Gegenwart und ihre Probleme resultierten aus einem Weg von der Arbeits- zur Wissenschaftsgesellschaft, wird von beiden sowohl hinsichtlich der Kennzeichnungen als auch bezüglich des behaupteten Weges zurückgewiesen - wenn auch auf gänzlich unterschiedliche Weise, doch von beiden im Bestreben, die Gegenwartsproblematik mit ihrer Konturierung durch Wissenschaft und Wissen je aus ihrer Sicht in Begriffe zu fassen; und das ist Hegel zufolge eine genuin philosophische Aufgabe.
Literaturverzeichnis Bell, D.: The Coming of Post-Industrial nachindustrielle
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Zur menschengerechten
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Von Galilei zur High-Tech Revolution,
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Mittelstraß, J.: Wissenschaft als Lebensform. Zur gesellschaftlichen Relevanz und zum bürgerlichen Begriff der Wissenschaft, in: Ders.: Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universität, Frankfurt/Main 1982, 11-36. Stehr, N.: Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften,
11 Bell 1979, 31; zit. auch bei Böhme 1997, 58. 12 Kambartel 1998; Kornwachs 1993.
Frankfurt/Main 1994.
Klaus Kornwachs
Vom Wissen zur Arbeit? „Hat man sein warum?
des Lebens, so ver-
trägt man sich fast mit jedem wie? - Der Mensch strebt nicht nach Glück, nur der Engländer tut das." 1 Friedrich Nietzsche
1. Die Rede von der XY-Gesellschaft 1.1 Motivation Den Titel des Kolloquiums „Von der Arbeits- zur Wissensgesellschaft" kann man leicht angreifen, indem man ihn verallgemeinert: Ich werde von einer XY-Gesellschaft sprechen. Dann wird sich herausstellen, daß wir auch trotz einer sogenannten Wissensgesellschaft, bei aller interessanten Phänomenologie, die zu diesem Begriff geführt haben mag, immer noch arbeiten und nicht nur dasitzen und wissen (als ein aktiver Vorgang gemeint). Aber es stimmt, wer arbeitet, braucht Wissen, muß wissen und kommuniziert - das haben schon Piaton und Marx gewußt.2 Meine Motivation und These ist, daß Arbeit als Begriff erneut durchdacht werden sollte, denn sie ist kein purer Faktor in der volkswirtschaftlichen Rechnung und auch kein genuin philosophischer Kampfbegriff mehr. Man kann verschiedene Formen von Arbeit diskutieren, wie Eigenarbeit, Fremdarbeit bis hin zur „Spaßarbeit"3 und dergleichen, und man wird bestimmte Verbindungen zu Begriffen wie Eigentum, soziale Teilhabe und Identität finden. Dies sind diejenigen Bestimmungsstücke, die durch die Wissensgesellschaft in ihrer deontischen Geltung wohl nicht verändert, aber in ihrer Realisierungsmöglichkeit vielleicht gefährdet werden. Versucht man, dem Arbeitsbegriff sein gleichsam genuin ethisches Moment zurückzugeben, nämlich daß die Einsicht, wie, wo und wann etwas getan werden muß, bereits Wissen, auch normatives Wissen voraussetzt, dann ist die Frage immer noch offen: Wann denn ist dieses Tun Arbeit? Hier liegt der Übergang vom Wissen zur Arbeit, der vor den Verschüttungen bewahrt werden muß, die das Gerede von der Wissensgesellschaft zuweilen zu erzeugen droht.
1 Nietzsche, Götzendämmerung.
Sprüche und Pfeile 12 (1967), 327.
2 N. Stehr geht in seinem Beitrag (92-102 in diesem Band) auf den Vorwurf der historischen Redundanz näher ein. 3 Vgl. Opaschowsky 1991.
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Klaus Kornwachs
Nun gibt der Wissensbegriff dem Arbeitsbegriff allerdings eine neue Dimension: Er ist Voraussetzung zur Arbeit, er entlastet und humanisiert sie, er scheint sie aber auch zu ersetzen. Gerade die letzte Vermutung stellt jedoch einen weitreichenden Irrtum dar. Arbeit ist auch ein normativer Begriff, denn ein wie immer gefaßtes Recht auf Arbeit im Sinne von ökonomischer, sozialer und politischer Teilhabe würde ja auch die Pflicht zur Arbeit implizieren. Eine solche Forderung gilt aber nicht als politisch sonderlich korrekt, zumindest ist sie nicht populär. Das darf den Blick nicht darauf verstellen, daß eine Einbettung oder auch ausschließliche Bestimmung des Arbeitsbegriffs in die politische Ökonomie berücksichtigen muß, daß Technologie, vor allem aber die Wissenstechnologie, den Charakter der Arbeit auch gesellschaftlich schleichend verändert und weiter verändern wird. Auch Technik und damit das Wissen um Technik sowie das immense Wissen, das in der Technik deponiert ist, wird zu einer Bestimmungsgröße der politischen Ökonomie. Dabei ist man sich im allgemeinen des ordnungspolitischen Charakters von Technologiepolitik, gerade bei den Informations-, Kommunikations- und Wissenstechniken meistens nicht gewahr.
1.2 Die „XY-Gesellschaft" Zu Beginn sei eine Bemerkung zu einer um sich greifenden Mode gestattet, unsere gesellschaftliche, d. h. also ökonomische Verfaßtheit unseres Gemeinwesens mit Begriffen wie Arbeitsgesellschaft, Risikogesellschaft, Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft und so weiter zu kennzeichnen. Versteht man unter Gesellschaft, im Gegensatz zur Gemeinschaft, ein Gebilde, dessen konstitutive Interaktionsformen wie Kommunikation, Austausch von Leistungen, Gütern, Prozessen, und deren, meist monetär quantifizierbaren, Äquivalente, überwiegend oder ausschließlich durch ökonomische Bedingungen und Kategorien beschreibbar sind,4 dann ist eine Kennzeichnung einer Gesellschaft durch den Begriff einer „XY-Gesellschaft" mit der Behauptung äquivalent, daß sich die konstitutiven Interaktionsformen im wesentlichen auf XY beziehen, d. h. daß XY einer ökonomischen Quantifizierung zugänglich ist, und daß das, was an Leistungen und Gütern überwiegend ausgetauscht wird, aus XY bestehe oder sich überwiegend auf XY beziehe. Setzen wir für die Variable XY die Werte Arbeit, Information, Kapital und Wissen ein, so ergeben sich einige Bestimmungen der jeweils so charakterisierten Gesellschaften, wie sie in der Tabelle skizziert sind.
4 Daraufhat mich Peter Rüben bei seinem Vortrag in Cottbus im Juni 1999 hingewiesen.
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Vom Wissen zur Arbeit? Tabelle 1: Charakterisierung der AY-Gesellschaft 5 Kommunikation über XYGesellschaft
Optimierung von
Austausch von
Leistungen
Güter
Prozesse
Arbeitsleistung und monetäre Äquivalente
Produkte
Dienstleistungen als Funktionen für Produkte
„Zeit ist Geld"
Kapitalistische Gesellschaft
Wert der Arbeit: Tarife, Beteiligung, Versicherung shareholder values
Kapitalisierte Arbeit
Kapital (Geldströme) Produkte
Dienstleistungen, Informationen
Kapitalrendite
Informationsgesellschaft
I&K Technologien
Daten, Pläne, Fakten, Regeln
Information, Trägertechnologie
Umsetzung, Anwendung, know how
wann, wo, was, zum richtigen Zeitpunkt
Wissensgesellschaft
Allokation von Wissensbeständen und Ressourcen
Forschungsund Entwicklungsergebnis
Transferierbares Wissen als Information, know how
Lernen, Bildung
Qualität, Zuverlässigkeit, Fundiertheit, Mehrwert
Spaßgesellschaft (Tittytainment) 6
das Neueste
Mediale Produktion, organisatorische Systeme
Unterhaltung, Bildung, Werbung
Befriedung, Konsum verhalten
Konsum
Leistungsgesellschaft
Allokation von Leistungsressourcen (Standort)
Arbeits- und Wissensleistung als Ergebnis
alles, was Ware werden kann
Arbeit
Erfolg als Leistungskonsequenz
Sozialistische / ökologische Gesellschaft (Ideal typus) 7
Verteilungsmodalitäten: Bedürfnisse versus Leistung
Arbeitsergebnis und monetäre Äquivalente
zur gesellschaftlich notwendigen Befriedigung
Nachhaltigkeit von Wissen, Umwelt und Gütern
Verteilungsund Zuteilungsgerechtigkeit
Arbeitsgesellschaft
5 Die so bezeichneten Gesellschaftstypen schließen sich nicht gegenseitig aus - eine Arbeits- und Wissensgesellschaft ist wohl immer auch eine Leistungsgesellschaft, sie kann kapitalistisch verfaßt sein, muß aber nicht. Nicht genannt sind hier die Risikogesellschaft (vgl. Beck 1986) oder auch die Glaubensgesellschaft (vgl. Simon in seinem Beitrag zu diesem Band, 24-33). 6 Mit einer Mischung von Unterhaltung (enter-tainment) und ausreichender Ernährung (titty) soll der 80%ige Anteil der Arbeitslosen in einer 80:20-Gesellschaft ruhig gestellt werden. Vgl. Martin/Schumann 1996, 12 ff. 7 Damit soll angedeutet werden, daß die Einträge in den Spalten nicht die Wirklichkeit der sozialistischen Gesellschaften vor 1989 wiedergeben wollen. Vielmehr wird aus der Sicht, wonach der im Wettbewerb
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1.3 Zur Phänomenologie der Wissensgesellschaft Nach der - vielleicht auch etwas ironisch interpretierbaren - Charakterisierung sei jedoch zur Frage nach der Wissensgesellschaft zurückgekehrt. Ein Blick auf die von den Protagonisten dieses Begriffes entworfene Phänomenologie zeigt eine Gesellschaft, bei der nicht mehr Arbeit und Eigentum die entscheidenden Größen sind, sondern bei der das Wissen eine außergewöhnliche Funktion einzunehmen beginnt.8 Damit ist die wissenschaftliche Durchdringung aller Lebens- und Handlungsbereiche, die Verdrängung anderer Wissensformen durch Wissen, das der wissenschaftlichen Entstehungsprozedur unterworfen wird, gemeint. Die Entstehung der Wissenschaft als Institution, die gegenüber anderen Institutionen an gleichem Rang gewinnt, die Veränderung der Herrschaftsverhältnisse in Richtung auf eine Expertokratie, die Dominanz von Trägem bestimmten Wissens, im allgemeinen eines technisch-wissenschaftlichen Wissens, seien als weitere Kennzeichen genannt. Aus dieser Bestimmung wird klar, daß die allmähliche Entstehung der Wissensgesellschaft und ihre Ausprägung von ihren Beobachtern nicht mehr vorwiegend in philosophischen, sondern in soziologischen Kategorien vorgenommen wird.9 Man kann es auch selbst beobachten: Die Verwissenschaftlichung der Arbeitswelt schreitet fort, nicht nur in ihrer Methodik, sondern auch im Äußeren - die Fabrikhallen gleichen Großlabors, die den akademischen Berufen früher eigene Zeitflexibilität hat auch die Produktion und Dienstleistung längst erreicht, der Umgangston ist wissenschaftlich akademisch temperiert, auch die Umgangsformen scheinen kollegialer, gar akademischer geworden zu sein, Arbeitsberichte haben zunehmend den Anstrich wissenschaftlicher Texte. Man könnte die Reihe dieser Beobachtungen beliebig fortsetzen. Ist das schon die Wissensgesellschaft? Wissensgesellschaft wird dadurch definiert, daß das, was die Gesellschaft ausmacht, also Arbeit und Leben, Individualität und Organisation, Konflikt und Herrschaft, auf der Ebene der Information und des Wissens reproduziert wird - Herrschaft wird auf der Basis von Aneignung von Wissen als kulturellem Kapital ausgeübt.10 Dies scheint mir eine soziologische Bestimmung zu sein, die eher eine Prognose künftiger Entwicklung darstellt. Nun sind Zukunftsprognosen manchmal auch dazu da, die Leute auf künftige Strukturen, die man schaffen möchte, einzuschwören. Sie sagen dann nichts voraus, sie fordern. Damit gerät der Begriff der Wissensgesellschaft in den Verdacht, ein politischer und - wie viele Begriffe vor ihm auch - innerbetrieblicher Kampfbegriff zu werden. Das macht mißtrauisch, zumal soziologische wie ökonomische Deskriptionen immer auch die Tendenz haben können, eine gewisse normative Wirkung dann auszuüben, sobald man ihre Geltungsansprüche zu the-
der Systeme übriggebliebene Kapitalismus noch nicht das letzte Wort der zukünftigen Entwicklung ökonomischer Systemgestaltung sein solle, angedeutet, welche Transaktionsformen an Bedeutung gewinnen könnten. 8 Nach Stehr 1994, 36. 9 Die gesellschaftliche Arbeit verlagert sich von der Produktion von Dingen in Produktion von Wissen, nach G. Böhme (1999) verlagert sich das Leben in Räume „objektiven Wissens". 10 Vgl. ebenfalls Böhme 1999.
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matisieren beginnt. Wenn in der Wissensgesellschaft die künftigen Konflikte nicht um die Verteilung von Ressourcen, sondern im Vorfeld um die Verfügbarkeit von Information gehen sollen, dann ist erst recht Vorsicht angebracht, denn Verfügbarkeit über Information ist ein analytisch wohl noch unbestelltes Feld.
1.4 Wer arbeitet, kommuniziert Nun sollte der Titel dieses Kolloquiums nicht suggerieren, daß ein wie auch immer gemeinter Übergang von der Arbeitsgesellschaft in eine Wissensgesellschaft zur Folge hätte, daß in der Wissensgesellschaft nicht auch gearbeitet würde. Wir können schnell erkennen, daß jede Tätigkeit, die als Voraussetzung zur Durchführung von Arbeit angesehen werden kann, ebenfalls Arbeit ist. Dies berührt den kontagiösen Charakter der Arbeit. Wenn also propagiert wird, daß Wissen Voraussetzung für Arbeit ist, dann ist die Beschaffung oder Erlangung von Wissen hierfür ebenfalls Arbeit, Wissensarbeit - Marx und nachfolgende Theoretiker hätten sicher auch hierfür den Begriff Kopfarbeit" gewählt. Damit war aber noch nicht eine wie auch immer geartete Einsicht in die eigene Tätigkeit gemeint, die beispielsweise Handlung, Tätigkeit, Ziel und Zweck der eigenen Arbeit reflektieren sollte oder könnte. Eher ist das gemeint, was im Rahmen der Expertensystementwicklung als knowledge acquisition bezeichnet wurde und was außer elementaren Lernprozessen und Konditionierungen der tieferen Reflexion wohl nicht bedarf. Nun bedarf aber jede menschliche Tätigkeit der Einsicht in die konkrete Vorgeschichte des Wissens um die Tätigkeit und des Wissens um das Ziel sowie um die eigene Kompetenz zu einer solchen Tätigkeit, wenn sie nicht zur puren, stumpfsinnigen, unreflektierten Routine oder gar zum Automatismus verkommen soll. Das Ziel einer bewußten Tätigkeit liegt immer in der Zukunft, weit oder nah. Das macht die Zeitlichkeit von Arbeit als eine besondere Form von Tätigkeit, die wir noch näher zu bestimmen haben, aus und bettet sie in die Geschichtlichkeit der persönlichen Biographie wie der gesellschaftlichen Entwicklung ein. Dieses Wissen ist diachronisch, normativ geladen und es besteht eben nicht nur aus einem aktualisierbaren Wissen in der Tätigkeit, das zu einem Tun im Können führt. Sicher kann man über technologische Kompetenz bei der Arbeit kommunizieren, und dieses aktualisierbare Wissen in der Kommunikation können wir Information nennen. Jede Arbeit ist mit Information verbunden - man denke nur an Instruktionen zur Durchführung einer Arbeitsaufgabe. Die Kommunikationsformen der Arbeit werden aber auch durch Wissen der reflexiven Art bestimmt, ihre Mitteilbarkeit ist eine der Voraussetzungen für die Teilbarkeit von Arbeit. Das findet sich schon in Piatons Staat: „So bestände also der notdürftigste Staat aus vier oder fiinf Menschen? - Offenbar. Wie ist's nun? Soll jeder von diesen seine Arbeit für alle gemeinschaftlich machen, 11 Zur Trennung von Kopf- und Handarbeit vgl. z. B. Marx' Kapital, 5. Abschnitt (1966a, 531).
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z. B. der Landmann allein für vier Getreide herbei schaffen und die vierfache Zeit und Mühe aufwenden zur Herbeischaffung von Getreide, oder soll er, um sie unbekümmert, für sich allein den vierten Teil des Getreides schaffen in dem vierten Teil der Zeit und die drei anderen Vierteile das eine zur Anschaffung des Hauses verwenden, das andere zu der eines Kleides, das dritte zu der von Schuhen, und nicht mit der Mitteilung an andere sich bemühen, sondern allein für sich seine Sachen besorgen?" (2. Buch, 369e-370a)' 2 Schon hier werden die Probleme der Arbeitsteilung sichtbar: Es wird Zeit geteilt, genauer Zeitanteile, und es ist wohl hierüber eine Kommunikation zwischen denjenigen notwendig, die an dieser Arbeitsteilung teilnehmen. Auch hier ist die Rede von Wissen über die Einsicht in die Notwendigkeit von Tätigkeiten und dessen normativen Aufforderungscharakter - was übrigens eine solche reflektierte Tätigkeit alleine noch nicht zur Arbeit macht, doch legen wir umgekehrt diese Forderungen an jede Arbeit als menschlicher Tätigkeit an. Hinzu kommt, und dies wird schon anhand der Stelle bei Piaton deutlich, die Überlegung zu einer Entscheidung, die als ersten Schritt eine elementare politische Ökonomie konstituiert, nämlich ob man sich seine Sachen alleine oder in Kommunikation mit anderen zu besorgen oder herzustellen beabsichtigt. Wissen gehört also elementar zur Arbeit dazu - das ist nichts Neues. Was also hat sich an der Arbeit verändert, daß wir meinen, über Wissensgesellschaft reden zu müssen? Ist es nicht so, daß wir vermöge besserer Techniken, Wissen zu besorgen, Information zu transferieren, Erkenntnisse anzuwenden, und aufgrund besseren Wissens, besser, effektiver, gar vernünftiger arbeiten oder arbeiten werden und die Organisationsformen der Arbeit besser machen können?
2. Die Entkopplung des Arbeitsbegriffes durch die Technik Die inhaltlichen Begriffsbestimmungen dessen, was Arbeit sei, einschließlich der historischen Horismographien 13 , sind Legion - Grund genug, diesen keine weitere hinzuzufügen. Wenn man allerdings den Begriff Arbeitsgesellschaft als Ausgangspunkt der Betrachtung eines gesellschaftlichen Übergangs in eine andere Art von Gesellschaft betrachten will, hier der Wissensgesellschaft, ist zumindest das Charakteristikum der Arbeitsgesellschaft kenntlich zu machen.14 Die modische Gleichsetzung von Arbeit mit allgemein anstrengender Tätigkeit ist geläufig, über die Bezeichnungen Beziehungsarbeit, Trauerarbeit und dergleichen wollen wir uns
12 Vgl. Piaton 1940, 61; vgl. dazu die „klassische" Schleiermacherübersetzung (Politeia 1990a, 129), die sich mit der Stelle etwas schwerer tut. 13 Siehe beispielsweise die entsprechenden Lexikonartikel von Chenn und Krüger 1971, Riedel 1973, Hund 1990. 14 Von der Dahrendorf (1992) schon prognostiziert, sie sei zu Ende.
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hier nicht weiter unterhalten. Kennzeichen des Arbeitsbegriffs sind durchaus in der Beschreibung der Belastung zu suchen (Fron, Maloche, Mühsal und Arbeit als Nennungen in einem Zuge), aber nicht hinreichend. Denn es ist offenkundig eine subjektive Frage, die je nach Motivation, Erfolgserlebnis und dergleichen beantwortet wird, ob die Mühsal der Arbeit eine Mühsal ist oder war, wie Demokrit schon wußte: „Alle Mühen sind angenehmer als die Ruhe, wenn man das Ziel der Mühen erreicht oder weiß, daß man es erreichen wird. Bei jedem Mißlingen aber ist alle Mühe in gleicher Weise lästig und peinvoll.'"5 Die arbeitswissenschaftlichen Kategorien von Ausführbarkeit (mechanische, physiologische, biologische und psychologische Grenzwerte für kurzzeitige Belastungsdauer), Erträglichkeit (physiologische und psychologische Grenzwerte für langfristige Belastungsdauer), Zumutbarkeit (soziologische, individuelle und gruppenspezifische Grenzwerte mit langzeitiger Gültigkeitsdauer) und Zufriedenheit (individual-sozialpsychologische Grenzwerte mit langer und kurzfristiger Gültigkeitsdauer) orientieren sich hier am Begriff der Arbeit als Handlungen einzelner Individuen.16 So bezieht sich die Automatisierung auf nicht ausfuhrbare Verrichtungen, die Maßnahmen der Arbeitsstrukturierung auf ausfuhrbare, aber nicht erträgliche Arbeitsabläufe, die Ergonomie beschäftigt sich mit ausfuhrbaren und erträglichen Arbeitsaufgaben, -inhalten und -Umgebungen, die jedoch als verbesserbar im Hinblick auf die psychischen und biologischen Eigenschaften des Menschen angesehen werden. Dieser Sichtweise verdanken wir die Einsicht, daß Leistungsverdichtungen, wie sie bei der ursprünglich als Verbesserung propagierten Informatisierung von Arbeitsaufgaben (zum Beispiel der Ersetzung des Zeichenbrettes durch ein CAD-System) auftreten, eine enorme psychische Belastungen mit sich bringen.17 Die arbeitswissenschaftliche Sicht ist eine technisch und systemtheoretisch bestimmte Sicht. Sie berücksichtigt Momente der Planung, der Verwendung von Instrumenten und Werkzeugen, sie berücksichtigt den Belastungscharakter und die Repetivität der Handlungen, die diese Belastungen ausmachen - aber die Grenzziehung zum Spiel, sowie ihre gesellschaftliche Einbettung, die dieser Form von Tätigkeit überhaupt erst den Charakter der Arbeit gibt, kommt in der ingenieurswissenschaftlichen Sicht kaum vor - auch heute noch nicht, nach jahrelangen Programmen der Humanisierung der Arbeit. Andere bekannte Bestimmungsstücke von Arbeitsdefinitionen - wie Arbeit als zweckrationales Handeln, dessen Zweck außerhalb des Handelns liegt, wie das Hervorbringen von
15 Vgl. Demokrit, Fragment fr. 243, in: Diels 1951, 193. Vgl. auch Capelle 1968, 449, dort Fragment Nr. 171. 16 Vgl. im Rahmen der Arbeitswissenschaft z. B. Schmidtke 1981. 17 Nachdenken während des Bleistiftspitzens, oder wenn man schon mal eine Gerade zieht oder einen Zeichnungsteil abzeichnet, ist nicht mehr möglich - all das übernimmt das System und diese Auszeiten der bedingten kreativen Pause werden wegrationalisiert. Es bleibt nur ein gewisser Eskapismus wie Nasenbohren und dergleichen.
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Dingen (die poiesisx%), Planung, Sprache, Kompetenz, Erfüllung durch Arbeit, Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß, Widerspiegelung und Entfremdung, Selbstaufhebung - sind ohne Rückgriff auf eine politische Ökonomie zugegebenermaßen nicht bestimmbar. Die Frage ist jedoch, ob die Bestimmung menschlicher Arbeit beim Blick auf das Wissen ausschließlich durch eine politische Ökonomie bestimmbar ist. Vermutlich geht dies genau so wenig, wie dies mit ingenieurswissenschaftlichen Normen oder technischen Erleichterungen möglich ist. Nach einem kurzen Blick auf Marx und neuere Bestimmungen von Arbeit müssen wir uns daher dem Zusammenhang von Arbeit und Technik zuwenden - vor allem deshalb, weil zum einen Technik und Arbeit zusammen gedacht werden müssen und zum andern, weil die Verwissenschaftlichung der Technik und die Technisierung des Wissens, wenn überhaupt, ebenfalls zur Phänomenologie der Wissensgesellschaft gehören.
2.1 Nochmals und schon wieder: Karl Marx Arbeit ist nach Karl Marx etwas, was sich am Gegenstande vollzieht - die Gegenständlichkeit der Arbeit führt bei der Naturaneignung durch den Menschen zur Erfahrung der Widerständigkeit der Natur. Dadurch kommt die Mühsal zustande, und in seiner Hegelkritik erinnert Marx an die Leiblichkeit des Arbeiters. Die produzierende Tätigkeit macht den Menschen erst aus (als Gattung): „Indem aber für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß."19 Nun ist nicht nur das hervorbringende Handeln, das zu Produkten führt, Arbeit, sondern auch die Entsorgung dieser Produkte ist zur Arbeit geworden, die Widerständigkeit der Natur bekommt nunmehr eine andere Qualität. Die Informatisierung der Arbeit, die sowohl im Arbeitsinstrument mechanische oder elektrische Funktionen durch informatorische Funktionen substituiert wie auch in den Arbeitsinhalten zu einer zunehmenden Substitution von bloßen Verrichtungen in dispositive Tätigkeiten geführt hat, konvertiert die Leiblichkeit des Arbeiters zur kognitiven Belastungsgrenze der Wissensarbeiter - die Widerständigkeit der Natur wird ersetzt durch die Widerständigkeit, Wissen zu erzeugen, Information zu formulieren und kommunikabel zu machen.20
18 Vgl. Aristoteles, Nikomachische
Ethik, 1140a-1140 b7.
19 Vgl. Marx, MEW Bd. 40 (1966b), 546. 20 Von dieser Widerständigkeit kann man sich leicht überzeugen, wenn man einmal selbst versucht, eine technische Bedienungsanleitung zu schreiben.
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Geschichte sei Geschichte der Arbeiter - und die Geschichte bestimme, wie Produktionsformen und Verkehrsformen aussehen. Nach Marx ist die Arbeit Kampf, Ziel, Werkzeug. Lebenstätigkeit und Kooperation unter diesen jeweiligen Formen, die durch revolutionäre Entwicklungen als veränderbar galten, weil sie sich - in Adaption der Hegeischen Geschichtsgesetze - verändern mußten. Kommunikationsprozesse begleiten die Arbeit zwangsläufig, sofern sie gesellschaftlich bestimmt ist. Nunmehr wird in der Informationsgesellschaft der Kommunikationsprozeß selbst zum Kern der Arbeitshandlung, Kommunikation wird zum Produkt. Das Erzeugen von Wissen im Empfänger einer Botschaft, das Verwandeln von Durst in ein Bedürfnis nach Coca-Cola, wird zur verkaufbaren Ware, zur monetär bewertbaren Funktionalität. Wenn Marx schreibt: „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit [...] Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung.'121 dann ist dies in einer Wissensgesellschaft nicht mehr nachzuvollziehen, in der Wissen als Produkt auftritt und dem Leistungsaustausch unterworfen wird. Es werden andere Knechtschaftsverhältnisse erzeugt, auch ist Entfremdung real und vorstellbar, aber es sind andere Mechanismen, die nicht mehr über das Paradigma der dinglichen Produktion vermittelt werden. Die Frage ist nun, ob auch Wissen ein Arbeitsgegenstand sein kann, also etwas, was durch eine bestimmte, Arbeit genannte Tätigkeit, zielgerichtet bearbeitet und verändert werden kann. Man denke hier nur an die Arbeit an einer physikalischen Theorie oder an die Erarbeitung eines Beweises in der Wissenschaft oder an das Erstellen eines Programms. Zum einen ist die Gegenständlichkeit nicht mehr zu definieren, zum anderen ist gerade bei der Wissensproduktion die Entfremdung durch die Versagung beispielsweise der Wahrnehmung des Urheberrechts zwar vorstellbar, jedoch bleibt sie reflexiv aufgehoben durch die potentielle Multiplizität des Wissens in Form kopierbarer und beliebig verteilbarer Information. Natürlich wäre es naiv zu glauben, daß es nicht Machtmechanismen gäbe, die auf Informationszurückhaltung oder Weitergabeverbote aufgebaut sind. Diese mögen sogar in konkreten Verwertungsinteressen begründet sein. Trotzdem haben sie eine andere Struktur als die dingliche Produktion, die für Marx als Vorstellung leitend war. Nun hat Marx darauf hingewiesen, daß nicht-entfremdete Arbeit sich der konkreten Inhalte dieser Austauschbeziehungen bewußt ist, als ein Wissen über die gesellschaftliche Einbettung der einzelnen Arbeitsaufgabe. Wenn nun das, wie oben ausgeführt, reflexive 21 Marx 1966b, 512.
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Wissen konstitutiv zu einem jeden Arbeitsprozeß dazugehört, weil sonst die Arbeitsaufgabe gar nicht zu bewältigen ist (Disposition, Verantwortung, Einbettungswissen in den Gesamtkontext etc.), dann greift der Entfremdungsbegriff nicht mehr - zumindest ist er nicht mehr tauglich, als Konnotat der Ausbeutung zu fungieren. Die ehemals klassische Formulierung, die auch Ausgangspunkt des Kampfes gegen die Ausbeutung und die Solidarität der Arbeiter war, „Die Spitze dieser Knechtschaft ist, daß er nur mehr als Arbeiter sich als physisches Subjekt erhalten (kann) und nur mehr als physisches Subjekt Arbeiter ist."22 stimmt, zumindest wenn man die Phänomenologie der Wissensgesellschaft hier in Anschlag bringt, für den zweiten Teil des Satzes nicht mehr - die Körperlichkeit ist heute nicht mehr ausschlaggebend für eine Erwerbsbiographie (Arbeiter sein), sondern die soziale und ökonomische Präsenz, die sich telematisch, elektronisch, kommunikativ, natürlich auch körperlich oder medial repräsentieren kann. Damit ist die Marxsche Anthropologisierung der Arbeit, indem sie die Ontologie des Menschseins ausschließlich an der Arbeit und der Leiblichkeit des Arbeiters festmacht, wohl hinfällig. Diese Anthropologisierung hat der Fetischisierung von Arbeit Vorschub geleistet, und die Mythologisierung der Arbeit als einzige Form wirklicher gesellschaftlicher Teilhabe mag hier, wenn nicht ihren Ausgangspunkt, so doch eine ideologische Stütze ersten Ranges erhalten haben.23
2.2 Eigenarbeit Der Arbeitsbegriff hat sich aber auch in der Ökonomie selbst verändert, und zwar dadurch, daß neue Formen der Arbeit - einesteils durch technische, andernteils aber auch durch politische, ökonomische und organisatorische Veränderungen bedingt - aufgetreten sind. Eine dieser Unterscheidungen kennt man spätestens aus der Debatte seit den 80er Jahren: Fremdarbeit und Eigenarbeit24 (u. a. später wohl Gorz, Lafontaine). Ein differenzierteres Bild bietet sich, wenn man Erwerbsarbeit als formelle Arbeit und Eigenarbeit als informelle Arbeit unterscheidet und dabei differenziert zwischen formaler Praxis (nicht arbeitsteilig durchführbar, nicht delegationsfähig, da sie sich auf die eigene Person bezieht - wie Sorge für die Gesundheit, Bildung der Persönlichkeit, Mitwirkung am gemeinschaftlichen Leben), materialer Praxis (wie Tätigkeiten, die nicht am gesellschaftlichen Leistungsaustausch beteiligt sind, aber sonst einige Merkmale von Arbeit haben können - wie der Bewältigung
22 Marx a.a.O., 513. 23 Völlig anders begründet, aber nicht minder wirkungsvoll ist die Überhöhung der Berufsarbeit in der protestantischen Ethik. Das hervorragendste Mittel, die Selbstgewißheit zu erlangen, erwählt zu sein, ist rastlose Berufsarbeit; vgl. Weber 1976, 105. 24 Vgl. z. B. Ch. und E. U. von Weizsäcker 1985.
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von Alltagsleben in Gruppen, Kooperativen etc., die Praxis der Freizeitbewältigung, Hobby etc.) sowie Familienarbeit.25 Auch bei Eigenarbeit, aber auch der formalen wie materialen Praxis,26 ist die Anerkennung der Arbeit ein wesentliches Merkmal, in der formellen Arbeit oder Fremdarbeit ist dies in der Regel der Lohn, aber es gibt auch andere Formen der Anerkennung. Festzuhalten wäre an dieser Stelle, daß eine Anerkennung in der Wissensgesellschaft noch stärker auf die Urheberschaft und deren Bekanntwerden abhebt, als dies bei produktionsorientierten Arbeitsgesellschaften der Fall ist. Gerade bei der Eigenarbeit fällt auf, mit welchem moralischen Unterton sie propagiert worden ist, weil sie als die „ursprüngliche Form der Arbeit" gelten soll. Sie ist Arbeit, „deren Risiko man kennt und zu verantworten weiß." Es fehlt ihr nicht an Arbeit, sondern an Bezahlung, das Wort „Eigen" soll andeuten, daß nicht-entfremdete Arbeit gemeint sein soll.27 Letztlich scheint mir der Terminus Eigenarbeit auch ein Reflex darauf zu sein, die moralischen Konnotationen des Herausfallens aus der Arbeitsgesellschaft zu vermeiden. Denn Kambartel weist mit Recht darauf hin, daß die Sphäre der Arbeit nicht nur von technischer Rationalität und zweckrationalem Handeln bestimmt ist, sondern auch von moralischen und deontischen Faktoren: „Gesellschaftliche Arbeit nimmt, wie verzerrt auch immer, an einer Gegenseitigkeit des Leistungsaustauschs teil, welcher ihr, und damit nicht nur der Sphäre des kommunikativen Verkehrs, eine interne moralische Form verleiht."28 Auch Eigenarbeit ist Austauschbeziehungen, zum Beispiel durch nicht-monetäre gegenseitige Obligationen, unterworfen, die auch nicht-materielle Anerkennungsmöglichkeiten beinhalten. Zwangsläufig sind bei Austauschbeziehungen Gerechtigkeitsfragen aufgewor-
25
Vgl. Kambartel 1998. Bei ihm haben materiale Praxis und Erwerbsarbeit gemeinsame Schnittstellen, sie können ineinander übergehen (Beruf zum Hobby, Hobby zum Beruf), nicht aber die formale Praxis, die keine Arbeit ist. Familienarbeit kann zur gesellschaftlichen Arbeit werden, wenn dies politisch gewollt wird, sie kann aber auch zur formalen Praxis werden, wenn sich ihr alle gleichermaßen als Teil ihres Lebens ohne Leistungsaustausch verpflichtet fühlten. - Entscheidend bei diesen Differenzierungen ist nach Kambartel, ob die jeweilige Praxis im Kontext einer politischen Ökonomie stattfindet, und damit die Merkmale Leistungsaustausch, Entlohnung, Arbeitsteilung und Fremdbestimmung aufweist. Aufgrund der vorläufigen Phänomenologie der Wissensgesellschaft kann man die Arbeit am Produkt „Wissen" in vielen beruflichen Bereichen mit diesen Merkmalen versehen. Wenn aber Kambartel ein Abkoppeln der gesellschaftlich notwendigen Arbeit von Moral und Vernunft anspricht, dann ist dies sicher nicht mehr konstitutiv für Wissensarbeit, und zwar wegen des oben herausgearbeiteten reflexiven Charakters dieser Form von Arbeit. Auch dürfte die moralisch-emanzipatorische Konnotation des Begriffs der Eigenarbeit im Sinne von Weizsäckers (1985) mit dieser Abkopplung nicht kompatibel sein.
26 Eigenarbeit ist bei Kambartel (1998) formale Praxis im obigen Sinne. 27 Ch. und E. U. von Weizsäcker 1985. 28 Kambartel 1998, 81.
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fen, die ohne Rekurs auf normatives Wissen nicht gelöst werden können. Dies gilt auch für Wissensgesellschaften. Die Frage ist nur, ob sich durch die Technisierung des Wissens in den Wissensgesellschaften die Arbeit nicht grundlegend ändern wird und damit neue, ethische Probleme entstehen.
2.3 Eigentum, Teilhabe, Identität 29 Der neuzeitliche Arbeitsbegriff, wie er von Karl Marx geprägt wurde, geht über in den modernen Arbeitsbegriff durch eine zunehmende Kopplung von Arbeit an Eigentum, soziale Teilhabe und persönliche Identität. Das ist eine Chance zur „Humanisierung der Arbeit", zugleich aber auch eine Gefährdung dieser Humanisierung. Eigentum: Wer arbeitet, kann sich mit seiner Hände Arbeit einen Besitzanspruch auf das Geschaffene erwerben. Arbeit ist also eine Möglichkeit (nicht die einzige), um zu Eigentum und zu Besitz zu gelangen. Dieser Besitz kann akkumuliert und vererbt werden - das Arbeiten über das Maß des individuell oder gemeinschaftlich Notwendigen hinaus zielt also auf eine Vorsorge über die eigene Lebensspanne hinaus - unsere Kinder sollen es einmal besser haben. Die Möglichkeiten zum Erwerb von Eigentum ausschließlich durch Arbeit sind jedoch außerordentlich begrenzt. Diese Kopplung von Arbeit und Eigentumserwerb (z. B. durch Lohn und Kauf) wurde geistesgeschichtlich erst spät, nämlich erst in der Aufklärung, entdeckt und philosophisch als rechtfertigbar angesehen.30 Andere, offenkundig weniger anstrengende Formen des Eigentumserwerbs, die den meisten Menschen de facto aber verschlossen sind, lassen Zweifel an der Verwirklichungsmöglichkeit von Idealen der Gerechtigkeit und Gleichheit aufkommen, aber sie mindern die Wichtigkeit dieser Entdekkung nicht. Sie liefert letztlich die Grundlage für eine der Forderungen der Aufklärung, die Ausbeutung der menschlichen Arbeit nicht mehr länger hinzunehmen. Soziale Teilhabe: Arbeit ist eine soziale Veranstaltung. Sie bedarf der Kommunikation und Organisation und damit der Interaktion mit anderen, die arbeiten - das schon vor jeder tayloristischen Arbeitsteiligkeit bis hin in die Atomisierung jeglicher Teilverrichtung. Das Arbeitsleben ist ein erheblicher Teil unseres Lebens, und allem, was Arbeit ist oder als Arbeit bezeichnet wird (sei es, um damit etwas zu erreichen, z. B. Hausarbeit überhaupt erst einmal als Arbeit anzuerkennen, sei es, um den Anstrengungscharakter einer Aktivität deutlich zu machen, z. B. in der Psychologie Beziehungsarbeit), schreibt man diesen Charakter der sozialen Veranstaltung fraglos zu. Zur Teilhabe am sozialen Leben gehört die soziale Rolle, und sie wird durch Anerkennung vermittelt. Diese Anerkennung kann sich (muß sich aber nicht) in der Bezahlung niederschlagen - trotzdem ist die Höhe der Entlohnung ein sehr starker Indikator für die soziale
29 Vgl. erste Formulierung bei Kornwachs 1998/99 (www.bloch-akademie.de). 30 Vgl. Brockers Werk über Arbeit und Eigentum (1992), der die Entwicklung der Arbeitstheorie des Eigentums bei John Locke eingehend analysiert hat, insbesondere John Lockes Two Treatises of Government (1689).
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Rolle, die jemand spielt, auch wenn die direkte Frage nach den aktuellen Bezügen zumindest in Westeuropa nicht als sehr höflich gilt. Der Begriff der Anerkennung reicht also weiter. Seit Hegel wissen wir, daß ein Bewußtsein immer ein anerkanntes Bewußtsein ist und nach Anerkennung strebt. Anerkennen muß sich das Subjekt aber auch selbst. Erst dadurch wird es sich seiner selbst bewußt und gewinnt Identität. Identität: Die Auffassung von Thomas von Aquin, wonach jeder Tätige sich in seinem Tätigsein vollende,31 hört sich fast sozialromantisch an. Angesichts der Fließbänder und angesichts der zur den Zeiten eines Thomas von Aquin immer noch nicht abgeschafften Sklaverei und Leibeigenschaft mag dies wie ein Hohn klingen, trotzdem ist der Satz richtig: Unsere Selbstfmdung ist - zumindest in den industriell orientierten Ländern - und dazu gehörten die meisten Länder des sozialistischen Lagers auch vor der Wende - weitgehend über den Sinn unserer Arbeit vermittelt. Im Mittelalter wurde diese Vermittlung eher den künstlerischen und geistigen Tätigkeiten zugeschrieben. Identität, also mit uns selbst einig zu sein, uns selbst wiedererkennen zu können, setzt voraus, daß wir uns an unsere eigene Geschichte erinnern können, in der wir uns zwar ändern, aber dennoch diejenigen bleiben, die wir immer schon waren. Diese Erinnerung und damit die Möglichkeit unserer eigenen Kontinuität und damit unserer Identität ist immer stark gefährdet, und modern gesprochen könnte man die Entfremdung, die Marx in der produktiven lohnabhängigen, ausgebeuteten Arbeit entdeckt und begrifflich als erster gefaßt hat, so ausdrücken: Wenn wir uns in unseren Entäußerungen, also auch in unserer Arbeit, wiederfinden wollen, müssen wir uns auch an unsere Hervorbringungen erinnern können. Auch dies ist Wissen. Entfremdung beginnt dann, wenn das, was gearbeitet wurde, aus dem Sinn- und Erinnerungszusammenhang herausgerissen wird - sei es durch sinnlose Teilaufgaben, deren Einbettung in einen größeren Zusammenhang der Arbeitende nicht mehr zu erkennen vermag, sei es durch die Verweigerung jeder Teilhabe an den diese Arbeit strukturierenden Entscheidungsprozessen. Für Karl Marx gehörte zu dieser Teilhabe bekanntlich auch die Verfügung über die Produktionsmittel. 2.4 Arbeit der Technik 32 Durch technische Hervorbringungen delegieren wir Arbeit an Artefakte. Wie ist das möglich und wie funktioniert das? Das Gerät oder die Maschine33 bearbeitet den Arbeitsgegenstand. Wir müssen nicht mehr Kraft applizieren, die Widerständigkeit der Natur verschiebt sich von der stofflichen Wider31 „Gerade so wird auch durch die Tätigkeit die Verhabung erworben und durch die erworbene Verhabung ist einer vollkommen im Werktum ..." (vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, 183, Untersuchung, Art. 4; 1985,581). 32 Vgl. Kornwachs 1998/99 (www.bloch-akadmie.de). 33 Es gibt durchaus in der technikphilosophischen (z. B. Bamme u. a. 1984) und auch ingenieurwissenschaftlichen Literatur eine wohlbegründete Unterscheidung zwischen Gerät und Maschine, vgl. auch
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ständigkeit (z. B. Härte des Materials, Schmutz, Gefahr) in die Widerständigkeit der Steuerung eines Prozesses, den die Maschine realisiert oder welcher der Maschine zugrunde liegt. Die Maschine und deren Organisation zu steuern oder ihr die Steuerung durch eine Metasteuerung selbst zu überlassen (Automatisierung), bedeutet die Widerständigkeit der Kopfarbeit - hier widersteht die formale Struktur der Kybernetik dem Durchdachtwerden - , Abstraktion ist anstrengend. Interessanterweise spricht die Informatik von Arbeitsspeichern, Arbeitsschritten, Anweisungen, Befehlen, Operationen etc., Technik hat eine Erleichterungspotenz für Arbeit, sie verlagert die Widerständigkeit von der Hand- in die Kopfarbeit, aber sie ist noch nicht Arbeit selbst, obwohl sie, im Kontext der Arbeit angewandt, Arbeitsschritte übernimmt, reduziert, eliminiert, substituiert. In der klassischen Bestimmung der Arbeit müßte ein technisches System, das wirklich arbeitet, nicht nur Ziel, Plan und Notwendigkeit selbst bestimmen, was einem subjektbestimmten Willensakt entsprechen würde, auch die Wahl des Arbeitsmittels und die Durchfuhrung müßte dem technischen System anvertraut werden. Nun ist letzteres ja leicht zu bewerkstelligen, denn durch die Automatisierung und Computerisierung optimieren diese Systeme sich anhand gewisser vorgegebener Sollgrößen selbst. Die selbständige Erzeugung von Sollgrößen und darüber hinaus ihre Rechtfertigung in Handlungszusammenhängen haben wir jedoch bis heute noch nicht an eine Maschine delegieren können oder wollen. Um zu verstehen, daß und wie Technik „arbeitet", braucht man eine Bestimmung dessen, was notwendig ist, d. h. das Gewinnen einer Einsicht in den Bedarf. Obzwar Bedürftiger in jeder Hinsicht, scheint allein der Mensch darin frei - er kann verzichten und fordern, Ziele setzen und verwerfen, er kann Bedürfnisse artikulieren oder vorläufig ihre Befriedigung zurückstellen. Nicht „Arbeit macht frei", sondern Freiheit ist Voraussetzung für Arbeit. Nun wird die Forderung verständlich, daß Selbstbestimmung bei der Arbeit am ehesten der Gefahr der Entfremdung und Enteignung begegnen kann. Hier liegen ja auch die elementaren Forderungen in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Fest steht, daß sich die herkömmliche Arbeit verändern wird - sie verändert sich dank der Technik, sie verändert aber auch die Technik selbst, und diese wechselseitigen Veränderungen sind auch in wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen begründet. Die Kopplung von Arbeit mit Eigentum, sowie Teilhabe und Identität bekommt durch die Technisierung der Arbeit und durch die Möglichkeit, bedingt von „Arbeit der Technik" zu sprechen, eine neue Qualität. Meine Prognose ist: Diese Entkopplung wird weiter voranschreiten und wir müssen uns die Konsequenzen dieser Entkopplung klarmachen. Schon jetzt ist Arbeit von Eigentumserwerb durch drei Mechanismen zum Teil entkoppelt: Die erste und älteste Methode ist Erben und Rauben. Lassen wir letzteres unerwähnt, so werden, wie der Spiegel schreibt, schätzungsweise 2 Billionen DM in diesen Jahren vererbt. Die zweite Möglichkeit besteht darin, bei vergleichsweise geringem Einsatz durch Teilnahme an Börsengeschäften kurzfristig Geldsummen durch Gewinne zu erwerben, die das gesamte Lebenseinkommen eines mittleren Beschäftigten in den Industrieländern bei
Erlach 1998 und weitere Literatur dort. Für unsere Argumentation ist dieser Unterschied hier aber unwesentlich.
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weitem übersteigen kann, ohne an der produktiven Arbeit teilgenommen zu haben. Diese Möglichkeit mag Neidgefühle oder Verbitterung auslösen - diese Gefühle lösen das Problem aber nicht. Vor allem hilft es nicht, in diesem Falle die Nicht-Arbeit zu moralisieren, denn wir moralisieren ja nur die mangelnde Anstrengung, nicht den Erwerb. Die Arbeitslosenversicherung und Sozialversicherung hat eine Höhe erreicht, die zwar immer noch als beschämend niedrig empfunden wird (vor allem wegen den damit verbundenen administrativen Demütigungen), die aber bereits jetzt schon einem Bürgergehalt, einer negativen Steuer oder einer Grundversorgung auf niedrigem Niveau entspricht. Das bedeutet, daß - als dritte Variante - eine rein konsumptive Lebensmöglichkeit ohne die Notwendigkeit der Teilnahme am Arbeitsprozeß bereits heute schon besteht. Die Einkommensunterschiede sind dabei wohl im Auge zu behalten. Die Verteilung der Arbeit im Sinne von Teilhabe und Einkommen wird zunehmend als nicht gerecht empfunden. Für die einen ist der Job die Erfüllung, von dem sie nicht genug bekommen können, solange sie drin sitzen - und sie arbeiten 16 Stunden am Tag, mit Überstunden und entsprechendem Gehalt, die Anderen haben Kurz- oder gar keine Arbeit. Mit der Einfuhrung von Billigjobs wird ein Effekt eingeführt, mit dem auch damals die versteckte Arbeitslosigkeit in der DDR zu bewältigen versucht wurde: Statt einem Liftfahrer gab es eben zwei, statt zwei Pförtner vier. Die Jobs wurden aufgeteilt, und dies ging deshalb, weil die Produktivität dieser vor allem Dienstleistungs- und Administrationsjobs im Rahmen der Zuteilungsbewirtschaftung und der Planwirtschaft keine kritische Größe darstellte. Letztlich wurde aber diese Belastung für jeden Betrieb über den Gesamtplan kompensiert ganz analog, wie heute die gesamtgesellschaftliche und steuerliche Belastung der Arbeitslosigkeit über die Sozial- und Arbeitslosenversicherung ebenfalls über die Gesamtwirtschaft kompensiert wird. Wenn wir also ein Bürgergehalt einführen wollten, um Arbeit und Einkommen zu entkoppeln, und dazu noch einen leistungs- und arbeitstätigkeitsabhängigen Zuschlag, so daß sich sowohl auf relativ niedrigem Niveau das Faulenzen als auch auf relativ hohem Niveau das Arbeiten lohnt, dann könnten wir in der Tat die Entscheidung, ob man arbeiten will oder nicht, jedem einzelnen überlassen. Aus der Natur des Menschen heraus kann man dann allerdings absehen, daß sich genügend Nichtfaulenzer finden werden, denen es durchaus Spaß macht, arbeiten zu können, die etwas dazu verdienen wollen, und das dann auch versuchen werden. Die mit der Übernahme von Arbeit letztlich dann auch verknüpfte Bestimmungsmacht über diejenigen, die nicht arbeiten, wird, wenn auch gesellschaftlich vermittelt und demokratisch wie auch immer kontrolliert, diesem Personenkreis zufallen. Wir erhalten dann eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, und wir müssen uns darüber im Klaren sein, daß dies nicht eine herrschaftsfreies Nebeneinander sein wird, sondern ein Machtgefalle erzeugt - die Konsumsklaven, die sich ruhig zu verhalten haben und die neue arbeitende Klasse, die bestimmt, was gemacht wird. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht herrschen - wird es dann heißen und nicht mehr: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen ,.."34 Man mag mit Recht einer solchen möglichen Entwicklung skeptisch gegenüberstehen.
34 2. Thess. 3,11.
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Die Kopplung der Arbeit mit der sozialen Teilhabe am Arbeitsgeschehen war und ist in verschiedenen Ländern und Kulturen verschieden ausgeprägt. Man kann sich diesen Unterschied anhand des folgenden Gegensatzpaares klarmachen: Der amerikanische Begriff des Jobs mit seinen vielfachen Wechseln im Laufe einer Arbeitsbiographie einerseits und das berufliche Selbstverständnis eines deutschen Handwerkers andererseits, der sich immer als Handwerker versteht und es bleibt. Auch das Gegensatzpaar: hier Yuppie westlichen Zuschnitts und dort langjähriger Betriebsangehöriger in einem Volkseigenen Betrieb, ist recht instruktiv. Nun löst sich zum einen die klassische Fabrik alten industriellen Zuschnitts zunehmend auf, weil die Vorbedingungen für ihre Entstehung, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschten, durch die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien im Verbund mit der enormen Verbilligung von Transportkosten und anderen ökonomischen wie organisatorischen Bedingungen zunehmend wegfallen oder schon weggefallen sind. Eine Fabrik entstand, wo Energie verfugbar war für die Ersetzung von Arbeitsleistung durch Maschinen (Mechanisierung), wo Personal verfügbar war oder schnell angesiedelt werden konnte (Arbeitersiedlungen zeugen heute noch davon) und wo die Verkehrsanbindung günstig war (meistens Flußwege und Straßen-, später Eisenbahnkreuzungen). Die Fabrik war der Ort der Arbeit, der sozialen wie individuellen Kontrolle, der Konzentration von Information und daraus gewinnbarem Wissen zur Anwendung, in ihr entstanden die Produkte, von ihr aus wurden sie verteilt. Maschinen, Arbeitskraft, Kapital, Information und Grund und Boden waren räumlich eng konzentriert. Blicken wir auf die heute schon organisatorischen wie technischen Möglichkeiten der Telekooperation und Telearbeit, dann sehen wir, wie diese alte Fabrik ursprünglichen Zuschnitts verschwinden wird - daß sie sich nicht nur in Fraktale aufspaltet, sondern in der Tat auflöst: Die Konzentration von Information im Sinne der drei großen C (Command, Control, Communication) löst sich auf in das Netz. Die Arbeitsleistungen werden, außer in den weniger werdenden Fällen, wo Maschinen beschickt, gewartet und entsorgt werden müssen, von der räumlichen Distanz vom Arbeitsprozeß selbst unabhängig. Die Automatisierung entkoppelt zudem schon seit langem die Arbeitszeit und die Maschinenzeit. Arbeitsteiligkeit wird zur Verhandlungssache zwischen den organisatorischen Komponenten eines Systems und den darin Beschäftigten sowie mit den in ihnen frei Arbeitenden, die sich weltweit verteilt befinden können: Die einzige Grenze der Dezentralisierung sind die Materialflüsse, also die Transporte der Rohteile, Güter und Produkte. Geht man zunehmend dazu über, den Transport zu verteuern - aus ökologischen wie aus ordnungspolitischen Gründen - wird die Produktion noch dezentralisierter, man wird lokal verteilte hoch flexible Produktionseinheiten aufbauen, die ihr Rohmaterial und Einzelteile aus der unmittelbaren Umgebung beziehen und durch Kommunikation im Netz von einer dezentralen Arbeitsvorbereitung und Produktionssteuerung synchronisiert werden. Die wirtschaftliche Organisationsform dieser Zukunftsmusik gibt es schon lange: Die einzelnen betrieblichen Bereiche treten gegeneinander in eine ökonomische Austauschbeziehung, sie bilden Profit Centers und sie rechnen untereinander ab, wie wenn sie eigenständige Firmen wären. Sie beliefern sich just-in-time, d. h. zwischen zwei Bearbeitungsstationen einer Fertigung können Hunderte von Kilometern liegen.
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Der Ort der Arbeit in der Produktion war paradigmatisch für die philosophische Auseinandersetzung mit der Arbeit. Wenn Marx über Arbeit sprach, hatte er überwiegend das Industrieproletariat vor Augen, weniger den möglicherweise auch noch nach 16.30 Uhr arbeitenden Beamten einer Behörde oder den Bauern oder gar Mitglieder der Dienerschaft. Dieser paradigmatische Ort der Arbeit war auch ein Ort der Solidarisierung gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch den Eigner der Produktionsmittel, also der Geburtsort der Arbeiterbewegung, und dies sieht man den eingeschliffenen Verhaltensweisen der Gewerkschaften bis heute an. Fällt nun dieser fast mythologisch aufgeladene Ort der Arbeit weg - und man soll ja nicht so tun, als ob andernorts nicht auch seit jeher gearbeitet worden wäre - so fallen natürlich auch die Solidarisierungsrituale weg, bzw. müssen durch andere ersetzt werden. Es fallen aber auch die Bedingungen weg, unter denen Arbeitsteiligkeit theoretisch zu verstehen und zu kritisieren versucht worden ist, also Bedingungen, unter denen sich eine katholische Soziallehre und eine veränderte protestantische Arbeitsethik, eine Arbeiterbewegung mit verschiedenen politischen Verzweigungen und Ausdifferenzierungen, aber auch Entlohnungssysteme, Arbeitszeitregelungen und Sozialversicherungssysteme entwickeln konnten. Die Teilhabe am sozialen Prozeß der Arbeit und deren Kommunikationsformen verändern sich daher, und der primäre Ort der Kommunikation ist schon lange nicht mehr die Arbeit, sondern sind die Massenmedien und - zunehmend - das Netz. Neben der tariflichen wie emotionalen Bindung an einen Betrieb oder eine sonstige arbeitgebende Institution wachsen die Arbeitsformen des Freelancers heran, des gelegentlich eine Bindung eingehenden freien Mitarbeiters, des quasi selbständigen Kleinunternehmers und Zulieferers, der jenseits von Tarifen die Arbeitsbedingungen immer wieder neu aushandelt mit denjenigen, mit denen er zusammenarbeitet. Es wächst eine von der Arbeitersolidarität alter Provenienz weit entfernte Form von Arbeit heran, die zwischen Eigenarbeit und Fremdarbeit unterscheidet, die in der Schattenwirtschaft, in losen Kooperativen, in nicht mehr zu kontrollierender Schwarz-, Neben und nicht monetär zu quantifizierender Arbeit sich ausdifferenziert und sich den klassischen Regelungen der Bewirtschaftung von sozialer Sicherheit, der fiskalischen Erfassung und der tariflichen Bindung, aber auch den ursprünglich ständepolitisch orientierten Berufsbildern schlicht und einfach entzieht. Wir wissen wenig über die inneren Strukturen dieser Eigenarbeit, aber wir wissen über ihre steigende Bedeutung - auch für das Lebensgefühl der Menschen. Es gibt ja durchaus Arbeit für keinen Lohn und auch Arbeit, wofür es nichts zu kaufen gibt, es sei nur an die ehrenamtliche Arbeit auf unterschiedlichsten Ebenen gedacht. Es wird aber auch Arbeit geben, die noch nicht einmal durch gegenseitige Obligation aufgewogen wird, und sie wird ebenfalls getan. Es sind Tätigkeiten, die alle Merkmale der Arbeit tragen und doch keine Erwerbs-, Schatten- oder ehrenamtliche Arbeit darstellen - es sind Tätigkeiten aus einer inneren Haltung heraus, sei dies Zuwendung, Liebe, Nächstenliebe, Solidarität, Mitleid. Und diese Arbeit wird getan - nach wie vor, auch trotz Pflegeversicherung. Und es wird Arbeit geben, die nicht mehr getan werden wird unter den alten Bedingungen, beispielsweise Hausfrauenarbeit, die sozialgeschichtlich gesehen bis vor kurzem lediglich mit der Sozialabsicherungsfunktion einer Ehe vergolten wurde. Sie wird Geld kosten und manches andere auch.
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Kommen wir zum letzten Begriff dieser Kopplung, der Identität. Auch diese Verbindung wird sich drastisch ändern. Sich durch seine eigene Arbeit zu definieren, ist selbst bei einem amerikanischen Job noch möglich - die moralische Beurteilung wird allerdings vom Inhalt des Jobs abgekoppelt. Egal was man tut, man tut es gut und richtig. Um sich selbst treu zu bleiben, ist es nach dieser Auffassung nicht nötig, sich an alle Jobs zu erinnern, sondern nur daran, daß man diese alle gut hinter sich gebracht hat. Da dies aber recht abstrakt ist, stellt man in Gesprächen mit amerikanischen Kollegen immer wieder fest, daß die Identitätsfindung meist doch nicht über die Arbeit, sondern über persönliche Beziehung, Gefühle, Charaktere, vielleicht auch über Heldentaten, nicht aber über das „Werk" vermittelt wird. Dies löst möglicherweise langfristig die Grundlage für ein Berufsethos europäischen wie japanischen Zuschnitts auf - dort ist es ja bekanntlich die Zugehörigkeit zu einer Firma, die Identität stiftet. Die Erbringung der eigenen Arbeitsleistung im Netz - um dieses Wort als abstrakte Bezeichnung für enträumlichtes und zeitungebundenes Arbeiten zu gebrauchen - wird diese Auflösungstendenz weltweit verstärken. Die Anonymisierung läßt den Urheber hinter sein Arbeitsergebnis zurücktreten, ein Schutz des Gebrauches oder vor Mißbrauch durch die Nichtadressaten eines Arbeitsergebnisses ist erst in Entwicklung (es sei an das sogenannte Signatar-Gesetz erinnert). Das geistige Eigentum, durch eigene Arbeit erworben oder erzeugt, findet im Augenblick lediglich einen moralischen, aber keinen wirkungsvollen rechtlichen Schutz mehr. Die Konsequenzen für die Arbeit, die immer mehr abstrakte Produkte hervorbringt,35 und ihre identitätsstiftende Möglichkeit liegen klar auf der Hand. Die Suche nach Identität verlagert sich aus dem Arbeitsprozeß in die Freizeit, den Konsum und in alternative Sinnangebote - Esoterikszene, Extremsportarten, Drogen und Fundamentalismus, um nur einige zu nennen.36
3. Wissen für die Arbeit 3.1 Wissen und Information Die Unterscheidung von einer Informationsgesellschaft, über die man schon lange, seit der „Informatisierung der Gesellschaft"37, geredet hat, gegenüber einer Wissensgesellschaft erfordert auch eine Unterscheidung von Information und Wissen. In der Systemtheorie, die 35 Vgl. auch die Formen der Arbeit bei Kambartel (267-298 in diesem Band), die sich auf Problemlösungsprozesse beziehen wie wissenschaftliche Forschung, Literatur, Softwareerstellung, Entscheidungs- und Abwägetätigkeit, Bildung etc. 36 Die Entkopplung von Arbeit und Identität ist vielleicht doch nicht so bedauerlich, wie sie erscheinen mag. Lebt man, um zu arbeiten, oder arbeitet man, um zu leben? Vielleicht sollte man Lafargues Droit ä la Paresse (dt.: Recht auf Faulheit) noch einmal lesen - der Autor war Schwiegervater von Karl Marx! Hinter dieser Empfehlung steckte die damals plausible Einsicht, daß Arbeit schneller vermehrbar als Geld sei. Dies gilt für die Verteilungsgerechtigkeit bei der Erwerbsarbeit aber schon lange nicht mehr, und diese Gerechtigkeit ist so vermutlich auch gar nicht herstellbar. 37 So der Titel des Berichtes an den französischen Staatspräsidenten von Mine/Nora 1979.
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sich gegenüber der Informatik doch einen gewissen theoretischen Kern bewahrt hat, ist diese Unterscheidung eingebettet in eine Differenzierung zwischen Prozessen, die beobachtet werden können, den Signalen, den Zeichen (oder Symbolen), den Daten, der Information und dem Wissen. Diese Unterscheidung habe ich anderswo ausfuhrlich dargestellt38 und beschränke mich daher an dieser Stelle auf die Unterscheidung von Information und Wissen. Information ist das, was bei Kommunikation ausgetauscht wird. Der pragmatische Informationsbegriff, wie er nach 1974 entwickelt wurde,39 besagt, daß Information, die verstanden wird, etwas bewirkt. Systemtheoretisch ist dies im Empfanger ein „Lernprozeß", die Bedeutung der verstandenen Information macht sich fest an den Änderungen des Verhaltens oder der Struktur im Empfänger. Daher muß der Empfänger zum Sender werden, sonst kann man, von einem operativen Standpunkt, nicht feststellen, ob die empfangene Information „verstanden" worden ist oder nicht.40 Aus der zeitlichen wie räumlichen Änderung von beobachtbaren Größen41 - dies können physikalische Größen sein (müssen aber nicht) - entnehmen wir, sofern es eine entsprechende Meßvorschrift gibt, die bereits ein Modell des zu beobachtenden Prozesses beinhaltet, Signale wie beispielsweise Zeitreihen. Die Analyse solcher Zeitreihen gestattet es, beispielsweise durch Mustererkennungsprogramme, Zeichen zu isolieren, die einen Verweisungscharakter haben. Auch dies setzt bereits ein Modell voraus, das nicht identisch mit oder ableitbar aus dem vorigen Modell des zu beobachtenden Prozesses ist. Ähnliches kann man für den Übergang von Zeichen zu Daten sagen: Daten bestehen aus formatierten, d. h. arrangierten Zeichen, die Formatierung ist für spätere Verarbeitungszwecke in datenmanipulierenden (man sagt datenverarbeitenden) Systemen erforderlich und ihre Bedeutung muß während der Verarbeitung stabil bleiben, sonst ist das Ergebnis nicht interpretierbar. Den Zusammenhalt zwischen der Bedeutung der Formatierung und des Ergebnisses nennt man semantische Hülle. Diese semantische Hülle ist auch bei der Entstehung von Information aus Daten erforderlich: Die Veränderungen, die rezipierte Information im Empfänger hervorruft, sind nur sinnvoll interpretierbar, wenn die semantische Hülle die Bedeutung der Formatierung der Information (als Daten oder Zeichenreihe) mit den Bedeutungen, die die Veränderungen im Empfänger haben, vermittelt. Es geht also nicht nur darum, daß Information verstanden wurde, sondern auch darum, wie sie verstanden wurde. Hierfür ist bekanntlich der nachrichtentheoretische Informationsbegriff, die verwirrenderweise so genannte Shannon-Entropie, als theoretische Grundlage nicht mehr ausreichend. Schon aus der Reihung Signale - Zeichen - Daten - Information wird ersichtlich, daß Information, die verstanden wird, nur in einem bereits bestehenden Modell verstanden wird, 38 Vgl. Komwachs 1999a und 2000. 39 Ausgangspunkt waren die Arbeit von E. U. von Weizsäcker 1974, zur späteren Ausgestaltung der Theorie vgl. Kornwachs 1988 und 1996. 40 Dies ist ganz elementar auf der deskriptiven Ebene der analytischen Systemtheorie zu sehen. Dies sei bemerkt, um diese naturwissenschaftlich-mathematisch orientierte Systemtheorie gegenüber den speziellen Systemtheorien in der Soziologie zu unterscheiden. 41 Diese können durch Variable repräsentiert werden, deren Werte sowohl qualitativ als auch quantitativ sein können.
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das dieser Information vorgängig sein muß - wir können dies auch das Vorwissen nennen. Da empfangene, also verstandene Information die Basis ihrer eigenen Quantisierung verändert, was man leicht daran erkennt, daß Erwartungen und damit Wahrscheinlichkeitsverteilungen verändert werden, die auf dem Vorwissen des Empfangers basieren, verändert sie also auch das Vorwissen. Pragmatische Information, die wirkt und verstanden wird, bemißt sich nach zwei Komponenten: der Erstmaligkeit und der Bestätigung. Beide Begriffe sind komplementär zueinander, wie eine formale Analyse zeigt.42 Wir können Wissen in diesem Raster als das verstehen, was verstandene Information in einem kognitiven System erzeugt. Damit ist auch eine Unterscheidung gegeben, die sich auf die gesellschaftliche Bestimmung von Informations- und Wissensgesellschaft auswirkt: Information ist das, was kommuniziert wird, Wissen das, was durch die kommunizierte Information entsteht. Wir verwandeln in der Kommunikation Wissen in weitergebbare Information, die beim Empfänger wieder zu einem Wissen wird, das mit dem ursprünglichen Wissen wegen der Individualität der Vorbedingungen und Situiertheit des Empfängers nie identisch, aber - so die Hoffnung der Bemühungen - ähnlich sein wird. Schon aus dieser vordergründigen Analyse ergibt sich, daß höchstens Information ein dem Austausch unterworfenes Gut, also Ware werden kann, nicht aber das Wissen. Formal gesprochen ist nun allerdings das Rezipieren einer, sagen wir albernen oder abgeschmackten Fernsehsendung ebenso ein Verstehen von Information wie das Durcharbeiten eines mathematischen Textes oder das Hören eines philosophischen Vortrages. Der sich durch die Begriffsgeschichte durchziehende emphatische Charakter des Wissensbegriffs ist damit noch nicht verständlich - Piaton sprach von Wissen als einer wahren, gerechtfertigten Meinung, aber wie dieses Wissen zustande kommt, ist schon in Piatons Dialog Theaitetos hoch qualifiziert umstritten, und die Frage wird letztlich auch nicht gelöst.43 Heidegger hat in seiner Theaitetos-Interpretation einen entscheidenden Schritt getan und das Wissen, das aus dem Erkenntnisakte folgt, als Wissen um eine Sache und wie mit ihr umzugehen sei, gedeutet - jemand weiß sich zu benehmen, er weiß um ..., er weiß Bescheid.44 In diese Richtung scheint mir auch die Aussage zu gehen, wonach Wissen Teilhabe sei; Teilhabe an einem Sachverhalt, den dieses Wissen repräsentiere, aber nicht im Sinne der Teilhabe an einer diesem Sachverhalt als Urbild zugrundeliegenden platonischen Idee, sondern als prozessuale Teilhabe der Wissenden, die Auskunft geben, geeignete Handlungen durchfuhren und Wissen diesbezüglich weiterentwickeln können.45 Repräsentanten dieses Wissens können z. B. Berufsgruppen sein, die die Kriterien für akzeptierbares oder zugelassenes Wissen definieren - man kann auch die berufsständischen Strategien unter diesem Gesichtspunkt sehen.
42 Vgl. Weizsäcker 1974, Kornwachs 1988. 43 Wissen als wahre gerechtfertigte Meinung; vgl. Piaton, Theaitetos, 200d-201c. 44 Vgl. Heidegger 1988, 149 ff. Eine gewisse Nähe zu N. Stehrs Wissensdefinition als Handlungsvermögen liegt auf der Hand; vgl. N. Stehrs Beitrag in diesem Band, 92-102. 45 Vgl. Böhme 1999.
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Man sagt gerne, daß die Sophisten als erste Wissen als etwas Nützliches angeboten hätten, genauer gesagt haben sie Informationen feilgeboten, wie man sich Regeln zu eigen machen kann, deren Befolgung einen gewissen Erfolg in Rhetorik und Rechtsstreitigkeiten versprach. Diese Ware setzten sie in Geld um, so wie dies heute auch ein Redenschreiber oder ein Unternehmensberater tut. Da ist nichts ehrenrühriges mehr dabei. Oder doch? Wozu dient Wissen, was ist sein Nutzen? Kann man danach fuglich fragen? Die Nützlichkeit und den Wert von Information kann man pragmatisch als die Differenz zwischen der Effektivität einer Problemlösung mit und ohne Verfügbarkeit der in Frage stehenden Information (normiert durch die Effektivität ohne Information) in gewisser Weise messen. Das setzt aber eine sehr restriktive Definition dessen voraus, was das Problem ist, zu dessen Lösung man eine Information gebraucht hätte. Die Abgrenzung von wahrem Wissen im Sinne Piatons (als einer gerechtfertigten Meinung über einen Sachverhalt, die nicht Glaube, bloße Meinung, Auffassung oder Wahrnehmung ist) gegenüber einem funktionalisierbarem oder instrumentalisierbarem Wissen wie Weltanschauung, Ideologie, Anwendung oder Rhetorik verdanken wir der Wissenschaft.46 Dieses wahre Wissen ist kommunizierbar, z. B. als wissenschaftliche Information, aufgrund derer man selbst nachprüfen kann, was es mit der Behauptung auf sich hat. Sie muß explizierbar und nachvollziehbar sein, ihr Geltungsanspruch ist in der Regel durch die Methodik der Entstehung des Wissens, zu dem diese Information führt, zunächst einmal höher als derjenige des Alltagswissens, aber sie muß sich, als immer zu vorläufigem Wissen führend, unter Kritik und Widerlegungsversuchen bewähren. Wissen, d. h. was man weiß, expliziert sich dann in Aussagen, die man mit guten Gründen behaupten kann47 - diese stellen ebenfalls eine verstehbare Information dar. Wissen - auch Alltagswissen - setzt also geglückte Kommunikationsprozesse voraus und diese bestehen aus Informationsprozessen. Die technische Verstärkung dieser Kommunikationsprozesse, ihre Ersetzung von der oralen, direkten persönlichen Kommunikation über die Schrift bis hin zur Kommunikation über vermittelnde organistorisch-technische Großsysteme, die wir Medien nennen (zeitliche wie auch räumliche Distanzen überbrückend), hat zu Formen der Kommunikation geführt, bei denen die bisherigen Bestimmungen von Kommunikation und Information zu versagen scheinen. Gleichwohl erzeugte das Nachdenken über die neuen Kommunikationsformen Ergebnisse, die sich auch schon bei alten Formen der Kommunikation und Medialität, der technischen Unterstützung unserer Wissens- und Informationsbemühungen finden und bestätigen lassen - die neue Technologie und die neuen Möglichkeiten haben uns die Augen dafür geöffnet, was Kommunikation und Information ist und, jenseits aller technischen Beschleunigung, wohl schon immer war.
46 Nach Böhme 1999. 47 Böhme 1999.
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3.2 Wissen und Arbeiten Wie wirkt sich nun das, was wir vermöge neuer Phänomenologien unseres Umgangs mit Wissen über die Natur der Information, der Kommunikation und des Wissen erkennen können, auf die oben skizzierte Veränderung des Arbeitsbegriffs und die Gestaltung der Arbeitswelt aus? Wir unterscheiden in der klassischen Arbeitswissenschaft zwischen dem Arbeitsgegenstand (was bearbeitet werden muß), den Arbeitsmitteln (Geräten, Instrumenten, Handwerkszeug), der Arbeitsaufgabe (antizipiertes Ergebnis, das angestrebt wird, Ziel, Pflichtenheft), dem Arbeitsinhalt sowie dem Arbeitsergebnis und dem Arbeitsaufwand. Um eine gewisse Arbeitsaufgabe durchführen zu können, ist ein bestimmtes Können erforderlich - wir nennen es Geschicklichkeit (in bezug auf einmalige Verrichtungen) und Fertigkeiten (im Hinblick auf repetitive Tätigkeiten) sowie Kompetenz. Diese Kompetenz erwirbt sich der Bearbeiter einer Arbeitsaufgabe durch eine Aus- und Weiterbildung sowie durch das, was man Erfahrung nennt, mit einem Wort: Wissen. In dieser Betrachtungsweise können wir Wissen als ein Mittel zur Arbeit ansehen, sozusagen als ein Instrument. Wissen spielt dann in einem praktischen Syllogismus die Rolle des Mittelbegriffs in formaler wie in materialer Weise. Die Rolle des Wissens bei der Arbeit ist aber nicht auf das instrumentale Wissen im Sinne z. B. einer technologischen Regel wie den pragmatischen oder praktischen Syllogismus beschränkt.48 Die Zielgerichtetheit der Arbeit, die Antizipation des Ergebnisses, worauf schon Karl Marx in seiner berühmten Unterscheidung zwischen dem Baumeister und der Spinne hingewiesen hat,49 setzt das Wissen um das Ziel voraus. Jede Arbeitsaufgabe wird vom einem bewußt arbeitenden Menschen zunächst in gewisser Weise gut oder weniger gut modelliert, d. h. das Wissen um das antizipierte Ziel wird mit dem Wissen um die Durchfuhrung, also dem instrumentalen Wissen in Anschlag gebracht. Daraus resultiert eine bestimmte Einschätzung der Arbeitsaufgabe, ihrer Bewältigung und ihre Steuerung bei der Durchführung, aber auch bei der Feststellung eines Mangels an Wissen, diesen durch Anforderung oder Besorgung (Beschaffung) von Informationen zu beheben. Gleichwohl mag strittig sein, in welcher Form ein solches Wissen vorliegt. Die Marxsche Unterscheidung zwischen instinktivem Plan des Spinnennetzes und dem instinktiven Gespür eines Handwerkers mag gar nicht so scharf sein, wie sich das noch in den 50er Jahren, der beginnenden Marx-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg, anhörte. Marx setzte beim Plan des Baumeisters ein Bewußtsein, genauer ein Selbstbewußtsein voraus, das er dem Tier absprach. Die Antizipationsfähigkeit des Ergebnisses ist ein Anzeichen für ein solches Selbstbewußtsein - ohne dieses ist eine Tätigkeit, zum Beispiel der Bau eines Netzes durch die Spinne, keine Arbeit. Die schiere Notwendigkeit und formale Ziel-MittelRelation reicht also für die Charakterisierung von Arbeit nicht aus. Das Wissen des selbstbewußten Subjekts muß bei der Arbeit konstitutiv hinzutreten.
48 Vgl. Kornwachs 2000b; in Vorbereitung. 49 Vgl. Marx 1966a, 193.
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Und das scheint nun ein wesentliches Bestimmungsmerkmal beim Übergang von einer Arbeitsgesellschaft, die ja immer auch Arbeitsgesellschaft bleibt, zur Wissensgesellschaft zu sein: Neben der doppelten Konnotation von Teilhabe bei Wissen und Arbeit wird nun eines der konstitutiven Elemente der Arbeit, nämlich das Wissen des selbstbewußten Subjekts um Ziel, Mittel, Adäquatheit der Mittel und zeitlichen Horizont wie um die Einbettung des Arbeitsaktes in das Geschehensgefüge und der politische Ökonomie der Gesellschaft mit ihrem Leistungsaustausch (wissen, was die Arbeit wert ist), zur alles dominierenden Größe. Noch in der reflexiven Selbstverbesserung der Arbeitsbedingungen (bis hin zur Aufhebung von Arbeit durch Arbeit) wird das Wissen zur Arbeit selbst Gegenstand der Arbeit (z. B. in der Ergonomie, der Humanisierung der Arbeit etc., aber auch in der Philosophie). Die Jagd um das know how, die Wirtschafts- und Industriespionage, die jahrelange Entwicklungszeiten verkürzen hilft, der steigende Zeitdruck bei Forschung und Entwicklung und die damit verbundenen Rationalisierungen dieser Prozesse z. B. durch die Methoden des simultaneous engineering zeigen, daß Wissen zum Arbeitsgegenstand selbst, und nicht nur zur Voraussetzung von Arbeit geworden ist. Das Erzeugen von Wissen in anderen Arbeitssubjekten durch Bereitstellen, Beschaffen und Erzeugen von Information (Informationshandlungen) wird ebenfalls Arbeitsinhalt, und zwar ein überwiegender und häufiger, und dies nicht nur wegen der Arbeitsteilung, die schon bei Piaton Kommunikation erforderte. Die Gegenständlichkeit der Arbeit wird verlagert auf die Widerständigkeit, welche Information für welches Wissen und welche Arbeitsaufgabe in einer großen komplexen und systemischen (bis hin zur internationalen) Arbeitsteiligkeit gebraucht wird. Die Form der Kommunikation zur Arbeitsteiligkeit selbst wird zum Wissen und Gegenstand weiterer Arbeit an der Verbesserung z. B. der Kommunikationsbedingungen. Die Organisation der Arbeitsteiligkeit, immer auch verbunden mit dem Moment der Macht, setzt Wissensorganisation voraus und die Frage ist, inwiefern das Wissen, das für arbeitsteilige Arbeitsaufgaben erforderlich ist, durch Teilung von Information und ihre jeweiligen Bedeutungen sowie die dazu definierbaren Kompetenzen, teilbar ist - man vergleiche hierzu einmal die von Journalisten als „faule Ausreden" beschimpften Argumente derer, die sich nicht vorstellen können, warum man in ihrem Beruf an leitender Stelle nicht auch Teilzeitarbeit bei Führungsjobs einfuhren könne. Man sieht wiederum, daß die arbeitswissenschaftlichen, mehr ingenieursorientierten Bestimmungen der Arbeit nicht ausreichen. Noch jede politische Ökonomie hat sich am Arbeitsbegriff versucht, und die nicht leere Durchschnittsmenge dieser Versuche ist in der Überzeugung zu sehen, daß Arbeit nur als Arbeit verstanden werden kann, wenn man ihre Einbettung in den gesellschaftlichen Leistungsaustausch als konstitutiv betrachtet, d. h., daß das Arbeitsergebnis Objekt von Austauschbeziehungen sein kann. Wir sagten, daß Information, nicht Wissen, zur Ware werden kann. In der Tat - die befürchtete Wissensbewirtschaftung findet nicht statt. Ihre Ökonomisierung ist in Wirklichkeit die Ökonomisierung des Informationsaustausches, und dieser war, vom Verkauf der Schriftrollen auf dem Markt in Athen bis hin zu den heutigen Raubkopien von Computerprogrammen schon immer Objekt ökonomischen Handelns und Strebens. Deshalb ist die Wissensgesellschaft als Informationsgesellschaft nichts Neues, höchstens
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eine technisch beschleunigte Phänomenologie dessen, was immer schon geschehen ist. Oder ist sie doch mehr? Werfen wir einen Blick auf die Bildung. Je mehr Wissen für die Ausübung einer Tätigkeit objektiv erforderlich ist oder gesellschaftlich durch Institutionen gefordert wurde, desto mehr Ansehen hatte eine solche Tätigkeit - je nach Zeitgeist und Kultur sind dies Ärzte, Wissenschaftler, Fachleute aller Art, Medien- und Kunstschaffende. Die Zertifizierung, die gerade in Deutschland für die Erlaubnis zum Ausüben einer Tätigkeit, die gesetzlich geregelt ist (und das sind die meisten der sogenannten geschützten Berufsbezeichnungen, vom Handwerk bis hin zu den Ärzten), notwendig ist, und welche daher die Aus- und Weiterbildung entsprechend rituell und administrativ eng führt, koppelt diese Tätigkeiten mit dem Nimbus der gesetzlichen Regelung, die auch eine selektive Funktion hat. Auch hier wird Bildung zur Ware, indem die erforderliche Information und die Verstehenszeiten entsprechend bewirtschaftet werden. Die Frage stellt sich, aber auch dies ist keine genuine Frage der Wissensgesellschaft, ob man Güter, auf die ein grundgesetzlicher Anspruch besteht, zu einem marktfähigen Gut machen darf. Dazu gehören die Ergebnisse z. B. der Bildung, d. h. der Zeit und der Verfügbarkeit von Information, die für die Ausübung von Berufen und damit zur sozialen Teilhabe, Eigentum und Identitätsbildung erforderlichen Arbeit erforderliche Voraussetzung ist. Denn nicht jede Bewirtschaftung, die ja auch zweifelsohne hier geschieht, ist koextensiv mit einer restlosen Überantwortung an ein marktliches Geschehen.
3.3 Rationalität Hier kann man vielleicht eine Denkfigur von U. Beck, die er in seinem Buch über Risikogesellschaft entwickelt hat, benutzen - zumindest als Ausgangspunkt einer Analogie. Unter dem Slogan: „Unsere Kinder erkranken nicht an Mittelwerten"50 weist er bei der Diskussion der wissenschaftlich bestimmten Grenzwerte und ihrer sozialen Akzeptanz auf die kategorialen Unterschiede zwischen wissenschaftlicher und sozialer Rationalität im Umgang mit Risiken hin (S. 82). Der Unterschied zwischen Experte und Laie wird in einer solchen Situation fundamental. Den Ursprung der Technik und Wissenschaftskritik ortet Beck nicht in der Irrationalität der Kritiker, sondern er findet sie im Versagen der wissenschaftlichtechnischen Rationalität angesichts wachsender Risiken und Zivilisationsgefahrdungen (S. 78). Die wissenschaftliche Rationalität zieht sich auf die Risikofeststellung zurück, wobei das, was man nicht feststellen könne, auch nicht existiere. Die soziale Rationalität, wie sie von Parteien, kritischen Wissenschaftlern oder Betroffenen entwickelt wird, habe hingegen eine Risikowahrnehmung entwickelt, die sich gegen die wissenschaftliche Rationalität immer mehr durchsetze - schließlich habe die wissenschaftliche Rationalität als Statthalter der Verseuchung den historischen Kredit auf Rationalität verspielt.
50 Vgl. Beck 1986,81.
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Diese Trennung in wissenschaftliche und soziale Rationalität findet sich in analoger Weise in der derzeitigen Arbeitsgesellschaft wieder. Das Versagen der Rationalität betriebswirtschaftlicher Prinzipien und volkswirtschaftlicher Theorien angesichts der immer noch bestehenden Dichotomie von Ökologie und Ökonomie, aber vor allem angesichts der strukturellen Arbeitslosigkeit und der dabei neue Armut erzeugenden Aufhebungsversuche (z. B. durch das Billiglohnmodell) in den industrialisierten Ländern, wird Ausgangspunkt einer heftiger werdenden Kritik an der gegenwärtigen Form der Ökonomie. Der sozialen Rationalität, der sich eher Sozialpolitiker, teilweise auch schon die Gewerkschaften, primär aber die Betroffenen von Arbeitslosigkeit selbst verpflichtet fühlen, wird eher zugetraut, das Auseinanderfallen der Arbeitsgesellschaft in eine ZweidrittelEindrittelgesellschaft51 zu analysieren und Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Weder volkswirtschaftlichen und erst recht nicht betriebswirtschaftlichen Theorien ist es bisher meines Wissens gelungen, den Wert von Information und Wissen (im Sinne einer „Informationskostenrechnung" - immer wieder emphatisch als weiteren oder entscheidenden Produktionsfaktor neben Kapital, Arbeit und Boden eingeführt) befriedigend und operationalisierbar zu quantifizieren, noch eine befriedigende Theorie der Organisation zu entwickeln.52 Dafür kann die soziale Rationalität und ihr am ehesten sichtbarer Exponent, der gesunde Menschenverstand der Betroffenen, offensichtlich schnell und wirkungsvoll zwischen wertvoller und wertloser Information unterscheiden. Der Kontrast zwischen einer Binnenrationalität, die zur Optimierung des ökonomischen Handelns im jeweils eigenen Bereich rät und einer sozialen Rationalität, die zunehmend auf Gerechtigkeitslücken, auf Schieflagen der Verteilungsgerechtigkeit im globalen Maßstab, auf die Gefährdung der Lebensgrundlagen durch Bevölkerungsentwicklung, Umweltzerstörung und bewaffnete Konflikte aufmerksam wird, gerät dann auch zu einem moralischen Problem, das sich in der Frage äußert, wofür man arbeiten solle und welche Ziele geboten erscheinen.
3.4 Zur ethischen Dimension Das Gerede von der Wissensgesellschaft beinhaltet zwei Momente, die man analytisch trennen und als Motivation einmal unterstellen kann. Zum einen ist der Ausdruck Wissensgesellschaft ein deskriptiver Begriff, mit dem Gesellschaftswissenschaftler, Politologen, Betriebs- und Volkswirtschaftler versuchen, die Änderungen zu erfassen, die sich in der Ar-
51 Vielleicht später die sogenannte 80:20-Gesellschaft, wie vielfach prognostiziert, vgl. Martin/Schumann 1996. 52 Allein schon der Versuch, ein Gemeinwesen wie die Bundesrepublik Deutschland den Kriterien ökonomischer und betriebswirtschaftlicher Beschreibungskategorien zu unterwerfen und sie - probehalber als Aktiengesellschaft zu beschreiben und damit zu bilanzieren, zeigt die kategoriale Verwirrung, die in der öffentlichen Diskussion und der wissenschaftlichen Rationalität auf diesem Gebiet herrscht; vgl. Ederer/Schuller 1999.
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beitswelt wie in unserer Lebenswelt überhaupt abspielen. Diese Deskriptionsversuche geraten wegen des Druckes, den die Modalitäten ihrer Publizität ausüben, zuweilen flach und plakativ, d. h. sie werden gerne auf ein Schlagwort reduziert. Der Name ist aber auch Programm. Er signalisiert, daß mit der Veränderung gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse sich auch die Anforderungen an die Mitglieder der Gesellschaft ändern. Der Begriff wird zur Chiffre eines Katalogs von neuen Normen und gewünschten moralischen Vorstellungen in der künftigen Arbeitswelt.53 Nun ist ja in der vorhergehenden Analyse der Kopplung des Arbeitsbegriffs mit Eigentum, sozialer Teilhabe und Identität und der Gefährdung dieser Kopplungen ein Bereich erschließbar, der normativen Bestimmungen zugänglich ist. Man mag dies als eine ReMoralisierung des Arbeitsbegriffs auffassen, allerdings unter einem ganz anderen Vorzeichen als die protestantische Arbeitsethik dies tut: Dort folgte der Einsicht in das, was man tun sollte, die rastlose Tätigkeit, um es in der Tat zu tun. Das Zeichen der Auserwähltheit war die Möglichkeit zur Tätigkeit dessen, was getan werden mußte. Diese Tätigkeit war Arbeit, der Pflichtcharakter war immer unverkennbar, Arbeiten war sittliche Pflicht.54 Die Moralisierung des Arbeitsbegriffs hat hier jedoch andere begriffliche Grundlagen: Wenn wir der Auffassung sind, daß es sittlich geboten sei, Arbeit so zu gestalten, daß sie den Erwerb von Eigentum als ein Grundrecht ermöglichen soll, daß sie den einzelnen nicht von den sozialen und wirtschaftlichen Verkehrsformen und dem Leistungsaustausch unverschuldet ausschließen dürfe, um ihm die soziale Teilhabe ebenfalls als Grundrecht zu gewähren und es ein Recht eines jeden sei, sich durch eine selbstbestimmte Organisationsform der Arbeit eine Anerkennung, in welcher Form auch immer, zu ermöglichen, um sich damit eine gewisse Identität zu verschaffen, dann haben wir auch die Ziele und Inhalte der Arbeit danach zu befragen, ob sie dieser eingestandenen Sittlichkeit förderlich sind oder nicht. Dann wird die Gestaltung von Arbeit in diesem Sinne zur Pflicht, und zwar nicht nur hinsichtlich der Gestaltung eines individuellen Arbeitsverhältnisses, sondern der Einbettung der Arbeit in eine politische Ökonomie, die dann mit solchen Anforderungen zu konfrontieren wäre. Pflicht ist die Anforderung und Aufforderung zur Tätigkeit aufgrund einer Einsicht in eine moralische Notwendigkeit. Jede Verantwortungsethik hat in ihrem konsequentialistischen Teil zumindest eine ableitbare Pflicht, die aus einer rationalen Analyse der zu verantwortenden Situation rührt. Dieser konsequentialistische Teil darf aber nun nicht deduktiv verstanden werden, diese Kopplung ist eher pragmatisch denn logisch zwingend. Andernfalls ergäbe dies eine völlige Aufgabe des Moments der Freiheit, welches ja auch jeder nicht entfremdeten Arbeit zu eigen ist. Die Moralisierung der Arbeit kann deshalb in einer Wissensgesellschaft nicht dahingehend verstanden werden, daß sich aus dem Wissen, zum Beispiel um das Elend der Welt, zwangsläufig sittlich zu fordernde Arbeitsinhalte ergeben
53 Im Hinblick auf den Begriff der Dienstleistung wird dies ausführlicher diskutiert in Kornwachs 1999b. 54 Ganz allgemein wird in der jüdisch-christlichen Tradition Arbeit als selbstverständliche Aufgabe angesehen. Vgl. beispielsweise Sprüche 6, 6-11 oder im Rahmen der Katholischen Soziallehre Leo XIII. 1975, Abschn. 7.
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müßten, nach dem Slogan, die Menschen wüßten je schon, was sie eigentlich zu tun hätten anstatt Gartenzwerge und Unterhaltungselektronik, Luxusgüter und schwachsinnige Fernsehsendungen zu produzieren. Wenn wir die Frage stellen, wie und was wir arbeiten sollen, dann scheint dies ein akademisches Problem zu sein, solange nicht Arbeit für alle da ist. Die Arbeitslosigkeit wird ja durch den plakatierten Übergang vom Begriff der Arbeits- in die Wissensgesellschaft nicht hinwegtransformiert - im Gegenteil, die Arbeitslosengesellschaft hat eine Wissenlosigkeit zur Folge, dem Verlust an sozialer Teilhabe folgt der Verlust der Teilhabe am Wissen auf dem Fuße. Die Hilflosigkeit der Ansätze, den ständig ansteigenden Grundstock an Arbeitslosigkeit in den Industrie- und Schwellenländern zu reduzieren, deutet darauf hin, daß wir über keine befriedigende Theorie der Arbeit verfügen, welche die bisher dominante Schlüsselrolle der Marxschen Analyse der menschlichen Arbeit - nämlich Reproduktion der menschlichen Gattung, schiere Notwendigkeit, Widerständigkeit der Natur, die angeeignet werden muß, das Leid und die Leiblichkeit des Arbeiters, die Bestimmung durch Produktions- und Verkehrsformen, also durch gesellschaftliche Austauschbeziehungen von Leistungen - überwinden und ersetzen könnte. Die propagierten Ansätze wie Wirtschaftswachstum, Arbeitszeitverkürzung, Korrekturen an den Deregulierungen des Arbeitsmarktes, Staatsinterventionismus, Ankurbelung des privaten Konsums und dergleichen gehen alle davon aus, daß Arbeit als Produkt aus Arbeitszeit und Leistung (als Ergebnis einer qualifizierten Tätigkeit) Mengencharakter hat, beliebig teilbar ist und daher einer Zuteilungs- und Verteilungsgerechtigkeit unterworfen werden kann. Unter diesem Aspekt ist auch die immer wieder auftretende Debatte um das Recht auf Arbeit zu sehen. Freilich ist ein solches Recht, selbst wenn man es bejahte - und welcher Arbeitslose würde es nicht bejahen - außer in einer staatlich dominierten Planwirtschaft rechtspraktisch nicht installierbar - der Staat beschränkt sich daher in den entsprechenden Formulierungen in den Landesverfassungen auf eine Bemühenszusage, diesem Recht jedes einzelnen, „seinen Lebensunterhalt durch freigewählte Arbeit zu verdienen", durch Schaffung entsprechender politischer Rahmenbedingungen eine Realisierungsmöglichkeit zu verschaffen. 55 Der Charakter der Arbeit hat sich aber, wie wir oben gesehen haben, doch erheblich verändert. Arbeit ist nicht mehr, wie bei der herkömmlichen Erwerbsarbeit, einteilbar in teilbare und nicht teilbare Arbeit, weil die dazugehörigen Kompetenzen und Qualifikationen nicht mehr teilbar sind. Böhme hat darauf hingewiesen, daß bei steigender Arbeitsproduktivität und sinkender gesellschaftlich notwendiger Gesamtarbeit eine Integration der Gesellschaft über Arbeit nicht mehr möglich sei.56 Arbeit verliert, wenn man das so paraphrasieren darf, die Fähigkeit, Bindestoff für Gemeinschaften zu sein. Das Leid der Arbeitslosigkeit ist zunächst ein Leid im Nahhorizont und da reicht die Forderung „Global denken, lokal arbeiten, global kommunizieren" nicht sehr weit.
55 Z. B. die Verfassung des Landes Brandenburg vom 22.5.1992; vgl. Artikel 48 (Arbeit). 56 Vgl. Böhme 1999.
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Es wird klar, daß Geldströme nicht gleich Arbeitsströme sind, Wachstum und wirtschaftlicher Wohlstand sind keine Garantie für mehr Arbeitsplätze. Deshalb kann eine Politik auch nicht als ultima ratio ihres Handelns die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen propagieren, wenn sie - wie keiner von uns - weder über das Wissen noch über die Möglichkeiten und Instrumente verfugt, solches zu bewirken. Die wissenschaftliche Rationalität, sprich die ökonomischen Theoretiker, sind sich nicht einmal über die Ursache der Arbeitslosigkeit einig, und es gilt als politisch unkorrekt, zu vermuten und dafür auch noch Statistiken zu bemühen, daß es eine Korrelation von Arbeitslosenquote einer Volkswirtschaft und dem Niveau der Arbeitslosenunterstützung gäbe.57 Auszuschließen ist das freilich nicht. Der unbezweifelbaren moralischen Dimension der grundrechtlichen Bestimmungen der Arbeitsverhältnisse, die ja auch ein aufgeklärtes Menschenbild widerspiegeln, steht also die ethische Frage gegenüber, wie das Recht auf Eigentum, soziale Teilhabe, Identität und damit letztlich Anerkennung in einem sehr weiten, geradezu Hegeischen Sinne denn in einer sich nicht mehr als Arbeitsgesellschaft verstehen wollenden Wissensgesellschaft durch ein gesellschaftliches und politisches Handlungs- und Gestaltungsgebot verwirklicht werden kann. Man kann ketzerisch die Frage stellen: Muß es denn die Arbeit sein, die all dies ermöglicht? Aus der Abwehr solcher Utopien wie der 80:20-Gesellschaft zeigt sich die Moralität der sozialen Rationalität. Der Mensch lebt nicht vom Brot und den Spielen allein, sein Wunsch nach Anerkennung als Subjekt, die ihn nach Hegelscher Überzeugung erst zum Subjekt macht, ist nicht durch Menschenhaltung, sondern nur durch Freiheit und Selbstbewährung am frei gewählten Widerständigen zu befriedigen - die Arbeit - selbst informelle Arbeit und Eigenarbeit - ist durch nichts zu ersetzen. Die Arbeitsmoral mag sich auf die Forderung nach einer Kapitalmoral, diese wiederum in der Wissensgesellschaft nach einer Ethik der Wissenshandlungen ausdehnen. Loslösen läßt sich die Arbeit deshalb aus dem, was wir Gesellschaft nennen, genauso wenig, wie wir sie durch Unterhaltung, automatisierte Versorgung und Muße substituieren können. Die größte Humanisierung der Arbeit sei ihre Abschaffung, hat Günter Ropohl einmal gefordert.58 Er hätte hinzufügen müssen, in welchen sonstigen Grundformen sozialer und ökonomischer Interaktion sich Anerkennung ins Werk setzen läßt. Wenn die Antwort lautet: die Muße, dann ist anerkannte musische Tätigkeit bereits zumindest Eigenarbeit, materiale Praxis, wie Kambartel das ausdifferenziert hat.59 Anerkennung hat immer ein öffentliches Moment, denn wechselseitige mutuelle Anerkennung in einer kleinen Gruppe genügt auf die Dauer wohl nicht. Deswegen kann es - auf Dauer und generalisierbar - auch keine getrennte öffentliche, private und Arbeitsmoral und/oder Geschäftsmoral geben. Die Frage ist also nicht, wie wir von einer Arbeitsgesellschaft zu einer Wissensgesellschaft kommen - falls wir das überhaupt wollen und uns nicht von dem emphatischen Begriff des Wissens und dessen soziologisch-deskriptivem Mißbrauch blenden lassen - , sondern, ob wir das Wissen erarbeiten können, das wir brauchen, um - angesichts der gegen-
57 Giarini/Liedke 1998, 144 ff. 58 Vgl. Ropohl 1979. 59 Vgl. Kambartel 1998.
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wärtigen Randbedingungen - der Arbeit als der einzigen Möglichkeit der notwendigen Anerkennung der Subjekte als Subjekte, wieder die praktische, moralische und gesellschaftliche Dimension zu geben, die ein menschenwürdiges Leben fordern darf. Mit Aristoteles sei geschlossen: „Denn was lebt, ist immer in Arbeit".60
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60 Aristoteles: Nikomachische Ethik, VII. Buch, 1154 b l l , übers, von Lasson 1909, 166. Die Übersetzungen dieser Stelle differieren beträchtlich: „Denn das Sinnenwesen ist immer angestrengt ...", vgl. Rolfes/Bien 1995, 179; oder: „Denn Leben ist ständige Mühsal ...", vgl. Dirlmeier 1992, 210; oder: „Denn das Lebewesen müht sich stets ...", vgl. Gigon 1991, 278. Der Kontext ist, daß auch Hören und Sehen als Lebensaktivitäten mit Anstrengung und ggf. mit Schmerzen verbunden sind.
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Friedrich Kambartel
Arbeit und Wissen. Zur Politischen Ökonomie gegenwärtiger Entwicklungen* Der Titel dieses Kolloquiums enthält eine Behauptung, des Inhalts nämlich, daß in unseren Tagen zwei ökonomische Gesellschaftsformen einander ablösen. Damit verbinden sich weitere, diese Entwicklung näher bestimmende und ausdifferenzierende Behauptungen. So ist zum einen die populäre und die wissenschaftliche Literatur zu unserem Thema weitgehend von einem Vorurteil hervorgerufen oder beherrscht: daß nämlich die Produktion, oder die Produktivität, ökonomisch entwickelter Gesellschaften inzwischen immer weniger auf Arbeit, statt dessen vielmehr zunehmend auf Wissen beruht. Zum anderen erscheint es so, als verringere sich damit das gesellschaftlich notwendige oder das nachgefragte Arbeitsvolumen ständig; so daß der fortgeschrittenen Wissensgesellschaft, wie es immer wieder heißt, „die Arbeit ausgeht". Wir hätten dann eine nicht nur konjunkturell oder durch falsches staatliches (politisches) Handeln bestimmte, vielmehr eine säkulare, in der Struktur technisch und ökonomisch entwickelter Gesellschaften liegende Erklärung insbesondere für herrschende Arbeitslosigkeit. Der Sinn solcher Feststellungen ist im allgemeinen nicht unmittelbar ersichtlich. Wir müssen zunächst wissen, wie darin die vielfaltig verwendeten Worte „Arbeit" und „Wissen" zu verstehen sind, und wie ein solches Verständnis dann in die Kennzeichnung bestimmter Gesellschafts- oder Wirtschaftsformationen eingebunden sein soll. Ich werde mich daher mit Behauptungen der skizzierten Art zunächst nicht direkt befassen, vielmehr als erstes einen Versuch unternehmen, die begrifflichen Verhältnisse zu klären, in denen diese Urteile operieren. Eine solche scheinbar lediglich begriffsdeskriptive Darstellung läßt sich nicht normativ unschuldig halten. Das heißt: Wenn wir die Begriffe in einer bestimmten Weise geordnet haben, ergeben sich bestimmte normativ folgenreiche Feststellungen oder Diskussionslagen von selbst. Wir werden dann auch sehen, daß sich die Überschrift dieses Kolloquiums kaum rechtfertigen läßt. Tatsächlich durchlaufen zur Zeit nur die Formen menschlicher Arbeit eine tiefgreifende Veränderung. In anthropologischen Untersuchungen oder Verwendungen des Arbeitsbegriffes stellt sich die Arbeit häufig als das herstellende Handeln überhaupt dar, so wenn etwa Marx den Menschen dadurch kennzeichnet, daß dieser sein Leben durch Arbeit (re)produziert. - Oder wir
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Meine Überlegungen verdanken den Teilnehmern eines Seminars zu den Grundlagen der Politischen Ökonomie, ferner den Untersuchungen von Claus-Peter Pfeffer zu J. M. Keynes wesentliche Einsichten. - Auf Grund einer Krankheit zum Zeitpunkt der Manuskriptabgabe muß ich leider auf Anmerkungen mit den vorgesehenen Nachweisen verzichten.
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unterscheiden mit dem Ausdruck „Arbeit" zweckrationale Tätigkeiten von einer menschlichen Praxis, die, wie es mißverständlich heißt, ihren Zweck in sich selbst trägt. - Auch das alltägliche Verständnis, welches Arbeit in den Kontext von Mühe, schwieriger Praxis und dergleichen verweist, hilft uns in den mit dem Wort „Arbeit" artikulierten politischökonomischen Problemen unserer Zeit offensichtlich nicht weiter. Wenn von „Arbeitslosigkeit", „Arbeitsgesellschaft" usf. die Rede ist, oder davon, daß „der Gesellschaft die Arbeit ausgeht", hat das Wort „Arbeit" daher eine andere Bedeutung. Eine geeignete politisch-ökonomische Kategorie der Arbeit erhalten wir dann, wenn wir Arbeit als Produktion von Gütern und Leistungen verstehen, die Teil des gesellschaftlichen Leistungsaustausches sind. Ein derartiger Begriff der Arbeit ist nur auf arbeitsteilige Gesellschaften anwendbar; wie immer wir dabei die mehr oder weniger symmetrische Form beurteilen, die dieser Leistungsaustausch jeweils annehmen mag. Moderne so genannte Arbeitsgesellschaften sind von dieser Art; Arbeitsteilung gehört zu ihren Merkmalen, ergänzt allerdings durch ein weiteres sehr wesentliches Merkmal: Arbeitsgesellschaften sind zusätzlich dadurch begrifflich bestimmt, daß in ihnen gesellschaftliche Anerkennung weitgehend auf dem Beitrag beruht, den eine Person im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung leistet. Kurz: Gesellschaftliche Anerkennung vollzieht sich in Arbeitsgesellschaften weitgehend als Anerkennung von geleisteter gesellschaftlicher Arbeit. Daher eben ist auch Arbeitslosigkeit nicht nur ein ökonomisches Problem, nicht nur das Problem, für arbeitslose Personen eine materiale Lebensbasis auch ohne Arbeit zu garantieren. Wenn andererseits von „Wissensgesellschaft" die Rede ist (oder von wissensbasierter Produktion oder Produktivität), dann sind wir mit dem Wort „Wissen" in einer ähnlichen Situation wie bei dem Wort „Arbeit". Ein gleichsam epistemologisches Verständnis hilft uns hier nicht weiter. Das heißt: Eine Wissensgesellschaft kann nicht einfach definitionsgemäß eine Gesellschaft sein, deren Orientierung wesentlich auf begründete, darunter begründete wahre Urteile, gestützt ist. Hier wären dann nämlich das Gegenteil Gesellschaften, die auf (historische) Mythen, religiöse Gewißheiten oder Ideologien gegründet sind. Die begriffliche Situation (die politisch-ökonomische Verwendbarkeit des Begriffs „Wissensgesellschaft") wird nicht wesentlich besser, wenn wir hier eine Einschränkung auf das wissenschaftliche Wissen vornehmen. Wir erhalten auf diesem Wege keine politisch-ökonomischen Analysen dienliche Kategorie. Orientiert man sich an gegenwärtigen Untersuchungen zur so genannten Wissensgesellschaft, so wird dort etwa davon ausgegangen, daß das wissenschaftliche Wissen in der laufenden Phase ökonomischer Entwicklung zur wesentlichen Produktivkraft aufgestiegen ist. Die Wissensgesellschaft kann jedoch nicht lediglich als eine Gesellschaft verstanden werden, in der wissenschaftliche Arbeit und ihre Ergebnisse eine wesentliche und schließlich die entscheidende Grundlage gesellschaftlicher Produktion und Produktivität werden; wenn anders die Wissensgesellschaft eine neue Erscheinung auf der welthistorischen Bühne sein soll. Die Erhöhung der Produktivität ist bereits seit Beginn der Industriegesellschaft (zum Teil sogar vorher) auf praktisches und theoretisches Wissen und seine Entwicklung gegründet. Daß sie eine wissenschaftlich-technische Basis besitzt, Wissen in diesem Sinne eine
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besondere „Produktivkraft" wird, dies hat die Industriegesellschaft schon länger bestimmt. Mechanik, Elektrodynamik, Chemie, Ingenieurswissenschaften liefern zuhauf schon klassische Beispiele dieses Zusammenhanges. Die Biologie, die Mikroelektronik und die Computerwissenschaften haben diese Situation zunächst nur durch große neue Anwendungsfelder wissenschaftlichen Wissens erweitert. Wissenschaftliches wie technisch-praktisches Wissen ist in der Industrieentwicklung von Anfang in einem doppelten Sinn involviert: zum einen unmittelbar in der Konzeption und Herstellung bestimmter Produkte (so z. B. das Wissen über chemische Strukturen und Prozesse); zum anderen in der maschinellen Anlage der Produktion, in der Energieerzeugung sowie der Organisation der Arbeit. Wenn wir im ökonomischen Sinne von einer neuen Wissensgesellschaft sprechen wollen, so muß sich dies also in einem anderen Sinne auf die ökonomische Form entwickelter Gesellschaften beziehen. In der Tat bildet sich nun in der gesellschaftlichen Produktion seit einiger Zeit eine neue Situation heraus, angetrieben durch die Mikro-, demnächst Nanoelektronik und die damit zusammenhängenden neuen Möglichkeiten der Informationstechnik. Vergegenwärtigen wir uns dazu kurz die Ihnen im großen und ganzen vertraute Situation: Ein Merkmal der klassischen Industriearbeitsgesellschaft ist die Herstellung von Gebrauchsgegenständen oder Investitionsgütern in großer Stückzahl durch maschinengestützte menschliche Arbeit. Im Zusammenhang damit entwickelt sich ein rationeller, auf möglichst hohe Produktivität gerichteter Umgang mit der menschlichen Arbeit. Mit dem Ausdruck „Produktivität" bringen wir das Verhältnis von Aufwand oder Kosten einer Produktion zu ihren Ergebnissen zum Ausdruck. Produktivität kann in Quantitäten, z. B. Preis- und damit Geldquantitäten, für Aufwand und Ertrag gemessen - oder in qualitativen Urteilen über das zugrunde liegende Verhältnis ausgesagt werden. In bestimmten, in der bisherigen Industriegesellschaft dominanten Fällen stellt sich der Aufwand, bezogen auf die Einheitsgröße resultierender Produkte, im wesentlichen als gesellschaftliche Arbeitsleistung dar. Diese wiederum wird im allgemeinen über durch Lohnhöhen und Zeitgrößen vermittelte Geldwerte gemessen. Eine Produktivitätserhöhimg und in diesem Sinne sogenannter ökonomischer Fortschritt läßt sich dann auf verschiedenen (charakteristischen) Wegen erreichen: Eine Möglichkeit ist die Reorganisation der Arbeit, z. B. so, daß ihre Komplexität oder Diversität für den einzelnen Arbeiter herabgesetzt und damit etwa insgesamt eine größere Arbeitsgeschwindigkeit erzielt wird. Ein klassisches Beispiel ist hier der Übergang zur Fließbandarbeit. - Anders liegt der Fall der Substitution von einfacher Arbeit durch Maschinenbewegungen. Maschinelle Prozesse fungieren hier als erweitertes Werkzeug oder als Teil der Arbeitsbewegungen; bis hin zur (vollen) Automation, bei der sich die menschliche Tätigkeit auf das Überwachen, Warten usf. der Anlagen beschränkt. Durch die standardisierte und kostengünstige Herstellung ihrer Produkte hat die klassische Industriegesellschaft erst ermöglicht, was häufig „Massenkonsum" heißt. Der Massenkonsum wiederum hat ein Volumen klassischer Industriearbeit hervorgebracht, das für lange Zeit die Reduktion gesellschaftlicher Arbeit durch Rationalisierung ausgleichen konnte. Zugleich führten die Rationalisierungseffekte auch zur Erhöhung der Reallöhne und auf diese Weise zu einem Einkommen, das die finanzielle Basis des Massenkonsums ständig verbessert hat.
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Die Industriearbeitsgesellschaft ist insgesamt durch ein bestimmtes Verhältnis zur Arbeitszeit geprägt. Die in ihr hergestellten Produkte treten nicht nur im allgemeinen als Massenprodukte auf. Ihre massenweise Herstellung bewirkt darüber hinaus eine lineare Relation zwischen der Menge der hergestellten Güter und der eingesetzten Zeit darauf verwendeter Normalarbeit. Diese zeitliche Form wiederum ist die Grundlage dafür, den Wert und damit die Lohnkosten einer bestimmten Arbeit linear auf die mit dieser Arbeit verbrachte Zeit zu beziehen. Von diesem industriellen Kernfall aus hat sich der Zeitlohn oder Stundenlohn im übrigen auch auf Tätigkeiten ausgedehnt, die im wesentlichen durch Aufgaben und ihre Bewältigung definiert sind, ohne daß dafür wirklich ein Zeitdeputat oder Zeitlohnstandard normartig angebbar wären. Ein neuerliches Beispiel in Deutschland ist die Festlegung von genauen Zeitgrößen für bestimmte Pflegetätigkeiten und -handlungen im Rahmen von Kostenkalkülen und monetären Erstattungen. Der Form, welche die klassische Industriearbeit angenommen hat, stehen insbesondere Problemlösungsaufgaben und Tätigkeiten gegenüber, die sich auf komplexe, nicht ohne weiteres wiederholbare Situationen beziehen und etwa den kreativen (nicht mechanischen) Einsatz von Ausbildung und Erfahrung verlangen. Wissenschaftliche Forschung oder Softwareentwicklung sind von dieser anderen Art. Auch die Herstellung literarischer oder wissenschaftlicher Texte läßt sich im allgemeinen nicht nach dem Muster einer bestimmten Seitenzahl pro Stunde organisieren. Andere Beispiele sind Orientierungs-, Überlegungs-, Entscheidungs- und Beschlußtätigkeiten, in Kontexten mit einmaligen Elementen, oder Arbeit, die sich in anderer Weise wesentlich als ergebnisorientiertes Gespräch vollzieht. Bei Problemlösungsarbeit dieser Art kommt es im allgemeinen auf die Ergebnisse und ihr Niveau an, weniger auf die dazu nach bestimmten Maßstäben verbrachte Zeit. Entsprechend sind hier genaue Arbeitszeitvereinbarungen entweder überhaupt nicht gegeben oder werden häufig nicht besonders ernst genommen. Komplexe Problemlösungsarbeit liegt daher weitgehend quer zur zeitlichen Formung der klassischen Industriearbeit, wie sie sich in Arbeitszeitvereinbarungen, Arbeitszeitverkürzungsdiskussionen, Zeitlohnstrukturen und der Anknüpfung der sozialen Sicherungssysteme an geleistete Arbeitszeit ergibt. Die durch die Mikroelektronik und Informationstechnik herbeigeführte Revolution verändert die klassische industriell dominierte Arbeitsgesellschaft in mehrfacher Weise: Zum einen nimmt die zeitlich homogenisierbare Industriearbeit rasant weiter ab, indem komplexe Steuerungssysteme die Simulation menschlicher Arbeitsbewegungen und -reaktionen vorantreiben. Zum anderen erweitern die neuen Techniken die Möglichkeiten komplexer Problemlösung gewaltig. Diese Erweiterung läßt sich nun zudem gerade darauf richten, Steuerungstechniken zu erfinden und zu produzieren, mit denen klassische Industriearbeit maschinell ersetzbar wird: Es geht dabei vor allem darum, solche Industriearbeit zu substituieren, die bisher aus Kosten- oder Komplexitätsgründen nicht in mechanische oder elektrotechnische Makrooperationen überführbar und also als menschliche Arbeit verblieben war. Auch viele sogenannte Dienstleistungen sind bekanntlich von dieser Entwicklung betroffen. Schließlich übernehmen informationstechnisch hochgerüstete Maschinen (Systeme) zunehmend klassische Büro-, Finanz- und Organisationsdienstleistungen sowie etwa logistische Aufgaben im Transport- und Lagerhaltungswesen.
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Der Prozeß, dem wir in den entwickelten Gesellschaften beiwohnen, dürfte mittelfristig auf die Ablösung der klassischen Industriegesellschaft hinauslaufen. Damit wird die Rate ungelernter, angelernter und standardisierter gelernter Industriearbeit stark rückläufig. Eine wachsende ausgemusterte industrielle Reservearmee wird auch in Zeiten der Hochkonjunktur nur noch in begrenztem Umfang erneut einberufen. Parallel dazu wächst der Bedarf an komplexer Problemlösungsarbeit, welche die neuen Techniken zugleich als Mittel und als Entwicklungsprojekt erfährt. Bewegen wir uns damit von einer Arbeitsgesellschaft zu einer Wissensgesellschaft? - Offenbar ist der geschilderte Übergang eher so zu beschreiben, daß er von einer wissenschafts- und technikbasierten Industriearbeitsgesellschaft zu einer insofern postindustriellen und natürlich nicht weniger wissenschafts- und technikgestützten Gesellschaft fuhrt. Das entscheidende Merkmal der Arbeitsgesellschaft, daß sie den arbeitsteilig organisierten gesellschaftlichen Leistungsaustausch zugleich als eine Form ökonomisch ausgedrückter Anerkennung versteht, dieses Merkmal bleibt auch dort bestehen, wo wesentliche Teile der Arbeit neue komplexe, problemlösungsartige und wissensbasierte Formen annehmen. Dies wäre anders, wenn diejenigen, die in der neuen Arbeitsgesellschaft keinen Platz, keinen Arbeitsplatz, finden, nicht nur weiter eine angemessene ökonomische Grundlage ihres Lebens genießen könnten, sondern darüber hinaus als aus strukturellen Gründen Nichtarbeitende keinen Makel des Parasiten, Leistungsunfahigen oder -unwilligen usf. an sich tragen müßten. Es ist jedoch derzeit schwer, sich vorzustellen, daß in unserer Gesellschaft ein massenhaft und endgültig nicht auf gesellschaftliche Arbeit, auf gesellschaftlich relevante Leistungen gegründetes gutes Leben mit entsprechenden Ressourcentransfers Achtung genießen könnte. Insofern vollzieht sich zur Zeit keine Abkehr von der Arbeitsgesellschaft, sondern lediglich eine Transformation dieser Gesellschaft hin zu einem Zustand, in dem neue wissenschafts- und technikgestützte Problemlösungskompetenzen und -tätigkeiten eine besondere Rolle spielen und die klassische Industriearbeit überflüssig werden lassen. Diese Sicht der Dinge muß sich mit einem naheliegenden Einwand auseinandersetzen: Es scheint, als mache die mikroelektronisch forcierte Rationalisierung Arbeit in einem Ausmaß überflüssig, das nicht auch nur entfernt durch andere Prozesse sinnvoller Arbeitserzeugung kompensiert werden kann. In diesem Sinne ginge dann der neuen Arbeitsgesellschaft in der Tat die Arbeit aus. Sie enthielte einen internen und explosiven gesellschaftlichen Widerspruch: Die neue Arbeitsgesellschaft könnte die Arbeit nicht mehr hinreichend bereitstellen, deren Leistung sie doch zugleich als Grund und Maß uneingeschränkter ökonomischer Teilhabe und gesellschaftlicher Anerkennung ihrer Mitglieder versteht. - Da die neu nachgefragten Arbeitssorten auf ein durch Qualifikation nicht beliebig vermehrbares knappes Angebot entsprechender Arbeitskräfte treffen, ließe sich das Problem zudem nicht einfach durch eine neue Verteilung der Arbeit lösen. Ulrich Beck und andere haben behauptet, daß wir aus diesem Grunde die Arbeitsgesellschaft verlassen müssen, also vielleicht nicht der reinen Muße, aber etwa der schlichten engagierten Teilnahme am gesellschaftlichen, insbesondere am politischen Leben dieselbe oder eine doch ähnliche ökonomische Grundlage und Anerkennung wie der „Erwerbsarbeit" gewähren sollten. Sein im Gegenzug zur Erwerbsarbeit entwickelter Begriff der „Bürgerarbeit" amalgamiert auf eine merkwürdige Weise „informelle", d. h. ökonomisch nicht aner-
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kannte Arbeit (wie die so genannte „Familienarbeit") mit gar nicht arbeitsteilig sinnvoller menschlicher Praxis wie der demokratischen Beteiligung am politischen Leben. Um zu klären, ob wir in der von Beck unterstellten Lage sind, muß ich Ihnen einige weitere allgemeine ökonomische oder besser politisch-ökonomische Betrachtungen und Unterscheidungen zumuten: In Gesellschaften einer marktwirtschaftlichen Form, zu der insbesondere Arbeitsmärkte gehören, hängt das (nachgefragte) Arbeitsvolumen von der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen ab, die durch gesellschaftliche Arbeit zustande gebracht werden. Daß diese Nachfrage generell oder in bestimmten Sektoren dauerhaft zu gering ist, bildet zunächst nur einen oberflächlichen Sinn für die Behauptung, einer Gesellschaft gehe die Arbeit aus. Es könnte schließlich sein, daß gesellschaftlicher Bedarf nicht als Nachfrage nach Gütern und Leistungen und damit entsprechender Arbeit, wie wir sagen wollen, effektiv wird. Schließlich ist, neben anderem, zu bedenken, daß Nachfrage in einer nicht elementaren Tauschwirtschaft geldvermittelt ist. Mögliche Nachfrage kann, heißt das, deswegen nicht effektiv werden, weil das Geld zur Bezahlung des entsprechenden Angebotes nicht verfügbar ist. Jemand mag z. B. den Bau oder Erwerb eines Hauses beabsichtigen, jedoch diesen Plan nicht ausführen können, weil das Eigenkapital oder die Kreditlinien zu niedrig sind. Seine oder ihre mögliche Nachfrage bleibt dann latent. Sie würde z. B. unter veränderten Kreditbedingungen, etwa durch eine öffentliche Bürgschaft, effektiv. Von der effektiven Nachfrage möchte ich noch einmal die arbeitswirksame Nachfrage unterscheiden, das ist diejenige effektive Nachfrage, welche, bezogen auf eine bestimmte Volkswirtschaft dort, will sagen: durch die dort Arbeitenden, die Produktion von Gütern und Dienstleistungen bewirkt. So müssen wir etwa bei, global betrachtet, Partialwirtschaften (wie den klassischen Volkswirtschaften) die Dimension von innen und außen berücksichtigen. Effektive Nachfrage „von außen" kann als arbeitswirksame Nachfrage von dann sogenannten Exportgütern (und -leistungen) wirksam werden. Effektive Nachfrage kann sich andererseits auf Güter und Leistungen beziehen, welche in anderen Volkswirtschaften hergestellt werden und damit „im Innern" der betrachteten Volkswirtschaft nicht zu einer dieser Nachfrage entsprechenden produktiven Tätigkeit führen. Eine Gesellschaft, in der es zum einen latenten, arbeitswirksamen Bedarf gibt, zum anderen ein Heer von Arbeitslosen, ist ökonomisch gewissermaßen falsch eingestellt. Eine solche Gesellschaft kann sinnvoll eine unterbeschäftigte Gesellschaft heißen. - Im Unterschied zur Unterbeschäftigung können wir von einem fundamentalen Arbeitsmangel genau dann sprechen, wenn der effektive und der latente Bedarf an Gütern und Dienstleistungen dauerhaft nicht ausreicht, um unter gegebenen Bedingungen Vollbeschäftigung (ein Vollbeschäftigungsgleichgewicht) zu ermöglichen (wie immer das, was als Vollbeschäftigung gilt, ökonomisch-kulturell bestimmt ist). Die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft oder vom Ausgehen der Arbeit läuft mit diesen Unterscheidungen darauf hinaus, daß in einer Gesellschaft wie der deutschen gegenwärtig keine Unterbeschäftigung, vielmehr ein grundsätzlicher Arbeitsmangel herrscht. Vergleichsweise einfache, etwa in der General Theory of Employment, Interest and Money (1936) von J. M. Keynes nachzulesende Überlegungen zeigen, daß es Güter- und Leistungsmärkte in einem dynamischen Gleichgewicht geben kann, bei dem dauerhaft Unterbe-
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schäftigung herrscht. Es sprechen starke Gründe dafür, in der Bundesrepublik ein derartiges Gleichgewicht, modifiziert durch konjunkturelle Bewegungen, am Werke zu sehen. Lassen Sie mich dazu, auch zur weiteren Erläuterung des Begriffs der Unterbeschäftigung, einige Indizien zusammentragen: Da ist zum einen der Abbau sinnvoller öffentlicher Dienstleistungen im Rahmen einer seit einiger Zeit kontraktiven öffentlichen Finanzpolitik, die vorhandenen Bedarf latent werden läßt. - Entsprechendes gilt für ein auf allen Ebenen unterentwickeltes öffentliches Bildungssystem. Dabei ist insbesondere sein Umbau in Richtung auf neue Formen der gesellschaftlichen Arbeit nur begrenzt in Angriff genommen, Arbeit, die in vielen postindustriellen Beschäftigungsfeldern der Gesellschaft so dringend angefordert wird. - Ein weiteres Problem stellen die arbeitszeitorientierten Barrieren dar, die im Tarifrecht, bei den Solidarversicherungen und im Steuerrecht der Bündelung verschiedener kleinerer, meistens nicht zeit- sondern aufgabenorientierter Beschäftigungen bei einer Person entgegenstehen. - Schließlich sind etwa in den kurativen Sektoren der Familien-, Kranken- und Altenpflege oder der Haus- und Quartierwirtschaft die Beschäftigungskosten für große Teile der Unterund Mittelklasse zu hoch, so daß die zugehörige Nachfrage latent bleibt, schwarz zu Netto=Bruttolöhnen oder als informelle Familienarbeit erledigt wird. - Alle Beispiele, die ich genannt habe, hängen sehr eng mit der allgemein verbreiteten und wohl richtigen Diagnose zusammen, daß der Dienstleistungssektor in Deutschland erheblich unterentwickelt ist. Blicken wir nun schließlich auch noch über die Grenzen unserer nationalökonomischen Situation hinaus, so zeigen sich große Teile der Welt in einem Zustand, der sich wohl kaum ohne eine gewaltige Arbeitsanstrengung auch der sogenannten entwickelten Länder ändern läßt. Angesichts dessen für den postindustriellen Bürger eine arbeitsarme, ja -freie Welt reiner Praxis, in ihrer hedonistischen Form eine Art Marcuse-Welt, ins Auge zu fassen, erscheint einigermaßen absurd. Die merkwürdige, wenn auch durchaus süffige Idee entfaltet sich ansatzweise auch in der Konzeption der Bürgergesellschaft, wie sie Ulrich Beck beschreibt, in welcher politische Beteiligung und bürgerinitiatives Engagement nun als Alternative zum gesellschaftlichen Leistungsaustausch (in der Arbeit), als „Bürgerarbeit" die gleiche Anerkennung erfahren sollen, mit der erwarteten segensreichen Konsequenz eines wesentlich reduzierten Arbeitskräfteangebotes. Die neue Klassendifferenz zwischen Teilzeit- oder Ganztagsdemokraten und einer reichhaltig sortierten vollbeschäftigten Arbeiterklasse ließe sich absehen, auch wenn Beck sie explizit vermeiden möchte. Wenn wir es also aus solchen Gründen plausibel finden, daß wir es nicht mit Arbeitsmangel, sondern mit Unterbeschäftigung zu tun haben könnten, warum sind dann Gesellschaften wie die unsere nicht oder so wenig in der Lage, dieses Problem durch gesellschaftliches, im Zweifelsfall also staatliches Handeln zu beheben? Eine allgemeine Ursache dafür liegt nach meinem Urteil in antikeynesianschen Ideologien und ihrem Einfluß auf das staatliche Finanzgebahren. Lassen Sie mich das zunächst ein wenig erläutern: Wir interessieren uns also jetzt für Unterbeschäftigungssituationen, in denen sich Vollbeschäftigung nicht gewissermaßen von selbst erstmalig oder wieder herstellt. Wir wollen insbesondere unterstellen, daß auch die unmittelbaren privaten Agenten von Nachfrage und Angebot, also die sogenannten Konsumenten und Produzenten, nicht ohne weiteres in der Lage sind, durch ein geeignetes Zusammenwirken den Zustand der Unterbeschäftigung zu beseitigen.
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In einer solchen Lage ist also ein politisch-ökonomischer Eingriff in die gegebenen Bedingungen unabweisbar; wenn es denn einen solchen Eingriff im allgemeinen überhaupt gibt, einen Eingriff also, der durch das Beenden der Unterbeschäftigung die Arbeitsgesellschaft in ihren auf Arbeit (als produktive Leistung) gegründeten Anerkennungsstrukturen weiterhin gesellschaftlich und moralisch zumutbar, d. h. ohne Ausgrenzung einer großen Minderheit möglich werden läßt. Als eine nicht mehr zeitgemäße Form des Keynesianismus erscheint dabei gegenwärtig der Vorschlag, durch öffentlich finanzierten Zusatzkonsum, gegebenenfalls auch eine mit öffentlichen Mitteln angeschobene Konsum- oder Investitionsgüterkonjunktur, latenten Bedarf effektiv werden zu lassen. Hauptargumente gegen diese Strategie sind: 1. Eine durch Erhöhung der Staatsquote finanzierte zusätzliche Nachfrage verschiebt lediglich effektive Nachfrage aus dem privaten in den öffentlichen Bereich. 2. Eine kreditfinanzierte zusätzliche Nachfrage beschränkt die finanzielle Mobilität des Staates in der Zukunft und führt letztendlich zu einer über Steuern vermittelten Umverteilung von unten nach oben. (Dieses Argument trägt hierzulande bekanntlich zur Zeit die Hauptlast der Argumente für den Sparhaushalt des Finanzministers Eichel.) 3. Schließlich verbinden sich mit einer wesentlich erhöhten Staatsverschuldung häufig auch Inflationsängste. Argumente dieser Art wären nicht von der Hand zu weisen, wenn ihnen ein angemessenes Verständnis der monetären Möglichkeiten staatlicher Finanzpolitik zugrunde läge. Sie (diese Argumente) basieren jedoch vielfach auf zu einfachen und falschen Vorstellungen über ökonomische Zusammenhänge: Eines dieser Vorurteile betrachtet die Menge des konsumtiv oder investiv eingesetzten Geldkapitals insgesamt als eine jeweils feste Größe. Kapital steht dann nur in dem Maße für Investitionen zur Verfügung, in dem andererseits Konsumverzicht geleistet, d. h. gespart wird. Da Arbeitsplätze letztendlich durch Investitionen zustande kommen, erscheint demnach eine mäßige Quote des privaten und öffentlichen Konsums als die Quintessenz möglicher Wege aus der Arbeitslosigkeit. Diese Vorstellung ist immer wieder auch ein wesentliches Element der sogenannten Angebotstheorie für die Stimulierung wirtschaftlichen Wachstums. Wird demgegenüber andererseits die Investitionsneigung als zu gering betrachtet, so erscheint es plausibel, durch eine Erhöhung der Lohn- und Staatsquote zusätzliche Nachfrage zu erzeugen und damit das Beschäftigungsniveau über die entsprechend angeregte Ausweitung der Produktion zu erhöhen. Das wäre dann die sogenannte Nachfragetheorie, bei der in ihrer allgemeinen Form offenbar nicht sichergestellt ist, in welchem Umfang die zusätzliche Nachfrage auch arbeitswirksam wird; ganz abgesehen von den genannten Problemen der Steuererhöhung oder der erhöhten Schulden- und Zinsbelastung bei den eingesetzten öffentlichen Ressourcen.
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Auf der Basis eines angemessenen Verständnisses des Geldes gibt es jedoch eine weitere Möglichkeit, Wege von der Unter- zur Vollbeschäftigung zu finanzieren, in Situationen, in denen staatliche Anleihen oder Steuererhöhungen ungeeignet erscheinen. Dieser von Keynes vorgezeichnete Weg besteht in der Erzeugung von Geld, um damit direkt zusätzliche Arbeit oder aber zusätzliche arbeitswirksame Nachfrage zu ermöglichen, beides in Orientierung an einem latenten, nicht zur effektiven Nachfrage gewordenen Bedarf. Die Erzeugung eines geeigneten, für die öffentlichen Institutionen verfügbaren arbeitswirksam einsetzbaren (zweckgebundenen) Geldvolumens hat eine Reihe von Vorteilen: Sie vermeidet eine Konkurrenz um die sogenannte Sparquote der Gesellschaft. Sie belastet die zukünftige Gesellschaft nicht mit dem Zinsendienst für die Zurückführung gegenwärtiger Arbeitslosigkeit. Sie bedeutet aus dem gleichen Grunde keinen Transfer von unten nach oben. Schließlich läßt sie sich im Vergleich zu anderen monetären Prozessen, etwa einer allgemeinen Ausdehnung des Kreditvolumens (durch die Zentralbank), weitgehend inflationsfrei gestalten, wenn geeignete institutionelle Maßnahmen getroffen werden. Die staatliche Gelderzeugung wird im Alltagsverständnis immer noch mit dem Gelddrucken als einer Art Verwässerung des Geldwertes gleichgesetzt. In einer monetär reagierenden Wirtschaft entsteht und vergeht jedoch ständig Geld, und dies zu einem Teil gerade gesteuert durch staatliche Institutionen. Geld ist schließlich schon lange nicht mehr mit den Gelddingen zu identifizieren, die wir noch in Geldbörsen oder Brieftaschen als eine bald aussterbende Spezies mit uns herumtragen. Was ist dann aber Geld, begrifflich betrachtet? - Nun, Geld ist keine Sorte natürlicher oder hergestellter Dinge, sondern durch definierbare und institutionell oder gewohnheitsmäßig garantierte Funktionen gegeben. Auch die Papier- und Metalldinge, die immer noch einen, wenn auch inzwischen geringeren Teil der umlaufenden Geldmenge darstellen, sind also Träger praktischer Bedeutung, d. h. einer Bedeutung, die durch ihren gesellschaftlich geregelten Gebrauch bestimmt ist. In seiner Kernfiinktion haben wir es bei Geld zunächst mit gesellschaftlich garantierten unbestimmten Gutscheinen zu tun. „Unbestimmt" ist Geld insofern, als es nicht nur für bestimmte Güter und Dienstleistungen eingetauscht werden kann. Es ist diese Unbestimmtheit, welche Geld, d. h. Geld in der genannten Funktion, in die Lage versetzt, beliebige Tauschoperationen auf komplexen Märkten zu vermitteln. - Geld kann dabei in sehr verschiedener Form vorliegen: als Bargeld, Bankguthaben, Kreditlinie usf. Eine weitere Funktion des Geldes hängt mit seiner Verwendung als Anlagekapital zusammen. Geld dient hier im einfachsten Fall dem rechtlich oder informell garantierten Erwerb von Forderungen und Eigentumstiteln verbunden mit Vereinbarungen oder Erwartungen, dadurch den eingesetzten Geldwert zu erhöhen und so, bezogen auf einen ins Auge gefaßten Zeitraum, eine Geldrente oder Rendite zu gewinnen. Ich will diesen Gebrauch „ Verwertung" im engeren Sinne nennen, und Geld, betrachtet unter dem Blickwinkel dieses Gebrauchs, ,JCapital". Die hier so genannte Verwertung des Geldes heißt häufig auch „Investition" und täuscht dabei im öffentlich-politischen Gebrauch immer wieder die Finanzierung von Produktionsmitteln und zugehörigen Arbeitsplätzen vor. Investitionen in diesem gegenständlichen Sinne sind aber im allgemeinen ein Sonderfall der Verwertung von Geld. Die Verwertung von
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Geld kann nämlich eigene monetär gesteuerte Kreisläufe erzeugen, ohne daß dabei überhaupt produktive Investitionen eingeschlossen sein müssen. Wer etwa Aktien der Bayer AG erwirbt, um sie nach einiger Zeit mit einem spekulativen Gewinn wieder zu verkaufen, hat dadurch zusammen mit anderen Spekulanten nicht dafür gesorgt, daß in Leverkusen oder sonstwo neue Produktionsstätten entstehen. Das ändert sich leider auch dann nicht, wenn geneigte politische Entscheidungsinstanzen das Einkommen' einer solchen Investorin erhöhen, um ihre Investitionskraft oder die „der Wirtschaft" zu stärken. Verwertungsorientierte Geldoperationen können im Gegenteil Bereichen produktiv orientierten Geldbedarfs finanzielle Ressourcen entziehen und so zu krisenhaften wirtschaftlichen Kontraktionen führen. - Dies gilt um so mehr von einer Verwendung des Geldes als Wetteinsatz, der lange Zeit eine marginale Erscheinung war, inzwischen aber zu erweiterten Formen der Kapitalverwertung gefuhrt hat. Gewettet wird hier, vereinfacht gesagt, etwa auf den zukünftigen Wert von Kapitaltiteln. Soweit die Verwertungsorientierung sich spekulativ auf knappheits- oder erwartungspsychologisch begründete Wertsteigerungen richtet, wird dabei nicht nur vorhandenes Geld umverteilt, sondern auch in großen Mengen neues Geld erzeugt, wenn etwa die Beleihbarkeitspotentiale für Kredite entsprechend ansteigen. Krisen, bei denen sich die Bewertungen reduzieren, können sich entsprechend als Vernichtung von Geld auswirken. - Das Kreditwesen als eine Sonderform der Verwertung von Geld ist dabei ganz allgemein ein Ort, an dem Geld entsteht oder auch verschwindet, gesteuert durch Rahmenbedingungen und monetäre Operationen der Zentralbanken, z. B. durch Mindestreservesätze und so genannte Leitzinsen. Warum erwähne ich all dies? Zunächst um der immer noch öffentlich wirksamen Legende zu begegnen, daß wir den ökonomischen Geldgebrauch nach dem Bilde einer jeweils festen Geldmenge verstehen können, die dann entweder konsumiert oder real investiert wird; so daß bei rationalem Gang der Dinge nur real investiert werden kann, was nicht konsumiert wird, oder der Konsumverzicht bezogen auf die verfügbare Geldmenge (die sogenannte Sparquote) zugleich die Höhe der Investitionen und damit der Arbeitsplätze bestimmt. (Nur auf der materialen Ebene der Produktion läßt sich dies zu einer begrifflich gültigen Binsenweisheit entwickeln; wenn wir das Wegwerfen von Produkten vernachlässigen.) Da die Schaffung neuer Arbeitsplätze sich als Investition in die Produktion neuer Güter und Leistungen darstellt, erscheint es dann zwingend, entweder den privaten Konsum oder den sogenannten staatlichen Verbrauch zu beschränken. Tatsächlich gibt es aber zwischen der konsumtiven Verwendung des Geldes und der materialen Investition noch die geschilderte reine Verwertung des Geldes. Ferner hängt die arbeitsplatzwirksame (materiale) Investition von Geld nicht lediglich vom Konsumverzicht (oder der Sparquote) ab, weil es andere Prozesse gibt, in denen Geld material-investiv verfügbar werden kann. Und allgemein läßt sich eben sagen, daß es für den politischen Umgang mit dem Geldbegriff und die naiven Alltagsvorstellungen immer noch wichtig ist, ein falsches substantiell-quantitatives Verständnis des Geldes durch die Tatsache seines differenzierten funktionalen Begriffs zu ersetzen.
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Wie läßt sich nun eine Keynesianische Erzeugung finanzieller Ressourcen für die Bewältigung von Unterbeschäftigungssituationen denken? - Gestatten Sie mir hier ein Stück konkrete Utopie: Stellen wir uns etwa eine Zentralbank vor, die nicht mit quasi religiöser Inbrunst auf das Ziel der Geldwertstabilität allein verpflichtet ist, vielmehr als eine vierte (ökonomische) Gewalt zusammen mit der exekutiven und legislativen Gewalt ein Vollbeschäftigungsgleichgewicht geldpolitisch anzusteuern hat. Eine derartige Zentralbank könnte den staatlichen Institutionen Geld unter Bedingungen zur Verfügung stellen, die daraus in Zukunft keine öffentliche Verpflichtungen nach Art eines Schuldendienstes entstehen lassen. Insofern könnten wir hier weder von „Krediten" noch verwertungsorientiert von „Kapital" sprechen. Die Verwendung dieses Geldes ließe sich etwa an die Schaffung wohldefinierter öffentlicher Arbeitsplätze binden, für Infrastrukturprogramme oder für die Gewährung von Zuschüssen bei bestimmten nicht marktfähigen Dienstleistungen verwenden so, daß damit Situationen latenten Bedarfs auf das Niveau einer effektiven Nachfrage gehoben werden. In der Tat würde es sich bei einem solchen Vorgehen um so etwas wie die Einräumung eines zweckgebundenen gesellschaftlichen Guthabens handeln, nämlich eines in seiner Verwendung arbeitsnachfragewirksamen Guthabens staatlicher Institutionen, realisiert etwa durch einen von der Zentralbank verwalteten und in seiner Verwendung kontrollierten Fond. Umverteilungseffekte von unten nach oben wie bei normalen verzinslichen Staatsanleihen wären damit nicht verbunden, auch keine Rückzahlungsbelastungen für zukünftige Generationen. Die Zentralbank könnte dabei im übrigen, wie sie es auch sonst tut, auf andere gesellschaftlich-ökonomische Ziele wie eine niedrige Inflationsrate achten. Die Zentralbank kann ein solches gesellschaftliches Guthaben entsprechend der Einlösung der damit verbundenen Intentionen und sonstiger ihrer Ziele gewissermaßen atmen lassen, es insbesondere zurückführen, wenn sich die gesamtwirtschaftliche Situation einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht nähert. Dies kann umso mehr gelingen, als ein Gleichgewicht auf höherem Beschäftigungsniveau im allgemeimen auch die öffentliche Finanzsituation verbessert. Es entfallen ja z. B. Unterstützungsleistungen aus Arbeitslosen- und Sozialkassen, und auf die zusätzlichen Arbeitsentgelte werden Steuern und Abgaben entrichtet. Wenn die erzeugte Arbeitsnachfrage gezielt auf unterbeschäftigte Sektoren oder sonst nicht einsetzbare Arbeitslose gerichtet ist, entsteht primär auch keine lohnkosteninduzierte Inflation durch Knappheitseffekte auf dem Arbeitsmarkt. Konsumtiv geht es im übrigen weitgehend nur um die Differenz zwischen der Finanzierung der Arbeitslosigkeit und den konsumtiv eingesetzten Lohnkosten bei ihrer Beseitigung. Sekundäre inflationäre Wirkungen sind daher kaum zu erwarten. Sonst kann solchen Wirkungen immer noch durch gezielte kontraktive Regelungen begegnet werden, oder sie sind zunächst zu tolerieren, zumal wenn sie über leichte Abwertungseffekte (für die Landeswährung) und für alte Kredite den Arbeitsmarkt zusätzlich stützen. Nicht in Unterbeschäftigungssituationen unbedingt die Staatsschulden zu erhöhen, ist also die Quintessenz des Keynesianischen spending. Diese sieht vielmehr die institutionelle Erzeugung und Garantie einer Geldversorgung vor, welche gezielt, nicht mit der Förderung auch unproduktiver und arbeitsparender Investitionen, latenten Arbeitsbedarf in effektive Nachfrage überführt. Dies ist die Grundanforderung, die an die Regierung eines unterbe-
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schäftigten Landes zu stellen ist; und man sieht, wie meilenweit die vergangene wie die gegenwärtige deutsche Regierung mit ihrer Finanzpolitik von einer solchen Anforderung entfernt sind, und wie wenig gegenwärtige Zentralbanken institutionell auf eine beschäftigungspolitische Rolle eingerichtet sind. Nicht der Arbeitsmangel und die verschwindende Arbeitsgesellschaft sind das Problem unserer Tage, wenn ich die Dinge richtig beurteile; vielmehr geht es eher und wieder einmal darum, Unterbeschäftigung zu vermeiden oder zu beheben, jetzt vor allem diejenige Unterbeschäftigung, die wir dem Dahinschwinden der klassischen Industriearbeit und den ineffektiven staatlichen (politisch-ökonomischen) Reaktionen darauf verdanken. - Und die politisch-ökonomische Bedeutung einer neuen Wissensgesellschaft verdampft zu der einer weiteren technischen Revolution, die zugleich neue technische Mittel komplexer problemlösender Arbeit ins Spiel bringt. Damit dehnen sich neue Arbeitsformen aus, alte wie die klassische Industriearbeit werden eher obsolet. Aber auf die allgemeine gesellschaftliche Arbeit, als Bedingung eines guten Lebens und eine der modernen Grundlagen gegenseitiger Anerkennung, werden wir aufs Absehbare wohl kaum verzichten können oder müssen.
Kolloquium VI Technik und Langzeitverantwortung
Julian Nida-Rümelin
Einführung „Verantwortung" ist ein zentraler normativer Begriff. Dies gilt sowohl in rationalitätstheoretischer als auch in ethischer Perspektive. Die Begriffe der „Verantwortung" und der „Handlung" sind eng miteinander verwoben. In erster Annäherung kann man sagen, daß eine Person für genau diejenigen Bestandteile ihres Verhaltens Verantwortung trägt, die Handlungscharakter haben. Im Gegensatz zur Handlung scheint Verantwortung die Existenz mindestens einer weiteren Person zu präsupponieren, gegenüber der die handelnde Person verantwortlich ist, gegenüber der sie ihre Handlungen zu verantworten hat. Auch die Wortgeschichte legt einen solchen dreistelligen Verantwortungsbegriff nahe: X (eine Person) trägt Verantwortung für Y (eine Handlung) gegenüber Z (eine Person). Im alltäglichen Sprachgebrauch läßt die Rede von der Verantwortung allerdings weitere Variationen zu, von denen erst noch zu klären wäre, ob sie metaphorisch zu verstehen sind, oder weitere Typen von Verantwortung charakterisieren. So kann man für Personen oder Institutionen Verantwortung tragen; man kann, so scheint es, für etwas verantwortlich gemacht werden, das keinen Handlungscharakter trägt. In diesem Kolloquium ist nicht genug Zeit, diese grundlegenden philosophischen Fragen näher zu untersuchen. Vielmehr setzen die Beiträge eine hinreichende Klarheit des Verantwortungsbegriffes voraus und nehmen inhaltlich nähere ethische Bestimmungen vor. Das Kolloquium befaßt sich mit dem Verhältnis von Technik und Langzeitveranwortung. Im Mittelpunkt steht also die temporale Dimension von Verantwortung, die sich charakteristischer Weise in Formulierungen ausdrückt wie: unsere (kollektive) Verantwortung gegenüber zukünftigen (menschlichen) Generationen. Dieter Birnbacher hat die Frage der Verantwortung für zukünftige Generationen in seiner bekannten Monographie gleichen Titels aus einer klassisch-utilitaristischen Perspektive sorgfältig analysiert. Fragen der Langzeitverantwortung haben sich in vielen Kulturen seit der Antike gestellt. Oft haben sich stabile Handlungssysteme entwickelt, die etwa den Umgang mit Wasser oder Boden für den Ackerbau so regelten, daß nicht nur für die nahe Zukunft, sondern auch für nachfolgende Generationen Vorsorge getroffen wurde. Die moderne Technik hat allerdings
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den Charakter unseres individuellen und kollektiven Handelns insofern verändert, als die Wirkungen nun im Regelfall zeitlich wie räumlich weiter gestreckt sind. Man denke etwa an die großen Mengen zusätzlichen Kohlendioxyds, die insbesondere durch die industrielle Lebensform jede einzelne Person im Jahr verursacht. Die möglichen klimatischen Veränderungen sind seit geraumer Zeit Gegenstand heftiger Kontroversen. Hans Jonas hat der „traditionellen Ethik" das „Prinzip Verantwortung" gegenübergestellt, das der Fernwirkung von Handlungen aufgrund der Bedingungen der zeitgenössischen technischen und industriellen Zivilisation gerecht werden soll. Philosophisch stellt sich dabei nicht so sehr die Frage nach den empirischen Veränderungen durch die moderne Technik und das moderne Wirtschaften, sondern die Frage, gegenüber wem diese Langzeitverantwortung besteht, für was man Verantwortung trägt, ob dabei nur menschliche oder auch außermenschliche Interessen relevant sind etc. Carl Friedrich Gethmann setzt sich in seinem Beitrag insbesondere mit der Rolle von Unsicherheit aufgrund unvollständigen Wissens hinsichtlich dessen auseinander, was er „Langzeit-Verpflichtung" nennt. Durch eine Konzeption gradierter Verbindlichkeiten, die letztlich eine Form moralischer Arbeitsteilung zum Ausdruck bringt, wird eine ausgewogene Verbindung konsequentialistischer und deontologischer ethischer Abwägungen (Gründeund Folgen-Räsonnement) angestrebt. Christoph Hubig diskutiert Langzeitverantwortung im Rahmen provisorischer Moral, die im Spannungsfeld von Konformismus, Dezisionismus und Relativismus steht und dieses Spannungsverhältnis durch eine Ausweitung der Urteilsfähigkeit abzubauen versucht. Auch im Hinblick auf die Probleme der Langzeitveranwortung muß es der Ethik um den angemessenen Umgang mit Dissensen gehen. Dies wird in Christoph Hubigs Beitrag näher ausgeführt. Angelika Krebs tritt für eine Form der Zukunftsverantwortung ein, in der - entgegen der dominierenden egalitaristischen Auffassung - nicht Gleichheit, sondern Suffizienz das zentrale Kriterium ist. Es geht nicht darum, nachfolgenden Generationen gleich viel zu hinterlassen oder ihre Interessen gleich zu gewichten, sondern dafür zu sorgen, daß sie hinreichend gute Bedingungen vorfinden, um ihre Vorstellungen vom guten Leben zu realisieren.
Carl Friedrich Gethmann / Georg Kamp
Gradierung und Diskontierung von Verbindlichkeiten bei der Langzeitverpflichtung 1. Grundprobleme der Langzeitverpflichtung Fragen der Angewandten Philosophie wie die nach der Verantwortung für die Klimafolgen, für die Probleme der Endlagerungen von nuklearem Müll, für die Folgen von Interventionen in das menschliche Genom oder für das Bevölkerungswachstum beziehen die Problemstellung bezüglich Verpflichtung und Verantwortung vorwiegend auf ferne Generationen. Damit sind eine Reihe nicht-trivialer ethischer Fragen zu stellen, die beantwortet werden müssen, wenn man eine solche Langzeitverantwortung dem Grunde und der Art nach rechtfertigen will. Von grundlegender Bedeutung sind dabei vor allem folgende drei Fragen:1 (1) Sind wir nur den mit uns gleichzeitig Interagierenden gegenüber verpflichtet? Nur dann, wenn die Antwort auf diese Frage negativ ausfällt, kann überhaupt von Verpflichtungen die Rede sein, die über die Gegenwart des Handelnden hinaus in die Zukunft reichen. Sieht man vom Problem etwaiger „rückwirkender Verpflichtungen" ab,2 dann ist die Frage jedenfalls von Vertretern solcher ethischer Konzeptionen zu bejahen, für die Verpflichtungen ausschließlich aus von präsentisch existierenden Lebewesen geäußerten Ansprüchen entstehen (wie dies vor allem präferenz-utilitaristische Ansätze unterstellen). Im Rahmen solcher Konzeptionen entsteht das scheinbare Paradox, daß für Angehörige einer Generation GQ gegenüber den Angehörigen zukünftiger Generationen G n nie irgendwelche Verpflichtungen bestehen können, falls die Zukünftigen nicht in der Lage sind, Ansprüche gegenüber den Angehörigen von Go tatsächlich zu erheben, was bei hinreichender zeitlicher Entfernung (etwa n > 3) immer der Fall ist. - Gegenüber Konzeptionen, die Verpflichtungen auf tatsächliche Äußerungen von Ansprüchen dieser Art reduzieren, ist auf die Unterscheidung zwischen der Fähigkeit, Ansprüche zu erheben (to make a claim), und dem Recht, über Ansprüche zu verfügen (to have a claim), hinzuweisen. Verfügen aber Angehörige zukünftiger Generationen über berechtigte Ansprüche gegenüber früheren (auch wenn sie sie noch nicht geltend machen können), dann bestehen gegebenenfalls für die früheren auch korrespondierende Verpflichtungen gegenüber den späteren. (2) Endet die Verpflichtung bei einer Generation vom Grade k> i (z. B. mit i = 3)7 Die Alltagsintuition scheint nahezulegen, was auch viele Ökonomen vertreten, daß nämlich wegen des mit der zeitlichen Entfernung zunehmenden Nicht-Wissens um die Bedürfnisse 1 Die in diesem Abschnitt zusammenfassend behandelten Fragen sind ausfuhrlich diskutiert in: Gethmann 1993. 2 Vgl. dazu Gethmann 1995.
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zukünftiger Generationen die Verpflichtung gegenüber Zukünftigen bei einer Generation eines mehr oder weniger großen Grades k enden müsse. Versucht man jedoch, diese Intuition zu präzisieren, dann erscheint sie durchaus unplausibel: Verpflichtungen bei einem bestimmten Generationengrad grundsätzlich enden zu lassen hieße nämlich, daß für die Angehörigen von Go gegenüber Angehörigen einer Generation G ; + i im Gegensatz zu den Angehörigen der Generation G, keinerlei Verpflichtungen bestünden, und zwar allein aus dem Grund, daß erstere einer Generation vom Grad k > i angehören. Eine solche Begrenzung des Verpflichtungs-Bereichs wäre unverträglich mit einem ethischen Universalismus, den sowohl verpflichtungsethische als auch neuere nutzenethische Ansätze prinzipiell unterstellen: Erkennt man moralischen Subjekten überhaupt moralische Berechtigungen zu, dann erscheint es schlicht als willkürlich, diese Zuschreibung an einer Zeitgrenze (ebenso an einer Raumgrenze) enden zu lassen.3 Verpflichtungen bei einer wie auch immer nahen oder fernen Generation enden zu lassen wäre ein Partikularismus des Präsentischen, eine „EgoPräferenz" der jetzt Lebenden. (3) Sind wir den Angehörigen der k-ten Generation im gleichen Maße verpflichtet wie denen der ersten Generation nach uns? Aus der affirmativen Beantwortung der Frage (2) wird häufig der Schluß gezogen, daß auch die Frage (3) affirmativ beantwortet werden muß: Entweder es besteht eine Verpflichtung für die Angehörigen der Generation G^ oder es besteht keine solche - besteht sie aber, dann besteht sie für die Angehörigen der Generation G^ gerade so wie für die Angehörigen der Generation G ^ i , G ^ , ..., Gj. Diese Konsequenz ergibt sich jedoch nicht zwingend. Im Gegenteil gilt es stets - d. h. unabhängig von der Frage nach der zeitlichen Distanz zwischen Verpflichteten und Berechtigten - zwischen dem Bestehen einer Verpflichtung einerseits und dem Grade ihrer Verbindlichkeit andererseits zu unterscheiden.4 Entsprechend ist auch eine Gradierung von Verbindlichkeiten scharf von der Vorstellung der Diskontierung von Verpflichtungen zu unterscheiden. Während die Diskontierungsvorstellung in der Tat (jedenfalls in den meisten vertretenen Varianten) eine mit dem Universalismus nicht verträgli-
3 Der dabei entscheidende Gesichtspunkt ist die Willkürlichkeit, nicht etwa eine bereits gehaltreiche universalistische ethische Konzeption. Jedoch wäre eine Position, die eine zeitliche (wie räumliche) Schranke des Verpflichtungsbereichs annähme, als partikularistisch zu bezeichnen, da sie moralische Berechtigungen an der Zugehörigkeit zu einer zeitlich (oder räumlich) bestimmten Generation festmacht. Dies wäre ebenso willkürlich, wie die Knüpfung moralischer Berechtigungen an die Zugehörigkeit zu einem Stamm, einem Bekenntnis, einer Rasse, einer Klasse oder einem Geschlecht. Allerdings könnte ein Partikularist ohne Konsistenzverletzung eine Langzeitverpflichtung anerkennen. Z. B. könnte der Anhänger einer Aristokratenmoral die These vertreten, daß nur die moralischen Berechtigungen aller Aristokraten, und zwar ohne Generationenschranke, anzuerkennen seien. In diesem Sinne ist das Nichtwillkürlichkeitsargument stärker als der ethische Universalismus. 4 Die Unterscheidung folgt in der Wortwahl Kant (Kant WW VI, 388 ff.). Kant ordnet die Verpflichtung der Ebene der Maximen, die Verbindlichkeit der Ebene der den Maximen subsumierbaren Handlungen zu. Die Einzelheiten bedürften einer detaillierten Interpretation.
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che Ego-Präferenz voraussetzt und daher zurecht von den meisten Ethikern abgelehnt wird5, ist die Vorstellung einer Gradierung von Verbindlichkeiten von der Unterstellung der EgoPräferenz der Präsentischen nicht betroffen. In dieser Arbeit soll diese Unterscheidung verdeutlicht werden. Die Bedeutung der Forderung nach Wahrnehmung von Langzeitverantwortung ist nicht unabhängig von der Weise der Rechtfertigung dieser Forderung. Andererseits ist das Verständnis von Rechtfertigungsverfahren nicht unabhängig vom Verständnis des Resultates der Rechtfertigung. Mit Blick auf die aktuelle Diskussion und zum Zwecke der Klärung der Grundlagen der in §2 und §3 entwickelten Argumentation sind dazu einige Klarstellungen und Abgrenzungen angebracht: (a) „Inter"generationelle Gerechtigkeit? Durch diesen in der englisch-sprachlichen Literatur durchweg verwendeten Ausdruck wird eine Problemkonstellation suggeriert, die irreführende Konnotationen auf den Plan ruft und Scheinprobleme erzeugt. Das Präfix „inter" indiziert nämlich die Vorstellung einer Wechselseitigkeit, die zu einem irgendwie gearteten Ausgleich („Gerechtigkeit") gebracht werden soll. Nun gibt es solche Gerechtigkeitsprobleme zwischen Generationen durchaus. Beispielsweise kann das nach dem Umlageverfahren organisierte Deutschen Rentensystem nach diesem Muster gedeutet werden: Die jetzt aktive Generation der Beschäftigten trägt die Aufwendungen fiir die vorige und erwartet dafür einen Ausgleich durch die nächste („Generationenvertrag"). Durch den Ausdruck der intergenerationellen Gerechtigkeit wird nun nahegelegt, die ethischen Probleme bezüglich ferner Generationen seien prinzipiell von der gleichen Art. Die Feststellung, daß sie ganz anderer Art sind, führt dann zu dem Schluß, daß es keine Verpflichtungen gegenüber fernen Generationen gibt, oder daß hier wenigstens Diskontierungen vorzunehmen seien. „Inter"generationelle Beziehungen bestehen in denjenigen Zusammenhängen, in denen nach der Langzeitverpflichtung gefragt wird, jedoch sehr bald (ziemlich sicher ab Generation G0+4) nicht mehr. Die hierbei in Frage stehenden zukünftigen Generationen stehen zu uns gerade nicht in einem Interaktionsverhältnis - zwar sind die zukünftigen Generationen mit den Folgen unseres technischen Handelns konfrontiert, umgekehrt aber kann nicht von einem für uns relevanten Handeln der zukünftigen Generationen gesprochen werden. Und eine Konstruktion nach dem Muster des im Rentensystem angewandten Umlageverfahrens, wonach wir den Angehörigen zukünftiger Generationen die Folgen unseres Handelns hinterlassen dürfen, insofern sie für sich dieselben Rechte gegenüber ihrer Zukunft in Anspruch nehmen, ist irreführend. Die Generationenbeziehungen vom Typ „inter" sind entsprechend von den hier zu behandelnden deutlich zu unterscheiden. (b) Intergenerationelle „Gerechtigkeit"? Die gerade durch die im Kontext der Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Generationen anzusprechenden Problemstellungen machen auch deutlich, daß nicht - wie es in der De5 D. Birnbacher weist auf beinahe einmütigen Konsens hin (vgl. Bimbacher 1989, 103).
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batte im Anschluß an J. Rawls' Theory of Justice oft stillschweigend unterstellt wird - alle Probleme moralischer Verpflichtung als Probleme der Herstellung einer distributiven Gerechtigkeit formuliert werden können. Allerdings gilt das Umgekehrte: Alle Probleme distributiver Gerechtigkeit lassen sich als Verpflichtungsprobleme reformulieren - etwa kann die Frage gestellt werden, ob für die heute Lebenden eine Verpflichtung besteht, Angehörigen einer fernen zukünftigen Generation diese oder jene Ressource in diesem oder jenem Umfang zu hinterlassen. Aber auch da, wo bezüglich künftiger Generationen keine Verteilungsfragen bestehen, können Fragen von Verpflichtungen diskutiert werden. Ein Beispiel ist die elementare und keineswegs triviale Frage, ob die jetzige Generation durch ihr generatives Verhalten verpflichtet ist, die Art homo sapiens überleben zu lassen, oder ob eine kollektive Zeugungsverweigerung moralisch nicht wenigstens erlaubt sei. Hier wäre es doch merkwürdig artifiziell, die Frage so zu rekonstruieren, ob wir künftigen Generationen einen gerechten Zugang zu einem Substrat „Leben" gewähren wollen, wie auch wir ihn in Anspruch genommen haben. Viel einfacher lautet die Frage, ob grundsätzlich für die Angehörigen einer Generation Gq (etwa der unseren) Verpflichtungen gegenüber Angehörigen ferner zukünftiger Generationen bestehen. (c) Verpflichtung vs. Verantwortung Durch Hans Jonas Buch Prinzip Verantwortung ist eine durch Max Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik eingeleitete Tendenz verstärkt worden, alle moralischen Probleme als Verantwortungsprobleme zu explizieren, wobei die inflationäre Verwendung des Worts „Verantwortung" in den Sozialwissenschaften ebenso wie z. B. in der politischen Rede die terminologischen Verhältnisse zusätzlich vernebelt hat. Hier kann nicht versucht werden, eine umfassende terminologische Klärung herbeizufuhren.6 Die vorliegenden Überlegungen gehen von der Annahme aus, daß Verpflichtungen und Berechtigungen durch die Ergebnisse moralischer Diskurse um Lösungen von Handlungskonflikten fundiert werden.7 Wird die Frage nach der Berechtigung ferner Generationen positiv beantwortet, dann bestehen entsprechende Verpflichtungen für die Angehörigen der jetzigen Generation ungeteilt. Verantwortung entsteht demgegenüber nur für einige von diesen durch Delegation von Verpflichtung.8 Verantwortung ergibt sich aus Verpflichtung durch moralische Arbeitsteilung, mit der eine Gesellschaft die Umsetzung der Verpflichtungen organisiert, so wie in der Wirtschaft produktive, in der Wissenschaft kognitive Arbeitsteilung der Organisation der jeweiligen Aufgaben dient. Die moralische Arbeitsteilung ist gerade bei denjenigen moralischen Problemen ein sinnvolles Instrument, die mit der Chancen-RisikoAbwägung im Zusammenhang mit der durch die moderne Technik entstandenen Hand-
6 Zur Kritik des Verantwortungsbegriffs vgl. jetzt Wieland 1999. 7 Vgl. dazu genauer Gethmann 1982, Gethmann 1991, Gethmann/Sander 1999. 8 Dieser Vorschlag folgt Kamiah 1973, 110 ff. Zur Abwehr von Mißverständnissen sei angemerkt, daß diese terminologische Regelung keinen Ansatz für die Unterscheidung einer Gesinnungs- in Abgrenzung von einer Verantwortungsethik bereitstellt: Woraus immer moralische Verpflichtungen entstehen - sie müssen schon immer bestehen um „in Verantwortung" delegiert zu werden.
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lungsmöglichkeiten und Handlungszwänge aufgegeben sind. Aufgrund der hohen Komplexität, zuweilen der „Über-Komplexität" dieser Probleme, werden moderne technisierte Gesellschaften in vielen Fällen nicht umhin können, die für alle bestehende Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen auf die Verantwortung einzelner zu delegieren, die sich „professionell" um die anstehenden Fragen der Erhebung und Wahrnehmung der Verpflichtungen bemühen. Bei der gesellschaftlichen Delegation von Verpflichtungen treten allerdings auch spezifische Probleme auf: In dem Maße, in dem die Gesellschaft Verpflichtungen auf Verantwortungsträger delegiert, wächst naturgemäß die Unsicherheit, ob die Verantwortungsträger ihre Verantwortung auch in der gewünschten Weise wahrnehmen, und es stellt geradezu eines der Grundprobleme moderner technischer Zivilisationen dar, die gesellschaftliche Wahrnehmung von Verantwortung so zu organisieren, daß einerseits der Überlast-Vermeidungs-Effekt der Verpflichtungsdelegation erhalten bleibt, andererseits aber so, daß die moralisch Kompetenz der Entscheider transparent bleibt. (d) Deontologische vs. teleogische Ethik Nach den gegebenen Erläuterungen ist die Frage nach dem Bestehen von Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Generationen die methodische primäre Frage, während Fragen nach Verteilung und Verantwortung methodisch sekundäre Fragen sind. Ein derartiger verpflichtungethischer Ansatz sieht sich allerdings mit dem Einwand konfrontiert, diese Orientierung der Rekonstruktion des Sollens vernachlässige die Perspektive der Handlungsfolgen. Entsprechend wird ausgehend von der angelsächsischen Diskussion zwischen deontologischen und teleologischen Ethikkonzeptionen unterschieden. Während erstere das Sollen aus Prinzipien begründen, versuchen die letzteren eine solche Begründung unter Rückgriff auf die Handlungsfolgen. Ob es eine Rechtfertigung von Verpflichtungen unter Rückgriff auf die Handlungsfolgen allein geben kann, mag hier offen bleiben.9 Eine deontologische Ethik, die das Sollen ohne Rücksicht auf die Handlungsfolgen fundiert, scheint bestenfalls eine didaktische Übertreibung, schlimmstenfalls utilitaristische Feindpropaganda zu sein. Tatsächlich fällt einem wohl keine verpflichtungsethische Konzeption ein, innerhalb derer die Prüfung der Folgen des Handelns nicht ein wesentliches Element der ethischen Urteilsbildung ist. Wenn man beispielsweise zum Zwecke der ethischen Beurteilung zu fragen hat, ob eine zu prüfende Maxime (z. B. Versprechen im Vorteilsfalle zu brechen) eine allgemeine Norm sein könnte, muß man für die Beantwortung die Folgen einbeziehen, die eine Erhebung der zu prüfenden Maxime zur allgemeinen Norm hätte (im Beispiel: Untergang des Versprechens als Institution menschlicher Interaktion).'0 Verpflichtungsethische Ansätze sind gegenüber rein konsequentialistischen dadurch ausgezeichnet, daß sie das Sollen nicht allein aus einem Folgenraisonnement, sondern auch aus einen Gründeraisonnement bestimmen, somit also aus einem kombinierten Gründe- und Folgenraisonnement, das je nach der nähe-
9 Dies hat schon Frankena (1963) bezweifelt. Vgl. die umfassende Untersuchung in Nida-Rümelin 1993. 10 Das Beispiel ist formuliert in Anlehnung an Kant W W IV, 422.
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ren Ausgestaltung der ethischen Konzeption unterschiedliche Formen annimmt." Damit ist der Ansatz der Verpflichtungsethik durchaus auch mit dem Gedanken des moralischen Abwägens vereinbar: Moralische Verpflichtungen haben immer einen Aspekt der Unabdingbarkeit (den man sich nicht „abhandeln läßt") und einen Aspekt der Abdingbarkeit, der einem Abwägen nach einem Mehr oder Weniger zugänglich ist. Gerade so, wie es im Rahmen gesetzlich kanonisierter Normsysteme nicht mehr oder weniger, nicht manchmal und manchem, sondern immer und jedem verboten ist, sich fremde Güter zum eigenen Gebrauche anzueignen (die entsprechende Norm gilt in dieser Hinsicht unbedingt), sich gleichwohl aber jemand strafbar machte, der nicht einen am Strand herumliegenden Schwimmreif einem Ertrinkenden zuwürfe (die entsprechende Norm gilt also in dieser Hinsicht bedingt), bestehen moralische Verpflichtungen einerseits unabdingbar, sind aber andererseits, gerade insofern sie eingebettet sind in einen Zusammenhang von Verpflichtungen, einem Abwägen nach einem Mehr oder Weniger zugänglich. Ein solches Abwägen kann allerdings stets nur ein methodisch geleitetes und von Prinzipien regiertes Abwägen sein - und dabei können die Prinzipien nicht im selben Sinne ihrerseits wieder Gegenstand des Abwägens werden. Daß im Rahmen eines verpflichtungsethischen Gründe-/Folgenraisonnements auch moralisches Abwägen möglich ist, darf daher nicht so verstanden werden, daß alles gewissermaßen in eine und nur eine Währung transformiert und dann verglichen werden kann. - Die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung ist keineswegs eine Besonderheit des moralischen Raisonnements: Keine Geschäftsordnung eines Vereins, die Regeln über die Beschlußfassung aufstellt, läßt diese Regeln ebenso für Beschlußfassungen über die Geschäftsordnung gelten; hierfür gelten zumeist strengere. Es könnte sogar Prinzipien geben, die verbieten, daß bestimmte Prinzipien überhaupt änderbar sind.'2
2. Verpflichtungen angesichts des Nicht-Wissens Bestehen entsprechend im Rahmen eines verpflichtungsethischen Konzepts moralische Verpflichtungen auch aus „prinzipiellen Gründen", so schließt dies doch nicht aus, daß der Grad der Verbindlichkeit einer bestehenden Verpflichtung nach einem Mehr oder Weniger (mit anderen) abgewogen werden kann. Damit ist auch der Grundgedanke formuliert, der eine angemessene Antwort auf die dritte der oben formulierten Fragen der Langzeitverpflichtung erlaubt: Es gibt Verpflichtungen, die (aufgrund welcher Rechtfertigung auch immer) bestehen, die aber andererseits eine Abstufung von Verbindlichkeiten zulassen. Dies gilt auch für „kategorische" (unabdingbare) Verpflichtungen. Kategorische Verpflichtungen
11 Als ein Kandidat für eine ethische Position, die allein aus Gründen und ohne j e d e Rücksicht auf die Folgen das Handelns moralisch qualifiziert, dürfte allenfalls die materiale Wertethik N. Hartmanns und M. Schelers zu nennen sein. 12 Die verfassungsrechtliche Variante dazu ist die sog. Ewigkeitsklausel im Artikel 79 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
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und die ihnen korrespondierenden Berechtigungen bestehen oder bestehen nicht - wenn sie jedoch bestehen, können sie mit unterschiedlichen Graden an Verbindlichkeit bestehen, je nachdem etwa, welcher Art die Handlungsumstände und welcher Art die Handlungsfolgen sind und mit welchen anderen Verpflichtungen sie zum Ausgleich gebracht werden müssen. Eine solche Zuordnung von Verbindlichkeitsgraden zu unabdingbaren Verpflichtungen entspricht durchaus der moralischen Alltagserfahrung, wie man leicht an Beispielen demonstrieren kann: (a) Gesetzt, es bestünde eine Verpflichtung eines jeden Elters, für das Wohlergehen seiner Kinder zu sorgen. Dann besteht diese Verpflichtung - oder sie besteht nicht. Sie besteht nicht „ein wenig", „in Teilen" oder „weitgehend". Die Verbindlichkeit dieser Verpflichtung kann jedoch relativ zu verschiedenen Parametern sehr unterschiedliche Grade haben: Was ein Elter einsetzen muß, damit gesagt werden kann, es sei seiner Verpflichtung nachgekommen, kann sich im Sinne eines Mehr oder Weniger unterscheiden relativ zu den wirtschaftlichen Möglichkeiten des Elters, zu den sonstigen Verpflichtungen des Elters, z. B. gegenüber anderen Kindern, die eine größere Hilfebedürftigkeit aufweisen, zum Vermögenstand des Kindes, zum Alter des Kindes und weiteren Parametern. Für zwei unterschiedliche Situationen von Elternschaft gilt zwar, daß jeweils die Verpflichtung besteht, aber nicht notwendigerweise auch: Daß sie mit gleicher Verbindlichkeit besteht. (b) Gesetzt, es gälte eine kategorische Verpflichtung, jedermann in Notsituationen zu helfen. Wird nun etwa jemand während einer Flugreise von einer Ohnmacht befallen, so gilt diese Verpflichtung für jedermann, der anwesend ist. Der Grad der Verbindlichkeit für professionelle Flugbegleiter oder zufällig anwesende Ärzte ist jedoch höher als für andere Anwesende. Für zwei beliebige Zeugen der Ohnmacht gilt zwar, daß für sie die Verpflichtung zur Hilfe jeweils besteht, aber nicht notwendigerweise auch, daß sie für sie mit gleicher Verbindlichkeit besteht. Dieses Beispiel illustriert neben einem moralischen Verbindlichkeitsgefalle auch eine Form moralischer Arbeitsteilung: Die höhere Verbindlichkeit besteht für die Flugbegleiter und eventuell anwesende Ärzte gerade infolge der Delegation der Verpflichtung in professionelle Hände. Die Beispiele belegen, daß moralische Verpflichtungen und Berechtigungen, die als Maximen uneingeschränkt Geltung beanspruchen sollen, gleichwohl gemäß Graden der Verbindlichkeit differenziert werden dürfen. Die Beispiele geben zudem einige Hinweise auf wichtige Differenzierungsdimensionen von Verbindlichkeitsgraden. Dazu gehören sicherlich: einmal die interaktive Nähe und Ferne - sowohl synchron wie diachron; zum andern die moralische Arbeitsteilung durch Handlungskompetenz (Beruf), durch Delegation (Verantwortung), durch Repräsentation (Gemeinwesen) oder Antizipation (Vormundschaft). An dieser Stelle kann nicht genauer auf die Dimension der moralischen Arbeitsteilung eingegangen werden, obwohl sie mit Blick auf die Langzeitverantwortung eine wichtige Rolle spielt: Auch wenn jedermann Langzeitverpflichtungen zu übernehmen hat, ist die Frage, wer
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eigentlich Adressat dieser Verpflichtung im Sinn der Übernahme der Verantwortung ist, wer also die „Verantwortung" für Handlungen mit Langzeitfolgen trägt. Dafür scheint es in unserem auf Ultrakurzzeitverantwortung angelegten politischen System keinen rechten Ort zu geben. So ist etwa auch das umweltrechtliche Vorsorgeprinzip durch Bindung an Rechtsprinzipen wie das Übermaßverbot recht kurzfristig ausgelegt. Im Vordergrund der vorliegenden Untersuchung steht vielmehr die Unterscheidung der diachronen Nah- und Fernverpflichtung. Unterläßt man es hierbei, zwischen Verpflichtung und Verbindlichkeit zu unterscheiden, gerät man in ein pragmatisches Paradox der folgenden Art: Gesetzt, wir trügen gegenüber der lO.OOOsten Generation nach uns Verpflichtungen mit demselben Grade an Verbindlichkeit wie gegenüber der Generation unserer Kinder. Im Gegensatz zur Lebenswelt unserer Kinder, die wir hinreichend gut kennen, um Handlungsumstände und Handlungsfolgen materialiter einigermaßen sicher zu bestimmen, können wir diese für die lO.OOOste Generation nach uns lediglich im Rahmen einer fingierten Lebenswelt beschreiben. Während wir also die Lebenswelt unserer Kinder ausreichend antizipieren können, um zu einer moralischen Urteilsbildung zu gelangen, müßten wir für die lO.OOOste Generation nach uns mit allen Möglichkeiten rechnen. Diese Möglichkeiten ließen sich ad libitum so variieren, daß jede Ausfuhrung, aber auch jede Unterlassung einer Handlung für die Angehörigen der lO.OOOsten Generation nach uns katastrophale Folgen hätte, d. h. wir dürften unter der Rücksicht der Langzeitverpflichtung jetzt eine zur Debatte stehende Handlung H weder ausführen noch unterlassen - und zwar auch dann nicht, wenn das Ausführen (das Unterlassen) von H für die Generation unserer Kinder katastrophale Folgen hätte und daher das Unterlassen (das Ausfuhren) von H dringend geboten wäre. Die Auflösung dieses Paradoxes ist nur möglich, wenn man die Unterstellung einer für alle zukünftigen Generationen und jedes beliebige Maß des Nicht-Wissens gleich verbindlichen Verpflichtung aufgibt. Kann aber einerseits keine zukünftige Generation gedacht werden, der gegenüber für die Gegenwärtigen keine Verpflichtung besteht, ist andererseits die Annahme einer gleich verbindlichen Verpflichtung für wie immer ferne Zukünfte zu verwerfen, dann stellt sich die Frage, wie die Verpflichtung für ferne Generationen zu qualifizieren ist. Es liegt nahe, eine Art „konstruktiven" Verfahrens anzuwenden: Die Verpflichtung gegenüber künftigen fernen Generationen („Zukunfts-Fernverp flichtung") ist zwar etwas anderes als die Verpflichtung gegenüber unseren Kindern und Enkeln („ZukunftsMiAverp flichtung"), an Fällen der Nahverpflichtung lassen sich jedoch die Regeln rekonstruieren, aus denen sich grundsätzlich auch die Fern-Verpflichtung aufbaut. Der Unterschied zwischen der Nah- und der Fernverpflichtung ist der, daß wir bei der Fernverpflichtung gegenüber Menschen Verpflichtungen tragen (konvers: diese Berechtigungen uns gegenüber haben), die uns nicht einmal potentiell als Interaktions-, und damit als Konfliktpartner gegenüber treten. Unsere Regeln des Streit-Schlichtens („Friedensstrategien") können daher nur auf diese Generationen „hochgerechnet" werden.13 Diese Besonderheit muß sich in der Art der Verpflichtung niederschlagen.
13 Zur ethisch elementaren Situation des Streitschlichtens vgl. Gethmann 1991.
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Das angeführte moralische Paradox macht wesentlich davon Gebrauch, daß unser Verhältnis zur Zukunft durch zunehmendes Nicht-Wissen geprägt ist. Würde eine ethische Relevanz des Nicht-Wissens um die Zukunft nicht anerkannt (etwa unter Hinweis auf die angeblich ethisch desaströsen Folgen der Anwendung einer Diskontierungsregel), würde man die Qualifizierung moralischer Verpflichtungen von wesentlichen Umständen des Handelns und seiner Folgen lösen - mit grob gegen-intuitiven Resultaten. Gesetzt, das Wissen um die Umstände der Folgen gegenwärtig ausgeführter oder unterlassener Handlungen nehme mit zunehmender Zeit kontinuierlich ab, dann kann man die hier liegenden ethischen Probleme auch einfach mit bezug auf den Zeitablauf formulieren: Es macht einen wesentlichen Unterschied für die Qualifizierung einer Verpflichtung zum Ausführen oder Unterlassen einer Handlung H, ob wesentliche Folgen des Ausführens oder Unterlassens von H (nur) jetzt eintreten oder (auch) später. Da die moralische Situation oft so ist, daß eine Handlung H entweder ausgeführt oder unterlassen werden muß und Verpflichtungen gegenüber den Zeitgenossen und den unmittelbar nachfolgenden Generationen bestehen, von denen im Großen Ganzen bekannt ist, wie sie einzulösen sind, und die nicht uneingelöst bleiben dürfen bis wir etwa wissen (was wir nie wissen können), wie wir Verpflichtungen gegenüber sehr fernen Generationen einzulösen haben, müssen diese Verpflichtungen bezüglich des Standes des (Nicht-)Wissens nach Verbindlichkeit „gradiert" werden. In diesem Zusammenhang läßt sich auch leicht illustrieren, warum für eine wissenschaftlich-technische Zivilisation die „Erforschung der Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen" eine moralische Kernaufgabe darstellt. Das Maß des Wissens über die Lebenswelt zukünftiger Generationen mittlerer Reichweite ist keine Konstante. Es besteht somit, wenn wir technisch handeln wollen, auch eine Verpflichtung, uns Wissen über die Folgen zu beschaffen. Allerdings: Auch diese Verpflichtung ist abzuwägen mit dem möglicherweise berechtigten Anspruch der Gegenwärtigen, von einer Technik zum eigenen Vorteil Gebrauch zu machen.14 Nach dem Gesagten wird man eine moralphilosophische Konzeption, die den Zustand unseres (Nicht-)Wissens um Handlungsumstände und Handlungsfolgen als irrelevant bzw. zu ignorieren einstuft, als grob gegen-intuitiv einordnen dürfen. Auf eine solche Auffassung scheinen aber Positionen hinauszulaufen, die postulieren, daß wir für die Klärung moralischer Fragen bezüglich zukünftiger Generationen zu unterstellen hätten, sie seien zu behandeln, wie wenn sie unsere Zeitgenossen wären. Im übrigen ist auch der moralpsychologisch bedeutsame Effekt zu bedenken, daß die Ablehnung einer die Verbindlichkeiten differenzierenden Einstufung von Nah- und Fernverpflichtung mit den Folgen eine strukturellen Verpflichtungsüberlast konfrontiert ist: Die Forderung der Adressaten moralisch verpflichtender Imperative „ultra posse" führt zur Resignation und einer Laissez-Faire-Mentalität in Entscheidungen, von denen nahe und ferne zukünftige Generationen betroffen sind. Ein gewis-
14 Beispiele aus der aktuelle Diskussion sind die Freilandversuche für gentechnisch verändertes Getreide mit Blick auf die Nutzung dieses Getreides in klimatisch benachteiligten oder aus anderen Gründen unterversorgten Weltgegenden; Auswirkungen der Präimplantations- oder Pränatal-Diagnose genetisch mitbedingter Krankheiten auf das Versicherungswesen und Hilfe fiir die möglicherweise Betroffenen.
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ser Ton der moralischen Entrüstung von professionellen Ethikern im Zusammenhang mit dem Diskontierungsproblem dürfte dabei nicht ganz ohne Mithaftung für gewisse gesellschaftliche Überdrußphänomene in bezug auf Umweltfragen mit Langzeitperspektive sein.
3. Gradierung vs. Diskontierung Die Forderung, zwischen Nah- und Fernverpflichtung - aufgrund eines Gefälles des Wissens um Handlungsumstände und Handlungsfolgen - Verbindlichkeitsabstufungen einzuziehen, wird häufig mit der These der Diskontierung gleichgesetzt und als solche kritisiert. Sie scheint nämlich den Interessen und Bedürfnissen der jetzt Lebenden einen grundsätzlich moralisch überlegenen Status gegenüber den Interessen und Bedürfnissen der zukünftig Lebenden einzuräumen. Daß dies ein Mißverständnis darstellt, dessen Ursache im wesentlichen darin zu finden ist, daß bereits die Probleme moralischer Verpflichtung und Berechtigung in terms of Glücksmaximierung und Nutzen formuliert werden, soll im folgenden gezeigt werden: Die Gegner der Anwendung der Diskontierungsregel im moralischen Bereich sind mit den Anwendungsbefurwortern Opfer eines „ethischen Ökonomismus", wie er für eine Reihe von Spielarten des Utilitarismus typisch ist. Wer hingegen die notwendigen Überlegungen in den Rahmen einer verpflichtungsethischen Konzeption des Sollens stellt, gerät nicht in das „Skandalon der Zukunftdiskontierung" (Birnbacher), entgegen dem universalistischen Anspruch, doch eine Gegenwarts-Präferenz zu unterstellen: Im Rahmen einer solchen Konzeption kann ohne ein solches Skandalon die These vertreten werden, daß einerseits in Übereinstimmung mit dem universalistischen Anspruch Verpflichtungen gegenüber künftigen Generationen bestehen, andererseits jedoch - ohne daß eine Zeitpräferenz der Gegenwart unterstellt werden müßte - diese Verpflichtungen nicht in der „gleichen Weise" bestehen wie Verpflichtungen gegenüber den jetzt Lebenden. Bezüglich der Zukunftsdiskontierung scheint es einen „Streit der Fakultäten" zwischen Ökonomen und Philosophen zu geben: Für die Ökonomie war es - jedenfalls bis vor ca. zehn Jahren - geradezu ein logisches Implikat des neo-liberalen Paradigmas ökonomischen Denkens, daß der jetzige Nutzen gegenüber einem zukünftigen höher zu bewerten und daß entsprechend ein zukünftiger Nutzen mit einer zeitlich konstanten Diskontrate, einer Art negativer Verzinsung zu versehen sei (für Schäden das Inverse). Allerdings stehen heute bedeutende Ökonomen dieser Ansicht kritisch gegenüber, da ihnen die Diskontierung eine Umverteilungsmaxime zugunsten der jetzt lebenden Generation zu sein scheint und die Zukunft wenigstens mit einem minimalem Gewicht in die Zielplanung einzugehen habe.15 In der Philosophie hingegen besteht Einmütigkeit in der Auffassung, die Anwendung der Zukunftsdiskontierung sei sowohl unter Klugheits- wie unter moralischen Gesichtspunkten abzulehnen. Die Anwendung von Diskontierungsregeln sehen Philosophen oft wohl deshalb 15 So argumentieren etwa Hampicke 1992 sowie Cansier 1996, 118 ff., aus umweltökonomischer Sicht gegen die neo-liberale Standard-Auffassung (dort einschlägige Literaturhinweise). Vgl. hierzu auch Birnbacher 1988, 87 ff.
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als ein „Skandalon", weil sie in der Diskontierungsstrategie zwei zusammenhängende Prämissen am Werk sehen: Erstens diejenige, daß Verpflichtungen gegenüber Gegenwärtigen allein auf Grund der relativen zeitlichen Nähe Verpflichtungen gegenüber den Angehörigen zukünftiger Generationen in irgendeinem Sinne moralisch überlegen seien, und daß sich zweitens deswegen Verpflichtungen gegenüber Angehörigen zukünftiger Generationen in Abhängigkeit von der Diskontrate in relativ kurzer Zeit „verflüchtigen". Daraus wäre in der Tat zu schließen, daß die Annahme der Diskontierbarkeit zu einer praktischen Negierung des Gedankens der Langzeitverpflichtung fuhrt. Insofern diese Prämissen zutreffen und in die Diskontierungsregel lediglich die zeitliche Entfernung des Eintretens von Handlungsfolgen eingeht, ist die Ablehnung seitens der Philosophen in der Tat gerechtfertigt. Die mit der Annahme eines Bestehens von Langzeitverpflichtung gezogene weitere Konsequenz, zukünftige Generationen, wie nah oder fern sie auch der gegenwärtigen stünden, seien gegenüber der gegenwärtigen in derselben Weise und in demselben Maße anspruchsberechtigt und es bestünden daher auch gegenüber allen Generationen gleich verbindliche Verpflichtungen, ist - wie gezeigt - jedoch nicht zuzustimmen. Diese unzulässige Folgerung unterstellt nämlich, daß alle Ungleichsetzung der verschieden weit reichenden Verpflichtungen nur nach dem Maß der Zeit geschähe. Dies ist aber mit dem Hinweis auf eine relativ zum Grad des Nicht-Wissens erfolgende Differenzierung von Verbindlichkeitsgraden zurückzuweisen. Nicht die zeitliche Entfernung, sondern das mit der zeitlichen Entfernung allenfalls schwach korrelierte Zunehmen des Nicht-Wissens ist der Grund für eine Ausdifferenzierung der Verbindlichkeitsgrade des Verpflichtetseins. Insofern kann auch nicht dem, der seine Verpflichtungen mit Blick auf das verfugbare Wissen um Handlungsumstände und -folgen nach dem Grade ihrer Verbindlichkeiten ordnet, der Vorwurf einer Zeit-Präferenz, insbesondere nicht irgendeiner Art der Gegenwarts-Ego-Präferenz gemacht werden. Dieses Mißverständnis nährt sich auch daraus, daß die diskutierten Diskontierungsstrategien allzu eng an ökonomische Rationalitätsmuster angelehnt sind: Wer gegen die Diskontierung eintritt, ist (zurecht) dagegen, daß der Nutzen (oder ein anderes Substrat) zugunsten der jetzt Lebenden umverteilt wird - oder anders: daß zukünftige Lebende nur deswegen schlechter gestellt werden, weil sie zu einer anderen Zeit leben als die jetzt Lebenden. Wer hingegen für eine Differenzierung der Verpflichtung nach den Graden ihrer Verbindlichkeit eintritt, ist dagegen, daß Nahverpflichtungen mit Fernverpflichtungen - ,fern' sowohl in diachroner wie synchroner Lesart - gleichgestellt oder erstere sogar vernachlässigt werden. Um solchen Mißverständnissen in bezug auf den hier eingeschlagenen Weg vorzubeugen, soll im folgenden das Verfahren der Gradierung'6 von dem der Diskontierung auch begrifflich unterschieden werden.
16 Bezüglich der Wortwahl sei daran erinnert, daß traditionell die Salzgewinnung in „Gradierwerken" erfolgt. .Gradierung' bezeichnet dabei die allmähliche Konzentration einer Salzsohle. In der Geologie wird der Ausdruck ,Gradierung' verwendet, um Ablagerungsformen von Sedimenten zu bezeichnen, bei denen die Korngrößen stetig abnehmen.
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Gegner der Diskontierung und Befürworter einer Gradierung antworten damit offenkundig auf verschiedene Fragen: Wendet sich der Gegner der Diskontierung gegen eine ungerechte Verteilung oder nicht gemäß dem Utilitätsprinzip die größte Zahl vorberücksichtigende Maximierung von Nutzen (oder anderen Substraten wie Glück, Güter, Geld) für die Angehörigen verschiedener Generationen, spricht der Befürworter einer Gradierung über die Ausdifferenzierung der Verbindlichkeit moralischer Verpflichtungen gegenüber bzw. Berechtigungen von Angehörigen verschiedener Generationen.17 Die Unterscheidung von Gradieren und Diskontieren bietet sich auch als Klärungsinstrument an, um eine Reihe von Unklarheiten in der Diskussion um die Zulässigkeit des Diskontierung aufzulösen. Der Begriff der Diskontierung ist wenigstens in zweifacher Rücksicht unter Äquivokationsverdacht zu stellen, der sich zufolge unterschiedlicher Beantwortung (wenigstens18) folgender Fragen ergibt: (1) Von was wird diskontiert? (Frage nach dem Substrat) (2) Warum wird diskontiert? (Frage nach der Rechtfertigung) (1) Das Substrat der Diskontierung In der Diskussion um die Diskontierung im Zusammenhang mit der Langzeitverantwortung werden vor allem Geld und Nutzen als Substrate erörtert. Daneben könnte man auch Güter (unterschiedlicher Art) und Verpflichtungen (bzw. deren Verbindlichkeiten) als solche Substrate untersuchen. Daß sich Geld verzinst und somit entgangenes oder zukünftig zu erwartendes Geld auch diskontiert wird, ist ein ethisch unerheblicher Vorgang, der ökonomisch (evtl. in Grenzen) sinnvoll ist, wird auch von Diskontierungsgegnern nicht bestritten wird.19 Als das eigentlich problematische Bezugssubstrat gilt dagegen - wie dargestellt - der Nutzen. Gegen das Diskontieren von Nutzen(-gesichtspunkten) wendet sich der Protest der nutzenethisch ansetzenden und zugleich auf Umweltschutz hin orientierten Ethiker, in Deutschland z. B. Birnbacher20 und Hampicke21. Mit Blick auf zerstörbare natürliche Ressourcen wird hier der Sinn des Zinses als Lenkungs- und Allokationsinstrument bestritten und mit Blick auf künftige Generationen eine Nutzendiskontierungsrate von Null gefordert.22 Diesen Argumentationen soll hier - wie dargelegt - keineswegs widersprochen werden. Allerdings ergeben sich aus dieser Differenzierung zwischen Geld und Nutzen (gerade 17 Gegen die terminologische Variante, die Ausdifferenzierung von Graden der Verbindlichkeit als eine Spezies des Diskontierens anzusprechen, wäre einzuwenden, daß dies die Gefahr einer Äquivokation herbeiführen würde, die weitere Mißverständnisse nahe legt. Damit ist jedoch nicht bestritten, daß es sinnvoll ist, unter dem Oberbegriff Diskontierung' zahlreiche Diskontierungsstrategien zu unterscheiden (vgl. z. B. Hampicke 1992, 136 f.). 18 Eine weitere wichtige Frage wäre die nach der moralpsychologischen Erklärung der Langzeitverpflichtung. 19 Nach Birnbacher 1989, 113, ist das Geld der eigentliche Ort für Diskontierungsüberlegungen. 20 Birnbacher 1991, 9 f., Birnbacher 1999, 6 ff. 21 Hampicke 1992, 132 ff. 22 A.a.O., 136 ff.
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bei einem dezidiert nutzenethisch orientierten Ethiker wie Birnbacher) einige Abgrenzungsprobleme, die auf die grundlegende Frage hinauslaufen, ob die Bestreitung der Rolle von Verzinsung und Diskontierung bei zentralen moralischen Fragen nicht zur Insuffizienzerklärung des nutzentheoretischen Ansatzes der Ethik überhaupt führt. Die Ablehnung der Anwendung von Diskontierungsverfahren bei fundamentalen ethischen Größen wie Mitmenschen, Arten, Umwelt usw. ist allein schon durch den Hinweis gerechtfertigt, daß diese Größen eben einen trans-utilitären Status haben. Mit recht weist Birnbacher darauf hin, daß Menschen im interpersonalen Bereich das Diskontieren generell für unzulässig halten.23 Bleibt die Einheit des nutzenethischen Paradigmas noch erhalten, wenn man Verzinsung und Diskontierung für manche Fragetypen zuläßt, für andere bestreitet (Problem des „Adhocismus")? Wird - folglich - das moralische Phänomen der Gradierung der Verbindlichkeit von Maximen durch die Diskontierungs-Debatte überhaupt adäquat erfaßt? Die Betrachtung von Gütern (verschiedener Art) läßt sich entweder auf die Betrachtung der mit ihnen zu erzielenden (erwartenden o. ä.) Nutzen oder der in ihnen implizierten Verpflichtungen reduzieren. Verpflichtungen lassen sich nicht Kontieren, somit auch nicht Diskontieren. Dies ist der Grund, warum sich die Unterscheidung von Gradieren und Diskontieren empfiehlt. (2) Die Rechtfertigung der Diskontierung Als (unzulässige) Rechtfertigungsstrategien werden von den Gegnern des Diskontierens die Zeitpräferenz der Gegenwart und die Verzinsung von Investitionen diskutiert. Als weitere Rechtfertigungen wären der Mangel an Wissen bzw. die Unsicherheit zukunftsbezogenen Handelns und die moralische (interaktive) Distanz zu zukünftigen Generationen heranzuziehen. Es leuchtet ein, daß die Präferenz für die Gegenwärtigen nicht zu rechtfertigen ist. Bedeutet die Unterscheidung von Nah- und Fernverpflichtung jedoch grundsätzlich eine Zeitpräferenz für die jetzt Lebenden, so wie das Diskontieren künftigen Nutzens auf die jetzt Kontierenden bezogen ist? Daß dies keineswegs gilt, läßt sich wiederum an Beispielen elementarer moralischer Erfahrung illustrieren. Gesetzt, wir verlangen, daß Kinder überhaupt besonders zu schützen sind, setzen die Verbindlichkeit dieser Maxime für die Eltern bezüglich ihrer eigenen Kinder jedoch höher an als bezüglich irgendwelcher Kinder in interaktiver Ferne. Sind somit die Kinder in der Ferne dadurch aufgrund einer räumlichen Ego-Präferenz benachteiligt? Dies wird man nicht behaupten können, da ja der Universalismus der Verpflichtung nach wie vor gilt: Um die Kinder in der Ferne haben sich eben deren Eltern zunächst einmal mit höchster Verbindlichkeit zu kümmern. Was am synchronen Beispiel expliziert wurde, gilt grundsätzlich auch diachron. Der hierzu mögliche Einwand, aufgrund der moralischen Prärogative der Nahverbindlichkeiten vor den Fernverbindlichkeiten könnte sich ergeben, daß wir den nachfolgenden Generationen die Lebensgrundlagen rauben, dabei jedoch im Einklang mit den morali-
23 „In personal relations, w e do not usually maximise Utility" (Birnbacher 1999, 7); in diesem Zusammenhang ist auch an die Bemerkung H. Sidgewicks zu erinnern, daß der Utilitarist gute Gründe habe, sich im Alltag nicht als Utilitarist zu verhalten (Sidgewick 1967, 489).
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sehen Verpflichtungen handelten, ist nicht triftig. Hier ist daran zu erinnern, daß auch bei Zulässigkeit einer Gradierung die Verbindlichkeit nie Null wird, d. h. die Verpflichtung nicht erlischt. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß sich aufgrund der unterschiedlichen Substrate und Rechtfertigungen eine vielfache Bedeutung des Begriffs der „Diskontierung" ergibt. Unterscheidet man zwischen der „Diskontierung" (für kontierbare Substrate und diesbezügliche Rechtfertigungen) und „Gradierung" (für nicht kontierbare Substrate und diesbezügliche Rechtfertigungen), wird die Desambiguisierung erleichtert. Jedenfalls bezüglich interaktiver Nähe bzw. Ferne ist eine Gradierung zu rechtfertigen, die nicht durch die EgoPräferenz der Gegenwärtigen, sondern durch die Rahmenbedingungen des moralischen Diskurses bestimmt ist. Andererseits gibt es Formen der „Diskontierung", die aus ethischen Gründen nicht haltbar sind. Daraus ergibt sich, daß für nutzenethische Rechtfertigungen, die es mit dem Kontoausgleich zwischen präsentischem und futurischem Nutzen zu haben, der Begriff des Diskontierens vorzusehen ist, während für moralischen Qualifikation von Verpflichtungen aufgrund der Varianzen interaktiver Distanz und des Nicht-Wissens der Begriff des Gradierens zu reservieren ist. Damit ist zwar nicht gezeigt, daß der Nutzenethiker zwingend in der Kategorie des Diskontierens denkt, der Verpflichtungsethiker zwingend in der Kategorie des Gradierens. Vielmehr erscheinen diese ethischen Paradigmen unter gewissen (nicht-trivialen) Bedingungen ineinander integrierbar. Erst im Rahmen einer solchen integrierten Konzeption wird man wohl zu einer umfassenden Theorie der Langzeitverpflichtung mit ihren zahlreichen, ethisch unterschiedlich zu qualifizierenden Varianten kommen.
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Langzeitverantwortung im Lichte provisorischer Moral 1. Einleitung Der widersprüchliche Eindruck mangelnder Disponibilität der Zukunft einerseits, gesteigerter Machbarkeit andererseits, stellt das Ausgangsproblem dar, dem in neuerer Zeit mit der Forderung nach Übernahme von Verantwortung eines neuen Typs entsprochen werden soll: der „Langzeitverantwortung". Der Eindruck mangelnder Disponibilität entsteht auf dem Hintergrund der sprunghaft erhöhten Eingriffstiefe der Techniken sowohl in die äußere Natur als auch in die Sozialgefuge, in deren Zuge sogenannte Sachzwänge entstanden sind und weiterhin entstehen: Irreversible Verknappung von Ressourcen, funktional erforderliche, technisch-ökonomisch induzierte Homogenisierung der Weltgesellschaft, räumlich-zeitliche Ausweitung einer sich selbst bindenden Wirkungsmacht technischen Handelns (Globalität der Handlungsfolgen, Langfristigkeit des Bestands der Handlungsfolgen). Aus letzterem resultiert eine Asymmetrie dieser Wirkwelt zu unserer Merkwelt, verstärkt durch eine Beschleunigung des Innovationsrhythmus', welcher ein Lernen aus Fehlern zunehmend weniger erlaubt. Die Kehrseite dieser Restriktionserfahrung liegt in der Vorstellung gesteigerter Disponibilität: Das Andere der Technik - die positiv und negativ widerständige alte Natur, als korrektiv selbstheilende, aber auch gefährdende Natur - scheint domestizierbar (hin zu den Utopien neuer Hybridschöpfungen oder eines von Menschen gemachten Klimas), und sie scheint insofern zunehmend menschlicher Intentionalität überantwortet, welche bloß noch „technologisch aufzuklären" sei.1 Neben diesem Gegenstandsbereich des Handelns werden unsere Vorstellungen vom Subjekt des Handelns, ferner der Instanzen, denen gegenüber Handeln zu verantworten sei, sowie schließlich der Normen und Kriterien der Handlungsrechtfertigung fraglich: Das Subjekt also, welches seinen herkömmlichen Status einerseits im Lichte der sogenannten Sachzwänge, andererseits im Lichte des Verlusts eines widerständigen Handlungsgegenübers (der Natur) schwinden sieht, pendelt zwischen Funktionswert und alter deus; die Instanzen, seien sie nun räumlich und zeitlich kommunikationsentfernte Kosubjekte oder eine transformierte Natur einschließlich der menschlichen, die ihre Konturen zu verlieren scheint, und schließlich anerkannte Normen- und Sittengesetze, deren Bezugsbereich (Handlungsoptionen) im Langzeithorizont entweder schwindet, unscharfe Ränder bekommt oder neuartige Kandidaten aufweist, deren Zuweisung zu einschlägigen Normen allererst zu rechtfertigen wäre. In einer solchen Situation scheint die klassische philosophische Ethik zunächst willkommene Argumente zu generieren insofern, als ihre universalistische Rechtfertigungsper-
1 Vgl. Ropohl 1991, Kap. 2.
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spektive den räumlich-zeitlichen Horizont von Regionalmoralen überschreitet und vermöge dessen den Übergang von Singularität zur Allgemeinheit mit der Frage nach deren Ausdehnung als Problem hinter sich läßt. Denn Universalisierung - dies gilt für den Deontologen wie für den konsequentialistisch denkenden rationalen Universalisten2 - zielt auf die unbedingte Notwendigkeit einer Geltung im Unterschied zur Generalisierung, die mit ihrer Verallgemeinerungsbasis steht und fällt. Unter dem Anspruch einer notwendigen Ergänzung hierzu werden aber - öffentlichkeitswirksam - neue Argumentationslinien ins Spiel gebracht unter der Forderung, daß die klassische Ethik zu ergänzen sei durch eine neue „Fernethik" in Wahrnehmung eines neuen Typs von Verantwortung,3 welche sich nicht mehr auf die Zuschreibung von gegebenen Handlungsfolgen zu einem Handlungssubjekt beziehe, sondern auf die vorsorgeträchtige Ermöglichung zukünftigen Handelns im Blick auf die Bewahrung und den Erhalt seiner Bedingungen, substantiiert in Würde, Werten und Gütern. Bei näherer Betrachtung dieser Konzeption wird jedoch ersichtlich, daß wir hier weniger mit einem kategorial neuen Typ von Verantwortung konfrontiert sind, als mit der Forderung nach Spezifikation retrospektiver Verantwortung im Sinne einer Forderung nach deren Antizipation in der Zukunft (wie sie für die Traditionen der Klugheitsethik leitend ist). Ein Subjekt - welches immer es sei - soll ja nur deshalb für den Erhalt von Würde, Werten und Gütern „fernverantwortlich" sein, weil es sich in der Zukunft retrospektiv zu verantworten hat für Leistungen und Fehler, welche in der Gegenwart dahingehend präformiert wurden, daß die Bedingungen der Verantwortungswahmehmung in der Zukunft in dieser Gegenwart gestaltet wurden, also gegebene Handlungsfolgen sind. Um auf ein vielzitiertes Beispiel4 zurückzukommen: Ein Bademeister ist nicht in anderer Weise für den Tod eines Schwimmers retrospektiv (mit-)verantwortlich, wie er für die Sicherheit des Schwimmers (als Gut) prospektiv verantwortlich ist, sondern er ist für diese deshalb verantwortlich, weil er in Zukunft für einen Unglücksfall retrospektiv verantwortlich sein würde. Diese prospektive Verantwortung ist also aus der retrospektiven Verantwortung abgeleitet, ist eine Spezifikation. Die Frage stellt sich somit um die Zumutbarkeit der Antizipation über einen zeitlichen Rahmen hinaus, wie er unter dem Topos kluger Voraussicht immer diskutiert wurde, und verweist uns zunächst zurück auf die klassische Modellierung von KausalhandlungsVerantwortung, die im Lichte der anfangs erwähnten Problemhypothek diskutiert werden muß. Es entsteht ein neues, vielschichtiges Inklusionsproblem: Wer soll einbezogen werden (Subjekt, Instanz), was soll wieweit ausgedehnt werden (Bezugsbereich)? Die klassisch-universalistischen Ansätze philosophischer Ethik reagieren nun unterschiedlich auf diese neue Problemsituation, und darin liegt ein höherstufiger Orientierungsverlust, unterstellt, man hofft, Orientierung erhalten zu können anstelle der kantianisch geforderten Hilfe beim ,^ich orientieren". Wir finden hier quer zu den Ansätzen grosso modo fünf Strategien: 1. Reduktionsstrategien, 2. Immunisierungsstrategien, 3. Strategien
2 Birnbacher 1988, 53 ff. zur Überwindung der Perspektivität von Bewertungsmodellen beim rationalen Egoisten und rationalen Kollektivisten. 3 Jonas 1979, 174. 4 Zimmermann 1992, 1089; vgl. hierzu auch Werner 1994, 303 ff.
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konstruktiver Extrapolation, 4. Modifizierungsstrategien und Spezifikation der Grundbegriffe, 5. Einführung von Ergänzungsprinzipien oder sogenannten Praxisnormen. Der Argumentationsmodus zur Rechtfertigung solcher Strategien hebt an bei einer Analyse einer Störung von Überlegungsgleichgewichten angesichts der neuen Problematik („Die bisherige Rechtfertigungsleistung genügt nicht mehr unseren Ansprüchen resp. ethischen Intuitionen")5 und zielt auf die Herstellung eines neuen Gleichgewichts, welches diesen Intuitionen, in der Diskursethik z. B. modelliert als einklagbare kontrafaktische Präsuppositionen6, genügt. Verschiedentlich wird diese Basisstrategie noch dahingehend differenziert, daß unter den ethischen Intuitionen angesichts der Spezifik der Problemlage moralische Intuitionen Üblichkeiten - in einer neuen Weise funktionalisiert werden, indem durch sie die Anschlußfähigkeit der ethischen Sollensansprüche an die neue Praxis (beschränkte Handlungsspielräume, Endlichkeit unserer Fähigkeiten, Motivationsprobleme etc.) gewährleistet werden soll - dies reicht von Deklarationen einer Als-Ob-Heiligkeit der Natur und einer Rehabilitierung religiösen Denkens bis zum Geltendmachen bewährter Motivationskatalysatoren (Anmutungen wie Furcht und Mitleid) und institutionalisierter Verantwortungsdelegation. Interessanterweise konvergieren die unterschiedlichen Ansätze gerade in diesem Feld. Ich möchte nun in zwei Schritten vorgehen: erstens die genannten Strategien erläutern im Blick auf die Art, wie sie in repräsentativen Ansätzen zum Tragen kommen; zweitens will ich auf diesem Hintergrund ein Moralkonzept skizzieren, welches aus deren Not mit guten Gründen eine Tugend macht - eben die provisorische Moral mit ihrem Dreischritt: 1. Orientierung am Bedingungserhalt, 2. konfligierende Klugheitsregeln, 3. Dissensmanagement. Dieses Konzept befragt Praxen im Blick auf den Erhalt von Rechtfertigungsfähigkeit überhaupt, faßt also z. B. Akzeptabilität nicht als „gerechtfertigte Akzeptanz", sondern schwächer - als Akzeptanz/a/ugfe//. Im Lichte spezifischer Begründungslücken der starken klassischen Strategien mag die „schwache" Argumentation provisorischer Moral attraktiv erscheinen.
2. Die Diskussionslage Die „starken" Strategien reagieren auf die neue Herausforderung, also das Inklusionsproblem und die damit verbundenen Zuschreibungsfragen folgendermaßen:
2.1 Reduktionstrategien Als Reduktionsstrategien bezeichne ich Strategien, die eine neue Spezifik der Langzeitverantwortung darin begründen, daß die Instanz der Verantwortung, der Gegenstand der Verantwortung und ihre Prinzipien zusammenfallen, nämlich auf ein und dasselbe - etwa die 5 Zu ethischen Intuitionen als reflektierten moralischen Institutionen vgl. J. Fischer 1999. 6 Ott 1997, 281 ff. Ott gelangt zu diesen Präsuppositionen über eine „pragmatische Implikation", also eine Selbstvergewisserung über unsere Ansprüche beim Handeln/Argumentieren.
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belebte Natur inklusive Menschheit - reduziert werden, so z. B. bei Hans Jonas. Es wird unterstellt, daß vom Gegenstandsbereich der Verantwortung qua dessen Eigenschaft, immanente Prinzipien zu instantiieren, den Verantwortungssubjekten spezifische Pflichten auferlegt werden. Insofern ist jene zweistellige Verantwortungsrelation7 nicht reziprok und symmetrisch, so daß alle Typen diskursiver Rechtfertigung in koordinierender Absicht entfallen können. Die Geltung jener Ansprüche drücke sich direkt auf dem Hintergrund unserer gegebenen Inklusion in diesen Gegenstandsbereich aus, in Form einer vorfindlich evidenten Intuition des Sorgeanspruchs für selbstsorgedefizitäres Leben angesichts von dessen Furchtund Bedrohungsgefühl, eines Sorgeanspruchs, der seinerseits ex negativo Ausdruck der immanten Zweckhaftigkeit belebter Natur insgesamt ist, welche sich als in ihrer Permanenz gefährdet darbietet. Eine „Heuristik der Furcht" und ihre Rechtfertigung im kategorischen Imperativ der Erhaltung von Permanenz wirft allerdings zahlreiche Applikations- und Rechtfertigungsfragen auf: Wie läßt sich eine Fürsorgeevidenz angesichts der Globalität und Langzeitdimension substantiieren, mit anderen Worten: Wie läßt sich der Übergang aus der Furchtartikulation konkreter Lebewesen zur Furcht vor einer Permanenzbedrohung des Lebens überhaupt gewinnen, welches möglicherweise nur zu Ungunsten bestimmter Lebewesen in seinem Bestand zu sichern wäre? Weiterhin: Was begründet den Übergang von einer Wahrnehmung von Furcht zu einer Heuristik der Furcht (angesichts der Unterlassungsrisiken)? Ferner: Die religiös-metaphysische Begründung bindet uns an eine bestimmte Natur- und Weltsicht und regionalisiert sich selbst: Sähen wir uns als Instanz der Verantwortung gewürdigt, wenn an der Schwelle zur Neuzeit bestimmte philosophische und wissenschaftlich-technische Erträge oder Innovationen aus einer Heuristik der Furcht vor der „Verdammnis" zerstört oder verhindert worden wären? Das Inklusionsproblem ist nicht gelöst.
2.2 Immunisierungsstrategien Anthropologisch orientierte Ansätze suchen uns dahingehend zu belehren, daß Individuen eine naturgegebene Beschränktheit ihres Raum- und Zeithorizontes inhärent sei. Ein daraus resultierender Partikularismus präge gerade das Evolutionsgeschehen, indem er einerseits Vielfalt als Arsenal der Selektion garantiere und andererseits aus der Not des Selektionsgeschehens funktional begründete institutionalisierte Handlungsmuster privilegiert habe, welche qua Hintergrunderfullung die „objektiven Interessen" wahre (z. B. die Ermöglichung partikularen - etwa gen-egoistischen - Disponierens der Lebewesen). Individuelle Subjekte sind somit gegen die Zumutung der Langzeitverantwortung immunisiert, und in einer ethologisch-funktionalen Arbeitsteilung wird der Institutionendynamik das Äquivalent zur Wahrnehmung von Langzeitverantwortung überantwortet, wobei sich die Funktionserfüllung immer erst im Nachhinein erweist (falsifikatorische Asymmetrie des Systemgesche-
7 Müller 1988,65, 88, 132.
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hens). Unter einer solchen „Moral zweiter Hand", wie Arnold Gehlen sie nennt,8 pendelten die Subjekte, wie er meint, zwischen einer institutionell gebotenen Erweiterung des Verantwortungshorizontes - Fernethik - auf dem Hintergrund einer Potenzierung des Fortschritts als sogenanntem Lebensgesetz und „moralischer Überforderung", was Gehlens Skepsis bezüglich den Möglichkeiten einer solchen Fernethik begründet. Diese Ambivalenz ist direkte Folge des ungelösten Begründungsproblems dieser Gruppe von Ansätzen: Denn jener Evolutionismus ist selber Resultat einer Modellierung, also höherstufig anthropozentrisch so wie jeder biozentrische Ansatz; somit ist die Immunisierung keine vorftndliche, sondern Resultat vermöge einer Konstruktion, welche sich nicht über sich selber vergewissert hat. Das Inklusionsproblem wird sozusagen wegdefiniert.
2.3 Konstruktive Extrapolationen Dieser Argumentationstyp findet sich im Rahmen verschiedener Ansätze, welche im Ausgang von einer Rekonstruktion lebensweltlich verankerter Rechtfertigungsstrategien (von denjenigen diskursiver Verständigung9 bis zu eher intuitiv fundierten wie Scham oder Empörung10) Langzeitverantwortung auf die Basis stellen, daß keine Rechtfertigung eines Abbruchs einer Extrapolation des Gültigkeitsbereichs ersichtlich sei. Es handelt sich um einen ex negativo begründeten Universalismus. So schreiben sich Pflichten, Rechte und intuitive Anmutungen mit ihren Subjekten der jeweils lebenden Generationen unabhängig einer nicht mehr oder noch nicht gegebenen Existenz von artikulationsfähigen Trägern fort und begründen eine „Kooperationsgemeinschaft"11 aller Generationen. Solche konstruktiven Extrapolationen verschieben die Beweislast gegenüber ihren Kritikern auf das Vorbringen von Argumenten, welche den Abbruch der Extrapolation zu begründen hätten - darin liegt ihre Stärke. Ihre Schwäche liegt in der Fragilität der entsprechenden Extrapolationsbasis, ihrer kulturellen Bedingtheit, somit ihrer Kontingenz. Das Inklusionsproblem wird via Beweislastumkehr verschoben.
2.4 Strategie der Modifikation und Spezifikation der Grundbegriffe Es sind im wesentlichen ethische Intuitionen, welche in zahlreichen klassischen Ansätzen eine Modifikation oder Spezifikation der einschlägigen Grundbegriffe leiten. Im Bereich der deontologischen Ethiken finden wir den Transfer geschuldeter Pflichten „gegenüber dem und dem" zu Pflichten bezogen auf potentielle Gegenüber oder zu Pflichten „in Ansehung" des erweiterten Bezugsbereichs uns selbst gegenüber. Pflicht als Notwendig-
8 Gehlen 1961, 137 ff. 9 Gethmann 1961, 7. 10 Mehl 1998, Kap. 5.1.3 im Anschluß an Tugendhat 1993 und K. Baier 1995. 11 A. Baier 1980.
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keit einer Handlung aus Achtung vor dem Gesetz wird modifiziert, weil das Gepflichtete insofern unklar wird, als der Geltungstransfer der faktisch anerkannten Freiheit von Handlungen auf das zugrundeliegende Gesetz (Kant) bzw. von faktisch Argumentierenden auf die Argumentationsfähigen (Diskursethik)12 fraglich wurde - es entsteht eben das Inklusionsproblem, welches die Strategien 1. bis 3. zu umgehen suchten. Somit gelangen wir in den Nebel von Potentialitäten, und es entsteht die Notwendigkeit von Eingrenzungen, welche in unterschiedlicher Form vorgeschlagen werden und neue Rechtfertigungsprobleme aufweisen (z. B. kausalistisch-pragmatisch bei Feinberg13, gattungsspezifisch als Potentialität zweiter Ordnung bei Skirbekk14). Das relativiert die Pflichten in doppelter Weise: Es macht sie hypothetisch und relativiert noch ihre Hypothetizität. Sprechen wir hingegen nur von Pflichten uns selbst gegenüber und spezifizieren diese „in Ansehung" bestimmter (auch zukünftiger) Lebewesen, so ist diese Argumentation begrenzt durch die hierdurch nicht ernötigte Gewährleistung gerade der Existenz von Ansehungsobjekten. Diesem Problem entgehen utilitaristische Ansätze, indem der Begriff des Erwartungsnutzens durchaus an die Existenz entsprechender Individuen gebunden wird. Zwar unterliegen zunächst sowohl ein übergenerationell modellierter Nutzensummenutilitarismus als auch ein Durchschnittsnutzenutilitarismus den von Parfit vorgetragenen „anstößigen Folgerungen"15 entweder einer kompromißlosen Erhöhung der Zahl von Individuen, die ihr Leben noch lebenswert finden, oder deren Verminderung zugunsten des Durchschnittsnutzens. Durch Modifizierung unterschiedlicher Art im Blick auf das Prädikat „lebenswert" läßt sich ersterem allerdings begegnen, sei es, daß man aus nutzensummenutilitaristischer Perspektive an der Idealnorm festhält und sie spezifiziert in Berücksichtigung der Beurteilung subjektiver Unfreiheit der späteren sowie der Unfreiwilligkeit dieser Unfreiheit, also die Nutzenbilanzierung im Blick auf unterstellte latente und implizite Präferenzen auflädt (Birnbacher16) - damit wird der Nutzenbegriff dogmatisch; oder sei es, daß schließlich Nutzens- und Schadenserwartungen - und somit der Dogmatismus selbst - diskontiert werden. Allerdings hat der „Nebel der Diskontierungsvorschläge" (Hampicke17) allenfalls eine dezisionistische Basis, so daß als Ausweg nur verbleibt, das Abdiskontieren als pragmatisches Steuerungsinstrument der Mittelwahl zu betrachten, wie es Ortwin Renn vorsieht." Ein negativer Utilitarismus als Prinzip der Fernverantwortung erscheint nicht haltbar, da sich aus der Anwendung des Maximin-Prinzips ergibt, daß eine besser gestellte Generation insofern nicht legitimiert wäre, als ihre vorhergehende zu viel vererbt hätte, so daß die Entwicklung auf dem Ursprungsniveau stagnieren muß, was kontraintuitiv erscheint.
12 Wellmer 1992. 13 Feinberg 1980, 174 ff. 14 Skirbekk 1995. 15 Parfit 1984, Kap. 17, Kap. 19. 16 Birnbacher 1988, 77. Es ist dies sicherlich ein Dogmatismus im guten Sinne - freilich basiert er auf einer Projektion unseres Freiheitsbegriffes, welche rechtfertigungsbedürftig ist. 17 Hampicke 1991, 127-150. 18 Renn 1993.
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Diese Konsequenz ergibt sich auch für Vertragstheorien, stellvertretend Rawls, der seine Modellierung des Urzustands von einer intra-generationellen zu einer inter-generationellen Variante modifizieren muß:19 Als Urberatung von Eltern, welche sich für zwei weitere Generationen verantwortlich fühlen, ohne zu wissen, welcher Generation sie angehören. Aus Versuchen, diesen Ansatz zu spezifizieren, resultieren ökonomische Fehlinterpretationen, welche einzig das Differenzprinzip zum Ausgang nehmen und entweder nutzensummenutilitaristisch operationalisieren (Solow-Kriterium20) oder durchschnittsnutzenutilitaristisch (Non-declining-welfare-Kriterium, NDWK21). Durch diese Art der Nutzenaggregation geht das Grundanliegen Rawls' - ausgedrückt in seinen beiden anderen Grundsätzen (Prinzip des gleichen Zugangs von Grundrechten und -freiheiten sowie zu Positionen und Ämtern) verloren. Letztlich liegen die Schwierigkeiten der Equality-of-welfare-Theorien, sofern sie als Spezifikationen der Rawlsschen Theorie verstanden werden sollen, darin, daß sie von einem Desire-Modell menschlichen Handelns ausgehen, welches gerade intrinsische Werte nicht zu berücksichtigen erlaubt. Dies erklärt auch, warum Rawls seinen Spargrundsatz als Einschränkung des intra-generationellen Differenzprinzips nicht aus seiner Theorie ableiten kann, sondern dem Abwägen der jeweils am schlechtesten Gestellten überläßt, wobei auch hier offenbar Klugheitsregeln zur Geltung kommen sollen. Reduzieren wir hingegen die Vertragstheorien auf Fragen einer materialen Ermöglichung gerechter Ordnung, welche als solche nicht weiter substantiiert wird, so gelangen wir zu einer minimalistischen Gütertheorie und in den Streit um die Kataloge entsprechender Grundgüter.22 Die Schwachstellen aller Modifizierungen lassen sich in einer Gemeinsamkeit zusammenfassen: der Projektion ihrer eigenen normativen Grundannahmen auf das jeweils Potentielle zum Zwecke von dessen Zähmung, wodurch zukünftiges Handeln vorab modelliert wird. So ist in konkreto der Streit um die Vereinbarkeit der Nachhaltigkeitsprinzipien als Erhalt von Regenerationsfahigkeit, Substitutionsfähigkeit und Assilimationsfähigkeit sowie deren konkreter Ausgestaltung ein Spiegelkabinett der unterschiedlichsten Verzerrungen theoretischer Prinzipien in modifizierender Absicht.23 Das Inklusionsproblem bleibt ungelöst: Was soll als („potentielle") Ressource gelten, wie weit soll Substitution unter dem Gesichtspunkt „potentieller Funktionalität" erlaubt werden? Soll Assimilation für das Gesamtsystem einschließlich der Menschen gelten etc.?
19 Rawls 1975, §§ 44-46; dazu Birnbacher 1977, 386 ff. 20 Solow 1974, 29. D.h., es darf (über die Abschreibungen hinaus) keine Nettoinvestition durch eine Generation vorgenommen werden, weil das maximal mögliche Konsumieren über eine Zeitachse erreicht werden soll, also nicht das Konsumieren der Spargeneration reduziert werden darf. 21 Norgaard 1992, dazu Acker-Widmaier 1999. 22 Vgl. z. B. die Diskussionen im Blick auf Nußbaum 1990, 1993. 23 Hubig 1997, Kap. 6.
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2.5 Ergänzungsprinzipien/Praxisnormen Diese letzte Strategie stellt sich insofern den Schwierigkeiten, als sie die eigenen normativen Grundannahmen als Ideale zwar unberührt stehen läßt, jedoch durch Praxisregeln ergänzt, welche anschlußfähig sind an moralisch-regionale Intuitionen und welche in strategischpragmatischer Hinsicht unser Handeln in Ansehung der Problemlagen orientieren sollen. Gleich von welchem Ansatz aus diskutiert wird, gibt es deutliche Konvergenzen: Aus pflichtethischer Perspektive werden Regeln vorgeschlagen, welche die Verbindlichkeit der Pflichtausübung abstufen (relativ zur endlichen Wirkmacht von Individuen und Institutionen) und Verantwortungsdelegationen auf andere Individuen und Institutionen rechtfertigen (Gethmann24), Zumutbarkeit in praktischen Diskursen lebensweltlich relativieren (Habermas25), die alltägliche Praxis der Beratung und des Ausgleichs unter die Zusatzintention stellen, Entfaltungsbedingungen für Freiheit und Gerechtigkeit zu entwickeln (Apel26) und somit die sachzwangbedingten „moralischen Schulden" normativer Texturen schrittweise abzubauen (Kettner27). Oder es werden unter aristotelisch biozentrischer Perspektive Regeln entworfen, die angesichts einer nicht einlösbaren Verantwortung für alles Lebendige unserer Endlichkeit dadurch entsprechen, daß im Lichte notwendiger Fallibilismusvorbehalte und Reversibilitätsforderungen ein Demokratieprinzip begründet wird, welches selbst als kritisches Instrument gegen Mehrheitsbeschlüsse irreversibler und unkompensierbarer Art einsetzbar wird (Spaemann28). Und unter utilitaristischer Perspektive werden Regeln vorgeschlagen, welche motivationale Hintergründe berücksichtigen und entsprechend etablierte Werte wie kollektive Selbsterhaltung, Ausschluß der Gefährdung menschenwürdiger Existenz (Frieden), Wachsamkeit, Bewahrung kultureller Ressourcen, Subsidiarität, Erziehung nachfolgender Generationen etc. protegieren (Birnbacher29). Und schließlich wird aus vertragstheoretischer Perspektive konzediert, daß Paternalismus seine Rechtfertigung finden darf, soweit er in bestimmten Typen des Sorgehandelns vorfmdlich ist und insofern eine „natürliche Anleitung für unsere Intuitionen" abgeben kann (Rawls30).
24 Gethmann 1993. 25 Habermas 1991, 100-118; 1992, 196-200; 1996, 63 f. 26 Apel 1988. 27 Kettner 1999, Kap. IV. 28 Spaemann 1980, 202 ff. 29 Birnbacher 1988, Kap. 6. 30 Rawls 1975, 162; der Regelkatalog, den Skorupinski 1996, 300 vorgeschlagen hat, stellt eine Synthese der Praxisregeln in operativer Absicht dar.
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3. Der klugheitsethische Ansatz 3.1 Regeln statt Prinzipien Die Vielstimmigkeit im Philosophieren über Langzeitverantwortung entsteht im wesentlichen dadurch, daß die Prinzipien, welche die Modellierungen leiten, selbst unangetastet bleiben. Qua solcher Immunität konfligieren diese Prinzipien. Und da diese Prinzipien ihrerseits bestimmter Prinzipien bedürfen, welche die Herstellung eines Praxisbezugs leiten, da dieser sich nicht aus den Prinzipien selbst ergibt, finden wir in diesem Bereich ein neues Konfliktfeld. Es sind dies die beiden Ausgangsprobleme, welchen sich eine Klugheitsethik stellt, wie sie in der Tradition von Aristoteles begründet wurde. Da das Gute nicht als Oberbegriff in einem Prinzip formulierbar ist - vieles erscheint je nach Hinsicht zugleich als gut oder schlecht31 - , wird das Gute als gelingendes Streben formal gefaßt, und zwar im Blick auf den Gesamtlebensvollzug als Gelingendem (im Sinne einer inclusive-end-Theorie des Glücks).32 Dies verhindert eine Verkürzung des Klugheitsdenkens auf das Feld rein strategischer Mittelwahl. Zum Gelingen eines Gesamtlebensvollzugs als Eupraxia müssen alle Handlungsmittel dahingehend zusätzlich validiert werden, daß sie die notwendigen Handlungsbedingungen nicht gefährden. Die Extreme, welche im Habitus der Tugend zu vermeiden sind, sind diejenigen, die das Subjekt der Entscheidung überhaupt gefährden und diejenigen, die die Spielräume seines Entscheidens gefährden. Die Auszeichnung bestimmter singulärer Werte als einzig orientierend oder bestimmter Güter als einzige Ziele von Handlungsoptionen führt zu Vereinseitigungen, welche das Gesamtgelingen als basale Option beschädigen. Da substantiierte Prinzipien femer ihren Gegenstandsbezug nicht selbst bestimmen, bedürfen wir eines Vermögens, unter dem relevante Eigenschaften des Bezugsproblems soweit ausgezeichnet werden, daß sie entweder bestimmten Handlungsmaximen als „in der Mitte" zwischen den Extremen, oder solchen unter dem Vereinseitigungsverdikt zugerechnet werden können. Dieses Vermögen ist im weitesten Sinne dasjenige der Urteilskraft. Schließlich - und dies ist das vierte Essential der Klugheitsethik - lassen sich die Suche nach der „Mitte für uns" im Modus des Abwägens und die urteilskraftgestützte Diagnose der Problemlagen nicht von Individuen einzeln bewerkstelligen. Deshalb bedarf die Klugheitsethik ihrerseits einer institutionellen (politischen) Vervollkommnung:33 Erst durch die politisch realisierte Ermöglichung des Abwägens auf sachzwangbefreiten Foren sowie eine Ergänzung individueller Erfahrungen hin zu einer Lebenserfahrung, deren Inhalte durch Erziehung und Bildung vermittelt werden, entstehen Klugheit und Urteilskraft. In der modernen Diskussion modelliert man die basalen Werte, in denen der Bedingungserhalt zum Ausdruck kommt, als Vermächtniswerte, welche die Gesamtheit der Bedingungen umfassen, die zur Herausbildung von Ich-Identität und Handlungskompetenz zu erhalten sind, sowie als Optionswerte, welche sich auf die weitestmögliche Aufrechterhal31 Aristoteles NE I. 4, 1096 a 24 ff. 32 Aristoteles NE VII. 5, 1140 a 25-28. 33 Aristoteles NE I. 3, 1095 b 4-6, X. 10, 1181 b 20 ff.; Politik I. 2 und III. 9.
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tung von Handlungsspielräumen beziehen.34 Diese Werte sind nicht absolut zu bestimmen, sondern nur in ihrem jeweiligen mehr oder weniger Instantiiertsein in konkreten Wertsetzungen. Darüber konfligieren sie oftmals im konkreten Fall. Als Resultat des Abwägens werden daher fallible Priorisierungen angestrebt. Dieser Problematik tragen die Klugheitsethiken insofern Rechnung, als die Tableaus und Regelarchitekturen, die sie anbieten, durchaus gegensätzliche Regeln enthalten, welche im Modus eines beständigen Abgleichs in Anschlag zu bringen sind und nicht im Modus einer notwendigen Auszeichnung einer dieser Regeln als höchster, also als Prinzip. Die Relativierung der Regeln hat dabei drei Quellen: die Vermeidung von Vereinseitigungen, die urteilskraftmäßige Berücksichtigung der sich wandelnden Problemspezifik und den Erhalt der politischen Garantien für die Fortschreibung des gesamten Verfahrens. Der Partikularismus unterschiedlicher Werthaltungen erscheint dabei nicht als Herausforderung zu seiner Auflösung, sondern als ernstzunehmender Ausweis verschiedener Optionen des Strebens, so daß sich eher die Forderung stellt, einen Umgang zu suchen, welcher die Dissense weitestmöglich erhält, als sie auf eine konsensuale Lösung objektstufig festzulegen. Es sind also höherstufige Konsense zu begründen über die jeweilige Möglichkeit, Dissense weitestmöglich zu erhalten.
3.2 Ethik als provisorische Moral 35 Eine spezifische Ausprägung der Klugheitsethik erscheint nun für uns deshalb attraktiv, weil sie in einer Umbruchsituation entwickelt wurde, welche ähnliche Züge trägt wie die heutige. Es ist die provisorische Moral des Descartes, die einerseits typische Züge einer Klugheitsethik aufweist, deren Regeln aber soweit spezifiziert sind, daß sie einen Umgang mit den Dissensen, welche ich anfangs skizziert habe, zu leiten vermag - also bestimmte Strategien des Dissensmanagements begründen kann. Die Herausforderung liegt in der Ungewißheit im Blick auf die langfristige Entwicklung des Gegenstandsbereiches sowie im fundamentalen Zweifel an Prinzipien der Orientierung. Ungewißheit und Zweifel lassen sich aber nicht zeitlich relativieren (Stichwort Expertendilemma), so daß das Problem der Langzeitverantwortung unter dieser Perspektive nicht als spezifisches Problem erscheint. Eine pragmatisch-provisorische Moral stuft Prinzipien grundsätzlich wieder zu Regeln herunter. In diesem Status stehen alle Regeln konfligierend nebeneinander und eröffnen einen Suchraum. Andererseits darf provisorische Moral nicht als Lizenz zum Relativismus fehlinterpretiert werden. Sie folgt in ihrem Konzept zwar der Einsicht, daß eine Letztbegründung ihrer einzelfallbezogenen Empfehlungen nicht zu erbringen ist; gleichwohl ver-
34 Vgl. hierzu Hubig 1993, Kap. 8.2.; mit anderem Akzent Birnbacher 1993, 311. 35
Ethik ist Reflexion der Moral. Hier drückt sich dies darin aus, daß Moral als „provisorische" reflektiert wird.
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fugt sie über eine stabile Binnenstruktur, welche sie als „Moral für unterwegs" (Peter Fischer) geeignet erscheinen läßt.36 Zwar war Descartes' Entwurf jener vorläufigen Moral noch durch die Hoffnung entlastet, daß wir künftig möglicherweise in der Lage seien, ein „festes ethisches Haus" zu erbauen, das uns eine Sicherheit gibt, über die wir gegenwärtig noch nicht verfügen. Dieser Optimismus ist für uns unbegründet. Zunächst: Im Blick auf das Bild eines ethischen Hauses wäre provisorische Moral in ihrer Elastizität etwa mit einem Zelt zu vergleichen, welches zwar ein fest fundamentiertes Haus nicht ersetzen kann, aber deutliche Qualitäten aufweisen muß, um seinen Zweck, eine sichere Reise in die Zukunft zu ermöglichen, zu erfüllen (Flexibilität, Sturmfestigkeit, leichter Ab- und Aufbau, Transportdienlichkeit etc.). Zwar können wir im Gegensatz zu Descartes wohl nicht mehr davon ausgehen, ein Ziel zu erreichen und dann dort das erstrebte „ethische Haus" zu erbauen; für eine provisorische Moral bleibt aber, der Forderung zu entsprechen, die „Reise" im Zuge der Dynamik der technischwirtschaftlichen Superstruktur zukunftsfähig zu gestalten. Descartes hat - wie alle Klugheitssethiker - Regeln anempfohlen, welche auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, in dieser Widersprüchlichkeit aber einen Sinn aufweisen, weil sie sich gegenseitig jeweils problemadäquat zu relativieren vermögen. In ihrer Gesamtheit geben sie somit ein oberstes flexibles und fehlerfreundliches Regelsystem ab, das für unsere Zwecke anregend sein kann. Descartes' erste Regel fordert die Orientierung an herrschenden Gesetzen, Sitten und Üblichkeiten. Seine zweite Regel fordert das Festhalten an Ansichten und Entscheidungen, selbst wenn diese zweifelhaft und bloß wahrscheinlich trifftig sein sollten bis zur Problemlösung oder ihrem Scheitern. Seine dritte Regel fordert eine Selbstbeschränkung auf die Grenzen der jeweils eigenen Handlungsmacht. Die vierte Regel, eine höherstufige Regel, die den Einsatz der ersten drei ihrerseits reguliert, fordert die Vervollkommnung der Urteilskraft. Von hier aus finden wir nun den Zugang zu seinem Gesamtsystem: Denn Urteilskraft bewerkstelligt die Anwendung von Regeln auf den Fall, und eine solche Anwendung hätte, da wir drei auf den ersten Blick widersprüchliche Regeln antreffen, genau deren Relativierung zu leisten. Andreas Luckner hat ein Tableau entsprechender Relativierungen erarbeitet, auf die ich hier nicht im einzelnen eingehen kann. Nur soviel: Wenn Üblichkeiten versagen (Regel 1), weil das Problem neu ist, müssen Entscheidungen getroffen werden („Ein Weg aus dem Wald gewählt und beibehalten werden"), andererseits sollten solche Entscheidungen zugunsten des Üblichen aufgegeben werden, sobald wieder eine Insel anerkannten Wissens oder allgemeiner Orientierung berührt wird. Dezisionismus und Konformismus können sich also wechselseitig relativieren. Desgleichen läßt sich ein rigoroser Dezisionismus relativieren durch Einsicht in die eigenen Wissens- und Handlungsgrenzen (Regel 3), welche, fürs ganze genommen, einen Relativismus begründen würde, der die Erfahrung der eigenen Grenzen gar nicht mehr machen könnte, würde er sich nicht auch an der Regel 2 orientieren. Zugleich aber korrigiert die Regel 3 den Absolutheitsanspruch tradierter Sittlichkeit (Regel 1) durch Aufweis ihrer Grenzen, und die Orientierung an der Re-
36 Fischer 1996; vgl. zum Nachfolgenden die Ausarbeitung des Descartesschen Ansatzes bei Luckner 1996.
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gel 1 wiederum relativiert den Relativismus, indem sie die Achtung seiner institutionellen Grundlagen anmahnt.
3.3 V o m Umgang mit Dissensen In der hier geschilderten Tendenz versucht also provisorische Moral einen Umgang mit Unsicherheiten zu leisten, indem sie ein optimiertes System des auf wechselseitiger Korrektur beruhenden Ausgleiches einseitiger Handlungsstrategien entwirft. Freilich dürfte angesichts einer zunehmend dynamisierten technologischen Kultur die Hoffnung auf eine Ausbildung individueller Urteilskraft der Problemlage nicht gerecht werden, da gerade unsere individuelle Endlichkeit einer Diversifizierung der Lebenswelten nicht mehr Herr wird und das zunehmende Auseinanderfallen von Wirkwelt und Merkwelt ein learning by doing erschwert." An dieser Stelle nun sind gerade diejenigen Verfahren des Dissensmanagements gefragt, die nun - gerade nicht wie bei der diskursethischen Variante der Pflichtethik - nicht etwa die Beteiligten durch Erzielen oder gar Einklagen von Konsens festzulegen sucht, sondern sie in die Lage versetzen wollen, mit ihren jeweils partikular begründeten Dissensen in einer Weise umzugehen, die ein Lernen, ein Umdisponieren, ein fehlerfreundliches Planen und Korrigieren nicht verstellt.38 Insofern kann das vorgeschlagene Dissensmanagement jene Regeln einer provisorischen Moral zur Anwendung bringen. Es reizt - problemadäquat - die Möglichkeitsspielräume begründeter Konflikte aus und begrenzt zugleich deren Aushalten in denjenigen Fällen, in denen jeweils eine der konfligierenden Optionen (dezisionistisch und rigoristisch) die Zukunftsfahigkeit der konfligierenden Optionen und ihres Konfliktfeldes insgesamt gefährdet („Overkill" einer Option, welcher vorübergehend prohibitive Maßnahmen entsprechend einer Heuristik der Furcht begründet). 3.3.1 Die Individualisierungsregel - Der „Markt" entscheidet So kann der Vorschlag, in bestimmten Fällen die Problemlösungen der individuelle Rechtfertigung von Individuen zu überantworten, als Relativierungsresultat der Descartesschen Regeln 3 und 2 begriffen werden unter der (urteilskraftmäßig) erschlossenen Möglichkeit individuell komplementärer Problemlösungen, ohne Dominanz einer über die anderen (individuelle Risikoübernahme bei gleichzeitiger individueller Gratifikation, z. B. bei gekennzeichneten gentechnisch optimierten Nahrungsmitteln oder der Geburtenplanung). Dies gilt auch für Diskontierung bei wohldefiniertem Nutzen/Schaden, orientiert am Zinssatz als Resultat der Entscheidungen. Freilich vermag in vielen Fällen ein Verweis auf Auswirkungen im Bereich der Naturgestaltung, der Bevölkerungspolitik sowie weiterer Bedrohungen sozialer Generierungsbedingungen von Individualität, welche aus jener liberalen Strategie resultieren können (Descartes' Regel 1), diese Lösungsstrategie insgesamt zu problematisie-
37 Hubig 1998. 38 Hierzu ausführlicher Hubig 1996.
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ren. Daher dürfte sie im Blick auf die Wahrnehmung von Langzeitverantwortung selten in Frage kommen. 3.3.2 Die Regionalisierungsregel Eine Befürwortung einer Regionalisierung von Problemlösungen im Blick auf inhomogene Problemlagen (z. B. im Blick auf Entwicklungsländer), welche der Erfordernis angepaßter Lösungen und einer damit verbundenen Kasuistik Rechnung tragen, kann als wechselseitige Relativierung der cartesischen Regeln 1 und 3 begriffen werden. Sie findet ihre Grenzen dort, wo aus dem regionalen Kompensationsgeschehen globale Wirkungen resultieren, die ihrerseits nicht kompensierbar erscheinen. Dies schränkt eine Differenzierung von Zeit- und Raumhorizonten ein. 3.3.3 Problemrückverschiebung Weiterhin kann die Strategie einer Problemrückverschiebung an die Wurzel der Probleme (welches sind die problemkonstitutiven Bedürfnisse?) angesichts anerkannter Nachteile aller gegebenen Optionen verbunden mit der Notwendigkeit einer neuen Suchraumeröffnung als wechselseitige Relativierung der Regeln 1 und 3 modelliert werden, welche ihre Grenze dort findet, wo unter der Dominanz der Regel 1 ein Dogmatismus bezüglich „wahrer" Bedürfnisse oder „eigentlicher" Interessen das Abwägen verstellt (zum Beispiel: „von den problematischen Optionen der Energiebereitstellung zurück zum Suchraum für geforderte Energiedienstleistungen", „von der problematischen Nutzpflanzenoptimierung zurück zu einer Verbesserung der Distributionsweisen" etc.). 3.3.4 Verschiebung der Problemlösung Die Strategie der Problemlösungsverschiebung respektive eines Moratoriums angesichts einer nicht kalkulierbaren Ungewißheit bei fehlendem unmittelbaren Problemlösungsdruck ist der Regel 3 verpflichtet (z. B. im Blick auf die Züchtung resistenter Mikrobenstämme zur Müllverarbeitung oder die ungelösten Probleme einer versiegelten Endlagerung - zugunsten reparabler Zwischenlager), einer Regel, die aber angesichts von Krisensituationen und Unterlassungsrisiken durch die Regel 2 zu relativieren ist (Nutzpflanzen in der „Dritten Welt"). 3.3.5 Prohibitive Maßnahmen Und so kann die Prohibition (das vorübergehende „Verbot" einer Lösungsoption ungeachtet der Rechtfertigungslage) allein aufgrund eines „Overkills" entsprechenden Optionen (einer Gefährdung weiterer Disponibilität, Ausschluß der konkurrierenden Optionen) auf dem Hintergrund einer Beweislastverschiebung für die Verfechter neuer Lösungen (angesichts einer wenn auch problematischen Tragfähigkeit tradierter Lösungen) als wechselseitige Relativierung der Regeln 1 und 3 begriffen werden, welche ihrerseits ihre Grenzen dort findet, wo durch prohibitive Maßnahmen Lösungspotentiale irreversibel zerstört werden, weil selbst problematische Problemlösungsoptionen (z. B. Kernenergienutzung) in Gänze einer Fortschreibung und neuen Visionen entzogen werden.
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3.3.6 Kompromiß Und schließlich erscheint der Kompromiß der Regel 1 verpflichtet. Die Berufung auf die Regel 1 wird durch die Berufung auf die Regel 3 affirmiert (nicht relativiert), weil „Endlichkeit" quasi ontologisiert wird. Dies steht jedoch unter der Hypothek, daß Kompromisse in der Regel Lösungen nur verschieben, und daß hierdurch insbesondere Unterlassungsrisiken bezüglich der Dissensmanagment-Strategie „Problemrückverschiebung" eingegangen werden. Oftmals wird die Problemwurzel nicht erreicht und gerät aus der Erinnerung, wenn Problemlösungen bloß fortgeschrieben werden und ihre Komplexität mit der Erhöhung entsprechender Umwelterfordernisse steigt, sie somit zunehmend unverfiigbar werden (Energiemix, Verkehrsmix, Rentensystem, sanfter Tourismus). Insofern erscheinen Kompromisse nur dort legitimierbar, wo sie als Lösungen mit „schlechtem Gewissen" zunächst eine Atempause verschaffen, bis andere Dissensmanagement-Strategien greifen können, Kompromisse also unter die Regel 3 gestellt werden.
4. Schluß Die Empfehlung bestimmter Strategien respektive des Ausschlusses anderer kann sich bei ihrer Rechtfertigung auf die höherstufigen Werte berufen, deren Berücksichtigung überhaupt die weitere „Reise" ermöglichen und somit als allgemeine Basiswerte ohne Zielgebundenheit ausgezeichnet werden können. Sie erhalten Dissensfahigkeit und Anerkennungskompetenz überhaupt für die jeweiligen Regeln der Rechtfertigung sowie deren unterschiedliches In-Anschlag-bringen. Sie gewährleisten, die Spielräume für Handlungsoptionen möglichst groß zu halten (Berücksichtigung von Optionswerten) und die für die Herausbildung von Identität vorauszusetzenden sozialen Strukturen so wenig wie möglich zu beschädigen (Berücksichtigung der Vermächtniswerte). Sie lassen sich herunterdeklinieren bis in den Umgang mit ganz konkreten Handlungsoptionen, indem sie bei gegebener konkreter Zielstellung eine Zusa/zvalidierung anbieten im Blick auf Reversibilität, Fehlerfreundlichkeit, elementaren Bedingungserhalt in tutoristischer Absicht. Sie münden in Priorisierungen bestimmter Strategien im Umgang mit Dissensen als Orientierungsleistung. Orientierung bedarf dreierlei: eines „Kompasses", einer „Landkarte" und einer Standortbestimmung. Hierzu trägt eine provisorische Moral bei. Sie hat insofern die Funktion eines „Kompasses", welcher, einem Bild Kants folgend, die konkreten Ziele nicht vorschreibt, und welcher seinerseits einer Landkarte bedarf, um die geforderte Orientierungsleistung zu erbringen. Diese Landkarte stellen uns die kulturellen Errungenschaften vor, vom Expertentum der Fachwissenschaften bis zur bildungstraditional vermittelten Ersatzlebenserfahrung als Horizonterweiterung; den Kompaß bietet die Klugheitsethik an, und die Modellierung der Bedürfnislage und konkreter möglicher Lösungsziele - Standortbestimmung - obliegt allen gegenwärtig Betroffenen, welche allerdings die Begrenztheit ihrer Horizonte durch die Fehlerfreundlichkeit der vorgeschlagenen Optionen kompensieren können. Damit wird das Inklusionsproblem gemildert. Klugheitsethik tritt in eine „Lücke", die diesen Namen nicht verdient, weil sie die Mehrzahl der Dissense charakterisiert. Mit konvergierenden Prinzipienethiken berührt sich die
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Klugheitsethik dort, wo Extreme disqualifiziert werden. Hier eröffnet sich das Feld für eine Ethik institutionellen Handelns aus dem Geist provisorischer Moral:39 Sie zielt auf die Rechtfertigung des Anschlusses desjenigen individuellen Handelns, welches den Erhalt des Weiterhandelnkönnens gefährdet, als eine Ethik des „Offenlassens", welche sich nicht abhängig macht von einer individualethischen Rechtfertigungsstrategie, welche ein wie auch immer modelliertes und faktisch anerkanntes „Ich" zur Ausgangsinstanz nimmt. Sie zielt insofern nicht auf Akzeptabilität im normativen Sinne (als Gegenpol zur faktischen Akzeptanz), sondern auf Akzeptabilität als „Akzeptanzfähigkeit", mögliche Akzeptanz. Somit antizipiert sie auch nicht, in vorschneller Lösung des Inklusionsproblems, individuelle Rechtfertigung. Sie äußert sich im „klugen" Dissensmanagement (ihr Fehlen macht sich z. B. auf dem Feld globaler Wirtschaftspolitik schmerzlich bemerkbar - im Zuge der Selbstaufhebung des Wirtschaftens selbst angesichts einer Verlagerung des Wirtschaftens in die Finanzmärkte). Im Blick auf das zentrale Thema der „Langzeitverantwortung", die Nachhaltigkeitsfrage, lassen sich ebenfalls Vereinseitigungen feststellen, die eines klugen Dissensmanagements bedürfen: wenn der Regenerationserhalt die Optimierung von Regeneration soweit rechtfertigt, daß andere Optionswerte (z. B. ästhetischer Art) ausgegrenzt werden; wenn Substitution soweit gerechtfertigt wird, daß Freiheitserwägungen in eine wohlfahrtsbezogene Modellierung von Durchschnittsnutzen nicht mehr einfließen; wenn im Zuge einer „Disneyland-Definition" von Nachhaltigkeit Assilimation soweit gerechtfertigt wird, daß nur noch der Erhalt eines wie immer veränderten Gesamtsystems im Focus liegt, von dem wir nicht wissen, warum wir ihn überhaupt wollen sollen.
39 Dies ist weiter ausgeführt in Hubig 2000.
Langzeitverantwortung
im Lichte provisorischer
Moral
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Angelika Krebs
Wieviel Natur schulden wir der Zukunft? Die Frage nach unserer ethischen Verantwortung gegenüber der Zukunft läßt sich in drei Unterfragen auffächern: 1. ob wir überhaupt eine Verpflichtung gegenüber noch nicht existierenden Wesen haben, die Frage nach der Begründung der zukunftsethischen Verpflichtung also, 2. wenn die erste Frage mit „ja" beantwortet ist, was wir Zukünftigen schulden, die Frage nach der Hinsicht der zukunftsethischen Verpflichtung also, und 3. wiederum eine positive Antwort auf die erste Frage und irgendeine Antwort auf die zweite Frage voraussetzend, wieviel wir Zukünftigen schulden, die Frage nach dem Maß der zukunftsethischen Verpflichtung also (vgl. Baier 1984, 215). Wie der Titel meines Textes anzeigt, wird das Hauptgewicht auf der letzten Frage, der Frage nach dem Maß unserer zukunftsethischen Verpflichtung liegen. Meine zentrale These wird sein, daß wir Zukünftigen eine Welt hinterlassen sollten, in der sie menschenwürdig leben können. Diese an sich nicht aufregend klingende These - man will fragen, wer dem denn überhaupt widersprechen würde - steht nicht im Einklang mit dem, was der egalitaristische Mainstream der politischen Philosophie wie auch der Zukunftsethik heute fordert. Der Mainstream fordert nämlich, daß wir Zukünftigen genauso viel hinterlassen müssen, wie wir selbst erhalten haben. Gegen das komparative egalitaristische Maß des Mainstream (genauso viel wie wir) soll hier ein nicht-komparatives oder absolutes Maß (genug zum menschenwürdigen Leben) stark gemacht werden. Auf die erste Frage nach dem Ob unserer Verantwortung gegenüber Zukünftigen möchte ich in diesem Text nicht eingehen. Ich unterstelle schlicht, daß wir ethische Pflichten gegenüber allen subjektiv verletzbaren Wesen haben, ganz gleich, ob sie schon oder noch existieren, ganz gleich auch, ob sie uns schaden oder nützen können. Das heißt, ich unterstelle, daß Verletzbarkeit im Empfinden und/oder Tun das Kriterium moralischer Berücksichtigungswürdigkeit darstellt, und nicht etwa Kooperationsfähigkeit oder Rationalität oder Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung oder Teleologie, Vielfalt, Schönheit oder bloße Existenz (für diese Unterstellung habe ich andernorts argumentiert, siehe Krebs 1999). Daß im Titel meines Vortrages nicht, wie sonst üblich, von „zukünftigen Generationen" die Rede ist, sondern allgemeiner von „der Zukunft", soll die moralisch inakzeptable Engführung auf Menschen als Gegenüber zukunftsethischer Verantwortung überwinden und die Tür öffnen zur Einbeziehung zumindest empfindungsfähiger Tiere. Auf die zweite Frage nach dem Was unserer zukunftsethischen Verpflichtung will ich zunächst nur kurz, im Modus einer Vorklärung zur dritten Frage des Maßes, eingehen und erst gegen Ende des Textes darauf zurückkommen. Das Verletzbarkeitskriterium aus dem letzten Abschnitt legt bereits eine allgemeine Antwort auf die Frage nach der Hinsicht unserer zukunftsethischen Verpflichtung nahe: die Antwort nämlich, daß die Hinsicht in dem
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Erhalt oder der Schaffung von Bedingungen des empfindungs- und handlungsguten Lebens von Menschen und Tieren in der Zukunft besteht. Ausgeschieden ist damit zum Beispiel eine Antwort, die einfach bestimmte Vorgaben wie ökologisches Gleichgewicht oder Artenreichtum macht, ohne deren Relevanz für das gute menschliche und tierische Leben in der Zukunft aufzuzeigen. - Da ein Großteil der Gefährdung der Lebensbedingungen Zukünftiger aus unserer Veränderung ihrer natürlichen Lebensbedingungen herrührt (Erschöpfung knapper Ressourcen, Verschmutzung von Boden und Wasser, Zerstörung der Ozonschicht, Treibhauseffekt, riskante Technologien der Nahrungs- und Energiegewinnung, Landschaftsverlust) und da die vielfältigen Dimensionen menschlicher Angewiesenheit auf Natur noch nicht genügend erkundet sind, soll gegen Ende des Textes, nach der Beantwortung der Frage des Maßes, dieses Maß hinsichtlich der Natur konkretisiert werden. Im Mittelpunkt dieses Textes soll aber, wie gesagt, die dritte Frage nach dem Wieviel unserer zukunftsethischen Verantwortung stehen, genauer die Frage, ob dieses Wieviel in komparativen oder nicht-komparativen Standards zu fassen ist. Eine nicht-komparative Antwort auf die Frage nach dem Wieviel wäre etwa: Wir schulden Zukünftigen die Garantie der Bedingungen ihres menschen- und tierwürdigen Lebens, das heißt, wir sollten ihnen eine Welt hinterlassen, in der sie gesund, autonom, sozial, individuell etc. leben können. Eine komparative Antwort wäre etwa: Wir schulden Zukünftigen eine Gleichheit der Lebensaussichten, das heißt, wir sollten ihnen eine Welt hinterlassen, in der sie genauso gut leben können wie wir. Während es der nicht-komparativen Antwort um die Auszeichnung und Erfüllung gewisser absoluter Standards des menschen- und tierwürdigen Lebens geht, bestimmt die komparative Antwort das moralisch Gebotene relativ: genauso viel wie wir oder mehr als wir oder weniger als wir. Ich werde im folgenden zunächst im ersten Teil, „Zukunftsethischer Egalitarismus", belegen, daß die komparative Antwort, insbesondere in ihrer egalitaristischen Variante (genauso viel wie wir), nicht so sehr in ihrer progressivistischen Variante (mehr als wir) die gegenwärtige Diskussion in der Zukunftsethik dominiert. Im zweiten Teil, „Warum eigentlich Gleichheit?", werde ich fragen, ob Gerechtigkeit wirklich egalitaristisch-komparativ zu fassen ist. Argumente für die egalitaristische Konzeption von Gerechtigkeit sucht man in der Zukunftsethik vergeblich. Um über das Für und Wider egalitaristischer Gerechtigkeit Aufschluß zu gewinnen, muß man daher einen Ausflug in die theoretische politische Philosophie machen, wo sich derzeit der Beginn einer Debatte zu eben diesem Thema abzeichnet. Diese neue „Why Equality?"-Debatte löst gerade die alte, seit zwei Jahrzehnten geführte „Equality of What?"-Debatte ab. Im dritten Teil, „Zukunftsethischer Antiegalitarismus", werde ich das für den Egalitarismus negative Ergebnis der kritischen Durchsicht der Argumente in der „Why Equality?"-Debatte für die Zukunftsethik fruchtbar zu machen suchen, zunächst allgemein, dann, wie bereits angekündigt, speziell mit Hinsicht auf die Natur.
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1. Zukunftsethischer Egalitarismus Um die Dominanz egalitaristischer Vorstellungen in der Zukunftsethik zu belegen, werde ich zuerst in 1.1 den Egalitarismus-Begriff genauer bestimmen und dann in 1.2 einige prominente Beispiele egalitaristischer Zukunftsethik aufführen.
1.1 Begriffsbestimung: „Egalitarismus" Eine Konzeption von Gerechtigkeit ist egalitaristisch, wenn sie Gleichheit Eigenwert und nicht nur abgeleiteten Wert beimißt (vgl. für diese Definition z. B. Raz 1986, 227, Frankfurt 1997, 3 oder Parfit 1998, 5: „equality has intrinsic value, or is in itself good"). Meist ist Gleichheit im Egalitarismus auf alle Menschen (manchmal auch zusätzlich auf empfindungsfähige Tiere) bezogen. Im Utilitarismus jedoch bezieht sich Gleichheit auf die Interessen oder Präferenzen aller Menschen (oft auch zusätzlich aller empfindungsfähiger Tiere). Man kann also den utilitaristischen Präferenzegalitarismus vom Standardegalitarismus, der sich auf Individuen bezieht, unterscheiden. Gleichheit muß nicht der einzige Eigenwert sein, den eine egalitaristische Gerechtigkeitstheorie verfolgt. Typischerweise verbindet eine egalitaristische Theorie den Eigenwert von Gleichheit mit dem Eigenwert von Wohlfahrt. Denn Gleichheit unter den Menschen läßt sich schließlich auch dadurch schaffen, daß man alle, denen es besser geht, herunterdrückt auf das Niveau derer, denen es schlechter geht, wie dies in Kurt Vonneguts Science-FictionStory Harrison Bergeron ausgemalt ist. Diese Story spielt im Jahre 2081, in dem „everybody was finally equal. [...] Nobody was smarter than anybody else. Nobody was better looking than anybody else. Nobody was stronger or quicker than anybody else." Um zum Beispiel zu erreichen, daß keiner smarter ist als die anderen, werden überdurchschnittlich intelligente Menschen wie die Hauptfigur der Geschichte, George, per Gesetz dazu verpflichtet, jederzeit ein kleines „mental handicap radio" in ihrem Ohr zu tragen. Dieses Radio ist auf einen staatlichen Sender eingestellt, der alle 20 Sekunden schreckliche Geräusche aussendet, „to keep people like George from taking unfair advantage of their brains" (1997, 315). Diese sogenannte „Levelling-down-Objection" (vgl. Nozick 1974, 229, Raz 1986, 227 und 235, Parfit 1998, 10) macht die Notwendigkeit des Übergangs von einem „reinen" Egalitarismus mit nur dem einen Eigenwert „Gleichheit" zu einem „pluralistischen " Egalitarismus mit zumindest einem weiteren Eigenwert für Wohlfahrt deutlich, ein pluralistischer Egalitarismus, der zudem vielleicht „moderat" genug sein sollte, um im Konfliktfall „Gleichheit versus Wohlfahrt" nicht immer Gleichheit Trumpf sein zu lassen, sondern Abstriche an Gleichheit um einer höheren Lebensqualität für alle vorsieht (für die Unterscheidungen „pluralistisch versus rein" und „moderat versus stark" vgl. Parfit 1998, 4 bzw. 17, vgl. aber auch Cohen 1989, 908-911 und Temkin 1986, 100: „an egalitarian is any person who attaches some value to equality itself. [...] So equality needn't be the only ideal the egalitarian values, or even the ideal she values most.") Ein berühmtes Beispiel für den moderaten, pluralistischen Egalitarismus ist John Rawls' Abmilderung des Gleichheitsprinzips zum Differenzprinzip, das relative Ungleichheiten,
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welche die absolute Position der am schlechtest Gestellten anheben, als gerecht ausweist. Auch der Utilitarismus ist eine Form des pluralistischen Egalitarismus, er kombiniert den Eigenwert der Gleichheit aller Präferenzen mit dem Eigenwert der Erhöhung der Summe der Präferenzbefriedigung. Mit der „Gleichheit aller Menschen" beziehungsweise „aller Präferenzen", welcher der Egalitarismus Eigenwert verleiht, ist offensichtlich nicht deskriptive, sondern normative Gleichheit gemeint. Dennoch empfiehlt es sich, um den Begriff normativer Gleichheit zu klären, zunächst den einfacheren Fall deskriptiver Gleichheit zu betrachten. „Deskriptive Gleichheit" läßt sich fassen - hier folge ich der Analyse Peter Westens in seinem Buch Speaking of Equality (1990) - als die UnUnterscheidbarkeit mindestens zweier Objekte gemessen an einem relevanten Standard. Stellen Sie sich vor, sie backen einen Pound Cake, in den jeweils ein Pfund Mehl, Zucker und Butter gehören. Sie nehmen eine digitale Küchenwaage und schütten zunächst soviel Mehl auf die Waage, daß die Waage ein Pfund anzeigt. Sie wiederholen diesen Vorgang mit dem Zucker und der Butter. Sie haben dann gleichviel Mehl, Zucker und Butter. Mehl, Zucker und Butter sind ununterscheidbar gemessen an dem relevanten Standard „ein Pfund auf der Küchenwaage". Anstatt Gewichtsgleichheit mit einer solchen nicht-komparativen Waage zu messen, kann man sich auch einer komparativen Waage, der Balkenwaage orientalischer Märkte zum Beispiel, bedienen. Die komparative Waage nimmt uns den Vergleich der Meßergebnisse ab, sagt uns dafür aber nichts über das absolute Gewicht der gewogenen Objekte. Für das Backen eines Pound Cakes ist eine komparative Waage daher nicht so ohne weiteres geeignet. „Normative Gleichheit" nun läßt sich genauso fassen wie „deskriptive Gleichheit", nämlich als Identität mindestens zweier Objekte gemessen an einem geeigneten Standard, nur handelt es sich bei diesem Standard um einen präskriptiven Standard, der besagt, was sein soll, und nicht mehr um einen deskriptiven, der nur mißt, was der Fall ist. Daß alle Menschen normativ gleich sind, heißt dann, daß sie gleich sind in dem, was für sie sein soll, wie sie behandelt werden sollen oder was sie selbst zu tun haben, in ihren Rechten oder Pflichten also. Wie bei deskriptiver Gleichheit muß man auch bei präskriptiver Gleichheit dazusagen, gemessen an welchem Standard genau man verschiedene Objekte für gleich befindet. Der elliptische Charakter vieler Gleichheitsforderungen (z. B. „Alle Menschen sind gleich" oder „Chancengleichheit" oder „Gleichheit vor dem Gesetz") war und ist denn auch oft Ursache von Verwirrung. Diese Verwirrung rief in den letzten beiden Jahrzehnten in der politischen Philosophie die eingangs bereits erwähnte „Equality of What?"-Debatte hervor, in der sich vom Eigenwert von Gleichheit überzeugte Philosophen wie Amartya Sen, Jerry Cohen, Richard Arneson, John Roemer, John Rawls, Ronald Dworkin, Eric Rakowski oder Philippe van Parijs für verschiedene Maßtäbe, sei es „equality of capability to function", „equality of access to advantage", „equality of opportunity for welfare", „equality of primary goods" oder „equality of resources" einsetzen (für einen Überblick vgl. Cohen 1989 und Roemer 1996). Einigkeit herrscht unter all diesen Egalitaristen vor allem in drei Dingen: Erstens messen sie Gleichheit im wesentlichen an einem komparativen Standard, der Gleichheit der Le-
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bensaussichten, der Möglichkeiten, gut zu leben. Zweitens stellen sie die Frage, worin ein gutes oder erfülltes Leben besteht, die genaue Ausbuchstabierung der Hinsicht moralischer Verpflichtung also, subjektivistisch unter die Hohheit eines jeden Einzelnen. Drittens beziehen sie Gleichheit auch nicht auf alle Lebensaussichten, sondern nur auf unverdiente Lebensaussichten. Wenn die einen hart arbeiten oder sparen, während die anderen „sich auf die faule Haut legen" oder „das Geld zum Fenster herausschmeißen", und die einen fortan über bessere Lebensaussichten verfügen als die anderen, dürfe dies nicht als Verletzung der normativ gebotenen Gleichheit zählen, sondern sei moralisch ganz in Ordnung. Für ihre Entscheidungen müßten die Menschen schon selbst einstehen. Egalisiert müsse nur werden, was Menschen ohne eigenes Verdienst einfach so zufällt, zum Beispiel die Gaben der Natur, der äußeren wie der inneren, Erbschaften oder Geschenke. Soweit zur Bestimmung der egalitarischen Gerechtigkeitskonzeption. Zum Abschluß noch ein Wort zur Gegenposition des Egalitarismus: dem Anti- oder Nonegalitarismus. Der Antiegalitarismus bestreitet den Eigenwert von Gleichheit. Einen abgeleiteten Wert kann der Antiegalitarismus Gleichheit jedoch durchaus zugestehen. So betonen viele Antiegalitaristen, daß zum Beispiel aus ihrer Forderung, allen Hungernden sei zu essen zu geben, Gleichheit als Nebenprodukt dieser Forderung folge. Nur gehe es ihnen bei dieser Forderung nicht um Gleichheit, sondern um die Erfüllung eines absoluten oder nicht-komparativen Standards für alle (zu einem menschenwürdigen Leben gehört Nahrung, niemand soll hungern müssen). Es ist nicht einmal ausgemacht, daß eine antiegalitaristische Gerechtigkeitsposition im Endeffekt auf weniger Gleichheit hinausläuft als eine egalitaristische. Man denke zum Beispiel an wirtschaftsliberale Interpretationen des Rawlsschen Differenzprinzips, die im Namen von Effizienzsteigerung krasse Einkommensunterschiede rechtfertigen. Und man nehme zur Kenntnis, daß die Riege der Antiegalitaristen nicht etwa - wie manchmal suggeriert wird (vgl. Tugendhat 1997a, 20 und 1997b, 75 f. oder Weikard 1999, 71 f.) - im wesentlichen aus rückwärtsgewandten Aristokraten, Rassisten und Sexisten oder aus Rechtslibertären wie Robert Nozick besteht, sondern vor allem aus Philosophen wie Joel Feinberg, Charles Taylor, Michael Walzer, Joseph Raz, Harry Frankfurt, David Miller, Friedrich Kambartel, Thomas Scanion, Avishai Margalit, Bernard Williams, Claudia Card und Elizabeth Anderson, die man beim besten Willen nicht als hoffnungslos konservativ abtun kann.
1.2 Beispiele egalitaristischer Zukunftsethik Die egalitaristische Position in der Zukunftsethik fordert uns auf, Zukünftigen eine Welt zu hinterlassen, in der sie uns in Sachen „unverdiente Lebensaussichten" mindestens gleichgestellt sind - „mindestens", da wir natürlich frei seien, wenn wir dies denn alle wollten, Zukünftigen mehr zu hinterlassen. Vertreten wird diese Position unter anderem von Gregory Kavka (1978), Annette Baier (1984, 234-243), Brian Barry (1978 und 1991), Eric Rakowski (1991, Kap. 7), Philippe van Parijs (1995, 38-41 und 1999, 294), Anton Leist (1996, 401408) und Hans-Peter Weikard (1996, 1999).
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So heißt es zum Beispiel in Kavkas frühem Artikel „The Futurity Problem", jede Generation müsse „leave the next generation at least as well off [...] as it was left by its ancestors" (1978, 200). Brian Barry und Hans-Peter Weikard buchstabieren diesen Gedanken in der Sprache gleicher Optionen aus. Barry verlangt, daß „the overall range of opportunities open to successive generations should not be narrowed" (1978, 243). Weikard formuliert: „Intergenerationelle Gerechtigkeit bedeutet also, allen Individuen gleiche Wahlfreiheit zu gewähren, unabhängig davon, zu welcher Generation ein Individuum gehört" (1989, 85). Eric Rakowski und Philippe van Parijs sagen dasselbe in der Sprache der Ressourcenegalitaristen. Rakowski bestimmt als Prima-facie-Grundprinzip intergenerationeller Gerechtigkeit: „Everyone born into a society is entitled, at a minimum, to the same quantity of resources that all who participated in the original division of the communitiy's goods and land received. The fact that someone is a latecomer through no fault of his own should not reduce the size of his fair share" (1991, 150). Allerdings setzt Rakowski sein Prima-faciePrinzip sofort durch eine weitere Überlegung außer Kraft. Danach würden Kinder schließlich nicht von Störchen gebracht, sondern von eigenverantwortlichen Menschen in die Welt gesetzt, die niemand darum gebeten hätte, und die als Eltern den Hauptnutzen daraus einstrichen. Daraus folgert Rakowski, daß Nicht-Eltern ihren Anteil an unverdienten Ressourcen nicht mit den Kindern anderer teilen müssen. Eltern hätten allein für das Wohl ihrer Kinder aufzukommen. (Ausnahmen macht Rakowski fur Vergewaltigung und das unverschuldete Versagen eines an sich sicheren Verhütungsmittels.) Eltern, die ihrer Verpflichtung nicht nachkämen und, wie die sogenannten „welfare mothers" mit ihren Kindern der Allgemeinheit zur Last fielen, vergingen sich moralisch: „To create a person for whom one cannot provide [...] is thus morally impermissible" (155). Zur Ahndung eines solchen Verhaltens müsse man strafrechtliche Maßnahmen von Bußgeldern bis hin zu Haftstrafen in Betracht ziehen. Wenn ich auch auf solche Feinheiten zukunftsegalitaristischer Ansätze eigentlich nicht eingehen will, kann ich mir doch eine kurze Bemerkung zu Rakowskis befremdlichem Storchenproblem nicht verkneifen. Haben Nicht-Eltern wirklich, wie Rakowski behauptet, nur einen, wenn überhaupt, dann vernachläßigbar kleinen Nutzen aus den reproduktiven Tätigkeiten von Eltern? Tragen in unserer umlagefinanzierten Rentenversicherung nicht die Kinder anderer Leute die Renten Kinderloser mit? Und ist nicht selbst ein Rentensystem auf der Basis des Kapitaldeckungsverfahrens oder das private Sparen für das Alter darauf angewiesen, daß die Wirtschaft weiter floriert, damit das angesparte Geld nicht seinen Wert verliert und öffentliche Güter wie Polizei, Gerichte, Parlamente, Krankenhäuser, eine gesunde Umwelt weiter zur Verfügung stehen? Und wie soll die Wirtschaft weiter florieren, wenn keine Kinder nachwachsen? (Wie es in einer Welt aussähe, der die Kinder ausgehen, stellt die Kriminalautorin P. D. James in ihrem Science-Fiction-Roman The Children of Men (1992) anschaulich dar.) Müßte man nicht sogar angesichts des existentiellen Nutzens, den Singles und „Dinks" (double income, no kids) damit aus den reproduktiven Tätigkeiten von Eltern beziehen, Eltern für ihre Familientätigkeit einen anständigen Lohn anbieten, also als Egalitarist über gleiche Anteile an unverdienten Ressourcen für die Kinder hinaus zusätzlich den Verdienst in Familienarbeit anerkennen (für eine Begründung der Forderung nach Anerkennung von Familienarbeit vgl. Krebs 1996)?
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Van Parijs hat denn auch wie die meisten anderen Zukunftsegalitaristen das Storchenproblem nicht und versteht intergenerationelle Gerechtigkeit im Sinne von Rakowskis Prima-facie-Grundprinzip als Forderung an jede Generation „to make sure that the Situation of the next generation - somehow measured, on a per-capita basis - is no worse than its own. [...] the worst off should be as generously endowed with socioeconomic advantages, resources, opportunities, real freedom (or whatever other magnitude is chosen to express a person's Situation) as is sustainably feasible across successive generations" (1999, 294). Um einen solchen nachhaltig hohen Ressourcenanteil für alle zu sichern, den van Parijs konsequent-subjektivistisch im wesentlichen in Form von Geld ausbezahlt sehen will (das ist seine bekannte Grundeinkommensforderung), sei insbesondere auf den Erhalt des produktiven Potentials einer Gesellschaft zu achten. Der Abbau und Verbrauch knapper natürlicher Ressourcen sei zu drosseln. Wo die Erschöpfung natürlicher Ressourcen unvermeidlich ist, sei sie durch technischen Fortschritt und/oder die Netto-Akkumulation von physischem oder humanem Kapital zu kompensieren (vgl. 1995, 39). Die utilitaristische Sondervariante des Zukunftsegalitarismus ist am detailliertesten von Dieter Birnbacher in seinem Reclam-Bändchen Verantwortung für zukünftige Generationen (1988) ausgearbeitet worden. Auf der Ebene der „idealen Ethik" (mit vollkommen rational denkenden und handelnden Akteuren und unbegrenztem Wissen) fordert Birnbacher die „Maximierung des in der gesamten zukünftigen Welt verwirklichten Guten" (103). Bei dieser Summenbildung seien die Interessen aller Menschen und Tiere, egal wann sie in der Zeit anfallen, ob heute oder in tausend Jahren, gleich zu gewichten. Die für NichtUtilitaristen schwer verdaulichen Konsequenzen einer Hervorbringungspflicht der „optimalen" Bevölkerungszahl (67-70, 131-139) sowie möglicherweise extrem ungleicher Lebensbedingungen für verschiedene Individuen und Generationen bis hin zu ihrer Opferung für das Gemeinwohl (111) schwächt Birnbacher dann auf der nicht-idealen Ebene der „Praxisnormen" (für nicht immer rationale Akteure und mit Ungewißheit wie Risiko) deutlich ab. Aus der Hervorbringungspflicht einer optimalen Bevölkerungszahl wird auf der Praxisebene die Norm, die Gattungsexistenz des Menschen und der höheren Tiere nicht zu gefährden („Kollektive Selbsterhaltung!", 202-206). Der Grad möglicher Ungleichheit zwischen Individuen und Generationen wird auf der Praxisebene vermindert durch drei Gebote. Das erste Gebot verlangt, die zukünftige menschenwürdige Existenz nicht zu gefährden und die Grundbedürfnisse Zukünftiger nach unverseuchter Luft, sauberem Wasser, fruchtbarem Boden, Nutzenergie aus der Natur etc. zu schützen („Nil nocere!", 206 f.). Das zweite Gebot verbietet aufgrund des Unwertes aufoktroyierter Unfreiheit die Schaffung zusätzlicher irreversibler Risiken („Wachsamkeit!", 208-217). Das dritte Gebot fordert den Erhalt, wo möglich die Verbesserung der vorgefundenen kulturellen und natürlichen Ressourcen, etwa der sinnlichen, ästhetischen und symbolischen Qualität der natürlichen Umwelt („Bebauen und bewahren!", 217-229). Auf der Ebene der Praxisnormen läuft Birnbachers Utilitarismus damit auf ein Gemisch aus nicht-komparativen Standards (wie kollektive Selbsterhaltung und nil nocere) und komparativen Standards (wie bebauen und bewahren) hinaus. Daß auch Zukunftsethiker, die im Unterschied zu den bisher in diesem Abschnitt Aufgeführten nicht explizit ein egalitaristisches Grundprinzip vertreten mögen, dennoch oft auf einer egalitaristischen Basis operieren, zeigt sich in der sogenannten Diskontierungsdebatte.
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In dieser Debatte geht es um die Frage, ob die in ökonomischen Kosten-Nutzen-Analysen verbreitete Minderbewertung zukünftiger Güter gegenüber gleichartigen gegenwärtigen Gütern - ihre Abdiskontierung mit einer Diskontrate, die am Marktzins orientiert ist - moralisch akzeptabel ist oder nicht. Wie kommen die Ökonomen dazu, zukünftige Güter abdiskontieren zu wollen? Dahinter steht zunächst nur die einfache Überlegung, daß man zum Beispiel mit 100 DM heute x Flaschen Wein kaufen kann, legt man die 100 DM aber zinstragend an, kann man damit in 10 Jahren x+y Flaschen des gleichen Weins kaufen. Für das Gut: „x Flaschen dieses Weines in 10 Jahren" braucht man also heute weniger Geld als für das Gut „x Flaschen dieses Weines heute". Die x Flaschen Wein verlieren in 10 Jahren an Wert. Die einhellige philosophische Position zu der Frage nach der moralischen Akzeptabilität von Diskontierung ist, daß die unterschiedliche Plazierung eines Gutes in der Zeit - für sich genommen, „other things being equal" - jedenfalls den moralischen Wert dieses Gutes nicht tangieren darf. (Ob die ökonomische Diskontrate tatsächlich den moralischen Wert von Gütern tangiert oder bloß (bestimmte) Güterpreise sinnvollerweise nach unten korrigiert, ist umstritten, vgl. Parfit/Cowen 1992, Broome 1994, Bimbacher 1999, Weikard 1999.) Das negative Gut „tausend Todesfälle durch unsere Kernenergie heute" dürfe zum Beispiel nicht allein schon deswegen als moralisch schlimmer gelten als das negative Gut „tausend Todesfälle durch unsere Kernenergie in fünfhundert Jahren", weil letzteres später in der Zeit auftritt. Dieser Behauptung wird zwar auch ein Antiegalitarist zustimmen. Denn die Verletzung des absoluten moralischen Standards der Sicherung des menschlichen Lebens kann nicht je nach Plazierung in der Zeit verschieden beurteilt werden. Ein Egalitarismus offenbart sich erst, wenn man den Übergang vollzieht von der These der zeitlichen Universalität moralischer Standards zu der moralischen Forderung, die unverdienten Lebensaussichten oder die Präferenzen der Heutigen und die der Zukünftigen gleichermaßen zu befördern, in den moralischen Standard selbst also eine intrinsische Gleichheitsnorm einbaut. Diesen Übergang vollziehen nun aber nachweislich so gut wie alle Philosophen, die sich zu Diskontierung äußern (vgl. z. B. Hampicke 1992 und Parfit/Cowen 1992, 145: „Why should costs and benefits receive less weight, because they are further in the future?" und 159: „we ought to be equally concerned about the predictable effects of our acts whether these will occur in one, or a hundred, or a thousand years." Außerdem die bereits diskutierten Weikard 1999 und Birnbacher 1999). Mit dem Vollzug dieses Übergangs liegt es nahe, auch jede Privilegierung eigener Interessen vor den Interessen anderer und jede Privilegierung der Interessen Nahestehender (der eigenen Kinder, Freunde oder Mitbürger) vor den Interessen Fremder als moralisch problematisch anzusehen. Denn auch diese Privilegierungen verstoßen gegen die Gleichheitsnorm. Wie insbesondere Birnbacher (1988) herausgearbeitet hat, sind es ohnehin - neben Problemen des Umgangs mit Risiken und Nichtwissen - vor allem die beiden zuletzt genannten Privilegierungen, die zur Minderschätzung der Interessen Zukünftiger führen, und nicht die rein zeitliche Privilegierung der gegenwärtigen Interessen vor zukünftigen. Daß man nun aber bei jedem Eis, das man dem eigenen Kind kauft, und bei jedem Buch, das man seinem Freund schenkt, zumindest ein schlechtes Gewissen haben sollte, da viele Kinder auf der Welt ohne Eis auskommen müssen, und viele Menschen ohne Freunde und Bücher, geht
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jedoch den meisten Philosophen wiederum zu weit, und darum erlauben sie dann doch Diskontierung „for degrees of kinship" (vgl. z. B. Parfit/Cowen 1992, 150 und De Shalit 1995, 130, dagegen Birnbacher 1988 und 1999, der zumindest auf der Ebene der idealen Ethik am Gleichheitsgebot festhält). Wie man aber Diskontierung „for degrees of kinship" in Einklang bringen können soll mit der intrinsischen Gleichheitsnorm ist eine schwierige Frage. Um diese Frage ist in den letzten Jahren nicht nur in der Zukunftsethik, sondern auch in der Ethik spezieller (persönlicher bis hin zu nationaler) Bindungen eine rege Diskussion entflammt (vgl. z. B. Scheffler 1994 und Velleman 1999). Der Antiegalitarismus betrachtet diese ganze Diskussion aus einem anderen Blickwinkel: Er belegt weder Gleichheit noch Ungleichheit oberhalb der von absoluten moralischen Standards gebotenen Schwelle an gutem Leben mit moralischem Eigenwert. Dadurch geraten im Antiegalitarismus Ungleichheiten oberhalb dieser Schwelle nicht automatisch unter Rechtfertigungszwang. Dies beschließt meinen Versuch, die Dominanz egalitaristischer Gerechtigkeitsvorstellungen in der Zukunftsethik zu belegen. Nicht bestreiten möchte ich natürlich, daß es neben dem egalitaristischen Mainstream durchaus andere Positionen gibt, wie den Progressivismus, wonach jede Generation der Generation nach ihr mehr hinterlassen muß, als sie selbst erhalten hat (vgl. z. B. die Ansätze von John Rawls 1971, §44/45, und David Gauthier 1986, 298-305, sowie die Kritik dieser Ansätze bei Barry 1978 und 1989, 385-401, Birnbacher 1977 und 1988, 125-131, Rakowski 1991, Kap. 7 und De Shalit 1995, Kap. 4) und auch nicht-komparative Positionen (vgl. z. B. den Basic-human-rights-Ansatz von Michael Kloepfer 1993 und Lukas Meyer 1996 oder den metaphysischen Ansatz von Hans Jonas 1979; für einen gerade erschienenen Überblick über die verschiedenen zukunftsethischen Ansätze vgl. Unerstall 1999).
2. Warum eigentlich Gleichheit? Thema des zweiten Teils dieses Artikels ist die Frage, ob Gleichheit moralischen Eigenwert hat, ob Gerechtigkeit also als Gleichheit zu begreifen ist. Nach einer kurzen Orientierung über die verschiedenen Pros und Contras der „Why Equality?"-Debatte sollen im Abschnitt 2.1 zwei proegalitaristische Argumente und im Abschnitt 2.2 drei antiegalitaristische Argumente diskutiert werden. Abschnitt 2.3 zieht das Fazit der kritischen Durchsicht dieser Argumente, welches für den Egalitarismus negativ ausfällt. Die „Why Equality?"-Debatte ist zu neu, als daß schon Klarheit über die Argumente auf beiden Seiten herrschte. Der folgende Versuch einer ersten Ordnung und Kritik hat damit noch tastenden Charakter. Auf der proegalitaristischen Seite lassen sich mindestens fünf Argumente für den Eigenwert von Gleichheit unterscheiden. Die beiden wichtigsten sind erstens die Vereinnahmungsstrategie, die dem Antiegalitarismus nachzuweisen sucht, daß er durchaus auch für Gleichheit, zumindest in bestimmten Dingen, sei und nur, im Unterschied zum Egalitarismus, den einmal eingeschlagenen Weg zur Verwirklichung von Gleichheit nicht konsequent zu Ende gehe, und zweitens das Beweislastargument, das aus der (angeblichen) Vernunftre-
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gel der Gleichbehandlung gleicher Fälle ein Primat fiir die Gleichbehandlung aller Menschen ableiten will. Diese beiden Argumente sollen im nächsten Abschnitt besprochen werden. Daneben finden sich noch das Stabilitätsargument (Ungleichheit führe zu Neid und damit zu Unzufriedenheit und gesellschaftlicher Instabilität, daher müsse es jeder Gerechtigkeitskonzeption um Gleichheit gehen), das Grenznutzenargument (der Nutzen des zehnten Hemdes sei geringer als der Nutzen des ersten, zweiten und auch noch dritten, Gleichheit unter den Menschen optimiere den allgemeinen Nutzen) und schließlich das Rawlssche Risikoargument (unter dem Schleier des Nichtwissens wählten selbstinteressierte rationale Entscheider das Differenzprinzip; für eine kritische Diskussion all dieser Argumente vgl. Letwin 1983). Auf der antiegalitaristischen Seite lassen sich zunächst einmal mindestens vier Gruppen von Argumenten unterscheiden. Die erste Gruppe besteht aus pragmatischen Argumenten, die die Machbarkeit egalitaristischer Gerechtigkeit bezweifeln, sei es, weil die Komplexität menschlicher Verhältnisse noch so ingeniöse Versuche, Kontingenz von Eigenverantwortung sauber zu trennen, zum Scheitern verurteilte (Komplexitätsargument), oder sei es, weil - das ist ein Walzerscher Punkt (1983) - alle Egalisierungsversuche den sich reaktiv auf immer neue Güter verlagernden Ungleichheiten (z. B. von Adel auf Geld, von Geld auf Bildung) stets nur hinterherhinkten, das ganze Trachten nach Gleichheit zu nichts als einem Verschiebebahnhof für Ungleichheiten führte (Verschiebebahnhofargument). Die zweite Gruppe antiegalitaristischer Argumente versucht die Unterscheidung zwischen handfesten moralischen Verletzungen einerseits und eher trivialen Ungleichheiten andererseits plausibel zu machen (Sättigungs- oder Schwellenargumente). Der dritten Gruppe antiegalitaristischer Argumente geht es darum, zu zeigen, daß entgegen dem, was man von einer normativ so starken Theorie wie dem Egalitarismus erwarten würde, der Egalitarismus nicht einmal die Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens für alle sichern kann. In diese Gruppe gehören die drei von Elizabeth Anderson in ihrem aufrührerischen Ethics-Artikel „What Is the Point of Equality?" (1999) vorgetragenen Argumente. Das ist erstens das klassische Entmündigungsar gument, wonach die zur Verwirklichung egalitaristischer Gerechtigkeit nötige etatistische und bürokratische Durchdringung des Lebens der Individuen deren Recht auf Autonomie verletze. Das ist zweitens der ,,Selber schuld"-Einwand, wonach zumindest ein konsequenter Egalitarismus die Grundrechte von Menschen verletze, die an ihrem Elend selbst schuld sind, etwa das Grundrecht auf medizinischen Beistand eines mittellosen lungenkrebskranken Kettenrauchers ohne Krankenversicherung. Und das ist drittens bei Anderson der Stigmatisierungseinwand, wonach die vom Egalitarismus anvisierten Kompensationszahlungen für Behinderte, Unbegabte oder Unausstehliche deren Recht auf soziale Anerkennung verletzten. Die beiden zuletzt genannten Einwände werde ich zusammen mit einem weiteren Einwand, dem „Option: Natur "-Einwand, wonach der Egalitarismus die für ein menschenwürdiges Leben unabdingbare Qualität der natürlichen Umwelt nicht garantieren kann, in 2.2 etwas ausführlicher darstellen. Eine vierte Gruppe von antiegalitaristischen Argumenten betrifft schließlich das Verhältnis des Egalitarismus zu Standards der Verteilung von Gütern oberhalb des menschenwürdigen Lebensniveaus, Verteilungsstandards wie: höhere Bildung den Begabten und Engagierten, Anerkennung den Verdienstvollen, Bewunderung den Weisen, Mutigen oder Schönen, politische Macht den in der Führung anderer
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Geschickten, Ämter den Qualifizierten. Der wiederum von Michael Walzer am virtuosesten erhobene Vorwurf lautet hier, daß die Ausrichtung an Gleichheit die sich aus dem Eigensinn dieser Güter ergebenden ungleichen Verteilungsstandards pervertiere.
Proegalitaristische Argumente 1. Vereinnahmungsstrategie 2. Beweislastargument 3. Stabilitätsargument 4. Grenznutzenargument 5. Rawlssches Risikoargument
Antiegalitaristische Argumente 1. Pragmatische Argumente: - Komplexitätseinwand - Verschiebebahnhofeinwand 2. Schwellen- oder Sättigungsargumente 3. Humanitätsargumente: - Entmündigungseinwand - „Selber schuld"-Einwand - Stigmatisierungseinwand - „Option: Natur"-Einwand 4. Pervertierungsargumente
2.1 Proegalitaristische Argumente Das erste Vereinnahmungsargument lautet ausführlicher: Irgendwelche gleichen Grundrechte für alle Menschen und sei es auch nur das gleiche Recht auf negative Freiheit oder das gleiche Recht auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen verfechten doch alle ernst zu nehmenden Gerechtigkeitstheorien heute. Damit kann man die hier aufgeworfene Frage nach dem Warum von Gleichheit, „Why Equality?", überfuhren in die Frage nach dem Worin von Gleichheit, „Equality of What?", und diese Frage wird nun bereits seit zwei Jahrzehnten intensiv bearbeitet. Hat man diese Transformation vom Warum zum Worin erst einmal vorgenommen, sieht man auch schnell, wie willkürlich es ist, bei irgendwelchen basalen moralischen Rechten stehen zu bleiben. Warum nicht konsequent den eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen und Gleichheit in allem, was Menschen einfach so zufällt, oder eben nicht zufällt, anstreben (vgl. z. B. Sen 1992, 12-16, Dworkin 1987, 7-12, Kymlicka 1990, 4 f., Nielsen 1997, 204, Tugendhat 1997a und 1997b)? Zur Kritik dieser egalitaristischen Vereinnahmungsstrategie ist zu sagen, daß sie hinter die Unterscheidung zwischen „Eigenwert" versus „abgeleitetem Wert" für Gleichheit zurückfällt. Einen abgeleiteten Wert mögen in der Tat alle heute ernst zu nehmenden Gerechtigkeitstheorien Gleichheit zugestehen. Viele Antiegalitaristen betonen (wie bereits vermerkt), daß die Menschen eine gemeinsame Natur haben, alle etwa unter Hunger und Krankheit leiden, und es daher moralisch geboten ist, alle Menschen vor Hunger und Krankheit zu bewahren. Die moralische Forderung, allen hungernden und kranken Menschen zu helfen, gründet im Antiegalitarismus allerdings nicht darin, daß andere nicht hungern müssen und gesund sind, sondern darin, daß Hunger und Krankheit für alle Menschen schlimm sind. Die Gleichbehandlung aller hungernden und kranken Menschen ergibt sich lediglich als Nebenprodukt aus der gegenüber jedem einzelnen Hungernden und Kranken
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gebotenen Hilfe. Da Gleichheit hier also nur ein Nebenprodukt von Universalität ist, kann man auch in obigem Satz „Allen hungernden und kranken Menschen ist zu helfen" ein „gleichermaßen" einfügen: „Allen hungernden und kranken Menschen ist gleichermaßen zu helfen". Man kann das „gleichermaßen" jedoch auch weglassen (vgl. Raz 1986, Westen 1990, Frankfurt 1997. - Das „gleichermaßen" mag allenfalls mitunter die Funktion eines „closure principles" haben (Raz 1986, 220) und hervorheben, daß Hungerleiden und Kranksein die einzig relevante Grundlage für den Anspruch auf Nahrung und Medizin ist, es dazu also nichts mehr zu sagen gibt, und daher jede Diskriminierung unter Hungernden und Kranken, etwa die Einteilung in Bürger erster und zweiter Klasse, in Sachen Nahrung und Medizin einer moralischen Grundlage entbehrt.) Noch einmal anders gesagt: Wer die normative Gleichheit aller Menschen behauptet, sagt nach unserer Analyse in Teil 1.1 zunächst nur, daß alle Menschen gemessen an einem relevanten präskriptiven Standard gleich sind. Dieser Standard kann nicht-komparativer oder komparativer Art sein. Nur ein komparativer Standard erhebt die Gleichheit von Menschen zum Zielpunkt. Als Begleiterscheinung haftet Gleichheit jedoch beiden präskriptiven Standards, dem nicht-komparativen wie dem komparativen, an. Beide Standards befinden alle Menschen für gleich, insofern als alle Menschen jeweils darunter fallen. Die Frage nach dem Warum von Gleichheit bringt diesen Unterschied zwischen dem bloß abgeleiteten Wert und dem Eigenwert von Gleichheit ans Licht. Der Vorwurf der Inkonsequenz an Antiegalitaristen, die Gleichheit nur für gewisse basale Rechte anerkennen, aber nicht „durch die Bank weg", auch „weiter oben", ist damit verfehlt. Der Unterschied zwischen Antiegalitaristen und Egalitaristen liegt nicht darin, daß Antiegalitaristen den gemeinsam eingeschlagenen Weg nicht konsequent zu Ende gehen. Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß Antiegalitaristen von vornherein einen anderen Weg einschlagen. Um zu entscheiden, welcher der beiden Wege der richtige ist, muß man die „Why Equality?"Debatte führen. Das zweite Standardargument für den Egalitarismus ist das Beweislast- oder Präsumptionsargument. Dieses Argument geht in der Regel davon aus, daß das Gebot der Gleichbehandlung gleicher Fälle ein formales Gesetz der Vernunft ist, dem niemand sinnvollerweise widersprechen kann. Auf den moralischen Bereich bezogen, wo das Gesetz dann auch oft unter dem Titel des Gebots der „Unparteilichkeit" auftritt, folge aus diesem Gesetz ein Primat der Gleichbehandlung aller Menschen. Wer Menschen ungleich behandeln wolle, müsse Gründe dafür anführen. Er trage die Beweislast. Es gäbe eine Präsumption für Gleichheit, „a presumption in favour of equality". Die Evidenz des Primats der Gleichbehandlung aller Menschen zeige sich etwa im einfachen Modell der Verteilung eines Kuchens unter verschiedenen Kindern. Gebe die Mutter dem einen Kind ein größeres Stück als den anderen, stehe sie unter Rechtfertigungsdruck. Sie müsse begründen, warum sie eine Ausnahme macht. Vielleicht gehe die Ausnahme ja auf ein Versprechen für die beste Schulnote zurück oder auf die Anerkennung der Hilfe beim Mitbacken oder darauf, daß das eine Kind kein Mittagessen hatte. Egal: Die Mutter müsse jedenfalls ihr Abweichen von der evidentermaßen gebotenen Gleichbehandlung der Kinder rechtfertigen (vgl. z. B. Benn/Peters 1959, Kap. 5, Berlin 1961, Frankena 1962, Hare 1963, 118 f., Bedau 1967, Tugendhat 1997a und 1997b, Gosepath 1998, Hinsch 1999).
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Zur Kritik am Beweislastargument drei Punkte: Erstens ist das Gebot der Gleichbehandlung gleicher Fälle, zumindest in der Interpretation, in der es im Beweislastargument fungiert, kein Gesetz der Vernunft. Das sieht man schon daran, daß ein Künstler, der willkürlich Dreiecke über eine Leinwand verteilt, sich keines Verstoßes gegen die Vernunft schuldig macht. Zweitens: Selbst wenn das Gleichbehandlungsgebot ein Gesetz der Vernunft wäre, folgte aus ihm kein Primat der Gleichbehandlung aller Menschen, da man dazu erst einmal zeigen müßte, daß Menschsein das Relevanzkriterium für gleiche Fälle darstellt. Gleiche sollen gleich behandelt werden, aber sind alle Menschen im jeweils relevanten Sinne immer Gleiche? Und drittens kann man die Evidenz der Gleichverteilungsnorm im Kuchenbeispiel auch anders, ohne den Rekurs auf den Eigenwert von Gleichheit, einholen. Der erste Punkt nun genauer: Das Gebot der Gleichbehandlung gleicher Fälle bedeutet, nach dem üblichen Verständnis, daß als relevant anerkannte Regeln auf alle, die unter diese Regeln fallen, auch angewendet werden sollen. Regeln sind nun aber nicht rigoristisch anzuwenden. In Härtefällen sollte man auch einmal eine Ausnahme machen. Außerdem sind Regeln in der Entwicklung begriffen. Taucht ein neuartiger, kontroverser Fall auf, mit dem man in Zukunft häufiger zu rechnen hat, sollte man die Regel so weiterentwickeln, daß sie mit diesem Fall zurechtkommt. Des weiteren, und dies ist für meine Argumentation am wichtigsten, gibt es viele Situationen, deren Bewältigung nicht geregelt ist - sei es, weil die Chose zu unbedeutend ist oder die Regelung mehr Trouble nach sich zöge als das Laissez Faire, oder sei es, weil die Güter, um deren Verteilung es geht, eine Regelung verbieten. Das gilt zum Beispiel in der Kunst und in der Liebe. Liebe sollte man nach freier Wahl auf andere verteilen dürfen. Liebe läßt sich nicht erzwingen. Sie fällt zwar auch nicht einfach dahin, wohin sie fällt. Ein paar Kriterien werden die meisten Menschen auch in der Liebe anlegen. Aber daß es genau der oder die ist, für die man entflammt, entzieht sich doch einer Rekonstruktion in Regeln. Nun kann man das Gebot der Gleichbehandlung gleicher Fälle so verstehen, daß es nur auf dem vernünftigen Umgang mit Regeln, wo es solche gibt, aufsitzt, also nur ein inhaltsleerer Kommentar zum richtigen Umgang mit den materialen Standards selbst ist. In dieser Interpretation widersetzte sich das Gebot weder Ausnahmen noch der Weiterentwicklung von Regeln noch Spielräumen der freien Wahl mit dem Einspruch: „Aber man sollte doch gleiche Fälle gleich behandeln!" Man kann das Gebot der Gleichbehandlung gleicher Fälle aber auch anders verstehen, nämlich genau so, daß es diesen Einspruch erhebt. Es ist dann kein inhaltsleerer Kommentar zum Umgang mit Regeln mehr, es fordert vielmehr zum unvernünftigen Umgang mit Regeln auf und zur Regelung des nicht Regelbaren oder der Regelung nicht Bedürftigen, ist also widersinnig und daher bestimmt kein Gesetz der Vernunft Damit das Präsumptionsargument überhaupt „gestartet" werden kann, braucht es die zweite, widersinnige Interpretation des Gleichbehandlungsgebots. Denn die Kernbehauptung des Antiegalitarismus ist gerade, daß moralische Standards nur den basalen Bereich des Menschenwürdigen betreffen. Ob der Antiegalitarismus mit dieser Behauptung recht hat, ist natürlich eigens zu prüfen. Mit der Diskussion darüber, ob er recht hat, verschiebt sich der Diskussionsgegenstand aber bereits auf die Frage nach sinnvollen moralischen Standards, und die Präsumption für Gleichheit, für die strikte Gleichbehandlung „durch die Bank weg", auch „weiter oben", ist vom Tisch.
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Zum zweiten Kritikpunkt: Selbst wenn das Gebot der Gleichbehandlung gleicher Fälle, auch in der fiir das Präsumptionsargument relevanten Interpretation, ein Gesetz der Vernunft wäre, verlöre es jedoch seinen formal wahren Charakter, wenn man das substantielle Kriterium „Menschsein" fiir gleiche Fälle einsetzt. Ob alle relevanten Regeln zunächst einmal, bevor man also zu den zu begründenden Ausnahmen kommt, alle Menschen als Anwendungsbereich haben, ist eine substantielle Frage. Das Beweislastargument mißrepräsentiert diese substantielle Frage als eine schon aus formalen Gründen mit „ja" zu beantwortende. Außerdem spricht ohnehin einiges gegen eine positive Anwort auf diese substantielle Frage. In vielen Kontexten ist es eher die Ungleichverteilung, die man gemeinhin erwartet, und die Gleichverteilung muß gerechtfertigt werden. Ein Vater, der sein Erbe zu gleichen Teilen seinem Sohn und einem fremden Jungen aus dem Dorf vermachen will, wird diese Gleichverteilung begründen müssen, da wir in unserer verwandtschaftsbezogenen Erbschaftstradition zunächst einmal die Privilegierung des eigen Fleisch und Blut vor fremden Menschen erwarten. Die Beweislast liegt somit - das zeigt Louis Katzners (1971) und Joel Feinbergs (1973) Erbschaftsbeipiel sehr schön - nicht unbedingt bei denen, die ungleich verteilen wollen. Auch wer knappe Studienplätze, soziale Ehren, Bewunderung, politische Macht oder Ämter auf alle Aspiranten gleich verteilen will, etwa über ein Losverfahren, das allen die gleiche Chance auf die Erlangung dieser Güter einräumt, trägt die Beweislast gegenüber unserer üblichen Verteilung dieser Güter nach Begabung, Engagement etc. Wie erklärt man dann aber - ich komme zum dritten Punkt - die moralische Evidenz der Gleichverteilungsnorm im Kuchenbeispiel? Vielleicht kann man sie aus dem menschlichen Grundbedürfnis nach sozialer Anerkennung oder Zugehörigkeit erklären, das neben einer gewissen nicht-distributiven, kommunikativen Symmetrie - man guckt nicht einfach durch Leute hindurch oder tut so, als hörte man nicht, was sie zu einem sagen - mitunter auch distributive Gleichheit verlangt. Der moralische Wert dieser distributiven Gleichheit gründete dann aber auf dem moralischen Eigenwert von intakten Anerkennungsverhältnissen unter den Menschen. Distributive Gleichheit stellte selbst keinen Eigenwert dar. Gleichverteilung müßte genauso gerechtfertigt werden wie Ungleichverteilung. Die moralische Evidenz der Gleichverteilungsnorm im Kuchenbeispiel rührte dann daher, daß wir aufgrund unserer Kenntnis der menschlichen Natur voraussehen, daß, wer offen- und absichtlich und ohne jede Begründung ein kleineres Stück zugeteilt bekommt als die anderen, sich mißachtet fühlen wird, und Moral den Schutz von Menschen vor solcher Mißachtung verlangt.
2.2 Antiegalitaristische Argumente Die drei antiegalitaristischen Argumente, die ich hier herausgreifen will, gehören alle zur oben genannten dritten Gruppe und werfen dem Egalitarismus vor, daß er nicht einmal die Grundbedingungen eines menschenwürdigen Lebens fiir alle sichern kann. Der „Selber schuld"-Einwand, hebt die Bedeutung, die der Egalitarismus der Unterscheidung zwischen zu egalisierendem Unverdientem und nicht zu egalisierendem Verdientem verleiht, hervor und findet es inhuman, daß Menschen, die sich selbst ruiniert haben, in einem konsequent-egalitaristischen Regime jeden moralischen Anspruch auf Hilfe
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von anderen verlören. Scheut man wie die meisten Egalitaristen zumindest in Sachen Nahrung, Kleidung, Obdach, Medizin vor dieser inhumanen Konsequenz zurück, steht man schon mit einem Bein auf dem Boden einer nicht-komparativen, objektivistischen Gerechtigkeitstheorie, die Minimalbedingungen des menschenwürdigen Lebens auszeichnet und nicht mehr neutral bleibt zwischen verschiedenen Konzeptionen des guten Lebens. Der Stigmatisierungseinwand wirft dem Egalitarismus vor, daß er das Grundbedürfnis nach sozialer Anerkennung unverdientermaßen Schlechtgestellter wie Behinderter, Unbegabter oder Unausstehlicher verletzt, wenn er diese Menschengruppen über finanzielle Transfers für ihre Schlechterstellung kompensieren und sich damit von der ihnen gebührenden Anerkennung sozusagen „freikaufen" will. Diesen Vorwurf bringt das folgende böse Zitat aus Elizabeth Andersons Ethics-Artikel gut auf den Punkt: „Suppose their compensation cheques arrived in the mail with a letter signed by the State Equality Bord explaining the reasons for their compensation. Imagine what these letters would say. ,To the disabled: Your defective native endowments or current disabilities, alas, make your life less worth living than the lives of normal people. To compensate for this misfortune, we, the able ones, will give you extra resources, enough to make the worth of living your life good enough that at least one person out there thinks it is comparable to someone else's life. To the stupid and untalented: Unfortunately, other people don't value what little you have to offer in the system of production. Your talents are too meager to command much market value. Because of the misfortune that you were born so purely endowed with talents, we productive ones will make it up to you: we'll let you share in the bounty of what we have produced with our vastly superior and highly valued abilities. To the ugly and socially awkward: How sad that you are so repulsive to people around you that no one wants to be your friend or life time companion. We won't make it up to you by being your friend or your marriage partner - we have our freedom of association to exercise - but you can console yourself in your miserable loneliness by consuming these material goods that we, the beautiful and charming ones will provide. And who knows? Maybe you won't be such a looser in love once potential dates see how rich you are.'" (1999, 305.) Der „Option: Natur "-Einwand besagt, daß die Erfahrung der Natur, insbesondere die sinnliche, die ästhetische und die identitätsstiftende, zwar nicht Teil des menschenwürdigen Lebens ist, aber eine wichtige Option guten Lebens für alle Menschen darstellt. Der moralische Schutz von Autonomie als Teil des menschenwürdigen Lebens zieht den moralischen Schutz wichtiger Optionen guten Lebens nach sich. Der Egalitarismus kann ob seines dezidierten Subjektivismus die Zugänglichkeit der Naturoption für alle nicht sichern. Dieser letzte Einwand gegen den Egalitarismus ist im Unterschied zu den beiden zuvor genannten von direkter Relevanz fiir unsere Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen und wird im nächsten Teil des Textes weiter ausgebaut.
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2.3 Fazit Der kritische Durchgang durch einige zentrale Argumente für und wider die egalitaristische Gerechtigkeitstheorie führt zu dem - wie immer vorläufigen - Fazit, daß zu wenig für und zu viel gegen den Egalitarismus zu sprechen scheint. Der Antiegalitarismus stellt sich damit als die vielversprechendere Alternative dar.
3. Zukunftsethischer Antiegalitarismus: Dimensionen menschlicher Angewiesenheit auf Natur Der zukunftsethische Antiegalitarismus bestimmt das Maß unserer Verpflichtung gegenüber der Zukunft absolut: Wir sollten den Zukünftigen genug zum menschen- bzw. tierwürdigen Leben hinterlassen. Ob dieses Genug, komparativ gesprochen, auf mehr oder weniger hinausläuft, als wir selbst unverdientermaßen erhalten haben, oder auf gleichviel, hängt davon ab, wie unsere gegenwärtige Situation zu beurteilen ist. Drei Fälle sind zu unterscheiden: 1. Wir leben gegenwärtig in einer Welt, in der alle menschen- bzw. tierwürdig leben oder zumindest leben könnten, würden die moralisch angezeigten Umverteilungen, insbesondere die von den reichen auf die armen Länder, nur vollzogen. 2. Wir leben gegenwärtig in einer Welt, die es selbst nach den moralisch angezeigten Umverteilungen nicht schafft, allen den Zugang zu einem menschen- bzw. tierwürdigen Leben zu garantieren; und schließlich: 3. Wir leben gegenwärtig in einer Welt, in der nicht nur alle menschen- bzw. tierwürdig leben oder nach den moralisch angezeigten Umverteilungen zumindest leben könnten, sondern in der außerdem zumindest in einigen Ländern Überfluß herrscht. Im Fall 1 (gegenwärtig menschenwürdiger Bedingungen) verlangte der zukunftsethische Antiegalitarismus kontingenterweise ungefähr dasselbe Maß an Zukunftsvorsorge wie der Egalitarismus, nämlich daß wir Zukünftigen genauso viel hinterlassen müssen, wie wir selbst erhalten haben. Im Fall 2 (gegenwärtig menschenunwürdiger Bedingungen) verlangte der zukunftsethische Antiegalitarismus zwar - getreu dem Brechtschen Motto: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!" - von jetzt unter dem menschenwürdigen Niveau lebenden Menschen nicht, daß sie, wo sie dies noch weiter herunterdrückte, Zukünftigen mehr hinterlassen müssen, als sie selbst erhalten haben, aber er stellt es als Orientierung für das eigentlich moralisch Wünschenswerte in den Raum. Im Fall 3 (des Überflusses) erlaubte der zukunftsethische Antiegalitarismus, daß wir Zukünftigen weniger hinterlassen, als wir selbst erhalten haben, und uns ein schönes Leben machen. Er erlaubt es, aber er schreibt es natürlich nicht als die moralische Option vor. Länder mit ausgeprägtem nationalen Bewußtsein oder einer Tradition der Naturverbundenheit mögen zum Beispiel besonders viel für
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ihre zukünftigen Bürger tun wollen. Die Bürger anderer Länder mögen es vorziehen, das Hier und Jetzt auszukosten. Aber disqualifiziert diese letzte Möglichkeit, wonach die Gegenwärtigen den vorgefundenen Reichtum auf Kosten der Zukünftigen einfach „verprassen" dürfen sollen, nicht die antiegalitaristische Zukunftsethik? Ich denke nicht. Zumal eine Gleichverteilung des Überflusses auf alle zukünftigen Generationen - eine voraussichtlich zwar nicht unendliche, aber doch sehr große Anzahl - nach den Regeln der Infinitesimalrechnung einen gegen Null gehenden Anteil für jede einzelne Generation ergäbe. Wäre es da nicht besser, wenigstens einige, zum Beispiel wir, hätten etwas von dem Überfluß? Außerdem ist trotz verbreiteter Horrorszenarien der Naturzerstörung nicht wirklich ausgemacht, ob die Möglichkeiten guten Lebens nicht (durch zum Teil schon absehbare Erfindungen) ihren vor zwei Jahrhunderten begonnenen steilen Anstieg weiter fortsetzen und Krankheiten besiegt werden, die Lebensqualität im Alter und die Arbeitsqualität sich verbessern sowie Ressourcen für sinnvolle soziale Aktivitäten frei werden. Wäre diese optimistische Prognose richtig - und wer kann heute schon sagen, welche der vielen Zukunftsprognosen richtig ist - , dann hätte es wenig Sinn, unseren Überfluß für zukünftige Generationen extra aufheben zu wollen. Denn denen erginge es dann sowieso schon viel besser als uns heute. Sind wir mit unserer heutigen Welt in Fall 1 oder 2 oder 3? Um diese Frage zu beantworten, müßte man zunächst ein klares Bild der Dimensionen des menschen- und tierwürdigen Lebens entwerfen und dann die Lebensbedingungen in allen Ländern der Welt kontextsensibel an diesem Bild messen. Ich kann ein solches Bild hier nicht zeichnen, sondern nur auf Versuche in diese Richtung hinweisen, etwa bei Martha Nussbaum (1992, ihre bekannte Zehnerliste der menschlichen Grundfunktionsfähigkeiten) oder vorsichtiger und verdeckter bei Avishai Margalit in seinem Buch Politik der Würde (1997). Ich will mich im folgenden darauf beschränken, Dimensionen menschlicher Angewiesenheit auf Natur auszuloten, um dann ein wenig konkreter sagen zu können, was wir Zukünftigen in Sachen Naturschutz schulden. In meinem Buch Ethics of Nature (1999), habe ich sieben, den Schutz von Natur begründende Dimensionen menschlicher Angewiesenheit auf Natur unterschieden: Erstens bedürfen wir der Natur zur Befriedigung unserer Grundbedürfnisse (Basic-NeedsArgument). Zweitens ist die Natur Quelle vieler angenehmer körperlicher und seelischer Empfindungen (Aisthesis-Argument). Drittens lädt uns die Natur in besonderer Weise zu ästhetischer Betrachtung ein (ästhetisches Kontemplationsargument). Viertens tritt uns die noch unberührte Natur als geformte entgegen und entlastet uns von der in unserem Leben sonst allgegenwärtigen Verantwortung zur Gestaltung unserer Umgebung und unserer selbst (Design-Argument). Fünftens ist die Natur für viele Menschen Heimat und trägt so zu ihrer Identität bei (Heimatargument). Sechstens dient uns die Natur als Übungsobjekt zur Bildung unseres moralischen Charakters {pädagogisches Argument). Siebtens kommt in der „weisen Haltung" zum Leben der Natur eine Heiligkeit zu (Argument vom Sinn des Lebens). Für praktische Naturschutzbelange sind neben der Grundbedürfnisdimension vor allem die zweite, die sinnliche, die dritte, die ästhetisch-kontemplative, und die fünfte, die identitätsstiftende Dimension von Bedeutung. Da die Gefahr der Verletzung (zumindest der
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menschlichen, wenn auch nicht der tierischen) Grundbedürfnisse im öffentlichen Bewußtsein inzwischen ohnehin omnipräsent ist und es dazu philosphisch auch nicht allzuviel zu sagen gibt - das philosophisch anspruchsvolle Problem des rationalen Umgangs mit Ungewißheit und Risiko natürlich ausgenommen (vgl. dazu z. B. Jonas 1979, Gethmann/Kloepfer 1995, Nida-Rümelin 1996, Lübbe 1998) möchte ich hier nur auf die sinnliche, die ästhetisch-kontemplative und die identitätsstiftende Bedeutung von Natur eingehen. Ich werde argumentieren, daß diese drei Formen der Naturerfahrung zwar nicht notwendige Teile eines menschenwürdigen Lebens sind - man kann auch ohne diese Naturerfahrungen durchaus menschenwürdig und sogar gut leben - , aber doch wichtige und schwierig bis gar nicht ersetzbare Optionen eines autonomen Lebens darstellen. Als Blumen im Strauß der Optionen eines solchen Lebens sind sie allen Menschen zu erhalten. Denn Autonomie ist ein notwendiger Teil des menschenwürdigen Lebens und Autonomie ohne einen Strauß wichtiger Optionen liefe leer. Der Wunsch vieler Menschen etwa nach schöner Natur ist damit moralisch anders zu behandeln als der mindestens genauso verbreitete Wunsch, mit dem Auto oder dem Motorrad ungehindert überall „herumpesen" zu können, da Auto- und Motorradfahren weder in sich besonders wichtige noch schwierig oder gar nicht ersetzbare Optionen guten Lebens darstellen. Ich gehe die drei genannten Optionen der Naturerfahrung nun kurz durch. 1. Die Option sinnlicher Naturerfahrung - denken Sie an ein Bad in den Wellen des Meeres, Vogelgezwitscher am Morgen, die würzige Luft im Gebirge, den Geschmack von Walderdbeeren oder die Heiterkeit eines Sommertages - ist zwar im Prinzip artifiziell ersetzbar, aber der Glaube, dies sei bereits heute oder in absehbarer Zeit machbar, hat schon etwas von technokratischem Utopismus an sich. Warum ist denn dann die Artefaktenwelt der Suburbs, der Fabriken, der Büros, der Straßenschluchten zwischen Hochhäusern, der Autobahnen so unangenehm und so deprimierend? Warum ziehen Gourmets Obst, Gemüse, Fleisch aus traditioneller Landwirtschaft vor? Auch der Hinweis, daß wir zukünftigen Generationen, hinterließen wir ihnen eine sinnlich verarmte Natur, nichts nähmen, da sie diese Freuden der Natur gar nicht kennten, krankt an einer Fehleinschätzung dessen, was machbar ist. Wie sollten wir denn verhindern, daß zukünftige Generationen aus der Weltliteratur oder der Malerei wüßten, wie schön eine saftige Alm oder eine einsame, azurblaue Bucht ist, und neben dem Schmerz über den Verlust auch noch Ärger über unsere Einschränkung ihrer Autonomie verspürten? Und entscheidender noch: Der Hinweis tut so, als ob etwas nur dann eine Option guten Lebens für jemanden sein könnte, wenn er oder sie davon weiß. Man muß aber nicht vorher wissen, ob einem munteres Vogelgezwitscher vor dem Fenster am Morgen gefällt, damit es einem gefallen kann. 2. Die Option der ästhetischen Naturbetrachtung, der nicht funktional geleiteten, aktiven Wahrnehmung schöner und erhabener Natur - denken Sie an zarte Rosen, bizarre Felsformationen, majestätische Redwoodbäume oder den Horizont des Meeres - ist teilweise sicher durch die Betrachtung von Kunst ersetzbar. Und
Wieviel Natur schulden wir der Zukunft? doch hat Naturbetrachtung auch einen besonderen Charakter, der sich dieser Substitution entzieht. Auf drei Aspekte möchte ich aufmerksam machen (für eine eingehende Untersuchung vgl. Seel 1991). Zunächst einmal spricht Natur in der Regel alle unsere Sinne an, während Kunstwerke oft einen Sinn privilegieren. Das Zusammenspiel verschiedener Sinne und die Aktivierung von Sinnen wie dem Tastsinn, der in der Kunst nur eine geringe Rolle spielt, geben der naturästhetischen Erfahrung eine besondere Qualität, die man durch Konzerte oder Museen sicher nicht ersetzen kann. Man müßte schon „Gesamtkunstwerke", holistisch attraktive Artefaktenparks schaffen, was logisch nicht unmöglich, aber utopisch ist. Zum zweiten stellt gerade die Tatsache, daß (insbesondere die wilde) Natur als das nicht vom Menschen Gemachte keine Spuren menschlicher Zwecksetzung aufweist, eine ästhetische Attraktion dar, die Kunstwerke nicht bieten und prinzipiell nicht bieten können. Was wie der Horizont des Meeres oder ein Sternenhimmel keine Spuren von Funktionalität an sich hat, lädt in besonderer Weise zur nicht-funktionalen Wahrnehmung ein. Der dritte Punkt betrifft den Status des Erhabenen in der Natur. Beispiele sind ein aufgewühltes Meer, ein gewaltiger Wirbelsturm, ein hoher Wasserfall, Riesenbäume, die Weite einer Wüste. Unterscheiden wir mit Kant (Kritik der Urteilskraft, 1.1.2, §§ 23-29) zwei Varianten des Erhabenen: das mathematisch Erhabene, das aufgrund seiner Größe, und das dynamisch Erhabene, das aufgrund seiner Kraft beeindruckt, so gibt es zwar beide Varianten des Erhabenen in der menschlichen Artefaktenwelt - man denke an das Straßburger Münster oder an Beethovens Neunte Symphonie - , aber mit der Abundanz an Erhabenheit in der Natur kann die Artefaktenwelt nicht mithalten. Um den Verlust an mathematisch Erhabenem in der Natur wettzumachen, müßten zum Beispiel Artefakte von der Höhe der Alpen gebaut werden. Das mag möglich sein, aber der Aufwand dafür würde den Aufwand der Erhaltung des natürlichen mathematisch Erhabenen um ein Vielfaches übersteigen. Was das natürliche dynamische Erhabene angeht, kann prinzipiell kein artifizieller Ersatz es jemals erreichen. Denn schon das Faktum, daß wir es sind, die etwas Gewaltiges schaffen, dies aber auch lassen könnten, nimmt etwas von seiner Kraft. Daß das artifizielle dynamisch Erhabene an das natürliche dynamisch Erhabene nicht herankommt, bedeutet nicht nur, daß wir dynamisch erhabene Natur nicht ersetzen können und daher erhalten sollten, es bedeutet auch, daß wir, indem wir nun Maßnahmen ergreifen müssen, um dynamisch erhabene Natur zu erhalten (und wenn es nur ein Zaun um einen Nationalpark ist), diese bereits etwas von ihrer Gewaltigkeit eingebüßt hat. 3. Schließlich dient uns Natur oft als Heimat. Gefragt, wer sie sind, geben viele Menschen die Landschaft an, aus der sie kommen. Das Bedürfnis nach Besonde rung gehört zum Kern des guten menschlichen Lebens. Natur muß nicht, kann aber Teil menschlicher Individualität sein. Hermann Lübbe spricht bei Naturschutz als Heimatschutz treffend von „Naturmusealisierung" (1985, 11). Wir
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kreierten Museen der Kultur und der Natur, um uns in Zeiten fortschreitender Assimilation - denken Sie an Hilton und McDonalds überall auf der Welt - der Wurzeln unserer Identität zu versichern. Naturschutz als Heimatschutz ist aber nicht nur uns selbst geschuldet, sondern auch sich historisch verstehenden zukünftigen Generationen. Ich komme zum Schluß. Die Ausgangsfrage dieses Textes war: „Wieviel Natur schulden wir der Zukunft?". Der wesentliche Zug bei der Beantwortung dieser Frage war, das Maß unserer Zukunftsverantwortung nicht, wie sonst üblich, komparativ, sondern absolut zu bestimmen: Wir schulden zukünftigen Menschen und Tieren eine Welt, in der sie menschen- bzw. tierwürdig leben können. Die Konkretisierung dieses Maßes hinsichtlich der Natur ergab die Forderung, Zukünftigen eine Natur zu hinterlassen, in der sie - natürlich neben der Möglichkeit zur Befriedigung ihrer Grandbedürfnisse - die Optionen sinnlicher, ästhetischkontemplativer und identitätsstiftender Naturerfahrung haben.
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Kolloquium VII Orientierungswissen
Volker Gerhardt
Einfuhrung: „Sich Orientieren" Auf der Pressekonferenz zur Eröffnung dieses Kongresses wurde moniert, das Programm enthalte zu wenige Themen aus dem Bereich der Praktischen Philosophie. Die fragende Journalistin hatte nicht nur die Veranstaltungen zur Speziellen Ethik, zur Technik-, Sozialund Kulturphilosophie übersehen, sondern ihr war offenbar auch entgangen, was sich hinter dem Titel des Orientierungswissens verbirgt - einem Begriff, der gleich mehrfach im Programm zu lesen ist. Ganz abgesehen davon, daß jeder Kongreß Schwerpunkte setzen muß, ist für jeden mit der Terminologie vertrauten Leser erkennbar, daß die Fragen des praktischen Handelns keineswegs ausgeklammert, sondern durchaus angemessen vertreten sind. Unter dem Titel des Orientierungswissens zielen sie sogar ins praktisch bewegende Zentrum des Wissens. Das möchte ich in einer kurzen Vorbemerkung kenntlich machen. Der schöne Begriff des Orientierungswissens ist neuerdings in Opposition zum Verfügungswissen in Umlauf gekommen.' Damit steht er dem exakten Wissen über Vorgänge und Verfahren gegenüber, die sich genau beschreiben und in vorhersehbarer Weise einrichten und verändern lassen. In Abgrenzung zum Verfügungswissen unterläuft das Orientierungswissen nicht nur die populäre Dichotomie von Herrschen und Anwenden, die der soziopolitischen Wissenschaftskritik zugrunde liegt; es steht auch quer zur immer noch dominierenden Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen, die bekanntlich ihren Anteil an der methodologisch überfrachteten Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften hat. Orientierung steht sowohl einer eindeutigen Anwendung wie auch einer herrschaftlichen Anweisung gegenüber. Sie ist eine sinnvoll nur von einem Individuum zu erbringende Bemühung um eine eigene Ortsbestimmung, die es erlaubt, die Richtung für mögliche Bewegungen zu ermitteln. In der ursprünglichen Bedeutung der auf den im Osten stehenden Stern 1 Dazu Mittelstraß 1986 und 1991, 31 -39.
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Volker Gerhardt
bezogenen „Orientierung"2 braucht man eine gewisse Kenntnis der Erscheinungen am nächtlichen Firmament, eine nach den Himmelsrichtungen vorgenommene Einteilung des Horizonts und ein Bewußtsein von der eigenen Stellung im Raum. Die hat jemand freilich nur unter der Bedingung sinnlicher Präsenz in Verbindung mit einem elementaren Wissen über die Lage des eigenen Körpers, über die räumliche Zuordnung der als Weg, Hilfsmittel oder Hindernis in Frage kommenden Gegenstände sowie über die Tageszeit. Vor allem aber braucht er ein Interesse an der Orientierungsleistung selbst. Wer nicht wissen will, wo er sich befindet und wohin sein Weg geht, der hat auch kein Interesse an irgendeiner Orientierung. Allein darin tritt das praktische Fundament des OrientierungsWissens hervor. In der Opposition zum Verfügungswissen könnte man den Eindruck haben, mit dem Orientierungswissen lebe die alte Unterscheidung zwischen Poiesis und Praxis wieder auf: Das eine ist auf das Herstellen aus und kann nur dort etwas bewirken, wo es genaue technische Kenntnisse gibt; das andere ist auf das offene Feld des Handelns bezogen und kann nur etwas erreichen, wo es jemandem um die freie Entscheidung über die eigene Stellung und den eigenen Weg zu tun ist. Aber man braucht sich nur in die Position eines Seglers zu versetzen, der vom Kurs abgekommen ist und - mit oder ohne Instrument - nach neuer Orientierung sucht, um zu erkennen, daß es so gut wie unmöglich ist, die Orientierung allein auf die Seite der von allem Bedürfnis freigesetzten Handlung des freien Bürgers zu stellen. Auch wenn das Ausgangsproblem der Orientierung stets auf eine Alternative bezogen ist, die nur dem aus eigener Einsicht handelnden Individuum erwachsen kann, wird man die technischen Implikationen, die Orientierung immerhin haben kann, nicht leugnen wollen. Also sind auch die Naturwissenschaften - spätestens in der Anwendung ihrer Erkenntnisse auf Orientierung angewiesen. Damit unterläuft das Orientierungswissen alle die gängigen Unterscheidungen, die seit Jahren die Debatte über die „zwei Kulturen" in den Wissenschaften bestimmen. Zwar ist nicht zu leugnen, daß die Orientierung eine Affinität zu dem frei und eigenständig den Horizont absuchenden Menschen hat. Insofern scheint sie stärker mit dem „Geist" verknüpft zu sein, den die alten Geisteswissenschaften beschworen haben und den die modernen Kulturwissenschaften trotz größter Anstrengungen nicht loswerden. Aber offenkundig ist auch, daß sich viele Geistes- und Kulturwissenschaftler für ernsthafte Orientierung des eigenen Handelns gar nicht mehr interessieren. Andererseits stellen gerade die Grundlagentheoretiker in den Naturwissenschaften verstärkt Fragen nach dem Woher und Wohin. Sie wollen Orientierung zumindest für ihr Fach, nicht selten aber auch für ihre eigenen Forschungsprogramme. Vereinzelt geben sie sogar zu erkennen, daß ihnen ihr naturwissenschaftliches Wissen für ihre eigenen Lebensentscheidungen wichtig ist. Orientierung kann in jeder Handlungslage zum Problem werden. Also verbietet es sich, das Orientierungswissen einer der üblichen Wissenschaftsformationen zuzurechnen. Gesetzt, es gäbe tatsächlich die beiden „Kulturen" der Wissenschaft, 2 Oriens, -entis bezeichnet die aufgehende Sonne. Osten und Orient sind also dort, wo die Sonne und alle anderen Sterne aufgehen.
Kolloquium VII — Einführung
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dann wäre - unabhängig davon, was ihre Protagonisten jeweils als deren Eigentümlichkeit behaupten - Orientierung in beiden Bereichen unerläßlich. Warum dies so ist, wird sofort erkennbar, wenn wir uns nur an die erste prominente philosophische Inanspruchnahme des Orientierungsbegriffs erinnern: Immanuel Kant stellte seinen vom Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift mehrfach dringlich erbetenen Beitrag zum Spinozismusstreit unter den Titel: Was heißt: Sich im Denken orientieren?3 Die metaphysische Absicht, die er dabei verfolgte, muß uns hier nicht interessieren. Es genügt, auf Kants Erläuterung des Wortgebrauchs zu achten: „Sich orientiren heißt in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont eintheilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel und weiß, daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu finden."4 Und nun braucht die Person nur noch zu wissen, wo sie steht und was sie will, um sich auf diese Weise orientieren zu können. Wie selbstverständlich dies zuweilen geschieht, illustriert Kants Hinweis auf eine vertraute Situation: „Im Finstern orientire ich mich in einem mir bekannten Zimmer, wenn ich nur einen einzigen Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtnis habe, anfassen kann."5 Das lebensweltliche Beispiel setzt voraus, daß da jemand ist, der wirklich wissen will, wo er sich befindet. Nur dann kann er wissen, in welche Richtung und mit welchem Aufwand er sich bewegen kann. Also muß nicht nur eine bestimmte (körperliche) Lage in Raum und Zeit gegeben sein, sondern auch ein Bedürfnis, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Das wiederum ist an das Bewußtsein geknüpft, sich in der vorfindlichen Lage auch tatsächlich entscheiden zu müssen. Alle drei Momente - empirische Ausgangsbedingungen eines empfindenden Körpers, Bedürfnis und Notwendigkeit der Entscheidung - werden von Kant nachdrücklich betont. Er hebt mehrfach das „Bedürfnis der Vernunft" hervor und stellt klar, daß wir angesichts der in der Orientierung anstehenden Fragen „urtheilen müssen".6 Was Kant als Konditionen der Orientierung darstellt, entspricht der durchschnittlichen Lebenslage des Menschen. Normalerweise steht der Mensch unter dem Druck von Bedürfnissen, er muß sich entscheiden und will es in der Regel auch. Der Mensch ist von der Lust zum eigenen Handeln durchdrungen und erfährt in ihrer Erfüllung seine Freiheit. Dabei verfugt er höchst selten über eine vollkommene Kenntnis der Bedingungen und Folgen seines Tuns; aber er braucht Maßgaben, nach denen er sich unter Bedingungen relativer Unsicherheit gleichwohl entschieden in Bewegung setzen kann. Das geschieht durch Orientierung. Sie erlaubt ihm, das Koordinatenkreuz seiner Selbst- und Weltkenntnis in eine gegebene Lage einzutragen und sich so auch in einem unbekannten Gelände nach selbstbestimmten Zielvorgaben zu richten.
3 Immanuel Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren?, in: Berlinische Monatsschrift VIII (1786), 304-330; jetzt in: Akademie-Ausgabe, Band VIII, 129-147. 4 A.a.O., 134. (Hervorhebung durch Kant.) 5 A.a.O., 135. 6 A.a.O., 139.
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Tatsächlich befinden wir uns in allen Entscheidungen, die Kommendes betreffen, auf noch nicht hinreichend erschlossenem Gebiet. Exaktes Wissen kann uns lediglich über einige Anfangsbedingungen und ein paar modelltheoretisch entworfene Konsequenzen informieren. Alles andere aber hängt von Einflußgrößen ab, die wir nur nach eigener Erfahrung abschätzen und mit Urteilskraft bewerten können. Abgesehen von trivialen Fällen unter bereits entschiedenen Prämissen, wo es eigentlich gar nichts mehr zu entscheiden, sondern nur noch zu rechnen gibt, werden die für unser privates wie für unser öffentliches Leben bedeutsamen Fälle unter Konditionen betrachtet, die gar kein sicheres Wissen erlauben. Also sind wir in so gut wie allen wichtigen Handlungslagen auf Orientierungswissen angewiesen; der Anteil exakten Wissens ist eher marginal. Dies gilt für jeden Menschen, ganz gleich, ob er sich als Wissenschaftler versteht oder nicht. Es gilt gewiß ohne Unterschied für Natur- und für Geisteswissenschaftler, ganz gleich, ob Entscheidungen in ihrem Fach oder für ihr Fach zu treffen sind, oder ob Konsequenzen aus einer wissenschaftlichen Erkenntnis gezogen werden sollen. Wann immer wir uns in einer für unser Leben wichtigen Frage zu entscheiden haben, stehen uns die wichtigsten Kriterien nur über Orientierungsleistungen zur Verfügung. Die Unverzichtbarkeit der Orientierung in allen Fragen, die uns selber wichtig sind, kann man einer kleinen sprachlichen Besonderheit entnehmen, die den aufmerksamen Lesern von Kants Aufsatz gar nicht entgehen kann: Kant spricht weder von „Orientierung" noch von „orientieren", sondern er betont - und hebt es auch typographisch hervor - , daß es um ein Sichorientieren geht. Es ist ausdrücklich vom „Begriff des Sichorientierens" die Rede.7 Das durch Bedürfnis und eigenen Anspruch zur Entscheidung genötigte Selbst ist originärer Bestandteil des Begriffs. Orientierungswissen ist immer an die Handlungsabsicht eines „Ich" gebunden. Wenn es sinnvoll auch auf ein kollektives Subjekt übertragen werden soll, muß es mindestens auf ein exemplarisches Ich bezogen werden können. Strenggenommen gilt diese Bindung an ein Selbst für alle Leistungen des Menschen. Auch ein ganz auf die Beherrschung eines sachlichen Zusammenhangs gerichtetes „Verfügungswissen" verlangt ein „Subjekt", das in der Lage ist, es durch Gebrauch zum Wissen zu machen. Doch da hier im Prinzip jeder, der über klar definierte oder allgemein vorhandene Fähigkeiten verfügt, als Subjekt in Frage kommt, besteht wenig Anlaß, die Leerstelle des Subjekts eigens zu betonen. Das ist bei der Orientierung anders: Sie bezieht ihren Sinn auf eine bestimmte Stelle in Raum und Zeit, sie ist auf die physische Präsenz, psychische Dynamik und mentale Appetenz eines Individuums angelegt, und in alledem ist sie auf die Bewertung bezogen, die ein Mensch mit einer eigenen Aktivität verknüpft. Das Orientierungswissen ist somit an einen individuellen Ausgangspunkt gebunden, der bestenfalls exemplarisch auf andere ausgeweitet werden kann. Kant hat den individuellen Charakter des Sichorientierens mit Nachdruck exponiert. Nach seiner Terminologie haben die Orientierungsleistungen als „subjektiv" zu gelten. Doch diese Bezeichnung ist mißlich. Denn der Begriff der „Subjektivität" legt nahe, daß damit die 7 A.a.O., 134. (Hervorhebung durch Kant.)
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Kolloquium VII - Einführung
Geltung auf die Binnenwelt des Individuums beschränkt und ihr Realitätsbezug fraglich ist.8 Doch Orientierungswissen hat einen anderen Status als das Gefühl der Freude oder die Empfindung von Zahnschmerz. Kants eigenes Beispiel macht dies anschaulich: Um die für die Orientierung wesentliche Unterscheidung zwischen rechts und links zu erklären, spricht er von einem „Gefühl eines Unterschieds an meinem eigenen Subject, nämlich der rechten und der linken Hand", und fährt fort: „Ich nenne es ein Gefühl: weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen. [...] Also orientire ich mich geographisch bei allen objectiven Datis am Himmel doch nur durch einen subjectiven Unterscheidungsgrund."9 Man weiß sofort, was gemeint ist: Der Unterschied ist uneinholbar individuell. Er bleibt einem Individuum auch für sein ganzes Leben; kann aber eindeutig von jedem anderen Individuum in eben derselben Weise nachvollzogen werden, sobald es sich auf den Standpunkt dieses Individuums stellt. Gibt man die Beschreibungsposition mit an, hat die Rechtslinks-Zuordnung eines Individuums sogar objektiven Charakter. Also gibt es auch keine Subjektivität im Sinne einer bloßen Empfindung oder eines Gefühls. Überdies bleibt in dem vom Einzelnen ausgehenden Urteil über seinen Unterschied zwischen rechts und links keine epistemische Unsicherheit. Für ihn steht die Differenz eindeutig und auf Dauer verbindlich fest. Und dies keineswegs nur für ihn. Jeder andere, der die Relativität der Ausgangsposition des Individuums mit einbeziehen kann, kann die Rechts-links-Unterscheidung dieses einen Menschen in uneingeschränkt allgemeiner Weise nachvollziehen. Dieser Hinweis muß genügen, um die exemplarische Individualität des Orientierungswissens anzudeuten. So hat man wenigstens eine Idee von der möglichen Allgemeinheit dieser Form des Wissens, das einen Wert aber nur solange haben kann, als es nicht von den Bedürfnissen, Ansprüchen und Kenntnissen des Einzelnen abgelöst wird. Durch diesen Ursprung ist das Orientierungswissen ganz selbstverständlich in die Praxis von Individuen eingebunden, die freilich nur in der sachbezogen Verständigung untereinander zu so etwas wie Wissen kommen. Gehen wir davon aus, daß dieses Wissen bei jedem einzelnen in die Lebensvollzüge eingefügt sein muß, könnte man zu der Vermutung kommen, daß alles Wissen ursprünglich Orientierungswissen ist.
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8 Zur Kritik des neuzeitlichen Subjektivitätsbegriffs siehe Verf. 1999, 206 ff. u. 273 ff. 9 A.a.O., 134 f.
Gerhard Vollmer
Können wir den sozialen Mesokosmos verlassen? 1. Zwei Arten von Orientierungswissen Ich glaube sichere Anzeichen dafür wahrzunehmen, daß eine auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sich aufbauende Selbsterkenntnis der Kulturmenschheit aufzuleuchten beginnt. Wenn diese [...] zur Blüte und zum Tragen kommen sollte, würde damit das kulturelle geistige Streben der Menschheit ebenso auf eine höhere Stufe gehoben werden, wie in grauer Vorzeit durch das Fulgurieren der Reflexion die Erkenntnisfähigkeit des Einzelmenschen auf eine neue und höhere Stufe gehoben wurde. Eine reflektierende Selbsterforschung der menschlichen Kultur hat es nämlich bisher auf unserem Planeten nie gegeben, ebensowenig wie es vor Galileis Zeit eine in unserem Sinne objektivierende Naturwissenschaft gab. [...] Gewiß, die Lage der Menschheit ist heute gefährlicher, als sie jemals war. Potentiell aber ist unsere Kultur durch die von ihrer Naturwissenschaft geleistete Reflexion in die Lage versetzt, dem Untergange zu entgehen, dem bisher alle Hochkulturen zum Opfer gefallen sind. Zum erstenmal in der Weltgeschichte ist das so. (Lorenz 1973, 321) Das sind die letzten Abschnitte aus dem Buch von Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. Jeder weiß, daß Konrad Lorenz der Vater der Evolutionären Erkenntnistheorie ist, die allerdings zahlreiche Großväter hat. Ihr Vater wurde er nicht erst durch Die Rückseite des Spiegels von 1973, sondern bereits durch seine Aufsätze von 1941 und 1943, die freilich in jenen Kriegsjahren nur wenig Widerhall fanden. Nicht jeder weiß, daß Lorenz zu dem Buch einen zweiten Band plante, in dem er nicht das Erkennen, sondern das Werten behandeln wollte. Dieser Folgeband wird in der Rückseite des Spiegels erwähnt, ist aber nie erschienen. Allenfalls wird man sein Buch Der Abbau des Menschlichen als einen Torso des unvollendeten Werkes ansehen dürfen. Die Existenz dieser beiden Bände, aber auch schon der Aufsatz Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung (1943), zeigen, daß Lorenz Erkennen und Werten, also kognitives und soziales Verhalten, in engem Zusammenhang gesehen hat. Für diese doppelte Bemühung dürfte es kein passenderes Wort geben als ,Orientierung'. (Ein immerhin gleich gutes Wort ist ,Einsicht'.) Lorenz wollte orientieren: Er wollte aufklären, aufklären insbesondere über den evolutiven Ursprung menschlichen Erkennens, Wertens und Handelns. Er wollte auch aufklären darüber, wie wir uns in dieser Welt orientieren. Und darüber, wie andere Lebewesen sich orientieren und was bei ihnen anders ist als bei uns. Konrad Lorenz war aber auch Prediger: Als ausgebildeter Arzt wollte er nicht nur eine Diagnose stellen, sondern zugleich therapieren. Gerade weil er als Naturforscher bestimmte Gefahren besonders klar zu sehen vermöge, werde ihm „das Predigen zur Pflicht". Nur so ist der pathetische Ton zu verstehen, mit dem die eingangs zitierten Absätze daherkommen.
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Und so spricht er nicht etwa von gefährlichen Irrtümern, sondern von den Todsünden der Menschheit. Orientieren will Lorenz sowohl über das, was der Fall ist, als auch über das, was zu tun ist. Der Begriff Orientierung wird im Folgenden in diesem doppelten Sinne verstanden. Der Ausdruck Mesokosmos entstammt dem Gedankenkreis der Evolutionären Erkenntnistheorie, bezieht sich also auf den kognitiven Bereich; der Ausdruck sozialer Mesokosmos gehört auf ganz analoge Weise zur Evolutionären Ethik, also zum normativen Bereich. In beiden Fällen kann man von Orientierungswissen sprechen. Ein Titel mit einer Ja-Nein-Frage hat den Vorteil, daß man weiß, wenn die Frage beantwortet ist, wenn also der Vortrag oder der Aufsatz zu Ende ist oder wenigstens sein könnte. Er hat aber den Nachteil, daß man schon beim Ja oder beim Nein meint, nun sei die Arbeit erledigt. Für einen Philosophen ist es mit einem einfachen Ja oder Nein nicht getan. Einerseits wird er in Erörterungen eintreten, was die Frage überhaupt bedeutet, welche Voraussetzungen darin bereits gemacht werden, welche Antwortmöglichkeiten es gibt, welche Wege zu einer Antwort fuhren könnten, vielleicht auch, welche Geschichte die Frage oder die Antworten haben, vor allem aber, welche Argumente für die Antwort sprechen und warum die Gegenargumente die Antwort nicht aushebeln. Unsere Titelfrage ist beschämend leicht zu beantworten, nämlich mit Ja. Sofort stellt sich jedoch die Folgefrage: Wie schaffen wir es, den sozialen Mesokosmos zu verlassen? Diese Frage ist nicht mehr so einfach, genauer: Es ist nicht einfach, eine begründete Antwort zu geben. Wir werden zunächst daran erinnern, was mit Mesokosmos gemeint ist, und uns dann dem sozialen Mesokosmos zuwenden.
2. Der Mesokosmos Die Evolutionäre Erkenntnistheorie untersucht menschliches Erkennen auf Leistung, Herkunft und Geltung. In Analogie zur ökologischen Nische eines Organismus definiert sie die kognitive Nische eines Organismus als den Ausschnitt der realen Welt, den der Organismus kognitiv, also wahrnehmend, rekonstruierend und identifizierend bewältigt, auf den er dank evolutiver Prozesse geprägt ist. Die kognitive Nische des Menschen nennen wir Mesokosmos. Die Grenzen des Mesokosmos lassen sich angeben. Sie reichen von zehntel Millimetern zu einigen Kilometern, von null zu drei Dimensionen, von Sekundenbruchteilen zu einigen Jahren, von Stillstand zu Sprintergeschwindigkeit, von gleichförmiger Bewegung (Beschleunigung Null) zur Erdbeschleunigung (10 m/s2), von Gramm zu Tonnen, von Komplexität Null zu linearen Systemen. Unser Mesokosmos enthält keine elektrischen oder magnetischen Felder, obwohl diese makroskopische Ausdehnung haben können. Innerhalb des Mesokosmos fühlen wir uns zuhause; hier können wir uns auf unser intuitives Urteil durchweg verlassen; hier können wir uns schnell und zuverlässig orientieren. Wann ist der Mesokosmos entstanden? Eine zeitliche Einordnung ist nicht leicht. Verhalten fossiliert nicht, und kognitive Leistungen erst recht nicht. Wie wir aber aus dem Artvergleich, insbesondere aus dem Vergleich mit unseren nächsten Verwandten, den Schim-
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pansen, erschließen können, sind viele unserer kognitiven Fähigkeiten schon lange vor der Menschwerdung entstanden. Die Ausbildung des Mesokosmos dürfen wir noch vor der Entstehung der Sprache ansiedeln. Doch ist ebenso umstritten, wann die Sprachfähigkeit des Menschen entstanden ist. Zur groben Orientierung halten wir uns für die Sprache an einige hunderttausend Jahre, für den Mesokosmos an einige Jahrmillionen, wobei elementare Fähigkeiten noch viel weiter zurückreichen. Wir dürfen annehmen, daß seit dem Auftreten des Cro-Magnon-Menschens, vor 40 000 Jahren genetisch nicht mehr viel passiert ist. Deshalb nennt man ihn häufig den modernen Menschen, was natürlich nichts mit moderner Physik, moderner Kunst oder moderner Philosophie zu tun hat, die man auf das 20. Jahrhundert beschränken wird. Zu unserem Glück können wir den Mesokosmos auch überschreiten. Das wichtigste Mittel, die wichtigste „Leiter", ist die Sprache. Sie erlaubt es uns, neue Begriffe zu bilden, neue Sätze zu formulieren, Hypothesen aufzustellen über Sachverhalte, die uns intuitiv nicht zugänglich sind, Sätze, die uns wahr zu sein scheinen, probeweise zu verneinen, Schlüsse zu ziehen und auf Korrektheit zu überprüfen, Voraussagen zu machen, zu argumentieren. In der Sprache fangen wir an zu zählen, zu rechnen, Mathematik zu treiben, entwickeln wir künstliche Sprachen, aber auch Theorien, die uns als „Denkzeuge" aus dem Mesokosmos hinausfuhren.
3. Der soziale Mesokosmos Analog zu unserer kognitiven Nische können wir auch einen sozialen Mesokosmos definieren. Das ist der Ausschnitt unserer sozialen Umgebung, auf den wir stammesgeschichtlich geprägt sind. Diese Explikation setzt voraus, daß es biologisch-genetische Wurzeln für unser Sozialverhalten gibt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um genetischen Determinismus, wonach alles Sozialverhalten genetisch festgelegt wäre. Belege für genetisch bedingte Verhaltensdispositionen gibt es genug, vom ethologischen Vergleich mit unseren nächsten Verwandten über Studien an Stammeskulturen (Naturvölkern) bis zur Entwicklungspsychologie. Dabei sind Verhaltensuniversalien gute Kandidaten fiir genetische Wurzeln. Wann ist der soziale Mesokosmos entstanden? Auch hier sind selbst ungefähre Angaben noch recht kühn. Wir gehen davon aus, daß wir genetisch auf ein soziales Gefüge geprägt sind, wie es in der Steinzeit bestand. So verstehen wir auch den Buchtitel Mammutjäger in der Metro (Allmann). Dabei ist freilich zu bedenken, daß sich die Steinzeit (oder das Pleistozän) auf mehr als die letzte Million Jahre erstreckt. Wie sieht der soziale Mesokosmos aus? Es gibt zahlreiche Ansätze, den sozialen Mesokosmos zu schildern (ohne daß dieser Ausdruck verwendet würde), etwa bei dem Humanethologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Auch der Anthropologe Hans Zeier hat versucht, den sozialen Mesokosmos zu charakterisieren.1 Er tut dies allerdings nicht, indem er dessen typische Merkmale aufzählt, sondern indem er Situationen skizziert, die in unserer stam1 Vgl. Zeier 1978, 1109 und 1118 f.
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mesgeschichtlichen Vergangenheit nicht vorgekommen, heute aber häufig sind. In Anlehnung an Zeier stellen wir solche Bedingungen zusammen: -
Die Gruppen, in und mit denen wir leben, umfassen mehr als hundert Individuen. Wir haben mehr Kontakte mit fremden als mit vertrauten Individuen. Wir haben mehr indirekte Kontakte über (technische) Hilfsmittel als persönliche Kontakte. Der Anteil neuartiger Tätigkeiten ist vergleichsweise hoch. Wir machen mehr passive Erfahrungen (Berichte, Lektüre, Medien, Computer) als aktive. Soziale und technische Veränderungen lassen die Erfahrungen einer Generation für die nächste unbrauchbar werden. Wir lernen mit und an Maschinen statt an Menschen und entwickeln entsprechende Gewohnheiten und Denkmodelle. Wir erleben weder unsere ökologischen Lebensvoraussetzungen noch die Folgen unserer Handlungen direkt genug, um individuell daraus zu lernen. Viele Kinder wachsen mit nur einem Elternteil auf, lernen also das jeweils andere Geschlecht und die andere Hälfte der Familie kaum kennen. Bei Einzelkindern über mehrere Generationen gibt es keine Großfamilie mehr: keine Onkel und Tanten, keine Kusinen und Vettern, keine Geschwister, keine Neffen und Nichten. Verwandt ist man nur noch mit Eltern und Kindern.
Zeier leitet aus dieser Analyse weitgehende Verzichtforderungen ab. Verzichten sollen wir etwa auf unübersehbare Großtechnologie, wachstumsorientiertes Konsumdenken, übermäßige Machtkonzentration, Gesetzesflut, unangemessene Veränderungsraten. Diese Ableitung ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Sie ist zunächst einmal weitgehend überflüssig: Wozu bedarf es biologischer oder ökologischer Gründe, wenn wertende Bezeichnungen wie .unübersehbar', ,übermäßig', unangemessen' bereits signalisieren, daß es hier etwas zu vermeiden gilt? Außerdem setzt sie eine „integrale Ethik des Verzichts" voraus. Eine solche Ethik aber widerspricht unseren stammesgeschichtlich erworbenen Verhaltensmustern. Unsere steinzeitlichen Vorfahren brauchten nämlich derartigen bewußten und willentlichen Verzicht nicht zu üben; die Kargheit der Lebensbedingungen ließ es vielmehr angemessen erscheinen, verfugbare Ressourcen auch auszuschöpfen. So meint Eibl-Eibesfeldt: „Eine lange Stammesgeschichte hat uns nämlich eine exploitative, sich bietende Gelegenheiten maximal ausschöpfende Wesensart angezüchtet. [...] Das galt bis zu unseren altsteinzeitlichen Ahnen. [...] Die natürliche Auslese hat uns daher mit keinerlei Bremsen ausgestattet. Im Gegenteil!"2 Besonders deutlich ist das bei unserem Stoffwechsel. Zwar ist der Mensch auf Hungern hervorragend eingestellt; aber da ihm der Mangel von außen auferlegt wurde, war er nie gezwungen, freiwillig und selbständig Verzicht zu üben. Unser Stoffwechsel ist geeignet, 2 Zit. nach Neumann 1999, 104.
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Energie wirksam aufzunehmen und zu speichern. So werden Eiweiß-, Zucker- und Fettvorräte angelegt, die es erlauben, Hungerperioden zu überstehen. Da wir auf der Nordhalbkugel solche Hungerperioden nicht mehr kennen, sind wir überernährt und leiden unter den Folgen. Die Ernährungsphysiologin Hannelore Daniel spricht sehr bildhaft vom „Schlaraffenlandproblem". Wir halten also Zeiers Diagnose und seine Erklärung für unsere demographischen, sozialen und ökologischen Probleme für durchaus zutreffend und seine Forderungen für vernünftig, betrachten jedoch seine Verzichtethik nicht als das geeignete Mittel, solche Forderungen auch durchzusetzen. Seine beschreibende und erklärende Anthropologie mag realistisch sein, seine Verzichtethik ist es nicht.
4. Der Turm von Hanoi Der „Turm von Hanoi" ist ein Spiel, das mit kreisförmigen Scheiben unterschiedlicher Größe gespielt wird. Details spielen hier keine Rolle; wichtig ist, daß bei dem Spiel immer nur kleinere Scheiben obenauf gelegt werden dürfen. So können nur pagodenförmige Aufbauten entstehen. (Wir könnten also auch von einer Stufenpyramide sprechen; aber der Name des Spiels ist hübscher.) Wir benutzen dieses Bild, um die verschiedenen Ethiken übersichtlich zu ordnen, nämlich nach der Zahl der Objekte, auf die sich die jeweilige Ethik bezieht.
J
- egozentrisch - gen-egoistisch (Soziobiologie) • sozialer Mesokosmos
Landsmannsd Nailon (Sprue Luiopa (Kuli Mensdilieil
eurozentrisch - anthropozentrisch (kosmopolitisch)
Leidenslahiuk
- pathozentrisch (A. Schweitzer)
Lebewesen
- biozentrisch (A. Schopenhauer)
Alle realen Svsl
- holistisch (K. M. Meyer-Abich)
Der Turm von Hanoi: Ethiken beziehen sich auf verschieden große Bereiche.
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Das engste, hier das oberste System wäre eines, bei dem ich alleiniger Maßstab für Bewertungen bin. Das Ergebnis wäre eine egozentrische, vermutlich durchweg egoistische Ethik, eher eine Art Anti-Ethik. Auf der nächsten Stufe sollen wir für die Träger unserer Gene, also für unsere Verwandten, unsere Familie sorgen. ,Verwandt' ist ein unscharfer Begriff; wegen unserer gemeinsamen Vorfahren sind wir letztlich mit allen Menschen, stammesgeschichtlich sogar mit allen Lebewesen verwandt. Allerdings nimmt der Verwandtschaftsgrad ab. Genetisch sind wir mit Eltern, Kindern und Geschwistern zur Hälfte, mit Großeltern, Enkel, Onkel und Tante, Neffe und Nichte zu einem Viertel, mit Vetter, Kusine und Urenkel zu einem Achtel verwandt. Eine vernünftige Grenze für soziobiologisch bedeutsame Verwandtschaft liegt vielleicht bei einem Zweiunddreißigstel. Umfassender ist die Großfamilie, der Clan. Er mag der Horde, vielleicht der Stammesgemeinschaft des Urmenschen entsprechen. Landsmannschaftlich gebunden fühlen wir uns durch Dialekte, Bräuche, Kleider (Trachten!), Feste, gemeinsam überstandene Naturkatastrophen (Schicksalsgemeinschaft). Einer Nation oder einem Volk fühlen wir uns durch Rasse, Sprache, Religion, Regierung zugehörig. Eine Ethik, welche diese Merkmale zur Richtschnur macht, dürfen wir ethnozentrisch nennen. Man kann aber auch eine ganze Sprachgruppe (die romanischen oder die indoeuropäischen Sprachen), einen Kontinent (Europa oder Nordamerika), eine gemeinsame Regierungsform (die Demokratie) oder Wirtschaftsform (die Marktwirtschaft) in den Vordergrund stellen. Über Eurozentrismus wird zur Zeit - und sicher die nächsten hundert Jahre - viel gesprochen und diskutiert. Die meisten Ethiken stellen heute den Menschen in den Mittelpunkt; sie sind anthropozentrisch. Das gilt im großen und ganzen auch für Kants Ethik: Wenn wir Tiere nicht quälen sollen, so nach Kant nicht um der Tiere willen, sondern damit wir für den Umgang mit Menschen nicht abstumpfen oder verrohen. Sicher würde Kant auch Spiele und Filme, die an Gewalt gewöhnen, verwerflich finden. Arthur Schopenhauer fordert, alle leidensfähigen Wesen in moralische Betrachtungen einzubeziehen. Er vertritt also - wie Hinduismus oder Buddhismus - eine pathozentrische Ethik. Albert Schweitzer fordert sogar, alle Lebewesen einzubeziehen; eine solche Ethik könnten wir biozentrisch nennen. Am umfassendsten ist eine holistische Ethik, die alle realen Systeme einbezieht. Hier dürfen wir wohl Klaus Michael Meyer-Abich einordnen.
Alle Ethiken von einigem Gewicht verlangen von uns, daß wir nicht nur den Egoismus überwinden, sondern daß wir den sozialen Mesokosmos verlassen. Wir sollen über das, was uns stammesgeschichtlich mitgegeben ist, hinausgehen. Wenn Moral und Ethik nur das von uns verlangten, was wir sowieso tun, dann bräuchten wir keine Moral. „Moral muß wehtun", lautet eine populäre Deutung der Kantischen Ethik; als eindeutig moralisch gilt dort nur eine Handlung, die der Pflicht entspricht, meiner Neigung jedoch zuwiderläuft. Gibt es dann überhaupt eine Chance, daß moralische Forderungen erfüllt werden?
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5. Was tun wir sowieso? Zum Glück sind wir keine bloßen Egoisten. Nach der klassischen Deutung der Evolutionstheorie sorgt jedes Individuum nur für sich selbst, um seine Darwin-Fitness zu erhöhen. Nach der Soziobiologie dagegen sorge ich nicht für mich, sondern für die Verbreitung meiner Gene, und die stecken eben auch in meinen Verwandten. Deshalb tun wir alles für unsere Kinder und vieles für andere Verwandte und erhöhen dadurch unsere Gesamt-Fitness. Von Natur aus sind wir also auf die Sippe eingestellt. Dazu kommt der reziproke Altruismus, dank dessen wir auch Freunden helfen, wenn sie dafür uns oder unseren Verwandten etwas Gutes tun. Was wie echter Altruismus aussieht, ist dann (zwar kein persönlicher Egoismus, aber eben doch) nur Sorge für die eigenen Gene. Die heuristische Regel für die Soziobiologie lautet deshalb: „Traue keinem erhabenen Motiv, wenn sich auch ein niedriges finden läßt!" Genetisch-phylogenetisch sorgen wir nicht nur für uns, sondern auch für andere, allerdings nur im Nahbereich. Für die Ethik geht es nun darum, diesen Kreis zu erweitern. Deshalb nennt Peter Singer (1981) sein Buch über Ethik und Soziobiologie The expanding circle. Es wäre nicht überraschend, wenn sich das Bild konzentrischer Kreise oder des Turmes von Hanoi bei Singer fände. Das ist nicht der Fall; nur das Umschlagbild zeigt konzentrische Wasserwellen. In diesem Bild konzentrischer Kreise oder eben auch Scheiben können wir sagen: Von Natur aus befinden wir uns etwa auf der Ebene des Clans; moralische Normen haben dann die Aufgabe, unser Verhalten in Richtung auf tiefere und damit weitere Ebenen zu lenken. Eigentlich bräuchten die ethischen Imperative nicht universell zu sein. Biologischevolutionär gesehen, würde es genügen, wenn wir uns nur in der Regel so verhielten. Auch de facto befolgen wir diese Imperative nicht immer. Tatsächlich dürfte es kein Prinzip geben, dem wir alle immer und überall folgen. Hier gibt es eine Analogie zur beschreibenden Naturwissenschaft: Dort gibt es statistische Gesetze, die nur im Mittel gelten. Beispiele sind in der Genetik die zweite und die dritte Mendelsche Regel, in der Physik der zweite Hauptsatz der Wärmelehre (der Entropievermehrungssatz) und das Zerfallsgesetz für radioaktive Substanzen. Zeitweise wurde sogar erwogen, ob der Energieerhaltungssatz vielleicht nur im Mittel gilt. Verstöße sagen freilich noch nichts über die Berechtigung einer Norm: Ihre allgemeine Befolgung verschafft ihr noch keine Geltung im normativen Sinne, und die Verstöße stellen sie nicht ernsthaft in Frage. Machen wir uns jedoch auf die Suche nach moralischen Normen, bei denen wir keine Ausnahmen zulassen, dann werden wir nur schwer fündig. Das Diebstahlsverbot wird aufgehoben, wenn es sich um Mundraub handelt. Das Tötungsverbot wird aufgehoben, wenn es sich um den Henker oder den Soldaten, um Abtreibung, passive Sterbehilfe oder Notwehr handelt (wobei die Notwehrhandlung sogar über das erforderliche Maß hinausgehen darf, wenn Irrtum oder Panik vorliegen). Abgeordnete genießen eine gewisse Immunität - aber auch diese kann aufgehoben werden. Die Verbote sind also - entgegen dem ersten Anschein - nicht absolut zu verstehen. Was sie ausdrücken, ist eher eine Asymmetrie: Nicht-Töten soll die Regel sein, Töten die Ausnahme. Was moralische Normen liefern oder zuschreiben, ist die Rechtfertigungspflicht:
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Töten ist nur unter bestimmten, ausdrücklich und abschließend zu nennenden Umständen erlaubt und muß dann als erlaubt nachgewiesen werden; in allen übrigen Fällen ist es unmoralisch, verboten, strafbar. Offenbar liegt nicht eindeutig fest, wie weit uns Moral und Ethik auf größere Bereiche verpflichten. Im Bild des Turmes von Hanoi gibt es keine natürliche und vor allem keine selbstverständliche Grenze, bei der moralische Forderungen notwendig haltmachen müßten. Selbst wenn wir den ethischen Universalismus ernst nehmen, bezieht er sich zunächst einmal auf alle Menschen, bleibt damit aber immer noch anthropozentrisch. Dabei bleibt beispielsweise offen, ob auch zukünftige Generationen einbezogen werden sollen und diese dann gleiches Gewicht haben sollen wie lebende. Haben wir Pflichten gegenüber Verstorbenen, gegenüber Ungeborenen, gegenüber bloß möglichen Menschen? Pflichten gegenüber Tieren? Sind wir für die Natur verantwortlich? Kein Wunder, daß über die Berechtigung moralischer Normen so viel Uneinigkeit herrscht.
6. Was verlangt die Ethik zusätzlich von uns? Die Forderungen der Ethik sind universell. Sie sind das nicht zufällig, sondern systematisch. Verallgemeinerbarkeit ist eines der wichtigsten Merkmale ethischer Forderungen. Wie kommt es zu dieser recht unbiologischen Forderung? Im Grunde gibt es nur zwei entgegengesetzte Positionen: Die eine stellt das Individuum, das Ego, in den Mittelpunkt, die andere setzt auch auf das Wohlergehen anderer. Für die egoistische Doktrin stehen Piatons Kallikles (im Gorgias), Machiavellis „Fürst", Nietzsches „Übermensch". Solche Systeme werden im allgemeinen nicht als ethisch vertretbar angesehen. Ethiken gehen grundsätzlich in die entgegengesetzte Richtung: Sie fordern, daß wir auch etwas für andere tun. Daß wir uns dabei völlig aufopfern, wird zwar, wenn es vorkommt, besonders gelobt, verlangt wird es nicht. Wie weit sollen wir diesen Bereich ausdehnen? Kein Zweifel, daß es hier eine historische Entwicklung gibt; kein Zweifel auch, daß die Forderungen immer weiter gehen, als wir von selbst zu tun bereit sind. Das Alte Testament muß noch verbieten, den eigenen Bruder zu versklaven; Angehörige von Nachbarvölkern dagegen darf man, wie ausdrücklich festgestellt wird, als Sklaven kaufen und halten. Piaton fordert bereits, die Athener sollten überhaupt keine Griechen versklaven oder ausrauben; das sollten sie nur Nicht-Griechen antun. Häufig genug erstrecken sich moralische Forderungen nur auf Landsleute, auf Glaubensgenossen, auf Angehörige der eigenen Klasse oder Rasse. Seit der Aufklärung beziehen unsere Normen alle Menschen ein, und inzwischen sind wir aufgefordert, auf alle Wesen Rücksicht zu nehmen, die Gefühle haben und leiden können. Ethik arbeitet mit Begründungen, und zwar mit solchen, die auch anderen einleuchten. Und es ist eben äußerst schwierig, jemandem plausibel zu machen, daß ich etwas darf, was er nicht darf. Das wichtigste Prinzip der Ethik ist deshalb die Goldene Regel, etwa in der Form „Was Du nicht willst, ..." Aber wie weit soll der Kreis der Anderen gehen? Hat man die Erweiterung erst einmal in Gang gesetzt, so gibt es keinen Grund innezuhalten, bevor der Kreis der gesamten Menschheit erreicht ist.
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Peter Singer vergleicht diesen Prozeß mit einer Rolltreppe: Sie trägt einen nach oben auch dann, wenn man zunächst nur ein bißchen Höhe gewinnen wollte. Ganz ähnlich in der Ethik: Die Autonomie der Vernunft trägt uns weiter und weiter, bis alle Menschen eingeschlossen sind. „Habe ich erst einmal eingesehen, daß von einem ethischen Standpunkt aus meine Interessen und die meiner Verwandten und Nachbarn nicht mehr zählen als die Interessen anderer Mitglieder meiner Gemeinschaft, dann erhebt sich als nächstes die Frage, warum die Interessen meiner Gemeinschaft wichtiger sein sollten als die Interessen anderer Gemeinschaften. Wenn die einzige verfugbare Antwort lautet, es sei doch meine Gemeinschaft, dann wird der ethische Ansatz diese Antwort verwerfen."3 Über die Erreichbarkeit dieses Ziels ist damit noch nichts gesagt. Nicht alles, was vernünftig scheint, wird wirklich; hier müssen wir Hegels berühmtem Diktum widersprechen.
7. Können wir den sozialen Mesokosmos verlassen? Wo liegen die Hindernisse? Ja, wir können es. Aber selbstverständlich ist es nicht. Mit universalistischen Forderungen ist es jedenfalls nicht getan. Unser Verhalten im sozialen Mesokosmos ist tief in uns verankert. Soweit uns die Gene dabei freien Lauf lassen, kann man durch Vorbild und Belehrung, durch Vorschriften und Verbote einiges erreichen. Soweit aber die Forderungen den Genen widersprechen, können wir solchen Forderungen nicht folgen, selbst dann nicht, wenn die Vernunft sie empfiehlt. Wir stoßen dabei auf etwas qualitativ Neues: auf Dilemmastrukturen. Ein Dilemma ist eine Situation, in der es mehrere Verhaltensmöglichkeiten (Strategien) gibt, die jeweils gute Gründe für, aber auch gegen sich haben. In der Evolutionären Ethik ist es oft der Gegensatz zwischen Natur und Vernunft, der zu einem Dilemma führt. Manche sprechen dabei von einer evolutionären Falle, in die wir geraten sind. Ausdrükke dafür gibt es viele: „Der Mensch - Irrläufer der Evolution" (Koestler), „Fehlschlag der Natur" (Löbsack, was Hubert Markl veranlaßt hat, den Menschen einen „Volltreffer der Evolution" zu nennen), „Widersacher der Vernunft und der Humanität in der menschlichen Natur" (Hassenstein), „Fallgruben der Evolution", „Der fatale Wettlauf im Jetzt", „Stolperstricke" (alle Eibl-Eibesfeldt), „Sackgassen" (Allmann), „Naturkatastrophe Mensch" (Wuketits), nicht zu vergessen die bereits erwähnten „Todsünden der zivilisierten Menschheit" (Lorenz). Wir wollen einige solche Fallen nennen. Die Vermehrungsfalle: Auf das Bevölkerungswachstum, seine biologischen und sozialen Ursachen und seine fatalen Folgen gehen wir hier nicht ein. Diese Falle hängt jedoch zusammen mit einer weiteren: Die Falle des vermeintlichen Ausweichen-Könnens: Wir sind gewohnt, daß irgendwo immer noch Platz ist, daß man notfalls auswandern kann. Größen mit Grenzcharakter können wir uns nicht anschaulich vorstellen. Das gilt in der Physik für die Lichtgeschwindigkeit und für das Plancksche Wirkungsquantum; auch dort ist es weniger die Größe oder die 3 Singer 1981, 118.
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Kleinheit dieser Naturkonstanten, sondern ihr Grenzcharakter, der uns Schwierigkeiten macht. Und es gilt eben auch für die Erdoberfläche. Daß wir nicht mehr ausweichen können, können wir uns nicht vorstellen. Die Falle des vermeintlichen Wissens: Wir überblicken unser Wissen, aber nicht unser Nichtwissen. Deshalb überschätzen wir unser eigenes Wissen, betrachten es gar zu gerne als vollständig und als sicher. Wir bilden uns ein, wir hätten die erforderliche Information, wir wüßten genug. Und so meinen wir, uns zu jeder Frage äußern zu können, äußern zu müssen. Das gilt sowohl im kognitiven als auch im sozialen Bereich. Jeder hat eine Meinung zu der Frage, ob es außerirdisches Leben oder außerirdische Intelligenzen gibt, ob Kriege im Kosovo oder in Tschetschenien moralisch vertretbar sind. Nach Sokrates, Piaton und Popper ist eingebildetes Wissen die tiefste Wissensstufe, und wir erreichen schon dann eine höhere Stufe, wenn wir unser eigenes Unwissen erkennen. Die Falle des Kurzzeitdenkens (Eibl-Eibesfeldt) stellt ein besonders charakteristisches Dilemma dar: Die Vernunft mahnt uns zu mittel- und langfristigem Planen, zur Nachhaltigkeit; aber wir richten uns nicht danach. Größere Zeiträume können wir nicht überblicken, das Übermorgen verschwindet hinter dem Morgen. Immer noch wählen wir jene Politiker, die uns für das nächste Jahr Wohlergehen versprechen. Der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould meint sogar, die Entdeckung der ungeheuren geologischen und kosmischen Zeiträume stelle - neben den Einsichten von Kopernikus, Darwin und Freud - eine weitere Kränkung des Menschen dar! Die Testosteron-Falle: Macht und Erfolg fuhren zur Ausschüttung des Hormons Testosteron. Gewinnt ein Tennisspieler ein Match oder besteht ein Student eine Prüfung, so steigt der Testosteronspiegel innerhalb von 24 Stunden deutlich an, andernfalls sinkt er ab. Dieser Hormonreflex bekräftigt das Selbstwertgefühl, setzt aber auch Kräfte frei, die zu mehr Macht und zu mehr Erfolg verhelfen. Hier gibt es eine positive Rückkopplung, eine Eskalationsspirale ohne Absicherung.
8. Wie machen wir das? Die Frage „Wie machen wir das?" kann man wieder auf zwei Weisen verstehen. Im deskriptiven Sinne lautet sie: „Wie geschieht das tatsächlich?", im normativen Sinne dagegen: „Wie sollen wir das anstellen?" Im ersten Falle geht es um die Analyse von Fakten, im zweiten um Ratschläge und Tips. Im folgenden beschränken wir uns auf das Beschreiben. Solche Beobachtungen in Rezepte umzusetzen, ist zwar verlockend; das machen wir uns jedoch hier nicht zur Aufgabe. Die Analyse zeigt, daß beim Universalisieren unser biologisch-genetisches Erbe überlistet wird. Solches Umfunktionieren ist für die Biologie nichts Ungewöhnliches. Fast alles, was entsteht und um einer bestimmten Funktion willen weiterentwickelt wird, läßt sich auch für andere Zwecke einsetzen: Die Vorderflossen des Fisches wurden zu Beinen, zu Armen, zu Flügeln; Federn dienen dem Fangen, dem Wärmen, dem Fliegen; die Gehörknöchelchen der Säugetiere entstammen dem Kiefergelenk der Reptilien usw. Für das Verhalten gilt das genauso. Reptilien können nicht freundlich sein; die Fähigkeit zu Mitleid, Mitgefühl und
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Nächstenliebe (nicht Fernstenliebe!) kam erst mit der Brutpflege in die Welt. „Aus dem Brutpflegefuttern wurde das Balzfuttern vieler Vögel und in einer Weiterentwicklung das ritualisierte Schnäbeln ohne Futterübertragung."4 Beim Menschen wurde aus dem Füttern das Kußfuttern, daraus ein Ausdruck von Zärtlichkeit auch ohne Nahrungsübergabe. Verliebte geben sich kindlich, sprechen eine Oktave höher, benützen Babysprache. Wir sollten nicht hoffen, die Menschen insgesamt umerziehen zu können. Daß dies nicht geht, lehrt der Zusammenbruch des Sozialismus. Vielmehr kommt es darauf an, vorhandene Verhaltensweisen auszubauen bzw. sinnvoll umzulenken. Dadurch entsteht ein Problem: Wie jeder Zauberer, jeder Wunderdoktor, jeder Demagoge weiß, sind verratene Tricks nur noch halb so wirkungsvoll. Könnte es sein, daß wir nur dann moralisch handeln, wenn wir die List der Natur oder die List anderer Menschen nicht durchschauen, wenn wir nicht wissen, wie soziale Regeln entstehen, wie und warum sie funktionieren? Sollten wir uns vielleicht hüten, solche Raffinessen aufzudecken? Tatsächlich könnte das so sein; aber daraus folgt für uns nichts. Auch hier hat die Vernunft einen Prozeß in Gang gesetzt, der sich nicht aufhalten läßt. Auch hier paßt Singers Bild von der Rolltreppe, die weiter trägt, als ursprünglich beabsichtigt war. Wissensverzicht scheint uns riskanter und deshalb weniger verantwortbar als Wissen, dessen Auswirkungen wir zu meistern hoffen. Zu groß ist die Gefahr, daß andere gerade jenes Wissen erwerben und für ihre Zwecke nutzen, das wir uns versagen wollten. Für die Tricks nun einige Beispiele. Räumliche Nähe: Wir bringen den zu Unterstützenden räumlich näher. Das gelingt schon durch Bilder, besonders gut durch bewegte Bilder in Film und Fernsehen. Ein hungerndes Kind auf dem Bildschirm berührt uns mehr als noch so viele Angaben über Kinderzahlen, Kalorien, Preise, Tote in der Sahelzone. Daß bei uns Menschen hungern oder obdachlos sind, nehmen wir zur Kenntnis, ohne aktiv zu werden. Einen Bettler direkt abzuweisen, fällt uns dagegen recht schwer. Für einen Anhalter, der winkend am Straßenrand steht, halten wir nur selten an; spricht uns aber jemand persönlich an, so sind wir schon eher bereit, ihn mitzunehmen. Auf Leute, die man persönlich kennt, schießt man nicht. Selbst der Tourismus dürfte in dieser Hinsicht seine Verdienste haben. Wortsprache: Wir Menschen besitzen eine Sprachfähigkeit, wie sei kein anderes Lebewesen auf der Erde besitzt. Wir können Sprache nicht nur erwerben und benützen, sondern auch weiterentwickeln. So erlaubt es uns die Sprache nicht nur, unsere kognitive Nische zu verlassen, sondern auch unsere soziale Nische, den sozialen Mesokosmos. Auch hier dürfte die Wortsprache das wichtigste Instrument zum Ausstieg sein. Nun können wir unser Orientierungswissen - sei es deskriptiv oder normativ - nicht nur durch Zeigen, Vorfuhren, Vorbild weitergeben, sondern durch sprachliches Be- und Vorschreiben. Während die bereits genannte räumliche Nähe noch ohne Sprache hergestellt werden kann, sind alle folgenden Möglichkeiten auf die Wortsprache angewiesen. Ausdehnung des Zeithorizontes: Wir neigen dazu, uns am kurzfristigen Erfolg zu orientieren; doch können wir den Zeithorizont ausdehnen. So wie unsere Hilfsbereitschaft geweckt wird, wenn das hungernde Kind auf unserem Bildschirm erscheint, so können wir uns 4 Eibl-Eibesfeldt 1991, 58.
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jetzt die Zukunft ausmalen und dadurch in die Gegenwart holen. Der Bergsteiger weiß aus Erfahrung, wie gut er sich fühlen wird, wenn er erst einmal auf dem Gipfel steht, und wie stolz er sein wird, wenn er auf dem Gipfel war. Manchmal gelingt es uns also doch - und noch ganz ohne Moral! - , uns wenigstens am mittelfristigen Nutzen zu orientieren. Die Zukunft wird dabei „diskontiert": Die Folgen werden um so weniger gewichtet, je weiter sie in der Zukunft liegen. Das ist vernünftig. Erstens wüßten wir nicht, wie weit wir vorausplanen sollten. Wollten wir nämlich alle künftigen Generationen berücksichtigen, also potentiell unendlich viele, dann bliebe für die Gegenwart nichts übrig und für unsere eigenen Kinder auch nicht; dann ließen sich selbst unsere besten Absichten nicht mehr in die Tat umsetzen. Zweitens werden unsere Prognosen immer unsicherer, die Wirkungen unserer Handlungen immer undeutlicher, je weiter sie in die Zukunft reichen. Auch das hindert uns zu handeln. Verwandtensemantik: Wir erweitern den Kreis der Verwandten, indem wir Nichtverwandte anders benennen. Auch hier wird gemogelt: Wir appellieren an die biologisch gegebene Bereitschaft, Verwandten Gutes zu tun oder zu vertrauen. Wir sprechen von Gott als Vater, sehen im Oberhaupt der katholischen Kirche den Heiligen Vater oder Papst (lateinisch und italienisch papa), nennen den Geistlichen Pater, sprechen vom Paten (englisch godfather!), vom Beicht- und vom Landesvater, von Mutter Teresa, Krankenschwester, Onkel Doktor, sind alle Gottes Kinder und damit automatisch Geschwister. Die französische Revolution beschwört die fraternité, „alle Menschen werden Brüder", wir helfen unseren Brüdern und Schwestern im Osten, haben Ordensbrüder, sogar Skat-, Sauf- und Tippelbrüder. Ist die Muttersprache wenigstens noch die Sprache der Mutter, so ist doch das Vaterland {patria) nicht das Land des Vaters; und doch sind die Franzosen nach der Marseillaise Kinder des Vaterlandes. Auch in Nation (vom lateinischen natus, geboren) wird eine gemeinsame Abstammung unterstellt; uns Deutschen ist das freilich nicht bewußt. So erweitern Benennungen unsere Verwandtschaft, die Kleingruppe, den Nahbereich. Selbst die Maña nennt sich umarmend die Familie. Institutionen sind nach der Sprache die wirksamste Möglichkeit, unser Handeln zu beeinflussen. Sie sind Werkzeuge, um mit den erwähnten Dilemmastrukturen umzugehen. Sie können Moral und Ethik ersetzen; sie machen möglich, was Moral und Ethik wollen, aber nicht erreichen. Sie sorgen dafür, daß mehr Leute ihren Eigeninteressen nachgehen können, weil die Beteiligten aus Eigennutz mehr für die anderen tun. Sie stabilisieren unser Verhalten, indem sie die Erfüllung unserer Erwartungen begünstigen. So bringen sie uns dazu, zugunsten mittel- oder langfristiger Vorteile auf kurzfristige Gewinne zu verzichten. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, daß andere dies auch tun; gerade deshalb brauchen wir die Institutionen, weil sie die Selbstbindung zu einer kollektiven Bindung erweitern. Institutionen können da greifen, wo Naturgesetze fehlen und die Moral versagt. Ein lehrreiches Beispiel ist der Tausch. Wir tauschen Bücher gegen Briefmarken, Ware gegen Geld, Arbeitskraft gegen Lohn, Wissen gegen Honorar, Schweigen gegen Bestechungsgelder, staatlichen Schutz gegen Steuern. Tausch ist kein Nullsummenspiel, bei dem der eine verliert, was der andere gewinnt, sondern ein Positivsummenspiel, bei dem beide Seiten etwas gewinnen. Die Kooperationsgewinne entstehen dabei aus der unterschiedlichen Wertschätzung: Ich tausche etwas, was ich weniger schätze, gegen etwas, was ich höher
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schätze: ein Buch, das ich gelesen habe, gegen eine Briefmarke, die mir noch fehlt. Es ist ein Vorteil, viele Tauschpartner zu haben: Dann habe ich nicht nur mehr Tauschmöglichkeiten, sondern dann ist auch ein Ringtausch möglich. Besonders nützlich ist ein neutrales Tauschmedium wie Gold oder Geld. Tausch, Ringtausch, Handel, Geld, Markt, Polizei, Staat sind Institutionen. Sie verwirklichen oder verstärken die „unsichtbare Hand", von der schon Adam Smith schwärmte. Spieltheorie und Ökonomik gehören also zu den speziellen Werkzeugen, die uns Einsicht in Risiken und Chancen, ja sogar Ratschläge vermitteln. Ob diese Möglichkeiten ausreichen, uns aus der evolutionären Falle zu befreien, ist offen.
Literaturverzeichnis Eibl-Eibesfeldt, I.: Fallgruben der Evolution - Der Mensch zwischen Natur und Kultur, Wien 1991. Lorenz, K.: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München 1973. Neumann, D. u. a. (Hrsg.): Die Natur der Moral. Evolutionäre Ethik und Erziehung, Stuttgart 1999. Singer, P.: The expanding circle. Ethics and sociobiology, New York 1981. Zeier, H.: Evolution von Gehirn, Verhalten und Gesellschaft, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Band VI: Lorenz und die Folgen, Zürich 1978, 1088-1121.
Gottfried Seebaß
Was heißt, sich im Wollen orientieren?* 1. Fragestellung Der Titel meines Aufsatzes ist ein Plagiat. Er variiert den Titel eines Aufsatzes von Kant, in dem dieser die These vertritt, daß unser Denken genau dann einer „Orientierung" bedarf, wenn es sich auf Bereiche erstreckt, die jenseits des Wißbaren liegen, bei denen es aber nicht möglich ist, Urteilsenthaltung zu üben, weil ein „Bedürfnis der Vernunft" zum Urteilen treibt.' Ein „Orientierungsvmsen"2 also ist für Kant begrifflich ausgeschlossen. Allerdings legt er seinen speziellen, erfahrungsgebundenen Wissensbegriff zugrunde. Außerdem hat Kant emphatisch betont, daß der Maßstab der „Orientierung" nur in der Vernunft selbst liegen kann und daß ihr Resultat dem Wissen insoweit ähnlich ist, als es mit diesem zwar nicht die „Gewißheit", wohl aber die „Festigkeit" und das „Bewußtsein seiner Unveränderlichkeit" teilt.3 Ohne mich an die speziellen Prämissen Kants zu binden, möchte ich im folgenden den Versuch machen, seine Frage nach der „Orientierung im Denken" in sinngemäß modifizierter Form auf das Wollen zu übertragen. Auch hier, so meine ich, gibt es einen Bereich, der prinzipiell über die Erfahrung hinausführt und der es zweifelhaft macht, ob oder in welchem Sinne wir überhaupt noch von „Wissen" reden können. Verschärft wird dieser Zweifel dadurch, daß die „Orientierung im Wollen" nicht nur in gravierende theoretische Fragen führt, sondern auch und zuallererst, wie ich zeigen will, in spezifisch praktische. Hier geht es nicht allein darum, ein „festes" (wenn vielleicht auch nicht „gewisses") Urteil darüber zu bekommen, was ist, sondern ein „festes" (oder doch hinreichend tragfähiges) Urteil darüber, was sein soll.
* Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen in: M. Betzler/B. Guckes (Hrsg.): Autonomes Handeln, Akademie Verlag.
Berlin:
1 I. Kant: Was heißt: Sich im Denken orientieren? (Oktober 1786), zit. nach AA Bd. VIII, 133-147. 2 „Orientierungswissen" wird in der neueren Literatur meist kontrastiv zu rein theoretischem „Tatsachenwissen", teils auch zu zweckrationalem (technischem) „Verfügungswissen" gebraucht und bezieht sich speziell auf die Orientierung an universalen, höchstrangigen Werten und Zwecken. Zum Sprachgebrauch vgl. Wolters 1997, 33-51. Die Rede vom „Wissen" ist problematisch, läßt sich jedoch verständlich machen, wenn man, wie im folgenden gezeigt werden soll, einen rein theoretischen und einen spezifisch praktischen, volitionalen Sinn von „Wissen" scharf auseinanderhält. 3 Kant, a.a.O., 141 f. Anm.
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2. Relevanz theoretischen Wissens Die Rede vom „Orientieren" hat metaphorische Wurzeln. Exemplarisch sind Situationen, in denen ein Wanderer oder Schiffer die Orientierung verloren hat und deshalb hilflos umherirrt. Ein Kompaß kann ihn darüber unterrichten, wo Orient und Okzident liegen. Aber das allein hilft ihm nicht weiter. Er muß auch über eine verläßliche Karte oder entsprechende räumliche Vorstellung von seiner Umgebung verfügen und wissen, wo er sich gerade befindet. Mit diesen Informationen (nehmen wir an) ist er theoretisch hinreichend orientiert, d. h. er kennt alle ihn interessierenden Fakten. Normalerweise hilft ihm das, aber natürlich nur, wenn er weiß, wo er hin will. Weiß er es nicht, bleibt er praktisch desorientiert. Denn weil er nicht weiß, was er will, weiß er auch nicht, was er tun soll, und wird deshalb genauso ratlos umherirren oder am Fleck verharren wie zuvor. Wenn er aus dieser Lage herauskommen will, muß er praktische Überlegungen anstellen, die eine doppelte Orientierungsfunktion für ihn erfüllen: sie dienen zunächst der Willensbildung und bereiten über diese den nachfolgenden Entschluß zum willensgemäßen Handeln vor. In einfachen Fällen sind beide Schritte kaum voneinander zu trennen. Aber auch hier ist die Willensbildung sachlich das Erste. Ihr speziell dient die „Orientierung im Wollen". Und die Frage ist nun, was dies genau beinhaltet und ob es gerechtfertigt ist, auch hier (ähnlich wie bei rein theoretischen, faktenbezogenen Überlegungen und Erkundungen) von einem Erwerb von Wissen zu sprechen. Nun, zu einem bedeutenden Teil zumindest hängt auch unsere Willensbildung von erworbenem Wissen ab. Denn sie bedarf der Kenntnis von Fakten. Dabei geht es zunächst um mögliche Willensinhalte. Wenn ich nicht weiß, welche Speisen ein Restaurant anbietet oder welche Sehenswürdigkeiten in einer fremden Stadt zu besichtigen sind, kann ich mir auch nicht darüber klar werden, ob oder welche von ihnen ich vielleicht essen oder besichtigen will. Sodann dienen willensbildende Überlegungen dazu, herauszufinden, ob oder unter welchen Bedingungen mögliche Willensinhalte realisierbar sind. Dabei wird häufig nur an die Erkenntnis von Mitteln gedacht, die man einsetzen kann oder muß, um bestimmte Inhalte als Zweck zu erreichen. Natürlich bilden diese einen besonders wichtigen Teil. Aber es wäre mehr als kurzsichtig, seine Willensbildung nicht auch auf die Kenntnis der Folgen und Nebenfolgen zu stützen. Die blind euphorische Entscheidung der Industriestaaten, ihre Energieprobleme durch expansive Nutzung der Kernenergie zu lösen, ohne sich um die Entsorgung des strahlenden Mülls zu kümmern, liefert dafür das wohl verhängnisvollste Negativbeispiel. Alle realisierbaren Willensinhalte sind vielfältig eingebettet in ein komplexes Netz von Bedingungen, ohne die sie nicht zu verwirklichen sind. Nur diese Komplexe, nicht die isolierten Einzelinhalte, bilden die „Optionen", zwischen denen man realistisch wählen kann. Und da die Anzahl der Folgen, Nebenfolgen und Mittelglieder zwischen primärer Handlung und gewolltem Erfolg indefinit, also prinzipiell unüberschaubar ist, stoßen wir hier bereits auf einen Bereich, der die Grenzen unserer Erfahrung sprengt. Dieser Tatsache muß man Rechnung tragen, auch wenn viele Theoretiker sie verdrängen. Die weit verbreitete, aber konzeptionell verwirrte Entgegensetzung von „Gesinnungs-" und „Verantwortungsethik", „deontologischen" und „konsequentialistischen" Moraltheorien belegt das.
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Das Netz der Bedingungen, die Optionen konstituieren, wird keineswegs nur durch kausale oder naturgesetzliche Relationen geknüpft, sondern auch durch diverse andere, z. B. geltende soziale Regeln. Deshalb müssen sich realistisch willensbildende Überlegungen auch an Normen und Werten orientieren. Obwohl diese selbst nicht deskriptiv sind, sondern präskriptiv, stellt ihre Ermittlung eine theoretische Aufgabe dar, deren Ergebnis „Wissen" ist. Das deutsche Strafrecht bringt das korrekt zum Ausdruck, wenn es außer vom „Tatbestandsirrtum" auch vom „Verbotsirrtum" spricht. Objekt des Wissens oder Nichtwissens ist ja nicht das Verbot als solches, sondern die Tatsache, daß es in Kraft ist und erfullungsabhängige Konsequenzen hat. Wer das Sonderangebot eines Kaufhauses nutzen will, tut gut daran, nicht nur zu wissen, wohin er gehen muß und in welcher Zeit, sondern auch, daß er das, was er will, nur kriegen kann, wenn er entweder zahlt oder straffällig wird. Insoweit also ist die Rede von einem „Orientierungswissen" auch mit Bezug auf die Orientierung im Wollen verständlich. Allerdings darf man zwei Dinge nicht aus den Augen verlieren. Erstens ist dieses „Wissen" ausschließlich theoretisches Wissen, das in einem sicheren Urteil darüber besteht, was ist, einschließlich faktisch erhobener Sollensansprüche. Zweitens ist es durchweg begrenzt, erstreckt sich also niemals auf alles, was Gegenstand unseres Wollens werden kann.
3. Spezifisch praktisches Wissen? Dieser zweite Punkt zeigt bereits, daß theoretisches Wissen zwar notwendig, nicht aber hinreichend für eine realistische Willensbildung ist. Daß eine bestimmte Norm in einer Gesellschaft gültig ist, kann man als distanzierter Beobachter auch feststellen, ohne sich selbst durch sie verpflichtet zu fühlen. Und wenn man sich verpflichtet fühlt, heißt das nicht unbedingt, daß man will, was die Norm fordert. Im Gegenteil, es gehört zum Sinn normativer Verhaltenssteuerung, daß sie dem Adressaten die Freiheit läßt, sich für oder gegen sie zu entscheiden. Noch deutlicher ist die Distanz bei nichtnormativen Fakten. Auch wenn ich weiß, welche Speisen ich realistischerweise ordern oder welche Sehenswürdigkeiten ich auf welchem Wege ansteuern kann, ist meine Willensbildung damit nicht abgeschlossen. In gewissem Sinne beginnt sie sogar jetzt erst. Denn der entscheidende Schritt wird durch die Optionenermittlung nur vorbereitet. Theoretisches Wissen bezieht sich eben nur auf das, was ist, Wollen aber auf etwas, das (in den Augen des Wollenden) sein soll. „ Wollen " ist mehr als bloßes Wünschen, enthält aber Wünschen als begrifflichen Kern. Und dieses „ Wünschen " ist seinerseits im Kern nichts anderes als eine (der assertorischen spiegelbildlich entgegengesetzte) optativische Stellungnahme, mit der der Anspruch erhoben wird, etwas möge der Fall sein. Daß dies so ist und daß Einstellungen des Wollens und Wünschens sich weder hedonistisch noch dispositionell reduzieren lassen, dafür habe ich andernorts ausfuhrlich argumentiert.4 Ebenso werde ich nicht wiederholen, warum ich überzeugt bin, daß optativische Einstellungen primär nur als Bewußtseinszustände identifizierbar 4 Seebaß 1993, vgl. bes. 47, 72, 91 ff., 113 f., 168 f.
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sind,5 ohne daß dies die Möglichkeit einer sekundären physikalistischen Reduktion ausschließt. Allerdings ist eine solche Reduktion (trotz der euphorischen Aufgeregtheiten mancher KI- und Neuro-Freaks) bis auf weiteres reine „science fiction". Etwas zu wollen also heißt primär, etwas bewußt zu wünschen und eben damit den Anspruch zu erheben, daß es sein soll, nicht jedoch, zu behaupten, daß es so ist. Gewiß, es gibt Fälle von Sollensansprüchen, die wir zugleich als erfüllt erkennen, z. B. wenn etwas so gekommen ist, wie wir wollten und weiterhin wollen. Doch überall, wo es nicht so ist, reicht unser Wille zwar nicht unbedingt über alles Erfahrbare, wohl aber über unsere Erfahrung hinaus. Damit jedoch wird die Vorstellung von der „Orientierung im Wollen" als Wissenserwerb in doppelter Hinsicht fragwürdig. Zweifelhaft ist sie nicht nur im Blick auf den Schritt von der bloßen Optionenerkenntnis zur Ausbildung eines bestimmten Wollens. Zweifelhaft ist sie auch für den Zustand des Wollens selbst. Denn macht es Sinn, eine nicht assertorische, rein optativische Einstellung als „Wissen" anzusprechen? Nun, es gibt etablierte Redeformen, die zweifellos nichtassertorisch sind. Eine davon ist die Rede vom „ Wissen wie". Doch sie kann unser Problem nicht lösen. Denn einerseits ist dieses meist auch mit assertorischem „Wissen daß" verbunden. Andererseits lassen sich nur bestimmte, relativ simple Formen des Schrittes vom Wollen des Zwecks zum Wollen und Ergreifen des Mittels als Fälle von „Wissen wie" verstehen, nicht aber andere Arten der Willensbildung, geschweige denn das Wollen selbst. Nur eine andere nichtassertorische Redeform könnte uns weiterhelfen. Von Menschen, die in ihrem Wollen desorientiert sind, sagen wir auch, sie „wüßten nicht, was sie wollen ", von Menschen, die orientiert sind, sie „ wüßten es ". Was aber heißt das? Zunächst wohl nur, daß sie sich ihres Willens bewußt sind, unterschieden von Zuständen des unbewußten, verdrängten oder nur halb bewußten Wollens. Dann aber kann es auch heißen, daß ihre Willensbildung beendet ist und sie zu einem bestimmten, festen Wollen gekommen sind. In diesem Sinne von „Wissen" ist die Beschreibung des Willensbildungsprozesses als Wissenserwerb offenbar unanfechtbar. Allerdings scheint das ein Sinn zu sein, der sich vom theoretischen, faktenbezogenen Wissen fundamental unterscheidet. Oder nicht? Verbirgt sich hinter der scheinbar anders gearteten Rede davon, daß jemand „weiß, was er will", vielleicht nur die Einsicht, daß auch die „Orientierung im Wollen" sich letztlich theoretischem Wissen verdankt, wenn auch eines Wissens, das anderer Art ist als die bloße Optionenkenntnis?
4. Ergebnisoffene und nicht ergebnisoffene Überlegungen Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir die Willensbildung näher betrachten. Manchmal bildet sich unser Wollen blitzartig oder überfallartig. Ein plötzlicher Schmerz, eine plötzlich auftauchende Gefahr erregen sofort den Willen in uns, dem zu entkommen. Oder ein Objekt, auf das wir beim Stöbern in einer Kunsthandlung stoßen, entringt uns den 5 Vgl. Seebaß 1993,46 f., 166 ff.
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Ausruf: „Das will ich!". Doch das sind eher seltene Fälle. Im allgemeinen bedarf es zur Überwindung von Zuständen anfänglicher volitionaler Desorientiertheit eines gewissen Maßes an Überlegung - praktischer Überlegung natürlich, die zuerst darauf zielt (354), uns über unser Wollen klar zu werden. Was genau ist darin involviert? Zwei Formen willensbildender Überlegungen sind auseinanderzuhalten: ergebnisoffene und nicht ergebnisoffene. Letztere zeichnen sich dadurch aus, daß das, was der Überlegende will, schon am Beginn seiner Überlegungen feststeht. Warum aber überlegt er dann noch? Nun, einiges ist auch hier zunächst unklar. Auch wer schon weiß, was er will, muß das Geschäft der Optionenermittlung betreiben. Denn er muß nicht nur feststellen, wie er das Gewollte realisieren kann, sondern auch und vor allem, ob unter den relevanten Mitteln, Folgen und Nebenfolgen einige sind, die sich mit etwas, das er ebenfalls und vielleicht stärker will, nicht vereinbaren lassen. Außerdem ist uns beileibe nicht alles, was wir wollen, immer präsent, sondern muß erst bewußt gemacht werden. Dazu ist das Durchdenken der Bedingungen, in die ein bestimmter Willensinhalt optional eingebettet ist, eines der wichtigsten heuristischen Hilfsmittel. Aber natürlich kann man auch direkt auf seine komplexere Willenslage reflektieren oder andere Hilfen in Anspruch nehmen, bis hin zur extensiven psychoanalytischen Therapie. Wenn wir nun annehmen, daß es bei all dem nur um die Aufdeckung von etwas geht, das bereits da ist, und daß das Resultat durch die ebenfalls schon vorhandenen Präferenzen zwischen den einzelnen Willensinhalten eindeutig festgelegt ist, müssen wir sagen, daß der gesamte Überlegungsprozeß, was das Wollen betrifft, von vorneherein nicht ergebnisoffen war. Klärungsbedürftig war hier nur, was alles man immer schon wollte und jeweils in welchem Maß. Und die Beantwortung dieser Frage ist offenbar ebenso eine Sache des theoretischen Wissenserwerbs wie die rein theoretische Optionenermittlung. Noch ein anderer Aspekt nicht ergebnisoffener Überlegungen muß erwähnt werden. Auch eine Person, die „weiß, was sie will", weiß nicht immer, warum. Sie „orientiert sich im Wollen", indem sie die Gründe ermittelt, die ihm vorausliegen. Das können Kausalgründe sein oder auch (rein6) rationale Gründe, wie etwa der übergeordnete Wille, bestimmten Normen genüge zu tun. Unter der Annahme, daß auch diese Gründe bereits bestehen und nur noch aufgedeckt werden müssen, läuft auch dieser Orientierungsprozeß auf ein volitional nicht mehr ergebnisoffenes Überlegen hinaus, das durch theoretischen Wissenserwerb beendet wird. Im Unterschied dazu sind ergebnisoffene Überlegungen solche, bei denen die entscheidende optativische Stellungnahme erst noch erfolgen muß und durch willensbildendes Überlegen ermöglicht wird. Wird hier nach relevanten Gründen gefragt, so geht es immer um rationale Gründe, und es steht nicht von vorneherein fest, welche von ihnen den Ausschlag geben. Die überlegende Person will sich ihrer theoretisch versichern, um danach in
6 Rationale Begründungszusammenhänge lassen sich nicht einfach auf kausale reduzieren. Aber das schließt nicht aus, anders als manche Vertreter der Analytischen Philosophie in den 50er und 60er Jahren dachten, daß Menschen durch rationale Gründe kausal motiviert sein können. Im Gegenteil, persönlich zurechenbar sind willentliche Handlungen nur, wenn sie sich auch kausal auf den Willen des Handelnden zurückführen lassen. Näheres dazu in Seebaß 1993, 205 ff.
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optativischer, nichtassertorischer Form zu ihnen Stellung zu nehmen. Entsprechendes gilt für die Optionenermittlung und die Vergewisserung über die zunächst verdeckte, komplexe Vielfalt des eigenen Wollens. Auch hier dient die theoretische Wissenserweiterung nicht dazu, neugierig in Erfahrung zu bringen, was eigentlich längst vorentschieden ist, sondern den Spielraum der faktischen und volitiven Möglichkeiten kennenzulernen, die man besitzt, um daraufhin Stellung zu nehmen. Weiß der Überlegende danach, was er will, so hat dieses „Wissen" zwar einen bedeutenden, mehr oder weniger weitreichenden theoretischen Hintergrund, geht aber darin nicht auf.
5. Vorzüge mangelnder Ergebnisoffenheit Der Gedanke, daß rationale Akteure sich ausschließlich von Überlegungen leiten lassen, die nur dem theoretischen Wissenserwerb verpflichtet und volitiv nicht mehr ergebnisoffen sind, kann faszinieren. Wenn feststeht, was die Individuen wollen und wie ihre real („optional") unvereinbaren Willensinhalte präferentiell geordnet sind, wird der Prozeß ihrer „Orientierung im Wollen" berechenbar. Man kann versuchen, Logiken des praktischen Überlegens zu formulieren, mit Hilfe derer sich, angewandt auf bestimmte epistemische und volitive Prämissen, rationale Empfehlungen zum Wollen und Handeln ableiten lassen. Soweit die Betreffenden rational sind, werden sie sich entsprechend verhalten. Und überall, wo sie es nicht sind, kann man versuchen, die Gründe für ihr Abweichen vom rationalen Ideal aufzudecken und ihr Verhalten darüber wieder berechenbar machen. Soziale Koordinations- und Integrationsprobleme z. B. könnten auf diesem Wege lösbar werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß Varianten des nicht ergebnisoffenen Überlegungsmodells vor allem für Psychologen, Sozialwissenschaftler und Ökonomen, aber auch für viele Philosophen attraktiv sind. Wichtig erscheint das Modell aber auch außerhalb des sozialen Kontexts. Denn zwei Funktionen, die auch für Individuen essentiell sind, können offenbar nur durch die mangelnde Offenheit praktischer Überlegungen sichergestellt werden. Erstens erfüllt sie eine Entlastungsfunktion. Würden wir etwa bei jedem Schritt, den wir tun, neu dazu Stellung beziehen müssen, ob oder welche der uns verfügbaren Optionen wir wollen, würden wir alsbald handlungsunfähig. Einmal gefaßte Pläne und Vorsätze könnten wir nicht konsequent zu Ende führen. Außerdem hätten wir ständig neu zu entscheiden, ob wir die Optionenermittlung abbrechen oder noch weiter vorantreiben. Permanentes Infragestellen aber hindert uns eher, als daß es uns hilft. Faktisch sind wir zum Glück nicht so desorientiert, daß permanente Überlegungen nötig wären. Ein großer Teil unseres Alltagslebens vollzieht sich sogar völlig habitualisiert und automatisiert.7 Und wenn Willensentscheidungen fällig sind oder automatisierte Prozesse reflexiv überdacht werden, genügt meist die theoretische Vergewisserung über die schon bestehenden Willensinhalte und Präferenzen. 7 Neuere motivationspsychologische Untersuchungen liefern dazu vielfältiges Material. Vgl. etwa Bargh 1997.
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Zweitens dient fehlende volitionale Offenheit einer umfassenden, einheitlichen Lebensorientierung. Wer sich nicht länger orientieren muß, sondern weiß, was er will, weiß damit in gewissem Sinn auch erst, wer er ist. Durch sein fixiertes Wollen gewinnt er Selbstidentität, Selbstsicherheit und innere Freiheit. Daß dies so ist und wie man dahin gelangen kann, ist ein altes Thema unserer Geistesgeschichte. Im Aristotelischen Konzept eines „tugendhaft festen Charakters" läßt es sich ebenso ausmachen wie im Stoischen Gedanken der „Ataraxie" oder der jüdisch-christlichen Vorstellung vom Menschen, der erst in der vollständigen Bindung des Willens an Gott sein wahres Selbst gewinnt. Kollektivistische Versionen finden sich in der Neuzeit bei Hegel und Marx8 und in gewissem Sinn auch in Kants Vernunftmoral.9 Individualistisch verschärft kehrt das Thema auch in der Existenzphilosophie wieder. Und in der neueren Literatur ist es vor allem Harry Frankfurt gewesen, der den konstitutiven Zusammenhang zwischen Selbstsein und Vergewisserung über das eigene Wollen herausgestellt hat, bis hin zu der Behauptung, daß bestimmte Formen „volitionaler Notwendigkeit" kriteriell dafür seien, was uns als Personen ausmacht.10 Ob man so weit gehen kann, ohne die für unser Selbstsein indispensible Autonomie aufs Spiel zu setzen, mag hier noch dahin gestellt bleiben (vgl. dann 358 ff.)." Klar ist jedoch, 8 G. W. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Einleitung; Enzyclopädie, § 469 ff.; K. Marx: Zur Judenfrage, in: Ders./F. Engels: Werke, Bd. I, Berlin 1970, 361-370; Ders.: Die deutsche Ideologie, in: a.a.O., Bd. III, Berlin 1983, 74-77. 9 Das gilt speziell im Hinblick auf jene Passagen, in denen Kant das (allein „achtungswürdige") „Personsein " menschlicher Individuen vollständig - unter Ausschluß aller partikulären Neigungen und sonstigen empirisch-psychologischen Eigenschaften - auf jene moralisch-praktische Vernünftigkeit reduziert, die sie mit allen anderen Menschen bzw. allen vernünftigen Wesen teilen. Vgl. dazu insbesondere I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA Bd. IV, 401 Anm., 428 f., 434 f., 457 f.; Ders.: Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. V, 73, 76-78, 81 Anm.; Ders.: Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, 223, 418, 420, 434-436, 447, 449 f., 462-464. Der „rationalistische Kollektivismus" Kants, der die menschliche Individualität ebenso wie seine Sinnlichkeit eskamotiert, ist meines Erachtens auch der Kern der Kritik, die Schiller zu Recht an ihm geübt hat. 10 Frankfurt 1988 und 1999. Vgl. zur „volitional necessity" speziell 1988, 85 ff. und 1999, 110 ff., sowie programmatisch 1999, x. 11 Einschlägige Argumente gegen Frankfurts Konzept der „volitionalen Notwendigkeit" findet man z. B. bei Tugendhat 1992, 464-467. Tugendhats (auch nur mit Vorbehalt vorgetragener) Verdacht des Aristotelischen Essentialismus trifft Frankfurt allerdings nicht, denn dessen Rede von der „essential nature of a person" (1999, 113 f.) beinhaltet offenbar nicht mehr als jene volitionalen Eigenschaften, ohne die eine Person de facto nicht diejenige wäre, die sie ist, fernab jeden Gedankens an eine vorgegebene Seinsordnung oder verdeckte Entelechien. Auch der Einwand einer Vermischung von (äußerem oder innerem) Zwang, der Freiheit und Autonomie beeinträchtigt, und einem in dieser Beziehung prinzipiell harmlosem Nicht-anders-wollen-Können erscheint mir unberechtigt. Frankfurt bestreitet j a keineswegs, daß Entscheidungen, die durch ein „Wollen-Müssen" („volitional necessity") eingeschränkt sind, sehr wohl autonom und frei sein können, sondern behauptet sogar im Gegenteil, daß sie es nur unter dieser Bedingung sind (vgl. 1999, 110, 114). Verwirrend an Frankfurts Konzept ist eine mehrdeutige Rede nicht, wie Tugendhat meint, von der „Notwendigkeit", sondern vielmehr von der „Freiheit des Wollens", aufgefaßt als Freiheit der Willens-
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daß beide erwähnten Funktionen keinen Beweis dafür liefern, daß volitional ergebnisoffene Überlegungen keinerlei Anteil an unserer „Orientierung im Wollen" haben. Gewiß, lebensbestimmend können auch Willensinhalte sein, die uns genetisch, traditional oder individuell sozialisatorisch vorgegeben sind. Ebenso signifikant aber (und in der Literatur am meisten beachtet) sind Situationen, in denen ein Mensch sich bewußt fiir eine bestimmte Lebensorientierung entscheidet, z. B. für ein moralisches, religiöses oder politisches Ideal oder auch nur für den eigenen Beruf oder das Leben mit einem Partner. Noch deutlicher ist das bei der Entlastungsfunktion. Daß wir bestimmte Arbeitsabläufe oder längere Handlungssequenzen unreflektiert oder völlig automatisiert ausführen, schließt die bewußte, überlegte Entscheidung für sie nicht aus. Ja, sie beruht im Normalfall auf einer solchen, ohne daß feststünde, daß daran keine ergebnisoffenen Überlegungen beteiligt sind. Und das Interesse von Wissenschaftlern an berechenbaren, präferentiell geordneten Wunsch- und Willenshaltungen ist bildung. Nur in einem bestimmten Sinne von „Freiheit" hält Frankfurt sie für vereinbar mit Autonomie. In einem anderen Sinne soll sie es nicht sein, verstanden nämlich als Fähigkeit, beliebige Inhalte bindungslos zum Gegenstand seines Wollens zu machen (vgl. 1999, 108, 109 f.). Ein derart „freier Mensch" kann, so scheint es, nicht autonom sein, weil er volitional offenbar völlig desorientiert ist und damit auch kein (volitional gedeutetes) Selbst besitzt. Dieser Freiheitsbegriff erinnert an den Begriff der „negativen Freiheit" bei Erich Fromm (vgl. Fromm 1983, vgl. bes. 30 ff., 204 ff.). Wie Frankfurt, so diagnostiziert auch Fromm einen stetigen Zuwachs, den die „negative Freiheit" in der Neuzeit erfahren habe, und einen damit verbundenen drohenden Verlust an Selbstgewißheit und Sicherheit. Allerdings sieht er darin einen unvermeidlichen Ausdruck der conditio humana (a.a.O., 31 f., 189 f.), wenngleich keinen erschöpfenden. Die Kehrseite der auf sich allein gestellten „Freiheit von jeder Bindung" sei jene „panikartige Flucht vor der Freiheit in neue Bindungen" (a.a.O., 35), die im 20. Jh. zur autoritären, konformistischen Unterwerfung unter den Totalitarismus gefuhrt habe (a.a.O., Kap. 5-6). Selbstheit und Individualität gewinne man erst, wenn die „negative" durch eine „positive Freiheit" ergänzt werde, die „im spontanen Tätigsein [activity] der gesamten, integrierten Persönlichkeit" besteht (a.a.O., 205, vgl. 33, 207 ff.). Damit hat Fromm, so scheint mir, das Wesentliche getroffen, während Frankfurt gerade hier lückenhaft bleibt und damit den Hauptgrund für Zweifel an seinem Autonomiekonzept liefert: „Volitionale Notwendigkeit" kann schließlich auch Ausdruck genetischer oder sozialer Determiniertheit, Borniertheit oder gelungener „Flucht vor der Freiheit" sein. Ausdruck von Autonomie und („positiver") Freiheit ist sie nur, wenn sie autonom entwickelt wurde und autonom beibehalten wird. Dann aber ist sie nicht mehr im wörtlichen Sinne „notwendig" (vgl. auch Tugendhat a.a.O., 466). Denn damit würde zu ihr auch das Bewußtsein gehören, daß die bestehende „Orientierung im Wollen" problematisierbar ist und durch eine andere ersetzt werden könnte, mag die betreffende Person sich bis auf weiteres auch bewußt dagegen entscheiden. Frankfurt schließt Veränderungen nicht aus (vgl. 1999, 112, 115 f.), hat aber kaum etwas in der Hand, um autonome von nicht autonomen Änderungen zu unterscheiden. Fromms Kriterium der „Aktivität" ist mit der Rede von „volitionaler Notwendigkeit" jedenfalls kaum zu vereinbaren, und es ist zweifelhaft, ob Frankfurt ihm genüge tun kann, obwohl er es möchte (vgl. dazu unten Anm. 32-33). Hat ein Mensch, der „nicht anders wollen kann", wirklich ein freies „Selbst" („seif") damit gewonnen? Ich glaube nicht. Auch Frankfurts wiederholter Vergleich dieses Zustands mit dem der Liebe (z. B. 1988, 89 f., 94; 1999, 106, 114) ist hier verräterisch, charakterisiert er diese doch selbst - verständlicherweise, aber desaströs für seine These - gerade als einen Zustand der „selflessness" (1988, 89; 1999, 114).
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allemal kein Beweis, daß die menschliche Wirklichkeit dem entspricht. Wenn man Willensbildungsprozesse durch spezifisch praktische, ergebnisoffene Überlegungen generell ausschließen will, muß man stärkere Argumente dafür ins Feld fuhren. Welche könnten dies sein?
6. Unzureichende Argumente für mangelnde Ergebnisoffenheit Das historisch einflußreichste Argument wird meist auf Aristoteles, teils auch auf Hume zurückgeführt und besagt, daß praktische Überlegungen prinzipiell zweckrationale seien, sich also nur auf die Suche nach Mitteln zu gegebenen Zwecken beziehen könnten.'2 Doch in dieser unqualifizierten Form ist die Behauptung keinesfalls haltbar. Wenigstens zwei Ergänzungen muß man vornehmen. Erstens muß man neben den Mitteln auch die Folgen und Nebenfolgen berücksichtigen, d. h. die optionale Willensbildung im ganzen (354). Zweitens muß man auch jene Überlegungen einbeziehen, die der Vergewisserung über die eigenen Zwecke dienen. Auch mit diesen Ergänzungen jedoch ist die These unhaltbar. Auch bei hochrangigen Zwecken, die Anspruch darauf erheben können, Orientierungen für das gesamte Leben zu sein, kann man nicht ausschließen, daß mehrere gleichgewichtig nebeneinanderstehen. Frankfurt hat dies als das Problem der volitionalen „Ambivalenz" oder „Halbherzigkeit" beschrieben." Präferentielle Eindeutigkeit wäre hier prinzipiell nur zu gewährleisten, wenn man annehmen könnte, daß es einen und nur einen obersten Zweck gibt, dem alle anderen sich rational fugen. Das hat man immer wieder zu zeigen versucht. Doch weder das Aristotelische Streben nach einem bios theoretikós noch das Freudianische „Lustprinzip" oder das „unruhige Herz" des Augustinus, das erst in Gott seine Ruhe findet,14 sind sehr plausible Kandidaten für einen obersten Zweck, den alle Menschen verfolgen. Nicht einmal das Streben nach Selbsterhaltung, Hobbes' Universalprinzip, kann uneingeschränkt Anspruch darauf erheben, wie eine Vielzahl von Selbsttötungen und lebensgefährlichen Unternehmungen zeigt. Formalbegriffe des „Guten" jedoch oder Begriffe wie „Nutzen", „Glück" oder „Lust" im abstrakten Sinne können als inhaltsleere Prinzipien überhaupt keine Orientierungsfiinktion übernehmen. Kant hat das in seiner Eudaimonismuskritik klar herausgearbeitet.15 Annehmbar wäre allenfalls, daß jedes Individuum seinen eigenen Universalzweck verfolgt. Aber auch das ist empirisch implausibel. Und selbst wenn es so wäre, ließe sich doch nicht ausschließen, daß auch dieser Zweck irgendwann einmal zum Gegen-
12 Vgl. Aristoteles: Ethica Nicomachea, 1112b 11-30; Ethica Eudemica, 1226b 10-17, 1227a6-13, 1227b221228al; Metaphysica, 1032bl-14; Hume: Treatise, II: 3,3; III: 1,1. Ob Aristoteles diese Radikalposition tatsächlich vertreten wollte, ist zweifelhaft, kann hier aber offen bleiben. Vgl. dazu Steinfath 1999, Kap. 1.4 Anm. 34 und Kap. 2.2. 13 Vgl. insbesondere Frankfurt 1988, 66-68, 159 ff.; 1999, 98 ff. 14 Augustinus: Confessiones, I: 1,1. 15 Vgl. speziell Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA Bd. IV, 418; Kritik der praktischen AA Bd. V, 25, 36.
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stand einer psychoanalytischen oder radikalen Cartesianischen Selbstüberprüfung gemacht wird. Hinzukommt, daß auch bei zweckrationalen Überlegungen all diese Probleme wiederkehren. Es läßt sich eben nicht ausschließen, sondern ist im Gegenteil ubiquitäre Alltagserfahrung, daß mehrere gleichgute Mittel verfugbar sind, daß vorhandene Gütedifferenzen durch die Realisierungswahrscheinlichkeiten aufgewogen werden oder daß ein präferentielles Übergewicht durch die „Kosten" bei Folgen und Nebenfolgen konterkariert wird. Manche Philosophen - Leibniz vor allem - haben deshalb zu zeigen versucht, daß ein präferentielles Gleichgewicht real unmöglich sei.16 Doch das ist philosophisches Wunschdenken. Empirisch wäre es allenfalls durch extensiven Rekurs auf unbewußte Präferenzen verständlich zu machen. Solche kann man nicht generell ausschließen. Die Beweislast für ihr Bestehen im Einzelfall liegt aber klarerweise bei ihren Vertretern.17 Anerkennt man Entscheidungen bei präferentiellem Gleichgewicht kann man allerdings immer noch sagen, daß diese nicht in Abhängigkeit von rationalen, volitional ergebnisoffenen Überlegungen fallen, sondern durch Zufall. Das ist die klassische Lösung für Wahlsituationen nach dem Modell von „Buridans Esel".18 Aber ist sie die einzig mögliche und beweist sie, was sie beweisen soll? Das bloße Abwarten und Nichtstun hat selten den Sinn, das Ergebnis (wie man so sagt) „dem Zufall zu überlassen". Meist ist es eine Entscheidung für eine der Alternativen, nur eben durch Unterlassen. Man braucht schon die Intervention eines Zufallsgenerators, z. B. eine geworfene Münze. Doch wenn diese gefallen ist, steht man immer noch vor der Entscheidung, ob man dem Orakel nun weiterhin folgen soll oder nicht. Und auch wenn der Zufallsgenerator unmittelbar wirksam wird, bleibt die Entscheidung für das Verfahren als solches. Die klassische Lösung unterstellt hier die Existenz eines übergeordneten Wollens, z. B. den Wunsch eines anthropomorphen Esels, nicht zu verhungern, egal auf welchem konkreten Wege. Doch das läuft wieder auf jenes Postulat vorgegebener Zwecke hinaus, das wir nicht akzeptieren können. Außerdem muß man sich ja selbst dann für den Einsatz des Zufalls als Mittel entscheiden. Und ist es so klar, daß dieser Entscheidung keine anfänglich ergebnisoffene Überlegung vorausgeht?
16 Vgl. z. B. G. W. Leibniz: Confessio Philosophi, hrsg. von O. Saame, Frankfurt 1967, 78 ff.; Nouveaux Essais, I: 1,15; II: 21,17-19. 36. 47-48; ders.: Theodicee, § 35, § 45-51 \ Briefe an Clarke, IV, 1-6; V, 1517. Diverse Belege aus anderen Autoren bietet Rescher 1959-60. 17 Deshalb hat Leibniz sich auch nicht nur auf empirische Belege für seine These verlassen wollen, sondern den metaphysischen „Satz vom Grund" bemüht, um die Annahme unbewußt präferenzierender Faktoren überall dort plausibel zu machen, wo sie empirisch nicht aufweisbar sind. De facto ist das ein Eingeständnis, daß nicht die Phänomene diesen Gedanken erzwingen, sondern das Interesse des Philosophen an einer durchweg geordneten, berechenbaren Welt. 18 Vgl. z. B. P. Bayle: Dictionnaire, Art. „Buridan" C; A. Schopenhauer: Der handschrifliche Bd. I, Frankfurt 1966, 328 f.; Rescher 1959-60, 167 ff.
Nachlaß,
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7. Optional willensbildende Überlegungen Diese letztere Frage zwingt uns, unser Problem noch etwas tiefer anzusetzen. Angenommen einmal, willensbildende Überlegungen träten tatsächlich nur in der Form auf, daß ein vorhandenes Wollen durch die theoretische Optionenermittlung ergänzt wird. Wie genau vollzieht sich dann der Schritt zu einem subordinierten Wollen, also z. B. beim zweckrationalen Schließen? Handelt es sich um einen regelgeleiteten Akt, ähnlich rein theoretischen Schlußfolgerungen „salva veritate" oder regelgerechten Zügen beim Schach? Oder handelt es sich um eine Art psychologischen Automatismus, wie dies durch Humes kausale Motivationstheorie und seine (volitional gedeutete) These von der Vernunft als „Sklavin der Leidenschaften" nahegelegt wird?" Und was genau ist das Produkt von praktischen Überlegungen dieses Typs? Ist es die zweckgerichtete Handlung selbst, der Wille, sie auszufuhren, oder zunächst nur der Wille, den Willen zur Ausfuhrung auszubilden? Je nachdem, wie diese Fragen beantwortet werden, ändert sich auch die Antwort auf die Frage der volitionalen Ergebnisoffenheit. In einfachen Fällen kann das Modell des psychologischen Automatismus ausreichen, auch in der Form des direkten Eintritts ins Handeln. Man denke etwa an Situationen wie das Aufdrehen eines Wasserhahns, um Wasser fließen zu lassen, Ausweichmanöver beim Autofahren oder das Sich-Kratzen am Kopf, um einen Juckreiz abzustellen. Allerdings liegen solche Beispiele nah bei Fällen, in denen man zweifeln kann, ob wir es überhaupt mit zweckrationalem Handeln zu tun haben und nicht nur mit einem habituierten Reflex. Auch die Ausbildung des Willens zum Ergreifen eines bestimmten Mittels kann manchmal automatisch erfolgen, z. B. beim Suchen nach einem Stift zum Schreiben oder beim Ändern der eigenen Gehrichtung, um einem anderen auszuweichen. Anhänger Humes oder anderer Empiristen tendieren dazu, auch komplexere Willensbildungsprozesse nach diesem Muster zu deuten. Manche Entscheidungstheoretiker gehen sogar soweit, überlegungsabhängige soziale Koordinationsprozesse durch Computerprogramme zu simulieren und das staunende Publikum mit bunten Grafiken von ihrem Verlauf zu erfreuen. Wie weit das möglich ist und der menschlichen Realität entspricht, mag hier dahingestellt bleiben. Klar ist jedenfalls, daß das Schema des psychologischen Automatismus dort, wo die willensbildenden Überlegungen etwas komplexer und ausgedehnter sind, meist nicht zu unserer Erfahrung paßt. Besonders klar ist das beim Übergang direkt zum Handeln. Bei Aristoteles etwa werden als Beispiele für praktisches Schließen auch Gedankengänge wie diese angeführt: „Ich will ein gesunder Mensch sein. - Spazierengehen ist gesund. - Schon gehe ich."20 Das ist natürlich grotesk. Kein vernünftiger Mensch wird so schließen. Allenfalls kann sich der spontane Wunsch oder Wille nach einem Spaziergang einstellen. Aber auch das ist nicht der Normal-
19 Vgl. Hume: Treatise, II: 3,1-3; Enquiry Concerning Human Understanding, sect. VII-VIII. 20 Adaptiert und kontrahiert aus De Motu Animalium, 701a6-701bl; vgl. auch Ethica Nicomachea, 1147a1147b2. Im Text (701al3 f.) wird sogar vom Gehenmüssen jedes Menschen direkt zum eigenen Gehen übergegangen. Daß man aus solchen Passagen allerdings nicht ableiten kann, daß Aristoteles nur solche simplifizierten Schlußformen im Auge hatte, zeigt Kenny 1979, 142 f.
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fall. Das allermindeste, was noch hinzukommen muß, ist die (empirisch ebenfalls seltene) subjektive Gewißheit, nur dieses eine Mittel zu haben. Mit dieser Voraussetzung war Kant bereit, das Wollen des Mittels als analytisches Implikat des gewollten Zwecks aufzufassen, jedenfalls bei vernünftigen Menschen.21 Doch das geht nur mit Hilfe eines Vernunftbegriffs, der immer noch stark verkürzt. Normale Überlegungen verlaufen doch vielmehr so: Wenn wir erkennen, daß ein gewollter Sachverhalt „p" nur zusammen mit „q" zu verwirklichen ist, haben wir zwar das Bewußtsein, daß wir (gemessen an den Regeln für eine realistische Willensbildung) „q" ebenfalls wollen sollten, wenn wir am Wollen von „p" weiterhin festhalten und andere Optionen nicht gegeben sind. Aber weil wir uns zunächst unsicher sind, ob wir die Optionenermittlung schon weit genug vorangetrieben haben, und weil wir uns erst einmal klar darüber werden müssen, wie wir zu „p" und mit ihm eventuell konkurrierenden anderen Willensinhalten stehen, werden wir vernünftigerweise nicht sogleich zum Wollen von „q" (oder gar dessen Realisierung) übergehen, sondern weitere Überlegungen anstellen. Erst nachdem wir abschließend Stellung bezogen haben, ergibt sich daraus ein rationales, optional spezifiziertes Wollen und (eventuelles) Handeln. Und selbst dann ist die Umsetzung des Ergebnisses ein Schritt, der nicht immer vollzogen wird. Auch wenn wir als „volitiv Orientierte" keinerlei Zweifel mehr haben, daß wir mit dem Rauchen aufhören oder bittere Medizin schlucken sollten, heißt das eben nicht unbedingt, daß wir den Willen dazu auch haben, geschweige denn danach handeln. Und selbst hier erscheint die pauschale Rede von „praktischer Irrationalität" unangebracht oder weltfremd. Denkbar ist allenfalls, daß wir als rationale Wesen nicht umhin können, den Willen, diese Mittel zu wollen, auszubilden und dann vielleicht nach Wegen zu suchen, diesem Anspruch gerecht zu werden.
8. Signifikanz höherstufigen Wollens Könnte diese letztere Möglichkeit aber nicht ausreichen, um den prinzipiell nicht ergebnisoffenen Charakter praktischer Überlegungen zu retten? Beschränkt auf die optionale Willensbildung könnte man etwa folgendermaßen argumentieren. Präferentielles Gleichgewicht zwischen gewollten Optionen ist zwar nicht auszuschließen, läßt sich aber durch Einsatz von Zufallsgeneratoren als Mittel zu übergeordneten Zwecken auflösen. Alle Mittel gehören zu den Optionen und müssen wie diese gewollt werden. Unter gewissen Umständen geschieht das automatisch. In komplexeren Fällen treten wir in regelgeleitete Überlegungen ein, die volitional zunächst ergebnisoffen sind. Sie enden jedoch, vernünftig durchgeführt, immer in einem Wollen - zwar keinem konkreten, handlungsbezogenen Wollen erster Stufe, wohl aber in einem entsprechenden Wollen zweiter. Danach hören die Überlegungen auf. Wenn 21 Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 417. Der Text ist mehrdeutig. Teilweise klingt es so, als wolle Kant das Wollen des Mittels einfach aus einer entsprechenden Definition des „Zweckwollens" ableiten. Ich ignoriere diese Variante, da sie das Sachproblem zu einer bloßen Wortfrage machen würde.
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jetzt noch etwas offen ist, seien es Fragen der Handlungsmotivation oder der weiteren Willensentwicklung, kann die Entscheidung nicht mehr überlegt fallen, sondern nur in Abhängigkeit von anderen Faktoren. Folglich sind willensbildende Überlegungen prinzipiell nicht ergebnisoffen. Dieses Argument hat mehrere Schwachstellen. Wird zwischen gleichgewichtigen Optionen nur per Zufall entschieden? Und vor allem: Zwingt die Einbeziehung der Folgen und Nebenfolgen nicht auch dazu, Zwecke zu problematisieren, einschließlich der bislang unbestrittenen und höchstpräferenzierten? Wenn der Rekurs auf das höherstufige Wollen etwas zugunsten der Nichtergebnisoffenheit ausrichten kann, muß es sich auch und vor allem bei der Zwecksetzung bewähren. Wie also steht es damit? Höherstufiges Wollen und Wünschen hat in der Philosophie lange keine besondere Rolle gespielt und wurde erst durch Frankfurt wieder ins Blickfeld gerückt. Die Möglichkeit einer optativischen Stellungnahme nicht nur zu dem, was andere wollen, sondern auch zu den eigenen Wünschen und Willensinhalten ist aber seit langem bekannt. Zahlreiche positive Belege finden sich nicht nur in religiösen Texten und in der Dichtung,22 sondern auch in der Philosophie, ansatzweise z. B. bei Piaton und Thomas von Aquin, deutlich bei Augustin.23 Auch der Zusammenhang mit dem Willensfreiheitsproblem ist von Augustin und anderen Philosophen (meist in kritischer Absicht) klar herausgestellt worden. Neu bei Frankfurt ist seine eigene, positive Version und die definitorische Verknüpfung mit dem Begriff der „Person".24 Beide Aspekte kann ich hier nur streifen. Mir geht es speziell um die Rolle des höherstufigen Wollens in willensbildenden Überlegungen. Philosophen wie Hobbes, Locke, Edwards, Herbart, Schopenhauer, Ryle und viele andere haben geltend gemacht, daß die Rede von einem „Wollen des Wollens" unsinnig sei, da
2 2 Im Rahmen der jüdisch-christlichen Tradition ist dies z. B. überall dort der Fall, w o ausdrücklich von der willentlichen Selbstunterwerfung des Menschen unter den Willen Gottes die Rede ist, implizit auch im Gebot der universalen Gottesliebe nach Exodus 6/5, 10/12 und Matthäus
22/37 parr. Ein schönes
Beispiel für den reflektierten Selbstunterwerfungsakt findet sich etwa in J. S. Bachs Kantate Nr. 163 (Text Salomon Franck, 1715), w o der Gläubige Gott darum bittet, ihm seinen eigenen Willen zu nehmen. Erschreckende Belege für die Übertragung dieses Gedankens auch auf die totale Unterwerfung unter kirchliche Autoritäten vermittelt James 2 1902, repr. 1963, 310-315. Hinweise auf reflektiertes, höherstufiges Wollen sind aber nicht auf den religiösen Kontext beschränkt, sondern finden sich vielfach auch in der weltlichen Dichtung. Ein markantes Beispiel ist die emphatische Äußerung des Ippolit in Dostojewskis Roman Der Idiot (11,10): „Jetzt will ich nichts mehr, ich will auch nichts mehr wollen, ich habe mir das Wort gegeben nichts mehr zu wollen." Ein anderes Beispiel liefert G. B. Guarinis Schäferspiel II Pastor Fido (1595, vgl. 111,6), in dem der verliebte Mirtillo schwört, er könne mit keiner anderen als Amarillis glücklich sein, selbst wenn er es wollte, und er werde, sollte sein Wille es dennoch wollen, zum Himmel und seiner Liebe beten, sie möchten ihm jedes Wollen und jedes Können nehmen. 23 Vgl. Piaton: Charmides,
167E; Thomas v. Aquin: Summa Theologica,
Augustin: De Libero Arbitrio,
III: q.l a.l ad 2, q.6 a.4 resp.;
I: 12,26, 13,29; II: 19,51 III: 3,7-8; Ders.: C o n f e s s i o n e s , VIII: 5,10, 8,20-
24; Ders.: De Civitate Dei, V: 9-10; Ders.: De Trinitate, X: 11,18; Ders.: Retractationes, 24 Vgl. insbesondere Frankfurt 1988, 19 ff
I: 13,5.
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sie in einen Regreß führe.25 Tatsächlich kann ein Regreß entstehen, freilich nur dann, wenn zugleich der Anspruch erhoben wird, das Willensfreiheitsproblem damit komplett zu lösen.26 Das Phänomen selbst kann man schwerlich bestreiten. Und natürlich hat es auch Sinn, auf der (sagen wir) zweiten Reflexionsstufe zu fragen, ob man frei ist, den Willen zu haben, den man haben will. Fraglich kann nur sein, an welchen Stellen optativische Einstellungen zweiter oder höherer Stufe auftreten und welche Rolle sie in praktischen Überlegungen spielen. Um diese Fragen beantworten zu können, muß man zwei wichtige Unterscheidungen treffen. Erstens stellt sich die Frage, worauf sich das höherstufige Wünschen und Wollen richtet: Geht es tatsächlich um die Existenz des nächstniedrigeren Wünschens und Wollens? Oder geht es lediglich darum (was bei Frankfurt im Zentrum steht27) die Motivationskraft und eventuelle Handlungswirksamkeit einer optativischen Einstellung, die bereits vorliegt, zu ändern oder zu bekräftigen? Zweitens sollte man positive und negative Varianten trennen: Geht es darum, daß eine bestimmte Einstellung erst ausgebildet bzw. motivational verstärkt wird? Oder soll eine bestehende Einstellung abgeschafft bzw. motivational abgeschwächt werden, so daß sie z. B. nicht mehr zum Handeln führt? Je nachdem, welchen Fall man ins Auge faßt, ändert sich auch die Signifikanz der Höherstufigkeit. Eine umfassende Bestandsaufnahme ist hier nicht möglich. Ich beschränke mich auf Grundsätzliches. Optativische Stellungnahmen zur Motivationalität schon bestehender Wünsche und Willensregungen sind keine Seltenheit. Sie treten so gut wie immer auf, wenn wir uns reflexiv fragen, was wir als nächstes oder langfristig tun sollen. Nachfolgende Handlungsentschlüsse sind von ihnen getragen. In vielen Fällen folgt die gewünschte Motivationsänderung oder -bekräftigung problemlos und in der Form eines „psychologischen Automatismus". In manchen Fällen folgt sie dagegen nicht. Wir alle erfahren das leidvoll, wenn uns ungewollt eine boshafte Bemerkung entschlüpft, wenn wir ein Laster nicht abstellen oder uns nicht dazu aufraffen können, etwas Gewolltes und reflexiv hoch Präferenziertes konsequent umzusetzen. Aber auch in diesen Fällen, scheint mir, ist die Überlegung mit der Ausbildung der höherstufigen Einstellungen (die sich freilich nicht nur auf das Ziel,
25 Vgl. Th. Hobbes: Elements ofLaw, I: 12,5; J. Locke: Essay, II: 21,23.25; J. Edwards: Freedom of the Will, II: 1-2.4-5.7; J. F. Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, § 128; A. Schopenhauer: Preisschrift über die Freiheit des Willens, 1,1; G. Ryle 1949, ch. 111,2. 26 Vgl. dazu Seebaß 1993, 29 A.28, 31 A.38, 52 A.77 und ders. 1997, 237-239. 27 Das gilt ungeachtet der Tatsache, daß Frankfurt auch Formulierungen verwendet („A wants to want to X", „he wants to have a desire to X"), die eine existenzbezogene Auffassung nahelegen (vgl. etwa 1988, 12f., 14, 16, 19, 22). Denn beide Formen des Wünschens zweiter Stufe, die Frankfurt in Rechnung stellt, nämlich „second order desires" und „second order volitions", sind, wie die Definitionen und die Beispiele zeigen (1988, 13 ff.), motivational spezifiziert, und entsprechendes gilt für den Begriff der Willensfreiheit (vgl. 1988, 20, 25). Auch der Willensbegriff selbst wird von Frankfurt ausdrücklich handlungsmotivational definiert (1988, 14, 164). Das entspricht, wie ich andernorts detailliert zu zeigen versucht habe (Seebaß 1993, Kap. 111,3, Kap. IV), weder dem gewöhnlichen Sprachgebrauch noch einer sachlich angemessenen Konzeptualisierung und dürfte der Hauptgrund sein, warum Frankfurts Differenzierung des höherstufigen Wollens und Wünschens seltsam eklektisch und unsystematisch wirkt.
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sondern auch auf den Einsatz geeigneter, selbstmanipulativer Mittel richten) beendet. Ob es dann zum Erfolg kommt oder nicht, ist Sache anderer Faktoren. Unsere Freiheit ist eben, auch mit Bezug auf die eigene Motivationalität, eingeschränkt. Ähnlich verhält es sich bei der Negativvariante der existenzbezogenen höherstufigen Einstellungen. Wünsche und Willensregungen, die uns hartnäckig verfolgen, können wir zumeist nicht einfach durch unseren reflektierten, gegenteiligen Willen abschaffen oder auch nur aus dem Bewußtsein verdrängen. Allenfalls können wir uns (freilich mit durchaus offenem Erfolg) für den Einsatz selbstmanipulativer Mittel entscheiden. Glücklicherweise sind Negativfälle wie diese im Alltag relativ selten. Wenn sie auftreten, erlangen sie allerdings - unglücklicherweise - oft ein sehr hohes Gewicht. Die korrespondierende Positivvariante ist ebenso hochgewichtig und selten. Doch liegt das nun, anders als bei den Negativfällen, keineswegs daran, daß wir so selten Gelegenheit hätten, Wünsche und Willensregungen, die wir noch nicht haben, auszubilden. Ganz im Gegenteil. In diese Lage kommen wir ständig, nicht nur bei der optionalen Willensbildung, sondern auch bei der Zwecksetzung. Nur spielen höherstufige Einstellungen dabei eine weit geringere Rolle. Normalerweise genügt es, mögliche Gegenstände des Wollens oder Wünschens zu erfassen, um direkt optativisch zu ihnen Stellung zu nehmen oder indifferent zu bleiben. Nur wenn Zweifel entstehen, etwa weil der betreffende Gegenstand sogleich als unvereinbar mit anderen (faktischen oder möglichen) Willensinhalten erkannt wird, kann der Schritt in die nächsthöhere Reflexionsstufe naheliegen, muß es aber auch nicht in jedem Fall. Wenn er erfolgt, entspricht die Situation, was die weitere Willensbildung betrifft, wieder der Negativvariante. Doch das ist hier eben nur eine Möglichkeit und zudem eine relativ seltene. Der Rekurs aufs höherstufige Wollen ist also kein universelles Hilfsmittel bei der Analyse der Willensbildung. Auch bei der Zwecksetzung und der Wahl zwischen möglichen Zwecken haben wir mit Fällen der direkten, nicht reflexiv vermittelten optativischen Stellungnahme zu rechnen, wie sie ähnlich auch bei der Wahl zwischen gleichgewichtigen Mitteln vorkommt. Außerdem stellt sich natürlich die Frage, wie es zum höherstufigen Wollen und Wünschen kommt, zum existenzbezogenen ebenso wie zum rein motivationalen. Spielen in all diesen Fällen Überlegungen keinerlei Rolle, so daß wir durchweg (und nicht nur manchmal) bloße Beobachter dessen sind, was sich volitional mit uns vollzieht? Ich denke nicht, und ziehe daraus den Schluß, daß die These vom prinzipiell nicht ergebnisoffenen praktischen Überlegen unhaltbar ist. Wenn wir zu überlegen beginnen, ist volitiv zunächst vieles fraglich. Antworten ergeben sich teils aus der theoretischen Optionenermittlung und der Bewußtmachung schon bestehender optativischer Ansprüche, teilweise auch einfach daraus, daß etwas ohne Überlegung mit uns geschieht. Das aber erschöpft die Alternativen nicht. Offenbar gibt es Formen des Überlegens, die auch in volitionaler Hinsicht ergebnisoffen sind - glücklicherweise. Denn da alle faktischen Willensinhalte, einschließlich der höchstrangigen, prinzipiell problematisierbar sind (vgl. 361 f.), blieben wir sonst im Wollen prinzipiell desorientiert.
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9. Entscheidung ergebnisoffener Überlegungen Der konkrete Verlauf ergebnisoffener Überlegungen ist variantenreich und kann hier nicht im Detail untersucht werden. Ich beschränke mich auf einige Bemerkungen über ihre Entscheidung. „Subjektivistische" und „objektivistische" Antworten sind denkbar. Letztere orientieren sich einmal mehr am Vorbild des theoretischen Wissens. So wie es objektive, erkennbare Wahrheiten gibt, so soll es auch objektive Forderungen geben, die optativische Einstellungen ebenso rational unausweichlich machen wie erkannte Wahrheiten assertorische. Als Beispiele ließen sich Kants Lehre vom kategorischen Imperativ als „Faktum der Vernunft" anfuhren oder Spielarten des Werterealismus. Objektivistische Theorien aber müssen wenigstens zwei extrem starke Prämissen machen: Sie müssen zeigen, daß es die objektiven Forderungen tatsächlich gibt und daß ein rationaler Wille tatsächlich nicht umhin kann, ihnen zu folgen. Die erste Prämisse ist notorisch fragwürdig und auch die zweite ziemlich dubios. Denn warum sollte es unvernünftig (und nicht nur dissident oder unmoralisch) sein, das objektiv Geforderte nicht zu wollen? Kant hat dies mit seinem emphatischen, moralisch spezifizierten Begriff der „praktischen Vernunft" auszuschließen versucht. Aber besitzen Menschen eine solche Vernunft wirklich? Ich zweifle daran und werde mich deshalb bis auf weiteres nur an „subjektivistische" Theorien halten, die Forderungen allein auf die optativischen Ansprüche von Personen zurückführen.28 Wie können Menschen sich orientieren, wenn sie vor der (prinzipiell ergebnisoffenen) Frage stehen, wie sie sich zu einem oder mehreren möglichen Willensinhalten stellen? Dabei mag jetzt unentschieden bleiben, ob es um ein Wollen höherer Stufe geht oder nicht, um Lebensziele oder begrenztere Zwecke oder einfach um die Entscheidung zwischen zwei gleichgewichtigen Mitteln. Drei Orientierungsformen möchte ich unterscheiden. Die erste ist die bewußte, aktive Dezision. Man selbst nimmt so oder anders Stellung zur Sache und damit ist sie erledigt - einstweilen jedenfalls, spätere Revisionen nicht ausgeschlossen. Die zweite Form ist die Fundierung der optativischen Stellungnahme in anderen Haltungen, insbesondere eigenen Wertungen und Gefühlen. Holmer Steinfath hat diese Möglichkeit eingehend analysiert und plausibel zu machen versucht.29 Die dritte Form schließlich, die Harry Frankfurt vor allem in seinen späteren Arbeiten entwickelt hat,30 ist 28 Das schließt nicht nur menschliche Individuen ein, sondern auch Kollektive (.juristische Personen") und göttliche Personen, die als Träger religiöser Sollensansprüche gelten. Auch allgemeingültige Forderungen sind im Rahmen subjektivistischer Theorien denkbar, dann nämlich, wenn es optativische Ansprüche gibt, die de facto von allen Personen erhoben werden, was keineswegs nur (sozial, kulturell oder historisch) relativistisch gedeutet werden kann, sondern auch universalistisch. Ebensowenig muß das Faktum der optativischen Allgemeinheit immer ein kontingentes sein, sondern kann sehr wohl tiefere (anthropologische) Gründe haben. 29 Steinfath 1999, Kap. 5-6. 30 Anlaß dafür war Frankfurts Skepsis gegenüber der volitionalen Orientierung mit Hilfe von Dezisionen. Weil es nicht möglich sei, Situationen der Desorientiertheit oder des hochrangigen präferentiellen Gleichgewichts tragfähig („reliably") zu überwinden „by making a decision" (1988, 85), bleibe als Ori-
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eine Art „volitionaler Selbsterfahrung". Sie ist kein einmaliger Akt, sondern ein zeitlich länger erstrecktes, quasi-experimentelles „Austesten" dessen, welche der (vorgegebenen oder durch momentane Entscheidung begründeten) optativischen Ansprüche sich dauerhaft als „befriedigend" oder „persönlich tragfahig" erweisen und dadurch (im Sinne Kants, 353) „unerschütterlich orientierend" werden. Vor allem im Blick auf langfristige, hochrangige Ziele wie berufliche Eignung, Partnerschaft oder Weltanschauung gewinnt diese Form ihre Plausibilität. Mit ihr kommt - wie auch beim Rekurs auf subjektive Wertungen und Gefühle - ein passivisches Moment ins Spiel, das der reinen Dezision fehlt und die praktische Orientierung der theoretischen Selbstvergewisserung annähert, ohne doch mit ihr zusammenzufallen.31 Alle drei Formen schließen einander nicht aus. Sie können und müssen sich wechselseitig ergänzen, zumindest in Fällen der Lebensorientierung. Aber der Anteil der einzelnen Formen kann unterschiedlich sein. Frankfurt und Steinfath haben sich - darin völlig im Einklang mit einer breiten Strömung der Philosophie des 20. Jahrhunderts - der Dezision gegenüber skeptisch gezeigt und ihre Bedeutung stark heruntergespielt.32 Deshalb erscheint es mir angebracht, hier eine Lanze für sie zu brechen. entierungspunkt für den Betroffenen letztlich nur das im Lebensvollzug zu ermittelnde „fact that it is possible for him to care about the one and not about the other, or to care about the one in a way which is more important to him than the way in which it is possible for him to care about the other" (1988, 94). Nicht durch Akte der Dezision, sondern aus dem lebenserfahrenen, wenngleich reflektierten und wertenden Verständnis der eigenen „psychischen Verfaßtheit" („of how things are with him", vgl. 1999, 105) ergebe sich eine Haltung faktischer „Befriedigung" („satisfaction") über die eigene Willenslage, ohne Streben nach Änderung (1999, 102 ff., vgl. auch 1988, 168 f.). Als Resultat des Prozesses „volitionaler Selbsterfahrung" ist Frankfurts Rede von „volitionaler Notwendigkeit" (vgl. oben Anm. 10-11) besser verständlich, bleibt aber unvereinbar mit dem Gedanken der Autonomie, solange das passivische Moment der „Erfahrung" nicht durch die Aktivität bewußter Dezisionen ergänzt wird (vgl. dazu Anm. 31-33). 31 Sie würden mit ihr zusammenfallen, wenn subjektive Wertungen und Gefühle bzw. die Faktoren, die für die Ergebnisse der Selbsterfahrung entscheidend sind, durchweg als vorgegebene und fixierte aufgefaßt werden könnten. Doch das ist nicht bzw. nur partiell der Fall. Sie können sich, nicht anders als optativische Stellungnahmen, mit dem Fortgang des Lebens ändern und werden dabei stets auch von Dezisionen mitbestimmt. Das passivische Moment beruht teils auf den (genetischen, traditionalen, individuellsozialisatorischen oder durch eigene Lebenserfahrung entstandenen) Vorgaben, teils aber auch auf Kontingenzen der jeweiligen Lebenssituation. Auch diese letzteren sind für den ergebnisoffenen Charakter spezifisch praktischer Überlegungen verantwortlich. Aber sie sind es eben durchaus nicht allein, sondern werden ergänzt durch aktive, nichtkontingente Dezisionen (vgl. auch 372 f.). 32 Vgl. insbesondere Steinfath 1999, Kap. 3.1 und 3.6.1, Kap. 9.3, Kap. 10.3; Frankfurt 1988, 84 f., 167 ff.; ders. 1999, 100 f., 112. Trotz ihrer Skepsis haben beide Autoren die Relevanz von Dezisionen anerkannt und ihren (wenn auch begrenzten) Anteil an der Willensbildung aufrechterhalten wollen. Das führt vor allem bei Frankfurt immer wieder zu einem verwirrenden Changieren zwischen bejahenden und verneinenden Aussagen (vgl. oben Anm. 11, sowie Anm. 33). Das aktivische Moment möchte er festhalten (vgl. z. B. 1988, 87f., 92-94, 170 f.; 1999, 116). Unangemessen erscheinen ihm Dezisionen vor allem im Hinblick auf ihre vermeintliche Arbitrarität und völlige Abgelöstheit von persönlichen Vorgaben, die
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Auch Erfahrungen des „befriedigten Einsseins mit uns" oder Gefühls- und Wertungserlebnissen gegenüber gibt es nicht nur die Möglichkeit der reaktiven, passivischen Entwicklung von optativischen Einstellungen, die sie zum Inhalt haben. Es gibt auch die Möglichkeit, sie selbst - als mögliche Gegenstände der optativischen Stellungnahme - zu problematisieren und erst danach aktiv Stellung zu nehmen. Ja, diese Form der aktiv-optativischen Selbstaneignung, die auch Frankfurt bezeichnenderweise in der aktivischen Wendung des „entschiedenen Sich-Identifizierens mit einem Wollen" beschrieben hat,33 erscheint mir unerläßlich, um jenem Gedanken der Autonomie genüge zu tun, der für unser Selbstsein konstitutiv ist (vgl. Anm. 11). Wo immer sie fehlt, leben wir nicht, sondern werden gelebt im personalen Sinne natürlich, nicht im rein biologischen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich auch die beiden nichtdezisionistischen Orientierungsformen partiell (Anm. 31) nicht von der unreflektierten Übernahme kultureller oder individuell-sozialisatorischer Vorgaben (359 f.) oder der Entscheidung praktischer Fragen durch Zufall und andere Determinanten.34
dazu fuhren müsse, daß momentane dezisionistische Akte sich nicht als dauerhaft tragfähig erweisen und ihre lebensorientierende Funktion einbüßen (vgl. bes. 1988, 167 ff.). Die Einwände der Arbitrarität und Abgelöstheit halte ich nicht für berechtigt (siehe unten 371 f.). Auch glaube ich nicht, daß Frankfurt selbst das aktivische Moment ohne Rekurs auf bewußte Dezisionen aufrechterhalten kann (vgl. Anm. 33). Daß einzelne dezisionistische Akte die Dauerhaftigkeit ihres Resultats nicht garantieren können, trifft zu, zeigt aber nur, daß unser Leben auch von Vorgaben und diversen anderen Faktoren abhängig ist und daß alle optativischen Stellungnahmen prinzipiell problematisierbar und revidierbar bleiben. Wie tragfähig sie auf Dauer sind, zeigt sich erst in der „volitionalen Selbsterfahrung". Diese behält ihr Recht, stellt dasjenige von Dezisionen aber nicht in Frage, sondern kann und muß durch sie komplettiert werden. 33 Frankfurt 1988, 21 f. An der aktivischen Rede vom entschiedenen „Sich-Identifizieren" (oder sogar „Sich-selbst-Konstituieren" durch diesen Schritt) hat Frankfurt auch festgehalten, nachdem er dezisionistische Deutungen ausdrücklich zurückgewiesen und durch sein Konzept der „volitionalen Selbsterfahrung" ersetzt hatte (vgl. etwa 1988, 170 ff.; 1999, 105 f.). An die Stelle der bewußten Dezision soll nun allerdings ein Begriff der „Identifikation" (1999, 105) bzw. des „decisive commitment" (1988, 168 f.) treten, der letztlich nicht mehr beinhaltet als die faktische, wenngleich volitiv reflektierte, Abstandnahme eines „befriedigten" (Anm. 30) Individuums von weiteren Überlegungen in dem Interesse, seine volitionale Situation eventuell zu verändern. Damit aber geht das aktivische Moment verloren bzw. überlebt allenfalls verbal. Denn da das bloße Faktum der volitionalen Höherstufigkeit, wie Frankfurt einräumt (1988, 166 f.), in dieser Frage nichts entscheiden kann, bleibt, wenn Dezisionen konsequent ausgeklammert werden, nichts mehr übrig, was aktive Formen volitionaler „Befriedigung" von beliebigen anderen abheben könnte. Entsprechendes gilt für Verbalerklärungen, wonach die „Aktivität" einer Person z. B. in deren Handeln „aus ihrem eigenen Willen" bestehen soll (1988, 88), weil die Frage der relevanten „Eigenheit" dieses Wollens sogleich zum Problem ihres aktiven „Sich-Identifizierens" mit ihm zurückführt. Daß Frankfurt trotz dieses offenkundigen Defizits seiner expliziten Erklärungen an den aktivischen Redewendungen festhält, könnte ein Indiz dafür sein, daß er sich implizit doch weiterhin auf ihre dezisionistischen Konnotationen verläßt. 34 Auch solche Faktoren sind bei konkreten Willensbildungsprozessen so gut wie immer mitbeteiligt. Das notwendige Zusammenspiel von selbständiger, situativer Entscheidung und Rücksicht auf die jeweiligen
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10. Falsche Vorbehalte gegen Dezisionen Vorbehalte gegenüber dem Dezisionismus entstehen vor allem, weil falsche Vorstellungen mit ihm verbunden werden. Vier von ihnen möchte ich hier deshalb ausdrücklich zurückweisen. Erstens wird häufig geltend gemacht, mit Entscheidungen dieses Typs würde indeterministische Willensfreiheit unter Beweis gestellt. Doch das ist weit übertrieben. Richtig ist sicherlich, daß wir, wenn wir zu offenen Optionen selbständig Stellung nehmen, nicht das Bewußtsein haben, darin determiniert zu sein. Ich glaube auch, daß ohne diese Voraussetzung ergebnisoffene praktische Überlegungen sinnlos wären und die Idee der Täterschaft illusionär. Darin folge ich einer langen Denktradition, die von Aristoteles und Alexander von Aphrodisias über die Kirchenväter Nemesios und Johannes Damaszenus, Hobbes' Gegner Bramhall, Reid und Herbart bis hin zu Hart und Chisholm reicht.35 Doch vielleicht liegt darin eben eine Illusion. Das subjektive Bewußtsein, daß es sich anders verhält, ist für sich jedenfalls kein Beweis, daß unbewußte Determinanten die Entscheidung nicht dennoch steuern, seien sie nun neurophysiologischer oder tiefenpsychologischer Art. Natürlich müßte auch dies erst einmal unter Beweis gestellt werden. Aber daß es unmöglich ist, darauf sollte und braucht sich der Vertreter dezisionistischer Stellungnahmen nicht festlegen. Zweitens muß er sich nicht, wie manchmal vermutet, die Idee eines metaphysischen ,, reinen Willens " zu eigen machen,36 oder gar die Idee eines Cartesianischen Ego oder eines „sich selbst setzenden" Fichteschen Ich. Derart anspruchsvolle Konzeptionen sind durch die einfache Anerkennung des Phänomens der Dezision nicht zu begründen. Ebensowenig braucht man sich, drittens, durch den alten Vorwurf beeindrucken lassen, dezisionistische Willensakte liefen auf Willkür und Zufall hinaus. Man muß sich nur strikt an den aktivischen Charakter dieser Form der optativischen Stellungnahme halten. Wer sich für eine von zwei Optionen entscheidet, ohne ein übergeordnetes Wollen als Grund dafür angeben zu können, hat nicht den Eindruck, daß das Ergebnis ihm passiv zufällt, während er interessiert, aber unbeteiligt danebensteht. Darin unterscheiden sich diese Situationen grandhereditären, kulturellen und individuell-sozialisatorischen Vorgaben bei der Lebensorientierung ist klar herausgearbeitet bereits bei Cicero: De Officiis I: 107-121. 35 Vgl. Aristoteles: De Interpretatione, 18b29 ff. (weitere relevante Stellen bei Sorabji 1980, 227 A.l), sowie zum zweiten Punkt Physica, VIII und Metaphysica, XII, 4-7; Alexander v. Aphrodisias: De Fato, cap. 11-12; Nemesios: De Natura Hominis, cap. 41; Johannes Damaszenus: De Fide Orthodoxa, II, cap. 25; Th. Hobbes: The English Works, ed. W. Molesworth, London 1841, repr. Aalen 1966, vol. V, 150f., 279, 293; Th. Reid: Essays on the Active Powers of the Human Mind, 1,1-2; IV,1-2. 6-8; J. F. Herbart: Zur Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens, in: Ders.: Schriften zur praktischen Philosophie, hrsg. von G. Hartenstein, Bd: II, Leipzig 1851, 345 f.; H.L.A. Hart: Punishment and Responsibility, Oxford 1968, 28 f. A.l; Chisholm 1966; Ders. 1976, ch. II. 36 So Tugendhat 1992, 467 in der Kritik an Frankfurt. Die Kritik trifft Frankfurt nicht (vgl. oben Anm. 30 und 32), kann aber durch dessen schwankende Haltung zur Dezision und seine aktivische Rede vom „Sich-Identifizieren" oder „Sich-selbst-Konstituieren" (u. ä., vgl. Anm. 33) immerhin nahegelegt werden.
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sätzlich von solchen, in denen ein Zufallsgenerator zum Einsatz kommt oder uns etwas schicksalhaft widerfährt. Und selbst wenn das ausnahmslos zuträfe, was manchmal fraglos der Fall ist, daß wir uns nämlich für etwas entscheiden, von dem wir nachher den Eindruck haben, genausowenig zu wissen, wie wir dazu gekommen sind, wie bei Zufallen und bloßen Widerfahrnissen, würde ein fundamentaler Unterschied immer noch darin bestehen, daß wir das Resultat dieser „Quasi-Entscheidung" als unseres anerkennen, uns also „mit ihm identifizieren". Das ist eine Variante des alten Stoischen Gedankens der bewußten Einstimmung ins Unabänderliche, die jedenfalls dann keine rein fatalistische ist, wenn sie die freie, aktivoptativische Stellungnahme des Individuums einschließt. Zumindest auf dieser Ebene aber scheint mir die passivische Rede vom „Zufallen" oder ähnlichem extrem kontraintuitiv zu sein, sondern nur Kants Beschreibung die Sache zu treffen:37 „Wenn ich sage: ich denke, ich handele usw.; dann ist entweder das Wort Ich falsch angebracht, oder ich bin frei." Und auch die Stoisch gedeuteten „Quasi-Entscheidungen" sind ja glücklicherweise eher ein Sonderfall, der unserer Alltagserfahrung nicht entspricht. Viertens schließlich bedeutet die Anerkennung von Dezisionen keineswegs, daß wir vollkommen frei darin sind. Nicht nur, daß uns nur ein sehr begrenzter Teil realer Optionen persönlich zugänglich ist, ontologisch wie epistemisch gesehen. Auch zwischen Optionen, denen gegenüber wir uns, was die volitionale Lage betrifft, in einer prinzipiell ergebnisoffenen Wahlsituation befinden, können wir uns oft nicht völlig frei entscheiden. Kapazitätsgrenzen des Intellekts, des Gedächtnisses und anderer psychischer Faktoren wirken sich faktisch spielraumverengend aus, ebenso bestehende Habitualisierungen und Automatisierungen (358). Und natürlich sind auch die Beschränkungen durch subjektive Wertungen und Gefühle und durch die Selbsterfahrung in Rechnung zu stellen. Vor allem längerfristige Zielsetzungen, aber auch viele Alltagsentscheidungen werden von ihnen mitgeprägt. Zum Beispiel können wir uns nicht ohne weiteres dafür entscheiden, eine Speise zu kosten, vor der uns ekelt, oder ein Spiel mitzuspielen, das uns langweilig oder moralisch verwerflich erscheint. Und diese Restriktionen bestehen sehr oft auch dann, wenn wir uns über die kulturelle oder sozialisatorische Kontingenz unserer Wertungen völlig im klaren sind. Selbstmanipulative Mittel können den Dezisionsspielraum zum Teil verbreitern. Manchmal genügt auch, wie schon Thomas von Aquin festgestellt hat,38 die ihrerseits auf aktiver Entscheidung fußende Konzentration auf eine bestimmte Option oder einen bestimmten Aspekt in ihr. Aber natürlich geht das nicht überall oder unlimitiert. Doch die begrenzte Bedeutung dezisionistischer optativischer Stellungnahmen anzuerkennen, heißt nicht, sie für bedeutungslos zu erklären. Im Gegenteil, gerade durch dieses Zugeständnis tritt ihre reale Signifikanz hervor.
37 I. Kant: Vorlesungen über Metaphysik, AA XXVIII/1, 269. Vergleichbare Äußerungen über den intrinsischen Zusammenhang von Ich und Aktivität finden sich öfter bei Kant, so etwa in der Anthropologie (z. B. AA VII, 161, 397 f.) sowie im Paralogismuskapitel und in der Transzendentalen Deduktion der Kritik der reinen Vernunft (z. B. B 157 f.). 38 Thomas v. Aquin: Summa Theologica, tatae de Malo, q.6: resp. ad 7, ad 15.
III: q.10 a.2 ad 1; q.13 a.6 resp. ad 3; Ders.: Quaestiones
Dispu-
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orientieren?
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11. S c h l u ß Was also heißt es, sich „im Wollen zu orientieren"? Offenbar heißt es nicht nur, sich theoretisch über die eigene Willenslage ins Bild zu setzen, Optionenermittlung zu betreiben und daraus praktische Schlüsse zu ziehen. Es heißt auch und vor allem, spezifisch praktische Überlegungen anzustellen, die nicht nur epistemisch, sondern auch volitional ergebnisoffen sind und deshalb auch durch aktive optativische Stellungnahmen beendet werden. Wer „weiß, was er will", hat eben nicht nur partielle Gewißheit darüber gewonnen, was ist, sondern auch darüber, was seinem Anspruch nach sein soll. Und dieses praktische, vom theoretischen scharf zu unterscheidende „Wissen" ist zugleich eines, das prinzipiell (im Gegensatz zu Kants Behauptung, 353) über unsere Erfahrung hinausfuhrt.
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Julian Nida-Rümelin
Normatives Orientierungswissen In diesem Vortrag möchte ich einige Überlegungen zu der Frage vortragen, was wir unter „Normativem Orientierungswissen" verstehen sollen und in welchem Verhältnis dieses Wissen zu anderen Wissensformen steht. Eine terminologische Vorbemerkung ist dabei nötig: Wenn hier von „Wissen" die Rede ist, so nicht in dem spezifischen Sinne, daß eine Person eine Proposition p weiß, wenn sie von p überzeugt ist, sie für die Annahme von p die richtigen Gründe hat und p wahr ist. „Wissen" wird hier in einem unspezifischeren Sinne verwendet, indem man von „Wissenssystemen" und „Wissensformen", von „Wissenstransfer" etc. spricht. Überzeugungen bilden einen Wissenskorpus, wenn diese in einem Begründungszusammenhang stehen und (deshalb) einen hohen Gewißheitsgrad haben. Genuines normatives Orientierungswissen gibt es genau dann, wenn es genuine praktische Gründe gibt. In einem anderen Kolloquium auf diesem Kongreß habe ich Argumente vorgetragen, die für die Existenz und die fundamentale Rolle praktischer Gründe für unsere Handlungsorientierung sprechen.' Diese Argumentation war gegen die Reduktion von Rationalität auf deskriptive Rationalität, wie sie (nach David Hume) als „humanism" nach wie vor insbesondere die angelsächsische philosophische Diskussion beherrscht, gerichtet. Praktische Gründe, so lautete eines der Ergebnisse, spielen eine fundamentale und für ein angemessenes Verständnis unserer Handlungsmotivation unaufgebbare Rolle. Sie sind nicht in der Weise zu rekonstruieren, daß man basale, der rationalen Kritik entzogene Wünsche annimmt, die lediglich durch deskriptive Überzeugungen modifiziert, d. h. in letzter Instanz in handlungsleitende Wünsche transformiert werden. Die Argumente brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Die Existenz genuin praktischer Gründe spielt für das Folgende die Rolle einer Hintergrundannahme. Ohne diese Annahme würde das Projekt der normativen Ethik ebenso gegenstandslos wie das der (normativen) politischen Philosophie und der Rationalitätstheorie. Der Erfolg dieser Disziplinen in den vergangenen Dekaden hat die Beweislast insofern verschoben, denn die einfachste Erklärung dieses Erfolges ist, daß es praktische Gründe, also den Gegenstand dieser Theorien tatsächlich gibt. Trotz dieser Vorfestlegung möchte ich kurz der Frage nachgehen, ob es irgendeine Form von „normativem Orientierungswissen" gibt, die auch den radikalen Moralskeptikern, d. h. denjenigen offensteht, die die Existenz praktischer Gründe prinzipiell bezweifeln. Wenn es keine (objektiven) praktischen Gründe gibt, gibt es kein genuines normatives Wissen. Deskriptivisten - diejenigen, die nur theoretische Gründe akzeptieren - könnten aber ein normatives Wissen im Sinne von deskriptivem Wissen von Normen zulassen. Jemand, der über normatives Wissen verfugt, würde die etablierten Normen z. B. der Konvention, der Moral oder des Rechts kennen. Damit normatives Wissen dieses deskriptiven Typs handlungslei-
1 Vgl. 177-188 in diesem Band.
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tend, „orientierend" wird, wären zusätzlich bestimmte Wünsche der betreffenden Person anzunehmen, für die dieses Wissen handlungsrelevant wird. Zwei Arten von Wünschen können diese Funktion übernehmen: (1) Intrinsische Konformitätswünsche: Viele Personen haben den Wunsch, mit den jeweils etablierten Normen konform zu handeln und zu leben. Wenn dieser Wunsch auf die Konformität selbst (und nicht etwa auf das Vermeiden von Sanktionen) gerichtet ist, handelt es sich um einen intrinsischen Konformitätswunsch. (2) Extrinsisch wäre dieser Wunsch, wenn die Person nicht diese Konformität selbst wünscht, sondern nur Sanktionen vermeiden möchte. In diesen Fällen hat sie diesen Wunsch nur in dem Umfang und in denjenigen Fällen, in denen sie Sanktionen erwartet. Die Existenz von Sanktionen in foro interno kann es allerdings schwierig machen, diese beiden unterschiedlichen Wunscharten empirisch zu unterscheiden. Es könnte auch Personen geben, für die normatives Wissen im Sinne deskriptiven Wissens über Normen keine handlungsorientierende Rolle spielt, da sie weder intrinsische noch extrinsische Konformitätswünsche haben - vielleicht aus einem Gefühl der Distanz oder der Ablehnung gegenüber der Gesellschaft, in der sie leben. Eine Person dieser Art könnte man ebenfalls als Amoralisten bezeichnen, auch wenn dies ein anderer Typ von Amoralist ist als derjenige, der in der zeitgenössischen Kontroverse um Internalismus vs. Externalismus in der Ethik diskutiert wird. Mit der folgenden Abbildung läßt sich der Argumentationsgang strukturieren:
EPE
KPE
!
DOW TG
t
1.
NOW
|
|
2.
3.
WW
Ethik
PG
376 HO: EPE: KPE: DOW: NOW: WW: Ethik: TG: PG:
Julian
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Handlungsorientierung Epistemische propositionale Einstellungen Konative propositionale Einstellungen Deskriptives Orientierungswissen Normatives Orientierungswissen Wissenschaftliches Wissen Ethik Theoretische Gründe Praktische Gründe
In einem ersten Schritt werde ich normativem Orientierungswissen sein Pendant, das deskriptive Orientierungswissen, gegenüberstellen (1.). Ich werde dann das Verhältnis von wissenschaftlichem Wissen und deskriptivem Orientierungswissen behandeln (2.), um es mit dem Verhältnis zwischen normativem Orientierungswissen und Ethik zu vergleichen (3.). Zum Schluß gehe ich kurz auf das Dach des Hauses (s. Abb.) ein (4.): Propositionale Einstellungen und Handlungsorientierung.
1. Normatives vs. deskriptives Orientierungswissen Eine beliebte antikognitivistische Argumentation in der Ethik, die sich z. B. bei Gilbert Harman, John L. Mackie oder Bernard Williams findet, um nur einige der Prominenteren zu nennen, vergleicht moralische Überzeugungen mit wissenschaftlichen Behauptungen und Theorien. Die Unterschiede fallen bei einem solchen Vergleich sofort ins Auge. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Behauptungen gibt es bei moralischen Überzeugungen keine klaren Überprüfungsmethoden, es fehlt die systematische Theoriebildung, es fehlt das Experiment etc. Die hoch entwickelte Rationalität wissenschaftlicher Begründungspraxis scheint kein Pendant im Bereich moralischer Überzeugungen zu haben. Das „kognitivistische" Vertrauen auf objektive moralische Tatsachen und ihre grundsätzliche Erkennbarkeit erscheint bei diesem Vergleich naiv oder dogmatisch. Tatsächlich wird hier jedoch Unvergleichliches verglichen. Der Kognitivist sollte nicht versuchen, unsere lebensweltlichen moralischen Überzeugungen den Rationalitätsstandards der Naturwissenschaft anzunähern, sondern auf einem Vergleich des Vergleichbaren beharren. Vergleichbar ist normatives Orientierungswissen nicht mit wissenschaftlichem Wissen, sondern mit deskriptivem Orientierungswissen. Die vermeintlichen Rationalitätsdefizite moralischer Überzeugungen lösen sich bei dieser genaueren Betrachtung auf. Deskriptives Orientierungswissen umfaßt diejenigen (deskriptiven) Hintergrundüberzeugungen, die unsere Lebenswelt prägen. Diese werden selten thematisiert, aber sie prägen unsere lebensweltliche Orientierung. Sie strukturieren den Fluß der Sinneseindrücke, unterlegen ihm eine Raum-Zeit-Struktur, nehmen hoch differenzierte Individuierungen natürlicher und nichtnatürlicher Gegenstände vor, interpretieren das Verhalten unserer Mitmenschen unter Verwendung einer Vielzahl mentaler Prädikate (Alltagspsychologie) etc. Wesentliche Teile des deskriptiven Orientierungswissens können nur in der Hinsicht Personen
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als Überzeugungen zugeschrieben werden, als diese für ihre Weltorientierung insgesamt eine Rolle spielen, auch wenn sie erst durch eine in unserer Lebenswelt nicht verankerte Skepsis bewußt werden. Einer Person, die ihre Sinneseindrücke in einer bestimmten Weise ordnet, kann man die Überzeugung, in einem dreidimensionalen Raum zu leben, zuschreiben. Viele dieser Personen werden diese Überzeugung aber nicht formulieren können (z. B. weil ihnen der Terminus des dreidimensionalen Raumes in ihrem Wortschatz fehlt). Daß es dennoch Sinn macht, implizite Überzeugungen dieser Art zum Wissen einer Person zu zählen, scheint mir auf der Hand zu liegen. Unser deskriptives Orientierungswissen bildet einen Rahmen, den wir an der einen oder anderen Stelle modifizieren, den wir aber nicht verlassen können. Besser trifft die Metapher, die Wittgenstein in seinen Bemerkungen Uber Gewißheit wählt: die des Flußbettes: „Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden." (Ü 96) „Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flussbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flussbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt." (Ü 97) Vergleichen wir einige Merkmale von deskriptivem und normativem Orientierungswissen: (1) Deskriptives Orientierungswissen orientiert in der Vielfalt sinnlicher Eindrücke. Normatives Orientierungswissen orientiert in der Vielfalt alltäglicher Handlungssituationen. (2) Die Inhalte deskriptiven Orientierungswissens unterstehen ebenso wie die des normativen Orientierungswissens einem täglichen Bewährungstest. Überzeugungen aus beiden Wissensbereichen scheitern allerdings nicht extern, sondern intern. Sie kollidieren mit nicht aufgebbaren Überzeugungen normativer bzw. deskriptiver Art. Zum deskriptiven Orientierungswissen gehört z. B. die Verläßlichkeit unserer räumlichen Tiefenwahrnehmung. Diese Verläßlichkeit wird erschüttert bei Gegenständen, die von uns unterhalb einer glatten Wasseroberfläche wahrgenommen werden, wenn die Blickrichtung nicht senkrecht zur Wasseroberfläche ist. Wir verschätzen uns dann systematisch (in Abhängigkeit von der Entfernung und vom Winkel zur Wasseroberfläche) in Entfernung und Größe des Objektes. Das deskriptive Orientierungswissen weist vor dieser Erkenntnis eine Inkohärenz auf, nämlich zum einen die Verläßlichkeit unserer optischen Tiefenwahrnehmung und zum zweiten die Übereinstimmung von Erfahrungen des Tastsinns und des Sehens. Bei dieser Kollision vertrauen wir unserem Tastsinn mehr und revidieren die uneingeschränkte Verläßlichkeit unserer optischen Tiefenwahrnehmung für den Fall eines wechselnden Mediums (von Luft zu Wasser, von Luft zu Glas etc.). Systematische Beobachtungsreihen lassen uns rasch allgemeine Regeln der Abweichung erkennen, die jedoch an der intuitiven optischen Verortung (jedenfalls zunächst und unter Normalbedingungen) nichts verändern. Die Korrektur findet gewissermaßen ausschließlich kognitiv statt.
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(3) Inkohärenzen dieser Art innerhalb des deskriptiven Orientierungswissens begründen eine „lokale" Skepsis. Sie stellen die Verläßlichkeit unserer Wahrnehmungen in Frage. Unser deskriptives Orientierungswissen wird damit aber nicht insgesamt in Frage gestellt. Eine umfassende Skepsis deskriptivem Orientierangswissen gegenüber ist unmöglich. Eine umfassende Skepsis deskriptivem Orientierungswissen gegenüber ließe keinen Spielraum mehr für begründete Überzeugungen. Eine umfassende Orientierungslosigkeit wäre die Folge. (4) Die konkrete Lebensform einer Person, ihr alltägliches Handeln und Urteilen repräsentiert deskriptives wie normatives Orientierungswissen. Das große Spektrum unterschiedlicher Lebensformen darf dabei nicht den Blick auf das hohe Maß an Übereinstimmung verstellen. Die je gewählte Lebensform ist durch deskriptives wie normatives Orientierungswissen nicht festgelegt. Die Möglichkeit, sich über unterschiedliche Einstellungen auszutauschen, das je individuell gestaltete Leben gegenüber anderen zu begründen, zeigt, wie groß die Übereinstimmung tatsächlich ist. Williams' These von „Relativism from the distance" läßt sich in diesen Rahmen stellen: Erst die große Übereinstimmung deskriptiven wie normativen Orientierungswissens erlaubt Meinungsverschiedenheiten über lebensweltliche Überzeugungen normativer und deskriptiver Art. Wenn „entfernte" Kulturen weit divergierende, aber in sich kohärente Systeme deskriptiver wie normativer lebensweltlicher Überzeugungen aufweisen, dann wäre die Verständigung und gleichermaßen das Austragen von Überzeugungskonflikten nur innerhalb, aber nicht zwischen diesen Kulturen möglich. Nach meinem Eindruck haben wir keinen Grund zu dieser pessimistischen Annahme. Die gemeinsame Tradition der Menschenrechte über große kulturelle Unterschiede hinweg ist eine der Indizien, daß Verständigung über Differenzen hinweg möglich ist. (5) Fundamentale Überzeugungen unseres deskriptiven Orientierungswissens erweisen sich als weitgehend resistent gegenüber Widerlegungsversuchen. Der Grund dafür ist, daß Argumente, die gegen die eine oder andere fundamentale Überzeugung sprechen, selbst auf Annahmen Bezug nehmen müssen, die als weniger gewiß gelten, als die bestrittenen. Unter fundamentalen Überzeugungen verstehe ich dabei solche, die zum einen von hoher subjektiver Gewißheit sind und zum anderen eine Rolle in einer Vielfalt von Begründungszusammenhängen spielen. Es gibt hochgradig gewisse, aber nicht fundamentale Überzeugungen, die sich auf punktuelle Propositionen beziehen. Die fundamentale Annahme, daß wir im Großen und Ganzen unseren Sinnen vertrauen können, ist dagegen wesentlich für die Begründung einer Vielzahl von Überzeugungen. Wenn diese „fundamentale" Überzeugung aufgegeben würde, wäre ein Großteil unseres deskriptiven Wissenskorpus in Frage zu stellen. Die wohl einzige Möglichkeit, (hinreichend) fundamentale Annahmen aus dem deskriptiven Wissenskorpus zu bedrohen, besteht in dem Nachweis, daß ohne diese Annahmen sich hohe Kohärenzgewinne erzielen ließen. Die Annahme übernatürlicher Kräfte und Einflüsse ist z. B. in den meisten Kulturen ein konstitutiver Bestandteil des deskriptiven Orientierungswissens. Die entsprechenden, oft durch religiöse Traditionen gestützten, Annahmen haben einen fundamentalen Charakter, da sie in einer Vielzahl von Begründungszusammenhängen eine Rolle spielen. Erst der Nachweis, daß diese Begründungsleistung durch andere Theorien (z. B. naturwissenschaftlicher Art) erbracht werden kann und die Kohärenz des deskriptiven Wissenskorpus sich durch Aufgabe dieser (animistischen) Annahmen wesent-
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lieh erhöhen läßt, stellt diese in Frage. Allerdings ist eine solche Aufgabe fundamentaler Überzeugungen nur möglich, wenn das Gros deskriptiver Überzeugungen dadurch nicht angetastet wird, d. h. mit anderen Worten, daß dafür alternative Begründungen zur Verfugung stehen. (6) Begründung von Überzeugungen setzt ein gewisses Maß an Systematisierung voraus. Das deskriptive Orientierungswissen erlaubt einen umso höheren Anteil an begründeten Propositionen, desto fortgeschrittener diese Systematisierung ist. Da die Systematisierung jedoch wenigstens zum Teil unterbestimmt ist, bleibt ein Teil der Begründungsrelationen auch im Rahmen des deskriptiven Orientierungswissens unsicher hinsichtlich alternativer Systematisierungsoptionen. Ein robuster Realismus, der dem deskriptiven Orientierungswissen eigen ist, erlaubt es dabei nicht, den Weg einer instrumentalistischen Interpretation zu gehen. Selbst bei gleicher Begründungsleistung bleibt die Konkurrenz unvereinbarer theoretischer Propositionen als Teil des deskriptiven Orientierungswissens bestehen. Mutatis mutandis gelten diese sechs Charakteristika des deskriptiven Orientierungswissens gleichermaßen auch für normatives Orientierungswissen. Die entscheidende Frage ist natürlich die nach den mutanda. (1) Die Orientierungsrolle des deskriptiven Orientierungswissens gegenüber der Vielfalt sinnlicher Eindrücke korrespondiert mit der Rolle normativen Orientierungswissens gegenüber der Vielfalt moralischer Intuitionen. So wie den sinnlichen Eindrücken konkrete deskriptive Propositionen entsprechen und in Gestalt von Überzeugungen Eingang in den Korpus deskriptiven Orientierungswissens finden, so entsprechen moralische Intuitionen moralischen Propositionen, die in Gestalt konkreter moralischer Überzeugungen Eingang in das normative Orientierungswissen finden. (2) Der tägliche Bewährungstest, dem die Inhalte des deskriptiven Orientierungswissens unterworfen sind, entspricht einem täglichen Bewährungstest angesichts auftretender Entscheidungs- und Beurteilungssituationen. Ein nicht bestandener Bewährungstest äußert sich letztlich immer, d. h. für beide Bereiche, in einer Kollision von Überzeugungen. Es gibt weder für deskriptives noch für normatives Orientierungswissen eine letzte Instanz außerhalb des Wissenskorpus. (3) Eine umfassende Skepsis ist gegenüber unserem normativen Orientierungswissen ebenso wenig möglich wie gegenüber dem deskriptiven. Eine Lebensform bringt nicht nur deskriptive Überzeugungen, sondern auch normative zum Ausdruck. Handelnd offenbaren wir gleichermaßen deskriptive wie normative Überzeugungen, denn das Handeln liegt an der Nahtstelle dieser beiden Bereiche. In der Sprache der Entscheidungstheorie: Eine rationale Entscheidung offenbart im Kontext andere Entscheidungen, zwei Arten propositionaler Einstellungen, solche, die sich auf das, was der Fall ist, und solche, die sich auf das, was wertvoll ist, beziehen. Die eine Lebensform bestimmende Kette von Handlungen repräsentiert zwei Bewertungsfunktionen: eine epistemische Wertfunktion als Repräsentation subjektiven Meinens und eine konative Wertfunktion als Repräsentation subjektiven Fürwertvoll-haltens. Handelnd bringen wir Überzeugungen zum Ausdruck, eine umfassende Skepsis ist daher (pragmatisch) nicht möglich.
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(4) Auch gegenüber den Elementen des normativen Orientierungswissens ist ein lokaler Fallibilismus vernünftig. Die Erfahrung, daß auch zuvor als hochgradig gewiß angenommene Überzeugungen sich nicht bewähren und aufgegeben werden müssen, überträgt sich auf einen Großteil des jeweiligen Wissenskorpus. Jedes einzelne Element, auch wenn es vor dem gegebenen Hintergrund anderer Überzeugungen akzeptiert ist, kann einer kritischen Prüfung unterzogen werden. (5) Fundamentale normative Überzeugungen, also solche die in zahlreichen Begründungszusammenhängen eine Rolle spielen, sind nicht lokal, sondern nur holistisch, also durch umfassende Kohärenzgewinne bedroht. (6) Die Unterbestimmtheit der Systematisierung des normativen Orientierungswissens läßt fundamentale normative Annahmen gelegentlich als zweifelhaft erscheinen. Der robuste moralische Realismus unseres normativen Orientierungswissens erlaubt es dabei nicht, die auftretenden Konkurrenzen fundamentaler normativer Annahmen instrumentalistisch zu entschärfen. Ich sehe keine plausible Perspektive, unter der man zugleich eine umfassende Skepsis gegenüber dem deskriptiven Orientierungswissen als abwegig, eine umfassende Skepsis gegenüber dem normativen Orientierungswissen allerdings für begründet ansehen könnte. Die weitgehende Analogie zwischen deskriptivem und normativem Orientierungswissen läßt eine derartige Ungleichbehandlung als willkürlich, ja irrational erscheinen.
2. Deskriptives Orientierungswissen vs. wissenschaftliches Wissen Im Gegensatz zum weitgehend analogen Verhältnis von normativem und deskriptivem Orientierungswissen sind die Rollen von deskriptivem Orientierungswissen und wissenschaftlichem Wissen sehr unterschiedlich: (1) Unser deskriptives Orientierungswissen ist weitgehend unabhängig von wissenschaftlich erhobenen Daten und wissenschaftlichen Theorien. Zwar fließen wissenschaftliche Theorien im Laufe der Zeit in das deskriptive Orientierungswissen ein und beeinflussen die Begründungsstrukturen. Diese Beeinflussung ist jedoch erratisch und bleibt meist lokal beschränkt. Das physikalische Alltagswissen lehnt sich noch heute zum Teil an die aristotelische Physik an (ohne Kraft keine Bewegung etc.), es tut sich in der Regel schon schwer, die Newtonsche Mechanik angemessen zu berücksichtigen und ist, von gelegentlichen konfusen Diskussionen abgesehen, völlig unbeeinflußt geblieben von der modernen relativistischen und erst recht von der quantentheoretischen Physik. Letzteres mag man zu einem Teil damit erklären, daß relativistische und Quantenphänomene im Mesokosmos, in der Welt mittelgroßer, trockener, zeitlich weitgehend stabiler und nur langsam bewegter Gegenstände eine untergeordnete Rolle spielen. Auf die Newtonsche Physik läßt sich diese Erklärung allerdings nicht übertragen. Diese weitgehende Unabhängigkeit des deskriptiven Orientierungswissens von wissenschaftlichem Wissen zeigt sich besonders auffällig für denjenigen Bereich des deskriptiven Orientierungswissens, der sich auf die Interpretation menschlichen Handelns - eigenem und fremdem - bezieht. Die Alltagspsychologie (folk psychology) erweist sich als weitgehend resistent gegenüber wissenschaftlichen Prägungsversuchen. Selbst
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die Psychoanalyse mit ihren Deutungsmustern prägt die Alltagspsychologie nur marginal, etwa in der Weise, daß viele vermuten, daß über die Erklärungsmuster der Alltagspsychologie hinaus weitere verfügbar sind, die für erfolgreiche alltägliche Interaktionen unter Normalbedingungen unnötig sind, die allerdings dann Hilfestellung leisten können, wenn die vertrauten Interaktionsmuster in Situationen, die als psychische Krisen empfunden werden, zerbrechen. Die wechselseitige Wahrnehmung als intentionale Wesen, als Individuen, deren Handeln aufgrund ihrer epistemischen und konativen Einstellungen verständlich (hinreichend rational) ist, und die kommunikativ aufeinander einwirken, um eigene (eigenorientiertes Handeln), gemeinsame (kooperatives Handeln) und fremde (altruistisch motiviertes Handeln) Ziele zu verfolgen, ist unverzichtbar. Die Wahrnehmung der anderen Person als intentionales und hinreichend rationales Wesen verlangt nach einem gemeinsamen Bestand mentaler und speziell intentionaler Begriffe und Theorien. Die Alltagspsychologie ist ein hochgradig differenziertes, in die Lebenswelt eingebettetes und die Lebenswelt prägendes Instrumentarium erfolgreicher Interaktion. Dieses Instrumentarium funktioniert ohne wissenschaftliche Psychologie, wie Kulturvergleiche zeigen, mindestens ebenso gut wie unter ihrer Einbeziehung. Inhaltlich ist dieser Teil des deskriptiven Orientierungswissens konstitutiv für jede Gesellschaftsform und zugleich resistent gegenüber revolutionären, auch wenn wissenschaftlich motivierten Veränderungen. (2) Das deskriptive Orientierungswissen ist lokal fallibel, aber resistent gegenüber revolutionären Veränderungen. Das deskriptive Orientierungswissen kennt keine Analogie zu wissenschaftlichen Revolutionen. (3) Die Systematisierungs- und Kohärenzzwänge sind für das deskriptive Orientierungswissen und innerhalb der unterschiedlichen Teile des deskriptiven Orientierungswissens jeweils schwächer ausgeprägt als für das wissenschaftliche Wissen insgesamt und für die einzelnen Disziplinen separat betrachtet. Man könnte dies zu dem Motto zuspitzen: Orientierung geht hier vor Erklärung und Begründung. Für die Wissenschaft gilt das Umgekehrte: Erklärung und Begründung geht vor Orientierung. Orientierung ist ein Begleitphänomen wissenschaftlicher Forschung, nicht ihr zentrales Movens. Hier liegen die Grenzen einer Finalisierung der Wissenschaft, wie sie in den siebziger Jahren diskutiert wurde. (4) Die weitgehende Unabhängigkeit deskriptiven Orientierungswissens von wissenschaftlichem Wissen gilt aber nur in einer Richtung: Wissenschaftliche Theoriebildung setzt einen robusten Bestand gemeinsamer deskriptiver Überzeugungen voraus, die den wissenschaftlichen Diskurs und den Forschungsprozeß insgesamt erst ermöglichen. Ohne ein elementares Grundvertrauen in unsere Sinneswahrnehmungen, ohne eine zutreffende Einschätzung der Verläßlichkeit von Auskünften anderer, ohne die gemeinsame Lebenswelt des Mesokosmos würde der Prozeß wissenschaftlicher Aufklärung erst gar nicht in Gang kommen können. Deskriptives Orientierungswissen ist für wissenschaftliches Wissen unverzichtbar, während wissenschaftliches Wissen für deskriptives Orientierungswissen verzichtbar ist. Wissenschaftliches Wissen hat gegenüber dem deskriptiven Orientierungswissen keinen begründenden, bestenfalls einen rekonstruktiven Status. Die alltäglichen deskriptiven Überzeugungen, die unser Handeln leiten, werden nicht durch wissenschaftliche Theorien erzeugt. Wissenschaftliche Theorien tragen dazu bei, daß unterschiedliche Überzeugungen aus dem Korpus unseres deskriptiven Orientierungswissens durch allgemeine (wissen-
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schaftliche) Propositionen miteinander verknüpft werden, im günstigsten Fall lassen sie sich als Folgerungen aus einem gesetzmäßigen Zusammenhang rekonstruieren. Wissenschaftliche Theorien haben dabei in dem Sinne keinen begründenden Status gegenüber deskriptivem Orientierungswissen, als sie dessen subjektive Gewißheit in der Regel unbeeinflußt lassen. (5) Das deskriptive Orientierungswissen stützt sich auf ein hohes Maß interpersoneller Übereinstimmung. Dies gilt zumindest innerhalb eines kulturellen Kontextes. Das Faktum der Verständigung über unterschiedliche kulturelle Kontexte hinweg macht deutlich, daß es einen großen Überlappungsbereich der Übereinstimmung gibt. Konkurrierende wissenschaftliche Theorien können innerhalb einer scientific Community vertreten werden, ohne daß diese deswegen auseinanderbrechen muß. Der wissenschaftliche Wissenskorpus ist einem deutlich geringeren Vereinheitlichungsdruck ausgesetzt. Deskriptives Orientierungswissen verträgt Dissense dagegen nur in einem sehr begrenzten Ausmaß. Der Grund für diese Differenz liegt darin, daß die Lebensform von wissenschaftlichen Überzeugungen (weitgehend) unabhängig ist. Mit der Akzeptanz einer wissenschaftlichen Theorie entscheidet man sich nicht zugleich für eine spezifische Lebensform. Prominente Ausnahmen, wie theoriegeleitete, politisch motivierte Lebensformen und ihr regelmäßiges Scheitern - das Scheitern wissenschaftlich konstruierter, „utopischer" Lebensformen - sind eher Beleg als Widerlegung dieser Einschätzung. (6) Unser deskriptives Orientierungswissen begrenzt den Spielraum, innerhalb dessen wissenschaftliche Theorien möglich sind. Eine weitgehende Kompatibilität wissenschaftlicher Theorien mit unserem deskriptiven Orientierungswissen ist ein Prüfstein ihrer Plausibilität. Dies schließt allerdings eine begrenzte Revision des deskriptiven Orientierungswissens durch die Entwicklung und Bewährung wissenschaftlicher Theorien nicht aus. Während die rationalistische Tradition dem deskriptiven Orientierungswissen mißtraute und dem wissenschaftlichen Wissen die Aufgabe zuwies, das deskriptive Orientierungswissen neu (auf wissenschaftlicher Grundlage) zu konstruieren, ist nach dem grandiosen Scheitern dieses neuzeitlichen Projektes deutlich geworden, daß nicht nur die Reichweite wissenschaftlicher Theorien beschränkt ist, sondern ebenso ihre Konfliktfähigkeit mit zentralen Elementen unseres deskriptiven Orientierungswissens. Revisionen müssen sich lokal begrenzen lassen und müssen sich im Rahmen der gegebenen Begründungsstrukturen des deskriptiven Orientierungswissens darstellen lassen. Das Verhältnis zwischen deskriptivem Orientierungswissen und wissenschaftlichem Wissen ist im Wesentlichen komplementär. Wissenschaftliches Wissen kann den Korpus deskriptiven Orientierungswissens erweitern und in Fällen intern konkurrierender Alltagsüberzeugungen Klarheit schaffen.
3. Normatives Orientierungswissen vs. Ethik Normatives Orientierungswissen verhält sich zur Ethik in weitgehender Analogie zum Verhältnis deskriptiven Orientierungswissens und wissenschaftlichen Wissens. (1) Unser normatives Orientierungswissen ist weitgehend unabhängig von ethischer Theoriebildung.
Normatives
Orientierungswissen
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(2) Die alltäglichen moralischen Überzeugungen, die unser Handeln leiten und damit unsere Lebensform insgesamt bestimmen, sind subjektiv gewisser als ethische Theorien. (3) Die Systematisierungs- und Kohärenzzwänge sind im Bereich unseres normativen Orientierungswissens schwächer ausgeprägt als innerhalb der ethischen Theoriebildung. (4) Normatives Orientierungswissen ist ohne Ethik denkbar, während Ethik ohne normatives Orientierungswissen nicht möglich ist. Die rationalistische ethische Tradition bestreitet das und versucht, ethische Theorien ohne Rückgriff auf moralische Überzeugungen unseres normativen Orientierungswissens zu entwickeln und zu begründen. Dafür werden vermeintlich selbstevidente ethische Axiome herangezogen oder die Logik der Moralsprache oder des Diskurses bemüht. Diese Formen des ethischen Rationalismus werden ihrem eigenen Anspruch jedoch nicht gerecht. Keinem dieser ethischen Ansätze gelingt es, den archimedischen Punkt außerhalb jeden normativen Orientierungswissens zu bestimmen. Die ethische Theorie bewährt sich darin, daß sie wesentliche Teile unseres normativen Orientierungswissens rational rekonstruiert. Erst dadurch gewinnt sie ihre begründende Kraft gegenüber moralischen Überzeugungen, die in unserem normativen Orientierungswissen nur schwach verankert sind oder die im Konflikt mit anderen Elementen unseres normativen Orientierungswissens stehen. Die Ethik hat also keinen begründenden Status gegenüber dem normativen Orientierungswissen in toto. Ihre Begründungsleistung bleibt lokal beschränkt. (5) Das normative Orientierungswissen stützt sich auf ein hohes Maß interpersoneller Übereinstimmung, da nur so die Koordination von Lebensformen in einer Gesellschaft möglich ist. Wie weit hier die Analogie geht, ist allerdings umstritten. Wissenschaftliches Wissen ist wie die Ethik universalistisch. Beide Wissensformen kennen keine kulturellen Grenzen. Ihr Begründungsanspruch besteht unabhängig vom kulturellen Kontext. Sollte sich normatives Orientierungswissen allerdings vom deskriptiven Orientierungswissen darin unterscheiden, daß es in deutlich höherem Maße von den jeweiligen kulturellen Prägungen abhängt, dann ergäbe sich in der Tat ein Problem für die ethische Theorienbildung. Der unversalistische Anspruch der Ethik ließe sich nur dann aufrecht erhalten, wenn die Revisionen, die von einer Systematisierung unseres normativen Orientierungswissens ausgehen, tiefgreifend genug sind, um interkulturelle Differenzen zu überbrücken. Die Überbrückung interkultureller Differenzen durch ethische Klärung ist eine Hoffnung, die das Erbe der Aufklärung bewahrt. Das rationalistische Projekt der Ethikbegründung versuchte diese Hoffnung zu erfüllen, indem sie die Ethik von unseren moralischen Alltagsüberzeugungen abkoppelte. Aber auch wenn dieses rationalistische Projekt als gescheitert gelten kann, so bleibt die Hoffnung auf eine schrittweise Überwindung kulturell geprägter Differenzen normativen Orientierungswissens dann begründet, wenn ethische Klärung zur Konvergenz moralischer Überzeugungen beiträgt. (6) Unter den Aspekten (1) bis (4) sind das Verhältnis deskriptives Orientierungswissen vs. wissenschaftliches Wissen und das Verhältnis normatives Orientierungswissen vs. Ethik ganz analog. Unter dem fünften, zuletzt genannten Aspekt der kulturellen Differenzen besteht ein, allerdings nur gradueller, Unterschied. Unter dem sechsten Aspekt allerdings zeigt sich eine deutliche Disanalogie: Während das zeitgenössische wissenschaftliche Wissen und das deskriptive Orientierungswissen heute weitgehend kompatibel sind, bestehen zwischen den wichtigsten Theorien der Ethik einerseits und unserem normativen Orientierungswissen
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Julian Nida-Rümelin
andererseits Unvereinbarkeiten in einem Ausmaß, das ihre Überwindung durch bloße Revision nicht erwarten läßt. Manche ziehen daraus den Schluß, daß unser normatives Orientierungswissen derart unzuverlässig ist, daß es nicht zum Ausgangspunkt der ethischen Theoriebildung taugt. Dann allerdings stellt sich die Frage, wie ethische Theoriebildung überhaupt möglich sein soll, da der rationalistische Ausweg nicht offensteht. Andere halten die Überzeugungen unseres normativen Orientierungswissens unverändert für vertrauenswürdig, geben jedoch den universalistischen Anspruch der Ethik auf. Sofern der ethischen Theoriebildung überhaupt noch eine Rolle eingeräumt wird, wäre diese auf die Systematisierung je vorfindlicher moralischer Überzeugungssysteme (unterschiedlicher Korpora normativen Orientierungswissens) zu beschränken. Der genuin ethische Anspruch einer Begründung moralischer Überzeugungen unabhängig vom jeweiligen (kulturellen) Standpunkt, wäre damit aufgegeben. Diese Situation erinnert an die Jugendzeit moderner Naturwissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert. Damals war das Verhältnis zwischen deskriptivem Orientierungswissen und wissenschaftlichem Wissen ähnlich dem heutigen Verhältnis zwischen normativem Orientierungswissen und Ethik: Wissenschaftliche Theorien traten, ohne sich hinreichend gegenüber dem deskriptiven Orientierungswissen bewährt zu haben, mit einem umfassenden Erklärungsanspruch auf. Dem deskriptiven Orientierungswissen wurde wenig Vertrauen entgegengebracht und die wissenschaftliche Theorie sollte dieses ab ovo neu und rational konstruieren. Folgerichtig wurde auch hier die Erkenntnisquelle außerhalb des deskriptiven Orientierungswissens gesucht. Diese Selbstüberhebung der Frühphase neuzeitlicher Wissenschaft wich im Laufe der Zeit dem bescheideneren Ziel einer Rekonstruktion deskriptiven Orientierungswissens und einem schrittweisen, disziplinar gegliederten und auf einzelne Forschungsgegenstände fokussierten Aufbau naturwissenschaftlicher Theorien. Bald stellte sich heraus, daß gute wissenschaftliche Theorien hinreichend spezifisch sind, um kritisch geprüft zu werden und daß diese Prüfung nur möglich ist, wenn die zentralen Elemente des deskriptiven Orientierungswissens unangetastet bleiben. Heute besteht eine sehr weit gehende Kompatibilität deskriptiven Orientierungswissens und wissenschaftlichen Wissens. Mein Optimismus speist sich aus dieser historischen Analogie. Eine Selbstbescheidung des ethischen Theorieanspruchs, verbunden mit einer Methode, die rationale Rekonstruktion unseres normativen Orientierungswissens mit lokaler Revision verbindet, räumt der ethischen Klärung im Rahmen unseres normativen Orientierungswissens einen angemessenen Ort zu. Das Projekt der Aufklärung bleibt aktuell, aber es muß sich in den Grenzen unserer Lebensformen entwickeln.
4. Handlungsorientierung Wir haben hier durchgängig unter Orientierungswissen solches Wissen verstanden, das Handlungen orientiert und damit Lebensformen Struktur gibt. In der Abbildung (375) ergeben sich zwei Arten propositionaler Einstellungen - epistemische und konative - aus zwei Arten von Orientierungswissen - deskriptivem und normativem. Die Kombination propositionaler und epistemischer Einstellungen äußert sich in konkreten Handlungen. Die rationale Entscheidungstheorie bietet einen begrifflichen Rahmen, der beide Arten propositionaler
Normatives Orientierungswissen
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Einstellungen durch reelwertige Funktionen darzustellen erlaubt und rationale Handlungen als erwartungswertmaximierende bezüglich dieser beiden Funktionen charakterisiert. Bei einer streng kohärentistischen Lesart, für die ich andernorts plädiert habe, bietet damit die Entscheidungstheorie nichts anderes als eine Präzisierung einiger elementarer Rationalitätsbedingungen, die wir an die konativen und epistemischen Einstellungen einer Person anlegen. Dazu gehört z. B. die Bedingung der Transitivität der Präferenzen. Es ist hier nicht nötig, diese kohärentistische Interpretation der Entscheidungstheorie näher auszufuhren und sie von der konsequentialistischen abzusetzen. Es genügt, sich klarzumachen, daß praktische Gründe (die rechte Seite der Abbildung) und theoretische Gründe (die linke Seite der Abbildung) über zwei miteinander verkoppelte Arten propositionaler Einstellungen zu vernünftigen Handlungsstrukturen fuhren. Nach einem verbreiteten philosophischen Verständnis beziehen sich theoretische Gründe auf Überzeugungen und praktische Gründe auf Handlungen. Diese Zuordnung ist unproblematisch, solange Rationalität nicht auf epistemische Einstellungen beschränkt wird und praktische Gründe als Ergebnis letztlich arationaler Wünsche, denen durch deskriptive Überzeugungen eine handlungsorientierende Kraft verliehen wird, angesehen werden. Beide Arten propositionaler Einstellungen sind Ausdruck von Überzeugungen - deskriptiven und normativen. Von Orientierungswissen sprechen wir nur dann, wenn es Handlungen prägt, und damit die Lebensform der betreffenden Person strukturiert. Orientierungswissen hat seine Verankerung in der Lebenswelt. Nur hier verknüpfen sich deskriptive und normative Überzeugungen über ihre begleitenden propositionalen Einstellungen zu Handlungen. Nur in der Lebenswelt untersteht deskriptives wie normatives Wissen einem besonderen Rationalitätstest, nämlich dem, ob es tauglich ist, Handlungen so zu orientieren, daß sie sich zu einer vernünftigen Lebensform fügen.
Kolloquium VIII Wirtschaftsethik
Peter Koslowski
Einführung: Globalisierung, Unternehmensführung und Wirtschaftsethik Wenn die Wirtschaftsethik als Teil der angewandten Ethik einen Beitrag zum guten Wirtschaften leisten soll, muß sie etwas zum Kernproblem der Wirtschaft und der Unternehmen, zur Unternehmensführung, beitragen. Die Frage, wie Unternehmen zu führen sind und was gute Unternehmensführung oder gutes Corporate Government bedeutet, ist von zentraler Bedeutung für die Wirtschaft und für den Wohlstand der Nationen. Durch Fehlsteuerung der Unternehmen und daraus folgende Konkurse geht Wohlstand, der hätte erzielt werden können, verloren, durch gute Unternehmensführung wird nicht nur materieller Wohlstand gemehrt, sondern auch die Wohlfahrt im umfassenden Sinne eines gelingenden Arbeitslebens gesteigert. Das Kolloquium Wirtschaftsethik stellte die Frage nach der Unternehmensführung und nach dem Beitrag, den die Wirtschafts- und Untemehmensethik unter den Bedingungen der Globalisierung zur Verbesserung der Unternehmensführung leistet, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Durch den Prozeß der Globalisierung ist das Aktionsfeld der Unternehmen vergrößert worden. Die Handlungsmöglichkeiten und damit die Aussichten des Erfolgs und des Scheiterns des Unternehmens sind durch den globalen „Weltbinnenmarkt" vermehrt worden. Die Anforderungen an die Unternehmensführung nehmen daher zu. Eine Wirkung des entstehenden Weltbinnenmarktes ist die neue Betonung der Steigerung des Shareholder Values, der Erhöhung des Aktienwertes des Unternehmens. Die Orientierung an diesem Prinzip wird durch den Wettbewerb der Unternehmen um Investoren im Weltmaßstab erzwungen. Zugleich erlaubt dieses Prinzip auch eine verstärkte Integration des Weltkapitalmarktes, weil für alle Unternehmen, die als Kapitalgesellschaften organisiert sind, dieselben Handlungs- und Gewinnerwartungen in den verschiedenen nationalen Märkten gelten. Peter Koslowski, Hannover und Witten/Herdecke, untersucht in seinem Beitrag die Reichweite des Shareholder Value-Prinzips in der Bestimmung dessen, was als der Zweck des Unternehmens anzusehen ist. Er stellt die Frage, warum das Shareholder Value-Prinzip
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Peter Koslowski
in das Zentrum der Debatte um die Unternehmensfiihrung geraten ist und welche Grenzen der Dominanz dieses Prinzips zu ziehen sind. Die Gefahren der Verschmelzung von Manager- und Eigentümerinteressen und der einseitigen Bevorzugung der Interessen der Anteilseigner vor den anderen „Stakeholders" des Unternehmens werden ebenso aufgezeigt wie der Beitrag des Shareholder Value-Prinzips zur Leistungssteigerung des Unternehmens und der Volkswirtschaft. In den künftigen Debatten zum Thema „Shareholder Value" ist zu fragen, ob die zunehmende Selbstzuteilung von Aktienoptionen durch das Management von Firmen an sich selbst nicht Merkmale von Insider Trading aufweist. Lee A. Tavis, Notre Dame, Indiana, USA, untersucht die Wirkung der Globalisierung auf die Unternehmensfuhrung und auf die Steigerung der Produktivität und des Wachstums der Unternehmen, die aus der verstärkten Integration des Finanz- und Wirtschaftssystems in der Welt folgt. Er untersucht auch die Ungleichheit, die mit diesem Prozeß entsteht. Tavis stellt zwei Modelle des Zwecks des Unternehmens, das Shareholder-Modell und das Stakeholder-Modell, in das Zentrum seiner Überlegungen. Er betont die Wirkung des Shareholder-Modells für eine Steigerung der wirtschaftlichen Dynamik und die Wirkung des Stakeholder-Modells, den Schutz der Grundrechte der Person zu gewährleisten. Die zunehmende Macht der Großunternehmen verstärkt die Spannung zwischen dem Ziel der Steigerung des Shareholder Value und dem Ziel der Sicherung der Stakeholder-Rechte. Josef Wieland, Konstanz, stellt die Bedeutung der Wirtschaftsethik als Mittel der Führung und Steuerung der Organisation der Wirtschaft in das Zentrum seines Beitrags. Er entwickelt die Wirtschaftsethik ausgehend vom Begriff der Organisation, den die Philosophie zu wenig beachtet habe, und fragt, wie moralische Ansprüche in die Normierung und Steuerung von Organisationen eingebaut werden können. Die Wirtschaftsethik ist für ihn eine spezifische Kompetenz der Wirtschaftsorganisation, die Intensität der Kooperation und damit die wirtschaftlichen Vorteile aus gesteigerter Kooperation im Unternehmen zu erhöhen. Er kritisiert die Idee der Überordnung der Ethik über ökonomische Kriterien im Unternehmen als Versuch, der Ethik einen „Wettbewerbsvorteil" zu verschaffen. Vielmehr müsse die Wirtschafts- und Unternehmensethik wie alle anderen Normen zeigen, welchen Beitrag sie zur Steigerung der Produktivität und der Kooperation im Unternehmen leistet. Cornelius Fetsch, Düsseldorf, untersucht die Rolle der Wirtschaftsethik in der Unternehmensfiihrung aus der Sicht des Großunternehmens und der Praxis der Unternehmensfiihrung. Er zeigt, welche Bedeutung der Globalisierung für den Einkauf des Großunternehmens auf den Weltmärkten zukommt und welche Rückwirkung von der Globalisierung auf die Geschäftstätigkeit des Großunternehmens ausgeht. Er weist jedoch auch auf die weiterhin bestehende lokale Verwurzelung des Unternehmens hin. Fetsch diskutiert ebenso die Chancen der Globalisierung wie die „Angst vor der Weltwirtschaft". Dem Management des Wissens kommt im Großunternehmen in der globalisierten Wirtschaft besondere Bedeutung zu. Die Dissemination des Wissens im Großunternehmen muß gegen Tendenzen der Wissenszurückhaltung und der Privilegierung des Zugangs zu Wissen vorangetrieben werden. Zentrale Bedeutung kommt dem interkulturellen Management in jenen Großunternehmen zu, die Mitarbeiter und Kunden unterschiedlicher Kulturen der Welt vereinigen. Fetsch gibt schließlich ein Beispiel für die Ausformung von Verhaltensnormen in einem „Code of Conduct" für die Zulieferer in der Belieferung mit Waren im Großunternehmen.
Kolloquium VIII - Einfiihrung
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Die Diskussion der Vorträge auf dem Kongreß betonte vor allem die Frage, inwieweit Ethik als funktionales Steuerungselement im Großunternehmen anzusehen ist und wie der Eigenstand der Ethik gegenüber rein ökonomischen Normen zu sichern ist. Es wurde in der Diskussion darüber Einigkeit erzielt, daß die Philosophie ihren spezifischen Beitrag zur Ausbildung einer Wirtschaftsethik, zur Begründung und zur Vermittlung von richtigen Normen des Wirtschaftens und der Unternehmensfuhrung leisten muß und daß hierzu eine noch größere spezifisch philosophische Anstrengung als bisher erfolgen muß.
Peter Koslowski
Die Globalisierung und die Rolle der Wirtschaftsethik in der Unternehmensfuhrung 1. Einleitung Die Frage der Unternehmensfuhrung ist zu einem entscheidenden Problem der Wissensgesellschaft geworden, weil die Unternehmen und vor allem die Großunternehmen sich zu zentralen Institutionen der Bildung und Verwertung von Wissen entwickelt haben. Die vernünftige Verwendung dieses Wissens wiederum erfordert das Wissen um die vernünftige Unternehmensfuhrung und um die vernünftige Verwendung des Managementwissens. Corporate governance, Unternehmensfuhrung, ist zu einem zentralen Thema geworden, dem sich die Wirtschaftswissenschaft und die Rechtswissenschaft widmen. Die Wirtschaftsethik als philosophische Disziplin hat sich erst seit kurzem dem Problem der Unternehmensfuhrung oder des corporate governance zugewendet, weil die Philosophie die Bedeutung des Unternehmens in der modernen Gesellschaft erst spät erkannt hat. Das moderne Unternehmen ist jedoch eine zentrale Institution der Wissensgesellschaft, die zunehmend Funktionen des Staates, dem sich die Philosophie bisher in der Form der Staatsphilosophie zugewendet hat, übernimmt. Staatliche Zoll- und Sicherheitsaufgaben werden zunehmend von Unternehmen übernommen, die Privatisierung staatlicher Unternehmen ist in vollem Gang. Manche Unternehmen übertreffen in ihrem Umsatz das Sozialprodukt kleiner Staaten, und ihre Unternehmensleitungen können mit der Drohung der Abwanderung die Gesetzgebung ganzer Staatengruppen wie der EU beeinflussen. Wo viel Macht ist, muß auch viel Reflexion und Analyse ihres Gebrauchs sein. Dies ist seit Piaton ein Argument für die Notwendigkeit der politischen Philosophie, die die Bedingungen guter Regierung und guten Machtgebrauchs reflektiert. Für die Wirtschaftsphilosophie und Wirtschaftsethik gilt dieselbe Aufgabenstellung. Weil die Unternehmen und vor allem die Großunternehmen das Leben so vieler Menschen beeinflussen, müssen die Bedingungen, unter denen ihre Regierung gut genannt werden könnte, analysiert und beschrieben werden. Governance heißt nichts anderes als Regierung und Lenkung. Daß ein Zentralbegriff der politischen Philosophie, derjenige der Regierung, auf die Großunternehmen übertragen wurde, zeigt, daß es hier um Fragen geht, die die übliche Trennung von Privatwirtschaft und öffentlichem Bereich, Gesellschaft und Staat, transzendieren. Das corporate governance liegt zwischen der Sphäre des Privatrechts der Wirtschaft und dem öffentlichen Recht politischer Regierung. Der zunehmenden Überlappung der wirtschaftlichen und der politischen Sphäre entspricht es, daß die Öffentlichkeit nicht nur von den Unternehmen „good governance" verlangt, sondern umgekehrt auch die Wirtschaft vom Staat. So gehen die neueren Überlegungen der Weltbank dahin, die Vergabe von Krediten an Länder an Bedingungen guter politischer Regierung, an Rechtsstaatlichkeit der Regierung, der Gesetzgebung und der Verwaltung zu knüpfen. Die Weltbank trägt mit ihrer Forderung des „good governance" an die Regierungen ihren schlechten Erfahrungen Rechnung, die sie
Die Globalisierung und die Rolle der Wirtschaftsethik
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mit dem Versickern ihrer Kredite in korrupten Regierungen, aber auch mit der wachstumshemmenden Wirkung von Diktaturen und ineffizienten Verwaltungen von Schuldnerländern gemacht hat. Von Seiten einer Theorie der politischen Legitimation stellen solche Entwicklungen nicht nur eine Herausforderung an die Wirtschaftsethik, sondern auch an die politische Philosophie dar. Wie kommen die Weltbank und damit die Geberländer internationaler Kredite dazu, souveränen Nationen Vorschriften über ihre politischen Institutionen und Handlungsweisen zu machen? Ein solcher Eingriff in die Souveränität der Staaten kann nur durch höherrangige Normen des Gemeinwohls gerechtfertigt werden. Legitimation erfährt der Eingriff in die politische Souveränität und ihr „governance" durch die Unfähigkeit vieler Schuldnerländer, ihre Schulden zu begleichen. Der Schuldenerlaß für die hochverschuldeten und praktisch zahlungsunfähigen Länder gibt den Gläubigerländern die Macht und wohl auch die Legitimation, von den Schuldnerländern Reformen in Richtung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und des „good governance" zu verlangen, die als Voraussetzung der Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit und damit künftiger Kreditvergabe anzusehen sind. Im nationalen Maßstab verlangen deutsche Unternehmen von der Regierung ihres Landes in ähnlicher Weise wie die Weltbank von ihren Schuldnerländern politische Reformen bei der Besteuerung und beim Sozialstaat, also bei der politischen Verfassung ihres Standortlandes, und drohen mit der Verlegung ihres Firmensitzes, wenn der Staat ihren Forderungen nicht Folge leistet. Auch hier fordert die Führung von Unternehmen vom Staat „good governance" mit dem Hinweis auf die Bedingungen der Fortdauer erfolgreichen Wirtschaftens - allerdings ist der Staat weder der Schuldner dieser Länder noch zahlungsunfähig. Die umgekehrte Forderung des politischen Souveräns an die Großunternehmen nach deren „good corporate governance", daß sie gut wirtschaften und sich, wenn sie in dem betreffenden Land arbeiten wollen, an die Regeln des guten Wirtschaftens und der Besteuerung zu halten haben, wie sie die rechtsstaatliche Gesetzgebung und Verwaltung für dieses Land formuliert haben, scheint heute geringere Durchsetzungschancen zu haben. Großunternehmen können sich eher den Nationen als die Nationen den Großunternehmen entziehen. Die Drohung des Großunternehmens, den Standort zu verlassen, scheint stärker zu sein als die Drohung des Staates, den Zugang zum Standort zu versagen. Ein Beispiel für diese Zusammenhänge ist der deutsch-amerikanische Konzern DaimlerChrysler. Die ziemlich unverhohlene Drohung von DaimlerChrysler, den Firmensitz der Holding nach Amerika zu verlegen, wenn es selbst und alle anderen Unternehmen in Deutschland nicht geringer besteuert werden,1 ist nicht mit der Drohung der Bundesrepublik Deutschland beantwortet worden, dann die Möglichkeit der Teilfirmen der in den USA firmierenden Holding „DaimlerChrysler" einzuschränken, in Deutschland zu produzieren. Man könnte diese Frage nur als Machtfrage ansehen und sie daher als für die Philosophie uninteressant abtun. In Wirklichkeit geht es hier jedoch um grundlegende Fragen des „good governance" des Staates und des Großunternehmens, vor allem um die Frage, wie der Staat
1 Vgl. Hochsteuerland
Deutschland: Haut Daimler ab in die USA?, in: Bild-Zeitung vom 6. Oktober 1999.
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Peter Koslowski
und ein Großunternehmen wie z. B. DaimlerChrysler auf die Dominanz des ShareholderValue-Prinzips im Weltkapitalmarkt reagieren sollen und wie dieses Prinzip mit einer guten staatlichen Regierung und einer guten Unternehmensfiihrung zu vereinbaren ist. DaimlerBenz, und dann DaimlerChrysler, propagiert seit Jahren dieses Prinzip der Unternehmensführung, ist einer der Vorreiter seiner Einführung in Deutschland und beruft sich seit dem März 1999 mit seiner Androhung, den Firmensitz in die USA zu verlegen, auf dieses Prinzip und auf die Zwänge, die es erzeuge. Die Frage, um die es geht, ist, was als die Aufgabe und der Zweck der Firma, was als Erfüllung dieses Zwecks oder dieser Zwecke und daher als „good corporate governance" anzusehen ist. Wird der Zweck der Firma erschöpfend durch ihre Aufgabe beschrieben, das maximale Shareholder Value, also die maximale Steigerung der Rendite und des Börsenwertes der Unternehmensanteile für die Shareholder - die Anteilseigner - zu realisieren? Wenn man die Frage untersucht, ob der Zweck der Firma durch das Prinzip der Maximierung des Shareholder Value angemessen beschrieben wird, kommt man an der Frage nicht vorbei, warum das Prinzip des Shareholder Value so plötzlich in das Zentrum der Unternehmensführungsdebatte gerückt ist. Es gilt zu analysieren, wo die Orientierung am Shareholder Value nützlich ist und wo es sich bei der Betonung dieses Prinzips um eine Inversion von Zielen und Mitteln im Unternehmen handelt.
2. Warum ist das Shareholder-Value-Kriterium in das Zentrum des Interesses gerückt? Zwei Gründe und Entwicklungen rücken das Shareholder Value in das Zentrum der Debatte. Der erste Grund ist, daß der Wettbewerb um Kapital zwischen Firmen und zwischen Volkswirtschaften durch die Öffnung und Globalisierung der Weltwirtschaft zugenommen hat. Vor allem die Öffnung der früheren kommunistischen Volkswirtschaften hat eine neue Nachfrage nach Kapital hervorgerufen, die früher vom Weltkapitalmarkt durch den Eisernen Vorhang abgeschirmt war. Wenn der Wettbewerbsdruck auf die Nachfrage nach Kapital und auf diejenigen, die Investitionsmöglichkeiten anbieten, zunimmt, wird eine höhere Produktivität verlangt, weil mehr Firmen und Volkswirtschaften um denselben Kapitalstock konkurrieren. Wie der Faktor Arbeit eine höhere Produktivität erreichen muß, wenn er unter Wettbewerbsdruck gerät, muß auch der Faktor Kapital seine Produktivität steigern, wenn die Knappheit dieses Faktors und der Wettbewerb um ihn zunehmen. Das Ergebnis ist, daß eine höhere Kapitalrendite und ein höherer Shareholder Value vom Investor erwartet werden. Hinzukommt, daß der integrierte Weltmarkt eine größere Arbeitsteilung nach dem Prinzip erzeugt, daß der Grad oder die Tiefe der Arbeitsteilung von der Größe des Marktes abhängt. Zum anderen erlaubt der Weltmarkt höhere Produktionszahlen und daher steigende Skalenerträge, „increasing returns to scale". Steigende Skalenerträge bedeuten, daß die Stückkosten bei höheren Stückzahlen sinken. Der Wettbewerbsdruck verursacht eine Verbesserung der Leistung und einen Kostendruck, der entweder eine Verringerung der Produktion oder eine Steigerung der Kapitalpro-
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duktivität bewirkt, weil im Weltmarkt höhere Kapitalrenditen an anderen Orten der Erde erzielt werden können. Die Möglichkeiten für Kapitalinvestitionen an anderen Finanzplätzen nehmen zu, die wiederum die Erwartungen über die Entlohnung des Faktors Kapital steigern. Der Weltmarkt erhöht die Zahl der Möglichkeiten zu investieren und damit auch die Opportunitätskosten für jene, deren Kapital ineffizient investiert ist. Alle fortgeschrittenen Volkswirtschaften sind sowohl auf der Kapitalseite als auch auf der Seite der Arbeit durch die gesteigerten Möglichkeiten, Kapital zu investieren, und durch die Steigerung des Arbeitsangebotes im Zuge der Öffnung der gewaltigen Märkte fiir Investitionen und Arbeit, vor allem in China und Ostasien, unter Druck geraten. Der zweite Grund für das Interesse am Shareholder-Value-Prinzip ist die Beziehung zwischen Kapitaleignern und Management. Die gesteigerten Möglichkeiten fiir Investitionen setzen auch den dispositiven Faktor, das Management, unter Wettbewerbsdruck. Das Kapital hat aufgrund der erhöhten Zahl der Verwendungsalternativen mehr Möglichkeiten zur Abwanderung von einer Firma. Aufgrund dieser erhöhten Möglichkeiten zur Abwanderung der Anteilseigner können sie das Management durch Take-over-Drohungen verstärkt unter Druck setzen. Dies bedeutet auch einen erhöhten Druck auf das Management, höhere Kapitalrenditen oder ein höheres Shareholder Value als früher zu verdienen. Die Unternehmensführung soll durch eine stärkere Betonung der Shareholder-Value-Maximierung verbessert werden. Gegenläufig zu dieser Entwicklung ist jedoch, daß es zunehmend zu einer Fusion von Eigentümer- und Managerinteressen dadurch kommt, daß die Bezahlung des Managements nicht mehr über den Arbeitsvertrag allein, sondern über die Gewinnbeteiligung durch Übertragung von Aktien erfolgt.
3. Shareholder Value als Kontrollinstrument der Firma Der Profit einer Firma ist das Mittel, um das Sich-Drücken der Firmenmitglieder in ihren Aufgaben zu verhindern. In der Theorie von Alchian und Demsetz2 fungiert der Eigentümer als derjenige, der die Mitarbeiter der Firma daran hindert, sich um ihre Beitragsleistung zu drücken, und der Gewinn der Firma ist wiederum das Mittel, um den Eigner daran zu hindern, sich um die Pflicht zu drücken, das Sich-Drücken der anderen Firmenmitglieder zu verhindern. Das dahinterstehende Prinzip ist, daß, wenn der Eigentümer seine Kontrollfunktion nicht erfüllt, der Residualgewinn sinkt, und er durch verringerten Gewinn oder gar Verlust bestraft und dadurch gezwungen wird, seine Aufgabe zu erfüllen, das Sich-Drücken in der Firma zu verhindern. Das Shareholder-Value-Prinzip mit seiner Betonung der Maximierung des „Cash-flows" der Zukunft verändert das Verständnis des Gewinns als Residualgewinn. Der Gewinn wird nicht mehr als eine Zahl der Vergangenheit, sondern als erwarteter künftiger Residualgewinn gemessen. Die Firma muß den zukünftigen Gewinn maximieren, der in den Dividenden und in der Steigerung des Wertes der Anteile an der Börse gemessen wird. Das Mana2 Alchian/Demsetz 1977.
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gement muß dafür Sorge tragen, daß der künftige Residualgewinn nach Abzug aller Kosten maximiert wird. Diese Orientierung am künftigen Residualgewinn mit all den Problemen, die die Voraussage einer zukünftigen Investitionsrendite mit sich bringt, ändert aber die grundsätzliche Natur des Gewinns nicht. Gewinn und Shareholder Value sind aus der Sicht der Firma jedoch nicht der Endzweck der Firma, sondern ein instrumentelles Ziel. Sie sind das Mittel, um das Sich-Drücken zu verhindern und sicherzustellen, daß alle Mitglieder der Firma ihre vertraglich vereinbarten Beitragsleistungen an die Firma in optimaler Weise leisten. Von allen Mitgliedern trifft es jedoch nur für die Gruppe der Anteilseigner zu, daß der Unternehmensgewinn und der Wert ihrer Anteile zugleich ihr individuelles Ziel sind. Für alle anderen Gruppen ist dieses Ziel nur von Interesse als ein Mittel, um den Erfolg der Firma als Ganzer sicherzustellen, nicht jedoch als ein Endzweck in sich selbst, den sie zu ihrem eigenen Zweck machen können. Das bedeutet, daß das Shareholder Value nur in einer sehr vermittelten Weise als der Zweck der Firma bezeichnet werden kann. Es ist vor allen Dingen der Zweck einer Gruppe der Firma, der Anteilseigner, und sein Vorrang unter den Zielen der anderen Gruppen der Firma kann nur gerechtfertigt werden durch seine Aufgabe, das Sich-Drücken der Eigner zu verhindern, die wiederum das Sich-Drücken aller anderen Firmenmitglieder verhindern. Aus der Sicht der Firma als einer sozialen Einheit und Organisation kann das Shareholder Value nicht als der zentrale Zweck der Firma angesehen werden, sondern nur als ein Kriterium des Erfolgs der Firma. Als ein künftiges Residuum kann das Shareholder Value als eine Kontrollvariable für die anderen Ziele der Firma und für ihren Erfolg gelten. Die Tatsache, daß das Shareholder Value ein Residuum ist und es auch dann bleibt, wenn es in die Zukunft projiziert wird, kann nur implizieren, daß es nicht das erste Prinzip oder der erste Zweck der Firma ist. Ein residuales Kontrollprinzip bleibt, was es ist: ein Kontrollprinzip, und nicht der Endzweck einer Organisation.
4. Der Zweck der Firma Die Debatte um das Shareholder Value gehört in die Diskussion um die Zwecke oder Ziele des Unternehmens. Die Firma ist nicht eine Ein-Zweck-Institution. Jede Firma hat viele Zwecke. Die verschiedenen Gruppen der Firma haben ihre eigenen Zwecke, die sie in der Firma zu verwirklichen suchen. Die Arbeitnehmer erwarten hohe Löhne von der Firma, die Kunden erwarten optimale Güter von der Firma, die Anteilseigner erwarten eine maximale Rendite für ihre Investitionen und die Gesellschaft erwartet hohe Steuerzahlungen und Wohltätigkeits- und Sponsoring-Maßnahmen von der Firma. Einige dieser Ziele sind konfligierend, wie das Ziel des maximalen Lohnes und das Ziel des maximalen Gewinns der Eigentümer, andere sind komplementär. Wenn man einen ersten Zweck oder eine Endzwecklichkeit der Firma auszeichnen will, ist es offensichtlich, daß keines der Ziele dieser partikularen Gruppen, die die Firma bilden, der einzige Zweck der Firma sein kann, weil die anderen Gruppen auch ein Recht zur Verfolgung ihres Zweckes innerhalb der Firma haben. Wenn es einen Hauptzweck der Firma
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gibt, muß dieser ein Zweck sein, dem alle Gruppen der Unternehmung zustimmen könnten. Die Zustimmungsfähigkeit des Hauptzwecks erfordert es, daß er für alle Mitglieder der Firma und für die Gesellschaft als Ganze nützlich sein muß. Da alle Mitglieder der Firma und alle Mitglieder der Gesellschaft in irgendeiner Weise auch Konsumenten sind, entweder in direkter Weise als Konsumenten der Firma, die in Frage steht, oder als Konsumenten derjenigen Güter, für welche das Produkt der fraglichen Firma eine Vorleistung ist, muß man schließen, daß der Zweck der Firma, der die größte Allgemeinheit beanspruchen kann, ihr Zweck ist, Konsumentennutzen durch ihre Produkte zu realisieren. Alle Mitglieder der Firma sind Konsumenten und daher am Maximum der Produktivität der Firma interessiert, die wiederum zu optimalen Produkten führt. Nicht alle Mitglieder der Firma sind jedoch Anteilseigner. Der Zweck der Anteilseigner wird deshalb nicht der Zweck aller anderen Firmenmitglieder sein. Daraus kann geschlossen werden, daß der Zweck der Firma die Produktion optimaler Güter oder optimaler Vorleistungen für andere Güter unter der Bedingung ist, daß die Ziele der Hauptgruppen in der Firma oder der Gruppen, die durch die Arbeit der Firma berührt werden, dabei auch Berücksichtigung finden. Der Zweck der Firma ist die Produktion optimaler Güter unter der Bedingung, daß die Ziele der Zahlung angemessener Löhne, der Zahlung angemessener Dividenden und der Zahlung angemessener Preise an die Lieferanten mit dem Zweck der Produktion optimaler Güter zugleich erfüllt werden. Die notwendige Bedingung für die Existenz der Firma und der Hauptzweck, für den die Firma ins Dasein getreten ist, bildet die Produktion von Gütern, nicht die Produktion von Gewinnen oder Anteilswerten. Dieser Hauptzweck der Firma kann nur verwirklicht werden, wenn ausreichende Renditen verdient werden, und in diesem Sinn ist die Realisierung von Shareholder Value eine Bedingung für die Realisierung des Hauptzwecks der Firma, sie ist jedoch nicht die erste Bedingung. Der Hauptzweck der Firma, die Produktion von optimalen Gütern, erfordert es, daß die Firma produktiv und effizient ist. Wie diese Produktivität und Effizienz erreicht wird, ist eine zweitrangige Frage. Da es der Zweck und die Aufgabe des Wirtschaftsunternehmens ist, die Gesellschaft mit den besten Produkten, die zu den niedrigsten Opportunitätskosten erstellt werden, zu versorgen, sind auch jene Bedingungen Pflicht, die die Erzielung dieses Zweckes sicherstellen, die Rentabilität des Unternehmens. Das Mittel, um die Zweckerfüllung der Firma sicherzustellen, ist jedoch nicht der erste Zweck der Firma. Wenn der Zweck der Firma, die Pröduktion optimaler Güter, am besten durch Markteffizienz und die Maximierung des Shareholder Value erreicht werden kann, sind sie die besten Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn dieses Ziel durch andere Mittel oder durch andere Mittel besser erreicht werden kann, dann müssen diese Mittel ergriffen werden. Die Produktivität ist die Pflicht der Firma unabhängig von der Effizienz des Marktes.3
3 Diese Tatsache wird betont von Lee A. Tavis: The Moral Issue in Allocating Corporate Resources. Shareholders Versus Stakeholders, Vortrag auf der Tagung „The Nature and Purpose of the Business Organization Within Catholic Social Thought", 14. August 1998, University of St. Thomas, Minneapolis/St. Paul, USA. (Erscheint im Kongreßband, der von M. Naughton herausgegeben wird.)
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Es ist ein Prinzip der aristotelischen Naturrechtstradition, daß die Verpflichtung aus der Natur der Sache entsteht: Obligatio oritur a natura rei.4 Dieses Prinzip nimmt auch eine zentrale Stellung in der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs ein. Die Rechtsidee und Idee der rechtlichen Verpflichtung wird nach Radbruch vom Zweck des zu regelnden Rechtsbereiches, vom Prinzip der Rechtsgleichheit und vom Prinzip der Rechtssicherheit oder der sicheren Rechtserwartungen bezüglich des Inhalts und der Durchsetzung des Rechts bestimmt.5 Angewendet auf die Theorie der Firma verlangt das Prinzip, daß die Verpflichtung aus der Natur und dem Zweck der Sache oder Institution abgeleitet wird, daß die hauptsächliche ethische und rechtliche Verpflichtung der Firma von ihrem Hauptzweck abgeleitet werden muß, und nicht von den Bedingungen, die die Realisierung ihres Zweckes sichern. Der erste Zweck der Firma ist jedoch nicht die Maximierung des Residualgewinns oder des Shareholder Value im Kapitalmarkt, sondern die Produktion optimaler Güter unter der Bedingung, daß die sekundären Ziele der Firmenmitglieder oder Stakeholder der Firma verwirklicht werden. Es ist ein Verdienst des Stakeholder-Ansatzes, daß er in die Theorie der Firma wieder die Idee, die in der finanziellen Theorie der Firma vergessen zu werden drohte, zurückgebracht hat, daß die Firma eine vielzweckliche Organisation und nicht eine Ein-ZweckInstitution ist, die nur für den Zweck der Maximierung des Vermögens ihrer Anteilseigner eingerichtet wurde. Der Stakeholder-Ansatz vermag jedoch keine Integration der verschiedenen Ziele der Stakeholder zu geben, sondern läßt diese auf gleichem Niveau unvermittelt nebeneinander stehen. Das Prinzip der Integration der Ziele der verschiedenen Stakeholder in das übergreifende Ziel der Firma wird in R. E. Freemans Theorie der Stakeholder nicht entwickelt.6 Die Ziele der Stakeholder sind dem Gesamtzweck der Firma untergeordnet, was bedeutet, daß ihre Ansprüche an den Totalertrag der Firma nicht nur durch ihre strategische Macht, die sie im Kampf mit den Ansprüchen der anderen Stakeholder-Gruppen ausüben können, begrenzt werden, sondern daß diese Ansprüche auch begrenzt werden durch die Forderungen, die die Firma als solche und ihre Erhaltung als Institution in der Zeit an alle ihre Mitgliedsgruppen stellen muß. Der Zweck und die Bedingung der Firmenexistenz, fortdauernd erstklassige Güter zu produzieren, bilden das Disziplinierungsprinzip und die Disziplinierungsmacht in den strategischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen Stakeholder-Gruppen. Es ist das zentrale Disziplinierungsprinzip neben dem Disziplinierungsmittel des Residuums oder der Maximierung des Shareholder Value. Produktivität als eine Verpflichtung und als der Zweck der Firma definiert den Hauptzweck der Firma und macht die anderen Zwecke zu untergeordneten Zwecken. Es bewirkt, daß die Shareholder-Value-Maximierung nur ein Zweck unter anderen ist, und zwar ein Zweck, der dem Produktivitätsziel untergeordnet ist,
4 Luis de Molina: De iustitia et iure, Madrid 1602; vgl. Koslowski 1982. 5 Radbruch 1973, 114. 6 Freeman 1984 und 1994.
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obgleich er als residuales Kontrollprinzip das Übergewicht hat unter den anderen Zwecken, die die Stakeholder der Firma auch noch haben und die in der Hierarchie der Zwecke unter dem Produktivitätsziel der Firma stehen. Der Zweck der Firma ist die Produktion ihres spezifischen Gutes oder Produkts, die Leistungserstellung für die Gesellschaft.
5. Shareholder Value als das Produkt und der Hauptzweck von Firmen Die Finanzinstitutionen Es gibt eine Gruppe von Firmen, in der das Produktionsziel der Firma mit dem Ziel der Maximierung des Shareholder Value zusammenfällt, die Finanzinstitutionen, in denen das Firmenprodukt die Maximierung des Shareholder Value ist, allerdings des Shareholder Value ihrer Kunden. In den Finanzinstitutionen wie Investmentbanken, Lebensversicherungsgesellschaften und Pensionsfonds ist das Shareholder Value nicht nur das Residuum, das die Gesamtleistung der Firma mißt, sondern das Produkt selbst, für das diese Firmen gegründet wurden. Diese Institutionen sind ins Dasein getreten, um ihren Kunden das Produkt oder die Dienstleistung der maximalen Rendite für ihre Investitionen, den maximalen Shareholder Value zu sichern. In diesen Wirtschaftsunternehmen ist das Shareholder Value der Hauptzweck der Firma, und die Gesamtfirmenleistung kann in der Maximierung des Shareholder Value ihrer Kunden gemessen werden. Eine Person, die ihre Ersparnisse an einen Investmentfonds gibt, kauft von dieser Firma das Produkt der Maximierung ihres Shareholder Value. Der Investmentfonds wiederum maximiert die Erfüllung seines Zwecks und erfüllt seine Verpflichtungen in optimaler Weise, wenn er das Shareholder Value seiner Kunden maximiert, nicht jedoch das Shareholder Value seiner eigenen Anteilseigner. In den Finanzinstitutionen und dem Wirtschaftszweig der Finanzdienstleister ist das Shareholder Value nicht nur eine residuale Bedingung für die optimale Arbeit der Firma, sondern das eigentliche Produkt der Firma und nimmt daher anders als in gewöhnlichen Firmen eine besondere Stellung ein.
6. Spill-over-Effekte von den Finanzinstitutionen auf die Industriefirmen: Dominanz der Shareholder-Value-Orientierung und Holding-Struktur Die westlichen Volkswirtschaften sind gegenwärtig durch eine Übertragung der institutionellen Bedingungen, die für die Finanzinstitutionen gelten, auf die Industrieunternehmen gekennzeichnet, eine Übertragung, die das Shareholder Value zum Alleinzweck des Unternehmens macht. Da in den Finanzinstitutionen das Shareholder Value des Kunden dasjenige Produkt ist, das diese Unternehmen verkaufen, ist das Shareholder Value das zentrale Kriterium ihrer Geschäftstätigkeit und ihres Geschäftserfolges. In den Finanzinstitutionen bildet das Shareholder Value den Zweck und das Kriterium oder die instrumentelle Kontrollvariable dieser Branche.
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Die besonderen Bedingungen der Branche der Finanzdienstleister wurden auf die Industriefirmen übertragen und führten zu der Annahme, daß auch in ihnen das Shareholder Value nicht nur die Kontrollvariable, sondern auch der Hauptzweck der Geschäftstätigkeit der Firma ist. Dieser Spill-over-Effekt der Finanzinstitutionen auf die Industrieinstitutionen hat eine Inversion des Shareholder-Value-Prinzips vom Kontrollprinzip zum Endzweck der Firma bewirkt. Da in den Finanzinstitutionen das Shareholder-Value-Prinzip als Kontrollprinzip der Institution zur gleichen Zeit ihr Zweck ist - obgleich es sich bei ersterem um das Shareholder Value der Unternehmenseigentümer und bei letzterem um das Shareholder Value der Firmenkunden, die Einlagen gemacht haben, handelt - war man versucht zu glauben, daß die Einheit des Shareholder-Value-Prinzips als Kontrollvariable und Endzweck auch für das Industrieunternehmen gilt und dessen ersten Zweck bildet. In der radikalen Version des Shareholder-Value-Ansatzes, wie er von Jensen und Meckling7 und anderen vertreten wird, findet eine Inversion von Firmenzweck und Kontrollprinzip der Firma statt. Der radikale Shareholder-Ansatz hält das Residuum und die Buchführung über den Firmenerfolg für den Endzweck der Firma. Das realisierte Shareholder Value ist die Buchführung über den Firmenerfolg, aber es ist nicht der Endzweck der Firma. Der spill-over von den Finanzinstitutionen zu den Industriefirmen ist besonders sichtbar in dem Siegeszug der Holding-Firma, ein Trend, der sich interessanterweise jedoch in jüngster Zeit trotz der Vorherrschaft des Shareholder-Value-Prinzips umgekehrt hat. In der Transformation der Industriefirma zu einem „conglomerate" und zu einer Holding-Firma, die nur als Überwachungsinstitution für die Investitionen der Firma in ihren unterschiedlichen Divisionen dient, wird die Firmenzentrale als eine Institution des Finanzdienstes für die Firma selbst angesehen, der sicherstellt, daß alle Divisionen der Firma das maximale Shareholder Value für die Holding-Gesellschaft erwirtschaften, ohne daß der materiale Zweck und das Produkt der Divisionen selbst für die Ziele der Holding große Bedeutung hätten. Für die Holding-Gesellschaft ist das Shareholder Value zum Zweck und zum Produkt der Firma in derselben Weise geworden, wie für den Investmentfonds die Maximierung des Shareholder Value der ursprüngliche Geschäftszweck und das Produkt ist. Für die HoldingGesellschaft sind die Produkte der Divisionen nur ein Mittel, um das Shareholder Value der Holding-Gesellschaft zu maximieren. Die Holding-Gesellschaft ist ein besonders gutes Beispiel für die Inversion von Mitteln und Zwecken. Sie impliziert, daß der Zweck der Firma, das Produkt, zu einem Mittel für die Steigerung des Wertes der Anteile wird, obgleich die Steigerung des Wertes der Anteile ursprünglich nur das Mittel für die Kontrolle und Sicherstellung des Zweckes war, daß die Firma gute Produkte produziert. Es ist erhellend, daß die neuesten Entwicklungen der Wirtschaft die Holding-Struktur als sehr viel weniger vorteilhaft erscheinen lassen, als es noch vor einigen Jahren angenommen wurde. Industriefirmen kehren zu ihrer ursprünglichen Stärke und Hauptaufgabe, der Produktion von Gütern ihrer Kernkompetenz, zurück und finden heraus, daß diese Strategie 7 Jensen/Meckling 1979.
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auch die profitabelste ist. Sie sehen sich selbst nicht mehr als Investmentfonds für ihr eigenes Kapital und ihre „Divisions" nicht mehr als bloße Investmentgelegenheiten für die Fonds ihres Eigenkapitals an. Das Begreifen des Shareholder Value als ein Kontrollprinzip stellt sicher, daß die Holding-Gesellschaft das Shareholder Value nicht als ihren Hauptzweck ansieht und auf diese Weise ihre optimale Leistungsfähigkeit verfehlt, sondern daß die Firma die Optimalität des Produkts und durch es ihre optimale Leistung sicherstellt. Das große Unternehmen kann das Shareholder Value nur maximieren, wenn es dieses als Kontrollprinzip und nicht als den Zweck seiner Geschäftstätigkeit ansieht. Es ist eine Tugend des Shareholder-Value-Prinzips als Kontrollprinzip, daß es insofern selbsterfüllend ist, als es sicherstellt, daß es seinen Zweck, den Erfolg der Firma, nur garantiert, wenn es nicht der Hauptzweck der Firma ist, weil es dann nicht das maximale Shareholder Value realisiert. Es gibt keine inhärente Tendenz im Shareholder-Value-Prinzip, selbst die Inversion von Mitteln und Zweck und seine Umkehrung vom Mittel der Erfolgssicherung zum Firmenzweck hervorzurufen.
7. Wirkungen der Inversion des Firmenzwecks auf die Unternehmensfiihrung: Spekulation statt Produktion Die Umkehrung des Firmenzwecks vom Produkt als dem ersten Zweck zur Maximierung des Shareholder Value als erstem Zweck verändert die Aufgabe des Managements: Neben die Produktionsaufgabe tritt die Spekulationsaufgabe, wie das Beispiel der HoldingGesellschaft zeigt. Die Vorstellung, daß durch die unsichtbare Hand des Marktes und die Verträge der Firma die Gesamtorientierung am Shareholder Value notwendig auch das Gemeinwohl der Firma realisiert wird, ist nicht haltbar. Es trifft zwar zu, daß die Industriefirma das Shareholder Value nur maximieren kann, wenn sie nützliche Güter produziert und die impliziten Verträge mit ihren Arbeitnehmern und ihren Kunden bis zu einem gewissem Grad einhält. Sie verwirklicht das Gemeinwohl der Firma jedoch nur „irgendwie" und „auf dem Rücken" der Shareholder-Value-Maximierung, weil der neue Gesamtzweck der Firma, die Maximierung des Shareholder Value, im zunehmenden Maße durch Kapitalmarktspekulation verwirklicht wird. Da die Aktienkurse an der Börse den wirklichen Wert der Produktivität der Firma nicht bloß widerspiegeln, sondern auch das Resultat bloßer Spekulation sind, hat das Management ein Interesse daran, sich mit der Spekulation und der Manipulation des Aktienkurses der eigenen Firma und damit ihres Shareholder Value zu beschäftigen. Diese Ablenkung der Aufmerksamkeit und Absicht des Managements von der Hauptaufgabe der Firma, dem Produkt, zum zweitrangigen Ziel der Firma, der Maximierung des Shareholder Value, führt zu zwei schädlichen Wirkungen: 1) Sie schafft erstens perverse Anreize für das Management, sich mehr für Spekulation als für Produktion zu interessieren oder sich zumindest zu sehr für Spekulation zu interessieren, statt sich auf die Produktion zu konzentrieren. Dies hat zweitens ei-
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ne Kurzfristigkeit der Perspektive der Unternehmensführung (short-termism), ein gebanntes Blicken auf das Shareholder Value und die Kapitalrendite in jedem Vierteljahresbericht zur Folge. Der vor allem für die amerikanische Wirtschaft charakteristische „terror of the quarterly report" - der Terror des vierteljährlichen Geschäftsberichtes - wird noch verstärkt. Anreize sind zentral für jede Wirtschaftsordnung, und es ist eines der Hauptargumente für das Shareholder-Value-Prinzip, daß es effiziente Anreize für das Management schafft, den Gesamtwert der Firma zu maximieren. Anreize können jedoch auch perverse Anreize schaffen, können die Absicht auf Aktivitäten ablenken, die nicht im Interesse der Firma sind. Wenn das Shareholder Value der Gesamtzweck der Firma wird, haben die Manager starke Anreize, ihre Aufmerksamkeit und ihre Zeit für das Auffinden von Wegen, wie die Aktienkurse im Kapitalmarkt manipuliert werden können, zu verwenden. Sie lenken dann ihre Aufmerksamkeit auf Wege, die nicht im Interesse jener Mitglieder der Firma sind, die nicht Anteilseigner sind. Die möglichen perversen Anreize, die das Shareholder-Value-Prinzip auf das Management auszuüben vermag, wenn es als einziger Zweck der Firma angesehen wird, sind erheblich. Sie lenken die Ressourcen des Managements in unproduktive anstatt produktive Aktionen. 2) Die zweite Wirkung der perversen Anreize, die vom Shareholder-Value-Prinzip ausgehen können, der „short-termism" einer übertriebenen Beachtung des kurzfristigen Aktienkurses an der Börse, liegt auch nicht im langfristigen Interesse der Firma, wenn langfristige profitable Strategien durch sie verhindert werden. Es ist jedoch wichtig zu sehen, daß Kurzfristigkeit nicht ein an sich wirtschaftlich und ethisch negatives Phänomen ist. Es kann wirtschaftlich notwendig und ethisch legitim sein, eine Investition schon nach sehr kurzer Zeit zu liquidieren, wenn man herausgefunden hat, daß sie eine Fehlentscheidung war oder einer Fehlentwicklung unterworfen ist.8 Die Zeitstruktur der Entscheidungen des Managements kann jedoch durch die Shareholder-Value-Maximierung unangemessen verkürzt werden.
8. Die Betonung des Shareholder Value und die Interessen der Manager: Fusion von Anteilseigner- und Managerinteressen? Das Prinzip des Shareholder Value kann nicht nur verstanden werden als ein Prinzip der verstärkten Kontrolle der Leistung des Managements. Die Überbetonung des Shareholder Value durch die Firma kann vielmehr auch zu einer Fusion der Interessen der Manager mit denjenigen der Shareholder gegen die Interessen der anderen Stakeholder führen. Wenn die Anteilseigner und die Manager eine einzige Stakeholdergruppe mit gemeinsamen Interessen an der Steigerung ihres Einkommens über den Aktienkurs der Firma bilden, werden die 8 Vgl. Koslowski 1997 und Argandona 1995.
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Manager versucht sein, in ihrem und im Interesse der Anteilseigner für einen höheren Aktienkurs auf Kosten der Firma und zu Lasten der anderen Stakeholder zu entscheiden. Die Entwicklung der Einkommen der Manager britischer Staatsfirmen, die privatisiert und in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden, spricht hier eine klare Sprache. Die herausragendste Folge der Privatisierung dieser Firmen war die Vervielfachung der Einkommen ihrer Manager. Die Maximierung des Shareholder Value schafft Anreize für die Manager, mehr auf die Spekulationsgewinne der Aktienkurse ihrer Firma zu achten als auf den Gewinn aus überlegener Produktivität und überlegenen Produkten. Diese Anreize können zu perversen Anreizen werden, weil der Wert der Anteile im Aktienmarkt nicht das Resultat der tatsächlichen Leistung des Managers und der Firma, sondern ihrer wahrgenommenen Leistung ist. Der Aktienkurs einer Firma ist zudem auch durch die bloße Spekulation anderer in den Wert der Firmenaktie beeinflußt. Dieses spekulative Element in den Aktienkursen und damit im Shareholder Value macht es problematisch, das Gehalt der Manager zu eng an die Entwicklung des Kurses der Aktien ihrer Firma zu binden. Wenn die Anteile der Firma eine Wertsteigerung erfahren, die auf bloße Spekulation an der Börse zurückzuführen ist, ist die Steigerung des Einkommens, die das Management aus Aktienoptionen und ähnlichem aufgrund dieser Spekulation erhält, nicht gerechtfertigt. Auch wird das Management, wenn es ein höheres Zusatzeinkommen aus Aktienoptionen und ähnlichem erhält, seine Aufmerksamkeit stärker auf die Bewegung der Aktienpreise als auf die Geschäftstätigkeit ihrer Firma lenken. Interessant ist die Fallstudie einer Klage vom Jahr 1998 gegen den Aktienplan der Daimler-Benz AG für 1600 Führungskräfte ihrer Firma. Ein Anteilseigner der Firma, Ekkehard Wenger, Professor für Betriebswirtschaftslehre, hatte gegen den Konzern geklagt, weil durch diesen Plan seine Interessen als Aktionär verletzt würden. Eine Umwandlung von Optionsanleihen der Manager in Daimler-Benz-Aktien nach drei Jahren unter der Bedingung, daß der Aktienkurs der Firma um 15 v. H. in diesem Zeitraum von drei Jahren gestiegen sei, sei unzulässig, weil durch diese Aktienwertsteigerung keine besondere Leistung des Managements dann vorliege, wenn der Durchschnitt des Aktienmarktes dieselbe Wertsteigerung aufweise. Eine besondere, vom Börsenerfolg des Unternehmens abhängige Erfolgsentlohnung könne nur gerechtfertigt werden, wenn die Steigerungsrate des Aktienkurses der Firma über der durchschnittlichen Steigerungsrate des Aktienmarktes liege. Eine Steigerung des Aktienkurses von 5 v. H. pro Jahr könne nicht als außergewöhnliche Leistung angesehen werden. Das Stuttgarter Oberlandesgericht verwarf diese Klage mit der Begründung, daß „die betriebswirtschaftliche Beurteilung eines solchen Planes nicht Sache des Gerichts [ist]."9 Allerdings bleibt auch nach der Entscheidung des Gerichts die wirtschaftsethische Frage zu stellen, ob eine durchschnittliche Steigerung des Aktienwertes eines Unter-
9 Vgl. Niederlage flir Daimler-Kritiker Wenger, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 185, 13. August 1998, sowie „Wenger unterliegt Daimler" und den Kommentar von Mathias Philip: Aktienoptionen, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung Nr. 188, 13. August 1998, 9, der für Wenger gegen Daimler-Benz Position bezieht; siehe auch Frankfurter Allgemeine Zeitung vom selben Tage.
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nehmens Zusatzeinkommen des Managements auf dem Wege über Aktienbeteiligungen rechtfertigt oder nicht und ob solche Pläne zu einer überzogenen Ausrichtung der Arbeit des Managements auf den Aktienkurs ihrer Firma und damit zu perversen Anreizen fuhren oder nicht. Im Fall DaimlerChrysler muß man sich wundern, daß alle Pläne, die über das Unternehmen laut werden, stets einen überproportionalen Vorteil für das Management des Unternehmens beinhalten. Man wird die Frage stellen müssen, ob ein solches Management noch die Verpflichtungen seines Arbeitsvertrages und des Aktienrechts erfüllt. Das Aktienrecht fordert vom Management nicht nur den Vorteil der Anteilseigner und des Managements, sondern des Gesamtunternehmens im Auge zu behalten. Eine weitere Frage ist es, wie sich die Struktur des globalisierten Weltmarktes auf das Vermögen einer Mittelmacht auswirkt, die Kontrolle über die Unternehmensführung und das Wissen des größten Unternehmens des Landes im eigenen Land zu halten. Das Prinzip der steigenden Skalenerträge begünstigt das Wirtschaftsgebiet mit dem größten Markt und Sprachraum, also die USA und die angloamerikanischen Länder. Eine Verlegung des größten deutschen Konzerns in die USA bedeutete einen Wissenstransfer in den ohnehin bereits dominierenden Markt. Die Abwendung eines solchen Abzugs ist daher eine nationale Aufgabe, die größere Anstrengungen erfordert und rechtfertigt. Man wird um eine Absenkung des Steuer- und Sozialabgabensatzes in Deutschland nicht herumkommen, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen im Weltmarkt zu sichern. Man wird auch einen Teil der Sozialversicherung über Pensions-Fonds, also über den Aktien- und Kapitalmarkt, finanzieren müssen. DaimlerChrysler begründet seine Überlegungen über eine Verlegung des Firmensitzes in die USA damit, daß es dadurch einen höheren Kapitalzufluß und eine Steigerung des Aktienwertes erfahren werde. Dieses Argument bedeutete, wenn es zuträfe, de facto, daß der deutsche und europäische Aktienmarkt nicht in der Lage ist, jene Kapitalisierung eines Großunternehmens zu sichern, die der amerikanische und britische Kapitalmarkt bieten. Die Stärke dieser beiden Kapitalmärkte ist jedoch durch ihre Pensionsfonds verursacht. Die Altersversorgung wird im Gegensatz zu Deutschland nicht durch das Umlageverfahren des Staates, sondern über die Erträge aus Aktienfonds finanziert. Während die Pensionsfonds praktisch keine Rolle im Kapitalmarkt in Deutschland spielen und die Börse deshalb nicht so lebendig ist wie in den USA und Großbritannien, spielen die Pensionsfonds als Finanzinstitutionen im Kapitalmarkt der USA und Großbritanniens eine zentrale Rolle. Resultat der Globalisierung der Kapitalmärkte ist es, daß Länder wie Deutschland ihre Altersversorgung auf Pensionsfonds werden umstellen müssen, um den Kapitalmarkt zu stärken,10 weil anders die Pensionsfonds der anderen Länder den Börsenkurs und als Hauptanteilseigner das Management der deutschen Firmen kontrollieren werden. Eine Verlegung des Firmensitzes von DaimlerChrysler in die USA wäre nur das erste Anzeichen dieser Entwicklung. Man muß sich jedoch bewußt sein, daß durch die Umstellung der Altersversorgung auf Pensionsfonds zwei problematische Entwicklungen hervorgerufen werden. Zum einen wird 10 Vgl. Fehn 1999.
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man nicht mehr über die „built-in stabilizers" der Sozialversicherung verfugen und eine höhere Volatilität der Konjunkturentwicklung in Kauf nehmen müssen. Zum anderen weist der „pension fund capitalism" einen hohen Grad an Unpersönlichkeit und der Untreue der Investitionen auf.
9. Shareholder Value, Investitionsfonds und Untreue der Investition Wenn ein integrierter Weltkapitalmarkt im Entstehen ist und wenn es die einzige Verpflichtung des Investors sein soll, sein Kapital jederzeit so schnell wie möglich an den Ort zu verlagern, an dem es eine Kapitalertragsrate erzielen könnte, die nur marginal höher ist, als an dem gegenwärtigen Ort der Investition, sieht sich die Volkswirtschaft dem Problem der „ökonomischen Untreue" gegenüber. Durch die Dominanz einer engen Interpretation der Forderungen des Shareholder-Value-Prinzips würde es zu einer quasi ethischen Sanktionierung der totalen Untreue der Investition kommen. Das Problem der „Untreue der Investition" wird besonders dadurch erschwert, daß die anonymen Pensionsfonds eine wachsende Rolle im Kapitalmarkt spielen. Wenn die Pensions- und Investitionsfonds in der Weise arbeiteten, daß sie ihre Investitionen sofort liquidieren würden, wenn sie eine Kapitalertragsquote erzielen könnten, die nur um 0,01 v. H. nach Abzug aller Transaktionskosten höher ist als die Investition, in der sie sich gegenwärtig engagiert haben, wäre die daraus folgende Strategie nicht volkswirtschaftlich rational und effizient, weil die „Untreue" der Investmentfonds jene Firma, die sie verlassen, unnötig unter Druck setzt, neue Anteilseigner zu finden. Das andere fragwürdige Resultat der Shareholder-Value-Debatte besteht in ihren Rückwirkungen auf die Struktur der menschlichen Motivation. Indem sie die Gewinnerzielung zum letzten Zweck aller Wirtschaftsaktivität macht, verbirgt der Shareholder-Value-Ansatz die Frage und vermeidet die Debatte, welche Arten der Wirtschaftsaktivität legitim sind und welche nicht und ob es Wirtschaftsaktivitäten gibt, die zwar das Shareholder Value maximieren, aber vom ethischen Standpunkt nicht akzeptabel sind. Auch diese Wirkung ist durch die Inversion von Mitteln und Zielen im Begriff der Firma verursacht, die das Resultat der Shareholder-Value-Theorie sein kann. Wenn die Shareholder-Value-Maximierung zum letzten Zweck der Wirtschaft und zur ersten Aufgabe aller Firmen gemacht wird, geht die Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Formen der Gewinnerzielung verloren, weil der tatsächliche Zweck der Firma oder einer wirtschaftlichen Aktivität stets nur noch als Mittel für den Zweck der Gewinnmaximierung oder als ein untergeordnetes Ziel angesehen wird, welches das erste Ziel und die erste Pflicht der Menschen, die in der Wirtschaft arbeiten, das Shareholder Value zu maximieren, nicht in Frage stellen kann. Die Rückwirkungen dieser Veränderung auf die Motivationsstruktur des Menschen sind erheblich. Der Pensionsfonds-Kapitalismus und die Organisation des Kapitalmarktes durch Investmentfonds, die allein dem Shareholder-Value-Prinzip folgen, führen im Gegensatz zum älteren Eigentümerkapitalismus zu einer größeren Untreue der Investition mit erheblichen Nebenwirkungen auf die Stabilität von Unternehmen. Die gegenwärtige Wirtschaft scheint
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geradezu berauscht zu sein vom Gedanken der Untreue und des Auseinanderbrechens und Neuzusammensetzens von Unternehmen ohne Rücksicht auf den Unternehmensstandort. Da die Manager der Pensionsfonds nicht für sich selbst investieren, sondern für andere, fühlen sie sich zu einer vollständigen Nichtinvolviertheit und Untreue gegenüber den Firmen, in die sie investieren, legitimiert. Die Manager der Pensionsfonds investieren nicht als Anteilseigner, sondern als Agenten oder Treuhänder für andere Prinzipale oder Mandanten, und sie investieren für die Altersrenten anderer. Sie können sich daher ständig von ihrer Verantwortung für die Firmen, in die sie investieren, dadurch exkulpieren, daß sie darauf verweisen, daß sie das Shareholder Value im Interesse ihrer Pensionäre maximieren müssen und daß jedes Mittel, das Shareholder Value zu maximieren, gerechtfertigt ist, weil es um die Alterssicherung geht. Diese Exkulpierung von der Verantwortung für die Konsequenzen der eigenen Investitionsentscheidungen, die durch die Dominanz des Shareholder-ValuePrinzips ermöglicht wird, ist nicht in derselben Weise möglich für jene Anteilseigner, die für ihre eigene Rechnung investieren. Jede Art der treuhänderischen Beziehung oder des Handelns für jemand anderen und dessen Zwecke bewirkt eine Reduktion der moralischen Verpflichtung, weil die Verantwortung für die Handlungen zwischen dem Prinzipal und dem Agent geteilt wird und hinund hergeschoben werden kann. Im Falle der Investmentfonds wird die Verantwortung der Fondsmanager für die Investitionsentscheidungen dadurch reduziert, daß das Interesse des Rentners an hohen Altersrenten oberflächlich gesehen legitim jenseits aller Diskussion zu sein scheint und die Fonds in der rücksichtslosen Verfolgung der Shareholder-ValueMaximierung durch die Manager der Fonds sich stets auf dieses höherrangige Interesse berufen können. Das Phänomen der „Desinvoltura", des Nichtinvolviertseins des institutionellen Investors in die Sache und das Produkt der Firma, in die er investiert, gilt auch für das bereits beschriebene Verhältnis der Holding zu ihren Divisions. Auch hier ist die größere Untreue der investierenden Holding gegenüber den Divisions die Folge, weil zwischen die Eigentümer und die Produktionsstätten eine kapitalmakelnde Firma, eben die Holding, zwischengeschaltet ist. Es ist daher nicht überraschend, daß DaimlerChrysler Überlegungen darüber anstellt, sich in eine amerikanische Holding über einer deutschen und einer amerikanischen Division zu transformieren und seine Verpflichtungen gegenüber seinen beiden Standorten, Deutschland und USA, dadurch zu reduzieren, daß die Holding eben ein höheres Drittes über beiden in New York bildet. Die Untreue der Holding gegenüber ihren eigenen Firmen ruft allerdings die Gegenreaktion der Untreue der Divisions gegenüber der Holdingzentrale hervor. Aus seiner wirtschaftsethischen Beratungspraxis ist dem Autor bekannt, daß die Untreue und das Desinteresse der Divisions am Schicksal der Gesamtfirma zunehmend zum Problem für HoldingGesellschaften werden, die sich an den Wirtschaftsethiker mit der Bitte wenden, eine Ethik für den Umgang der Divisions untereinander und mit der Zentrale zu entwerfen.
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10. Positive Wirkungen des Shareholder-Value-Prinzips auf die Zeitstruktur der Investitionen Mit dieser Untersuchung des Shareholder-Value-Prinzips soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, daß dieses Prinzip, wenn es als Kontroll- und nicht als Finalprinzip angesehen wird, nicht berechtigt ist. Als Kontrollprinzip des Untemehmenserfolgs erfüllt es eine wichtige Funktion. Eine der wichtigsten Wirkungen des Shareholder Value als Kontrollund Disziplinierungsprinzip ist es, sicherzustellen, daß die Firma in jeder Periode Profit macht. Das Prinzip reguliert dadurch die Zeitstruktur und Zeitpräferenz der Investitionen. Rappaport stellt diese Wirkung des Shareholder-Value-Prinzips, die als der Hauptnutzen des Shareholder-Value-Prinzips für die Firmenleistung und die Dividendenpolitik angesehen werden kann, dar." Das Shareholder-Value-Kriterium zwingt die Firma, in jedem Jahr sicherzustellen, daß die Investitionen in die Firma in jedem Jahr profitabel sind, und das erfordert, daß jedes Jahr eine Dividende bezahlt wird. Rappaport weist daraufhin, daß es theoretisch sinnvoll wäre, überhaupt keine Dividende zu zahlen, wenn die Kapitalerträge aus der Firma in den kommenden Perioden positiv sein und über dem Marktzinssatz liegen werden. In diesem Fall sollten alle Gewinne in der Firma verbleiben, weil sie einen höheren Ertrag in der Zukunft gewähren werden, wenn sie in der Firma akkumuliert und nicht als Dividenden ausgezahlt werden. Das Shareholder-Value-Kriterium verbietet jedoch diese Option, indem es gegen den Gedanken, daß Profite in der Firma für Selbstfinanzierung und Eigenkapitalbildung verbleiben sollten, ein sehr einfaches Argument vorbringt: Wenn die Firma nicht Dividenden bezahlt, werden die Shareholder sie verlassen. Hinter der scheinbaren Untreue der Anteilseigner liegt jedoch eine tiefere Weisheit: Die Anteilseigner können nicht sicher sein, daß das, was das Management über die künftigen Erträge und Dividenden, die in der Firma verbleiben und nicht ausgezahlt werden, sagt, wahr ist, und sie können zum anderen nicht sicher sein über die Zukunft, da die gesamte ökonomische Situation sich in den nächsten drei Jahren ändern kann, so daß die Gewinne, die während drei Jahren in der Firma verblieben, im vierten Jahr verloren sein können. In beiden Fällen wird der Anteilseigner durch sein Warten nichts gewinnen.12 Die Betonung des Shareholder-Value-Ansatzes, daß Shareholder Value in jedem Jahr realisiert werden muß, entspricht dem kürzeren Zeithorizont in der Rentabilität von Investitionen, der für kapitalistische demokratische Gesellschaften charakteristisch ist. Dieser kürzere Zeithorizont erscheint auch aus einer ethischen Perspektive wünschenswert. Obgleich es nicht prima fade offensichtlich ist, daß die kurzfristige Strategie bevorzugt werden sollte, weil Entscheidungsträger gewöhnlich ohnehin eine Neigung zum „short-termism" aufweisen und daher alles, was die langfristige Investition unterstützt, einen höheren ethischen Wert zu haben scheint, ist es vernünftig, darauf zu bestehen, daß sich Investitionen in jeder Periode auszahlen. Die Betrachtung von undemokratischen, nicht-kapitalistischen Gesell11 Rappaport 1995, 27 ff. 12 Vgl. Roth 1999.
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Schäften zeigt, daß in diesen Gesellschaften die Bevölkerung oft dadurch getäuscht wurde, daß gegenwärtige Opfer an Wohlfahrt durch Versprechen auf zukünftigen gesteigerten Reichtum gerechtfertigt wurden. Stalin beispielsweise ließ Ingenieure, die ihm sagten, daß bestimmte Projekte langfristiger Investitionen im Norden Rußlands oder in Sibirien niemals profitabel sein könnten, hinrichten, weil er ihre Prognose nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Jenseits der Frage, in welchem Umfang Opfer für die Zukunft politisch eingefordert und durchgesetzt werden können, ist die Frage, für welchen Zeitraum Opfer gebracht und Verzicht geübt werden soll, von Interesse für die Zeitperspektive von Investitionen und Verzichtleistungen, für die Opfer, die von Individuen für Investitionen erbracht werden sollen, und für die ethische Relevanz dieser Frage. In einer demokratischen, kapitalistischen Gesellschaft erwarten die Bevölkerung und die Investoren einen Ertrag aus ihren Investitionen in einer vergleichsweise kurzen Zeitperiode. Eine Investition, die nicht ihre Profitabilität in kurzer Frist sicherstellen kann, wird nicht durchgeführt. Diese durch das Shareholder-ValueKriterium begründete Empfehlung ist nicht nur ökonomisch effizient, sondern auch ethisch legitim für wohlhabende Volkswirtschaften. Ob dieses Urteil auch für Gesellschaften zutrifft, die im wirtschaftlichen Aufbau begriffen sind und höhere Sparraten erzielen müssen, ist eine andere Frage, die hier offen bleiben muß. Die andere positive Nebenwirkung dieses Zwanges zur Ausschüttung von Dividenden in jedem Jahr, die vom Shareholder-Value-Kriterium herbeigeführt wird, ist die Erschwernis der Bildung von Monopolen oder marktbeherrschenden Stellungen im Markt. Wenn der Anteilseigner den Manager zwingen kann, Dividenden auszuschütten und Gewinne nicht innerhalb der Gesellschaft in Form von Rücklagen oder Eigenkapital zu thesaurieren, und wenn die Anteilseigner die Gewinne für Konsum und nicht für die Reinvestition in die Anteile der Gesellschaft verwenden, wird es für die Firma schwieriger sein, zu wachsen und den Markt zu dominieren oder zu kontrollieren.
11. Was ist der spezifische Beitrag der philosophischen Wirtschaftsethik zur Unternehmensethik und Unternehmensfiihrung? Die Philosophie verfügt im Unterschied zu den Wirtschaftswissenschaften über die größere Erfahrung mit Begründungsfragen der Ethik, und sie weist eine größere Distanz zu den Unternehmen und ihren Funktionsbedingungen im Vergleich zur Betriebswirtschaftslehre auf. Ihre geringere Praxisnähe macht sie durch die Vertiefung der Begründungsfrage und ihre kritische Distanz wett. Eine Schwierigkeit des Shareholder-Value- und Pensionsfonds-Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist es, daß es keine Elitenkonkurrenz mehr zu geben scheint. Die Eliten der Wirtschaft, die Manager, sehen sich keinerlei Kritik und Konkurrenz ihrer Orientierungen durch andere Eliten wie etwa durch diejenigen des Staates und der Wissenschaft mehr ausgesetzt. Die philosophische Wirtschaftsethik kann dagegen das Pathos der Distanz gegenüber der Wirtschaft wahren, das den Wirtschaftswissenschaften oft
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abgeht und das im eigenen Interesse der Wirtschaft liegt, weil sie darauf angewiesen ist, objektive und kritische Analysen wirtschaftsethischer Zweifelsfragen zu erhalten. Es besteht in der Wirtschaftsethik gegenwärtig die Gefahr der Kolonisierung der Ethik durch den Theorieimperialismus der Ökonomie. Die Ökonomie rühmt sich selbst dieses „Imperialismus'" und einige Wirtschaftsethiker wie Karl Homann folgen ihr darin. Was die Philosophie den Ökonomen gegenüber deutlich machen muß, ist, daß es mit bloßem Theorieimperialismus nicht getan ist, weil man in der Wissenschaft überzeugen und nicht erobern muß. Imperialismus ist in der Welt des Geistes noch weniger ein Leitbild als in der Politik. Wenn man den Gegenstand mit der eigenen Methode nur erobert und überwältigt, achtet man nicht mehr darauf, ob der überwältigte Gegenstand als derjenige begriffen wird, der er an sich ist. Die Philosophie muß in der und durch die Wirtschaftsethik die Ökonomen davor bewahren, eine angemessene und sinnvolle Erweiterung ihres Paradigmas in einen bloßen Theorieimperialismus zu verwandeln, bei dem die Phänomene verloren gehen. Die Wirtschaftsethik kann und darf sich des machtvollen Analyseinstrumentariums der ökonomischen Theorie nicht entschlagen - sie darf aber auch nicht in ökonomische Theorie aufgehen.
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Lee A. Tavis
Economic Advantage and Moral Issues in Corporate Governance Corporate governance has to do with who directs the activities of a corporation and to what ends. There are two core normative theories on corporate governance - the shareholder and stakeholder models. These theories reflect how our global economic/political system is structured and how we ask managers to behave. This paper addresses how managers should allocate the resources of the enterprise they direct within the constraints imposed by the evolving global economic/financial/political system. The phenomenon called globalization is an integration of individuals as well as economic, social, and political institutions unprecedented in history. Globalization has led to increases in productivity, and to imbalances in distributing the fruits of that productivity. Multinational enterprises are the instruments for much of this globalization. As such, they deserve credit for the productivity enhancement, but are also inextricably involved in the associated exploitation and marginalization of so many who contribute to that productivity or are bypassed by the drive for efficiency. Through the process of globalization, the power of multinational enterprises is increasing - a power that contributes to both good and ill. Greater power means greater institutional responsibility. The first step in analyzing the responsible use of power is to determine the appropriate goals of the firm. The debate over corporate objectives takes on a renewed urgency in today's globalized world. The determination of appropriate goals for the firm and how management can implement these goals is the purpose of this paper. The paper will unfold in three steps: 1) Shifting global power balances: Globalization has led to an increase in economic power of the multinational set against the decreasing power of the nation state. The first section overviews the results of the power shift - an increase in productivity and economic growth resulting from the integration of financial and economic systems, and the inequity associated with that growth. 2) Comparison of the two main models of corporate purpose - the shareholder model and the stakeholder model: The tension between these two models of corporate purpose and their impact is a dominant theme in theoretical and empirical literature. While both models are based on individual contracts (as opposed to a communitarian construct) each of these two models leads to different prioritization of resource allocations. The shareholder model concentrates on the market-determined drive toward productivity while the stakeholder model focuses on the responsibility to protect each person's fundamental rights. The tension between these two objectives becomes more important as the multinational exercises its new powers.
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3) Managerial decision-making structures: Given the contention of the two models, we are left with the question of whether they lead to significantly different resource allocation patterns. The answer here is "yes and no" depending on the circumstances surrounding each particular resource allocation decision. A three-stage implementation model will be proposed: a) determining the decision-making freedom in the specific situation b) recognizing the two competing objectives c) balancing the objectives
1. The Globalization Phenomenon The process that has come to be called globalization is the integration of economic/financial/political systems and cultures across the world. It involves an unparalleled movement not only of capital but of goods and services, technologies and even, people. The globalization of recent decades is an organic integration in contrast to the colonialism and international trade of earlier periods. It is driven by a complex of interrelated factors such as intense global competition; the technologies of transportation, communications, and production; the opening of markets in the developing countries; and the implosion of the former Soviet Union. Global integration has led to substantial economic growth and, at the same time, an uneven allocation of the fruits from that economic growth. Supporters of globalization focus on productivity and growth. "By enabling a greater international division of labor and a more efficient allocation of savings, globalization raises productivity and average living standards, while broader access to foreign products allows consumers to enjoy a wider range of goods and services at lower costs. Globalization can also confer other benefits by, for instance, allowing a country to mobilize a larger volume of financial savings (as investors have access to a wider range of financial instruments in various markets) and increasing the degree of competition faced by firms.'" Detractors focus on the inequities of the process. "We have heard the freeing of trade and the downsizing and devolution of government held up as the ideal of progress and, incidentally, as a panacea for social ills. We have noted the paradox of a ruptured, polarizing society alongside a globalizing, integrating economy. We have witnessed the triumph of economies over politics and the elevation of finance over all economic activity. We are aware that we are living 1 World Economic Outlook, International Monetary Fund 1997,45.
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in a global economy marked by nonaccountable economic power and opaque, selfserving operational practices. And we have watched economies of the North and those of the poorest nations being restructured accordingly, with windfall wealth for a small percentage of people, stagnation for many, and widespread devastating effects on the most vulnerable people in society - predominately women, children, the elderly, minorities, indigenous people, migrants, and refugees." 2 Evidence supports the association of economic growth particularly in developing countries (the focus of our concern) with integration over the past thirty years. "In absolute terms, living standards in most developing countries, as measured by real per capita incomes, have risen substantially between 1965 and 1995. Even excluding the successful Asian newly industrialized economies, developing countries as a whole more than doubled their real per capita income over the past thirty years." 3 On the negative side, the theoretical argument that integration leads to an increase in the inequality of income is also empirically supported. This is of particular concern in developing and transitional countries with their weak background institutions. The dispersion of income has increased in most of Latin America and Africa. Increasing inequality is one of the most striking events of the last decade for the transitional economies of Central and Eastern Europe. A number of East Asian countries, however, have managed to achieve equity with growth.4 The United Nations Development Programme (UNDP) reports that the richest 20 percent of the people in the world increased their share of global income from 75 to 86 percent between 1960 and 1997. The share for the poorest 20 percent declined from 2.3 percent to 1.0 percent. 5 While one would expect a link between inequality and poverty, that has not been the case. In spite of the increase in the inequality of income distribution, there has been a slight decrease in the proportion of people struggling to survive on the equivalent of $1 a day or less, from 34 percent of the world's population to 32 percent.6 We should note, however, that the absolute number of poor is increasing and over a quarter of the world's population remain in severe poverty. In summary, the relationship between integration and economic growth is well supported. Along with that growth, we observe a growing inequality in the distribution of in-
2 James Hug, S. J. 1997. 3 IMF Survey, International Monetary Fund 1997, 154. 4
Kim 1997.
5 Human Development
Report 1992, 36; Human Development
6 Human Development
Report 1997, 33.
Report 1999, 2.
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come. The good news is that the percent of people living in poverty has not increased with the inequality. We should not be surprised with the favorable economic growth and the unfavorable inequality associated with integration. With the rapid rate of market and technological change, access to the global economic/financial system is becoming more selective. Those without meaningful access become exploited and marginalized. Moreover, given the nature of the global economic and political changes, it is becoming more difficult to intervene on their behalf. Rodrick captures the tension: "The process that has come to be called 'globalization' is exposing a deep fault line between groups who have the skills and mobility to flourish in global markets and those who either don't have these advantages or perceive the expansion of unregulated markets as inimical to social stability and deeply held norms. The result is severe tension between the market and social groups such as workers, pensioners, and environmentalists, with government stuck in the middle.... The tensions between globalization and social cohesion are real, and they are unlikely to disappear of their own accord.... The broader challenge for the 21st century is to engineer a new balance between market and society."7 The instruments of economic integration are multinational enterprises. These are the institutions that focus resources from across their enterprise networks to production or service in a specific location. Multinationals deserve credit for enhancing global productivity and economic growth. At the same time, they are an inextricable component of the social maldistribution of resources in the global economic system. Globalization has led to a major shift in power between the multinational corporation and the nation state. In parallel with the increasing size and global reach of vhese firms, national sovereignty is decreasing as a result of marketization, devolution, and international regulation. National governments are turning to markets rather than national policy for their developmental thrust. Most have concluded that marketization is the path to enhanced productivity, and that opening to international competition is the most assured approach. The opening of domestic markets is implemented by the relaxation of economic regulations, albeit under extreme market pressure supported by the World Bank and the International Monetary Fund. Across the world,,governments are forfeiting their national economic regulation, most notably in the former Soviet Union and in Latin America's retreat from Import Substitution Industrialization. A second component of globalization is the drive for governmental regulatory devolution. Governmental decentralization is occurring across the world, although at a pace much less dramatic than marketization. While specific reasons vary among countries in Latin America, Asia, Africa, and the transitional economies of Eastern and Central Europe, there is a growing awareness that national governments have been unable to deliver on develop7 Rodrik 1997, 2 and 85.
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mental promises where it counts - at the grassroots. The "one size fits all" mentality we see in multilateral institutions is also firmly embedded in national bureaucracies. Governmental decentralization is tied to the transition to democracy. As citizens become involved in the political process, the part of the bureaucracy they can touch is that closest to them. They believe that the desired governmental transparency and accountability may be possible at the grassroots level. In the process of devolution, national ministries and agencies transfer what power is left after marketization to the smaller staffs and less experienced officials at the state and local levels. Another globalization component is regional and international regulation. The European Union is the model of regionalization. International regulation is a slow but sure process, as with governmental decentralization. The complex of national laws and international agreements that constitutes international regulation is an evolving force. The U.N. Declaration on Human Rights is slowly being recognized as a standard. In addition, the definition of human rights is being extended beyond civil and political rights to be defended against the nation state, to second-generation economic and cultural rights. These second-generation rights involve non-state individuals and institutions such as the multinational firm. The growing enforcement of international standards through NGOs, or in legal action taken in national courts for transgressions incurred in other national jurisdictions is a clear impediment to our notions of sovereignty. In consort, these components of globalization (marketization, national regulatory devolution, regional and international regulation) enhance the economic power of the multinational while mitigating national sovereignty. Given the multinational power, individually and collectively, multinationals incur an increased responsibility for the total effects of globalization. The greater the power, the greater the responsibility. Managers are struggling to meet this new responsibility and, in the process, redefining the roles of their firms. Clearly, if the maldistribution of resources is to be ameliorated, it must involve the activities of multinational corporations.
2. Shareholder Theory: Wealth Maximization The concept of the corporate goal as a constrained maximization of shareholder wealth has dominated the financial, economic, and common law views of the firm. At core, this conceptualization is based on an assumption of efficient markets and effective regulation. In its implementation, where markets are not uniformly efficient nor regulation effective, shareholder theorists have concentrated on the principal-agent problems in the firm when conceptualized as a nexus of contracts.
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2.1 Efficient Markets and Effective Regulations As a basis for comparison, wealth maximization theory can best be described in terms of a productivity/social separation thesis (Tavis 1982). When markets are efficient (competitive structure and full information flowing to all participants) managers are compelled by market pressures to maximize productivity as a means of corporate survival. When regulation is effective (legitimate, uniformly applied, clearly signaled, and enforced) there are specific constraints on the extent to which management can go in its attempt to maximize productivity. In this system, the sole purpose of management is to maximize productivity. The role of the regulator is to constrain the action of market participants in order to protect the members of society who would be injured by the workings of unfettered markets. In the world of efficient markets and effective regulation, the optimization of productivity over the long term will lead to the maximization of wealth for the firm and, further, to the maximization of shareholder wealth in efficient equity markets. On a macro scale, the financial markets will allocate resources to uses that optimize global productivity. Simultaneous with the optimal global resource allocation, the socially disruptive effects of the process will be minimized through effective regulation. There is a clear separation of roles - productivity for the entrepreneur and social objectives for the regulator. In this system, managers are not decision makers in the sense that they choose among alternatives according to some self-determined objective function. The manager must select technology and allocate financial, material, and human resources in a way that maximizes productivity within the imposed constraints. Managers do not rely on value judgments in determining their actions - they are forced by competition to optimize productivity. The value tradeoffs are made by the regulators. Regulators determine which groups in society are protected and to what extent. Regulators are the ones who decide on the amount of productivity to be foregone for social reasons. Corporate social responsibility does not exist in this world of efficient markets and effective regulation. This is a power outcome. The entrepreneur is forced by the power of the efficient marketplace against the power of effective regulation. Entrepreneurs serve the task of optimizing productivity but, since this is a forced outcome, there is no productivity responsibility. Neither are they responsible for the broader, social objectives since they are pushed against the regulated constraints. The entrepreneur cannot serve social objectives that would hinder productivity unless those more limiting constraints are applied to all competitors through effective regulation. In this system, the entrepreneur has no discretionary resources to allocate. This is the world as envisioned by Adam Smith. Referring to Smith, Baumol notes: "The invisible hand does not work by inducing business firms to pursue the goals of society as a matter of conscience and goodwill. Rather, when the rules are designed properly it gives management no other option" (Baumol with Blackman 1991, 53). Milton Friedman also assumes efficient markets and effective regulation when he states: "There is one and only one social responsibility of business to use its resources and energy in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game" (Friedman 1962, 133).
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2.2 Conditions of Market Inefficiency and Governmental Regulatory Failure Even under conditions of relatively competitive structures and full information, most markets, particularly product and labor markets, are more in the process of moving toward equilibrium at any point in time than in static equilibrium. Given the pervasive nature of change, most of these markets are in a constant adjustment process and permanent disequilibrium (Hill/Jones 1992). In this sense, we observe widespread market failure. Governmental failures are equally in evidence, as their regulation seldom meets the effectiveness criteria outlined above (Posner 1974). In this less-than-perfect world, the wealth maximization theory - or the financial theory of the firm - focuses on shareholders as principals imposing their objectives on managers as agents. The theory has two components. First is the description of the firm as a nexus-ofcontracts. Second is the priority given to the shareholders in the implicit contract between shareholders and management.
2.3 The Firm as a Nexus of Contracts Coase (1937) introduced the concept of the firm as a nexus of contracts. He was concerned with the question of why contracted relationships would be internalized in a firm rather than transacted in the marketplace. Coase concluded that the main reason it is profitable to establish a firm is that the cost of using contracts in a firm is less than the cost of exercising contracted exchanges through the markets. There is a cost associated with negotiating a separate contract for each exchange transaction in the market. For Coase, the existence of the firm reduced the number of contracts and was far more efficient for contracts that are long term in nature where the purchasing party is unable to specify the supplier requirements over the full term of the contract. Coase described the contract. "The contract is one whereby the factor, for a certain remuneration (which may be fixed or fluctuating), agrees to obey the directions of an entrepreneur within certain limits. The essence of the contract is that it should only state the limits to the powers of the entrepreneur. Within these limits, he can therefore direct the other factors of production" (391). He further stated, "Now, owing to the difficulty of forecasting, the longer the period of the contract is for the supply of the commodity or service, the less possible, and indeed, the less desirable it is for the person purchasing to specify what the other contracting party is expected to do" (391). The firm was then defined. "A firm, therefore, consists of the system of relationships which comes into existence when the direction of resources is dependent on an entrepreneur" (393). Coase's seminal definition of the firm as consisting of a set of contracts has become the core of the financial (shareholder) theory of the firm. In this tradition, Jensen and Meckling define the firm as follows. It is important to recognize that most organizations are simply legal fictions which serve as a nexus for a set of contracting relationships among individuals. This in-
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eludes firms, non-profit institutions such as universities, hospitals and foundations, mutual organizations such as mutual savings banks and insurance companies and cooperatives, some private clubs, and even governmental bodies such as cities, states and the Federal government, government enterprises such as TVA, the Post Office, transit systems, etc. The private corporation or firm is simply one form of legal fiction which serves as a nexus for contracting relationships and which is also characterized by the existence of divisible residual claims on the assets and cash flows of the organizations which can generally be sold without permission of the other contracting individuals (Jen-
sen/Meckling 1976, 310-311).
2.4 Priority among Contracts Financial shareholder theory extends the contractual theory by arguing for a primacy of the shareholder contract among those who comprise the firm. This primacy leads to a measurable objective that determines the priority in allocating the resources of the firm. The argument for shareholder primacy is often assumed as part of the contractual theory. When specified, however, there are a number of arguments for shareholder primacy. The oldest claim, and the one that forms the basis of American corporate law, is the right of private property. In this argument, shareholders provide their property in the form of capital to the firm and have a right to its earnings. A second argument has to do with residual risk. The owner bears the residual risk of the firm and, thus, should have a priority claim to the residual earnings. Another argument has to do with the good of society. Society has allowed the creation of a fictitious person called the corporation with its legislated rights and responsibilities as a means of enhancing productivity. A closely related argument has to do with risk taking. It is important for the firm as a productive unit to take risks if efficiency is to increase and the economy expand. The returns to risk successfully undertaken will flow exclusively to the shareholders in this model. If the proper goal of the enterprise is to maximize shareholder wealth, how can the shareholders as principals in the contract ensure that managers as agents pursue this objective? This is the governance issue in the shareholder model. The shareholder's purpose is to minimize the costs of forcing managers to represent the shareholder's economic interests. Shareholder theorists attempt to minimize the "agency" cost - the cost of monitoring and bonding (auditing, contractual limitations, etc.) set against the cost of managers pursuing non-wealth maximizing goals. To the extent that shareholders are successful in this endeavor, managers are forced to serve the shareholder objective in managing all other relationships in the nexus of contracts that compromise the firm. This begins with a competitive drive to test regulatory limits in the effort to maximize productivity which, in the long run (pursued through the short-term fetish of security markets) will lead to the maximization of share price.
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3. Stakeholder Theory: Tradeoffs Stakeholder theory is grounded in the reality of inefficient markets and ineffective regulation. In stakeholder theory, agency concerns are broader and focused on managerial responsibility to all stakeholders. The notion of stakeholder rights is extended well beyond the interests of the shareholder. The result of this more inclusive view is a loss in specificity. The first step in reviewing the stakeholder view is to determine just who are the stakeholders of the corporation. The second is to find a normative theory to guide the allocation of resources among those stakeholders.
3.1 W h o are the S t a k e h o l d e r s ? Stakeholders are defined by their relationship to the firm. Freeman defines stakeholders: "A stakeholder in an organization is (by definition) any group or individual who can affect or is affected by the achievement of the organization's objective" (1984, 46). Since Freeman's seminal work, however, this sweeping definition of stakeholders has been refined. Donaldson and Preston (1995) apply a legitimacy criterion where stakeholders are "persons or groups with legitimate interests in procedural and/or substantial aspects of corporate activity." They would limit stakeholders to those who have both a stake in the enterprise and the ability to influence it. They would, for example, exclude competitors on the basis that "they do not seek benefits from the local firm's success," but would include trade associations as stakeholders (1995, 86). 8 Stakeholders are generally associated with some institution that can represent their interests to the corporation (and to the broader society). In some cases these are formal organizations with relationships well established among the members through rules and procedures defining rights and responsibilities. These are the organizations most likely to enter into explicit legally sanctioned contracts with the enterprise. In a broader definition, institutions can "include all modes or conventions for transacting as well as the organizations embodying them and are aptly applied to any pattern of behavior or collection of relationships that occurs with enough frequency to merit a label" (Masten 1991, 198-199). This broader definition would designate markets as institutions.
8 In a similar definition, Clarkson (1995) identified stakeholders as "persons or groups that have, or claim, ownership, rights, or interests in a corporation and its activities, past, present, or future. Such claimed rights or interests are the result of transactions with, or actions taken by, the corporations, and may be legal or moral, individual or collective. Stakeholders with similar interests, claims, or rights can be classified as belonging to the same groups: employees, shareholders, customers, and so on" (106).
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3.2 Contractual Relationships In the stakeholder model, all of the contracts are analyzed. As noted, these contractual relationships between the stakeholder (or their representing institutions) and the firm can be implicit or explicit. Some meet the criteria of a legal document, expressly approved by each party and covered by a particular body of law. Others are contracts only in the broadest sense of the definition, encompassing explicit or implicit agreements or transactions. Product warranties, debt, or production contracts would meet the narrow, legal definition. The relationships with employees could fit the legal or the relational definition. It could be a simple exchange of a day's work for a day's pay. Or, the same relationship could be covered by an explicit contract when the employee is a member of a union (Masten 1991, 198). In stakeholder theory, these relationships are generally interpreted in their most inclusive sense. For example, communities would be defined as stakeholders in spite of the vague nature of that relationship.9 Managerial centrality represents the firm to the other stakeholders. In our imperfect world, institutions such as business enterprises need a decision-making core that serves as a balancing mechanism through which the various parties associated with the enterprise interact. This is the role of management. Managers, as individuals or as teams, are the ones who allocate the resources to specific stakeholder elements in the enterprise network. Managers trade off the interests of one stakeholder group against another. In this process managers must interface with the various stakeholder groups, each with its own objectives and degrees of power. In stakeholder theory, the role of the manager is to identify stakeholder groups, assess their power, anticipate their actions, and interact with them about their objectives.
3.3 Prioritizing Guidance The rich stakeholder literature analyzes virtually every determinant of managerial behavior in a broad range of theoretical structures.10 None of these stakeholder constructs, however, provides the kind of systemic, normative prioritizing guidance as that so crisply present in shareholder wealth maximization theory. At core, a prioritizing theory must compare one stakeholder with another across the organizational network of the corporation. This would be a systemic concept where tradeoffs can be analyzed - where resources committed to one stakeholder group are those not used by another. Systems theory is the conceptual basis for the shadow price or economic cost of capital so useful as the wealth maximization criterion rate.
9 Donaldson and Preston (1995) see the determination of stakeholders as those with an express or implied contract with the firm as too narrow a definition. For example, they would include communities as stakeholders even though their relationship to the enterprise can be "so vague as to pass beyond even the broadest conception of contract" (85). 10 For example, see Bluedorn et al. 1994.
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While lacking this systemic crispness, stakeholder theory does have some basis for prioritization - through the combination of rights theory and the concept of fair negotiations. Rights theory provides a minimum threshold of resources to be allocated to each stakeholder. Beyond these minimums, fair negotiations can provide a process to guide the use of remaining resources."
3.4 Rights Theory Each individual stakeholder has a set of fundamental human rights that should not be denied by those individuals or institutions with whom they are associated. Each institution, including the business enterprise, has the responsibility to ensure, to the extent possible, that the rights of its stakeholders are not violated through the actions of the institution. Donaldson (1989) outlines a specific set of fundamental rights for multinational corporate stakeholders and the associated minimum correlative duty of the multinational manager to help protect stakeholders from the deprivation of these rights.12 However one determines specific rights within the limitations of conflicting rights and the problems of determining specific thresholds, the existence of individual rights dictates the core requirement for commitment of the firm's resources.13
11 Boatright lays the foundation for the stakeholder theory on the nexus-of-contracts model of the firm, without the shareholder priority. Focusing on the rights and interests of all stakeholders, he concludes: "An examination of the contractual theory of the firm reveals that it provides a role for all corporate constituencies that reasonably protects their rights and interests. In theory, the central features of the American system of corporate governance - namely, shareholder wealth maximization as the objective of the firm, the fiduciary duty of management to serve shareholder interests, and shareholder control of the corporation -serve to protect the interests of all stakeholders and would result from contracting by all of these groups. Insofar as stakeholder is understood in terms of the two principles, the rights principle and the interests principle, the contractual theory can lay claim to being a stakeholder theory of the firm" (Boatright 1998, 16). Boatright's principles of rights and interests are similar to the minimum rights and fair negotiations boundaries presented here. He is less sanguine, however, about the resource allocation guidance they might provide. 12 Donaldson bases his correlative duties on the theory of social contracts (1989, 47-53). Although explicitly separating his analysis from stakeholder theory, he addresses essentially the same parties as in stakeholder analysis - "all those affected by the organization's activities" (48). His social contract approach could be extended to include all those who affect the firm. 13 Donaldson and Preston (1995) address the normative dimension of stakeholder analysis: "... that stakeholders are identified by their interest in the affairs of the corporation and that the interests of all stakeholders have intrinsic value" (81). This expands the managerial perspective beyond shareholders alone. The normative "intrinsic value" of Donaldson and Preston provides a sense of minimal resource requirements.
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3.5 Fair Negotiations The concept of fair negotiations is developed in ethics and in the legal requirement to negotiate a contract in good faith. Fair negotiations impose a moral responsibility beyond the legal minimum. As a moral duty, De George outlines the requirements for a fair agreement, "All interested parties must be allowed to have a say" (De George 1993, 34). "Agreements in general are fair if both parties enter into them freely, both sides benefit from the arrangement, and both sides believe the terms fair" (40). The notion of fairness is critical in the explicit and implicit contracts between the enterprise and its stakeholders. A fair process will then lead to the "mutual and voluntary acceptability of bargains by all contracting stakeholders" (Donaldson/Preston 1995, 80).14 Ensuring fair negotiations is a demanding requirement. The negotiating process is essentially one of guaranteeing rights for each side. Each party makes the decision as to his or her perception of individual rights. If a stakeholder is being denied a fundamental right through the agreement, he or she will not perceive the agreement as fair. Alternatively, the process of fair negotiations is an efficient way of defining the outer limits on rights, claims, and duties in a specific context. While the right to subsistence, for example, has some relatively definable threshold level, the boundaries of the other rights such as access, education, and participation are not readily determined. Thus, an agreement that is considered fair by both parties would define both the threshold and the upper limit on these rights. The concept of fair negotiations is imbedded in legal traditions of good faith. The principle is central to the law of contracts. "This prospect on the law of contracts, and on private law in general, has, ever since the heyday of Roman law, been symbolized by the notion of bona fides (good faith)... Therefore good faith is not so much a rule on the same level as other rules, but rather the principle on the basis of which the various elements enabling us to determine the contents of contractual obligations need to be integrated" (Storme 1994, 183).15
14 Summarizing two key contributions to the stakeholder discussion of fair negotiations, Donaldson and Preston (1995) note: Both parties of analysts, Hill and Jones (1992) and Freeman and Evan (1990), placed greater emphasis on the process of multiple stakeholder coordination than on the specific agreem e n ^ a r g a i t i s . Both groups stressed that mutual and voluntary acceptability of bargains by all contracting stakeholders is the necessary criterion for efficient contracts. Both neglected the role of potential stakeholders not conspicuously involved in explicit or implicit contracts with the firm. The two pairs of authors differed slightly in one respect: Hill and Jones saw the network of relationships as consisting of separate implicit contracts between each stakeholder group and "management" (as a central node), whereas Freeman and Evan ultimately viewed the firm "as a series of multilateral contracts among [all] stakeholders" (Freeman/Evan 1990, 354; Hill/Jones 1992, 132-134; Donaldson/Preston 1995, 80). 15 Storme defines the elements comprising the notion of good faith, "...the notion of good faith is no longer understood as conveying the simple idea that one should keep one's word, but rather a combination of a
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Gordley traces good faith in contract law as it is applied in judicial systems including those of the United States, France, and Germany. He sees the principle as based on the notion of commutative justice as understood by St. Thomas Aquinas, "A contract of exchange is an act of voluntary commutative justice. Certainly each party obtains something of greater value to him personally than that which he gives in return" (Gordley, July 1997, 3). Although the courts do not use the term "commutative justice," Gordley concludes that the "...principle explains most of the cases in which courts give relief.... We are talking about commutative justice whether we use that term or not." (19) In its translation to rules, however, the principle of good faith is far from uniform. For example, there is a distinction between the duty to perform a contract in good faith and the duty to negotiate in good faith. There are a number of theories concerning the duty to perform a contract in good faith. As for negotiating contracts, however, Gordley notes, "No one is sure whether there is such a duty or not, though courts sometimes give relief when negotiations are broken o f f ' (Gordley, August 1997). Applying the principle of good faith is also an example of the recent divergence of English contract law from continental law. While applying the principle is well established on the continent, in 1992, the British House of Lords "... made it unequivocally clear that the introduction of good faith in English contract law would, and even could not happen" ( v a n E r p 1994, 128). The source of the judgment as to what constitutes fairness and good faith differs between contractual law and ethics. For the ethicist, fairness is based on the judgment and utility of the parties to the negotiation. For the courts, good faith is determined independently of the person, "In the first place, the court is not asking what intentions the parties actually had but rather, what intentions they would have had if they had been fair people, or if neither party had been able to exploit the other's ignorance or necessity" (Gordley, July 1997, 14). Thus, in this way, the theory of rights and the concept of fair or good faith negotiations together provide a starting point for a normative, prioritizing stakeholder theory - but only a start.
number of elements or principles to be balanced against each other." According to Storme (1994), the most important of these elements or principles can be summarized as: a. responsibility for the expectations one has created b. due respect for the rights of self-determination c. proportionality between the advantages and disadvantages which any action can cause to the parties involved d. reciprocity e. the fair allocation of risks "These ideas form the basis of most of the more specific rules of the law of contracts, but the precedence which the notion of good faith has over these rules guarantees the possibility that they might be rebalanced when the more specific rules will have become inappropriate in the changed social or economic climate" (185).
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4. Shareholder Versus Stakeholder Model There are substantial differences in the guidance provided by the shareholder and the stakeholder models for the allocation of corporate resources. The stakeholder model recognizes the messiness of the corporate environment but provides only weak prioritization. The wealth maximization model provides crisp guidance in a narrowly focused model more abstracted from reality. The fact is that most markets are inefficient and most regulations ineffective. Extensive market failure and governmental failure are in evidence. While financial markets across the world are becoming more integrated and, in that process, more efficient; product markets are less integrated and cover the range from efficient global commodity markets to inefficient national monopolies. In spite of the best efforts by the World Trade Organization, tariffs abound. Administrative barriers to trade and subsidies exist even in areas such as the European Union. As for regulatory constraints, no national regime meets the full standards for effectiveness, and global regulation is an evolving process. Failure on the part of the market or of regulation opens a space for decision making. The entrepreneur has freedom in the selection of technology, input combinations, and the patterns of resource allocation. In our modern industrial structure, where the entrepreneur's ownership function is separated from his or her managerial function, this discretion falls to the management of the corporation. Managers determine the objectives to be applied to these resource allocation decisions based on their own objectives in these decisions as molded by personal or organizational values, or imposed by the owners. No longer is the moral value of society, as reflected in a regulated social consensus, the only judgmental determinant.
5. A Conceptual Structure for Managerial Decisions Based on the analyses to this point, what guidance is available to corporate managers? It has been argued that managers do, indeed, have some degree of freedom to allocate corporate resources. The amount of managerial discretion establishes what a manager can do. The remaining issue is how the manager uses that discretionary freedom - what the manager should do. Shareholder theory indicates that the manager, to the extent possible, should allocate corporate resources to optimize productivity as a means of maximizing shareholder wealth. Stakeholder theory indicates that managers should use their discretion to ensure stakeholder rights and representation through fair negotiations. To what extent are these goals congruent and to what extent do they conflict? To assist the manager in dealing with these "can and should" questions, this section proposes a three-stage conceptual structure: (1) realistically determine the extent of decisionmaking freedom, (2) establish specific objectives for the use of the discretion that remains, and (3) balance the objectives - the responsibilities.
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5.1 Managerial Area of Discretion Decision freedom can be described in terms of a managerial area of discretion - that range of decisions not dictated through external forces. These are the resources over which managers have the power of allocation. In linear programming terms, it is the feasible region that remains within the constraints imposed by the requirements vector (the right side). Constraints on the area of discretion are imposed by those stakeholders who have the power to influence the activities of the firm. This is the power side of the stakeholder defin i t i o n - stakeholders as those individuals and groups who can affect the activities of the firm. The managerial area of discretion is empirically determined. It reflects competition in the firm's markets, the enforcement of governmental regulations, and the operative system of corporate governance. The managerial area of discretion is unique to each firm, and to some extent, to each decision. It is not static but continually in flux, particularly with the rate of change in current corporate operating environments. An important determinant of the managerial area of discretion is the specific form of capitalism. There are at least five kinds of capitalism. 1) Anglo-American, Neo-Liberal Capitalism Economic interactions are competitive and adversarial. A great deal of regulatory effort is devoted to market efficiency. Labor legislation is relatively nonprotective. In the United States, with the advent of state "other constituency statutes," managers are legally gaining more freedom from their fiduciary responsibility to owners.16 2) Rhine, Social Market Capitalism Economic transactions are collaborative and relational. Labor and communities are involved in corporate decisions. Regulation is extensive. Cross ownership between banks and corporations is typical. In this economic/political/social regime management has less freedom of decision making than in the Anglo-American structure. 3) Latin American State Capitalism This production system lies between liberal market capitalism and a command economy. These systems are typified by large public sectors and governmental bureaucracy, extensive regulation, state ownership of productive resources, and collaboration between state-owned and private enterprises. Government intervention is extensive and on a case-by-case basis
16 The anti-takeover laws, "other constituency statutes," of the late 1980s had broad ramifications for the exclusivity of corporate shareholders. While the main purpose was to prevent or impede unfriendly takeovers, these statutes broke the lock on legal responsibility to shareholders and made it legally permissible for directors to include the interest of nonshareholder constituencies in their decisions. Courts have tended to support these statutes (Wagner/Kaplan 1990, 29; Cabot 1992, 247; McDaniel 1991, 147; Karmel 1993, 1176; Donaldson/Preston 1995, 75-76).
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(Jameson/Rivera 1988). Managerial decision-making freedom can be described as "negotiated." 4) Central/Eastern European Capitalism Capitalism in the former Soviet Union and her satellites is evolving to, as yet, unknown ends. Based on recent activities, this author judges that these regimes will likely become more similar to Latin American State Capitalism than the Neo-Liberal or Social Market versions. 5) Multinational Corporate Capitalism This form of capitalism is distinct from the above national models. National governments can regulate only a part of multinational activities. Multinational managers have more decision freedom than their domestic counterparts in all forms of national capitalism. Across their enterprise networks, multinationals are dealing with a range of market failures - some grossly inefficient - and an equally broad range of regulatory regimes. Compounding this lack of market and regulatory constraint on managerial action is the access to information on the part of the multinational manager. Given the complexity of the multinational environment, there is no way that a single stakeholder group, including U.S. shareholders or government, can glean the kinds of information available to the manager. The moral principle applicable to the area of managerial discretion is that if one does not have the freedom to respond, one does not have the responsibility to respond. This is the Kantian argument that "ought assumes can.'"7 A second principle is, "Greater power means greater responsibility" (Guardini 1961).
5.2 Developmental Responsibility 18 Given the existence of managerial discretion, management has the responsibility associated with the power - a responsibility to apply a moral standard to resource allocation decisions within the managerial area of discretion. These moral standards are drawn from both shareholder and stakeholder theories as presented above. Managers are responsible (1) to optimize productivity over the long term and, (2) to represent weak stakeholders whose rights are endangered.
17 Simon, Powers, and Gunnemann (1972) apply these principles to corporate investors. 18 The term developmental responsibility is taken from an analysis of multinational corporate decision making. For the multinational enterprise operating in both developed and developing countries, the desperate need for development and relative market inefficiency and regulatory ineffectiveness in the developing world leave the multinational with a greater responsibility for its activities there than in the OECD countries. See Tavis 1997, 99-158.
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The managerial responsibility to optimize productivity within their area of discretion is a moral mandate - a moral issue missed by those who believe it is enforced by efficient markets. Productivity is a moral responsibility independent of market efficiency. The implicit social contract between society and the enterprise calls for optimizing productivity. It is the basic reason why the corporation is allowed to exist. In this structure, the drive for productivity takes place in two steps. The initial thrust is from the markets. In global competition, the firm must be productive if it is to survive. These market pressures are reflected in the customer demands that constrain the managerial area of discretion. Within that area of discretion, the manager is called upon to increase productivity as a moral obligation unless or until stakeholder rights are violated. The obligation to represent weak stakeholders draws upon the rights theory and fair negotiations requirements of stakeholder theory. It is based upon the definition of stakeholders as those who are affected by the activities of the enterprise. When stakeholders are unable to ensure their rights through representation to the enterprise, or to the rest of society, it is incumbent upon the multinational manager to ensure that these rights are not denied, to the extent possible within the manager's area of discretion.19 When demanded by the immediacy of the situation, managers must represent these stakeholders to the firm. For the long term, however, the way to ensure representation for weak stakeholders is through the development of their representing institutions. These are the background institutions referred to by De George (1993, 26). Legitimate, effective, representing institutions are the basis for fair negotiations. In a linear programming sense, the rights of weak stakeholders are transformed to constraints on the feasible region by managerially imposed internal constraints in the short term, and through the empowerment of stakeholder representing institutions which become constraints in the long term. Given the globalizing trends outlined earlier, it can be argued that multinationals must play a new role - that they have a broader responsibility for development - in this new order. The power of the sovereign is diminishing while the economic power of the multinational accentuates. As the power fulcrum shifts, nation states are less able to, or less willing to represent their disenfranchised citizens. The second-generation, economic, and cultural rights of these citizens are at risk. When the deprived are stakeholders of a multinational corporation, and the host country is unable or unwilling to protect them, the correlative duty to protect becomes that of the multinational. Thus, the multinational becomes the institution in a position to assure the human rights of the stakeholders. This means multinationals must ensure stakeholder rights such as subsistence, access to opportunities through the multina19 In this model, productivity is equated with maximizing the wealth of the firm and thus, in efficient financial markets, maximizing shareholder wealth. The Koslowski concern that "production of optimal products," take precedence over the "maximization of the residual profit and the share value in the stock market" becomes, initially, an issue of market-required productivity as a constraint on the managerial area of discretion. Consumers, through their market pressure, require this productivity as a constraint on the firm's behavior. Then, the managerial use of that discretion relates to Koslowski's statement that optimal products should be produced "under the conditions of the realization of the secondary goals of its member groups or stakeholders" (Koslowski 1998, 6-15).
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tional network as well as a minimum of training to use that access, and participation in the decisions affecting them. Resisting stakeholder exploitation becomes the responsibility of the multinational manager. Moreover, as I have argued elsewhere, when a developing country's background institutions are weak, the definition of a firm's stakeholders reaches farther into society (Tavis 1997, 394-396). For example, in remote developing country locations or urban slums, the local business unit of a multinational is responsible not only for the employee, but also for his or her family and community - a responsibility many firms accept and manage.
5.3 The Productivity/Wealth Apex The remaining question is whether the two prongs of developmental responsibility are in congruence or conflict with each other. To ask the same question: Is there a conflict between the shareholder and stakeholder goals presented earlier? Or, is there comfortable agreement with the oft repeated statement of instrumental stakeholder theory (Donaldson 1999), "The way to maximize shareholder wealth is by being attentive to the needs and wants of the other stakeholders." The answer is "yes and no," depending on the nature of the project for which resources are being allocated, or the extent of resources committed to a single project. A way of comparing the two prongs of developmental responsibility (shareholder and stakeholder requirements) is through the notion of a productivity/wealth apex as presented in Figure 1,20 The vertical axis is the measure of productivity/wealth. Optimizing productivity over the long term will lead to the maximization of wealth. Traditionally, wealth is measured as the cash flow that will accrue to an asset when discounted at a criterion rate (determined in an efficient financial market) that reflects its risk.21 In project analysis this would be the net present value. For a merger or acquisition, wealth would be the present value of the firm's cash flows including synergies. The horizontal axis is a continuum for funds committed where the amount of investment is variable. Alternatively, it is a spectrum along which specific investments can be classified. The plot represents the measured wealth. Examples will help clarify the graph. Most resource commitments, whatever their purpose, make some contribution to returns. Investing in a new production facility would be recognized as a positive contribution to operating cash flows and wealth (when net present value is positive). Other activities such as feeding workers in poor areas who come to work hungry will improve their productivity, thus enhancing wealth. Empowerment of workers on the shop floor will have the same productivity and wealth-enhancing effect as does the fair treatment of suppliers. In the environmental realm, programs to reduce energy consumption
20 For a discussion of these measurement issues in a conceptual multi-objective framework, see Enderle/Tavis 1998. 21 While this is the standard measure of wealth in theory and in practice, it has shortcomings in its inability to adequately capture strategic impacts and long-run effects; particularly in high risk developing country environments, or for socially oriented projects with payoffs in the distant future (Tavis/Crum 1984).
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can enhance wealth. Commitments of resources for those purposes serve both to enhance productivity and to represent weak stakeholders - workers, suppliers, the environment. They would plot to the left of the wealth apex in Figure 1. These kinds of efforts can, of course, move beyond wealth enhancement to wealth declination. Breakfast for workers can incrementally be extended to families as workers bring their wives and children to share their nourishment. Shop floor participation can be extended to the level of increasingly satisfied but not increasingly productive workers. Concerted energy reduction may require new, expensive equipment. The notion is that the initial commitment of resources to these kinds of activities is clearly wealth enhancing. 22 Beyond some point, however, the cost will exceed the productivity benefit and wealth will decline. The area to the right of the wealth apex in Figure 1 is where the two requirements of developmental responsibility, as required by shareholder and stakeholder theory, conflict. Management must choose between two moral obligations. On the one hand, when management has some area of discretion, productivity is morally mandated by the firm's role in society. On the other hand, rights theory calls management to represent weak stakeholders. In this tradeoff, stakeholder rights must predominate - again, within the managerial area of discretion. Individual human rights are absolute. They would take priority over the communal right to productivity. Measured wealth and the notion of a wealth apex assist in analyzing the cost associated with resource commitments that plot to the right of the apex in Figure 1. The cost of an ethical action is the loss of wealth associated with that action - the shaded area in Figure 1. Managers have the responsibility to incur that cost (within this area of discretion) when a stakeholder's rights are being endangered. Both Donaldson and De George recognize a firm's obligation to incur some financial cost to ensure stakeholder rights. Donaldson (1989) applies an affordability criterion. He recognizes that "'affordability' means that - at least under unusual circumstances - honoring a right may be a fundamental moral duty for a given multinational even when the result is financial loss to the particular firm" (76). De George speaks of a minimal cost, "In general, everyone is obliged to help others in serious need, if he can do so at little cost to h i m s e l f ' (1995, 538). De George adds two important extensions. One has to do with the closeness of the relationship in that a higher cost must be incurred for those with whom there is a special relationship. The second, often offsetting, consideration is that greater need calls for a higher cost (1995, 539-543). There are two advantages to the wealth apex concept. First is the recognition that most projects undertaken for socially responsible motives do have some wealth-enhancing impact. This is the instrumental stakeholder theory that the firm's (shareholder's) wealth is enhanced when managers view the interests of multiple stakeholders as having intrinsic worth (Donaldson 1999). Second is the guidance for normative stakeholder theory. The area
22 These examples are taken from Tavis (1997,400-409). Virtually every "socially responsible" investment has some wealth enhancing effect. For example, activities initiated by The Body Shop or McDonald's focusing on conservation have a major wealth-enhancing consumer relations effect.
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to the right of the apex (the goal conflict area) is an example of normative stakeholder theory - the selection of stakeholder representation over productivity and wealth (Donaldson 1999). The advantage is that the manager can impute a cost for resources committed for social objectives that are nonwealth maximizing. These costs are central for the decision to allocate resources within the managerial area of discretion to nonwealth-enhancing activities.
6. Summary The nature of corporate governance has changed substantially over the last decade. The combination of intense competition and loss in natural sovereignty is redefining the role of the multinational corporation. In this new position of institutional power and managerial freedom of decision-making, managerial objectives in exercising this power take on added significance. The tradeoffs between shareholder and stakeholder goals has been the subject of this paper. A conceptual structure is proposed within which the congruence and conflict between these two views can be analyzed. The argument is presented in three parts. Managers have some area of discretion bounded by stakeholder demands within which they have power to influence the activities of the corporation. Within this area of decision freedom, managers have a moral responsibility to both optimize productivity in the long term (which will lead to the maximization of shareholder wealth) and to ensure that the rights of weak stakeholders are not violated. When corporate productivity and stakeholder rights are in conflict, managers have the greater moral responsibility to allocate those resources over which they have discretion to protect stakeholder rights. The cost in terms of wealth foregone for stakeholder rights can be measured. Figure 1: PRODUCTIVITY/WEALTH APEX Productivity versus Stakeholder Representation
Producti vity/W ealth
Convergence
Conflict
Imputed Cost
Funds Comitted
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Josef Wieland
Corporate Governance und Unternehmensethik 1. Das Thema dieser Untersuchung suggeriert einen Zusammenhang zwischen der Corporate Governance, also den Steuerungs- und Kontrollregimes einer Unternehmung, und der Unternehmensethik, also der Ethik einer Organisation. Was dem einen oder anderen wie eine Provokation oder ein Oxymoron vorkommen mag, hat in der Tat empirische Korrelate. Unternehmensethik oder Business Ethics ist seit etwa 20 Jahren ein Thema auf der Agenda der Unternehmen der Wirtschaft und ihrer Reflexionstheorien, also im wesentlichen Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre und Organisationstheorien. Mehr als 90% der nordamerikanischen Unternehmen verfugen über einen code of ethics, 40% von diesen betreiben EthicsManagementSystems und beschäften Ethics Officers in Ethics Offices, die in der Ethics Officer Assoziation organisiert sind.1 Auch wenn es in Europa nicht ganz zu diesem Szenario reicht, so ist doch ein praktischer und theoretischer Aufschwung der Unternehmensethik unübersehbar. Firmen aus den verschiedensten Branchen arbeiten mit EthikManagementSystemen, und die theoretische Diskussion ist traditionsgemäß auf hohem Niveau und sehr weit entwickelt. Praktisch jede nordamerikanische Universität hat einen Lehrstuhl für Business Ethics eingerichtet, der in der Regel von ausgebildeten Philosophen gehalten wird. Eine Reihe von speziellen Journals (u. a. Business Ethics Quarterly, Journal of Business Ethics) widmen sich seit vielen Jahren dem Thema und in die sozialwissenschaftlichen Standardzeitschriften hat die Diskussion ebenfalls Einzug gehalten. Eine ähnlich Entwicklung beobachten wir in der Politik. Viele Organisationen der europäischen und internationalen Völkergemeinschaft entwickelten und entwickeln gemeinsam mit den Organisationen und Verbänden der Wirtschaft moralische Verhaltensstandards für globale Unternehmen, die deren Selbstbindung und Selbststeuerung in der entstehenden Weltökonomie und der Weltgesellschaft dienen. Der Befund scheint klar: Die Ethik der Wirtschaft als theoretisches und anwendungsrelevantes Thema der Führung und Steuerung ihrer Organisationen ist wieder auf der Agenda der gesellschaftlichen Diskurse. Im Unterschied zu den U.S.A. wird dieser jedoch in Deutschland bis heute vorwiegend in den Wirtschaftswissenschaften geführt. Dies ist dem Thema zwar, wie ich meine, sehr gut bekommen, hat aber notwendigerweise bei einem genuin interdisziplinären Gegenstandsbereich auch zu Problemen in der Theorieentwicklung geführt. Wie läßt sich etwa die Rede vom Unternehmen als kollektivem moralischen Akteur besser verstehen, wie das Verhältnis von Begründungs- und Anwendungsebene moralischer Sätze, wie das Verhältnis von Tugendethik und Unternehmensethik konzipieren und welche Kriterien stehen zur Verfügung, um für den Vorrang des Besseren vor dem Guten zu argu-
1 Vgl. zur Übersicht Wieland 1993.
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mentieren? Dies sind einige der Problemkreise, deren Sichtung philosophische Beiträge verlangen. Professionelle Ökonomen, zu deren Zunft auch der Verfasser dieses Aufsatzes gehört, haben in dieser Hinsicht einige Vorschläge und Ideen entwickelt, aber weitere Forschungsanstrengungen sind nötig. Aus wissenschaftlicher Perspektive kann man daher mit dem Stand der Dinge keineswegs zufrieden sein, denn grundlegende Probleme sind diskussionswürdig. Darunter fallen auch die zwei Fragen, mit denen sich diese Untersuchung beschäftigen wird. Sie lauten: Was erklärt Unternehmensethik überhaupt? Wer ist der Adressat unternehmensethischer Ansprüche?
2. Beginnen wir mit einer Inspektion der theoretischen Gegebenheiten in der deutschsprachigen Diskussion. Die Frage nach dem Erklärungsanspruch und Erklärungsbereich der Unternehmensethik wird hier meist ad hoc aufgeworfen und theorieimmanent beantwortet. Betriebswirtschaftlich inspirierte Unternehmensethiken2 wählen erstaunlich häufig einen philosophischen Diskurs- oder Dialogbegriff als Referenzpunkt für ihre Überlegungen. Sie beschäftigen sich folglich im Kern mit der Frage, welche normativen Ansprüche mit welcher Begründung an ein Unternehmen gestellt werden können. Sei es, um deren Profitmotiv im Namen gesellschaftlicher oder sozialer Erfordernisse, und damit auch in deren wohlverstandenen Eigeninteresse, zu domestizieren,3 sei es als Substitution für versagende wirtschaftliche und juristische Mechanismen der Regulierung von Konflikten aus unternehmerischer Tätigkeit.4 Solche Theorien orten das unternehmensethische Problem im Bereich des Strategischen Managements von Anspruchsgruppen, ohne es freilich jenseits von Hinweisen auf die Notwendigkeit von Diskursen oder Dialogen operationalisieren zu können. Es fehlt ihnen gegenwärtig noch an theoretischem Auflösungsvermögen, um systematisch herzuleiten, wer genau welche Ansprüche aus welchem Grund an ein Unternehmen zu stellen befugt ist. Dazu bedürfte es einer ausgearbeiteten Theorie des Managements von StakeholderBeziehungen, die es heute erst in Ansätzen gibt.5 Die ordnungspolitisch orientierte Unternehmensethik6 argumentiert aus einem ökonomischen Ansatz heraus dafür, daß ethische Ansprüche an die Geschäftspolitik von Unternehmen aus Gründen der Wettbewerbsneutraliät und der ökonomischen Anreizstruktur systematisch ordnungspolitisch, also in den Rahmenordnungen der jeweiligen Gesellschaften geklärt werden sollten. Versagen diese Regelwerke, was ebenfalls systematisch als möglich unterstellt wird, dann ist es Aufgabe und Pflicht der Unternehmen, „Good Corporate Citi2 Vgl. zur Abgrenzung und Übersicht Kreikebaum 1996. 3 Vgl. Ulrich 1997. 4 Vgl. Steinmann/Löhr 1992. 5 Vgl. für den Stand der Diskussion Donaldson/Preston 1995. 6 Vgl. hierzu Homann/Bloome-Drees 1992.
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zenship" zu zeigen. Das heißt genauerhin, eigenständig solche Beiträge zur Lösung des jeweils anstehenden moralökonomischen Problems zu leisten, die kompatibel mit dem Vorteilskalkül aller beteiligten Akteure sind. Gelingende Unternehmensethik ist hier die Überwindung von Politikversagen durch die private Erzeugung von win-win-Situationen. Die Stärke dieses Forschungsprogramms, das sich selbst als Anreizethik bezeichnet, liegt in seiner Klarheit und Einfachheit und dem daraus folgenden Erklärungspotential, in der Betonung der erforderlichen ökonomischen Robustheit ethischer Aspirationen und der Reduktion von moralischer Komplexität für Entscheider. Allerdings sehe ich nicht, daß dieser Ansatz über eine angemessene Steuerungstheorie modemer Gesellschaften verfugt. Vor allem die Fokussierung auf nationalstaatliche Rahmenordnungen, so bedeutend diese Erkenntnis ist, ist für Organisationsgesellschaften und globale Welten unterkomplex. Auch scheint mir die angestrebte Rigidität ökonomischer Übersetzungsprogramme fiir ethische Aussagen selbstwidersprüchlich, da ihr eine Tendenz innewohnt, die distinkte Existenz und Wirkungsweise moralischer Phänomene so weit abzudunkeln, das die angestrebten Übersetzungsprogramme überflüssig werden. Wer übersetzen will, muß Differenz anerkennen. Auf die Frage nach dem Gegenstandsbereich der Unternehmensethik erhalten wir demnach diskursethische und anreizethische Antworten, die beide nicht aus dem Gegenstand selbst, sondern in unterschiedlichen theoretischen Ansätzen begründet sind. Die zweite Frage nach dem Adressaten unternehmensethischer Ansprüche wird, soweit ich sehe, nirgendwo systematisch thematisiert. Ad hoc Entscheidungen sind daher auch hier weit verbreitet. Abhängig vom traktierten Problem sind einschlägige Kandidaten der Staat, die Unternehmen, das Management, die Vorstände, die Geschäftsführungen und natürlich auch jeder einzelne Mitarbeiter. Seltener finden sich die Konsumenten, die Kunden und die Lieferanten als Adressaten ethischer Ansprüche. Dies muß nachdenklich stimmen, denn eine Bereichsethik ohne einen aus der Sache selbst begründbaren und eingrenzbaren Adressaten scheint mir mit schweren Hypotheken belastet. Sie wird ohne klaren Zurechnungsmechanismus stets in der Gefahr sein, zum Sammelpunkt eines frei vagabundierenden gesellschaftlichen Moralüberschusses zu werden. Ich werde nun versuchen, zu beiden Fragen einige Überlegungen zu entwickeln, mit denen die Richtung der erforderlichen Theoriearbeit näher bestimmt wird.
3. Meine eigenen Überlegungen, die sich im Begriff der Governanceethik bündeln, gründen auf zwei Prämissen, die ich für die Bestimmung des Gegenstandsbereichs und des Adressaten von Unternehmensethik für unverzichtbar halte. Prämisse 1: Der Akteur der Unternehmensethik und damit auch ihr Adressat ist die Organisation „Unternehmen". Begründung: Ein Unternehmen ist eine Organisation, und wenn der Begriff „Unternehmensethik" mehr als umgangssprachlichen Sinn machen soll, muß er sich auf diese Organisation und nicht etwa auf deren Führungspersonal beziehen. Anderenfalls sollte man von Unternehmerethik, Managerethik, Führungsethik und so weiter reden. Zwar ist es immer
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möglich, und in der Tat auch eine gelegentlich genutzte Methode, von der Tugend der Organisationsmitglieder analog auf die Ethik der Organisation zu schließen. Dann kann man nur, ohne große Überraschung, feststellen, daß ein Unternehmen keine Person in individualmoralischen Sinne sei. In dieser Vorgehensweise steckt freilich ein gesellschaftstheoretischer Kategorienfehler. Funktional differenzierte Gesellschaften basieren auf der Exklusion ihrer personalen Akteure aus den Funktions- und Organisationssystemen.7 Sie erreichen damit ein hohes Maß an Kontinuität in der Zeit, Erwartungssicherheit und Transparenz des Handelns und Handlungsentlastung durch Institutionalisierung und Organisierung. Moderne Gesellschaften sind anders als das alte Europa keine personalen Gesellschaften, sondern Organisationsgesellschaften. Die Erfüllung von gesellschaftlichen Funktionen und Aufgaben wird zunehmend an kollektive Personen und gerade nicht an individuelle Personen delegiert. Triebkraft dieser Entwicklung sind Handlungseffizienz (individuelle Handlungsentlastung) und Verantwortungseffizienz (verlängerter Zeithorizont, Transparenz, Erwartungssicherheit, Haftung). Eine anwendungsorientierte Ethik sollte diese Differenzierung des Handlungskontextes begrifflich verarbeiten und zwischen individuellen und kollektiven Personen unterscheiden. Denn nur dann läßt sich prüfen, ob eine Zurechnung moralischer Verantwortung auf kollektive Akteure Vorteile fiir die Lösung gesellschaftlicher oder privater Probleme bringt. Ich verweise in diesem Zusammenhang nur knapp und exemplarisch auf die gegenwärtige Diskussion über die Entschädigung von Zwangsarbeitern unter der Diktatur des Nationalsozialismus. Prämisse 2: Unternehmensethik ist eine deskriptive und kontextuelle Ethik, und daraus folgt, daß sie aus ihrem Anwendungsbezug, der Corporate Governance, zu entwickeln ist. Begründung: Diese Prämisse besagt, daß der untemehmensethische Gegenstandsbereich und seine Relevanz aus der Beschaffenheit und der Governance (im Sinne von Führung, Steuerung, Kontrolle) der Organisation „Unternehmung" selbst zu entwickeln ist, nicht aber aus wie auch immer begründeten externen normativen Ansprüchen an dieselbe. Damit soll nicht deren Berechtigung geleugnet werden, also etwa gesellschafts- und umweltpolitische Ansprüche an Unternehmen. Aber eine wissenschaftliche Systematik der Unternehmensethik kann nicht aus kontingenten Ereignissen in der Umwelt von Unternehmen abgeleitet werden. Sehen wir zu, welche Konsequenzen sich daraus für eine Unternehmensethik ergeben, die sich auf Corporate Governance bezieht, und damit sind wir endgültig beim Titel dieser Untersuchung.
4. Corporate Governance bezeichnet die Gesamtheit der Strukturen und Mechanismen, mit denen ein Unternehmen seine in ihm und mit ihm durchgeführten Transaktionen fuhrt, steuert und kontrolliert. Allgemeiner formuliert sind Governancestrukturen formelle und infor7 Vgl. hierzu und zu den Konsequenzen für eine Unternehmensethik Barnard 1938 (1968).
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melle Regimes zur Steuerung und Kontrolle der Ressourcen und Risiken privater und gesellschaftlicher Organisationen. Staatliche Regelwerke, der Markt, Unternehmen, Verträge, Standard-Prozeduren in Unternehmen, firmenspezifische Verhaltensstandards, EthikManagementSysteme, Unternehmenskulturen - um nur einiges zu nennen - sind in diesem Sinne Governancestrukturen zur Anbahnung, Durchführung und Kontrolle von wirtschaftlichen Transaktionen. Philosophisch formuliert sind Governancemechanismen private oder gesellschaftlich institutionalisierte Antworten auf die Frage: Wie soll ich handeln? Anders als im Fall der Ethik kann diese Antwort im Rahmen der Corporate Governance ökonomisch, technisch, rechtlich, verfahrensformig oder ethisch ausfallen. Unternehmen müssen moralische Probleme nicht moralisch bearbeiten, sondern können auf Ökonomie, Technik oder Verfahren umstellen, ohne die moralische Relevanz leugnen zu müssen. Ich verweise nur knapp auf die Bereiche der Sozial- und Umweltpolitik. Diese Adaptivität, die in alle Richtungen gilt, ist eine Stärke von Organisationen und ermöglicht es ihnen erst, mit der Komplexität ihrer Umwelt umzugehen. Daraus ergibt sich die unternehmerische Aufgabe, die eigenen Organisationsstrukturen so zu bauen, daß sie sensibel für dieses Erfordernis sind. Exakt hier setzt der von mir vorgeschlagene Begriff der Governanceethik8 an. Mit Governanceethik bezeichne ich den adaptiven Einbau von moralischen Ansprüchen an und Regeln für ökonomische Transaktionen in genau definierte Steuerungsregimes von Unternehmen oder anderen privaten und öffentlichen Organisationen. Aus dieser Perspektive zeigt sich, daß ein unternehmensspezifischer Code of Ethics keinesweg additiv die Werte aller Unternehmensmitglieder festhält, sondern die moralischen Präferenzen und Erwartungen der Organisation „Unternehmen" gegenüber und in Abgrenzung von ihren „stakeholdern" signalisiert. Er ist ein Datum, ein Entscheidungskriterium für das Verhalten und die Wahl seiner Mitglieder und Partner. EthikManagementSysteme9 definieren und systematisieren die Instrumente die notwendig sind, die soeben erwähnten „codes of ethics" für die Belange des Alltagsgeschäfts organisatorisch zu operationalisieren. Ich möchte es bei diesen beiden Beispielen belassen und betonen, daß die Operationalisierung, provokanter, die Instrumentierung anwendungsbezogener Ethiken, derjenige Schritt ist, der über ihr Wirkungspotential und ihre Wirkungsrichtung entscheidet. Anwendungsbezogene Ethiken, die sich auf semantische Innovationen, die Zweitcodierung bereits effizient arrangierter Sachverhalte oder die Kraft des besseren Arguments beschränken, haben keinen Anwendungsbezug. Moralische Reflexion in der Unternehmung ist abhängig von ihrer vorgängigen Instrumentierung in der Unternehmung. Allgemeiner formuliert: Governanceethik thematisiert die Ressourcen von Steuerungsregimes, die es ermöglichen, moralische Problemstellungen innerhalb der Wirtschaft zu identifizieren und zu bearbeiten. Unternehmensethik ist damit zur spezifischen Kompetenz einer Wirtschaftsorganisation mutiert. Die Tugenden oder Untugenden ihrer Mitglieder, so sie welche haben, werden in diesem Kontext zu Ressourcen einer Organisation, die sie mobilisieren oder unterdrücken kann. Governanceethik kann daher auch nicht tugendethisch aus dem Handlungsbegriff, sondern muß
8 Vgl. Wieland 1999a. 9 Vgl. zur Konzeption und Praxis von EthikManagementSystem Wieland 1999b.
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aus den Struktureigenschaften eines kollektiven Akteurs entwickelt werden. Wer aber ist dieser kollektive moralische Akteur im Unterschied zur individuellen moralischen Person? Zunächst einmal muß man festhalten, daß die Frage, ob jemand oder etwas eine Person ist, also Identität, Verantwortungs- und Handlungsfähigkeit besitzt, eine Konsequenz der Zurechnung durch gesellschaftliche Kommunikation ist. Sowohl in der Geschichte des Denkens als auch in den heute existierenden Weltkulturen ist die aufklärerische Konstitutierung und Definition der individuellen Person als handelndem Akteur nur eine von sehr vielen Möglichkeiten. Wer daher die Zukunft der globalen Welt gestalten will, muß die Frage prüfen, ob die Zurechnung moralischer Verantwortung auf kollektive Akteure für die Gesellschaft von Vorteil ist oder nicht. Ohne einen gesellschaftstheoretisch geführten Organisationsbegriff wird man daher auf die soeben gestellte Frage kaum eine befriedigende Antwort bekommen. Ich vermute, daß die Schwierigkeiten der zeitgenössischen Philosophie mit dem Thema Wirtschafts- und Unternehmensethik zentral damit zusammenhängen, daß die philosophische Diskussion über keinen Organisationsbegriff verfügt. Denn private und öffentliche Organisationen sind entscheidende Akteure der modernen Gesellschaft, deren begriffliche Ausblendung massive Theoriedefizite und prohibitive Relevanzverluste nach sich zieht. Unbestreitbar hat die ökonomische Theorie auf diesem Feld komparative Vorteile. Aus institutionenökonomischer Sicht, der meine Argumentation folgt,10 konstituiert sich die Organisation „Unternehmung" als Abgrenzung der ökonomischen Form von den individuellen Akteuren der Wirtschaft. Diese Differenzierung wird vermittelt über einen konstitutionellen Vertrag, die Unternehmensverfassung. Diese Ordnung läßt sich vertragstheoretisch rekonstruieren als „Nexus von Verträgen" zwischen individuellen Ressourcenbesitzern. Zur Konstituierung des Unternehmens, also dem Zusammenschluß von individuellen Ressourcenbesitzern, kommt es in dieser Theoriearchitektur, weil die Erträge jedes einzelnen Ressourcenbesitzers aus seinen Ressourcen durch Kooperation mit anderen Ressourcenbesitzern über dem Niveau liegen, das für jeden alleine erreichbar wäre. Unternehmen sind demnach vertraglich konstituierte Kooperationsprojekte zur Erwirtschaftung von Kooperationsrenten. Die Herstellung und Sicherstellung von Kooperationschancen bildet folglich auch den theoretischen Ansatzpunkt für die Konstituierung eines kollektiven moralischen Akteurs. Hier ist das volle Argument in einem zweistufigen Aufbau, der zwischen einer konstitutionellen und postkonstitutionellen Phase unterscheidet. Zunächst zur konstitutionellen Phase. Verträge schränken die gegenwärtigen und zukünftigen Handlungsmöglichkeiten aller involvierten Mitglieder eines unternehmerischen Teams ein. Das ist ihr Sinn, und nur durch die Aufgabe des Hobbesschen „Recht auf alles" durch jeden Einzelnen wird Teamarbeit möglich. Die Unternehmung als Nexus von Verträgen konstituiert sich daher durch die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten ihrer Mitglieder, und als solche existiert sie gerade in Differenz und nicht in Identität mit der Summe ihrer Mitglieder. Unternehmen sind kollektive Akteure in dem Sinne, daß sie sich konstituieren und auf dieser Grundlage durch Governancestrukturen entsprechende Ent-
10 Vgl. Vanberg 1992.
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Scheidungen herbei- und durchführen. Darin ist als Differenz eingeschlossen, daß die einzelnen Mitglieder eigene Interessen, nämlich die ertragsoptimale Verwertung ihrer Ressourcen, mit ihrer Finnenzugehörigkeit verfolgen. Sie können dies aber nur, insofern sie die Unternehmens verfassung und die expliziten und impliziten Verhaltens Standards als Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit und damit zugleich Erfolgsvoraussetzung des Kooperationsprojekts akzeptieren. Der kollektive moralische Akteur Unternehmung konstituiert sich daher gerade nicht durch die Homogenisierung individueller moralischer Präferenzen, sondern durch deren Einschränkung. Es ist gerade die Differenz zwischen dem kollektiven und individuellen Akteur, die dem ersten eine distinkte moralische Existenzform und den letzteren Entscheidungsspielräume gibt. Mitarbeiter können, müssen sich aber nicht an die Verhaltensstandards ihrer Organisation halten. Ein Code of Ethics oder ein EthikManagementSystem sind daher Kompetenzen eines kollektiven Akteurs, definieren dessen moralische Identität, die das Produkt der vertraglichen Selbstbindung und Einschränkung aller Mitglieder des Unternehmens ist, die letztlich aus deren Eigeninteressen an der kooperativen Verwertung ihrer Ressourcen entspringt. Soweit der konstitutive Zusammenhang von Corporate Governance und Unternehmensethik als Akt der Handlungsbeschränkung. Für die postkonstitutionelle Phase eines Kooperationsprojekts hingegen muß aus Effektivitäts- und Effizienzüberlegungen heraus gelten, daß die gewollt langfristigen Vertragsarrangements über Adaptivität verfugen. Denn mit der Zusammenlegung der Ressourcen und Kompetenzen streben die Vertragspartner ja eine Erweiterung ihrer je individuellen Handlungsmöglichkeiten und Handlungserträge an. Diese Erweiterung aber kann sich nicht allein aus der strikten und buchstabengetreuen Vertragserfüllung ergeben. Weder sind die Anfangsausstattungen der Ressourcen aller Vertragspartner wechselseitig bekannt und in ihrem Wirkungsgrad eindeutig zu messen, noch können zukünftige Lernprozesse antizipiert werden. Es ist daher die systematische und von den Vertragsparteien wegen ihres Innovationspotentitals gewollte Unvollständigkeit der vertraglichen Handlungsbeschränkungen, die zu einer weiteren Andockstelle für Unternehmensethik als Governanceethik eines Kooperationsprojekts wird. Langfristige Verträge zur Etablierung eines Kooperationsprojekts in und zwischen Unternehmen sind mit Blick auf die Fähigkeit und Bereitschaft zur Kooperation systematisch unvollständig und durch Ambiguität und Kontingenz charakterisiert. Sie werfen daher im Vollzug ihrer Erfüllung immer auch moralische Fragen auf. Sie hier im einzelnen aufzuführen ist aus Platzgründen nicht möglich." Aber ihr Kern besteht darin, daß eigeninteressierte Akteure einen starken Anreiz haben, vertragliche Unvollständigkeit, Ambiguität und Kontingenz immer dann für sich opportunistisch auszubeuten, wenn sie diese Schädigung der Kooperationspartner kostenoptimal erreichen können. Ein solches Handeln ist der Sache nach eine Suspendierung der Kooperationsbereitschaft und eine Zerstörung der Kooperationsfähigkeit des kollektiven Akteurs. Das moralgesteuerte Unterlassen solcher Handlungen und die für das Team produktive Nutzung der Unvollständigkeit wirken entgegengesetzt.
11 Vgl. Wieland 1996, Teil IV.
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Die Prozessierung der Gegenstrebigkeit aus Beschränkung und Erweiterung, Sicherheit und Unsicherheit eines Kooperationsprojekts von individuellen Personen charakterisiert die kollektive Person „Unternehmung". Ihre Corporate Governance muß aus diesem immanenten Grunde heraus über moralsensible Steuerungs- und Kontrollmechanismen verfugen, die die individuellen Tugenden anreizen und Untugenden sanktionieren. Die Ethik der Governance definiert den Kontext und schafft die Voraussetzungen dafür, daß tugendethische Aspirationen in der Wirtschaft überhaupt zum Zuge kommen können. Sie senkt die Preise für individuelle moralische Kommunikation in der Organisation und schafft damit entsprechende Nachfrage. Auch dies ist eine Differenz markierende Funktion des kollektiven Akteurs gegenüber seinen individuellen Mitgliedern. Fassen wir zusammen: Sowohl auf der konstitutionellen als auch auf der postkonstitutionellen Ebene erlaubt die governancetheoretische Entwicklung von Moralfragen die Ethik der Unternehmung über die Werte der Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit als immanente Ressource eines Kooperationsprojekts zu entwickeln, dessen Voraussetzung die Existenz einer Differenz zwischen einem kollektiven Akteur und den individuellen Akteuren ist. Der Gegenstandsbereich der Governanceethik ist daher die anreizsensitive Implementierung moralischer Werte und Regeln in die Corporate Governance. Ihr Akteur ist der kollektive Akteur, nämlich die Organisationsform „Unternehmung".
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Zum Abschluß meiner Überlegungen möchte ich auf zwei Gesichtspunkte der Governanceethik zu sprechen kommen, die möglicherweise Kritik auf sich ziehen könnten.'2 Erstens: Führt der Einbau von moralischen Werten und Regeln in die Steuerungsstruktur wirtschaftlicher Transaktionen nicht zu einer Instrumentalisierung der Ethik? Zweitens: Impliziert die Governanceethik nicht die Aufgabe des Primats der Ethik? Beginnen wir mit der Instrumentalisierungsthese. Die Moralität einer Organisation ist eine Ressource oder eine Kompetenz, die nicht um ihrer selbst willen angestrebt wird, sondern um ihres Anwendungsbezugs willen. Einer der Gründe, warum es nicht klug ist, die Tugend und Moralität einer Organisation analog zu individuellen Personen zu konzipieren, ist folgender: Die Konstituierung eines kollektiven Akteurs der Wirtschaft geschieht niemals um seiner selbst willen, sondern immer um der damit verbundenen individuellen Interessen willen. Allgemeiner: Ethik mit gestalterischen Ambitionen hat in den Organisationen der Wirtschaft, wie überhaupt auch in der Gesellschaft, immer eine ökonomische Konsequenz. Das heißt: Kosten oder Nutzen. Es ist schon erstaunlich genug, daß die Instrumentalisierungskritiker nur der potentielle Nutzen der Ethik für die Wirtschaft beschäftigt, nicht aber deren Kosten. Aber noch erstaunlicher ist, daß sie nicht zu akzeptieren scheinen, daß es im 12 Dieser letzte Abschnitt folgt in weiten Teilen Wieland 1999a, Kap. 3.2 und 3.3, ist allerdings um einige entscheidende Argumente erweitert.
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Bereich der anwendungsbezogenen Ethiken gerade deren vermutete Nützlichkeit und distinkte Problemlösungskapazität ist, die dazu fuhrt, daß man sich überhaupt mit Ethik beschäftigt. Hinzu kommt: Der Glaube, daß sich Ethik für die Wirtschaft gezielt instrumentalisieren lasse, bezieht sich auf ein Niveau der Steuerbarkeit und Erwartbarkeit in wirtschaftlichen Transaktionen, das bis heute nur sozialistische Planwirtschaften für erreichbar gehalten haben. Der Ausgang der Geschichte ist bekannt. Die Governanceethik hingegen geht systematisch von Unsicherheit, unvollständigen Informationen, Ambiguität von Sachverhalten und Kontingenz aus und beschränkt sich daher auf die Formulierung, daß Moral als Ressource in den Organisationen der Wirtschaft relevante Konsequenzen für die Governance von Transaktionen hat. Sowohl die Unternehmen als auch die Gesellschaft haben ein Interesse daran, diese Konsequenzen positiv zu gestalten. Positiv heißt: Transaktionen in und zwischen Kooperationsprojekten sicherzustellen. Ob dies zu wirtschaftlichen Erträgen oder Kosten führt ist eine andere, jeweils vom Sachverhalt abhängige Frage, die nicht ex ante kalkulatorisch beantwortet werden kann. Sicher aber ist, daß positive moralische und ökonomische Konsequenzen nur dann erreicht werden können, wenn a) die moralische Ressource als moralische gewollt ist und b) ihre Instrumentierung (provokativer, aber theoretisch gehaltloser: Instrumentalisierung) gelingt. Ohne den Einbau moralischer Aspirationen (Bedingung a)) in operativ wirkende Governancestrukturen (Bedingung b)) kommt es weder zu einem dauerhaften moralischen Diskurs in einem Unternehmen noch zu gewollten ökonomischen Folgen. Die Instrumentierung der Ethik ist die Voraussetzung ihres A n w e n dungsbezugs. Der Primat der Ethik gegenüber der Ökonomik ist selbstevident in den hierarchisch differenzierten und antiökonomischen Adelsgesellschaften. Hier aber ist die Ethik selbst noch einmal dem Primat des Politischen und vor allem der Metaphysik unterworfen. Das alles setzt strukturell eine tradierte und mehr oder weniger homogene Moralkultur voraus, auf die man sich mit Erfolg beziehen kann, wenn abweichendes Verhalten kontrolliert werden muß. Man mag es begrüßen oder nicht - Tatsache jedenfalls ist, daß beide historischen Voraussetzungen eines Primats der Ethik gegenüber der Ökonomik - die Unterordnung der Ethik unter Politik und Metaphysik und eine durchgängige Moralkultur - heute in dieser Form nicht mehr existieren und auf absehbare Zeit auch nicht mehr existieren werden. Die Frage lautet daher: Wie läßt sich ein Primat der Ethik unter modernen Bedingungen überhaupt begründen und einlösen? Ich selbst neige zu der Auffassung, daß in funktional differenzierten Gesellschaften der Vorrang der ethischen Entscheidungslogik vor der ökonomischen philosophisch vielleicht begründet, aber nicht angewandt werden kann. Denn hier herrscht auf der Ebene der Funktionssysteme Autonomie. Das heißt erstens die Gleichrangigkeit aller verfugbaren systemisch begründeten Logiken und zweitens, daß Fremdsteuerung, sagen wir der Wirtschaft durch Ethik oder umgekehrt, auf dieser Ebene ausgeschlossen ist. Verläßt man die Ebene der Funktionssysteme und beschäftigt sich mit Aufgabenstellungen von Organisationssystemen, dann zeigt sich ein verändertes Bild. Ob man den Schutz der Umwelt eher ökonomischen Anreizen, technischen Innovationen, ordnungspolitischen Auflagen oder der Kraft moralischer Argumente zutraut, ergibt sich nicht aus deren Autonomieansprüchen, sondern ausschließlich aus ihrer jeweiligen Fähigkeit, die erwartete Lei-
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stung zu erbringen. Denn in lokalen Anwendungsbezügen herrscht Äquivalenzfunktionalismus aller beteiligten und akzeptierten Entscheidungswerte. Das könnte dann zu folgender Aussage führen: Ökonomische Anreize, technische Innovationen und ordnungspolitische Auflagen sind hinsichtlich ihrer Fähigkeit, ein distinktes Umweltschutzproblem zu lösen, der Kraft moralischer Argumente vorzuziehen. Oder zu folgender: Moralische Argumente sind hinsichtlich ihrer Fähigkeit, umweltpolitisches Bewußtsein zu initiieren, ökonomischen Anreizen, technischen Innovationen und ordnungspolitischen Auflagen vorzuziehen. Wenn daher auf der Ebene der Funktionssysteme der Gesellschaft der Primat der Ethik an der wechselseitig unaufhebbaren Autonomie systemischer Codierungen scheitert, so scheitert er auf der Ebene der Organisationssysteme der Gesellschaft am Effizienzkriterium des Äquivalenzfunktionalismus. Aus der Sicht der Governanceethik als angewandter Ethik läuft daher die Rede von einem Primat der Ethik auf eine durch nichts ausgewiesene Sonderstellung der Ethik im Gesamt der überhaupt erreichbaren Entscheidungswerte für volks- und betriebswirtschaftliche Probleme hinaus. Faktisch handelt es sich um ein Wettbewerbsverbot, denn diese Sonderstellung hindert die Ethik daran, in Wettbewerb und Kooperation mit anderen Entscheidungswerten ihre Problemlösungsfähigkeit in der Gesellschaft zu demonstrieren. In der Folge erodiert ihre Bindefähigkeit durch abnehmende soziale Relevanz. Dies wird heute in der Gesellschaft als „moralische Krise" kommuniziert und gelegentlich den unmoralischen Präferenzen der Individuen zugeschrieben. Dagegen hilft aus dieser Sicht natürlich nur die verschärfte Betonung des Primats der Ethik. Spätestens ab diesem Punkt der moralzerstörenden Spirale aus Primat der Ethik und dessen Nichtrealisierung nimmt der Primat der Ethik Züge einer Schutzforderung vor Konkurrenz an. Es wird gleichsam ein Reservat für eine scheinbar aussterbende Spezies gefordert, deren Entschwinden niemand wirklich will. Unternehmensethik ist dann das, was alle fordern, weil sie an seine Existenzfähigkeit nicht glauben. Demgegenüber unterstreicht die Governanceethik die Selbstverständlichkeit der ökonomischen Leistungsfähigkeit der organisationalen Ressource „moralische Regeln und Werte". Die Überlebensfähigkeit moralischer Regeln und Werte muß dann nicht mehr über eine Monopolstellung gesichert werden, sondern über ihre anreizsensitive Implementierung in die Goverancestrukturen wirtschaftlicher Transaktionen. Das ist im übrigen und nicht zuletzt ein einheitlicher Bezugspunkt für gesellschaftstheoretische Fragestellungen. Denn die Fähigkeit und Bereitschaft zur Kooperation und die daraus resultierenden Kooperationschancen sind simultan ökonomische, soziale und gesellschaftliche Phänomene. Darin liegt das integrative theoretische Moment der Governanceethik in funktional differenzierten Gesellschaften.
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Cornelius Fetsch
Die Globalisierung und die Rolle der Wirtschaftsethik in der Unternehmensfuhrung. Kommentar aus der Sicht des Großunternehmens 1. Globalisierung Die Globalisierung ist in international arbeitenden Unternehmen in den Sektoren Produktion, Handel, Information/Kommunikation, Finanzen und weitgehend auch in den Dienstleistungen Tagesgeschäft. In der öffentlichen Diskussion ist sie ein vielfach schillernder Begriff. Wenn von Globalisierung die Rede ist -
werden oft Tatsachen und Meinungen verwechselt. Als Möglichkeiten der Wahl kann man die Globalisierung loben oder sie kritisieren. Als Tatsache kann man dies nicht;
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sind als neue Tatsache die schrumpfenden Entfernungen festzustellen. Davon sind alle Menschen - Arme und Reiche, Eliten und Massen, Beschäftigte und Arbeitslose - und alle gesellschaftlichen Aspekte betroffen;
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denkt man oft an eine Ökonomisierung des Lebens. Die Globalisierung der Medien, der Produkte, der Informationstechnik und der Finanzmärkte hat in der Tat die Eliten rund um die Welt als wirtschaftlich Handelnde miteinander verbunden.
Der Einfluß der Globalisierung kann nur verstanden und behandelt werden, wenn man deren mehrschichtige Aspekte bedenkt: (1) Der ökonomische Aspekt: Fast alle Länder haben Marktwirtschaften und freien Handel. Sie tätigen gegenseitige Direktinvestitionen durch - bislang hauptsächlich bilaterale oder regionale - Investitionsabkommen. In vielen Ländern sind Prozesse der Privatisierung früherer Staatsunternehmen im Gange. (2) Der Technologie- oder Kommunikationsaspekt: Die Ehe zwischen den neuen Kommunikationstechniken, der Computer und die Elektronik haben aus der Welt das bekannte ,global village' gemacht. Dies hat einen enormen Einfluß auf die Wirtschaft, auf das Leben und die Kultur. CNN ist 24 Stunden am Tage bei uns. Aber mindestens ebenso wichtig: Menschen und Unternehmen auf der ganzen Welt stehen in einem fast ununterbrochenen Kontakt miteinander. Sie kön-
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nen sich über Marktpreise und Mehrheitsrechte - und alles was dazwischen liegt - austauschen. Und sie tun es. (3) Der politische Aspekt: Die Unterscheidung zwischen der ersten, der sogenannten freien Welt, der zweiten kommunistischen Welt und der dritten Welt (Entwicklungs-, postkoloniale, blockfreie Länder) ist zu Ende. Alle Länder wollen irgendwie zur ersten Welt gehören; aber andererseits ist der Begriff, erste Welt' in Bewegung. Es gibt kein festes Rezept für die Mischung zwischen Marktmechanismus, staatlicher Regelung und anderen gesellschaftlichen Organisationen. Im politischen Bereich sind viele traditionelle Hürden weggefallen. (4) Der kulturelle Aspekt: Ethnische, kulturelle und religiöse Bedingungen werden immer wichtiger, während die Rolle des Nationalstaates - und in seiner Folge auch der Nationalökonomie - schwächer wird. Konflikte, Bürgerkriege und Staatsbankrotte nach dem kalten Krieg sprechen für eine wenig friedvolle Welt. Letztlich beruht der wachsende Erfolg der Globalisierung auf dem Theorem der komparativen Kostenvorteile von Adam Smith. Nach ihm basiert der .Wohlstand der Nationen' auf Umfang und Tiefe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in und zwischen Ländern. Wir erleben heute die Globalisierung als einen weiteren Schritt in einem langem Prozeß vertiefter internationaler Arbeitsteilung. Ein weltweiter Raum freier wirtschaftlicher Betätigung ist nicht identisch mit einem statischen Zustand. Vielmehr ist in einer .offenen Gesellschaft' davon auszugehen, daß allein schon der technische Fortschritt, aber ebenso auch grenzüberschreitende Wanderbewegungen sowie die nationale oder regionale Wirtschaftspolitik, fortwährend die ökonomischen Daten verändern. So gesehen beschreibt .Globalisierung' einen offenen, nicht zielgerichteten Prozeß. Sie kann gleichzeitig als eine ökonomische Interpretation der Idee der ,Einen Welt' angesehen werden. Die Angst vor der Globalisierung ist kein neues Phänomen; schon früher sprach Wilhelm Röpke von der .Angst vor der Weltwirtschaft'. Diese Angst - wie immer sie auch ursächlich begründet sein mag - ist verständlich; denn die Menschen wollen beides - Freiheit und soziale Sicherheit. In der sozialen Sicherheit sehen sie die Grundlage ihrer Freiheit und menschlichen Würde, das Kernstück einer freiheitlichen Lebensordnung. Dem müssen die Politiker, aber auch die Unternehmensführungen, Rechnung tragen - nicht zuletzt auch im Interesse einer breiten Akzeptanz der freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in der Bevölkerung. Deshalb muß das Bestreben dahin gehen, die Freiheit mit der sozialen Sicherheit auch unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft in Einklang zu bringen. Nur so kann der Angst vor der Globalisierung soweit wie möglich vorgebeugt und entgegengewirkt werden. Dies setzt eine internationale Rahmenordnung und international wettbewerbsfähige Unternehmen voraus.
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2. Wissen und Wissensmanagment In dem Einladungs-Schreiben zu diesem Kolloquium führte Peter Koslowski zu dem Thema der Tagung ,Die Zukunft des Wissens' aus, daß ,mit diesem Thema dem Umstand Rechnung getragen werden muß, daß dem Wissen als Ressource, als Problemlösungs-Instrument und als Orientierungsfaktor eine weithin wachsende Bedeutung zukommt.' Es gehe an der Wende zu einem neuen Jahrhundert und Jahrtausend um eine neue Dynamik zwischen Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ich möchte daraus zwei Punkte ableiten: (1) Wissensmanagment im Unternehmen sowie (2) Chancen der Globalisierung durch interkulturelles Management und interkulturelle Kommunikation. ,Wissensmanagement' ist im Zusammenhang mit dem kernenden' Unternehmen zu einer neuen Führungsaufgabe geworden. Man erkennt Wissen als strategische Ressource mit allen Konsequenzen. Im erfolgreichen Wissensmanagement liegen entscheidende Kreativitäts- und Innovationsreserven. Wissen ist mehr als die Summe von Informationen. Um aus Informationen Wissen zu gewinnen, sind diese zu verarbeiten, zu verknüpfen, zu vergleichen oder zu bewerten. Wissensmanagement versucht Informationen im Hinblick auf bestimmte Zwecke zu strukturieren. Es handelt sich um eine kreative Tätigkeit. Unternehmen können von einem erfolgreichen Wissensmanagement die Steigerung der Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit des Unternehmens im Hinblick auf die ständig veränderten Marktanforderungen erwarten. Mehr und besseres Wissen ist zu erwarten, wenn alle Führungspersonen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fähig und bereit sind, Wissen zu teilen. Dies ist aber nur in einer Unternehmenskultur möglich, die einen entsprechenden verhaltensprägenden Einfluß auf Führungspersonen und Mitarbeiter hat. Eine solche Kultur muß für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Gruppen Freiräume für soziale Kommunikation schaffen. Hierzu gehört auch die Beteiligung an Entscheidungen. Der Mensch ist häufig dann das Haupthindernis für einen effektiven Wissenstransfer, wenn er seinen persönlichen Nutzen oder den Nutzen seiner Abteilung egoistisch in den Vordergrand stellt. Oft entsteht zwischen den Führungspersonen und Experten aus den verschiedenen Gruppen oder Abteilungen in ihrer Zusammenarbeit ein soziales Spannungsfeld. Deshalb ist Konfliktmanagement bewußt in das Wissensmanagement mit einzubeziehen. Die meisten Probleme sind auf Qualifikationsdefizite von Führungspersonen zurückzuführen. Sie zeigen sich in mangelnder Kommunikations- und Konfliktfähigkeit oder in der Unfähigkeit, in Zusammenhängen und Prozeßabläufen zu denken. Ihre Integrationsfähigkeit ist oft unterentwickelt. In einigen Unternehmen sind Paradoxien im Umgang mit dem Wissen anzutreffen. So ist oft Wissen vorhanden, aber es fehlen die Möglichkeiten oder die Bereitschaft, es nutzbringend anzuwenden. In anderen Fällen ist Wissen vorhanden, aber man weiß nicht, wie und wo darauf zurückgegriffen werden kann. Manche Unternehmen wissen mehr über Wettbewerber als über sich selbst.
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Diese Probleme und Mängel zeigen auf, daß oftmals eine geänderte Firmenkultur erforderlich ist, um Wissen zu managen. Die konventionelle Unternehmenskultur bevorzugt ein Bring-Prinzip des Wissens. Sie geht von hochqualifizierten Führungspersonen und Mitarbeitern aus. Weiterbildung wird als Belohnung angesehen. Wissen und Informationen werden monopolisiert und nur sporadisch und lückenhaft weitergegeben. Die richtige Information zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle ist Zufall. Anders sind die Verhaltensweisen in einer fortschrittlichen Firmenkultur. Sie hat hochqualifizierte, teamfähige, kommunikations- und konfliktfähige Führungspersonen und Mitarbeiter mit hoher sozialer Kompetenz. Sie holen sich das Wissen, das sie benötigen. Sie sind zur Weiterbildung motiviert und bestrebt, ihr Wissenspotential zu erweitern. Unternehmens-, Abteilungs- und Entwicklungsziele sind allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bekannt. Die erforderliche Informationsbereitstellung erfolgt gezielt. Informationen und Wissen werden nicht zur Machtausübung genutzt, sondern als Produktionsfaktoren. Denn Unternehmen konkurrieren nicht nur mit der Güte ihrer Produkte; ein Vorsprung, den es hier gibt, ist bald aufgeholt. Sie konkurrieren mit ihrer besseren Organisation, ihrer besseren Führung und der dadurch bewirkten Mobilisierung der Intelligenz und der Kreativität ihrer Mitarbeiter - eben mit ihrer ganzen Unternehmenskultur. Wissensmanagement, das nicht darauf basiert, baut auf Sand. Wissen steht weltweit abrufbar zur Verfügung: Das Internet schafft binnen Minuten Überblicke über Angebote und Preise. Es gibt keine Alternative gegenüber dieser Vernetzung von weltweiter menschlicher Aktivität und der damit verbundenen und notwendigen Zusammenarbeit rund um den Erdball. Die Zukunft entstand schon immer in den Köpfen der Mitarbeiter - d. h. durch deren Wissen und Kreativität. Wären die vorausgegangenen Generationen nur .Weitermacher' gewesen, so fuhren wir heute noch in deren Pferdekutschen. Wissen als Faktor der Globalisierung sichert einerseits die Wettbewerbsfähigkeit der Produkte und Unternehmen und ist andererseits der Schlüssel zur Kooperationsfähigkeit. Diese ist das Vehikel, Zugang zum Wissen aus anderen Bereichen zu erhalten. Nicht zuletzt unter diesem Aspekt kann die Globalisierung ganz erheblich friedenssichemd wirken.
3. Chancen der Globalisierung durch interkulturelles Management und interkulturelle Kommunikation Direkt verbunden mit dem Wissensmanagement ist in der Globalisierung das interkulturelle Management. Die notwendige Mobilität der Menschen erzeugt zunehmend interkulturelle Begegnungen mit großen Chancen, aber auch mit Gefahren des Mißlingens. Unternehmen müssen lernen, mit Geschäftspartnern aus fremden Ländern vorurteilsfrei umzugehen und die kulturspezifischen Vorteile für die eigenen Unternehmensziele zu erkennen und zu nutzen. Der weltoffene Wirtschaftsverkehr verlangt Führungsqualitäten, die den veränderten kulturellen Einflüssen Rechnung tragen und aus ihnen mit geeigneten Anreizen positive Impulse gewinnen. Der Erfolg auf globalen Märkten beginnt mit einer gezielten Personalauswahl, verbunden mit einer qualifizierten Ausbildung über fremde Kulturen sowie mit systematischen interkulturellen Begegnungen im In- und Ausland.
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Management und Arbeitssituationen sind ein Abbild des Menschenbildes und der Denkweisen der verschiedenen Kulturen. Werthaltungen bestimmen im hohen Maße das Verhalten in Organisationen. Aus dieser Sicht erscheint es problematisch, wenn man im Westen fernöstliche oder in der fernöstlichen Welt westliche Werte den jeweils fremden Mitarbeitern aufzwingen will, um die Kreativität oder die Produktivität zu steigern. So ist die Basis für amerikanische Management-Theorien - z. B. ,Management by Objectives' - auch die amerikanische Organisation. Man sollte sich hüten, die jeweiligen Theorien unkritisch einer fremden Kultur auszusetzen. Es ist deshalb kein Wunder, daß japanische ,Qualitätszirkel', ohne entsprechende Anpassungen, bei uns nicht den erwarteten Erfolg brachten. Für international ausgerichtete Unternehmen ist es wichtig, die Unterschiede zwischen den nationalen .Wertesystemen' herauszufinden. Gemeinsame Sprache, Geschichte und Kultur von Gesellschaften bilden den Ursprung für ein hohes Maß an geistiger Prägung ihrer Bürger. Interkulturelles Management und Lernen haben dann Erfolg, wenn Kenntnisse über fremde Kulturstandards vorhanden sind und Führungskräfte und Mitarbeiter zusätzlich fähig sind, das Menschenbild des Ausländers und seine Denkweisen wahrzunehmen und zu verstehen. Betriebsangehörige vieler Unternehmen müssen heute bereit und fähig sein, für längere Zeit ins Ausland zu gehen, um dort mit ihren Familien zu leben und zu arbeiten. Der wirtschaftliche Erfolg unseres Landes wird in einem hohen Maße von einer gelingenden und weiter wachsenden Auslandsorientierung abhängen. Erst wenn sich Geschäftspartner im interkulturellen Rahmen verstanden fühlen, werden sie das Verhalten ihres Partners als kompetent erachten. Das bedeutet, daß Kompetenz keine feste Größe, sondern stets an einen situativen und zeitlichen Rahmen gebunden ist. Umgesetzt in die Praxis bedeutet dies den ständigen Einsatz von nationalen Führungskräften zusammen mit sogenannten ex-patris aus anderen Ländern. Grundsätzlich sind wir der Meinung, daß im jeweiligen Land die geeigneten Führungskräfte zu finden sind, die jedoch die Kultur einer privaten Familienfirma akzeptieren wollen, in der zur Zeit die sechste und siebente Inhabergeneration tätig sind. Ex-patris sind überall in der Minderzahl. Dies hat damit zu tun, daß wir bereitwilligen Menschen in allen Ländern, in denen unser Unternehmen tätig ist, zutrauen, das Beste für die Firma zu erreichen, weil sie die Kultur, Geschichte, Mentalität usw. ihres Landes und seiner Bewohner am besten verstehen. Dies hat wesentlich zu tun mit der Rolle der Wirtschaftsethik, die im nächsten Kapitel angesprochen wird.
4. Die Rolle der Wirtschaftsethik Das Leitbild einer gerechten Wirtschaftsordnung ist so alt wie die menschliche Gesellschaft selbst. Der Markt ist eine uralte Erfindung der Menschheit. Er findet sich in allen Kulturen und dient dem Ausgleich von Angebot und Nachfrage, zu dem sich Produzenten und Verbraucher auf dem Markt begegnen. Durch den Wettbewerb der Leistungen ist der freie Markt das wirksamste Instrument, die verfügbaren knappen Mittel optimal zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse einzusetzen. Freier Wettbewerb lenkt über den Markt den
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Produktionsprozeß im Sinne der individuellen Verbraucherwünsche und schützt vor Ausbeutung. Der Markt ist also ein Lenkungsinstrument und als solches wertneutral. Der englische Sozialethiker Adam Smith war davon überzeugt, daß die freie Marktwirtschaft durch den Antriebsmotor ,Eigennutz' zum Wohle aller führe, und zwar in ,prästabilisierter Harmonie' von ,unsichtbarer Hand' geleitet. Smith hatte allerdings nicht hinreichend erkennen können, daß ungeordneter, zügelloser Wettbewerb und Vermachtung der Märkte durch Kartelle, Monopole, Fusionen und neuerdings durch sogenannte strategische Allianzen die erstrebte, positive Wirkung gefährden. Die Wirtschaft ist eben kein automatischer Mechanismus, sondern ein vom Menschen gestalteter Kulturprozeß. Die erwünschten Leistungen des Leistungswettbewerbs setzen eine entsprechende Wirtschaftsverfassung voraus, die der Staat durch eine wirksame Rechtsordnung sicherstellen muß. Dazu gehören insbesondere ein Kartellgesetz und die Fusionskontrolle als Bremse gegen eine prinzipielle und grenzenlose Vertragsfreiheit. Schon John Locke hatte - im Unterschied zu Thomas Hobbes - darauf bestanden, daß der politische Gesellschaftsvertrag keinen beliebigen Inhalt haben könne und dürfe. Denn die Menschen haben von Natur aus, also von ihrem Schöpfer - ,by their creator', wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 feststellt unveräußerliche Rechte und Pflichten, die vom Gesellschaftsvertrag bzw. von dem aus ihm hervorgehenden Staat nicht angetastet werden dürfen. Die Jiberty' zum Gesellschaftsvertrag darf deshalb nach John Locke nie das naturrechtliche Urgestein von ,familiy' und ,property' antasten. Bekanntlich ist die Marktwirtschaft nach dem Desaster der ,ZentralverwaltungsWirtschaft' (Walter Eucken) als einziges Modell zur Steuerung des Wirtschaftsprozesses übrig geblieben - allerdings in unterschiedlichen Ausformungen. Die bundesrepublikanische Soziale Marktwirtschaft ist an Freiheit und Gerechtigkeit zugleich ausgerichtet. Wie der evangelische Christ Alfred Müller-Armack, dem wir die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft verdanken, oft hervorgehoben hat, gehören zu den geistigen Grundlagen auch die Ordnungsprinzipien der Katholischen Soziallehre: Personalität, Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl. Gefahren drohen dieser Wirtschaftsform vorwiegend aus der Einschnürung personaler Freiheit und der Mißachtung subsidiärer Zuständigkeiten. Ohne ausreichende Freiheits- und Verantwortungsspielräume kann überhaupt keine Marktwirtschaft existieren. Sollte man etwa wegen der Möglichkeit ihres Mißbrauchs die Freiheit abschaffen? Übertragen auf unsere Situation müssen wir feststellen, daß die Globalisierung ein ambivalenter Vorgang ist. Sie ist aber weder eine Art Naturgewalt noch ist alles Globale stets nützlich und von vornherein besser. Die Globalisierung ist vielmehr eine Herausforderung, die es politisch verantwortlich zu gestalten gilt. Nur so lassen sich ihre positiven Chancen nutzen und gefährliche Fehlentwicklungen korrigieren. Politische Gestaltung bedarf aber der bewußten Umsetzung durch Personen. Neben dem Politiker ist der Unternehmer gefordert - beide in ihrer Rolle als , global player' und als Pioniere. Wenn große Unternehmen als erste die Chance haben, die Globalisierung im Sinne erweiterter Märkte zu nutzen, müssen sie auch als erste Leuchttürme sein. Freiheit und Würde des Menschen hängen weitgehend vom Ordnungssystem der Wirtschaft ab. Wenn wir politisch mit den Menschenrechten allen Menschen der Erde die gleiche Würde zugestehen, haben sie auch alle ein Recht auf Arbeit. Damit aber lassen sich Fakten wie ein ge-
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sperrter Zugang zu den Agrarmärkten, Zölle und technische Barrieren, Festungsbauten in Vorschriften und Köpfen nicht vereinbaren. An dieser verständlichen Angstgrenze tut sich die Parallele zur Schuldenproblematik der Entwicklungsländer auf. Ich zitiere, als Mitglied des Bundes Katholischer Unternehmer, Pater von Nell-Breuning, den Nestor der deutschen Sozialethiker: Entwicklungshilfe kann also nicht darin bestehen, daß wir uns zugunsten der Entwicklungsländer arm machen; das schlüge nicht zu deren Vorteil aus, sondern würde ihnen ganz im Gegenteil allerschwersten Schaden zufügen. Ein solcher Versuch könnte zur Folge haben, daß ihnen überhaupt nicht mehr geholfen werden kann [...]. Um den Entwicklungsländern zu helfen, dürfen wir uns nicht arm machen, sondern müssen im Gegenteil alles tun, um nicht nur reich zu bleiben, sondern noch reicher zu werden. Diese Reichtumsvermehrung müssen wir allerdings zu einem guten Teil in den Entwicklungsländern anlegen (sogenannte Direkt-Investitionen). Aber ebenso wie der Reichtum, den wir mehren müssen, nicht in Genußvermögen, sondern in Produktivvermögen besteht, so bedeutet auch die weiter steigende Lebenshaltung kein bequemes oder schwelgerisches Leben in Saus und Braus, sondern ein Leben mit vollkommenerer Ausstattung an technischem und kulturellem Komfort, ein Dasein mit weniger körperlicher Belastung und mit günstigeren Voraussetzungen für die geistige Entwicklung.' Was bedeutet diese Aussage für unsere Situation? Wir müssen die Politiker bestärken, kontrollierbare Weichenstellungen vorzunehmen. Dazu zählen die Weiterentwicklung der Welthandels- und Weltfinanzordnung, unter anderem durch effektivere Wettbewerbsregeln gegen die Zusammenballung wirtschaftlicher Macht, durch Sozial- und Umweltstandards, die aber keinen neuen Protektionismus der Industrieländer fördern dürfen, sowie eine wirkungsvolle Umsetzung des internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Korruption. Vor allem bedarf es der Verknüpfung von finanziellen Hilfen und strukturellen Maßnahmen, die bewußt ökonomisch und ethisch begründet sind. Erste, leider sehr späte Bekenntnisse dazu kann man zunehmend vom IWF lesen und hören. Dazu müssen wir uns selber als Unternehmer engagieren: zuerst in unseren Unternehmen und auch in uns nahestehenden Verbänden und Organisationen in Form einer aktiven Mitgliedschaft. Ich nenne beispielhaft: OECD, WTO, IW, BDA, BDI, IAO, NGO's usw. Die besondere Bedeutung politisch-strukturhafter Maßnahmen hat Kardinal Frings einmal wie folgt formuliert: ,Die Rentenreform 1957 hat mehr Menschen wirtschaftlich geholfen als alle Elisabethen- und Vinzensvereine zusammen. Eine gesunde Wohnungsbaupolitik schafft mehr Wohnungen als aller Appell an das christliche Gewissen, den einen oder anderen überflüssigen Raum einer Familie zur Verfugung zu stellen.' Gefragt ist eine globale Strukturpolitik, vergleichbar den Reformen vor gut 100 Jahren in Europa zu Beginn der Industrialisierung. Im Ordnungssystem der Wirtschaft spielen die Unternehmen eine entscheidende Rolle, weil sie der Bereich für Werte-Management sind. Die Verantwortung ist klar zugeordnet; der persönliche Inhaber/Unternehmer bzw. das Management (Mitglieder des Vorstandes bzw. der Geschäftsführung) tragen sie an erster Stelle: intern/extern, national und international. Sie müssen Werte als erkennbare Haltungen und Einstellungen leben; sie bilden den Kern der Unternehmenskulturen und geben Sinn und Orientierung. Sie entsprechen damit
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dem Anliegen der Menschen und - auf das Unternehmen bezogen - unserer Mitarbeiter in doppelter Weise: einmal um dem eigenen Leben Sinn bzw. Identität zu geben und zum anderen um Sinn in der Welt, im Beruf zu finden durch das Gestalten. Weltweit produzieren und verkaufen bedeutet somit als Folge auch weltweite Verantwortung als Unternehmer flir die Kunden und Mitarbeiter an allen Standorten des Unternehmens. Besonders in neuen kulturellen und religiösen Räumen ist es von großer Bedeutung, in welcher Weise Geschäfte getätigt werden. Dabei müssen die Unternehmer in einem globalen Markt die Effekte und Konsequenzen ihrer Entscheidungen umfassender und früher als bisher bedenken. Waren bisher Korrekturen in überschaubaren, lokalen Märkten relativ einfach, wird dies im globalen Zusammenhang schwieriger und aufwendiger. Hier haben internationale Firmen eine besondere Verpflichtung, da häufig ein Gegenüber im Sinne einer Gegenmacht fehlt. Respekt vor der Würde und Wertschätzung des Menschen müssen dabei ihren spürbaren Ausdruck finden. Grundlage dieser Aussage ist die Überzeugung, daß alle Menschen ein Recht auf Leben sowie die Sicherung der zum Leben notwendigen Güter - Kleidung, Wohnung, Erziehung, Bildung, medizinische Versorgung und Umweltschutz - haben. So, wie alle Menschen das Recht auf wirtschaftliche Initiative und praktische Arbeit besitzen, haben sie auch die Pflicht zu arbeiten, sowie eine Verantwortung für ihre Familien und eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft.
5. Praktische Anwendung im Unternehmen 5.1 In diesem Kapitel möchte ich über die Praxis und Erfahrungen aus dem eigenen Firmenbereich berichten. C&A hat den europäischen Einkauf in den letzten Jahren in Düsseldorf und Brüssel zentralisiert. International zusammengesetzte Teams kaufen weltweit die Kollektionen ein - d. h. ein Team kann sich z. B. aus je einem Einkäufer bzw. einer Einkäuferin aus England, Spanien, Frankreich und der Schweiz zusammensetzen. Gemeinsame Verhandlungssprache ist englisch. Sie können sich leicht vorstellen, daß es hier einer genauen internen Abstimmung bedarf in allen Bereichen - der Qualität, des Marketings, der Beratung, des Warenumschlags, der Einkaufs- und Lieferkonditionen usw. - und dies alles sowohl in kommerzieller wie in gesellschaftlicher und ethischer Hinsicht. Die drei letztgenannten Faktoren sind gemeinhin eng miteinander verwoben und können in der Theorie leichter getrennt behandelt werden als in der praktischen Durchführung. Man versteht dies genauer anhand eines Beispiels: das preiswerte T-Shirt. Man könnte an seine Stelle genauso die Jeans, das Herrenhemd, Strümpfe, Sportschuhe oder beliebige andere Artikel setzen. Vordergründig entscheidend für die Kunden und die Marktposition eines Unternehmens ist zuerst einmal der Verkaufspreis im Geschäft. Dahinter stehen aber möglicherweise folgende Fragen: Einlauf des T-Shirts nach dem Waschen; Kinderarbeit, Gefangenenarbeit, Arbeitszeiten der Näherinnen in Asien, Afrika oder Südamerika, ihre generellen Arbeitsbedingungen (gibt es z. B. einen Mindestlohn), Krankenversicherung,
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Recht auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft; Verwendung gefährlicher Arbeitsmittel wie z. B. Farben, Bleichmittel usw. Da wir weder die in eigenen Labors entwickelten und ständig überprüften Qualitätsvorschriften noch die auf der Grundlage der Menschenwürde bzw. unseres christlichen Menschenbildes basierenden Firmenstandards unterschreiten wollen, haben wir einen ,Code of Conduct' für „Supply of Merchandise" entwickelt. Dieser ist die Grundlage aller von C&A weltweit vergebenen Aufträge. Ohne seine Akzeptanz schließen wir keine Aufträge ab. Er macht in zwölf Kapiteln konkrete Aussagen, wie aus der Anlage zu entnehmen ist. Da es erfahrungsgemäß nicht genügt, nur gegen etwas zu sein, muß man selber konkrete Maßnahmen auf den Weg bringen. Aus diesem Grunde hat C&A begonnen, auf dem schwierigen und vielschichtigen Gebiet der Kinderarbeit mit einem geeigneten Partner: terre des hommes zusammenzuarbeiten. Dies ist ein erster Versuch. Der ,Code of Conduct' für „Supply of Merchandise" ist ein weit gefaßter Katalog, der einerseits konkrete Maßnahmen und Vorschriften und andererseits eine flexible Weiterentwicklung auf Grund neuer Erfahrungen und Einsichten beinhaltet. Grundsätzliches Ziel ist es, daß C&A seinen Kunden gegenüber die Verantwortung dafür übernimmt, daß die Bekleidung, die sie bei C&A kaufen, unter Wahrung der Menschenrechte und sozialverantwortlich hergestellt worden ist.
5.2 An dieser Stelle könnte das Kapitel eigentlich beendet werden, aber bisher ist nur die eine Seite der Medaille beschrieben worden (zugegebenermaßen eine wichtige und unerläßliche). Die zweite Seite der Medaille betrifft alle Mitglieder der Gesellschaft. Jeder ist täglich mit irgendeiner Kaufentscheidung der wirkliche Arbeitgeber im Markt. Was und wo gekauft wird, entscheidet über den Markt und die darin operierenden Unternehmen. Im Fall des T-Shirt-Themas kennen viele den Versuch, im Rahmen des sogenannten ,Fair-Trades' einwandfrei hergestellte Produkte aus der 3. Welt mit einem garantierten .fairen Lohn' für die Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Märkten anzubieten. Neben Kaffee und Tee, Säften, Obst usw. hat auch ein Versuch mit T-Shirts, hergestellt in Afrika aus natürlicher Baumwolle ohne extreme chemische Behandlung und Düngung, in der Schweiz stattgefunden. Diese Artikel wurden für den Käufer entsprechend durch Zusatzetiketten gekennzeichnet und erklärtermaßen um ein bis zwei Franken höher angeboten. Das Ergebnis war vernichtend! Es klaffte eine riesengroße Lücke zwischen den Aussagen einer vorangegangenen nationalen Kundenumfrage und der wirklichen Bereitschaft des einzelnen, wenn es darum geht, aus dem eigenen Geldbeutel zu zahlen. Ohne die Mitwirkung des einzelnen Bürgers und Kunden ist es aber nicht möglich, eine globale Zivil-Gesellschaft aufzubauen. Es nützt nichts, immer nur zu wissen und zu fordern, was andere tun müßten.
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6. Eine neue Formel: Beteiligungsgerechtigkeit Rasche Veränderungen in der Technologie, den Methoden und der Reichweite der Geschäftstätigkeiten werfen ethische Fragen auf - sowohl für die Gesetzgebung wie auch hinsichtlich der Erfahrung, nicht die notwendigen fertigen Antworten zur Globalisierung geben zu können. Ich nenne als Stichworte: Weltregierung, Weltpolizei, Weltwirtschaftsordnung. Josef Kardinal Ratzinger hat unsere Situation wie folgt beschrieben: ,Wir brauchen heute ein Höchstmaß an wirtschaftlichem Sachverstand, aber auch ein Höchstmaß an Ethos, damit der wirtschaftliche Sachverstand in den Dienst der richtigen Ziele tritt und seine Erkenntnis politisch vollziehbar und sozial tragbar wird.' Hinter diesem Zitat steht die entscheidende Frage nach einem umfassenden Personenverständnis. Man kann die Globalisierung für alle Teilnehmer nur erfolgreich gestalten, wenn der Mensch als Person und originärer Träger von Würde, von Rechten und Pflichten verstanden wird. Auf dieser Basis sind alle Menschen im Wirtschaftsleben moralisch Handelnde: als Arbeitnehmer, Eigentümer, Manager, Aktionäre, Gewerkschaftler und Verbraucher. Durch individuelle Wahlentscheidungen, durch Kreativität und Investitionen erhöhen oder mindern sich die Chancen in der Wirtschaft, das Wohl der Gemeinschaft und die soziale Gerechtigkeit. Angesprochen ist also direkt die persönliche Moral, die in allen geschäftlichen Dingen Geltung haben muß. Gerade hier wird deutlich, wie entscheidend das Einüben geistiger Haltungen ist. Gefordert sind daher zuvorderst die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik. Für eine nachhaltig positive Globalisierung bedarf es erneut der Pionier-Unternehmen - oder .Leuchttürme' in meiner Sprache - , die sich in ihren Entscheidungen bewußt und beispielsetzend von der Würde des Menschen leiten lassen. Diese Haltung eröffnet Teilnahmechancen in vielen Lebensbereichen und führt zu mehr Beteiligungsgerechtigkeit (verstanden als Chance auf Teilhabe und Lebensperspektive) statt sich damit zu begnügen, Menschen ohne echte Teilhabe lediglich finanziell abzusichern. Deshalb muß die Verwirklichung von Beteiligungsgerechtigkeit, die sich von der Würde des Menschen herleitet, oberste Priorität in dem politischen Reformprozeß haben. Globalisierung - so gesehen - ist ein neuer Angang, ökonomische Sachlogik und sozialethische Orientierung zu verknüpfen.
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Anhang: Code of Conduct für „Supply of Merchandise" Einführung Der „C&A Code of Conduct für Supply of Merchandise" beinhaltet die Regeln im geschäftlichen Verhalten, die wir als grundlegend für unseren Umgang mit Lieferanten erachten. Obwohl unser Umgang mit Lieferanten oft in Kulturen stattfindet, die sich von der unseren unterscheiden und ein anderes Normen- und Wertegerüst haben, sind gewisse Standards doch allgemein gültig und müssen auf alle unsere geschäftlichen Aktivitäten angewandt werden.
Lieferantenbeziehungen Wir streben langfristige Geschäftsbeziehungen mit unseren Lieferanten an. Von diesen Lieferanten erwarten wir, daß sie - unter Berücksichtigung ihres eigenen kulturellen Umfeldes - unsere ethischen Standards respektieren. Die Basis unserer Beziehungen zu Lieferanten ist das Prinzip fairen und ehrlichen Handelns zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Wir fordern von unseren Lieferanten ausdrücklich, daß sie das gleiche Prinzip fairen und ehrlichen Handelns auf alle anwenden, mit denen sie geschäftlich zu tun haben, einschließlich Angestellter, Subunternehmer und anderer Dritter. Dieses Prinzip bedeutet auch, daß Geschenke oder sonstige Zuwendungen grundsätzlich weder angeboten noch akzeptiert werden können.
Gesetzliche Aspekte und Urheberrechte Wir werden immer in Übereinstimmung mit den jeweiligen Gesetzen der Länder handeln, in denen wir geschäftlich tätig sind. Gleiches verlangen wir unter allen Umständen auch von unseren Lieferanten. Die Urheberrechte von Dritten sind von allen Beteiligten zu respektieren.
Arbeitsbedingungen Über die allgemeine Forderung hinaus, daß alle Lieferanten das Prinzip fairen und ehrlichen Handelns auf alle anderen ausdehnen, mit denen sie Geschäftsbeziehungen pflegen, haben wir spezielle Forderungen, die sich auf die Arbeitsbedingungen beziehen, die auf dem Respekt vor den fundamentalen Menschenrechten basieren. Diese Forderungen beziehen sich nicht nur auf die Produktion für C&A, sondern auch auf die Produktion für Dritte: • Kinderarbeit ist unter keinen Umständen zu akzeptieren. Das Alter der Arbeitnehmer soll mindestens 14 Jahre sein oder dem gesetzlichen Mindestalter im jeweiligen Land entsprechen, wenn letzteres höher sein sollte. • Wir tolerieren weder Zwangsarbeit noch Arbeit, die physischen oder psychischen Mißbrauch oder irgendeine Form von Körperstrafe beinhaltet. • Die Ausbeutung schutzloser Individuen oder Gruppen wird unter keinen Umständen toleriert. • Löhne und sonstige Zuwendungen müssen ohne Ausnahme den örtlichen Tarifen und Gesetzen und dem allgemeinen Prinzip fairen und ehrlichen Umgangs entsprechen. • Die Lieferanten müssen sicherstellen, daß alle Produktionsprozesse unter Bedingungen stattfinden, die in sachgerechter und angemessener Weise Rücksicht auf die Gesundheit und Sicherheit der Beteiligten nehmen.
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Umweltaspekte Die Verwirklichung von Umweltstandards ist ein komplexes Thema - speziell in Entwicklungsländern. Deshalb muß dieses Thema kontinuierlich unter dem Aspekt des im Land Erreichbaren betrachtet werden. Wir werden mit unseren Lieferanten daran arbeiten, unsere gemeinsamen Verpflichtungen gegenüber der Umwelt zu erfüllen.
Vereinigungsfreiheit C&A anerkennt und respektiert die Freiheit der Arbeitnehmer, einer Organisation ihrer Wahl beizutreten, sofern die Organisation im jeweiligen Land einen legalen Status hat. Lieferanten dürfen diese legalen Aktivitäten nicht verhindern oder behindern.
Mitteilungspflicht und Inspektionen Wir fordern von unseren Lieferanten umfassende Informationen über alle Fakten und Umstände, die die Produktion und den Einsatz von Subunternehmern betreffen. Alle C&A-Lieferanten haben ihre Subunternehmer über den C&A Code of Conduct zu informieren und sie darauf festzulegen. Außerdem sind unsere Lieferanten verpflichtet, SOCAM, der von C&A eingesetzten Auditgesellschaft, Zustimmung zu erteilen, jederzeit unangemeldete Inspektionen aller Produktionsstätten durchzuführen.
Überwachung Damit dieser Code mit seinen Anforderungen tatsächlich Bedeutung erhält, werden wir sicherstellen, daß die Einhaltung seitens unserer eigenen Mitarbeiter und Lieferanten aktiv überprüft und überwacht wird. Somit werden unsere Standards ein wesentlicher Bestandteil der täglichen Managementprozesse. Wir werden alle notwendigen Informationssysteme und Möglichkeiten von Vor-Ort-Inspektionen zur Verfugung stellen, um dieses Ziel zu erreichen.
Sanktionen Wo sich herausstellen sollte, daß ein Lieferant den Anforderungen des von uns aufgestellten Codes in der Produktion für C&A oder einen Dritten zuwiderhandelt, werden wir nicht zögern, unsere Geschäftsbeziehungen abzubrechen, einschließlich der Stornierung aller ausstehenden Orders. Wir behalten uns außerdem das Recht zur Durchfuhrung sonstiger, uns geeignet erscheinender Maßnahmen vor.
Verbesserungspläne Wenn Geschäftsbeziehungen infolge der Verletzung des C&A Code of Conduct abgebrochen wurden, können sie lediglich wiederhergestellt werden, wenn der Lieferant C&A einen überzeugenden Verbesserungsplan zur Genehmigung vorgelegt hat.
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Information und Ausbildung Wir werden alles Notwendige tun, um sicherzustellen, daß sich unsere Mitarbeiter und Lieferanten vollständig unserer Standards und Forderungen bewußt werden. Wir werden alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um ein umfassendes Verständnis und ein gemeinsames Handeln bezüglich der Absichten und Ziele dieses Codes zu fördern.
Weiterentwicklung des Codes Dieser Text ist die aktualisierte Fassung des 1996 veröffentlichten „C&A Code of Conduct für Supply of Merchandise", den er ersetzt. Obwohl die Notwendigkeit von Kontinuität und Beständigkeit besteht, müssen die Inhalte dieses Codes im Hinblick auf die praktischen Erfahrungen und die sich verändernden Verhältnisse im Laufe der Zeit angepaßt werden. Wir werden weiterhin sicherstellen, daß dieser Code regelmäßig überprüft und wenn nötig überarbeitet wird.
© C&A Mode Mai 1998
Kolloquium IX Bio- und Medizinethik
Richard Schröder
Einführung Bioethik ist ein vergleichsweise junger Ausdruck. Er bezeichnet nicht etwa einen spezifischen Ethikansatz oder Ethiktyp, sondern eine der angewandten Ethiken, nämlich ethische Fragen im Umfeld des Lebens. Im weitesten Sinne gehört dazu die Umweltethik, im engeren Sinne der Umgang mit Lebendigem. Das größte Interesse liegt aber auf den Fragen unseres Umgangs mit der menschlichen Lebendigkeit, Leiblichkeit oder Animalität. Lebensanfang, Lebensende sowie Krankheit und Gesundheit sind dabei die zentralen Felder. Das sind uralte Themen ethischer Reflexion und von altersher zugleich Fragen der ärztlichen Standesethik. Der Ausdruck „angewandte Ethik" ist, genau besehen, zu harmlos. Er suggeriert, es ginge darum, theoretisch Unstrittiges anzuwenden oder umzusetzen in die Praxis. Die heutige Konjunktur der sogenannten angewandten Ehtiken hat in Wahrheit ihren Grund in der gewachsenen Komplexität und den Innovationsschüben, die unsere moderne Lebenswelt prägen. Das erfordert Spezialisten, die sich in den betreffenden Lebens- und Handlungsbereichen ebenso gut auskennen wie in der Praxis ethischer Urteilsbildung. Neue Möglichkeiten menschlichen Handelns werfen alte Fragen neu auf. Die angewandten Ethiken haben die prinzipiellen Fragen nicht hinter sich, sondern vor sich liegen, sozusagen in den Händen. Das macht im Blick auf die Fragen des Lebensanfangs der Beitrag von Dieter Birnbacher deutlich. Es gilt aber ebenso für die alte Frage des Lebensendes, seitdem das alte Kriterium „letzter Herzschlag, letzter Atemzug" nicht mehr gilt. Sie müssen nicht „letzte" sein, seitdem Maschinen die Funktion von Herz und Lunge übernehmen können. Auf dem Feld der Bioethik brechen zwei sehr grundsätzliche Fragen auf, die ich kurz erläutern möchte: Das eine ist die Frage: Was ist der Mensch? - und zwar besonders im Blick auf das Verhältnis von animal und rationale oder der Zugehörigkeit zur species homo sapiens und unserem Personsein. Dahinter steht die Frage, wer ist unseresgleichen und genießt den Schutz der Goldenen Regel? Sind also Menschenrechte tatsächlich Menschenrechte, nämlich gültig
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für alle, die von Menschen abstammen, oder sind sie genauer Personenrechte, gültig für Wesen, die die Kriterien der Personalität erfüllen? Im zweiten Falle würde sich der Kreis der Inhaber dieser Rechte zunächst erweitern, sofern wir annehmen, daß auch Menschenaffen die Kriterien von Personalität erfüllen, nämlich Selbstbewußtsein und Zukunftswünsche. „Menschenrechte für Menschenaffen" wäre dann die Konsequenz. Eine Rechtsgemeinschaft könnten wir allerdings mit ihnen dennoch nicht bilden, weil sie nicht vertragsfähig sind. Andererseits würde sich aber der Kreis der Inhaber dieser Rechte verkleinern, weil von Menschen abstammende Wesen, die diese Kriterien noch nicht oder nicht mehr besitzen, auch diese Rechte nicht hätten. Wichtiger ist aber noch dies: Personenrechte müßten verliehen werden, ehe sie anerkannt werden. Sie müßten nicht zuerst respektiert, sondern zuerst erworben werden. Menschen dürften Menschen zu Personen erklären oder auch nicht. Damit bin ich schon bei dem anderen sehr grundsätzlichen Problem, dem Verhältnis von Freiheit und Schicksal. Verfügungserweiterung ist ein legitimes menschliches Grundinteresse, also z. B. dem Hunger, der Krankheit, Naturkatastrophen den Charakter des unabwendbaren Schicksals zu nehmen. Solche Verfügungserweiterungen erheben zugleich in den menschlichen Verantwortungsbereich, was zuvor Schicksal war. Derzeit verliert das Klima den Schicksalscharakter. Verfügungserweiterung vergrößert die Handlungsspielräume des Menschen, aber zugleich die Möglichkeiten menschlichen Versagens. Verfügungserweiterung des Menschen über den Menschen nimmt an dieser Ambivalenz teil. Aber nicht nur dies. Das Kind, dessen physische Beschaffenheit die Eltern bestimmen konnten - vorausgesetzt, das wird möglich - , würde seine Eltern haftbar machen dafür, daß es so ist, wie es ist. Der Mensch, der seinen Todeszeitpunkt frei wählen dürfte, könnte schnell unter den Druck geraten: ,Wähle den Tod, du merkst doch, daß du nur zur Last fällst.' Selbstwidersprüchlich ist schließlich der Gedanke einer kollektiven Selbstbestimmung zur kollektiven Selbstverbesserung, also der Produktion des „neuen Menschen", sei es biologisch durch Züchtung, sei es ideologisch durch Konditionierung. Denn solche kollektive Selbstbestimmung wäre nichts anderes als die individuelle Fremdbestimmung der kommenden Generation. In Wahrheit also würde das anonyme oder gottgegebene Schicksal unserer physischen oder psychischen Beschaffenheit nur verwandelt in das Schicksal, das andere Menschen über uns verhängt haben. Schicksal in dem Sinne, daß entscheidende Dimensionen meiner Existenz der Verfügung durch meine Mitmenschen und wohl auch meiner eigenen Verfügung entzogen bleiben, scheint eine Bedingung von Freiheit für endliche Wesen zu sein. Dürfen wir alles wissen wollen, was wir wissen können? Offenkundig nicht, denn sonst wäre das Wort „Verrat" bedeutungsleer und Datenschutz bloß kontraproduktiv. Hier jedenfalls gibt es eine Pflicht zum Nichtwissen, nämlich als Grenze der Verfügung von Menschen über Menschen. Ob es deshalb auch Grenzen der Forschung über die menschliche Animalität geben soll, ist damit noch nicht entschieden. Die Frage darf aber nicht ganz gelöst werden von dieser alten Einsicht. Bei Demokrit heißt es einmal: Mensch ist, was wir alle kennen.
Dieter Birnbacher
Selektion von Nachkommen. Ethische Aspekte 1. Vorbehalte gegenüber Selektion „Selektion" ist ein Reizwort. Während „Patientenselektion" - etwa im Zusammenhang mit der Auswahl von Patienten für klinische Versuche oder bei knappen Behandlungsmöglichkeiten - in der Medizin weitgehend neutral verwendet wird, ist „Selektion", im Zusammenhang mit beginnendem menschlichen Leben gebraucht, eindeutig negativ konnotiert. Wer von „Selektion" spricht, verbindet damit eine kritische Intention. 1 „Selektion" erinnert an Programme zu einer wie immer gearteten biologischen „Verbesserung" des Menschen, an Eugenik, „Rassenhygiene" und Menschenzüchtungsversuche. Belastet ist der Ausdruck außerdem durch seine besondere Verwendung in deutschen Konzentrationslagern, in denen Opfer einer „Selektion" zu werden den sofortigen Tod bedeutete. Für viele ist die negative Färbung des Begriffs „Selektion" aber mehr als nur eine Frage des assoziativen Kontexts. Für sie ist die Sache selbst bedenklich, gleichgültig, wie sie sprachlich benannt wird. Als durch und durch inegalitäre Verfahrensweise widerspricht sie fundamentalen Prinzipien der Gleichbehandlung. Eine „Selektion" scheint nur unter Bedingungen extremer Knappheit gerechtfertigt, d. h. dann, wenn eine Gleichbehandlung dazu führen würde, daß niemand oder zumindest sehr viel weniger als andernfalls versorgt werden könnten, wie etwa bei der Triage in Katastrophensituationen oder bei der Auswahl der Empfänger von knappen Organtransplantaten unter Gesichtspunkten (u. a.) der Erfolgsaussicht. In diesen Fällen würden insgesamt sehr viel weniger Patienten überleben, würde auf jede gezielte Auswahl verzichtet und die Empfänger der knappen Behandlung nach dem Los oder einem anderen Chancengleichheit sichernden Zufallsverfahren bestimmt. Diese besonderen Knappheitsbedingungen liegen jedoch bei Auswahlentscheidungen am Lebensbeginn im allgemeinen nicht vor. Die Ambivalenz gegenüber Selektionsverfahren zeigt sich am deutlichsten da, wo eine selektive medizinische Behandlung mit der selektiven Gewährung von Leben und Entwicklung zusammenfällt, nämlich bei der Behandlung schwerstgeschädigter Neugeborener in der neonatologischen Klinik. Eines der Ergebnisse der bisher ersten Untersuchung zur Praxis der Behandlung schwerstgeschädigter Neugeborener in Deutschland 2 ist die Unstimmigkeit zwischen der faktisch geübten Praxis selektiver Behandlung und den Überzeugungen der diese Praxis übenden Ärzte. Einerseits wird die faktisch stattfindende Selektion nicht geleugnet, andererseits wird diese Praxis jedoch überwiegend für problematisch gehalten: „Nur 16 % der befragten Neonatologen akzeptieren die Auswahlpraxis ohne Gegenargu-
1 Vgl. z. B. die Veröffentlichungen des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik, c/o Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte, Brehmstr. 5-7, 4 0 2 3 9 Düsseldorf. 2 Zimmermann u. a. 1997.
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mente, während eine Mehrzahl ethische (74 %), religiöse (25 %) oder gesellschaftliche Gründe (13 %) gegen eine Selektion für gewichtig halten". 3
2. Drei Bedingungen Wann kann man davon sprechen, daß eine „Selektion von Nachkommen" vorgenommen wird? - „Selektion" bedeutet, daß eine bewußte und an bestimmten qualitativen Kriterien orientierte Entscheidung darüber getroffen wird, welches von mehreren Kindern oder deren Vorstufen leben oder sich entwickeln soll. Danach hat Selektion drei wesentliche Bestimmungsstücke. Sie 1. ist eine Form gesteuerter Fortpflanzung, 2. orientiert sich an qualitativen Kriterien, 3. beinhaltet eine Auswahl zwischen einer (realen oder gedachten) Mehrzahl von Alternativen. Das erste Merkmal ist offenkundig zu unspezifisch. Die in den Industrieländern inzwischen zur Regel gewordene gezielte Wahl des Zeitpunkts der ersten Geburt und die Wahl der Zahl und zeitlichen Abfolge der weiteren Geburten ist eine Form gesteuerter Fortpflanzung, aber in der Regel keine Selektion. Es fehlt sowohl der Bezug auf eine reale oder gedachte Gesamtheit von Alternativen als auch der Bezug auf qualitative Gesichtspunkte. 4 Ähnliches gilt für das aus Jamaika berichtete Verfahren einer gezielten Geschlechtswahl durch selektive Anwendung der Geburtenkontrolle. 5 In diesem Fall ist zwar die Bedingung der qualitativen Orientierung erfüllt, nicht aber die des Bezugs auf eine Menge von Alternativen. Dagegen ist die sogenannte „Schwangerschaft auf Probe" eindeutig ein Fall von Selektion, da sie mit der bedingten Absicht eingegangen wird, den Fötus gegebenenfalls (nämlich wenn er das unerwünschte Merkmal aufweist) abzutreiben und es dann noch einmal zu versuchen. Hier liegt sowohl das Merkmal der Orientierung an einem qualitativen Merkmal vor als auch der Bezug auf eine Gesamtheit von Alternativen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Gesamtheit synchron gegeben ist (wie bei der Spermienselektion oder der Verwerfung von Embryonen nach Präimplantationsdiagnostik) oder diachron, so daß die Gesamtheit zum Zeitpunkt der Selektion lediglich eine gedachte ist. Entscheidend ist die Intention, nicht der tatsächliche oder auch nur wahrscheinliche Erfolg. Deshalb ist eine Abtrei-
3 A.a.O., 72. 4
Es sei denn, das Alter der Eltern oder der Altersabstand zwischen den Kindem würde wegen seiner Auswirkungen auf die Entwicklungschancen der Kinder indirekt als qualitatives Merkmal gewertet.
5 Anders als in China und Indien werden hier weibliche Nachkommen - als Garanten für die Stabilität der Familie - bevorzugt. Frauen, die zwei Söhne haben, werden um 50 % häufiger ein drittes Mal schwanger als Frauen mit zwei Töchtern.
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bung im Zuge einer „Schwangerschaft auf Probe" auch dann ein Akt der Selektion, wenn sie zwar unter dem Gesichtspunkt der möglichen Ersetzung des nicht gewünschten Nachkommens durch einen erwünschten Nachkommen vorgenommen wird, es dazu aber faktisch nicht kommt.
3. Was ist moralisch bedenklich an der Selektion von Nachkommen? Ein erster Überblick über die Argumente, die gemeinhin gegen eine Selektion von Nachkommen vorgebracht werden, zeigt, daß diese Argumente an verschiedenen Aspekten der Selektion ansetzen: 1. dem Aspekt der zielgerichteten Steuerung der Fortpflanzung, 2. den Zielen der Selektion, 3. den dazu eingesetzten Mitteln sowie 4. den aus der Selektion erwachsenden individuellen und sozialen Folgewirkungen. Argumente gegen die Nachkommenselektion, die sich darauf beziehen, daß diese eine Form der Steuerung der Fortpflanzung darstellt, gehören aus mehreren Gründen zu den am wenigsten durchschlagenden. Erstens scheint es aussichtslos, für die Natur so etwas wie Sakrosanktheit zu postulieren. Der Mensch ist von seinen anthropologischen Grundbestimmungen her geradewegs darauf angelegt, „Gott zu spielen" und die Natur - und damit auch seine eigene Fortpflanzung - rationaler Steuerung zu unterwerfen. Zwar gibt es gute Gründe zur Skepsis gegen ein unbeschränktes Eindringen von Planung und Zweck-MittelRationalität in den Bereich der Fortpflanzung - immerhin ist dieser Bereich innerhalb einer durchrationalisierten Welt eines der wenigen Refugien von Spontaneität und Unmittelbarkeit geblieben. Aber diese Skepsis begründet keinen moralischen Vorbehalt gegen diejenigen, die sich diese Spontaneität aus eigenem Willen versagen. Gelegentlich wird gesagt, es sei wider die Menschenwürde, der Zweck-MittelRationalität Eingang in einen so naturhaft-kreatürlichen Bereich wie den der Fortpflanzung zu verschaffen und die Sexualität Zweckgesichtspunkten zu unterwerfen. Aber wenn dem Mensch eine spezifische Würde zukommt, dann nicht zuletzt die, sich kraft seiner Vernunft von der Natur nicht alles zumuten zu lassen. Nicht die Verfallenheit an die Natur macht die Stärke und den Stolz des Menschen aus, sondern seine Fähigkeit, in wie immer engen Grenzen sein eigenes Maß an die Stelle des Maßes der Natur zu setzen. Prometheus bleibt auch in einer Zeit, in der Karl Marx nicht mehr zur Pflichtlektüre gehört, der erste Heilige im Kalender. Zweitens ist das Argument der Naturwidrigkeit einer gesteuerten Fortpflanzung zu unspezifisch, um speziell die Selektion zu treffen. Es würde dazu zwingen, auch weithin als unproblematisch empfundene Methoden der Geburtenregelung abzulehnen, einschließlich der sogar vom Vatikan für zulässig gehaltenen Empfängnisverhütung nach KnausOgino. Die Argumente der zweiten Kategorie beziehen sich nicht auf das Eindringen von Zielen in das Fortpflanzungsgeschehen überhaupt, sondern auf diese Ziele selbst. Auch diese Ar-
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gumente erscheinen gegenüber den Argumenten, die sich auf die Mittel und die Folgen der Selektion beziehen, nicht besonders schlagkräftig. Es ist fraglich, ob die gegenwärtig vorherrschenden und bis auf weiteres absehbaren Ziele einer Auswahl unter möglichen Nachkommen als solche moralisch kritikwürdig sind. In den allermeisten Fällen sind diese Ziele moralisch neutral oder (im zweiten Fall) sogar moralisch löblich: 1. die Erfüllung persönlicher Präferenzen der Eltern, 2. das Wohl des aus der Auswahl hervorgehenden Kindes, 3. die Erfüllung axiologischer Standards von Gesundheit und Normalität. Persönliche Präferenzen sind solche, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Man zieht das eine dem anderen vor, ohne damit den Anspruch zu verbinden, daß andere dieselben Präferenzen haben. Das schließt nicht aus, daß solche Präferenzen auch in Prinzipien, Standards und Idealen fundiert sein können. Wesentlich ist nur, daß diese Prinzipien ohne Verbindlichkeitsanspruch auftreten. Wer selektive Entscheidungen durch persönliche Präferenzen motiviert, zieht ein Kind ohne ein bestimmtes unerwünschtes Merkmal M einem Kind mit M vor, weil er das Kind mit M und/oder die sich aus seiner Geburt ergebenden Folgen aus einer wie immer gearteten Präferenz nicht will - z. B. weil er meint, daß die Sorge für das Kind ihn selbst, seine Ehe oder seine bestehende oder spätere Familie zu sehr belasten würde. Eine solche Präferenz bedarf keiner Fundierung in benennbaren Gründen. Eine Präferenz kann auch dann authentisch sein, wenn Eltern ihre Bevorzugung von nicht-M gegenüber M nicht motivieren können. Ziele der zweiten Art haben eine altruistische Orientierung. Sie zielen auf das Wohl anderer. „Wohl" ist allerdings ein alles andere als wohldefinierter Begriff. Es kann sowohl im Sinne subjektiven Wohlbefindens, Zufriedenheit oder Präferenzerfiillung als auch - stärker „objektivistisch" - im Sinne der Verfügung über objektive Güter, Möglichkeiten, Funktionen und Fähigkeiten bestimmt werden. Anders als Philip Kitcher 6 scheint es mir angeraten, „Wohl" oder „Lebensqualität" in einem rein subjektivistischen Sinne zu verstehen und primär nach der reflexiven Selbstbewertung des eigenen inneren Erlebens zu bemessen. 7 Danach hängt das Wohl eines Menschen wesentlich davon ab, wie wohl er sich fühlt, d. h. wie er selbst sein subjektives Erleben bewertet, nicht davon, über welche objektiven Güter, Möglichkeiten oder Fähigkeiten er verfügt oder in welchem Maße sein inneres Erleben spezifische Lust- oder Glücksgefuhle aufweist. Axiologische Bewertungen sind Bewertungen mit Allgemeingültigkeitsanspruch, wie sie charakteristischerweise in Denksystemen vertreten werden, die von einer objektiven „Bestimmung" des Menschen oder vorgegebenen Maßstäben von Normalität und Vollkommenheit ausgehen. Im Gegensatz zum werttheoretischen Subjektivismus betonen sie die objektiven, d. h. funktionalen Komponenten in der Zuschreibung von Krankheit und Behinderung. In der aktuellen Debatte, ob man gezielt Föten mit bestimmten Behinderungen durch selek-
6 Kitcher 1998, Kap. 12. 7 Vgl. Birnbacher 1998.
Selektion von Nachkommen.
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tive Abtreibung selegieren darf (wie es die Vertreter der amerikanischen National Association of the Deaf in bezug auf taubstumme Nachkommen fordern) 8 tendieren sie unabhängig von allen Überlegungen zum Kindeswohl zu einer ablehnenden Antwort. De facto scheinen Ziele der ersten Art bei Selektionsentscheidungen hinsichtlich der eigenen Nachkommen die weitaus größte Rolle zu spielen. 9 In der Reproduktionsmedizin ist dies Ziel gewöhnlich der möglichst direkte Weg zu einem Kind. Die qualitative Selektion steht also im Dienst eines nicht-qualitativen Ziels: Spermien und künstlich befruchtete Eizellen werden selegiert, um die Chance der Geburt eines Kindes zu maximieren. Eine eigentliche „Selektion" oder „Auswahl" von Nachkommen liegt freilich erst dann vor, wenn das Ziel selbst qualitativ bestimmt ist - dies also nicht bloß in der Hervorbringung eines Kindes, sondern in der Hervorbringung eines Kindes ohne bestimmte unerwünschte oder mit bestimmten erwünschten Merkmalen besteht. In Europa und Nordamerika hat die Verfügbarkeit der Pränataldiagnostik dazu gefuhrt, daß Frauen ab dem Alter, in dem die Wahrscheinlichkeitskurve des Down-Syndroms steil ansteigt, routinemäßig eine Pränataldiagnostik empfohlen wird. Ehepaare in einigen asiatischen und afrikanischen Ländern nutzen dieselbe Methode zur Selektion gegen Töchter. Wie sind diese Ziele moralisch zu bewerten? Der Wunsch nach einem gesunden Kind ist moralisch kaum zu beanstanden. Aber auch der Wunsch, unter den Bedingungen übermächtiger sozialer und religiöser Traditionen (wie in Indien) die Geburt von Töchtern zu vermeiden und den wirtschaftlichen Belastungen für sich und die eigene Familie durch horrende Mitgiftzahlungen zu entgehen, entspringt nicht notwendig sexistischem Denken und muß nicht in jedem Fall moralisch zu mißbilligen sein. Selbstverständlich ist weder die zerstörerische Praxis der Mitgiften noch der soziale Druck auf die Zeugung von Söhnen zu billigen (die indische Regierung hat sowohl die Mitgiftzahlungen als auch die Mitteilung des Geschlechts bei pränataler Diagnostik seit längerem verboten), aber das heißt nicht, daß die Motive, diesem Druck nachzugeben, ihrerseits kritikwürdig sein müssen. Ein mögliches Argument für die Verfehltheit der Ziele einer qualitativen Auswahl von Nachkommen ist der Hinweis auf die vielen in derartige Entscheidungen eingehenden Fehleinschätzungen. Bekannt sind die groben Fehleinschätzungen der Möglichkeiten einer auf ganze Populationen zielenden genetischen „Verbesserung" durch selektive Fortpflanzung auf seiten der Eugenik-Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Viele Zielsetzungen einer „Ausmerzung" genetisch bedingter Krankheiten sind schon deshalb illusionär, weil sie die Möglichkeit von Neumutationen unberücksichtigt lassen. Vielfach gehen aber auch in die Zielsetzungen auf individueller Ebene Fehleinschätzungen ein, wie etwa hinsichtlich der Chance, sich mit einem nicht wunschgemäß ausgefallenen Kind abzufinden oder der eigenen Fähigkeit und Bereitschaft, den eigenen Lebensstil den Anforderungen des Kindes anzupassen. Weithin wird die Fähigkeit eines chronisch kranken oder behinderten Kindes unterschätzt, mit seinen Beschränkungen erfolgreich zurechtzukommen.
8 Vgl. Tucker 1998. 9 Vgl. Hennen u. a. 1996, 117.
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Fehleinschätzungen systematischer Art scheinen insbesondere Normalitätsvorstellungen zugrunde zu liegen, wenn diese als in irgendeiner Weise objektiv vorgegeben aufgefaßt werden, sei es empirisch in der Gestalt eines statistischen Durchschnittswerts oder metaphysisch-anthropologisch im Sinne einer objektiven Teleologie. Es erscheint grundsätzlich fraglich, ob Normalitätsstandards objektiv, d h. unabhängig von individuellen oder sozialen Wertungen begründet werden können. Normalitätsvorstellungen nehmen zumeist eine Zwischenstellung zwischen eindeutig deskriptiven und eindeutig normativen Vorstellungen ein. In sie gehen sowohl Bestandteile ein, die sich auf objektive Funktionsstörungen beziehen und über die intertemporell und interkulturell ein gewisses Maß an Übereinstimmung besteht, als auch in stärkerem Maße historisch und kulturell variable soziale Normen. Oft ist sogar bereits die Auswahl der Funktionen, auf die die objektiven Funktionsstörungen bezogen sind, kulturell geprägt, wie etwa bei der für Leistungsgesellschaften kennzeichnenden Leistungsmotivation, die „Antriebsschwache" tendenziell zu Behinderten macht. Auch wenn Behinderungen, Krankheiten und Defizite keine bloßen sozialen Konstruktionen sind, gehen in ihre Definition zwangsläufig soziale Normen der Funktionstüchtigkeit ein. Aus den genannten kognitiven Defiziten folgt allerdings noch kein moralischer Vorbehalt. Daß die Zielsetzungen einer Praxis der Selektion unklug, illusorisch oder abwegig sind, zeigt nicht, daß sie moralisch bedenklich sind. Auch die Tatsache, daß diese Zielsetzungen in vielen Fällen bloßem Konformismus gegenüber sozialen Normen entspringen, macht sie nicht eo ipso moralisch kritikwürdig. Auch die Zielsetzungen, die viele Eltern mit der ganz „normalen" Zeugung eines Kindes verbinden, sind häufig konformistisch, unaufgeklärt oder illusionär. Eine andere Kritik an den Zielen der Selektion richtet sich gegen die mögliche Trivialität dieser Ziele. Zur negativen Utopie der Brave New World, wie sie von Kritikern der Reproduktionsmedizin ins Feld gefuhrt wird, gehört das Bild von „Baby-Farmen", in denen durch Selektion noch die idiosynkratischsten Wünsche - etwa nach blauen Augen und athletischer Figur - befriedigt werden. Aber ein kritisches Potential haben Argumente dieser Art erst unter der Voraussetzung, daß die Praxis aus anderweitigen Gründen moralisch bedenklich ist. Erst dann wird die Trivialität ihrer Zielsetzungen relevant. Denn dann sind triviale Ziele weniger geeignet, die Bedenken gegen die Praxis aufzuwiegen als existentiell wichtige. Die Zielsetzungen der Selektion sind in vielen Fällen nicht nur moralisch unbedenklich, sondern auch moralisch löblich, etwa die auf das Wohl anderer zielenden Zielsetzungen der zweiten Kategorie. Hier sind die Ziele medizinisch motivierter Auswahlentscheidungen zum großen Teil dieselben wie bei präventiven und therapeutischen Maßnahmen, nämlich die Herstellung und Sicherung von subjektiver Lebensqualität und die Beseitigung und Verhinderung von Funktionsstörungen. Es kann nicht an einem Unterschied in den Zielsetzungen liegen, wenn die in einem frühen Stadium (möglicherweise schon im Mutterleib) ansetzende präventive oder therapeutische Behandlung einer Krankheit des zukünftigen Kindes intuitiv als moralisch verdienstvoll, die Verhinderung der Geburt des belasteten Kindes (mit der Aussicht auf die nachfolgende Geburt eines unbelasteten Kindes) aber als moralisch verwerflich beurteilt wird. Beide Verfahrensweisen unterscheiden sich wesentlich nur in den Mitteln. Einmal wird ein bereits existierendes Individuum präventiv oder kurativ behandelt, so daß ein Krankheits- oder Behinderungszustand Z mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
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behoben oder verhindert wird. Das andere Mal wird ein Individuum zur Existenz gebracht oder ausgewählt, das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den Krankheits- oder Behinderungszustand Z nicht aufweist oder nicht aufweisen wird.
4. Die Eskalationsreihe der Selektionsstadien Es ist offenkundig, daß die intuitive Bewertung einer Auswahl unter Nachkommen zu grossen Teilen davon abhängt, in welcher Weise sich diese konkret vollzieht. Unsere spontanen Intuitionen scheinen sich dabei an bestimmten Schwellen zu orientieren, die „Sprünge" in einer Bewertungsskala markieren, die von „unbedenklich" bis „eindeutig unzulässig" reicht. Die wichtigste Schwelle liegt zwischen Verfahren, die eine Vernichtung oder ein Zugrundegehenlassen einer oder mehrerer menschlicher Individuen oder ihrer Vorstufen involvieren, und solchen, die das nicht tun. Zu den Verfahren diesseits der Schwelle gehören die gezielte Partnerwahl nach Testung des Partners (etwa auf Heterozygotie für Thalassämie wie in einigen Mittelmeerländern), die Wahl des Zeugungszeitpunkts nach dem Krankheitsrisiko des Kindes (etwa bei Rötelnerkrankung der Mutter) oder die Gametenselektion vor der Befruchtung. Das erste Verfahren, die selektive Partnerwahl, ahmt auf bewußt-rationaler Ebene das nach, was Schopenhauer in seinem in die Soziobiologie des 20. Jahrhunderts vorausweisenden Essay „Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe" mehr oder weniger spekulativ für die Partnerwahl im allgemeinen postuliert hat, nämlich daß sie unbewußt auf die „Qualität" der zusammen mit dem Partner zu zeugenden Nachkommen zielt.10 Es wird gegenwärtig in bezug auf heterozygot vererbte Krankheiten vor allem in Israel (Tay-Sachs) und in Griechenland und Zypern (Thalassämie) praktiziert. Eine Auswahl von Eizellen ist inzwischen mithilfe der sogenannten Polkörperdiagnostik möglich, bei der der haploide Chromosomensatz des „Polkörpers" der Eizelle (u. a. auf Trisomie 21) untersucht werden kann, bisher allerdings nur mit einem beträchtlichen Risiko, daß die untersuchte Eizelle abstirbt. Auch eine Geschlechtswahl ist präkonzeptionell mithilfe Spermienseparation möglich. So wirbt ein amerikanisches Institut im Internet für die sogenannte flow-Methode mit einer Erfolgsrate von 95,1 % für Mädchen und einer Erfolgsrate von 73,3 % für Jungen. Alle diese Verfahren erscheinen „unschuldiger" als Verfahren jenseits dieser Schwelle. Es ist unwahrscheinlich, daß die Selektion von Nachkommen dieselben negativen Konnotationen besäße, die ihr gegenwärtig beigelegt werden, wenn sie ausschließlich mithilfe von Verfahren diesseits der Schwelle praktiziert würde. Der entscheidende Umstand liegt darin, daß die Auswahl in diesen Fällen jeweils nur zwischen gedachten oder möglichen und nicht zwischen realen Individuen erfolgt. Wenn diese Verfahren problematisch sind, dann allenfalls wegen bestimmter Folgenaspekte wie der möglichen Störung emotionaler Beziehungen durch eine an Präventionsgesichtspunkten orientierte Partnerwahl (die auch das herkömmli-
10 Vgl. Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band, Kap. 44.
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che Verbot von Verwandtenehen betrifft) oder der symbolischen Wirkungen auf die Träger der Merkmale, gegen die mit diesen Techniken selegiert wird. Intrinsische Gründe scheinen stärker gegen Verfahren zu sprechen, die das Leben eines menschlichen Individuums mit dem Ziel beenden, statt des eliminierten ein anderes Leben sich entwickeln zu lassen. Intuitiv nimmt dabei die moralische Bedenklichkeit des Verfahrens von der einen zur anderen Eskalationsstufe ceteris paribus zu: 1. die Selektion von transferierten Embryonen nach Präimplantationsdiagnostik, 2. die selektive Abtreibung von Embryonen oder Föten nach Pränataldiagnostik, 3. die selektive Spätabtreibung von Föten (bei Lebensfähigkeit ex utero) nach Pränataldiagnostik, 4. die selektive Früheuthanasie von Neugeborenen. Insgesamt entsprechen diese Schwellen sowohl verbreiteten intuitiven Urteilen als auch verbreiteten rechtlichen Regelungen - auch wenn die Beurteilungen im einzelnen erheblich divergieren." Sowohl das intuitive Urteil wie auch das Rechtssystem schreibt dem sich entwickelnden Embryo oder Fötus ein mit dem Entwicklungsstadium wachsendes Lebensrecht zu. Die Verwerfung eines Embryos im 8-Zellenstadium nach Präimplantationsdiagnostik wird von den meisten als nicht sonderlich gravierend beurteilt - im Gegensatz zu einer zu Selektionszwecken vorgenommenen Abtreibung, Spätabtreibung und Früheuthanasie, mit denen sich die wahrgenommene Schutzwürdigkeit des Fötus bzw. Kindes der Schutzwürdigkeit des Erwachsenen sukzessiv annähert. Dieselben Abstufungen finden sich in den rechtlichen bzw. standesethischen Regelungen.12
11 So stellt etwa die Bundesärztekammer in ihrer jüngsten Erklärung zu Spätabtreibungen nach Pränataldiagnostik fest, daß „aus ärztlicher Sicht... sich der Schutzanspruch des ungeborenen Kindes bei Überlebensfähigkeit außerhalb der Gebärmutter nicht von dem des geborenen" unterscheidet (Bundesärztekammer 1998, 3015) Nach der erwähnten Umfrage von Zimmermann u. a. meinen dagegen zwei Drittel der befragten Kinderärzte, daß ein solcher Unterschied besteht (Zimmermann u. a. 1997, 65). 12 Bis zur Einnistung zählt die Vernichtung des Embryos nach § 218 StGB rechtlich nicht als Abtreibung, unterliegt also nicht dem für spätere Abtreibungen geltenden Verdikt der Rechtswidrigkeit. Zwischen Einnistung und Erwerb der Lebensfähigkeit ist die Abtreibung teils (bis zum Ende des ersten Trimesters) rechtswidrig, aber unter schwachen Bedingungen straffrei, teils (nach dem ersten Trimester) unter Strafandrohung verboten, aber bei Vorliegen großzügiger medizinischer und psychologischer Indikationen rechtlich sogar gerechtfertigt. Für die Entwicklungsstadien nach Erwerb der Lebensfähigkeit gilt die standesethische Empfehlung von 1998, daß Ärzte in dieser Phase (außer bei Ungeborenen, die so schwer geschädigt sind, daß bei ihnen auch nach der Geburt keine medizinischen Maßnahmen unternommen würden) keine Abtreibungen mehr vornehmen sollen, auch wenn dies in Einzelfällen von der Mutter (wegen erst bei später Ultraschalldiagnostik erkannter Schädigungen) gewünscht wird. Die Früheuthanasie schließlich ist nach dem Buchstaben des Strafgesetzes als Tötung bzw. Tötung durch Unterlassen zu werten. In der Praxis gelten für sie jedoch die weniger strengen Richtlinien der „Einbecker Empfehlung" (vgl. die revidierte Fassung von 1992 in: Ethik in der Medizin 4 (1992), 103 f.).
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Damit scheinen die intuitiven Differenzierungen aber noch nicht hinreichend erfaßt. Zumindest unter Ärzten scheint die Beurteilung der Selektionsmethoden u. a. auch davon abzuhängen, wieweit sie als „aktive" Vernichtung und inwieweit sie als „passives" Zugrundegehenlassen gedeutet werden. Während die „Verwerfung" eines Embryos nach Präimplantationsdiagnostik keine aktive Zerstörung beinhaltet und auch die Früheuthanasie in Deutschland in der Regel passiv (durch Unterlassen ärztlicher Maßnahmen) erfolgt, erfordern Abtreibungen gezielte aktive Eingriffe, wobei sich die aktiven Verfahren in dem Grad ihrer „Gezieltheit" noch einmal unterscheiden. Der Fetozid, bei dem der oder (bei Mehrlingen) einer von mehreren Föten durch eine Spritze ins fötale Herz getötet wird, mutet „gezielter" an als die Abtreibung mit dem Absaug- oder Prostaglandinverfahren und wird womöglich auch deshalb (zumindest in Deutschland) seltener praktiziert - allerdings mit der bedenklichen Konsequenz, daß ein Drittel der „spätabgetriebenen" Föten überlebt. Im Gegensatz zur gestuften, aber mit der Reifung des ungeborenen Kindes insgesamt kontinuierlich wachsenden Schutzwürdigkeit, wie sie für die intuitive moralische Wahrnehmung kennzeichnend ist, wird in der philosophisch-ethischen Diskussion eine Abstufung des Lebensrechts vorwiegend abgelehnt. Die Ethik tendiert eher dazu, eine einzige Schwelle zu definieren, mit der das volle Lebensrecht einsetzt, so daß sich eine Vielzahl unterschiedlicher und mit den intuitiven Bewertungen nur selten in Übereinstimmung zu bringender Grenzziehungen ergeben. Die drei ethischen Standardargumente für ein Lebensrecht des menschlichen Embryos oder Fötus, das sogenannte Potentialitätsargument, das Identitätsargument und das Argument der Gattungszugehörigkeit lassen jedenfalls im Gegensatz zur intuitiven Beurteilung eine Abstufung der Schutzwürdigkeit nach der Entwicklungshöhe nicht zu. Aus meiner Sicht reichen die intrinsischen (d. h. nicht folgenorientierten) Argumente nicht aus, die moralische Unzulässigkeit der Abtreibung zu begründen. 13 Ihre moralische Unzulässigkeit läßt sich, wenn überhaupt, nur indirekt, über das Interesse der Gesellschaft an der Aufrechterhaltung eines strengen Lebensschutzes bei Geborenen begründen. Dafür ist eine Grenzziehung unumgänglich, die möglichst eindeutig festlegt, ab wann dem Kind ein so starkes Lebensrecht zukommt, daß dieses noch das intensivste Interesse der Mutter an der Beendigung der Schwangerschaft überwiegt. Wo diese Grenze liegt, ist bekanntermaßen strittig. Mir selbst erscheint dafür - mit Norbert Hoerster14 - der späteste Zeitpunkt (die Geburt) die beste Option. Für diese Grenze spricht außer deren Eindeutigkeit und problemloser Feststellbarkeit, daß vor der Geburt das Kind nach bestem Wissen noch ohne Selbstbewußtsein und ohne eine Bewußtsein von Leben und Tod ist und deshalb den ihm im Zuge der Selektion auferlegten Tod nicht fürchten kann. Diese Grenze entspricht auch der zeitlich nicht limitierten medizinisch-psychologischen Indikation des geltenden § 218a, Abs. 2 StGB. Andere Vertreter einer rein folgenorientierten Argumentation plädieren allerdings für
13 Vgl. Birnbacher 1995. 14 Hoerster 1991, 132 ff.
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eine frühere Grenze, u. a. mit der Begründung, daß der Fötus im dritten Trimester bis auf das Geborensein im wesentlichen dieselben Eigenschaften aufweist wie der Säugling.'5
5. Das Expressionsargument Die Vorbehalte gegen die Selektion sind mit der ethischen Analyse der zur Selektion eingesetzten Mittel aber zweifellos nicht ausgeschöpft. Das eigentlich Anstößige an einer Selektion von Nachkommen ist für viele ja nicht das eingesetzte Mittel, sondern seine Selektivität. Anders als die Lebensschutzargumente richtet sich das Expressionsargument (wie es in der amerikanischen Diskussion genannt wird) ausschließlich gegen den selektiven Aspekt. Dieses Argument besagt erstens, daß jede Selektion menschlichen Lebens ein implizites Urteil über den Lebenswert des ausgesonderten Kindes enthalte, nämlich das, diesem Kind das Lebensrecht abzusprechen, und zweitens, daß es damit auch allen anderen Trägern des betreffenden Merkmals das Lebensrecht abspricht. Verworfen werde das abgelehnte Kind ja qua Träger eines bestimmten unerwünschten Merkmals - seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner möglichen Behinderung und Krankheit bzw. der Disposition dazu. Nach dem Expressionsargument ist die Selektion primär nicht deshalb bedenklich, weil sie mit der Vernichtung werdenden menschlichen Lebens einhergeht, sondern weil sie Implikationen auch für diejenigen hat, die gar nicht primär Gegenstand der Selektion sind, deren Lebensrecht aber durch die Selektion indirekt mitbedroht ist. Entgegen dem ersten Anschein ist das Expressionsargument ein intrinsisches und kein folgenorientiertes Argument. Das Argument bezieht sich nicht darauf, daß sich die Träger der Eigenschaften, gegen die selegiert wird, durch die Praxis der Selektion in ihrem Lebensrecht möglicherweise beeinträchtigt fühlen. Es bezieht sich darauf, daß ihr Lebensrecht unabhängig davon, wie sie selbst es wahrnehmen - durch die Praxis der Selektion tatsächlich verletzt oder beeinträchtigt wird. Deshalb ist es nicht unter empirischen, sondern unter hermeneutisch-semantischen Gesichtspunkten zu diskutieren. Wird durch die Selektion gegen ein Merkmal M bei den eigenen Nachkommen das Lebensrecht der Träger von M insgesamt verletzt? Das hängt davon ab, wie der Gehalt des Akts der Selektion rekonstruiert wird - wobei die Adäquatheit dieser Rekonstruktion wiederum davon abhängt, wie dieser Akt von denen, die ihn vornehmen, verstanden wird. Nehmen wir an, daß die Selektion durch selektive Abtreibung erfolgt und daß diejenigen, die die Selektion vornehmen, diese für moralisch gerechtfertigt halten. Daraus folgt, daß sie nicht bereit sind, dem als Träger des Merkmals M abgetriebenen Fötus F ein Lebensrecht zuzuschreiben, zumindest kein alle anderen beteiligten Rechte dominierendes Lebensrecht. Welche Gründe haben sie, F das Lebensrecht vorzuenthalten? Hier kommen im wesentlichen drei Möglichkeiten in Frage:
15 So etwa Bernat 1999, 15.
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1. weil es sich bei F um einen Fötus handelt, 2. weil es sich bei F um einen Fötus mit M handelt, 3. weil es sich bei F um einen Träger von M handelt. Offenkundig erklärt nur derjenige, der eine selektive Abtreibung im Sinne der dritten Interpretation versteht, damit auch die erwachsenen Träger von M für vogelfrei. Solange er eine der beiden ersten Interpretationen vertritt, ist diese weitreichende Implikation nicht Teil dessen, was er tut und zu vertreten hat. Er wird die Unterstellung, mit der Abtreibung eines fötalen M auch allen anderen M das Lebensrecht streitig zu machen, mit Recht von sich weisen und auf die besonderen Eigenschaften des Fötus verweisen, die bei diesem - im Gegensatz zum Erwachsenen - das Tötungsverbot relativieren. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht auch der Vertreter einer der ersten beiden Interpretationen sich zumindest in die Nähe der dritten Interpretation begibt, indem er Ms gegenüber nicht-Ms abwertet. Auch wenn für ihn die Trägerschaft von M für sich genommen kein Grund zu einer derart massiven Entwertung ist, wie sie einer Aberkennung des Lebensrechts entspricht, ist doch nicht zu leugnen, daß mit der Bevorzugung von nicht-Ms gegenüber Ms zwangsläufig eine différentielle Bewertung verbunden ist, bei der M gegenüber nicht-M schlechter abschneidet. In der Tat impliziert eine Selektion der hier vorausgesetzten qualitativen Art notwendig ein Werturteil derart, daß es besser ist, wenn nicht-M lebt, als wenn M lebt. Nur läuft dieses Werturteil im allgemeinen nicht darauf hinaus, daß Ms deshalb, weil sie M sind, irgendwelche Rechte aberkannt werden, die nicht-Ms zuerkannt werden. Auch dann, wenn sich in diesem Werturteil eine Minderschätzung dieses oder aller Ms ausdrückt, bedeutet diese Minderschätzung im allgemeinen keine Entrechtung. Wenn ich etwas gegen Rothaarige habe und Nicht-Rothaarige in meinem persönlichen Umgang bevorzuge, bedeutet das nicht, daß ich Rothaarigen irgendwelche Rechte streitig mache. Aber zweifelhaft ist bereits, ob sich in dem mit der Bevorzugung von nicht-M vorausgesetzten Werturteil überhaupt eine Minderschätzung dieses oder aller Ms ausdrücken muß. Was sich darin ausdrückt, kann zunächst auch nur die Minderschätzung der Eigenschaft M gegenüber der Eigenschaft nicht-M sein. Eine solche Minderschätzung scheint bereits durch die Begriffe „Krankheit", „Behinderung", „Belastung" usw. impliziert: Ceteris paribus ist es stets besser, eine Krankheit, Behinderung oder Belastung nicht zu haben. Aber auch das geht schon zu weit, denn eine Selektion zugunsten eines Kindes mit einem bestimmten Geschlecht oder zugunsten eines Kindes ohne eine bestimmte Behinderung kann auch schlicht dadurch motiviert sein, daß die Eltern bereits vier Kinder des anderen Geschlechts oder ein Kind mit derselben Behinderung haben, so daß ihre Wahlentscheidung kein allgemeines Urteil über die Eigenschaft M impliziert, sondern lediglich ein singuläres Urteil über M-jetzt-und-hier und M-unter-diesen-Umständen. Ob und inwieweit das in einer Selektion enthaltene Werturteil eine Minderschätzung von M bzw. Ms im allgemeinen ausdrückt, läßt sich also nicht unabhängig von den der Bewertung jeweils zugrunde liegenden Motiven beurteilen. Wenn die Eltern mit der Selektion gegen M vor allem eigenen Belastungen entgehen oder Belastungen des späteren M oder Dritter vermeiden wollen, wird durch das vorziehende Werturteil nicht notwendig auch eine
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intrinsische Bewertung von M ausgedrückt. Auch nicht-selektive Entscheidungen zur Abtreibung eines Kindes aus Gründen der Vermeidung von Belastungen drücken kein Werturteil über dieses Kind oder Kinder im allgemeinen aus. Wer kein Kind jetzt-und-hier oder überhaupt kein Kind möchte, erweist sich dadurch noch nicht als „kinderfeindlich". Wer kein behindertes Kind jetzt-oder-hier oder überhaupt möchte, erweist sich deswegen noch nicht als „behindertenfeindlich". Anders, wenn die Eltern eine persönliche Präferenz für nicht-Ms allgemein haben oder wenn sie aufgrund bestimmter Normalitätsvorstellungen Ms für nicht-normgemäß halten. In diesem Fall drückt die Selektionsentscheidung in der Tat eine Minderschätzung der Eigenschaft M generell aus. Ob eine derartige präferentielle oder axiologische Minderschätzung deshalb auch schon moralisch bedenklich ist, ist eine andere Frage. Wenn sie moralisch bedenklich ist, dann, wie es scheint, weniger aus intrinsischen als aus folgenorientierten Gründen - wegen ihrer Folgen für den individuellen und sozialen Umgang mit Menschen mit den entsprechenden Eigenschaften. Insofern verweist das Expressionsargument bereits von sich aus auf die folgenorientierten Argumente gegen Selektionen am Lebensbeginn, denen wir uns abschließend zuwenden wollen.
6. Das Kränkungsargument Das Kränkungsargument ist in gewisser Weise das empirisch-folgenorientierte Pendant zum Expressionsargument. Es besagt, daß eine Selektion gegen ein bestimmtes Merkmal M die Gefühle sowohl der Träger von M als auch der ihnen Nahestehenden verletzen muß. Die lebenden Ms müssen sich sagen, daß sie, hätten ihre Eltern über die entsprechenden Techniken verfugt, wegen M möglicherweise nicht geboren worden wären. Müssen sie sich nicht als Stigmatisierte fühlen, die einem Anschlag auf ihr Leben gerade noch entronnen sind? Beim Kränkungsargument geht es ausschließlich um die faktischen Gefühle der Betroffenen, nicht darum, ob diese berechtigt oder unberechtigt sind. Deshalb muß das Kränkungspotential einer Selektion unabhängig davon abgeschätzt werden, welchen Handlungssinn die Eltern damit im einzelnen verbinden. Diese Abschätzung ist allerdings alles andere als leicht. Versuchsweise lassen sich einige Faktoren angeben, von denen das Ausmaß der von einer Praxis der Selektion ausgehenden Kränkung mitbestimmt wird. Diese sind teilweise identisch mit den Faktoren, die wir bereits auf ihre moralische Relevanz geprüft haben. Bei den Zielen der Selektion liegt die Annahme nahe, daß Selektionen aufgrund von Motiven axiologischer Art der Tendenz nach als kränkender empfunden werden als solche, die auf persönliche Präferenzen und altruistische Motive zurückgehen. Axiologischen Standards nicht zu genügen, bedeutet schließlich, einer als allgemeingültig angesehenen Norm nicht zu genügen, also „unnormal" zu sein. Allerdings scheint der kognitive Status, den ihre Vertreter einer Normalitätsnorm beimessen, sehr viel weniger entscheidend zu sein als die Tatsache, wie verbreitet die jeweilige Normalitäts- und Erwünschtheitsnorm ist. Solange axiologische Normalitätsvorstellungen nur von einer kleinen Minderheit vertreten werden, ist es unwahrscheinlich, daß sie sehr kränkend wirken. Dagegen wirken gesellschaftlich etablierte Bevorzugungen auch dann kränkend, wenn sie auf persönlichen Präferenzen beru-
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hen. 16 Die Tatsache, daß weiblich zu sein alles andere als „unnormal" ist, ändert nichts daran, daß sich viele Inderinnen durch die in Indien praktizierte Selektion gegen Mädchen diskriminiert fühlen. Hinsichtlich der Mittel der Selektion scheint die Annahme plausibel, daß das Kränkungspotential um so höher ist, je später die Selektion vorgenommen wird und je mehr sie deshalb Züge einer vorgezogenen „Euthanasie" im Nazi-Sinne annimmt. Insbesondere späte Abtreibungen, bei denen ein bereits lebensfähiger Fötus getötet wird, dürften unter diesem Gesichtspunkt als kränkender wahrgenommen werden als frühe (selektive) Abtreibungen. Gleichzeitig ist die Tatsache, daß die Mutter die mit einer Spätabtreibung verbundenen massiven Belastungen in Kauf nimmt, ein Hinweis auf ihre sehr viel ausgeprägtere Ablehnung des Kindes. Ein noch wichtigerer Faktor dürfte allerdings das Ausmaß sein, in dem die Träger des Merkmals M, gegen das eine Selektion stattfindet, auch anderweitig ausgegrenzt oder diskriminiert werden. Je stärker sie auch in anderen Sektoren der Gesellschaft darunter zu leiden haben, daß sie von ihrer Umwelt für minderwertig gehalten werden (und sich möglicherweise auch deshalb selbst für minderwertig halten), desto eher werden sie die Aussonderung von pränatalem Leben durch reproduktionsmedizinische und gynäkologische Selektion als Symptom einer allgemeinen Ausgrenzungstendenz erleben, die sich in den privaten Selektionswünschen der betreffenden Eltern lediglich reproduziert. Ein nicht ganz unwichtiger Faktor scheint darüber hinaus das Ausmaß zu sein, in dem staatliche oder andere gesellschaftliche Instanzen an der Ermöglichung und Förderung von Selektionen beteiligt sind, z. B. durch die Einrichtung von humangenetischen Beratungskapazitäten, durch die Förderung von Screening-Programmen, durch versicherungsrechtliche Bestimmungen mit einem zusätzlichen Anreiz zur Selektion oder durch Hinweise auf die finanziellen Entlastungswirkungen der Inanspruchnahme von Selektion auf die Sozialbeiträge. In dieser Hinsicht versucht die gegenwärtige Regelung eine Gratwanderung: Das Rechtssystem macht durch entsprechende Haftungsverpflichtungen die Aufklärung über das bestehende Risiko und das Angebot der pränatalen Diagnostik ab einem bestimmten Alter zur Pflicht, enthält sich aber jeder Bewertung der Inanspruchnahme der pränatalen Diagnostik und der sich möglicherweise anschließenden selektiven Abtreibung. Das Kränkungsargument scheint mir das stärkste Gegenargument gegen eine Selektion von Nachkommen. Wie stark es im einzelnen ist, kann allerdings nur mit empirischen Mitteln gezeigt werden.
7. Soziale Gefahren Ebenfalls nur mit empirischen Mitteln können die sozialen Gefahren abgeschätzt werden, die bei einer möglichen Ausweitung der Nutzung der Pränataldiagnostik mit selektiver Abtreibung infolge der zunehmenden Verfügbarkeit von Gentests sowie bei einer möglichen 16 Vgl. Rippe 1 9 9 7 , 2 7 .
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Einführung der Präimplantationsdiagnostik drohen. Dazu gehören insbesondere die Gefahr der Zunahme des sozialen Drucks auf Eltern, bei bekannten genetischen Risiken von den verfugbaren Diagnose- und Selektionsmöglichkeiten Gebrauch zu machen und die Gefahr einer zunehmenden Erhöhung der Ansprüche der Eltern an die „Qualität" ihrer Kinder. Die Bereitschaft zur Annahme von Kindern, die von den eigenen Wunschvorstellungen abweichen, könnte weiter sinken, die Bereitschaft der schwangeren Frau, sich emotional auf das Kind einzulassen, in dem Wissen, daß die Schwangerschaft nur „auf Probe" ist, weiter abnehmen. Schon heute wird bei Frauen, die sich zu einer Pränataldiagnostik entschlossen haben, beobachtet, daß sie - verständlicherweise - erst dann bereit sind, sich emotional auf das werdende Kind einzulassen, wenn sie sicher sind, daß sie es austragen werden. Jedes einzelne dieser Risiken ist moralisch bedeutsam. Dennoch können nicht allein die Risiken über die ethische Bewertung entscheiden. Es müssen auch die ihnen gegenüberstehenden Chancen gesehen werden, zuallererst die Chance einer erweiterten reproduktiven Freiheit der Eltern. Diese Freiheit ist, auch wenn sie mit erheblichen Belastungen verbunden ist, ein hohes Gut. Um dies Gut nicht in sein Gegenteil zu verkehren und Freiheit in gesellschaftlichen Zwang umschlagen zu lassen, ist es freilich nötig, Eltern, die von den diagnostischen Möglichkeiten nicht Gebrauch machen, vor gesellschaftlicher Diskriminierung zu schützen und durch großzügige Hilfen die Bedingungen für eine genuine Freiwilligkeit herzustellen. Im übrigen deuten die Erfahrungen der letzten Jahre in Europa nach meiner Einschätzung nicht darauf hin, daß die Möglichkeiten pränataler Diagnostik mit selektiver Abtreibung zu einer stärkeren Ausgrenzung hereditär Kranker und Behinderter geführt haben. In Griechenland und Zypern hat die Praxis der Selektion gegen Thalassämie (mit Kooperation der orthodoxen Kirche) die Bereitschaft eher wachsen lassen, sich für die Thalassämiekranken einzusetzen, vor allem infolge der Entlastung der Sozialkassen und der medizinischen Kapazitäten. Es wäre ein offenkundiger Fehlschluß zu meinen, daß sich die gesellschaftliche Akzeptanz hereditär chronisch Kranker und Behinderter durch die Steigerung von deren Zahl steigern ließe. Auch eine rechtliche Freigabe der (gegenwärtig durch das Embryonenschutzgesetz verbotenen) Geschlechtswahl würde in Deutschland und anderen europäischen Ländern höchstwahrscheinlich weder zu einem Ungleichgewicht in der Geschlechterverteilung noch überhaupt zu einer nennenswerten Inanspruchnahme führen, da weder eines der Geschlechter klar bevorzugt wird noch ein ausgeprägtes Interesse besteht, die Fortpflanzung ohne Leidensdruck weitergehender Steuerung zu unterwerfen.17 Mit der zunehmenden Verfügbarkeit prädiktiver Gentests und der möglichen Einführung der Präimplantationsdiagnostik ist für die nächsten Jahre mit einer zunehmenden Erleichterung und Erweiterung der Auswahl von Nachkommen zu rechnen. Es kann nicht als ausgemacht gelten, daß diese Entwicklung insgesamt mehr Leiden verhindert, als sie durch Kränkung hervorruft, und mehr Freiheit der Lebensgestaltung ermöglicht, als sie durch neu ent-
17 Die (relativ wenigen) europäischen und nordamerikanischen Paare, die die Gender Clinics in London oder New York zu einer gezielten Geschlechtswahl aufsuchen, machen ihre Entscheidung für ein bestimmte Geschlecht fast ausnahmslos von dem Geschlecht der Kinder abhängig, die sie bereits haben, streben also eine „balanced family" an (vgl. Dahl 1998, 84f.).
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stehenden sozialen Druck mindert. Aber aufs Ganze gesehen, scheinen mir die Vorteile doch zu überwiegen. Die Freiheit, in gewissem Umfang über die qualitative Beschaffenheit der eigenen Kinder zu entscheiden, kann als eine konsequente Erweiterung der heute bereits bestehenden Freiheit, über Zahl und zeitliche Verteilung der eigenen Kinder zu entscheiden, gesehen werden, von der - vor allem für die primär betroffenen Frauen - vergleichbare emanzipative Wirkungen zu erwarten sind. Entscheidungsmöglichkeiten über die qualitativen Merkmale der Kinder sind zugleich Entscheidungsmöglichkeiten über einen wesentlichen Teil des eigenen Lebens. Falls das so ist - ich stelle das zur Diskussion - sollte der Elternwunsch nach „Wunschkindern" - d. h. in der Regel: nach Kindern nicht mit bestimmten erwünschten, sondern ohne bestimmte als belastend empfundene Merkmale - von dem moralischen haut goüt befreit werden, den er heute noch vielfach hat, und Eltern, die von den gegenwärtig und einigen der zukünftig verfugbaren Möglichkeiten Gebrauch machen, sollten von den Schuldgefühlen entlastet werden, die mit negativ konnotierten Begriffen wie „Eugenik von unten" induziert werden.
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Heleen M. Dupuis
What Is Knowledge but Grief? 1. Introduction Preparing this presentation I realised with some alarm how medical ethics or bioethics are generally an almost entirely Anglo-Saxon affair. In Holland at least we always look to the West, and not to the East, when medical ethics are concerned. In my department all our professional journals are in English, none in German. This is perhaps an indication of a situation that should change as quickly as possible. Geographically spoken Germany and the Netherlands are too close neighbours, to remain strangers in such an important field of philosophy. I have read about a recent debate in Germany between Jiirgen Habermas and Peter Sloterdijk on genetics, and I must confess that it gives the impression that debate is governed by an atmosphere of "philosophical correctness", which makes a real debate difficult and unnecessarily burdened. The same is true for some other debates on bioethical dilemmas such as 'end of life decisions' and more specifically euthanasia. I understand of course the reasons for it, although some of the emotions involved do escape me. However, I shall try to remain in this paper on clinical genetics what I am: a bioethicist in a liberal, moderately utilitarian tradition, who strongly believes that medicine should be followed in a very critical way, not because of some very serious slips in the past, but because of its potential of harming people more than benefiting them. And this is certainly true in the field of clinical genetics, which is really medicine 'on the cutting edge'.
2. Genetics: scientific developments and practical applications In the debate on genetics it is helpful to distinguish two aspects of this discipline, i. e. genetics as an important part of molecular biology, and genetics as it can be and is applied in the context of medicine and health care. The distinction is particularly relevant because the application of genetics in medicine, that is in health care, is not necessarily a consequence of the scientific developments as such. Knowing how the human genome is composed, is not the same as using, applying that knowledge in the practice of health care. There is a reason of principle and a more pragmatic reason for this distinction. The reason of principle is that progress of knowledge can be regarded as an essential feature of the human species: without knowledge humans are no humans, as the Bible-book Genesis tells us so beautifully. The second reason for this distinction is more pragmatic: it seems to be impossible to stop scientific research, but it is not impossible to refrain from using it in health care. Phrased in another way one could say that 'knowing', knowledge, has a certain appeal, an attractiveness in itself. Knowledge as such can be important in people's lives in that its
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mere existence enhances people's quality of life, like for instance 'knowledge' of Goethe's or Schiller's poems does indeed enhance our quality of life. But whether certain knowledge should play a role in health care is something to decide upon separately. This decision should be made on the basis of a thorough evaluation of the potential harms and benefits of a specific scientific technology. It should be noted that such evaluations are almost nonexistent.
3. Applied genetic knowledge: harms and benefits Let us now proceed to the scope of health care and discuss genetic knowledge as it is applied in the practice of prenatal diagnostics. The question is then whether this knowledge, and now I refer to specific knowledge in the sense of information to individuals about genes, for instance of an unborn child, should be made available and under which conditions. This seems to be primarily a matter of health care policy, to be determined by the government. But is it really self-evident that a government should provide a moral evaluation of the significance of specific genetical knowledge for people, or should we leave such an evaluation to the people involved? Apart from a material evaluation of the moral significance of 'prenatal knowledge', this is a moral dilemma in itself. One could really wonder whether a moral evaluation is required by others than the individuals who are involved. At a closer look it is indeed not evident at all that public authority, the government or for instance a medical association should be the one to make moral decisions that affect so thoroughly the lives and well-being of individuals and their unborn children.
4. Two domains in morality The question whether society or the government should make moral decisions concerning very private aspects of the lives of individuals introduces and also presumes another most important distinction: the distinction between public and private morality. The distinction makes it possible to distinguish between the principles and values that underlie individual actions with severe consequences for society, and between actions with very limited consequences for society. In the domain of public morality it is clear that consensus is needed, whereas in the other domain pluralism or dissensus is acceptable. Public morality needs consensus; no society can accept that moral principles such as 'do not kill', 'do not steal', 'be honest', 'do no harm' are left to the free choice of its citizens. Therefore these principles - and so many more - are enforced by legislation. Together they give structure and cohesion to society. A beautiful instance of such a legal expression of some basic moral principles is the German Fundamental Law (Grundgesetz) of May 23rd, 1949. Such a constitution is indeed at the same time a moral program and the legal basis of the society. At the same time a liberal society in the real significance of the word, faces the obligation to provide as much personal freedom to its citizens as is consistent with such a public moral program.
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This means that a domain of private morality should be acknowledged where moral decisions and the determining of the principles underlying them, can be left and even should be left to the individual. There is no valid reason for a different attitude towards decisions and actions with (almost) any consequences for society. This is the domain where moral plurality is acceptable, if not desirable. It is indeed a characteristic of a liberal society to make room for as much private morality as is possible within the context of a constitutional state, whereas societies dominated by socialistic or Christian politics will try to limit the private domain of morality. This becomes obvious in the field of bioethics. There is hardly a field of ethics that distinguishes societies more than the issue of bioethics. Whether decisions on private matters such as abortion, non treatment decisions, sterilisation, euthanasia, but also on prenatal diagnosis and genetic screening are left to the individual or not, has an enormous impact both on society itself and on its citizens. Societies with a government or public authority that "knows" what is right for people to do and what is wrong, also in their personal lives, will produce as much legislation as possible, and will limit the freedom of its citizens to make their own decisions. It is in itself a decision that every society has to make: which issues belong to the domain of public morality and which to the domain of private morality. Every society has to draw a line, and this will differ from time and place. Modern medicine with its many important roles in the lives of individuals compels societies to decide on the line that should be drawn between public and private morality. Should abortion be legally prohibited, or left to the discretion of the pregnant woman? Should euthanasia be legally prohibited, or should the law refrain from interfering in the dying process of people and show respect for the wishes of dying patients? Should prenatal diagnosis be forbidden, or made possible so that women may decide themselves about the future of their unborn children? There is one observation that should be made: if society at large decides to refer a certain moral dilemma to the private domain, this dilemma does not stop being moral. The difference is that in the private domain it is the individual who is faced with the moral dilemmas; these are no longer decided upon by a collective moral authority. Fundamentally this means that people will make different decisions, for different reasons, with different argumentation, from different moral points of view.
5. Back to clinical genetics The question I want to raise in relation to clinical genetics is therefore, first of all, where, that is in which moral domain, we would place clinical genetics. Are there good reasons for placing them in the public domain? Should the public, the individual be protected against its possibilities? Should medicine be contained in offering all kinds of genetic screening to people? Should society prohibit women to ask for prenatal diagnosis? I would advocate another role for the state, more consistent with a 20th century's view on human beings, namely to inform people about the risks and harms of clinical genetics without prohibiting its use.
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6. Clinical genetics in the Netherlands Let me illustrate this with some more detailed facts about prenatal diagnosis and the selective abortion which it entails sometimes in the Netherlands. In Holland these are both accepted medical practices. On 200.000 births a year 10.000 prenatal diagnoses are requested, mostly in relation with a maternal age above 36; they result in about 500 abortions. Here we see that in quantity we are not speaking about a major problem. Yet groups in our society are not happy with the freedom of parents to decide about their offspring's quality of life. They fear slippery slopes and a total decline of moral values. Therefore, but also for other reasons, we have in our society a continuing debate. However, there is no legal constraint at all to request a prenatal diagnosis. On the contrary; this option is offered to every pregnant woman with a family history of genetic problems and to all pregnant women of 36 years old and more. 50% of them declines. Here we see how, on the one hand, a severe moral dilemma is left to individuals, while at the same time the dilemma is still being discussed in society at large. It is generally felt to be a really important moral dilemma, although the law does not interfere (only by limiting the gestation age of the foetus if abortion is following). To me this seems an almost ideal way to deal with a moral dilemma that is above all a dilemma of the individual, although individual choices may affect society perhaps in certain aspects. To know about the genetic make-up of your foetus, to know that it will be born with severe handicaps, means to be able to act, to make choices. To know does not mean, however, that people do not suffer. They do suffer from the graveness of the decision to end the pregnancy if a severe handicap has been diagnosed. We should realise that those pregnancies are desired pregnancies. But it is also clear that people who make such choices, expect to suffer more if they would make a different choice, that is to prolong the pregnancy.
7. A convincing argumentation Perhaps the most convincing argumentation in favour of prenatal diagnosis and the abortion which possibly follows upon it has been given by the English philosopher John Harris, when he formulated the moral principle that "it is wrong to bring avoidable suffering into the world". 1 In fact, Harris transfers Aristotle's' 'striving for the good life' (eudaimonia) to modern medicine and the many dilemmas it evokes. Concerning handicapped foetuses one could indeed argue that allowing them to be born will entail a suffering that has become avoidable by modern medicine. The underlying assumption is that foetuses and the pregnant women are less harmed by an abortion than by a prolonging of the pregnancy. One other assumption is that foetuses have no ability to expe1 Harris 1992, 71 ff.
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rience their death as a loss or as a matter of grief or pain, the latter only if the abortion is performed properly, without pain for the foetus or early enough in the pregnancy. From the perspective of the foetus it may be evident that it would experience much more suffering if it would not be killed. Keeping the disabled foetus alive and causing it to be born means in fact that it will be delivered to our modern medical technology, and often to institutions and charity. The total amount of suffering would be greater if it would be born than if it would be aborted. As for the mother; she is the one who may suffer in relation to the abortion, particularly psychically. But she obviously expects to suffer more if her child were born and reminded her constantly of its poor quality of life. In that case she would suffer twice; first of all through the suffering of her child, and secondly through the extreme exertions that are required from mothers and fathers of disabled children. So if we accept Harris's "it is wrong to bring avoidable suffering into the world" as a proper moral starting-point, prenatal diagnosis and a following abortion cannot only be morally justified, they could even be morally required. In fact, the argumentation is very simple: it focuses on the avoidance of suffering, which is one of the aims of medicine at large. A medical science that would increase suffering is both morally and scientifically on the wrong track.
8. Aspects of knowledge We have now discussed several aspects of knowledge: -
knowledge as general knowledge, esteemed for its 'beauty' (molecular biology) knowledge as applied knowledge (in technology and medicine) knowledge as specific knowledge which can be sought individually and can enable people to make decisions (prenatal diagnosis).
Concerning that third aspect of knowledge I have argued that a decision is needed by society about the domain of morality where such choices and decisions should be placed. There are good arguments to allow individuals to make decisions that do so much affect their own lives whereas the consequences for society are present though limited. Only if the arguments against new knowledge are very substantial, society should perhaps prevent that such knowledge be offered to individuals. This may be the case with predictive genetic testing.
9. The case of genetic testing or screening In the last part of this paper, I would like to present a case of knowledge within the field of clinical genetics that raises so many questions and problems that the question arises if society should indeed protect individuals against its pervasion of society and individual lives.
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This concerns a last and fourth type of knowledge, namely specific knowledge, offered to individuals about their genetic make-up, which does not enable them to make rational decisions and evidently only provokes sorrow and fear. We have now entered the field of genetic testing and screening. My thesis is that often individual genetic testing produces knowledge that we better should not have because it does not enable us to act, to make decisions but produces situations without possibilities for an escape. There are several examples. One of the most sinister is the example of Huntington's Disease, a hereditary, so called 'late-onset' very serious neurological disease leading to grave neurological symptoms and mental disability and finally to an early death. For some people who notice the appearance of the first symptoms in them - which start generally between the age of 35 and 55 - and who are acquainted with the disease because members of their family suffered from it, suicide is sometimes a rational choice. There is no treatment. It has become possible to know with certainty whether one will be affected by the disease or not by way of a genetic test. If people are tested (for instance in the beginning of adulthood) they will know indeed what life will bring them: normal health, if the gene mutation is not found, or a terrible and most probably early end of life. No wonder that only a small group of the individuals from affected families request the test. But, even here, society should perhaps not interfere: people should be free to request the test, or, when offered it, to refuse. But in the future there will be hundreds of genetic tests for individuals which will offer predictions of certainties or chances they have in getting certain diseases. In some cases preventive measures are possible and in that case it may even be wise to ask for the test. But this is only true for members of specific families, with a specific, most often monogenetic, hereditary health problem. In general, genetic tests will not result in any sort of useful knowledge, only in knowledge that entails uncertainty, sorrow, and grief.
10. Some final remarks The problem of 'knowing' in the context of medicine has many more aspects. Of course there is, first of all, the knowledge concerning one's own disease and the 'informed consent' to medical treatment. This is a matter that has been discussed for more than thirty years now. Recent debates focus on genetic knowledge because indeed genetic tests sometimes offer spectacular insights into the health status of foetuses and adult human beings. What should and could be done with this knowledge is a matter for further debate.
Reference Harris, J.: Wonderwoman and Superman, Oxford 1992.
Christoph Rehmann-Sutter
Die Interpretation genetischer Daten Vorwort zu einer genetischen Hermeneutik* l.
Die moderne Genetik sehe ich als ein Unternehmen der Um-Schreibung des anthropologischen Textes. Vor unseren Augen vollzieht sich eine neue kartographische Erfassung des Menschen. Daten werden erhoben, neue, verfeinerte Erhebungsinstrumente werden entwikkelt, dann gesellschaftlich bereitgestellt und ihr Gebrauch reglementiert. Aus den Daten werden Informationen abgeleitet: Informationen, deren Sensibilität inzwischen unbestritten ist und hier außer Zweifel steht.1 In meinem Beitrag möchte ich diesen Prozeß der kartographischen Erfassung sozusagen von der Seite betrachten. Ich möchte zu verstehen versuchen, was in dem durch die neue Kartographie des Menschen dargestellten Interpretationsverfahren zwischen Objekt und Subjekt des Erkennens geschieht. Objekte und Subjekte sind hier beides Menschen, oft sogar ein und dasselbe Individuum. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt, das hier in den Blick kommt, fasziniert, weil es sich beim Objekt nicht nur um ein Objekt handelt, sondern um ein Zentrum eines subjektiven menschlichen Lebens. Die Objekte sind hier nicht einfache Gegenstände der Natur, sondern unsere Körper. Unsere Körper sind dasjenige in der Natur, das wir selbst sind. Wenn ich das so sage, unterlaufe ich natürlich die strenge Trennung der Begriffe von Körper und Leib. Hermann Schmitz und Gernot Böhme legen als „Körper" terminologisch „das Ding" fest, „das sich dem Blick und der Untersuchung des
*
1
Danksagung: Teile dieser Arbeit wurden unterstützt von der Stiftung Mensch-Gesellschaft-Umwelt (MGU) an der Universität Basel (Projekt F-42/95) und vom Schweizerischen Nationalfonds (Projekt 4037-053073). Ich danke Jackie Leach Scully und Rainer Kamber für Hinweise. In den späten 80er Jahren beschlossen die USA, als einen bedeutenden Teil des Human Genome Projects (HGP) ein Programm zu starten, das dem Studium der ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Implikationen der Verfügbarkeit von genetischer Information gewidmet ist: das sog. ELSI-Programm (ethical, legal, and social issues). Das US Department of Energy (DOE) und die National Institutes of Health (NIH), welche Teile des HGP unterstützen, verpflichteten sich, für das ELSI-Programm 3%-5% des jährlichen HGP-Budgets aufzuwenden. Damit ist die Ethik des HGP das bestgeförderte Feld bioethischer Forschung geworden (laufende Informationen im Internet unter: www.ornl.gov/hgmis). Andere Länder sind diesem Beispiel gefolgt. Die Anerkennung der ethischen und gesellschaftlichen Brisanz dieser Materie fand auch in einer langen Reihe von internationalen und nationalen Deklarationen zur Handhabung genetischer Tests ihren Niederschlag: 1991 die Deklaration von Inuyama des Council for International Organizations of Medical Sciences (Bankowski/Capron 1991, 1-3), 1992 die Deklaration von Marbella der World Medical Association (abgedruckt als Appendix 1.4 in Brody 1998, 217-219), 1997 eine Deklaration der UNESCO über Menschenrechte und das Genom (abgedruckt in Düwell/Mieth 1998, 449-451), um nur die wichtigsten zu nennen.
Die Interpretation genetischer Daten
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Anderen präsentiert", und verstehen als „Leib" dasjenige, „als was ich mich selbst spüre."2 Wenn ich im folgenden von „Körper" spreche, meine ich ausdrücklich beides zusammen, dieses naturwissenschaftlich als zellulär-organisches System beschreibbare Objekt, von dem wir wissen, daß es gleichzeitig der Ort eines Spürens, ein Zentrum von affektiver Betroffenheit und von spontaner Aktivität ist. Dies gilt sowohl in dem Fall, wenn wir uns der eigenen Körperlichkeit zuwenden oder wenn wir andere in ihrer Körperlichkeit wahrnehmen. Wenn wir eine der beiden Perspektiven, die objektive oder die subjektive, einnehmen, verweisen sie je auf die andere. Die Beschreibungen des Körper-Objektes wirken sich aus als Ausgangspunkte für das Befinden des Subjekt-Körpers, ob es sich dabei nun um unsere eigene Person handelt oder um die Person von anderen. Beide sind Körper-Objekte und SubjektKörper zugleich. Ihr subjektives Erleben und Denken dessen, wer sie sind, muß die Auskünfte mit einbeziehen (in einer subjektiven Welt re-konstruieren), die ihnen über die physisch-organische Seite ihres Selbst verfügbar werden. Dies aufzuklären ist ein hermeneutisches Vorhaben; man könnte sagen, sogar ein meta-hermeneutisches Vorhaben in dem Sinn, daß es hier um das kritische Verstehen (2) eines tatsächlich vollzogenen Verstehens (1) geht, also um das Verstehen jenes Verstehens, das in der medizinischen Genetik, aber auch längst schon in veralltäglichten Kommunikationen als soziale Praxis des Umgangs mit Genetik vorfindlich ist. Daten sind noch keine Informationen, genetische Daten sind noch keine genetischen Informationen. Mit dem Wort Interpretation ist Auslegung, Deutung, Erklärung gemeint. Daten selbst brauchen noch nicht verstehbar zu sein; sie sind noch nicht anschlußfähig für Handlungen, für Einschätzungen der Zukunft des eigenen Körpers oder des Körpers anderer. Daten werden erst durch Interpretation anschlußfähig gemacht für Handlungen und zwischenmenschliche Erwartungen. Interpretation kann allerdings unbedacht erfolgen; sie kann gewissen Üblichkeiten oder eingespielten Automatismen blind folgen. Oder sie kann zur Kunst erhoben werden, die Fertigkeit, Können, Besonnenheit, Umsicht verlangt. Der Stellenwert, den genetische Daten und genetische Informationen in der Gegenwart schon und erst recht in der absehbaren Zukunft gesellschaftlich einnehmen werden, erfordert die sorgfältige Entwicklung einer Interpretationskunst genetischer Daten. Dies zu zeigen ist mein Anliegen.3 Zuerst werde ich anhand von Beispielen erläutern, welcher Art genetische Daten sein können, wie sie zustande kommen und welche Art von Wissen sie überhaupt darstellen. Dazu müssen wir uns auf einige Techniken der Datenerzeugung einlassen. Dann möchte ich einigen Gewinn aus der im Umfeld von DNA und genetischer Information allgegenwärtigen Sprachmetapher ziehen. Sie kommt einer hermeneutischen Analyse ja eigentlich sehr entgegen. Speziell werde ich die konkreten Vorverständnisse untersuchen, die eine Schlüsselrolle spielen beim Übergang von genetischen Daten in verstehbare genetische Informationen.
2 Böhme 1985, 120; vgl. Schmitz 1998, 12. 3 Im Hintergrund stehen Überlegungen, welche ich im Aufsatz „DNA-Horoskope" veröffentlicht habe in: Düwell/Mieth 1998, 415-443.
Christoph Rehmarm-Sutter
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Dieser Schritt wird in die Naturphilosophie und die Metaphysik hineinführen. Die Aufmerksamkeit gilt den ethischen Konsequenzen für das Verständnis konkreter genetischer Daten.
2. Folgende Aussage findet sich in einer von zwanzig Autorinnen und Autoren gezeichneten medizinisch-ethischen Empfehlung zu Gentests fur Alzheimer: „[...] predictive test results need to be interpreted cautiously. As part of ongoing research studies, all centers that test individuals belonging to early-onset families are obligated to adhere to formal informed consent procedures, provide pretest and posttest counseling by trained professionals, maintain strict confidentiality, and establish the predictive value of the testing." 4 Gefordert wird nachdrücklich eine sorgfältige Interpretation der Testresultate, die Einhaltung formeller Informed-Consent-Prozeduren, Beratung vor und nach dem Test, Vertraulichkeit über die Testergebnisse und die Verbesserung der Einschätzung des prädiktiven Werts des Tests. Diese Forderungen entsprechen einem Standard, der sich im Zusammenhang mit Erfahrungen mit Tests für die ebenfalls neurodegenerative Krankheit Chorea Huntington in den letzten Jahren herausgebildet hat. 5 Alzheimer hat eine früh ausbrechende Variante, in der die Patienten bereits im frühen 4. bis Mitte des 5. Lebensjahrzehnts krank werden. Dieser Typ ist genetisch bedingt und wird autosomal dominant vererbt. Drei bestimmende Gene auf Chromosom 1, 14 und 21 konnten identifiziert werden. Daneben wurde eine Mutation (e4) auf dem Gen fur Apolipoprotein E gefunden, welches die Susceptibilität für den Ausbruch der Krankheit wesentlich erhöht, aber, wie Post u.a. sich ausdrücken, selbst nicht determinierend wirkt. Zur prädiktiven Diagnostik können nur die drei bekannten determinierenden Gene benützt werden. Allerdings auch das nur mit wesentlichen Einschränkungen: Ein negatives Testresultat kann nämlich nicht bedeuten, daß keine Mutationen existieren, denn es ist möglich, daß noch mehr als die drei bisher bekannten Mutationen existieren, die zur Alzheimerschen Krankheit fuhren können. Der Voraussagewert eines positiven Testergebnisses ist ebenfalls nicht gesichert, weil Individuen solche Mutationen in unterschiedlicher Weise als Krankheit ausdrücken. Die Verursachungszusammenhänge sind komplex und können von einem punktuellen Test nur unzureichend erschlossen werden. In diesem Kontext erscheint das Problem der Interpretation von genetischen Daten notwendigerweise als Problem der Prognoseunsicherheit bei genetischem Befund, d. h. im Nachweis entsprechender Wahrscheinlichkeiten, mit denen das Vorliegen bestimmter Allele mit dem Ausbruch der Krankheit innerhalb eines gewissen Lebensabschnittes korreliert ist. Die Kombination verschiedener genetischer Befunde, d. h. das Vorliegen oder Nichtvorlie4 Post u. a. 1997. 5 Vgl. Huggins u.a. 1990.
Die Interpretation genetischer Daten
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gen bestimmter anderer Mutationen, die kausal zusammenhängen, kann zu einer Verfeinerung dieser Zuordnung von bestimmten Wahrscheinlichkeitswerten zu getesteten Individuen fuhren. Die Frage, was diese Auskünfte für das betroffene Individuum und seine Lebensplanung bedeuten, wird dem professionalisierten Beratungsgespräch überwiesen. Der oder die einzelne will natürlich wissen: Kriege ich Alzheimer? Mit einer bloß statistischen Auskunft ist ihr oder ihm nicht unbedingt schon geholfen. Die getestete Person kann vielmehr durch den Test in noch schlimmere existenzielle Unsicherheiten gestürzt werden. Die Frage der Wünschbarkeit genetischen Wissens ist aus der Sicht Betroffener deshalb zutiefst ambivalent.6 Ein Test kann unzuträglich sein, sowohl wenn er positiv als auch wenn er negativ ausfallt.
Außenseite der Membran
Innenseite
Fig. 1
D a s CFTR-Protein, dessen Fehlfunktion die Krankheit Cystische Fibrose auslöst (Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator). D i e kompakteren Knäuel des durchgängigen Polypeptidfadens sind als Zylinder und Ellipsoide dargestellt („Domänen"). Der Faden geht v o m N - E n d e z u m C-Ende und bildet eine Struktur, die sich in die Phospholipid-Doppelschicht der Z e l l m e m branen einfügt. Es bildet sich ein regulierbarer Kanal für Chlorionen. Jeweils 6 TransmembranD o m ä n e n (schraffierte und w e i s s e Zylinder) sind über eine energiezuführende Einheit, die A T P binden kann ( N B F = nucleotide binding fold) und eine regulatorische D o m ä n e (R) miteinander verbunden. (Tsui und Buchwald 1991; aus Seyffert 1998, 345.)
Anhand von zwei anderen Beispielen möchte ich den hier im Fall der multifaktoriell bedingten Alzheimerschen Krankheit angetroffenen Zusammenhang von Test-Technik, Mutationen, Genen und Phänotyp weiter erklären. Beides sind monogen bedingte Erbkrankheiten, also Phänomene, die einfachere und eindeutigere Verhältnisse vermuten lassen als bei dem
6
Vgl. dazu Rehmann-Sutter 1995.
Christoph Rehmann-Sutter
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so weitläufigen Bereich der Alzheimer-Genetik. Als erstes nehme ich die Cystische Fibrose (CF), auch Mukoviscidose genannt. Sie ist die häufigste Erbkrankheit überhaupt: Etwa eine von 2000 Personen ist von ihr betroffen. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt heute bei etwa 30 Jahren. Durch extreme Schleimbildung in der Lunge werden die Atemwege behindert, was häufig zu bakteriellen Infektionen fuhrt. Andere Symptome von CF sind eine Unterfunktion der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) und zum Teil das Fehlen von Spermienzellen im Ejakulat mit entsprechender männlicher Unfruchtbarkeit. Man kennt heute den .Auslöser' der Krankheit. Es ist die Fehlfunktion eines besonderen Chlorionenkanals, der in Zellmembranen eingebaut ist (Fig. 1). Dieser Chlorionenkanal ist ein großes Protein (1480 Aminosäuren) mit charakteristischer dreidimensionaler Form, die für die Funktion wesentlich ist. Wegen seiner Verbindung mit CF wurde das Protein CFTR - Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator genannt. In den Zellen wird das Protein von einer reifen mRNA von ca 4,5 kb (kilobasen) Länge synthetisiert. Um diesen Messenger herzustellen, schneidet die Zelle aber aus einer viel längeren DNA-Sequenz von etwa 250 kb 27 kleine Stücke aus, die sie zusammensetzt. In diesen sog. Exons wird etwa 50 Mal so viel DNA in derselben Region nicht verwendet, sondern als sog. Introns herausgeschnitten (splicing). Bei rund 70% der von CF Betroffenen liegt eine Veränderung des CFTR in Aminosäuren-Position 508 vor. Dieser Veränderung entspricht eine Mutation der DNA in Exon Nr. 11. Es handelt sich um eine Deletion von drei Basenpaaren mit entsprechendem Fehlen der Aminosäure Phenylalanin. Diese Mutation wird deshalb AF508 genannt (Tab. 1).
ATC - ATC - T T T - G G T
Wildtyp der Basensequenz
Ile
Wildtyp der Aminosäuresequenz
- I l e -Phe -Gly
ATC - AT. - . . T - G G T
AF508-Basensequenz
Ile
-Ile -
A
-Gly
AF508-Aminosäuresequenz
506
-507 -508
-509
Aminosäureposition
Tab. 1: Die Mutation an der Stelle der Aminosäure Nr. 508 ist eine Deletion von drei Nukleotiden: CTT. Sie führt zum Ausfall der Aminosäure Nr. 508.
Dieses Phenylalanin an Pos. 508 gehört zur ATP-bindenden Domäne NBF1. Die AF508 Mutation fuhrt dazu, daß das Protein nicht in die Zellmembran eingebaut werden kann und deshalb seine Funktion nicht erfüllt, den Elektrolythaushalt zu regulieren. Neben AF508 sind aber noch fast 600 weitere, weniger häufige CFTR-Mutationen bekannt - mit einem weiten Spektrum von Krankheitszuständen. Vielleicht ergibt sich daraus auch eine Erklärung für das zunächst etwas verwirrende Phänomen der geographischen Verteilung der AF508 Mutationen bei 18045 getesteten CF-Patienten (Fig. 2). Obwohl in Dänemark etwa doppelt so häufig die AF508 Mutation auftritt und deshalb die Chance, daß bei Eltern zwei
Die Interpretation
genetischer
483
Daten
s o l c h e Mutationen auf e i n e m Chromosomenpaar zusammentreffen, doppelt so groß sein m ü ß t e a l s e t w a in Italien, l i e g t in b e i d e n Ländern t r o t z d e m d i e I n z i d e n z ( A n z a h l
der
Neuerkrankte pro Jahr) e t w a g l e i c h h o c h bei 1:2000.
Fig. 2
Die geographische Verteilung der AF508 Mutationen in den USA und in Europa. Von insgesamt 18.054 untersuchten Patienten fand man bei 12.382, also bei 68,6% diese Mutation. Während in den USA ein Ost-West-Gefälle feststellbar ist, findet man in Europa ein Nord-Süd-Gefälle. (Nach Tsui und Buchwald 1991, aus Seyffert 1998, 346.)
In der S c h w e i z ist e t w a j e d e z w a n z i g s t e Person g e s u n d e Überträgerin e i n e s C F - G e n s , a l s o e i n e r M u t a t i o n im C F T R - G e n . O f f e n b a r k ö n n e n auch v e r s c h i e d e n e M u t a t i o n e n z u s a m m e n zu CF führen ( M i s c h g e n o t y p ) . D i e v e r s c h i e d e n e n M u t a t i o n e n im s e l b e n G e n w i r k e n s i c h innerzellulär sehr v e r s c h i e d e n aus (Tab. 2). Mutationen Typ
klinische Auswirkung
molekulare Auswirkung
Ursache
I
CF + Pankreas-Insuffizienz
kein CFTR
Nonsense, frameshift, splice-site change
II
CF + Pankreas-Insuffizienz
CFTR erreicht die Membran nicht
AS-Deletionen
III
CF + Pankreas-Insuffizienz oder Suffizienz, Azoospermie
abnormale Regulation des Cl- Kanals
Missense
IV
dito
abnormaler Ionenfluss
Missense
V
dito
Reduktion in der Synthese von normalen CFTR
splice-site change
Tab. 2: Klassifikation verschiedener CFTR-Mutationen (nach Estivili 1996).
Christoph
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Einen interessanten Fall rapportierte die Gruppe um Xavier Estivill (1995). Es wurden zwei Familien mit j e drei Kindern mit dem gleichen Misch-Genotyp gefunden. Auf dem einen Geschwisterchromosom befand sich die seltenere Mutation des CFTR-Genes R334W, auf dem anderen die AF508 Mutation. Die R334W-Mutation ist eine Typ IV Mutante (Tab. 2), eine Missense Mutation, bei der ein Arginin durch Tryptophan ersetzt ist. Die Änderung findet sich in der ersten membrandurchspannenden Domäne. Sie ist von ihrer klinischen Ausprägung her nicht so schwerwiegend wie AF508. Die beiden Geschwistergruppen, die in bezug auf CFTR genetisch gleich sind, unterscheiden sich aber erstaunlicherweise im Phänotyp. In der einen Familie leiden die Kinder unter Pankreas-Insuffizienz, in der anderen Familie hingegen nicht (Tab. 3). Zusätzlich bestehen innerfamiliar zum Teil erhebliche Differenzen in der Lungenfunktion. Bei beiden beschriebenen und auch bei vielen anderen Mutationen handelt es sich, wie wir gesehen haben, eigentlich um minimale molekulare Abweichungen. Diese deutlichen inter- und intrafamiliären Variabilitäten deuten aber darauf hin, daß neben den betrachteten Mutationen noch andere Faktoren eine Rolle spielen. Der sog. genetische Hintergrund spielt eine Rolle. Ebenso möglicherweise andere inner- oder außerorganismische Faktoren. Xavier Estivill kommt zur Schlußfolgerung, daß die Grenzlinien zwischen monogenen und polygenen Krankheiten nicht immer so klar seien, wie man früher gedacht hat. 7 Pankreas-Insuffizienz in Familie 1 + innerfamiliäre Differenzen in Lungenfunktion R334W AF508
—.
Pankreas-Suffizienz in Familie 2 + innerfamiliäre Differenzen in Lungenfunktion
Tab. 3: Verschiedene Auswirkungen des gleichen Mischgenotyps im CFTR-Gen.
Zu ähnlichen Aussagen kommen Studien zu der als klassischer Fall einer monogenen Erbkrankheit geltenden Phenylketonurie (PKU). Charles Scriver und Paula Waters schreiben 1999: „The traditional classification of genetic disease into chromosomal, monogenic (mendelian) and multifactorial categories is an oversimplification [...] even the category of monogenic or ,simple' traits is an oversimplification." 8 Statt dessen gelangen die Genetikerinnen und Genetiker nach Scriver und Waters immer mehr dahin, Einzelgeneigenschaften als Spezialfälle von eigentlich komplex verursachten Eigenschaften anzusehen. Folgende Gründe werden genannt: (i) stark verschiedene Phänotypen können der allelischen Variation eines einzelnen Gens zugeschrieben werden; (ii) in verschiedenen ,monogenen' Krankheiten bestätigt sich der vorausgesagte monokausale Zusammenhang zwischen Genotyp und Phänotyp nicht; und (iii) es gibt „modifier genes" und nicht-genetische Faktoren, welche zum 7 Estivill 1996; vgl zu CF auch S. Suter/M. Rutishauser 1995; Wolf 1997; Seyffert 1998, 345-347. 8 Scriver/Waters 1999; Neumann-Held 2000 verdanke ich dieses Beispiel.
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genetischer
Daten
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Phänotyp monogener Krankheiten beitragen. Für Phenylketonurie wird das besonders deutlich. Diese Krankheit wird durch den Ausfall eines Enzyms im Phenylalanin-Stoffwechsel hervorgerufen (Fig. 3).
Fig. 3:
Umwandlungswege im Phenylalanin-Stoffwechsel. Bei Phenylketonurie (PKU)-Patienten mit defekter Phenylalanin-Hydroxylase (PAH) kommt es zu einer Anreicherung des Phenylpyruvats, das hauptsächlich für die Krankheitssymptome verantwortlich ist. Den zahlreichen, aber bzgl. PKU offenbar quantitativ unzureichenden Nebenwegen von Phenylalanin zu Tyrosin ist es zuzuschreiben, daß die Patienten nicht gleichzeitig Albinos sind. (Nach Seyffert 1998,347.
Ohne Phenylalanin-Hydroxylase (PAH) entsteht ein quantitativ ungenügender Umbau von Phenylalanin zu Tyrosin; es staut sich Phenylpyruvat im Blut. Die zu hohe Konzentration von Phenylpyruvat hat neurologische Defekte im Hirn zur Folge, die sich als mentale Retardierung äußern. Vollständig heilbar ist die Krankheit durch eine phenylalanin-arme Diät während der Kindheit. In vielen Ländern werden deshalb alle Neugeborenen routinemäßig auf PKU untersucht (Screening). Phenylketonurie ist ein organisches Phänomen, das auf mindestens vier verschiedenen Ebenen erscheint. Das Fehlen eines funktionierenden PAH-Enzyms blockiert den Hauptweg im Umbau von Phenylalanin zu Tyrosin. Dies ist die enzymatische Ebene. Dem nichtfunktionalen PAH entspricht ein verändertes PAH-Gen. Dies ist die genetische Ebene. Wenn die PAH ihre Aufgabe nicht erfüllt, fuhrt dies zu Verschiebungen in der relativen Konzentration verschiedener anderer Stoffe im Organismus. Dies ist die metabolische Ebene. Schließlich wirkt sich ein Überschuß von Phenylpyruvat im Blut in der Gehirnbildung toxisch aus. Dies ist die kognitive Ebene. In allen drei Übergängen von Ebene zu Ebene können Faktoren einwirken: Erstens gibt es verschiedene Missense-Mutationen im PAH-Gen, die sich verschieden kombinieren können. Verschiedene PAH-Mutationen haben je für sich unterschiedliche Effekte auf die Enzymfunktion. Potentielle Interaktionen zwischen Allelen und den Effekten von regulatorischen Allelen innerhalb des PAH-Gens oder außerhalb können
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nicht ausgeschlossen werden. Zweitens kann der Effekt eines mutanten Allels auf die Enzymfunktion in vivo nicht genau aus in vitro Expressions-Studien vorausgesagt werden; offenbar liegen dafür in vivo weitere beeinflussende Faktoren vor. Drittens ist das Ausmaß der Hyperphenylalaninämie abhängig von weit verteilten Kontrollsystemen der biochemischen Homöostase, die ein Netz anderer Faktoren außer dem PAH-Enzym selbst einbeziehen. Viertens wird der Transport der verschiedenen Metaboliten durch die Blut-HirnBarriere (BBB) kontrolliert. In diesen Transportfunktionen bestehen konstitutionelle Schwankungen zwischen Individuen. Erst der kognitive Phänotyp auf der vierten Ebene ist aber das Leiden, die manifeste „Eigenschaft", die retrospektiv dem Gen für PAH zugeschrieben wird. Das Gen, genauer eine besondere Mutation innerhalb des Gens, erscheint als ein wesentlicher und zweifellos notwendiger Faktor innerhalb eines mehrstufigen, räumlich, zeitlich und systemisch geschachtelten Verursachungskomplexes. Die Voraussage eines Phänotyps aus der Kenntnis über die Mutation würde die Konstantsetzung aller anderen Faktoren erfordern. Das ist aber eine Forderung, die in vivo nie erfüllt sein kann. Es sind in vivo Situationen, in denen genetische Daten erhoben werden, und real life Situationen, in denen ihre Interpretation interessiert. (Patienten pflegen nun einmal nicht in vitro zu leben.) Wenn ich diese Entwicklungen überblicke, zeigt sich mir eine wachsende Spannung zweier auseinanderlaufender Tendenzen. Die eine Tendenz ist die wachsende Verfügbarkeit genetischer Daten, vor allem im Gefolge der Genomprojekte. Wenn immer mehr des gut drei Milliarden Basenpaare langen menschlichen Genoms und mehr der darauf angeordneten vielleicht 100000 Gene bekannt werden, wird es ein Leichtes sein, auch mehr Tests für Mutationen zu entwerfen. Mit markierten DNA- oder RNA-Sonden läßt sich das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer bestimmten Sequenz bei einer realen Person nachweisen. Die Nachweisverfahren sind routinisiert, sogar automatisierbar, so daß z. B. mit einem sog. Chip auf einen Schlag hunderte, tausende oder gar hunderttausende verschiedener Sequenzmarker in einer einzigen DNA-Probe getestet werden können.9 Für das Jahr 2003 ist die vorgezogene Beendung des HGP angesagt. - Die andere Tendenz ist die vorhin beschriebene Ernüchterung bezüglich gen-deterministischer Konzepte. Die kausale Rolle der DNA-Sequenzen wird neu eingeschätzt; der kausale Weg zwischen Mutation und Eigenschaft erscheint heute viel länger. Entsprechend wurden die Gene in der kausalen Hierarchie zellulärer Entwicklungssysteme sozusagen entthront. Die wissenschaftlichen Bilder der Zellen wurden demokratisiert: Die DNA bleibt ein eminent wichtiger und absolut notwendiger Faktor, der in einer unersetzlichen Weise wirksam ist, aber die DNA wird nicht mehr als die alles entscheidende Einflußgröße für Eigenschaften angesehen. Ihre kausale Priorität wurde aufgelöst. Die eindeutige Zuordnung von phänotypischen Eigenschaften zu Genen wurde unhaltbar. Wenn man an der Zuordnung des Genbegriffs immerhin zu kausalen Erklärungsgründen für Polypeptide festhalten will, sind dafür tiefgreifende konzeptuelle Veränderungen
9 Vgl. dazu den kritischen Artikel (mit Referenzen) von Schwerin 1999.
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notwendig, die dazu fuhren, unter einem Gen jeweils diejenigen Prozesse zu verstehen, in denen DNA-Abschnitte zur Synthese eines Polypeptids verwendet werden.10 Die wachsende Verfügbarkeit genetischer Daten bei gleichzeitig schwindender Eindeutigkeit in der kausalen Einordnung der DNA-Sequenzen macht die Interpretation genetischer Daten zu einer beständigen Herausforderung für die Betroffenen. Die Frage wird deshalb dringender, welche Art von Wissen es ist, das aus Tests für DNA-Sequenzen gewonnen werden kann. Als Antwort möchte ich folgende Thesen formulieren: 1. Aus Tests für DNA-Sequenzen können Schlüsse auf das Vorliegen bestimmter DNA-Sequenzen in Individuen gezogen werden. 2. Eigenschaften eines Menschen entstehen jeweils aus einem komplexen Zusammenwirken von Faktoren (Gen-Konstellationen und außergenetische Bedingungen). Dies gilt auch für „monogen" vererbte Eigenschaften. 3. DNA-Sequenzen spielen eine Rolle innerhalb dynamischer Verursachungskonstellationen. Wissen über DNA-Sequenzen repräsentiert Punkte in Verursachungskonstellationen. 4. Statistisch lassen sich Gene mit Eigenschaften korrelieren. (Z. B. männliche BRCAl-Carrier - des Gens, das mit weiblichem Brustkrebs stark korreliert ist stehen in dreifach erhöhter Gefahr, an Prostata-Krebs zu erkranken.) Wissen über DNA-Sequenzen erlaubt die Zuordnung von Individuen zu Gefahrenkategorien. Die oft gehörte Auskunft ist irreführend, wonach Gene für bestimmte phänotypische Eigenschaften „verantwortlich" seien. Das Wissen aus genetischen Daten ist als kausales Wissen höchstens Punkte-Wissen wo Konstellationswissen nötig wäre. Dennoch erlaubt es die Zuordnung zu Klassen von Inzidenzwahrscheinlichkeiten. Der genetische Determinismus, also die Auffassung, daß Gene mit Hilfe des Organismus phänotypische Eigenschaften kausal hervorbringen, ist nicht die Voraussetzung für genetische Tests, für genetische Beratung, genausowenig wie für Gentherapie. Es braucht nicht angenommen werden, daß die Gene das So-Sein und So-Werden von Individuen kausal determinieren. Der Zugang kann vielmehr durch und durch pragmatisch sein und sich an empirisch feststellbaren Korrelationsverhältnissen orientieren. Bei dem bisher vorgeführten Gedankengang wurde eine bestimmte innermedizinische Problemdefinition der Interpretation genetischer Daten unangetastet gelassen. Ich habe sie am Anfang anhand der Empfehlung für Alzheimer-Gentests vorgestellt: Die Schwierigkeit der Interpretation genetischer Daten bestehe darin, mit der begrenzten klinischen Prognosesicherheit aus genetischen Befunden menschenwürdig umzugehen. Die Fragen seien, welche prognostischen Auskünfte über das zukünftige Schicksal eines getesteten Individuums mit welcher Sicherheit erteilt werden können, und wie das betroffene Individuum in seinem Leben einen bestimmten Befund integrieren soll, welche Veränderungen in seiner Lebensstruktur von welchem Wahrscheinlichkeitswert an sinnvoll sind, wer informiert werden darf 10 Neumann-Held 1998.
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oder sollte, wer nicht davon erfahren darf und welche Entscheidungen anstehen. Ich denke, daß damit die gestellte Aufgabe einer Klärung des Interpretationsprozesses genetischer Daten im Sinn einer hermeneutischen Aufgabe nicht gelöst, sondern allererst eröffnet ist. Ich möchte diese Aufgabe nun in einem weiteren Sinn entwickeln.
3. Betrachten wir die Aussagen, die aus genetischen Tests abgeleitet werden können. X sei eine phänotypische Eigenschaft, z. B. eine Krankheit, eine besondere Anfälligkeit für Umweltnoxen oder eine besondere Fähigkeit. Die Aussagen lauten typischerweise so: „Individuum a wird mit einer y-fach erhöhten Wahrscheinlichkeit X entwickeln." Oder: „a wird mit der Wahrscheinlichkeit p X entwickeln." Die Erhöhung y ist dabei relativ zum Durchschnittswert der Erwartungswahrscheinlichkeit zu sehen, die ohnehin besteht. Es handelt sich um prädiktive Aussagen in Wahrscheinlichkeitsform. Die Wahrscheinlichkeit beinhaltet zweierlei Unsicherheiten, die von ganz verschiedener Art sind: (i) Unsicherheit des Tests selbst: Entspricht das Ergebnis des Messverfahrens der tatsächlich im Körper des Patienten vorliegenden Sequenz? Vor allem bei sog. RFLPVerfahren (mit gekoppelten Markern) ist diese Korrelation noch merklich unsicher. Diese Art der Unsicherheit kann durch technische Verbesserungen verkleinert werden, (ii) Unsicherheit des Sequenz-Phänotyp-Zusammenhangs. Wird das Individuum, wenn die Sequenz so vorliegt, wie der Test es zeigt, den Phänotyp x tatsächlich entwickeln? Welche Rolle spielen dabei der genetische Hintergrund, modifizierende Gene, sonstige Einflußfaktoren? Die zweite Unsicherheit betrifft die tatsächliche Komplexität der organischen Verursachungszusammenhänge; deshalb bleibt sie gegenüber der technischen Verbesserung des Tests resistent. Für die Betroffenen besteht nun die Frage, was das sei, was man mit der genannten Auskunft bekommen hat. Was sagt das aus? Ich meine nun eben nicht das Problem, daß es die Betroffenen, die es interessiert, ob sie selbst x bekommen, die Aussage nur einen statistischen Durchschnittswert beinhaltet, auf ihren eigenen Einzelfall beziehen müssen. Daneben besteht doch die Frage, was man denn eigentlich hat, wenn man ein bestimmtes Gen hat. Was ist der Inhalt einer Auskunft über das Vorliegen von DNA-Sequenzen, von Mutationen, genetischen Konstellationen in bezug auf mich (oder andere Betroffene) als körperliches Wesen? Kürzer gesagt: Was bedeutet es für Betroffene, in ihrem Körper eine besondere DNA-Sequenz zu haben? Diese Frage ist für Betroffene genauso einschneidend, wie die nach der Interpretation von Wahrscheinlichkeiten, weil es sich an ihr entscheidet, wie sie verstehen, was sie sind, wie sie ihre Identität im Verhältnis zum eigenen Körper und im Verhältnis zum Körper anderer verstehen." Es gelangt eine punktuelle Information über 11 Rosalyn Diprose entwickelte in einem faszinierenden Aufsatz Grundlagen für diese Verbindung von genetischer Theorie und Ethik, in welchem sie der Theorie-Anwendungs-Dichotomie sehr ähnlich widerspricht, wie ich es selbst in meinem Beitrag tue: „However, it is the complicity o f genetics in the pro-
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einen äußerst komplexen und nur zu kleinen Teilen verstandenen Zusammenhang des vierdimensionalen Entwicklungssystems ans Licht, das wir selbst als körperliche Wesen sind. Diese punktuelle Information fügt sich nun in die Vorstellungswelt der Betroffenen ein, in die Vorstellungen, die Betroffene von sich selbst als Organismen, als Menschen haben und ergibt dort ein mitunter recht klares Bild auch wenn die Prognose selbst unsicher bleibt. Die festgestellte Sequenz verbindet zwei verschiedene Kontexte miteinander: den Kontext des realen Körpers, d. h. des Organismus als vierdimensionales, multizelluläres Entwicklungssystem, mit dem Kontext der Repräsentationen des Körpers, d. h. der kulturell geprägten und im Diskurs konfigurierten Konzepte vom genetischen Text und seiner Bedeutung für die menschliche Existenz (Tab. 4). Kontext der Repräsentationen Körpers
des
/
\
Kontext des realen
Körpers
'
y