253 74 3MB
German Pages 427 [442] Year 2021
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament ∙ 2. Reihe Herausgeber/Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)
548
Simon Wandel
Gottesbild und Barmherzigkeit Lukanische Ethik im Chor hellenistischer Ethikkonzeptionen
Mohr Siebeck
Simon Wandel, geboren 1984; Studium der Theologie in Tübingen, Rom und Heidelberg; 2016 Promotion; Vikariat im Nordschwarzwald; Repetent am Evangelischen Stift Tübingen; seit 2019 Pfarrer in Undingen-Sonnenbühl.
ISBN 978-3-16-159681-0 / eISBN 978-3-16-159839-5 DOI 10.1628/978-3-16-159839-5 ISSN 0340-9570 / eISSN 2568-7484 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Times gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Für Christine
Vorwort Die vorliegende Monographie ist die überarbeitete Fassung meiner Doktorarbeit, die ich 2016 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg abgeschlossen habe. Die Jahre des Forschens an den lukanischen Texten haben eine große Begeisterung für die Theologie des Evangelisten Lukas in mir geweckt, die gewiss zwischen den Zeilen des Buches hindurchschimmert. Doch um ermessen zu können, welch theologische Tiefe das Lukasevangelium besitzt, bedurfte es einer weiten Perspektive. Diese hat mir mein Doktorvater Professor Dr. Matthias Konradt eröffnet. Durch sein beharrliches Drängen, der hellenistischen Umwelt des Lukas mindestens so viel Aufmerksamkeit zu widmen wie dem Evangelisten selbst, erschloss sich mir nach und nach dieser weite Blick auf das Lukasevangelium. Herrn Konradt habe ich in vielfältiger Hinsicht zu danken, und es war eine Freude, bei ihm studieren und forschen zu dürfen. Zum Forschen gehört freilich auch das Diskutieren, das Hinterfragen und das Ermutigen. Ohne die Freunde und Weggefährten aus der Heidelberger Zeit, vor allem aber ohne meine Frau Christine, wären die Jahre der Promotion nicht dieselben gewesen. Danke, dass ihr den Weg mitgegangen seid. Großer Dank gebührt auch der Stiftung der deutschen Wirtschaft, die meine Promotion durch ein Stipendium finanziert hat. Ich freue mich, dass Herr Professor Dr. Jörg Frey und der Verlag Mohr Siebeck meine Dissertation in die Reihe WUNT II aufgenommen haben, und danke der Evangelischen Landeskirche in Württemberg für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Herr Dr. Daniel Lettgen hat sich der Erstellung der Register angenommen und mir dadurch einen großen Dienst erwiesen. Frau Désirée Soon Yung Rupp hat die Mühe auf sich genommen, das Manuskript akribisch auf Fehler durchzusehen. Ihre Arbeit ist für die Veröffentlichung meiner Dissertation von unschätzbarem Wert. Nun ist seit dem Ende der Promotion bis zum Erscheinen dieses Buches die exegetische Wissenschaft nicht stehen geblieben, sodass mittlerweile manch Interessantes und Bedenkenswertes zu meinem Forschungsfeld, wie etwa der Kommentar zur Feldrede „Be merciful like the father“ von Clifard S. Ranjar, publiziert worden ist. Doch schließlich darf ein Buch auch einmal einen Schlusspunkt finden, sodass ich die neuesten Publikationen nicht mehr in die Überarbeitung des Manuskripts einfließen lassen konnte. Die geneigte Leser-
VIII
Vorwort
schaft möge es mir nachsehen und sich dadurch die Freude an diesem Buch nicht verderben lassen. Reutlingen, an Jubilate 2020
Simon Wandel
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Kapitel 1: Hermeneutische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1 Der Evangelist Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.2 Transformationsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Synchrone oder diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Kapitel 2: Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Das Königreich Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Motiv der Umkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Das lukanische Besitzethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Barmherzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nachahmung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transformationsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Forschungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 20 21 24 25 27 28 29
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.1 Das Magnificat (Lk 1,46–55) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Das Magnificat als Schwelle zur Gottesherrschaft . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Die Barmherzigkeit Gottes im Magnificat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Bund und Barmherzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Gottes Barmherzigkeit und Gottes Bundestreue im Magnificat . . . 3.2 Das Benedictus (Lk 1,67–79) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Die Aufgabe des Täufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Die Barmherzigkeit Gottes im Benedictus . . . . . . . . . . . . . 3.3 Magnificat, Benedictus und der Psalter Salomos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33 33 34 36 39 43 45 45 45 48 49 52 62
X
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 4: Die Feldrede (Lk 6,20–49) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4.1 Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4.2 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 4.3 Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4.3.1 Die Einleitung der Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4.3.2 Makarismen und Weherufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.3.2.1 Die Armen (V. 20b–c) und die Reichen (V. 24a–b) . . . . . . 75 Exkurs: Die Armen bei Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.3.2.2 Die Hungernden (V. 21a–b) und die Satten (V. 25a–b) . . . . 84 4.3.2.3 Die Weinenden (V. 21c–d) und die Lachenden (V. 25c–d) . 87 4.3.2.4 Die Gehassten (V. 22a–23b) und die Gerühmten (V. 26a–b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4.3.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.3.3 Feindesliebe und Barmherzigkeit (Lk 6,27–38) . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4.3.3.1 Feindesliebe und Gewaltverzicht (V. 27b–30b) . . . . . . . . . 93 a) Liebe und Feindschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Gutes tun und Hass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c) Segen und Fluch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 d) Fürbitte und Misshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 e) Die Schläge auf die Wange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 f) Der Mantel und das Hemd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 g) Das freizügige Geben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 h) Geben ohne Rückerstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.3.3.2 Die Goldene Regel in der Ethik Jesu (V. 31a–34b) . . . . . . 103 4.3.3.3 Gotteskindschaft und Barmherzigkeit (V. 35a–36b) . . . . . . 110 4.3.3.4 Abschließendes Summarium (V. 37a–38d) . . . . . . . . . . . . 116 4.3.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.3.4 Die wahre Jüngerschaft (Lk 6,39–49) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.3.4.1 Der blinde Blindenführer (V. 39b–c) . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.3.4.2 Der Schüler und sein Lehrer (V. 40) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.3.4.3 Der Splitter und der Balken im Auge (V. 41a–42e) . . . . . . 125 4.3.4.4 Die guten und die schlechten Früchte (V. 43a–45c) . . . . . . 127 4.3.4.5 Das Gleichnis vom Hausbau (V. 46a–49c) . . . . . . . . . . . . . 131 4.3.4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37) . . . . . . . . . . . . . . 139 5.1 Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.2 Kontext und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.3 Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.3.1 Das Doppelgebot der Liebe (Lk 10,25–29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.3.2 Die Parabel vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–35) . . . . . . . . 148
Inhaltsverzeichnis
5.3.3 Die Reichweite und die Realisierung der Nächstenliebe (Lk 10,36–37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1 Erste Perspektive: „Lehrer, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erben werde?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.2 Zweite Perspektive: „Und wer ist mein Nächster?“ . . . . . . 5.3.3.3 Dritte Perspektive: Priester, Levit, Samariter . . . . . . . . . . . 5.3.3.4 Vierte Perspektive: „Geh hin und handle du gleichermaßen!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
156 157 158 160 163
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50) . . . . . . . . . . . 165 6.1 Übersetzung und Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die lk. Variante im synoptischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Der Pharisäer und die Sünderin (Lk 7,36–39) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Das Gleichnis von den beiden Schuldnern (Lk 7,40–43) . . . . . . . . 6.3.3 Die Liebe der Sünderin (Lk 7,44–47) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Die Vollmacht zur Sündenvergebung (Lk 7,48–50) . . . . . . . . . . . . . 6.4 Liebe und Vergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Die Liebe als Folge der Vergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Die Liebe als Bedingung der Vergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Die Liebe Gottes zu den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.4 Der Mangel an Liebe und die Verwehrung der Vergebung . . . . . . .
165 167 168 168 175 178 179 183 183 187 191 192
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 7.1 Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 7.2 Kontext und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7.3 Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 7.3.1 Der Auszug des Sohnes (Lk 15,11–16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 7.3.2 Die innere Umkehr (Lk 15,17–20a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 7.3.3 Die Barmherzigkeit des Vaters (Lk 15,20b–24) . . . . . . . . . . . . . . . . 209 7.3.4 Der Zorn des älteren Sohnes (Lk 15,25–32) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.4 Der verlorene Sohn im lukanischen Denken: Gottesbild und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 7.5 Das Motiv des verlorenen Sohnes in der Antike: Gemeinsamkeiten und Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Kapitel 8: Joseph und Aseneth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 8.1 Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 8.2 Die Buße der Aseneth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 8.2.1 Idolatrie als trennendes Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 8.2.2 Der Weg der μετάνοια . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 8.2.2.1 Die Bienenszenerie (JosAs 16,17–23) . . . . . . . . . . . . . . . . 243 8.2.3 Das Wesen der μετάνοια in JosAs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
XII
Inhaltsverzeichnis
8.2.3.1 Umkehr und Hass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3.2 Umkehr und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3.3 Umkehr und Demut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3.4 Die Annahme durch Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4 Das Motiv der μετάνοια bei Lukas und JosAs . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4.1 Umkehr als konstitutives Element der neuen Gottesbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4.2 Umkehr und Demut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4.3 Umkehr und Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4.4 Umkehr als Abkehr von der Idolatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4.5 Umkehr und Rettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Das Gottesbild in JosAs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Strukturen und Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Charakterisierungen Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2.1 Der zornige Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2.2 Der barmherzige Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Gottesbild und Ethik in JosAs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247 249 251 254 255 256 257 259 260 260 262 262 264 264 266 269
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 9.1 Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 9.2 Das Testament Sebulon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 9.2.1 Das Doppelgebot der Liebe im TestSeb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 9.2.2 Die emotionale Dimension der barmherzigen Zuwendung . . . . . . . 290 9.2.2.1 Die Barmherzigkeit mit den Verfolgten . . . . . . . . . . . . . . . 292 9.2.2.2 Die Barmherzigkeit mit den Notleidenden . . . . . . . . . . . . . 294 9.2.2.3 Barmherzigkeit und Vergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 9.3 Das Testament Joseph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 9.3.1 Nächstenliebe im TestJos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 9.3.2 Das Gottesbild im TestJos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 9.4 Das Testament Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 9.4.1 Das Doppelgebot der Liebe im TestBen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 9.4.2 Das Motiv der Barmherzigkeit im TestBen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 9.4.3 Die reine Gesinnung im TestBen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Kapitel 10: Der Aristeasbrief – Herrscherethos im Lichte des hellenistischen Frühjudentums . . . . . . . 321 10.1 Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Grundsätzliches: Tugend und Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Gottesbild und Ethik im Aristeasbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Die Vorrangstellung des jüdischen Monotheismus . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Das Symposion (EpArist 184–294) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2.1 Das Herrscherethos in der EpArist . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321 323 325 325 327 327
Inhaltsverzeichnis
10.3.2.2 Ein Blick zurück: Die Relation zwischen Gott und König zu Beginn der EpArist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2.3 Die Milde Gottes als ethisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2.4 Genügsamkeit als königliche Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Summarium: Ethik als Nachahmung und Observanz Gottes . . . . . . . . . . . .
XIII
328 330 333 335
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 11.1 Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Die Bedeutung Gottes in der Ethik Senecas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Grundsätzliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Gott in der Philosophie Senecas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.3 Imitatio Dei als sittliches Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Die sittliche Lebensgestaltung nach der Ethik Senecas . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.1 Näherbestimmung der virtus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.2 Wider den Luxus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.3 Affekte als Bedrohung der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.4 Positive Emotionen als vitia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.5 Zwischen clementia und misericordia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.6 Suizid und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.7 Streben nach Tugend angesichts des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Lukas und Seneca im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339 340 340 342 345 349 350 352 354 357 360 363 366 367
Kapitel 12: Abschließendes Summarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 12.1 Der Evangelist Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Das hellenistische Frühjudentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Seneca: Stoische Ethik der Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371 374 377 378
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Quellen und sprachliche Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Monographien und Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Aufsätze und Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
Prolegomena „Tu dies und du wirst leben!“ (Lk 10,28) Mit diesen Worten fordert der lk. Jesus seinen gesetzeskundigen Gesprächspartner auf, einen ethisch guten Lebenswandel zu vollziehen, der sich in erster Linie durch die Treue gegenüber dem Doppelgebot der Liebe auszeichnet. Der Verpflichtung gegenüber dem Doppelgebot und dessen Konkretion in je individuellen Lebensvollzügen kommt durch die daraus resultierende Teilhabe am ewigen Leben (vgl. Lk 10,25) ein existentieller Ernst zu. Es nimmt nicht wunder, dass der νομικός angesichts dieser Aussage Jesu nochmals zurückfragt, um die Bedeutung des Gesagten näher zu erfassen, und um die nahezu provokativ einfache Antwort Jesu zu konkretisieren, in ihrer Offenheit zu limitieren. Die Ethik, die der Evangelist Lukas formuliert, regt, nicht zuletzt wegen der ihr zugemessenen existentiellen Tiefe, zum Nachdenken an und reizt, gerade wegen mancher materialethischen Härte, zu Rückfragen bezüglich des Intendierten. Die vorliegende Untersuchung wird sich mit der lk. Ethik beschäftigen und grundsätzlichen Fragen hinsichtlich der Konzeption und der Plausibilität der Ethik des Evangelisten Lukas nachgehen. Es soll dezidiert keine vollumfängliche Analyse der materialethischen Einzelaussagen im lk. Doppelwerk erfolgen, sondern, um die klassische Unterscheidung zwischen Ethik und Ethos aufzugreifen, eine Analyse der Ethik vorgenommen werden. Inwieweit lässt sich eine Handlungstheorie beschreiben, die die materialethischen Einzelaussagen auf einer Metaebene miteinander verbindet und diese in einen argumentativen Gesamtzusammenhang einbettet? Es soll vordringlich also nicht um die Frage: „Was soll ich tun?“ gehen, sondern vielmehr um das Hinterfragen: „Warum soll ich dies tun?“ Die Analyse der Plausibilisierung sittlicher Handlungsanweisungen bezieht freilich stets auch den Aspekt der Adressatenorientierung mit ein. Schließlich dienen sowohl die Entwicklung und die Anwendung einer Handlungstheorie als auch die damit verbundenen Handlungsanweisungen nicht allein der ethischen Charakterbildung des Autors, sondern sind immer auch auf Adressaten hin bezogen. Das lk. Doppelwerk als Ganzes und die ethisch relevanten Aussagen im Besonderen können also als Kommunikationsakte zwischen dem Evangelisten und den von ihm intendierten Adressaten verstanden werden. Inwiefern Lukas beim Verfassen seines Werkes an die Exploration ihm fremder Kulturräume gedacht haben mag, ist nicht zu eruieren. Dass ihm aber an der Verbreitung seines
2
Prolegomena
Werkes innerhalb der ihm vertrauten Kulturräume und Bevölkerungsgruppen gelegen war, kann mit Sicherheit angenommen werden. Um zu einem vertieften Verständnis lk. Ethik zu gelangen, ist es also unbedingt vonnöten, eine Analyse ethischer Argumentationsgänge aus der Umwelt des Evangelisten in die Untersuchung miteinzubeziehen; einerseits, um die „Übersetzung“ christlich-ethischer Inhalte in die Gedankenwelt der Adressaten nachvollziehen zu können, andererseits, um die kulturelle Prägung des Evangelisten, die ihn beim Verfassen seines Werkes gewiss, bewusst oder unbewusst, beeinflusst hat, besser verstehen zu können. In summa wird die vorliegende Arbeit nach einigen hermeneutischen Vorüberlegungen und einem knappen Forschungsüberblick über ethische Begründungszusammenhänge in den (synoptischen) Evangelien mit der Analyse des lk. Schriftguts beginnen und anschließend, ausgehend von den dort gewonnenen Erkenntnissen, eine Exploration ausgewählter Texte aus der Umwelt des Evangelisten Lukas vornehmen. Am Ende soll deutlich werden, welche ethische Konzeption Lukas verfolgt hat und welche Wechselwirkungen mit ethischen Überzeugungen seiner Umwelt beschrieben werden können.
Kapitel 1
Hermeneutische Vorüberlegungen 1.1 Der Evangelist Lukas Lukas offenbart sich in seinem Doppelwerk als ein Autor, der über ein hohes Maß an Bildung verfügt. So formuliert er in einem hervorragenden Koine-Griechisch, ist in der Lage, die Rhetorik seiner Protagonisten den narrativen Gegebenheiten1 anzupassen, und beweist zudem, beispielsweise im Zusammenhang der Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde, Kenntnisse hellenistischrömischer Philosophie2 sowie theologische Reflexion der LXX.3 Lukas bewegt sich kulturell am Schnittpunkt zwischen der hellenistisch-frühjüdischen und der hellenistisch-römischen Welt,4 wobei er vermutlich zur Gruppe der Heidenchristen zu zählen ist. Sein Umgang mit der LXX ist durch ein zurückhal1 Aufschlussreiche Beobachtungen zu der Sprachgewalt des Evangelisten und seiner Sensibilität hinsichtlich des narrativen Ortes liefert beispielsweise D. Marguerat, Historiker, 37–38. D. Marguerat verweist in diesem Zusammenhang auf das antike rhetorische Stilmittel der Prosopopöie, welches in den antiken Rhetorikschulen angewandt wurde. Die Schüler sollten einerseits lernen, berühmte Charaktere nachzuahmen, andererseits dahingehend geschult werden, sich so detailgenau wie möglich in eine Situation hineinzuversetzen, um ihren narrativen Figuren die adäquaten Worte in den Mund zu legen. So gelingt es Lukas beispielsweise, die Reden, die Petrus in den Acta vor jüdischem Publikum hält (vgl. Act 2,14–36; 3,12– 26 u. ö.), im Sprachkolorit der LXX zu gestalten, während er Paulus auf dem Areopag (vgl. Act 17,22–31) mit den Formulierungen eines römischen Rhetors inszeniert. Vgl. ebenso J. Roloff, Apostelgeschichte, 10–11. Zur sprachlichen Imitation der LXX im lk. Doppelwerk vgl. M. Wolter, Lukasevangelium, 9; J. Green, Luke, 14; sowie in etwas abgeschwächter Form F. Bovon, Lukas 1, 18.22.25. 2 Vgl. z. B. H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, 44, der auf Nic.Eth. IX 8 p 1168b verweist; ebenso J. Roloff, Apostelgeschichte, 88–89, der zudem die Traditionen des hellenistischen Ideals der Gütergemeinschaft der Skythen erwähnt und zudem auf Sen.ep. 90,3–4 verweist. Seneca geht hier auf die philosophische Vorstellung einer idealen Urzeit ein, in der einst Gütergemeinschaft geherrscht haben soll. Andere Forscher erkennen hierin eine Anspielung auf die Pythagoreer, vgl. A. Wikenhauser, Apostelgeschichte, 69 oder auch R. Pesch, Apostelgeschichte I, 181, FN 2. 3 Die Darstellung der Gütergemeinschaft kann auch als Realisierung von Dtn 15,4–11 verstanden werden. So A. Verhey, Reversal, 94: „Here Israel is fulfilled, and the community of goods participates in the reality to which it points. Luke sees the use of money as a manifestation of the disposition of the self to the reign of God. It is not less morally obligatory for that, but the obligation has a special character, an inalienably religious character.“ 4 Geographisch lässt er sich aller Wahrscheinlichkeit nach in Griechenland verorten, eventuell in der Nähe von Philippi. Vgl. etwa F. Bovon, Lukas 1, 23; P. Pilhofer, Lukas als ἀνὴρ Μακεδών, 106–112.
4
Kapitel 1: Hermeneutische Vorüberlegungen
tendes Interesse an Fragen der Relevanz der Tora als sittliches und kultisches Gesetz gekennzeichnet, weist aber eine hohes Maß an Beschäftigung mit sozialethischen Texten der Propheten, des Deuteronomium und der Weisheitsliteratur auf.5 Es wäre denkbar, den Evangelisten der Gruppe der Gottesfürchtigen zuzuordnen,6 unter denen gerade die paulinische Mission auf großes Interesse stieß, da sie eine vollständige Teilhabe am Gottesvolk ohne Beschneidung und ohne Verpflichtung auf die Kultgebote ermöglichte.7 Neben der theologisch fundierten, aber dennoch selektiven Verwendung der LXX lässt sich bezüglich des literarischen Arbeitens des Evangelisten feststellen, dass er mit dem Stil römischer Historiographen vertraut war und diesen in Teilen adaptierte.8 Damit wird bereits von Lk 1,1–4 ausgehend deutlich, dass der Evangelist sein Doppelwerk durch ein hohes Maß an planvollem Gestalten geschaffen hat, das sich nicht nur auf narrative, sondern natürlich auch auf theologische Inhalte auswirkte. Bei aller Treue zu seinen Quellen, die Lukas nicht abgesprochen werden kann, würde es zu kurz greifen, ihn als Sammler und Sortierer verschiedener Traditionsstücke zu verstehen. Vielmehr intendiert der Evangelist, durch sein Doppelwerk identitätsstiftend und -fördernd für die entstehende christliche Kirche tätig zu sein,9 indem er das Fundament der Kirche, die Jesusgeschichte und die Anfänge der Kirche, die Ereignisse der Acta, welche jeweils bereits in der Vergangenheit liegen und zu welchen der Autor selbst auch nur durch schrift5
Diese Beschäftigung mit der LXX wird im weiteren Verlauf der Untersuchung beleuchtet werden. 6 Zur Diskussion dieser Frage siehe M. Meiser, Reaktion, 264–265. Anders argumentiert W. Böttrich, Doppelwerk, 182, der den Evangelisten zur Gruppe der Judenchristen zählt. 7 Die Darstellung von Petrus und Paulus in den Acta gewinnt vor allem vor dem Hintergrund der pln. Briefe besondere Brisanz. Ohne dass Lukas auch nur einen einzigen pln. Brief erwähnt, lässt er in den Reden der Acta durchaus pln. Theologie einfließen. Allerdings ist es nicht immer Paulus selbst, der derartige Theologumena formuliert, sondern auch Petrus (vgl. Act 15,7–11), der im Übrigen im Zuge des Apostelkonvents als Völkerapostel präsentiert wird (vgl. Act 15,7 im Gegensatz zu Gal 2,7–8). Es wäre aufschlussreich zu analysieren, ob Lukas hier mit Absicht pln. Theologie auf Petrus projiziert, etwa mit dem Ziel, der im 1. Jhdt. nicht unumstrittenen pln. Theologie mehr Gewicht zu verleihen. 8 Vgl. die vorzügliche Untersuchung von D. Marguerat: „Lukas, der erste christliche Historiker.“ 9 M. Wolter, Lukasevangelium, 24–26 unterstreicht ebenfalls den Aspekt der Identitätsstiftung, die die Intention des Evangelisten adäquat beschreibt. Dabei geht er davon aus, dass die „Wir-Berichte“ der Acta ein Beleg dafür seien, dass Lukas durchaus mit Paulus unterwegs gewesen ist. Diese gemeinsamen Reisen werden nach M. Wolter in den Wir-Berichten beschrieben. Dass Lukas trotz der persönlichen Bekanntschaft mit Paulus nichts von dessen Briefen berichtet, liegt nach M. Wolter, Lukasevangelium, 7–9 daran, dass die Wir-Berichte Reisepassagen des Paulus beschreiben, in denen dieser keine Briefe verfasst hat. Er stützt sich dabei auf entsprechende Datierungen der pln. Reisen. M. E. überzeugt die Argumentation M. Wolters nicht. Mit D. Marguerat sind die „Wir-Stücke“ vielmehr im Zusammenhang mit einer christlichen Gemeinde in Makedonien zu sehen, zu der auch der Evangelist Lukas zu zählen ist (vgl. oben).
1.2 Transformationsprozesse
5
liche Quellen und mündliche Zeugnisse Zugang gewonnen hat,10 zusammenhängend darstellt. „Wenn die Geschichte der institutionellen Notwendigkeit entspricht, die Erinnerung an die Vergangenheit festzuschreiben, dann wird mit dem Werk ad Theophilum beabsichtigt, der lukanischen Christenheit eine Identität zu verleihen. Indem Lukas sein Diptychon schreibt, will er seiner Leserschaft bedeuten, was sie ist, woher sie kommt und was sie aufgebaut hat. Er schreibt, damit sie sich selbst versteht und sich den anderen (ob Juden oder Heiden) mitteilen kann. […] Lukas scheint in der Tat der Erste gewesen zu sein, der eine religiöse Bewegung im Modus der Geschichte dargestellt hat. Jedenfalls hat Lukas in der Geschichte des Christentums als Erster erkannt, dass die Christenheit seiner Zeit ein Instrument der Selbstvergewisserung braucht – und zwar nicht bloss über eine Geschichte des Gründers (das Evangelium), sondern über eine Gründungsgeschichte.“11
Ausgehend von den Beobachtungen zur schriftstellerischen Tätigkeit des Evangelisten kann für die Analyse der lk. Ethik angenommen werden, dass die planvoll gestalterische Arbeit des Evangelisten sicherlich auch in seinen Ausführungen zu einem sittlichen Verhalten zum Ausdruck kommt, sodass das Vorhandensein einer wie auch immer gearteten Handlungstheorie plausibel zu sein scheint. Zudem kann fraglos von einer Verschmelzung von Christologie und Ethik ausgegangen werden, da die im lk. Doppelwerk ausformulierte Identitätsstiftung der christlichen Gemeinde stets im Zusammenhang mit dem Christusereignis gedacht wird. Darüber hinaus bedarf die Analyse des lk. Doppelwerks stets des Einbezugs hellenistisch-römischer und frühjüdischer Schriften, wirkte der Evangelist doch in beiden Kulturkreisen und war sicherlich vielfältigen intellektuellen und religiösen Einflüssen aus dem paganen und dem frühjüdischen Hellenismus ausgesetzt.
1.2 Transformationsprozesse In der gegenwärtigen exegetischen Forschung zum Neuen Testament hat sich richtigerweise die Überzeugung durchgesetzt, dass die Genese ntl. Texte nicht nur durch die editorische Bearbeitung urchristlicher Quellen und der theologischen Interpretation derselben durch einen ntl. Autor, wie etwa Lukas, zustande gekommen ist, sondern dass dabei in erheblichem Maße Wechselwirkungen zwischen dem ntl. Autor und seiner Umwelt ausschlaggebend waren. Diese Wechselwirkungen seien im Folgenden Transformationsprozesse genannt und sind auf vielfältigen Ebenen denkbar: Kultur, Sprache, soziales Umfeld des 10
Die identitätsstiftende Dynamik antiker Historiographie kann im Hinblick auf das Frühjudentum etwa bei Josephus anschaulich gemacht werden. Vgl. hierzu den Vergleich zwischen Lukas’ „Acta“ und Josephus’ „Antiquitates Judaicae“, den K. Backhaus, Lukas, der Maler, 34 vornimmt, wobei für ihn das gemeinsame Moment in der Bedrohung der Gruppenidentität von außen besteht. 11 D. Marguerat, Historiker, 64–65.
6
Kapitel 1: Hermeneutische Vorüberlegungen
Evangelisten und seiner Adressaten, Religion, Philosophie, Politik etc.12 Selbstverständlich wirken sich Transformationsprozesse nicht nur auf die Gestaltung eines literarischen Gesamtwerkes aus, sondern lassen sich auch bei der Analyse von Einzelthemen, wie etwa der Ethik im lk. Doppelwerk, darstellen. „Als Leitperspektive bietet sich dabei an, die Genese frühchristlicher Ethik(en) als Interaktionsgeschehen zu analysieren und also den Fokus auf die Prozesse der Rezeption und gegebenenfalls der Transformation ethischer Traditionen sowie auf die soziale Einbettung dieser Prozesse zu richten.“13
Die Trias von Rezeption, Transformation und sozialer Einbettung weist auf die Breite möglicher Transformationsprozesse hin. So soll danach gefragt werden, ob der Evangelist für die Formulierung seiner Ethik Bilder, Motive oder Argumentationsmuster verwendet, die auch in seiner hellenistischen Umwelt im ethischen Diskurs bereits bekannt waren und Anwendung gefunden haben. Lässt die Verwendung solcher Motive bereits Rückschlüsse auf die Bildung und die kulturelle Prägung des Evangelisten zu, so zeigt die vergleichende Analyse, welche Aussageintention der Evangelist gerade im Gegenüber zu anderen ethischen Modellen verfolgt. Greift Lukas ein in seiner Umwelt bekanntes ethisches Motiv auf, so dürfte er davon ausgegangen sein, dass das gewählte Motiv auch unter seinen Adressaten im Rahmen ihrer ethischen Denkmuster eine argumentative Kraft entfaltet. Im Aufgreifen jenes Motivs wird auf kommunikativer Ebene, also im Reden und Nachdenken über Ethik, ein Grundkonsens hergestellt. Interessant ist nun, wie Lukas dieses Motiv in seine ethische Argumentation einbaut. Parallelisiert er seine Aussagen mit ethischen Überzeugungen seiner Gegenwart? Nutzt er das Motiv als Ausgangspunkt für eine Diskussion mit seinen Adressaten? Bricht er gar mit allgemein anerkannten ethischen Überzeugungen der Antike? Welche Rolle spielt bei all dem seine theologische Reflexion? Als Beispiel sei hier das oben bereits erwähnte Motiv der Gütergemeinschaft genannt, welches Lukas als eines der wichtigsten Kennzeichen der Jerusalemer Urgemeinde herausgestellt hat (vgl. Act 2,42–47; 4,32–37). Sowohl in frühjüdischen als auch in paganen, hellenistisch-römischen Kreisen lassen sich Belege für die Idee finden, dass die Gütergemeinschaft einen Idealzustand menschlichen Zusammenlebens darstellt. Realisiert wird sie in kleinen, abgeschlossenen Gemeinschaften und gilt entweder als Ausdruck besonderer Fröm12 Wegweisend waren hier nicht zuletzt die Arbeiten von W. Meeks, der seinerseits tatsächlich schon in den 1980er und 1990er Jahren auf die hohe Relevanz der Transformationsprozesse für die Analyse christlicher Ethik hingewiesen hatte. Siehe etwa W. Meeks, Origins, 212: „The Christian’s lists of virtues and vices were not much different from those common in popular morality, though they used them to mark boundaries, to insist upon difference. Their leaders borrow from the topics of philosophical and rhetorical moralizing, though sometimes they twisted them in peculiar ways or set them into unusal contexts.“ 13 M. Konradt, Neutestamentliche Wissenschaft, 282.
1.2 Transformationsprozesse
7
migkeit oder als Zeichen einer konsequent gelebten philosophischen Maxime. So werden etwa die Essener von Josephus dergestalt beschrieben, dass jedes Mitglied beim Eintritt in die Gemeinde der Essener seinen Privatbesitz an die lokale essenische Gemeinschaft zum gemeinsamen Nießbrauch übereignet und fortan auf individuelles Besitzstreben verzichtet (vgl. Josephus, Bell II, 122– 127). Ähnliches14 berichtet Jamblichos von den Pythagoreern, wobei bei diesen nur der innerste Zirkel die Gütergemeinschaft lebte, während die Sympathisanten, die sog. Akusmatiker, sich nicht an der Gütergemeinschaft beteiligten (vgl. Iamb.Vit.Pyth. 29–30.81.167–168). Die Analogien zur lk. Beschreibung der Gütergemeinschaft der ersten Christen sind augenfällig,15 wobei gerade die von Josephus betonten Charakteristika der essenischen Gemeinden wie etwa die Gebets- und Tischgemeinschaft (vgl. Josephus, Bell II, 128–131), die Verpflichtung zur karitativen Verwendung des gemeinsamen Besitzes (vgl. Josephus, Bell II, 134) und die Hervorhebung des Umstands, dass kein Essener im Überfluss lebt, aber alles, was er benötigt, durch die Gemeinschaft zu Verfügung gestellt bekommt (vgl. Josephus, Bell II, 127), ebenso auch in der lk. Darstellung der urchristlichen Gemeinde in Jerusalem unterstrichen werden. Im Unterschied zur Beschreibung der Essener bei Josephus existiert in der lk. Portraitierung der Jerusalemer Urgemeinde kein einjähriges Katechumenat (vgl. Josephus, Bell II, 137), auch fallen die Gemeindeglieder nicht durch ein asketisches Äußeres (vgl. Josephus, Bell II, 123.126) oder durch sexuelle Abstinenz (vgl. Josephus, Bell II, 120–121) auf. Vielmehr übte die erste christliche Gemeinde in Jerusalem nach der, sicherlich idealisierten, Darstellung des Evangelisten eine große Anziehungskraft auf die Einwohnerschaft Jerusalems aus (vgl. Act 2,41.47)16 und zeigte sich einladend und offen für alle, sofern sie sich der Bußtaufe auf den Namen Jesu unterziehen (vgl. Act 2,38 u. ö.). Die Einheit der Gemeinde wurde nicht durch eine Gemeinderegel, sondern allein durch das Wirken des Hl. Geistes sichergestellt.17 So 14 In der Forschung existiert die These, dass diese Ähnlichkeit kein Zufall ist, sondern vielmehr daher rührt, dass dem genannten Abschnitt aus dem „Jüdischen Krieg“ eine sog. pythagoraisierende Quelle zugrunde liegt, die bewusst eine Ähnlichkeit zwischen den Essenern und den Pythagoreern konstruieren will; vgl. R. Bergmeier, Essenerberichte, 104–107. Diese These kann hier nicht vertiefend analysiert werden. Entscheidend ist für die vorliegende Untersuchung vielmehr die Tatsache, dass zur Zeit des Evangelisten Lukas eine Quelle über das Leben der Essener existierte, die die oben genannten Charakteristika der Essenergemeinschaft aufzeigte und die dem Evangelisten möglicherweise bekannt war bzw. dass ihm das Bild der Essener, wie es auch Josephus aufgreift, bekannt war. 15 Die Formulierung, die Jerusalemer Urgemeinde sei ein Herz und eine Seele (καρδία καὶ ψυχὴ μία [Act 4,32]), erinnert stark an die Beschreibung der pythagoreischen Gemeinschaft als ein Leib und eine Seele (ἑν σώμα καὶ μία ψυχή [Iamb.Vit.Pyth. 167]). 16 In ähnlich idealisiertem Stil berichtet Jamblichos von der starken Anziehungskraft der pythagoreischen Gemeinschaft (vgl. Iamb.Vit.Pyth. 29–30), die, analog zur Attraktivität der Jerusalemer Urgemeinde, durch die Wortgewalt der führenden Mitglieder noch verstärkt wurde. 17 In diesen Zusammenhang gehört auch die Perikope von Hananias und Saphira (Act 5,1– 11), deren Verhalten als Sünde wider den Hl. Geist gewertet (vgl. Act 5,3) und demgemäß
8
Kapitel 1: Hermeneutische Vorüberlegungen
wirbt der Evangelist unter seinen Adressaten für die Sache der jungen Kirche, indem er im Zuge eines Transformationsprozesses ein bekanntes und beliebtes ethisches Idealbild aufgreift, dieses christologisch und pneumatologisch neu interpretiert und somit letztlich ekklesiologisch in einer Art und Weise fruchtbar macht, die die sittliche Vollkommenheit der Urkirche unterstreicht und zudem in einen ethischen wie theologischen Gesamtzusammenhang mit den Ausführungen des LkEv stellt. Dass Lukas darüber hinaus implizit propagiert, dass das Heilsorakel aus Dtn 15,4–5 in der ersten christlichen Gemeinde seine Erfüllung finde, dürfte den LXX-kundigen Adressaten seines Doppelwerks sicherlich nicht entgangen sein. Sind Transformationsprozesse Interaktionsgeschehen zwischen dem Evangelisten und seiner Umwelt, so treten sie auch als „Übersetzungsleistungen“ in Erscheinung, vermittels derer die Übersetzung spezifisch christlicher Inhalte in pagane wie frühjüdische Denkwelten der hellenistischen Adressaten ermöglicht wird. Hierbei ist nicht nur an die Verwendung bekannter Motive und Bilder zu denken, sondern vielmehr auch an die Aufnahme ganzer Argumentationslinien, die der Evangelist mit christlichen Inhalten versieht. So wäre es beispielsweise mit Blick auf die zur Zeit des Lukas dominante philosophische Strömung der kaiserzeitlichen Stoa aufschlussreich zu untersuchen, ob Lukas das stoische Streben nach dem in der Gottheit verankerten summum bonum strukturell in seiner Darstellung der Jesusnachfolge aufgreift und dabei, gerade im Gegenüber zur Stoa, die potentielle Analogie in der Argumentation spezifisch christlich füllt, um so letztlich einen für Stoiker nachvollziehbaren, christlich-ethischen Argumentationsgang zu präsentieren, der in der Denkwelt seiner philosophisch gebildeten Adressaten anschlussfähig und somit diskutabel ist. „What was Christian about the ethos and the ethics of those early communities we will discover not by abstraction but by confronting their involvement in the culture of their time and place and seeking to trace the new patterns they made of old forms, to hear the new songs they composed from old melodies.“18
Die Wechselwirkungen zwischen Lukas und seiner Umwelt finden jedoch nicht nur dergestalt statt, dass der Evangelist interpretierend und argumentativ überzeugend auf seine Umwelt einzuwirken sucht. Vielmehr ist er selbst in seinem Denken und Arbeiten geprägt durch Überzeugungen seiner Umwelt, ist seine Hermeneutik zur Deutung des Christusereignisses beeinflusst durch seine Bildung und seine soziale Stellung. Demzufolge ist es für die Exegese der lk. Texte auch drastisch bestraft wird (vgl. Lk 12,10). Die Formulierung eines Regelwerks wird nach der Darstellung erst dann zu einem drängenden Thema, als Paulus mit seiner Völkermission beginnt, wobei die in Act 15,28–29 als verbindlich erklärten Regeln sehr rudimentär sind und die quantitative Begrenzung des in Aufnahme der noachitischen Gebote formulierten Verhaltenscodex durch das Vertrauen auf das Wirken des Hl. Geistes in den christlichen Gemeinden begründet wird. 18 W. Meeks, Moral World, 97.
1.3 Synchrone oder diachrone Analyse
9
wichtig, die Einbettung des Autors in die vielfältigen Gefüge seiner Zeit und seiner Welt mitzubedenken; zu überlegen, wie wohl die Weltwirklichkeit des Evangelisten ausgesehen haben mag, von der aus er auf das Christusereignis geblickt hat und in dessen Licht er die von ihm tradierten Texte verstanden hat. So lässt etwa das in der ntl. Forschung ausführlich diskutierte Sujet des ethisch qualifizierten Umgangs mit Besitz, das in der lk. Ethik von großer Relevanz ist, Rückschlüsse darauf zu, dass Lukas aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Perspektive der besitzenden Gesellschaftsschichten auf die Besitzthematik blickt und die sowohl im Alten Testament als auch in der Jesustradition breit ausgeführte Kritik an der Ungleichverteilung von Gütern in ihrer existentiellen Bedeutung für die Besitzenden verstanden und ausformuliert hat.19 Die Analyse von Transformationsprozessen ist also ein wertvolles, hermeneutisches Werkzeug, das einem vertieften Verständnis ntl. Texte dient, neue Erkenntnisse hinsichtlich der Prägung und der Intention des Autors erschließt und die Perspektive auf die mögliche Wirkung, die diese Texte bei den jeweiligen Adressaten gehabt haben dürften, eröffnet. Die größte Schwierigkeit besteht darin, dass die literarische Abbildung der antiken Denk- und Lebenswelt, sicherlich nur einen kleinen Ausschnitt des gelebten Alltags präsentiert. Somit kann lediglich gemutmaßt werden, wo das lk. Doppelwerk anschlussfähig an den Alltag der Adressaten war, und in welchen Punkten es als Provokation verstanden oder schlicht ignoriert worden war. Dies gilt nicht zuletzt für die ethischen Paränesen, die der Evangelist in seinem Werk ausformuliert. Da das lk. Doppelwerk jedoch ein bewusst gestaltetes literarisches Werk eines hochgebildeten antiken Autors ist, der in seinem schriftstellerischen Wirken den Vergleich mit anderen Geistesgrößen seiner Zeit nicht zu scheuen brauchte, scheint es angemessen zu sein, Literatur mit Literatur in Korrelation zu setzen und die Transformationsprozesse auf Basis literarischer Zeugnisse der Antike zu analysieren.
1.3 Synchrone oder diachrone Analyse Für die Untersuchung ntl. Ethik, insbesondere auch hinsichtlich der Frage nach ethischen Begründungszusammenhängen, war für die ntl. Forschung der letzten vier Dekaden die grundsätzliche, hermeneutische Entscheidung zwischen einer diachronen und einer synchronen Analyse der Evangelien von nicht geringer Relevanz. Ein Überblick über die einschlägigen Monographien zeigt, dass häufig der diachronen Analyse der Vorzug gegeben wurde.20 Vermittels dieser 19 Vgl.
F. Bovon, Lukas 3, 112–113. Einen diachronen hermeneutischen Ansatz verfolgen: A. Verhey, Reversal; S. Schulz, Ethik; R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft; W. Schrage, Ethik; R. Burridge, Imitating. Eine synchrone Analyse findet sich bei F. Matera, Ethics, und R. Hays, Moral Vision. 20
10
Kapitel 1: Hermeneutische Vorüberlegungen
soll es zum einen gelingen, die ethische Botschaft des historischen Jesus aus dem vielschichtigen und vielstimmigen Textcorpus der vier Evangelien zu extrahieren, um so einerseits das Fundament allen christlich-ethischen Nachdenkens sichtbar zu machen und andererseits auch die Entwicklung der christlichen Ethik im Verlauf des ersten Jahrhunderts, vom historischen Jesus über die nachösterlichen Wanderprediger bis hin zu den sich etablierenden Ortsgemeinden skizzieren zu können. Zum anderen kann durch die diachrone Analyse auch gezeigt werden, inwieweit sich theologische, soziale, kulturelle und ekklesiologische Faktoren normativ auf die Formulierung ethischer Inhalte auswirken können. So lässt sich beispielsweise eine Entwicklung im Hinblick auf den Umgang mit Eigentum feststellen: Vermochte der historische Jesus, der seine Jünger zu einem Leben als Wanderpropheten berufen hatte, noch davon sprechen, dass die mit der Nachfolge einhergehende Aufgabe allen weltlichen Besitzes erst im Himmelreich vergolten werden würde (vgl. Lk 18,28–29) und dass er und seine Jünger sogar im Gegensatz zu den wilden Tieren keinen Platz hätten, den sie ihr Zuhause nennen könnten (vgl. Lk 9,57–58), so lässt sich für die Jerusalemer Urgemeinde konstatieren, dass die Aufgabe des Besitzes zugunsten der Gütergemeinschaft einerseits keine conditio sine qua non für die Zugehörigkeit zur Gemeinde war (vgl. Act 5,4) und andererseits nicht grundsätzlich, sondern nur dann erfolgte, wenn es der Bedarf erforderte (vgl. Act 4,34–35).21 Hinsichtlich der Untersuchung von Begründungszusammenhängen ntl. Ethik könnte die diachrone Analyse womöglich zeigen, welche Motive der ethischen Argumentation zeit- und ortsgebunden und welche davon unabhängig sind. Im Gefolge dessen wäre es denkbar aufzuzeigen, wie bereits frühchristliche Gemeinden mit ethischen Traditionen umgegangen sind, die sie „geerbt“ haben, und auf welche Art und Weise sie neue ethische Herausforderungen gemeistert haben. Dadurch könnten innerchristliche Transformationsprozesse ebenso transparent gemacht werden wie die in der frühchristlichen Tradition unumstößlichen ethischen Motive, wobei diese Erkenntnisse schlussendlich auch in den gegenwärtigen ethischen Diskurs einfließen und zu einer christlich-ethischen Urteilsbildung beitragen könnten, ohne dass einem überbordenden Biblizismus einerseits oder einem entschränkten Relativismus andererseits das Wort geredet werden würde. Allerdings sieht sich eine diachrone Analyse ntl. Texte mit der immensen Herausforderung konfrontiert, die Plausibilität hermeneutischer Kriterien zu begründen,22 anhand derer bestimmte Inhalte, beispielsweise eines Evangeliums, dem historischen Jesus zuzuordnen sind, während andere Inhalte in die 21 Zur exegetischen Diskussion um die Verwendung des Imperfekts an dieser Stelle und die daraus resultierende Schlussfolgerung, dass der Verkauf der Güter bedarfsorientiert erfolgte, vgl. R. Pesch, Apostelgeschichte 1, 183. 22 R. Hays, Moral Vision, 159, der sich zur synchronen Analyse ntl. Texte entschlossen hat, verweist zu Recht auf das Diktum von A. Schweitzer, der bereits Ende des 19. Jhdts.
1.3 Synchrone oder diachrone Analyse
11
Zeit der frühen christlichen Gemeinden gehören und wieder andere aus der Feder des Evangelisten selbst geflossen sind.23 In der ntl. Forschung wird zumeist die Verkündigung des Anbruchs der Gottesherrschaft und die damit einhergehende Korrelation von Eschatologie und Ethik auf den historischen Jesus zurückgeführt.24 Bei anderen für die Ethik wichtigen Motiven, wie etwa der Umgang mit der Tora, die Bedeutung der Parusienaherwartung, die Positionierung gegenüber politischen Fragen u. v.m. lässt sich, gerade aufgrund der unterschiedlichen hermeneutischen Kriterien, nur schwer ein Forschungskonsens über die historische Verortung der jeweiligen Motive und deren Ausgestaltung erreichen. Lediglich in Bezug auf die Themen, die für einen bestimmten ntl. Autor charakteristisch sind, kann vermittels eines innerneutestamentlichen Textvergleichs ein breiterer Konsens hergestellt werden.25 Zu den Charakteristika des Evangelisten Lukas gehört nun, neben inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, auch, dass er nicht nur Sammler und Sachwalter einzelner Traditionsstücke der Jesusbewegung und der jungen Kirche, sondern vielmehr verantwortungsvoller Gestalter und Interpret dessen war, was in seinen Augen Christusnachfolge, und somit auch, als Teilbereich davon, christliche Ethik bedeutete (vgl. Lk 1,1–4). Das lk. Doppelwerk muss, wie oben bereits skizziert, von Anfang bis Ende als das durchdachte und strukturierte Werk des versierten Theologen Lukas verstanden werden, sodass sich, auch angesichts der dargestellten Schwierigkeiten einer diachronen Hermeneutik, die Frage aufdrängt, inwiefern es möglich und sinnvoll wäre, die ethischen Inhalte des lk. Doppelwerks einer diachronen Analyse zu unterziehen. Demgegenüber scheint es weitaus gewinnbringender zu sein, die Fragen nach Worten des historischen Jesus oder nach der historischen Genese ethischer Texte hintenan zu stellen und sich vielmehr auf die ethischen Aussagen des vorliegenden Textcorpus einzulassen, um dann vermittels einer synchronen Untersuchung der Frage nach möglichen Begründungsmustern lukanischer Ethik nachzugehen. Eine synchrone Analyse eröffnet die Möglichkeit, theologische wie ethische Gesamtzusammenhänge innerhalb des lk. Doppelwerks sichtbar zu machen und konzeptionelle Strukturen im ethischen Denken des Evangelisten aufzuzeigen. Auch wenn es plausibel zu sein scheint, dass der Evangelist selbst gerade mit dem Anspruch aufgetreten ist, seine eigene Person vollständig in Hintergrund zu stellen, um auf die mangelnde Objektivität diachroner hermeneutischer Kriterien hingewiesen hatte; vgl. A. Schweitzer, Geschichte, 622. 23 R. Burridge, Imitating, 39 benennt beispielsweise drei hermeneutische Kriterien, um die Worte des historischen Jesus innerhalb eines Evangeliums identifizieren zu können: „dissimilarity, coherence and multiple attestation“. 24 Vgl. etwa A. Verhey, Reversal, 11; W. Schrage, Ethik, 23–45; R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft I, 31–40, S. Schulz, Ethik, 31–49; R. Burridge, Imitating, 41–57. 25 Zu den klassischen Motiven lk. Ethik gehören gemeinhin die Themen „Armut und Reichtum“, „Gleichstellung von Männern und Frauen“, „Das Verhältnis zwischen der jungen Kirche und dem Imperium Romanum“.
12
Kapitel 1: Hermeneutische Vorüberlegungen
somit christliche und nicht lukanische Theologie und Ethik in seinem Evangelium zu vermitteln,26 führt doch die mit der synchronen Analyse einhergehende Würdigung der theologischen Arbeit des Evangelisten demgegenüber dazu, im Folgenden stets von lukanischer Theologie und lukanischer Ethik zu sprechen.
26
Vgl. dazu F. Matera, Ethics, 7–10.
Kapitel 2
Forschungsüberblick Im Folgenden soll in konzentrierter Form dargestellt werden, welche theologischen Motive und welche Begründungszusammenhänge die ntl. Forschung als normativ, oder zumindest als relevant, für die ethischen Aussagen des Evangelisten Lukas herausgearbeitet hat. Freilich ergeben sich aufgrund der Differenz zwischen synchronen und diachronen Zugängen unterschiedliche Bewertungen hinsichtlich des Ursprungs einzelner, für die Begründung der Ethik relevanter Themen. Diese Differenz kann jedoch ignoriert werden, insofern die Themen für die lk. Ethik eine signifikante Rolle spielen. Selbstverständlich soll auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit mögliche Transformationsprozesse zwischen Lukas und seiner Umwelt für die Plausibilisierung lk. Ethik in der Forschung bislang Beachtung gefunden haben. Zu Beginn des Forschungsüberblicks steht das Motiv der βασιλεία τοῦ θεοῦ im Fokus, da das Königreich Gottes den theologischen Referenzrahmen darstellt, in den der Evangelist Lukas sein gesamtes Doppelwerk gestellt hat.
2.1 Das Königreich Gottes Es ist in der ntl. Forschung unumstritten, dass die Evangelisten in der mit Jesus angebrochenen, in ihrer Vollendung jedoch noch ausstehenden βασιλεία τοῦ θεοῦ die alles dominierende, hermeneutische Größe für die Formulierung theologischer Inhalte im Allgemeinen und ethischer Inhalte im Speziellen gefunden haben.1 So ist auch das LkEv durchdrungen von der Überzeugung, dass die Königsherrschaft Gottes bereits innerweltlich erfahrbar (vgl. Lk 17,20–21) und im Wachsen begriffen ist (vgl. Lk 13,18), wobei die Rede von der βασιλεία τοῦ θεοῦ ganz unterschiedliche Konnotationen aufweist. Überblickt man allein die wörtlichen Belege, lassen sich drei große Themenfelder identifizieren, die mit der βασιλεία τοῦ θεοῦ verbunden sind und natürlich miteinander in Korrelation
1 H. Merklein, Gottesherrschaft, 71 notiert dazu: „Entscheidend ist allemal die Gottesherrschaft, die hereinbricht. Entsprechend ist das Handeln, das Jesus fordert. Auch dieses ist neu zu bestimmen, und zwar ebenfalls vom Neuen der Gottesherrschaft her, die sich somit als das entscheidende Handlungsprinzip präsentiert.“
14
Kapitel 2: Forschungsüberblick
stehen: Vollmacht Jesu in seinem Reden und Handeln,2 apokalyptische (Nah-) Erwartungen3 und sittliche Handlungsanweisungen.4 Die Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft, so der Forschungskonsens,5 steht in Verbindung mit allen Bereichen des ethisch korrekten Handelns, da die sittlichen Forderungen Jesu nur im Lichte dieses Anbruchs plausibilisiert werden können. „Die zugleich ein- wie noch ausstehende Gottesherrschaft motiviert und provoziert die Menschen zu einem Handeln, das dieser Botschaft entspricht.“6 Die Motivation erwächst aus dem Wunsch, an der Gottesherrschaft partizipieren zu können, wobei dem ethisch guten Handeln als Ausdruck der Observanz gegenüber dem göttlichen Willen und somit, christologisch weiter gefasst, auch als Ausdruck der Christusnachfolge, ein nicht unwichtiger Part zukommt, da die Partizipation an der Gottesherrschaft, und somit am eschatologischen Heil, in der Diktion des LkEv, von einem ethisch guten Handeln in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes abhängig ist.7 Somit wird der Ruf zur büßenden Umkehr (ἡ μετάνοια) zum integralen Bestandteil einer Ethik, die in den Horizont der sich ausbreitenden Gottesherrschaft eingebettet ist.8 So sehr dem Motiv der βασιλεία τοῦ θεοῦ eine existentiell herausfordernde Gerichtsdimension anhaftet, so sehr wird die Rede von der Gottesherrschaft auch mit einem werbenden, ermutigenden Tonfall formuliert, welcher sich ebenso auf die ethische Paränese auswirkt. „Was er [Jesus S. W.] zu wecken suchte, war eine gläubig-vertrauensvolle Annahme seiner Gottesverkündigung, um unter der Gottesherrschaft die Menschen zu sammeln und zu einem neuen Verhalten zu bewegen. Eindeutig stehen bei ihm also Glauben und aus ihm entspringendes dankbar liebendes Handeln im Vordergrund.“9
Die Korrelation von Glauben und Handeln ist ein durchaus dominanter Zug lk. Ethik (vgl. Lk 6,46), wobei das Motiv der Christusnachfolge eine wichtige Rolle spielt. Jedoch soll der, in seiner Bedeutung doch recht offene, Begriff der Nachfolge näher konkretisiert werden, um den darin liegenden ethischen Gehalt besser zur Geltung zu bringen.10 Darüber hinaus erwächst der werbende 2 3
Vgl. Lk 4,43; 7,28; 8,1(–3).10; 9,2.11; 10,9.11; 11,20. Vgl. Lk 9,27.60.62; 13,(22–27)28–30; 17,20–21; 18,15–17; 22,16–18. 4 Vgl. Lk 6,20; 14,15; 16,16–17; 18,(18–23)24–30; 19,11–27. 5 Vgl. A. Verhey, Reversal, 13; R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft I, 31–34; W. Schrage, Ethik, 24–25; F. Matera, Ethics, 65–68; R. Burridge, Imitating, 41. 6 W. Schrage, Ethik, 31. 7 Vgl. paradigmatisch Lk 6,42–49; 10,25–37; 16,19–31; 18,18–30; 19,11–27. Gegen den Gedanken einer Verdienstethik wehrt sich W. Schrage, Ethik 33, der vielmehr davon ausgeht, dass der Einzelne von Gott in Anspruch genommen wird und sich dadurch dem Willen Gottes unterwirft. Ähnlich: H. Merklein, Gottesherrschaft, 132–133. 8 Vgl. unten II.2 Das Motiv der Umkehr. 9 R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft I, 45. 10 Vgl. unten II.4 Die Nachahmung Gottes.
2.1 Das Königreich Gottes
15
Charakter, der der Botschaft von der Gottesherrschaft innewohnt, nicht allein aus der gläubigen Annahme derselben, sondern eben auch aus der darin formulierten Fürsorge Gottes für die Menschen; eine Fürsorge, die einerseits Kennzeichen der Gottesherrschaft ist, andererseits aber auch die von W. Schrage angesprochene Provokation zum Ausdruck bringt. Es ist dem Forschungskonsens, dass die Durchsetzung der Gottesherrschaft mit einer grundlegenden Veränderung gesellschaftlicher Strukturen einhergeht, gewiss nicht zu widersprechen. Die Auswirkungen sind vielfältig und betreffen nahezu alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens. So resultieren aus dem Anbruch der Gottesherrschaft eine für die Antike nur schwer zu akzeptierende Hochschätzung der Frauen,11 eine dezidierte Solidarisierung Gottes mit den personae miserae12 bei gleichzeitiger Abwertung gesellschaftlich höherer Schichten, eine Fundamentalkritik am Streben nach materiellem Wohlstand13 und eine durch die normative Auslegung Jesu begründete Neuakzentuierung der Tora.14 Wird die Gottesherrschaft zudem als politische Größe verstanden, so haftet ihr aus der Perspektive der Herrschenden ein revolutionärer Charakter an, der, so die übereinstimmende Forschungsmeinung, jedoch nicht die wahre Intention der Basileia-Verkündigung darstellt. Vielmehr entspringt jedwede politische Äußerung respektive Kritik am politischen System des Imperium Romanum schlicht notwendig aus dem allumfassenden Herrschaftsanspruch Gottes. Aus der Perspektive Gottes betrachtet, kann die Durchsetzung seiner Herrschaft nicht einhergehen mit dem Bestehen-Bleiben von menschlichen Herrschaftsstrukturen, die sich nicht durch ein gegenseitiges Dienen auszeichnen (vgl. Lk 22,24–26), und infolgedessen auch nicht seinem Willen entsprechen. Von dieser theologischen Grundüberzeugung des Evangelisten lässt sich zwar eine gedankliche Linie bis hin zur Apokalyptik ziehen, doch gilt es hier zu differenzieren: Die durch die Botschaft Jesu motivierten gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen gründen zwar auf dem Herrschaftsanspruch Gottes und werden durch das Wirken des Heiligen Geistes unterstützt, doch sind sie Konsequenzen menschlicher Taten, die in Verantwortung gegenüber dem durch Jesus formulierten Willen Gottes vollbracht werden. Kurz gesagt: die politisch disruptiven Elemente der lk. Ethik haben diesseits des Jüngsten Tages ihren Platz. Zum Zeitpunkt der Parusie endet der Handlungsspielraum der Menschen; die apokalyptische Transformation der Welt ist allein Gottes Werk. 11 Ein klassisches Motiv lk. Ethik; vgl. paradigmatisch Lk 1,26–56; 2,36–38; 7,36–50; 8,1–3; 10,38–42; 11,27–28; 13,10–17; 18,1–18 u. ö. 12 Zu diesem aus der prophetischen Sozialkritik des Alten Testaments stammenden Motiv wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch ausführlich gehandelt werden. 13 Ebenfalls ein typisches Thema lk. Ethik, das vor allem im Zusammenhang mit der Feldrede (vgl. Kapitel IV) nochmals aufgegriffen werden wird. 14 Vgl. unter II.5 Die Tora.
16
Kapitel 2: Forschungsüberblick
Geht die innerweltliche Durchsetzung der βασιλεία τοῦ θεοῦ letztlich notwendig mit der Ablösung bestehender politischer Systeme und ihrer Machthaber einher, ist es dennoch nicht Aufgabe derer, die die Botschaft Jesu angenommen haben und ihm nachfolgen, die Gottesherrschaft durch revolutionäre Umtriebe herbeizuführen,15 so sehr ein Leben im gegenseitigem Dienst und nach den Maßstäben Jesu in den Augen der Öffentlichkeit als revolutionär gelten mag.16 Speziell die Aussagen, die bei Lukas über das Verhältnis von Jesusbewegung und Staat zu finden sind,17 werden in der Forschung oft als Beleg dafür genommen, dass dem Evangelisten daran gelegen sei, bei aller gesellschaftlichen und politischen Sprengkraft, die seinem Werk inne wohnt, die politische Unbedenklichkeit der jungen Kirche zu unterstreichen, wodurch er für das Christentum um die Verleihung des Status einer religio licita werben würde. Dass im Zweifelsfall Gott mehr zu gehorchen sei, als den Menschen (vgl. Act 5,29) stehe der politischen Apologetik des Evangelisten nicht im Wege.18 Neuere Ansätze reflektieren diese These kritischer. Zwar lehnen die Christusgläubigen den römischen Staat nicht per se ab und sind zudem der Gewaltfreiheit verpflichtet, doch lässt sich im lk. Doppelwerk eine, mehr oder weniger subtile, Kritik am Imperium Romanum beobachten. Die in Act 5,29 programmatisch formulierte, unbedingte Treue zu Gott führt mitunter zu dramatischen Formen der Leidensnachfolge,19 wodurch nicht nur die Standfestigkeit der Nachfolger Christi unterstrichen, sondern gleichermaßen eine klare Kritik am Gebaren der Herrschenden ausgedrückt wird. Darüber hinaus lässt sich anhand der lk. Christologie eine, sicherlich gewollte, Ironisierung des Selbstverständnisses römischer Kaiser belegen.20 Inwieweit die lk. Theologie, und darin impliziert die lk. Ethik, das Potential besitzen, politische und gesellschaftliche Strukturen umzustürzen, wird die weitere Analyse zeigen. 15 Vgl. A. Verhey, Reversal, 30–33; W. Schrage, Ethik, 113–122; R. Burridge, Imitating, 57. 16 Vgl. W. Schrage, Ethik, 97. 17 Vgl. Lk 7,1–10; 23,1–5.13–25.47; Act 10,1–41; 21,31–36; 23,23–35; 27,42–44; 28,31. 18 Vgl. S. Schulz, Ethik, 477–480; R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft II, 142; W. Schrage, Ethik, 161–164. 19 Vgl. Act 7,1–60. 20 Bereits die Proklamation der Geburt Jesu durch den Engel (vgl. Lk 2,10–11) ist eine subtile Anspielung auf das Selbstverständnis des in Lk 2,1 genannten Kaisers Augustus: Das Kind in der Krippe ist der σωτήρ, dessen Herrschaftsbereich sich über die ganze Erde ausbreiten wird (vgl. Lk 24,47; Act 1,8), wodurch Jesus dem römischen Kaiser überlegen ist. Was dieser nur in seiner Propaganda verbreiten lässt, realisiert jener. Während dieser sich vermittels politischer Winkelzüge als Sohn eines Gottes bezeichnen lässt, ist jener wirklich der Gottessohn. Vgl. zu der politischen Brisanz der Weihnachtsgeschichte auch J. Green, Luke, 133– 135; M. Ebner, Lebensraum I, 160; U. Schnelle, Theologie, 476; D. Marguerat, Historiker, 123; S. Schreiber, Weihnachtspolitik. Zur grundsätzlichen Kritik an der These lk. Apologetik gegenüber dem Staat vgl. zudem A. Verhey, Reversal, 101; K. Kuhn, Kingdom, 265–270 und in abgeschwächter Form R. Burridge, Imitating, 269–274.
2.1 Das Königreich Gottes
17
Ist das Motiv der βασιλεία τοῦ θεοῦ also von zentraler theologischer Bedeutung,21 und dient somit nicht zuletzt auch hermeneutischer Schlüssel für das Verständnis der lk. Ethik, so muss, gerade angesichts der berühmten Spannung zwischen „schon jetzt“ und „noch nicht“, eine Klärung bezüglich der Fragen erfolgen, worin denn das Königreich Gottes in seiner noch ausstehenden Vollendung innerweltlich besteht, ob es nur eine mystische oder auch eine soziale Größe darstellt, und es gilt gerade auch hinsichtlich der Reichweite der mit der Königsherrschaft Gottes einhergehenden ethischen Aussagen danach zu fragen, innerhalb welcher Grenzen das Königreich Gottes zu denken ist? Berührt der skizzierte Fragenkomplex grundsätzlich ein weites Spektrum ntl. Theologie, soll hier vordringlich die Relevanz dieser Fragen für die lk. Ethik thematisiert werden. K. Kuhn macht darauf aufmerksam, dass die βασιλεία τοῦ θεοῦ aus tradi tionsgeschichtlicher Perspektive betrachtet ein Narrativ darstellt, das im Frühjudentum in unterschiedlichen Variationen erzählt wird, je nachdem, in welchem Kontext die Rede auf die Königsherrschaft Gottes kommt. Das Narrativ der βασιλεία τοῦ θεοῦ ist dabei grundsätzlich mit einem eschatologischen Heils- bzw. Unheilsausblick verbunden und die Adressaten des Narrativs werden, nicht zuletzt aus soteriologischen Gründen, dazu ermuntert, Teil der Heilsgeschichte zu werden.22 Das lk. Narrativ der βασιλεία τοῦ θεοῦ sei durch den allumfassenden Herrschaftsanspruch Gottes charakterisiert, wobei die innerweltliche Durchsetzung der Gottesherrschaft notwendigerweise die Unterwerfung des Einzelnen unter den Willen Gottes erfordere. Im Vorfeld eschatologischer Vollendung sei es, so K. Kuhn, durchaus möglich, sich gegen die Teilhabe am innerweltlich erfahrbaren Reich Gottes zu entscheiden.23 Jedoch ist, entgegen anderer frühjüdischer Traditionen, allen Menschen die Möglichkeit eröffnet, im Vollzug der Nachfolge Jesu an der Gottesherrschaft zu partizipieren. Die universale Öffnung der βασιλεία τοῦ θεοῦ ist Kennzeichen lk. Theologie, wobei Lukas die mk. Vorlage dahingehend verändert hat, dass die Völkermission erst in der Apostelgeschichte ihren Auftakt findet (vgl. Act 10), während im Verlauf des LkEv nur Tendenzen des universalen Heilsanspruches Jesu zum Vorschein kommen.24 M. Wolter hat darauf aufmerksam gemacht, dass 21 M. Wolter, Kirche, 237 geht davon aus, dass das Reich Gottes bei Lukas ein „Leitbegriff [ist], der die beiden Bücher seines Doppelwerks miteinander verbindet.“ 22 Vgl. K. Kuhn, Kingdom, 23–25. Zu den verschiedenen frühjüdischen Variationen vgl. K. Kuhn, Kingdom, 26–45. Interessanterweise definiert K. Kuhn mit Blick auf die Genese des lk. Doppelwerks auch das MkEv als eine Variation des Narrativs der Gottesherrschaft (vgl. K. Kuhn, Kingdom, 46–53). 23 Vgl. K. Kuhn, Kingdom, 205–206. 24 Das in Mk 7,24–8,9 berichtete Wirken Jesu im heidnischen Gebiet lässt Lukas wohl bewusst aus, da das Thema „Völkermission“ theologisch in die Konzeption der Apostelgeschichte passt, wie bereits der Auftrag des Auferstandenen an seine Jünger deutlich macht (vgl. Lk 24,46–49; Act 1,6–8). Zu den oben genannten Tendenzen einer sich abzeichnenden Völkermission gehört beispielsweise die aus der Logienquelle stammende Perikope vom Hauptmann
18
Kapitel 2: Forschungsüberblick
einzig durch die starke wechselseitige Bezugnahme von Christologie und Basileiatheologie25 die Transformation einer auf Israel zentrierten Soteriologie hin zu einem universalen Heilsangebot für die Völker ermöglicht wurde.26 „Lukas benötigt insofern sein gesamtes Doppelwerk, um die Basileia im Gegenüber zur traditionellen Orientierung ihres Universalismus am Heil Israels als ein Konzept explizieren zu können, das aufgrund seiner Bindung an Jesus Christus die Spaltung und Verstockung Israels ebenso einschließt wie die gleichberechtigte Teilhabe der Heiden an ihr.“27
Die Verbindung von Christologie und Basileiatheologie eröffnet also die Möglichkeit einer Heilsteilhabe, die nicht notwendig mit einer genealogischen Zugehörigkeit zum Volk Israel einhergeht, sondern ihre Universalität durch den allgemeinverbindlichen Ruf Jesu in die Nachfolge gewinnt. In Konsequenz dieser universalen Öffnung muss für die Ethik, die ebenfalls auf das Engste mit der Basileiatheologie, und natürlich auch mit der Christologie,28 einhergeht, eine ebensolche universelle Gültigkeit angenommen werden.29 So steht die Reichweite der im LkEv formulierten Ethik in Korrelation mit der Reichweite der βασιλεία τοῦ θεοῦ. Dabei soll stets mitbedacht werden, dass die genannte Korrelation nicht nur eine universale Inanspruchnahme aller Menschen durch die lk. Ethik bewirkt, sondern dass, in der Diktion des Evangelisten, vielmehr alle Menschen die Möglichkeit haben, einen Vorgeschmack auf die Lebensumstände im Reich Gottes zu bekommen, insofern sie sich in Lebensvollzügen bewegen, die durch und durch von der im LkEv formulierten Ethik geprägt sind. Anders ausgedrückt: Das Reich Gottes ist innerweltlich bereits dort erfahrbar, wo die Menschen die sittlichen Forderungen Jesu umsetzen. Dieser Vorgeschmack auf die Lebensbedingungen im Königreich Gottes ist freilich untrennbar mit der Erwartung einer endgültigen Durchsetzung der Gottesherrschaft und der damit einhergehenden eschatologischen Vervollkommnung der menschlichen Existenz verbunden. Blickt man aus der Perspektive dieser Erwartungshaltung auf die unbestrittenen Härten, die die lk. Ethik beinhaltet,30 so drängt sich die Frage auf, ob es sich bei den ethischen Forderungen womöglich um eine Interimsethik handeln könnte. Diese Frage wird in der von Kapernaum (Lk 7,1–10), der als Gottesfürchtiger eingeführt wird und somit als Archetyp der sich in der Apostelgeschichte entwickelnden Völkermission zu verstehen ist. 25 Siehe M. Wolter, Reich Gottes, 552: „Das Wesen der βασιλεία τοῦ θεοῦ wird durch die Gesamtheit der Verkündigung Jesu bestimmt und ist für den Leser in eben dieser Verkündigung wahrnehmbar. Auf diese Weise ergibt sich eine Wechselbeziehung: Indem Lukas Jesu Verkündigung als Basileia-Verkündigung qualifiziert, läßt er damit umgekehrt Jesu Verkündigung zur exklusiven Determinanten der Konnotationen der βασιλεία τοῦ θεοῦ werden.“ 26 Vgl. M. Wolter, Reich Gottes, 555–558; ebenso M. Wolter, Kirche, 239. 27 M. Wolter, Reich Gottes, 562. 28 Die Verbindung von Christologie und Ethik wird ein zentraler Bestandteil der vorliegenden Untersuchung sein. 29 Im Zuge der Auslegung der Feldrede wird die Frage nach den Adressaten der Ethik Jesu, wie sie im LkEv formuliert ist, nochmals ausführlicher thematisiert werden. 30 Vgl. beispielsweise Lk 6,27–36; 14,25–35; 18,18–27.
2.1 Das Königreich Gottes
19
ntl. Forschung größtenteils verneint,31 wobei nicht bestritten wird, dass einige Spezifika ntl. Ethik durchaus zu den, wie sich W. Schrage ausdrückte, Provokationen gehören, die dem Einzelnen „Leidensbereitschaft, Wagnischarakter und Furchtlosigkeit“32 abverlangen. Ist der Ablehnung des Gedankens eines Interimscharakters insbesondere für die lk. Ethik zuzustimmen,33 so soll dennoch geklärt werden, wie den im lk. Doppelwerk durchaus vorhandenen ethischen Provokationen zu begegnen ist und wodurch eine Realisierung der materialethischen Härten nach der Darstellung des Lukas ermöglicht werden kann, ohne dass sich das ethisch handelnde Subjekt mit dem Gedanken einer in Kürze sich vollendeten Gottesherrschaft, die dann auch ein Ende der ethischen Härten mit sich bringen wird, trösten könnte. Diesem Fragenkomplex wird sich die vorliegende Untersuchung Schritt für Schritt nähern. Der Wunsch des Einzelnen an der Gottesherrschaft partizipieren zu können respektive Einlass in das Reich Gottes zu bekommen, wird durch die oben genannten eschatologischen Aspekte, die mit dem Motiv der βασιλεία τοῦ θεοῦ einhergehen, sicherlich noch verstärkt. Gerade Johannes der Täufer greift diesen Gedanken der Partizipation auf und verbindet ihn mit dem Motiv der μετάνοια, deren Vollzug gewissermaßen die conditio sine qua non der Teilhabe an der Gottesherrschaft darstellt. Jedoch begegnet der Ruf zur Umkehr nicht nur in der Täuferpredigt, sondern erweist sich vielmehr als wichtiges Element lk. Theologie. So wird die μετάνοια im nächsten Abschnitt des Forschungsüberblicks im Mittelpunkt stehen. 31 Vgl. H. Merklein, Gottesherrschaft, 168–169; R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft I, 35–42; W. Schrage, Ethik, 36–38; R. Burridge, Imitating, 60–61. Die Idee einer (jesuanischen) Interimsethik wird in der deutschsprachigen Forschung oft mit A. Schweitzer in Verbindung gebracht (und dann abgelehnt). E. Gräẞer, Interimsethik, hat demgegenüber den Versuch unternommen zu zeigen, dass A. Schweitzer in dieser Frage missverstanden wurde und aufgrund der eschatologischen Einbettung der jesuanischen Ethik deren dauerhafte Aktualität unterstrichen habe. 32 W. Schrage, Ethik, 56. 33 Es ist Konsens der Forschung, dass das lk. Doppelwerk unter dem Eindruck der Parusieverzögerung verfasst wurde, sodass dem Evangelisten nicht zuletzt daran gelegen war, die Konstitutionsbedingungen der sich entwickelnden Kirche darzustellen, wobei natürlich auch die Ethik zu diesen Bedingungen gehört. Dabei kann sinnvollerweise nicht davon ausgegangen werden, dass Lukas seine sittlichen Forderungen nur für einen zeitlich sehr eng begrenzten Raum formuliert hätte. Wiewohl das Zeitalter der Kirche durch die zu erwartende Parusie Jesu begrenzt ist, soll es doch als ein Zeitalter verstanden werden, in dem sich auf Dauer angelegte christliche Gemeinden konstituieren, in denen christliche Ethik gelebt und somit der Vorgeschmack auf das Reich Gottes erfahrbar gemacht wird. Vgl. zu dem Gedanken des Zeitalters der Kirche die grundlegende Konzeption von H. Conzelmann, „Die Mitte der Zeit“. Muss also für Lukas der Gedanke einer Interimsethik tatsächlich abgelehnt werden, wäre es, im Sinne einer diachronen Analyse, durchaus angebracht nochmals darüber nachzudenken, ob für den historischen Jesus, der im Bewusstsein des bereits anbrechenden eschatologischen Gottesreiches redete und handelte und Menschen in die Nachfolge als Wandercharismatiker berief, das Konzept einer Interimsethik wirklich so abwegig gewesen wäre. Doch soll das nicht Teil der vorliegenden Arbeit sein.
20
Kapitel 2: Forschungsüberblick
2.2 Das Motiv der Umkehr Die Forschung zu Lukas hat die theologische Relevanz des Motivs der μετάνοια stets hervorgehoben.34 Der Vollzug einer büßenden Umkehr (ἡ μετάνοια) definiert im Horizont der lk. Theologie die Bedingung der Möglichkeit einer Partizipation an der βασιλεία τοῦ θεοῦ.35 Es wurde in der Forschung immer wieder deutlich gemacht, dass sich die Aufforderung zum Vollzug der μετάνοια nicht allein auf die Veränderung einzelner Handlungsvollzüge beschränkt, sondern dass hier der ganze Mensch in Anspruch genommen und eine vollständige Neuausrichtung auf die Bedingungen der Gottesherrschaft erwartet wird.36 Die Konfrontation mit der Verkündigung der angebrochenen Gottesherrschaft stellt den Einzelnen vor die existentielle Entscheidung, ob er bereit ist, die geforderte Umkehr zu vollziehen, was nicht zuletzt durch die Veränderung der persönlichen Wertmaßstäbe sowie des individuellen Verhaltens eine eminent ethische Signifikanz besitzt,37 oder ob er sich der Umkehr verweigert und somit aus dem Gottesreich (vorerst) ausgeschlossen bleibt.38 Nicht zuletzt im Zusammenhang mit besitzethischen Fragestellungen macht der Evangelist beispielhaft deutlich, inwiefern sich der Vollzug der Umkehr auf konkrete Verhaltensweisen auswirkt, wodurch der Einzelne dann, in Abkehr von alten Verhaltensmustern, den Bedingungen der Gottesherrschaft zu entsprechen sucht.39
34 Vgl. beispielsweise A. Verhey, Reversal, 97; F. Matera, Ethics, 69–73; R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft II, 136–137. Eine Einschränkung findet sich bei S. Schulz, Ethik, 471, der die Meinung vertritt, dass es nach lk. Verständnis durchaus Menschen gäbe, die der Umkehr nicht bedürfen. 35 Während das Wortfeld „μετανοεῖν“ im lk. Doppelwerk bereits 24 Belege aufweist (Lk 3,3.8; 5,32; 10,13; 11,32; 13,3; 15,7 [zwei Mal]; 15,10; 16,30; 17,3.4; 24,47; Act 2,38; 3,19; 5,31; 8,22; 11,18; 13,24; 17,30; 19,14; 20,21; 26,20 [zwei Mal]), durchdringt die Konzeption der Umkehr weite Teile des Textbestands, ohne dass das Wortfeld Anwendung findet. So ist beispielsweise das Gleichnis vom verlorenen Sohn eine narrative Ausgestaltung des Metanoia-Motivs, während der Begriff selbst nicht begegnet. In der vorliegenden Untersuchung wird demgemäß das Motiv der μετάνοια und seine Bedeutung für die lk. Ethik eine wichtige Rolle spielen. 36 Siehe W. Schrage, Ethik, 48: „Umkehr meint also die ganzheitliche und rückhaltlose Hinwendung zu Gott, nicht einen gesetzlich-kasuistischen Bußeifer.“ 37 Siehe A.Verhey, Reversal, 15: „That is the first and fundamental thesis with respect to the ethic of Jesus: it is an ethic of response, response to the apocalyptic action of God, which is at hand and already making its power felt.“ 38 F. Matera Ethics, 70–71 macht beispielsweise darauf aufmerksam, dass der Umkehrruf Jesu durchaus nicht immer von Erfolg gekrönt ist, und dass obwohl stets die soteriologische Relevanz der Umkehr deutlich wird. 39 Ein klassisches Beispiel für den Vollzug der Umkehr inklusive der damit einhergehenden Veränderungen in Verhalten und Wertmaßstäben ist die Perikope vom Zöllner Zachäus (Lk 19,1–10). Demgegenüber exemplifiziert die Perikope vom reichen Jüngling (Lk 18,18– 27) die Verweigerungshaltung gegenüber einem Umdenken in besitzethischen Fragen.
2.2 Das Motiv der Umkehr
21
Exkurs: Das lukanische Besitzethos Es ist bei der Lektüre des lk. Doppelwerks unübersehbar,40 und somit natürlich auch in der Forschung unumstritten, dass besitzethische Fragestellungen für den Evangelisten von großer Relevanz waren.41 Ein zentrales Anliegen ist dabei die Abkehr vom Sammeln des Besitzes um des Besitzes willen, um dadurch den Weg zur karitativen Verwendung des Besitzes zu eröffnen.42 Dabei lassen sich innerhalb der Forschung verschiedene Interpretationsansätze hinsichtlich der lk. Bewertung des Besitzes aufzeigen. H.‑G. Gradl betont beispielsweise, dass nach der Darstellung des Lukas Besitz und Besitzstreben grundsätzlich dazu führen können, dass sich der Einzelne der Botschaft Jesu verschließt und sich gegen die Nachfolge Jesu entscheidet, wodurch dem Besitz eine eigene Dynamik zukommt, die den Einzelnen von Gott zu trennen vermag.43 Demgegenüber verweist H. Stettberger darauf, dass Lukas dem Besitz an und für sich keinerlei negativen Charakteristika zuweist oder gar von einer ihm innewohnenden negativen Kraft spricht.44 Vielmehr muss dem Besitz eine Funktion zugeordnet werden, die eben in Übereinstimmung oder im Widerspruch zur Botschaft Jesu und der damit verbundenen karitativen Fürsorge für andere steht.45 Dass sich im lk. Doppelwerk Perikopen finden lassen, die im Zusammenhang mit der Jesusnachfolge von einer radikalen Besitzaufgabe sprechen, soll als rhetorische Überzeichnung verstanden werden, als aufrüttelnd-motivierende Ausrufe, die zu einem karitativ-fürsorgenden Verhalten führen sollen, das jedoch keine Absage an die individuelle Selbstsorge beinhalte.46 Ch. Hays insistiert in seiner Analyse zum lk. Besitzethos darauf, dass die Intention des Evangelisten in erster Linie daraufhin ausgerichtet sei, dass die Adressaten des Doppelwerks einen ethisch qualifizierten Habitus im Umgang mit Hab und Gut entwickeln sollen; einen Habitus, der sich gerade in einer inneren Loslösung von allen Aspekten des materiellen Besitzes auszeichnet, und der eben nicht nur von den Reichen, sondern auch von den Armen eingefordert wird.47 Dabei würde Lukas kein grundlegend neues Besitzethos entwickeln, das sich durch karitative Versorgung anderer und durch die Absage einer am Sammeln von Reichtümern orientierten Lebensweise auszeichnet. Vielmehr sei 40
Vgl. Lk 1,52–53; 3,10–14; 4,16–21; 6,20–26.29–35; 8,3; 10,29–37; 12,13–15.16– 21.22–34; 14,12–24.33; 16,1–13; 18,18–27; 19,1–10; 21,1–4; Act 2,42–47; 4,32–37; 5,1–11; 6,1–6; 10,1–2; 20,33–35; 24,17. 41 Zur neueren Forschung hinsichtlich des lk. Besitzethos vgl. D. Seccombe, Possessions; W. Pilgrim, Good News; K. Mineshige, Besitzverzicht; V. Petracca, Gott oder das Geld; H.‑G. Gradl, Arm und Reich; H. Stettberger, Nichts haben; N. Neumann, Armut und Reichtum; Phillips, Reading issues; Kramer, Lukas als Ordner. Die m. E. beste Untersuchungen bietet Hays, Wealth Ethics. 42 W. Schrage, Ethik, 166 bringt diese Fokussierung klar auf den Punkt: „Aber wichtiger als der individualethische oder gar asketische ist ihm [Lukas S. W.] der sozialethische und karitative Aspekt.“ 43 Siehe Gradl, Arm und Reich, 421: „Dem Geld und dem Besitz ist die Macht eigen, diese Totalinvestition des Einzelnen zu behindern oder gar zu verunmöglichen. So bleibt der selbstgenügsame und gottferne Reichtum ein Antagonist der Bewegung und des Ziels, sprich der erfolgreichen Verkündigung der Botschaft.“ 44 Vgl. Stettberger, Nichts haben, 483–485; 492–493. 45 Vgl. Stettberger, Nichts haben, 501. 46 Vgl. Stetteberger, Nichts haben, 498–501. Ähnlich argumentiert auch S. Schulz, Ethik, 480, der im LkEv eine Unterordnung der „Besitzverachtung“ unter die „Besitzbejahung“ beobachtet. 47 Vgl. Hays, Wealth Ethics, 181–183.
22
Kapitel 2: Forschungsüberblick
es dem Evangelisten daran gelegen, das bereits bestehende christliche Besitzethos neu zu beleben. „First century Christians are already opening their homes to itinerants, giving alms, and sharing with one another, just not to the degree that Luke thinks sufficient. So Luke’s Gospel heaps narrative and theological fuel on the ethical fire of his audience, which to his mind glows with insufficient ardor.“48 Durch den Verweis auf einen besitzethischen Habitus eröffnet sich auch die Adaptionsfähigkeit des Besitzethos in unterschiedlichste Lebensvollzüge und Gemeindesituationen. Somit kann Ch. Hays richtigerweise auch eine besitzethische Kontinuität zwischen dem LkEv und den Acta beschreiben.49 Die Interpretation des lk. Besitzethos als Anleitung zur Ausbildung eines ethisch qualifizierten Habitus im Umgang mit Hab und Gut schließt an den überwiegenden Forschungskonsens an, dass Lukas keine Spiritualisierung der Armut vertreten habe, sondern in der Armut ein durch sozialethisches Verhalten zu überwindendes Übel gesehen hat.50 Gerade in den Acta wird das Wesen der jungen Kirche, verstanden als Gemeinschaft der Christusnachfolger, durch ihr sozialkaritatives Engagement erkennbar, zu dem alle Christusgläubigen ihren Teil beizutragen haben (vgl. Act 2,42–47; 4,32–37). Neben diesen beiden Summarien, deren mehrperspektivischer Deutungsgehalt oben bereits angesprochen wurde, drückt sich die Ernsthaftigkeit des Besitzethos für das christliche Leben aber gerade auch durch die Perikopen aus, in denen gegen jenes Ethos verstoßen wird. Neben Lk 12,16–21 oder Lk 16,19–31 soll hier besonders auf Act 5,1–11 hingewiesen werden. Eben dadurch, dass Hananias und Saphira im Zusammenhang mit Geldangelegenheiten eine Sünde wider den Heiligen Geist begehen (vgl. Act 5,9 in Korrelation zu Lk 12,10) und infolgedessen durch Gott mit dem Tode bestraft werden, „will er [Lukas S. W.] seiner Leserschaft zu verstehen geben, dass die Ursünde in der Kirche eine Sünde der Habsucht ist.“51 Im Grundsatz kann konstatiert werden, dass innerhalb der ethischen Aussagen des lk. Doppelwerks die Fragen nach dem ethisch adäquaten Umgang mit Besitz einen breiten Raum einnehmen, wobei die besitzethischen Ausführungen einerseits als Ausdruck der Daseinsbedingungen innerhalb der βασιλεία τοῦ θεοῦ verstanden werden sollen, der Verzicht auf die Ansammlung von Geld und Gut andererseits ein Akt der μετάνοια darstellt, wodurch auf einer theologischen Metaebene wiederum das bereits bekannte lk. Schema sichtbar wird, dass der Partizipation am Reich Gottes der Vollzug der Umkehr vorausgehen muss. Versteht man die quantitative Fülle der besitzethisch relevanten Perikopen auch als Ausdruck der hohen Relevanz, die der Evangelist diesem Thema zuschreibt, so lassen sich vorsichtige Rückschlüsse auf die lk. Interpretation der Weltwirklichkeit ziehen. Offenbar versteht Lukas seine Gegenwart als durch und durch von ökonomischen Interessen geprägt, die in erster Linie darauf ausgerichtet sind, den persönlichen Reichtum zu mehren, ohne dass dabei eine Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Mitmenschen oder eine Orientierung am Willen Gottes hinsichtlich des Umgangs mit Besitz eine erkennbar wichtige Rolle spielen. Da Lukas diese ökonomischen Strukturen immer wie48
Ch. Hays, Wealth Ethics, 187. Ch. Hays, Wealth Ethics, 262–263. 50 Vgl. R. schnackenburg, Sittliche Botschaft II, 143–144; W. Schrage, Ethik, 166; S. Schulz, Ethik, 483; D. Marguerat Historiker, 264–265. 51 D. Marguerat, Historiker, 264. 49 Vgl.
2.2 Das Motiv der Umkehr
23
der in das Zentrum einer ethisch wie theologisch motivierten Kritik stellt, kann gefolgert werden, dass er die dergestalt ökonomisierte gesellschaftliche Ordnung als fundamental widersprüchlich zum Heilswillen Gottes versteht,52 welcher sich eben in den Lebensbedingungen der Gottesherrschaft ausdrückt und wodurch die βασιλεία τοῦ θεοῦ gerade in ihrer ökonomischen Andersartigkeit ein Gegenmodell,53 ja mehr noch: einen Widerspruch54 zur menschlichen Gesellschaft des ausgehenden 1. Jahrhunderts darstellt.55
Die Wertmaßstäbe, die nach Vollzug der Umkehr das Handeln eines Menschen bestimmen sollen, erwachsen aus der Verkündigung Jesu, wie sie Lukas in seinem Evangelium dargestellt hat. Obgleich bei Lukas, wie bereits erwähnt, keine drängende Parusienaherwartung wahrnehmbar ist,56 ist der Ruf zur Umkehr durch eine existentielle Dringlichkeit charakterisiert, führt eine Verweigerungshaltung gegenüber der μετάνοια und der damit einhergehenden Veränderung der Lebensvollzüge im Sinne einer christlichen Ethik doch zur eschatologischen Verwerfung.57 Hier klingt bereits an, wie sehr Ethik und Eschatologie 52 W. Schrage, Ethik, 165 spricht mit Blick auf das lk. Besitzethos von einer „Heilsgefährdung durch Besitz und Reichtum.“ Auch S. Schulz, Ethik, 473 analysiert die soteriologische Bedeutung des rechten Umgangs mit Besitz und erkennt bei Lukas den Gedanken, dass Almosen ein „verdienstliches Sühnmittel“ seien. Im weiteren Verlauf diskutiert S. Schulz, Ethik, 473 die Zusammenhänge von Werken und Erlösung bei Lukas und konstatiert einen „naiven Synergismus“, der letztlich dazu führt, dass Lukas, so S. Schulz, Ethik, 474, das „Verhältnis von Heilsindikativ und Heilsimperativ […] nicht im Sinne von Ausgangspunkt und Folge, sondern als ein unreflektiertes Neben- und Ineinander bestimmt.“ Es muss an dieser Stelle offenbleiben, ob, mit Blick auf das Ganze des Neuen Testaments, der postulierten hermeneutischen Dominanz von vorausgehendem Indikativ und dem daraus resultierenden Imperativ nicht eine ganz eigene Naivität innewohnt. 53 Vgl. das oben beschriebene Motiv der Umkehrung irdischer Verhältnisse in der βασιλεία τοῦ θεοῦ. 54 Diese Widersprüchlichkeit lässt sich exemplarisch an Lk 16,1–13 zeigen. In einer Welt, die geprägt ist von menschlicher Reziprozität, in der sich ein Mensch mit Geld Gefälligkeiten von anderen Menschen sichern kann, auch dann, wenn ihm dieses Geld noch nicht einmal gehört, sollen die Jünger ein Gegenbeispiel sein und, in ironischer Analogie, ebenfalls verschwenderisch mit Geld umgehen und andere Menschen damit bedenken; allerdings ohne Hoffnung auf irdische, sondern auf eschatologische Gegenleistung. Siehe M. Konradt, Macht euch Freunde, 126: „In dieser gebrochenen Form ist V. 4–7 aber gleichwohl ein Lehrbeispiel für die Jünger. Der egoistisch-hedonistischen Nutzung der Güter für das eigene Wohlbefinden steht ihre karitative Verwendung gegenüber, zu der Jesus seine Jünger auffordert.“ 55 Wie die Geschichte zeigt, stellt das lk. Besitzethos, das sich aus der Basileiatheologie heraus entfaltet, einen Widerspruch zur menschlichen Gesellschaft in allen Jahrhunderten dar, und bleibt somit ein Stachel im Fleisch bis in die Gegenwart. 56 Die von R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft I, 36–38; 44–50, beschriebene Dringlichkeit, die seines Erachtens den Ruf des historischen Jesus zur Umkehr aufgrund apokalyptischer Naherwartung prägte, hat Lukas übernommen und in seine Zeitverhältnisse transformiert. Zum drängenden Charakter des Rufes Jesu vgl. auch A. Verhey, Reversal, 16; W. Schrage, Ethik, 46–48; R. Burridge, Imitating, 47. 57 Eindrücklich wird dies durch die Perikope vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lk 16,19–31) veranschaulicht.
24
Kapitel 2: Forschungsüberblick
bei Lukas miteinander in Korrelation stehen. Die vorliegende Arbeit wird diesen Gedanken nochmals aufgreifen und dabei die konzeptionelle Bedeutung der Umkehr für die ethischen Aussagen des Evangelisten Lukas ebenso reflektieren, wie die theologischen Zusammenhänge zwischen der Umkehr und dem lk. Gottesbild, die sich aus der Verwobenheit zwischen dem Motiv der μετάνοια und dem Motiv der βασιλεία τοῦ θεοῦ ergeben. Doch hat die Forschung auch gezeigt, dass nicht nur das strafende Richterhandeln Gottes, dessen Urteilsspruch durch den Vollzug der büßenden Umkehr gemildert werden kann, das lk. Gottesbild prägt, sondern dass darüber hinaus auch die Barmherzigkeit ein elementarer Charakterzug Gottes ist, welcher sich auf die Gottesbeziehung des einzelnen Menschen ebenso auswirkt wie auf die Formulierung ethischer Grundsätze.
2.3 Die Barmherzigkeit Kann der Ruf zur Umkehr durchaus in Zusammenhang mit Gottes Richterhandeln verstanden werden und kann der existentiell drängende Charakter der μετάνοια mit guten Gründen durch den Verweis auf die Teilhabe bzw. die NichtTeilhabe am eschatologisch vollendeten Gottesreich plausibilisiert werden, so lässt sich die Begründung der im LkEv vielfach belegten Forderung zur Buße nicht allein in dem Verweis auf das strenge Richterhandeln Gottes zurückführen. Vielmehr ist die Ermöglichung der büßenden Umkehr Kennzeichen der vergebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen und die Annahme des reuigen Sünders Ausdruck der göttlichen Barmherzigkeit.58 Dabei erschöpft sich die Bedeutung der Barmherzigkeit Gottes für das menschliche Handeln nicht allein in der strukturellen Ermöglichung der μετάνοια. In der Feldrede (Lk 6,20–49) definiert der Evangelist die Barmherzigkeit Gottes als ethische Maßgabe und formuliert pointiert: „Seid barmherzig, ebenso wie euer Vater barmherzig ist.“ (Lk 6,36) Ist somit die normative Bedeutung göttlicher Barmherzigkeit für die lukanische Ethik offenkundig, ergeben sich im Gefolge des Offensichtlichen eine Reihe von Fragen: Was bedeutet es, im selben Maße barmherzig zu sein, in dem Gott barmherzig ist? Lässt sich das barmherzige Verhalten Gottes näher fassen? Inwiefern kann überhaupt sinnvollerweise davon gesprochen werden, dass menschliche Barmherzigkeit auch nur annähernd der Barmherzigkeit Gottes zu gleichen vermag? Ist es möglich, innerhalb des LkEv eine theologisch-ethische Systematik zu entdecken, in die sich Lk 6,36 einfügt oder handelt sich bei diesem Vers um eine Spitzenaussage, die gewissermaßen als ethischer Superlativ 58 Der Zusammenhang von menschlicher Buße und göttlicher Barmherzigkeit ist in der ntl. Forschung unumstritten; vgl. beispielsweise A. Verhey, Reversal, 97; R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft I, 45; W. Schrage, Ethik, 42–44.
2.4 Die Nachahmung Gottes
25
über den ethischen Inhalten des LkEv schwebt? Ist die Fokussierung auf die Barmherzigkeit als ethischer Norm überhaupt im Sinne des Evangelisten? Die mit Lk 6,36 angedeutete Nachahmung Gottes, die bereits in Lev 19,2 begegnet und im biblischen Kanon verschiedentlich aufgegriffen wurde, ist in der jüdisch-christlichen Theologiegeschichte stets Anlass kritischen Nachdenkens gewesen. Im Folgenden soll ein kurzer Abriss der Forschungsgeschichte einige diskutierte Problemstellungen skizzieren.
2.4 Die Nachahmung Gottes Die Forschung zum LkEv ist sich darüber einig, dass der Barmherzigkeit Gottes eine hohe theologische wie ethische Relevanz zuzumessen ist. „Die erfahrene Barmherzigkeit Gottes ist also Voraussetzung, Basis und Grund des barmherzigen Verhaltens gegenüber den Menschen (vgl. die umgekehrte Reihenfolge in Test. Seb. VIII,3). Die Barmherzigkeit Gottes begründet die Forderung Gottes und übrigens auch das Gericht Gottes, wenn diese Barmherzigkeit nämlich trotz ihrer Unbegreiflichkeit und Schrankenlosigkeit folgenlos bleibt. Gottes Handeln ruft aber vor allem nach einer Entsprechung im Handeln der Menschen.“59
Die in Lk 6,36 anklingende Nachahmung Gottes wird jedoch unterschiedlich rezipiert, da nicht zuletzt die theologisch-dogmatische Frage im Raum steht, ob es grundsätzlich legitim ist, von einer durch den Menschen zu vollbringenden imitatio Dei im Vollsinn zu sprechen? Diese Problematik begegnet bereits in frühjüdischen Texten. So wurde die Frage diskutiert, wie Lev 19,2 zu verstehen sei, da doch von einer grundsätzlichen Unmöglichkeit einer menschlichen imitatio Dei ausgegangen werden müsse. Da Lev 19,2 Bestandteil des sog. Heiligkeitsgesetzes ist, das die ethische Vervollkommnung des Volkes Israel zum Thema hat, fand sich die Lösung der Aporie in dem Gedanken, dass dem Menschen eine Annäherung an Gott vermittels eines dem göttlichen Gesetz entsprechenden Lebenswandels möglich sei; eine Annäherung, die eschatologisch zur Vollendung geführt werden wird.60 Die gegenwärtige christliche Exegese beschäftigt sich zudem mit der Frage, ob die ntl. Texte nun von einer Nachahmung Gottes sprechen, wie sie etwa in Mt 5,48 und Lk 6,36 zweifelsohne nahegelegt wird, oder ob nicht vielmehr, im Sinne einer umfassenderen Analyse der Texte, die Nachahmung des irdischen 59 W. Schrage, Ethik, 43. Ähnlich R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft I, 45: „Für die gegenwärtige Stunde, für die Situation, in der sich Israel und die ganze Menschheit befinden, ist nichts wichtiger als Gottes Barmherzigkeit mit gleicher Barmherzigkeit an den Mitmenschen zu beantworten.“ Vgl. exemplarisch zudem R. Burridge, Imitating, 259–260; J. Topel, Children, 175–177; M. Wolter, Lukasevangelium, 259–260. 60 Vgl. R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft I, 86; ebenso G. Schneider, Imitatio Dei, 158–161.
26
Kapitel 2: Forschungsüberblick
Jesus als elementar für ein ethisch-korrektes Handeln zu verstehen sei. Dadurch könnte der dogmatische Problemfall entschärft und, unter Fokussierung auf den Irdischen, eine denkmögliche Form der imitatio auch für gegenwärtige ethische Debatten postuliert werden. Darüber hinaus wird von manchen Exegeten darauf hingewiesen, dass Christusglaube zwar Christusnachfolge, aber niemals Christusimitation verlangen würde. W. Schrage etwa differenziert akribisch zwischen Nachfolge und Nachahmung, wobei die Christen selbstredend zur Nachfolge Jesu aufgerufen sind.61 S. Schulz erkennt im LkEv zwar die Aufnahme einer „Ethik der Nachahmung“,62 konstatiert jedoch, dass dieses Motiv durch den Evangelisten nicht entfaltet wurde.63 Demgegenüber betont R. Schnackenburg gerade in Verbindung mit dem Motiv der Barmherzigkeit die ethische Bedeutung der Nachahmung Gottes und verweist auf die historische Einordnung des Motivs in die frühjüdische Debatte um die Frage nach der Möglichkeit einer imitatio Dei.64 Unter den Neutestamentlern des angelsächsischen Raums ist die grundsätzliche Möglichkeit einer imitatio Dei nicht umstritten. In der Konzentration auf die ethisch relevanten Texte der Evangelien sprechen die angelsächsischen Forscher zumeist von einer Nachahmung Jesu, wobei jedoch die Grenzen zwischen Nachfolge und Nachahmung entweder fließend sind oder aber die Nachfolge wie selbstverständlich auf die Nachahmung abzielt. R. Burridge ist beispielsweise ein starker Verfechter der imitatio Jesu als Grundlage aller christlichen Ethik. Allerdings reflektiert er in kontrastierender Aufnahme der „What would Jesus do?“ Bewegung,65 dass allein die Aufforderung zur Nachahmung noch keine Ethik begründe, und dass die gegenwärtige Herausforderung christlicher Ethik eben nicht darin bestünde, die Taten des irdischen Jesus nachzuahmen, sondern auf die ethischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts Antworten zu finden, die im Sinne einer christlichen, am Vorbild Jesu orientierten Ethik seien. Speziell im LkEv erkennt R. Burridge die ausgeprägteste Form einer auf Nachahmung basierenden christlichen Ethik: „If Luke understands this combination of words and deeds, of Jesus’ teaching and his example all within an inclusive community, better than others, he is also the evangelist who makes the role of mimesis, imitation, most explicit.“66 61 Vgl. W. Schrage, Ethik, 51. Er betont in diesem Zusammenhang, dass die im Neuen Testament in vielfältiger Varianz formulierte Aufforderung zur Christusnachfolge das Individuum vollständig in Anspruch nimmt, und dass gerade das LkEv, so W. Schrage, Ethik, 158, einen lebenslangen Dienst in „Heiligkeit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“ fordert. Zum Ganzen vgl. W. Schrage, Ethik, 51–57 sowie zu den lk. Spezifika W. Schrage, Ethik, 158. Ähnlich auch F. Matera, Ethics, 75–86. 62 S. Schulz, Ethik, 472. 63 Vgl. S. Schulz, Ethik, 472. 64 Vgl. R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft I, 86. 65 Und damit auch explizit in deutlichem Kontrast zu A. Verhey, den R. Burridge, Imitating, 73–78 als einen profilierten Befürworter der Frömmigkeitsbewegung identifiziert. 66 R. Burridge, Imitating, 280.
2.5 Die Tora
27
Die vorliegende Analyse des LkEv wird sich, allein schon aufgrund von Lk 6,36, zweifelsohne mit der Frage nach der Relevanz der Nachahmung Gottes für die lk. Ethik auseinandersetzen müssen. Zudem ist die Rolle Jesu als ethischer Lehrer zu beleuchten und die Debatte zu führen, ob, und wenn ja, inwiefern, der Evangelist die Motive der Christusnachfolge, respektive der Christusnachahmung zu Elementen seiner Ethik ausgebaut hat. In der Analyse der Lehre Jesu, verstanden als konstitutives Element einer ntl. Ethik, rückt unweigerlich der Umgang Jesu mit der Tora in den Blick. Dieses weite Feld ntl. Forschungsarbeit soll an dieser Stelle nicht umfassend exploriert werden. Vielmehr steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle der Tora für die spezifisch lk. Ethik durch die Forschung bislang zugemessen wurde.
2.5 Die Tora Das LkEv und die Acta zeichnen sich hinsichtlich der ethisch relevanten Perikopen durch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dezidierten Torabezügen aus. Diese Zurückhaltung mag in Lk 16,16 eine Begründung finden; in einem Vers, der den Täufer als Schlusspunkt von Gesetz und Propheten und Jesus als den Beginn der Verkündigung des Gottesreiches charakterisiert.67 Es scheint, als ob das Interesse des Evangelisten bezüglich der Diskussion um die angemessene Verwendung der Tora in ethischen Fragen der nachösterlichen Zeit vor allem auf das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen fokussiert sei, wobei hier etwa prominent an Act 15,1–29 zu denken wäre, während eine systematische Inbezugnahme seiner übrigen ethischen Aussagen auf explizit ausgewiesene Torapassagen nicht belegt werden kann.68 Dabei, so ist sich die Forschung einig, lässt sich Lukas nicht als Kritiker der Tora bzw. der atl. Traditionen bezeichnen. Vielmehr ist sein Doppelwerk von einer unbestreitbaren Hochschätzung von „Gesetz und Propheten“ geprägt.69 Dem korrespondiert, dass die Tora in toto durchaus als ethisch relevante Quelle, nahezu als Autorität eingespielt wird. So stehen etwa lk. Forderungen zum Besitzethos nicht in Spannung zu „Gesetz und Propheten“ und der lk. Jesus verweist in Fragen nach 67 Zur Frage, ob Johannes der Täufer im lk. Denken Repräsentant von Gesetz und Propheten ist oder bereits zur Evangeliumsverkündigung zu rechnen sei, vgl. M Wolter, Lukasevangelium, 554–556. 68 F. Matera, Ethics, 64 begründet dies etwa mit der Kommunikationsstruktur des LkEv: „Because he writes for Gentiles, Luke is not interested in the Mosaic law and its interpretation as is Matthew.“ Ähnlich argumentiert A. Verhey, Reversal, 99–101, der dem lk. Doppelwerk zwar eine Hochachtung gegenüber der Tora entnimmt, dabei aber betont, dass die Heidenchristen dem Gesetz nicht unterworfen werden. S. Schulz, Ethik, 467–469 betont, dass die lk. Perspektive auf die durch eine Hochschätzung der sittlich-moralischen Gebote und einer Abkehr von den Kultgeboten geprägt ist; eine Differenzierung, die eben in Lk 16,16 angedeutet wird. 69 Vgl. exemplarisch W. Schrage, Ethik, 160; R. Burridge, Imitating, 253–258, Ch. Hays, Wealth Ethics, 123–125.
28
Kapitel 2: Forschungsüberblick
einer soteriologisch qualifizierten Lebensgestaltung auf Mose und die Propheten (vgl. Lk 16,29), bzw. auf den Dekalog (vgl. Lk 18,19), die in diesen Fragen durchaus als normativ anzusehen sind. Darüber hinaus wird das Doppelgebot der Liebe als die entscheidende Handlungsanweisung zu einem ethisch guten wie soteriologisch heilvollen Lebenswandel hervorgehoben (vgl. Lk 10,25–28). Die Bedeutung des Doppelgebots für die christliche respektive lk. Ethik wird in der Literatur immer wieder betont,70 allerdings stellt sich die Frage, ob sich die Forderung, Gott und seinen Nächsten zu lieben, innerhalb des LkEv in einen ethischen Gesamtzusammenhang einfügen lässt? Greift der Evangelist lediglich auf überkommene Jesustraditionen zurück und positioniert diese an pointierter Stelle in seinem Werk, oder lässt sich im Vergleich mit anderen, ethisch relevanten Perikopen, eine Struktur entdecken, die letztendlich aus der Perspektive des Doppelgebots entfaltet wird? Ist also das Doppelgebot der Liebe der hermeneutische Schlüssel für die lk. Ethik? Und wenn dem so wäre, welche sittlichen Konsequenzen ließen sich dann aus diesem doch recht offen formulierten Gebot ableiten? Die Überlegungen zum Umgang des Evangelisten mit dem Doppelgebot eröffnen den oben bereits angesprochenen Horizont der Transformationsprozesse. Diese fanden in der ntl. Forschung zum LkEv bereits ein gewissen Eingang und es wird im Folgenden in aller gebotenen Kürze aufgezeigt werden, inwieweit die Einbeziehung möglicher Transformationsprozesse eine hermeneutische Auswirkung auf die Analyse der lk. Ethik hatte.
2.6 Transformationsprozesse Die Andeutung einer Rezeption atl. Texte für die Formulierung besitzethischer Forderungen wird im weiteren Verlauf der Arbeit detailliert erläutert werden, wobei vor allem auf die Einbettung des lk. Besitzethos in die Argumentationslinien lk. Ethik zu achten ist. Doch sei hier bereits darauf hingewiesen, dass das Rezeptionsgeschehen als solches in der neueren Forschung unumstritten ist.71 Indem sich der Blick auf die Rezeption atl. Texte zur Formulierung ethisch qualifizierter Handlungsanweisungen richtet, öffnet sich die Perspektive der Analyse lk. Ethik hin zu möglichen Transformationsprozessen zwischen dem Evangelisten und seiner Umwelt (vgl. Kapitel I.2).
70
Vgl. beispielsweise F. Matera, Ethics, 88; A. Verhey, Reversal, 24; R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft I, 88–97; W. Schrage, Ethik, 73–93; R. Burridge, Imitating, 258–260. S. Schulz, Ethik, 468–469, betont auffälligerweise nur die Relevanz der Nächstenliebe für die lk. Ethik. Weitere Literatur zum Doppelgebot wird im Zuge der Exegese zu Lk 10,25–37 aufgeführt. 71 Vgl. Ch. Hays, Wealth Ethics, 48–49.
2.7 Zusammenfassung und Forschungsinteresse
29
Im Grundsatz herrscht in der ntl. Forschung gegenwärtig Einigkeit darüber, dass die im Neuen Testament formulierten ethischen Aussagen Berührungspunkte zu frühjüdischen sowie zu hellenistisch-römischen Traditionen haben und dass die jesuanischen Traditionen am besten im Licht des zeitgenössischen Frühjudentums, insoweit dieses rekonstruierbar ist, zu betrachten sind. „Dabei kann es nicht darauf ankommen, Jesu Innovationskraft, Originalität oder gar ‚Überlegenheit‘ apologetisch zu demonstrieren oder alle Beziehungen zum Judentum zu minimalisieren. […] Umgekehrt ist es auch nicht so, daß alle Besonderheiten Jesu, die im Judentum unerhört, ja provokativ wirken mußten, verwischt werden dürfen. Jedenfalls versteht es sich von selbst, daß Jesu Ethik nicht einfach analogielos ist und eine große Parallelität zur jüdischen Ethik besteht.“72
In Bezug auf die Untersuchungen zur lk. Ethik begegnen in der Forschungslandschaft zumeist Hinweise auf Querbezüge zwischen einzelnen Handlungsanweisungen des Evangelisten und ähnlichen respektive dem diametral entgegengesetzten ethischen Überzeugungen aus dem antiken Kontext.73 Allerdings bleibt festzustellen, dass es nur vereinzelt Arbeiten gibt, die einen systematisch breiteren Ansatz wählen und dabei einen ethisch relevanten Themenkomplex auf mögliche Transformationsprozesse hin untersuchen.74 Eine Forschungslücke lässt sich bezüglich der Frage feststellen, inwieweit das Gesamtkonzept der ethischen Argumentation des Evangelisten durch Transformationsprozesse geprägt ist.
2.7 Zusammenfassung und Forschungsinteresse Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zur Erforschung der lk. Ethik leisten. Ausgehend von der aktuellen Forschungslage soll weniger die Untersuchung einzelner Handlungsanweisungen mit Mittelpunkt der Arbeit stehen, sondern vielmehr der Frage nachgegangen werden, ob sich eine zusammenhängende ethische Argumentation beschreiben lässt, die die jeweiligen Handlungsanweisungen im LkEv systematisch miteinander in Beziehung setzt und diese 72
W. Schrage, Ethik, 90–91. ist beispielsweise der Hinweis, dass die Hochschätzung der Frauen im lk. Doppelwerk in schroffem Gegensatz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit der frühjüdischen sowie der hellenistisch-römischen Antike steht. Vgl. dazu etwa S. Schulz, Ethik, 475; W. Schrage, Ethik, 165; R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft II, 144–145; A. Verhey, Reversal, 95–96; R. Burrdige, Imitating, 264–266. Ebenso seien die zahlreichen Untersuchungen zum Doppelgebot der Liebe zu erwähnen oder etwa die Einordnung des Ehescheidungsverbots in den frühjüdischen Kontext. Die Analyse von Transformationsprozessen im Zusammenhang mit der frühkirchlichen Gütergemeinschaft wurde bereits in Kapitel I.3 angesprochen. 74 Zu nennen sind: W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn; J. Marshall, Jesus; Ch. Hays, Wealth Ethics. 73 Klassisch
30
Kapitel 2: Forschungsüberblick
vor allem auch begründet. Wie der Forschungsüberblick gezeigt hat, begegnen im LkEv für die Ethik dominante Motive wie etwa die βασιλεία τοῦ θεοῦ, die μετάνοια oder auch das Doppelgebot der Liebe. Ebenso scheint ausgehend von der Feldrede die Barmherzigkeit Gottes eine gewichtige Rolle in der ethischen Argumentation des Evangelisten zu spielen. Diese Beobachtungen machen im Verbund mit der in Kapitel I.1 erwähnten theologischen und schriftstellerischen Leistung des Evangelisten, die These, dass sich für das LkEv75 tatsächlich ein ethisch-argumentativer Gesamtzusammenhang darstellen und begründen lässt, wahrscheinlich. Darüber hinaus muss freilich davon ausgegangen werden, dass kein relevanter Aspekt des lk. Doppelwerks frei von theologischen Bezügen wäre. Somit scheint es gewinnbringend zu sein, davon auszugehen, dass der zu erforschende ethische Gesamtzusammenhang des LkEv stets in Korrelation zu den theologischen Ausführungen des Evangelisten steht. Insofern ist es unumgänglich, in einem ersten Schritt die theologischen Grundlagen des LkEv zu analysieren. Im Zuge dessen wird sich die vorliegende Arbeit am Aufbau des LkEv orientieren, also gewissermaßen der Leserleitung des Evangelisten folgen und zunächst das „Eingangsportal“ des Evangeliums (Lk 1–2) betrachten. Das Augenmerk liegt dabei auf den beiden Hymnen Magnificat und Benedictus, da diese in poetisch verdichteter Form grundsätzliche Aussagen über Gott und den Beginn der von Lukas beschriebenen Jesusgeschichte formulieren. Ausgehend von diesen Beobachtungen wird sich die Konzentration auf die ethisch relevanten Passagen des LkEv richten, wobei an erster Stelle eine umfassende Analyse der Feldrede vorgenommen werden wird. In der Fülle der ethisch relevanten Texte sticht die Feldrede besonders hervor: Während andere Perikopen ethische Inhalte in Form der Narration transportieren, findet sich mit der Feldrede eine konzentrierte, auf ethische Kernpunkte fokussierte Paränese, die innerhalb des LkEv einzigartig ist. Sodann werden sich die Untersuchungen narrativer Perikopen anschließen, vermittels derer die Darstellung des ethischen Begründungszusammenhang des LkEv nach und nach vervollständigt werden kann. Konkret handelt es sich hierbei um folgende Perikopen: „Der barmherzige Samariter“ (Lk 10,25–37), „Die Salbung durch die Sünderin“ (Lk 7,36– 50) und „Der verlorene Sohn“ (Lk 15,11–32). In einem zweiten Schritt soll eine breit angelegte Analyse möglicher Transformationsprozesse erfolgen. Die ethische Argumentation des Evangelisten respektive die für die lk. Ethik elementaren Motive sollen in Korrelation mit Texten aus der frühjüdischen und der hellenistisch-römischen Antike gesetzt werden. Durch den Einbezug beider Kulturkreise, die sich freilich in gewissem Rahmen überschnitten haben, wird der kulturellen Sozialisation des Evan75 Die zusätzliche Analyse der Acta kann aufgrund des überschaubaren ethisch relevanten Materials unterbleiben. Einen profunden Einblick in diesen Bereich bietet Th. Phillips, Acts and Ethics.
2.7 Zusammenfassung und Forschungsinteresse
31
gelisten Rechnung getragen. Die Untersuchung der Transformationsprozesse ist von der Überzeugung geprägt, dass adäquates, wissenschaftliches Verständnis biblischer Texte nur durch die Einbeziehung außerbiblischer, zeitgenössischer Quellen möglich ist. Bezüglich der Ethik des Evangelisten soll die Analyse der Transformationsprozesse zu einem besseren Verstehen der lk. Argumentation beitragen. So soll sowohl deren Anschlussfähigkeit an ethische Überzeugungen der Umwelt als auch deren provokatives Potential im Gegenüber zu frühjüdischen und hellenistisch-römischen Positionen deutlich werden. Im Spiegel anderer antiker Argumentationslinien dürfte die lk. Ethik klarer und schärfer konturiert zu erfassen sein. Aus dem Bereich der Literatur des hellenistischen Frühjudentums soll zunächst der Liebesroman „Joseph und Aseneth“ analysiert werden. Zum einen ist der Roman reich an theologisch-ethischen Argumentationen, zum anderen aber ist er in einer gegenüber dem LkEv vergleichbaren Kommunikationsstruktur zu verorten. In beiden Fällen sollen pagane Adressaten von der Attraktivität des in den literarischen Werken formulierten JHWH Glaubens überzeugt werden und beide Werke orientieren sich in der Darstellung ihres Gottesbildes stark an der LXX.76 Anschließend sollen „Die Testamente der XII Patriarchen“ zur vergleichenden Analyse herangezogen werden, da sie ein hervorragendes Zeugnis hellenistisch-frühjüdischer Ethik darstellen.77 Die in den TestXII ausformulierten ethischen Begründungszusammenhänge ergeben sich aus einer Korrelation von Anthropologie und Theologie und bilden somit ein aufschlussreiches Konzept gegenüber zu den lk. Texten, die gerade in ihrer narrativen Ausprägung den anthropologischen Aspekt der Ethik in den Vordergrund stellen. Zum Abschluss der Reihe hellenistisch-frühjüdischer Literatur wird der Aristeasbrief aufgegriffen werden. Er vereint in sich sowohl die Adressierung frühjüdischer Überzeugungen an pagane Leserinnen und Leser als auch theologisch-ethische Argumentationsstränge. Selbstverständlich ist der EpArist in besonderer Weise ein Zeugnis der idealisierten Darstellung dessen, was eine bestimmte hellenistisch Gruppe als originär frühjüdische Identität versteht, doch dürfte auch das LkEv nicht frei von idealisierenden Zügen sein. Im Hinblick auf die hellenistisch-römische Antike sollen die ethischen Ausführungen der kaiserzeitlichen Stoa im Mittelpunkt stehen, da sich diese philosophische Ausprägung zur Zeit des Evangelisten Lukas im Imperium Romanum besonderer Aufmerksamkeit und erstaunlicher Breitenwirkung erfreute. Insofern ist es plausibel, anzunehmen, dass Lukas einerseits stoische Lehren kannte und er andererseits davon ausgegangen sein dürfte, dass seine paganen Leserinnen und Leser mit der Stoa vertraut waren. Unter den zeitgenössischen stoischen Autoren kommt Seneca eine herausragende Relevanz zu, sodass seine 76 Die Diskrepanz, die sich durch die Christologie des Evangelisten ergibt, muss nicht eigens diskutiert werden. 77 Zu möglichen christlichen Interpolationen der TestXII siehe Kapitel IX.
32
Kapitel 2: Forschungsüberblick
Werke im Mittelpunkt der Untersuchung stehen werden. Dabei sollen einerseits die grundsätzlichen ethischen Argumentationslinien des Philosophen nachgezeichnet, andererseits eine Fokussierung auf die Motive, die sich in der lk. Argumentation als ethisch bedeutsam herausgestellt haben, vorgenommen werden.
Kapitel 3
Das Magnificat und das Benedictus Vermittels der beiden Hymnen Magnificat und Benedictus formuliert der Evangelist Grundlegungen seiner „Theo-Logie“, also fundamentale Erkenntnisse über das Wesen und das Wirken Gottes, die im weiteren Verlauf des LkEv (und der Acta) immer wieder aufgegriffen und reflektiert werden. So bilden die Hymnen, die in ihrer poetischen Sprache und ihrer inhaltlichen Verdichtung an den Psalmen orientiert sind, freilich im Verbund mit den narrativen Inhalten in Lk 1–2, gewissermaßen ein theologisches Eingangsportal in das lk. Doppelwerk. Es soll im Folgenden nicht darum gehen, Lk 1–2 exegetisch zu kommentieren, vielmehr soll ein Fokus auf die Fragen gelegt werden, welche Aspekte des Gottesbildes, die in den Hymnen zu finden sind, besonders in den Vordergrund gestellt werden und welche Konsequenzen für das Relationsgefüge zwischen Menschen und Gott daraus abgeleitet werden.
3.1 Das Magnificat (Lk 1,46–55) 3.1.1 Übersetzung (46a) Und Maria sprach: (46b) „Meine Seele preist den Herrn (47a) und mein Geist jubelt über Gott, (47b) meinen Retter, (48a) weil er auf die Niedrigkeit seiner Sklavin geblickt hat. (48b) Siehe, denn von nun an werde mich alle Generationen selig preisen, (49a) weil der Mächtige große Dinge an mir getan hat (49b) und heilig ist sein Name, (50a) und seine Barmherzigkeit gilt von Generation zu Generation denen, (50b) die ihn fürchten. (51a) Er übt1 Macht aus mit seinem Arm, (51b) er zerstreut die, die in der Gesinnung ihres Herzens hochmütig sind. (52a) Er stürzt die Mächtigen von den Thronen 1 Die Übersetzung der Aoriste im Magnificat, vor allem in den V. 51a–54a, ist in der Exegese umstritten. Die vorliegende Übersetzung geht in den genannten Versen von gnomischen Aoristen aus; vgl. hierzu auch W. Radl, Lukas I, 82–83.
34
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
(52b) und erhöht die Niedrigen, (53a) die Hungrigen sättigt er mit Gütern, (53b) und die Reichen schickt er mit leeren Händen weg. (54a) Er nimmt sich seines Knechtes Israel an, (54b) indem er sich an die Barmherzigkeit erinnert, (55a) wie er es zu unseren Vätern gesagt hatte, (55b) Abraham und seinem Samen in Ewigkeit.
3.1.2 Das Magnificat als Schwelle zur Gottesherrschaft Das Magnificat ist, ebenso wie das Benedictus (Lk 1,68–79) und das Nunc dimittis (Lk 2,29–32), durch vielfältige theologische Bezüge in den Kontext des Alten Testaments gestellt.2 So wird explizit auf den Bundesschluss Gottes mit Abraham verwiesen (vgl. Lk 1,55), implizit auf die Selbstoffenbarung Gottes in Ex 34,4–6 angespielt (vgl. Lk 1,50) und für die Skizze der Relation zwischen Maria und Gott (vgl. Lk 1,48a) werden Terminologien3 verwendet, durch die bereits im Alten Testament die adäquate Beziehung zwischen Mensch und Gott ausgedrückt wird.4 Im Ganzen erinnert das Magnificat stark an den Lobgesang der Hanna (1Sam 2,1–11), und weist zudem sprachliche Verbindungen zum Bittgebet der Hanna auf.5 In 1Sam 1,11 bittet Hanna darum, dass Gott die Demut (ταπείνωσις) seiner Magd (ἡ δούλη σου) ansehen und sich ihrer erinnern möge. Wie in Lk 1,54 deutlich wird, kann das Erinnern Gottes als ein terminus technicus für seine heilvolle Zuwendung zu den Menschen verstanden werden; eine Zuwendung, die sowohl im Falle der Hanna als auch im Falle der Maria in einer Schwangerschaft besteht. Am Rande sei hier erwähnt, dass selbstverständlich Elisabeth das narrative Pendant zu Hanna darstellt, ebenso wie das prophetische Amt des Täufers seinen traditionellen Hintergrund im Prophetenamt Samuels findet. Somit wird deutlich, dass Lukas Aspekte der Hanna-Tradition sowohl im Zusammenhang der Geburt Jesu als auch im Zusammenhang mit der Geburt des Täufers verwendet. Hierin wird wiederum die integrale Systematik zwischen den beiden Geburtsgeschichten und den damit verbundenen 2 Vgl.
M. Wolter, Lukasevangelium, 99–100; J. Green, 101–102. Gott wird von Maria als Retter (ὁ σωτήρ [Lk 1,47b]) und als Mächtiger (ὁ δυνατός [Lk 1,49a]) bezeichnet, dessen Name heilig ist (Lk 1,49b). Maria betont ihre Niedrigkeit (ἡ ταπείνωσις [Lk 1,48a]) gegenüber Gott und bezeichnet sich selbst als Sklavin (schwächer: Magd) Gottes (ἡ δούλη αὐτοῦ [Lk 1,48a]). 4 Vgl. zum spezifisch lk. Kontext M. Wolter, Lukasevangelium, 102–103; zum atl. Sprachgebrauch vgl. etwa H. Preuẞ, Art. Demut, 461: „Demut ist als Gehorsam und Beugen unter Jahwes Willen das rechte Verhalten des Menschen vor Gott (Zeph 2,3; Ex 10,3f als Kontrast; dann II Reg 22,19 = II Chr 34,27; Dan 5,22; auch Jer 36,7; 44,10). In den Chronikbüchern wird diese Demut insofern herausgestellt, als sich an ihr Zorn oder Güte Jahwes entschied (II Chr 7,14; 12,6; 30,11; 32,26; 33,12.19.23; 34,27; 36,12).“ 5 Vgl. J. Nolland, Luke 1, 68. 3
3.1 Das Magnificat
35
Hymnen erkenntlich. Darüber hinaus ist das Magnificat, ähnlich wie auch das Benedictus, sprachlich und strukturell an den Psalmen orientiert. „Die Entstehung dieses Liedes ist nur in Kreisen vorstellbar, wo man mit den atl. Psalmen umging, Gebete formulierte und umformulierte, wo man das AT sehr genau kannte.“6 Diese kurzen Andeutungen hinsichtlich der theologischen wie sprachlichen Querverbindungen zum Alten Testament dürften für das Erste genügen, um zu verdeutlichen, dass das Magnificat den Adressaten des LkEv, deren theologische Traditionen und deren religiöses Selbstverständnis sich aus der LXX speisten, in gewissem Sinne vertraut erscheinen musste. Grundsätzlich wird für jüdische Hörer im Magnificat nichts Neues, nichts Ungewöhnliches zum Ausdruck gebracht. Doch innerhalb der theologischen Konzeption des LkEv ist das Magnificat ein Ausgangspunkt für die Formulierung der Vision einer in naher Zukunft anbrechenden Gottesherrschaft, in der verschiedene atl. Traditionsstränge aufgenommen, und, wie der weitere Verlauf des LkEv zeigen wird, unter christologischen Vorzeichen transformiert werden. Die im Magnificat formulierte Zukunftsperspektive wird gerade in der Begegnung zwischen Elisabeth und Maria und der in diesem Dialog einhergehenden Zeitebenen zum Ausdruck gebracht. Das Magnificat ist im Erzählduktus von Lk 1 die Antwort Marias auf den Ausruf Elisabeths, die, durch den Heiligen Geist zur tieferen Erkenntnis über die Schwangerschaft Marias geführt, dieselbe nicht nur als „Mutter meines Herrn“ (Lk 1,43) anspricht, sondern darüber hinaus auch noch Kenntnis von einer göttlichen Verheißung gegenüber Maria und von dem durch Glauben gestärktem Vertrauen Marias in die göttliche Verheißung besitzt (vgl. Lk 1,45). Durch die Bezugnahme auf die Verheißung, deren Vollendung freilich noch aussteht,7 wird auf die Begegnung Marias mit dem Engel (vgl. Lk 1,26–38) verwiesen, sodass das Magnificat in den Zusammenhang mit der heilsgeschichtlichen Bedeutung8 der Schwangerschaft Marias gesetzt ist; einer Bedeutung, die sich zukünftig entfalten wird. Beziehen sich die V. 48b und 49a auf die göttliche Erwählung Marias zur Mutter Jesu und auf die geistgewirkte Schwangerschaft, also auf in der Vergangenheit abgeschlossene Handlungen Gottes, so blicken die V. 51a– 54a auf das bevorstehende Heilshandeln Gottes.9 Gemäß des Magnificat zeich6
H. Klein, Magnifikat, 261. Vgl. Lk 1,45: „καὶ μακαρία ἡ πιστεύσασα ὅτι ἔσται τελείωσις τοῖς λελαλημένοις αὐτῇ παρὰ κυρίου.“ 8 Vgl. Lk 1,30–33.35. 9 Der Evangelist verwendet zur Formulierung der Zukunftsperspektive den proleptischen Aorist und knüpft damit, inhaltlich wie grammatisch, an den Sprachgebrauch der LXX in Bezug auf prophetische Texte an; vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 199 k. Eine futurische Perspektive betonen auch F. Bovon, Lukas 1, 92–93; J. Fitzmyer, Luke I, 360–361; W. Radl, Lukas 1, 82–83. Th. Kaut, Befreier, 296, 305–306 und J. Green, Luke, 104–105 interpretieren die Aussagen im Magnificat allesamt als Rückblick auf bereits stattgefundene Handlungen Gottes in der Geschichte mit seinem Volk. J. Green verweist dabei vor allem auf die Ereignisse, die 7
36
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
net sich die innerweltliche Durchsetzung der göttlichen Macht (V. 51a) in erster Linie durch die Umkehrung der irdischen Verhältnisse aus: Mächtige werden entthront (V. 52a) und Niedrige werden erhöht (V. 52b),10 Hungrige werden gesättigt (V. 53a) und Reiche mit leeren Händen weggeschickt (V. 53b). Das Magnificat „steht hier gleichsam auf der Schwelle von der Verheißung zur Erfüllung und kann dabei, als konzentrierte Zusammenfassung all dessen, was die Tradition an Erkenntnissen über den verheißenen Messias bereitstellte, selbst zum Verständnisgrund werden für das Wesen und Wirken des Messias Jesus von Nazareth, zum Schlüssel, der das Verständnis öffnet für die in die Heilszeit einmündende Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem Volk.“11 Es ist unbedingt darauf hinzuweisen, dass die genannte Schwelle bewusst als eine Zäsur12 und nicht als ein Bruch, oder gar als ein Neubeginn in der Geschichte Gottes mit seinem Volk wahrgenommen wird. Die Gestaltung des Magnificat ist mit Bedacht daraufhin angelegt, dass die Ereignisse um Maria eingebettet sind in den Gesamtkontext der Heilsgeschichte und das Vision der anbrechenden Gottesherrschaft auf zentralen Theologumena des Alten Testamentes, konkret: auf der Bundestreue und auf der Barmherzigkeit Gottes, aufbaut.
3.1.3 Die Barmherzigkeit Gottes im Magnificat In Imitation der Psalmensprache der LXX13 wird zunächst der Name Gottes als heilig gepriesen (vgl. Lk 1,49)14 und daraufhin an die Barmherzigkeit Gottes erinnert, die er nicht nur punktuell erweist bzw. erwiesen hat, sondern die zeitlich als unlimitiert zu denken ist. Auch diese Wendung steht in direkter Verbindung zu den Psalmen15 und bildet mit Lk 1,54–55 eine thematische Klammer um den zweiten Hauptteil des Magnificat (Lk 1,49b–55). Die zeitliche Entschränkung der barmherzigen Zuwendung Gottes zu den Menschen dient dazu, die göttliche Barmherzigkeit als konstitutives Element der Heilsgeschichte hervorzuheben.16 Während das Handeln Gottes an und mit den Menschen in seiner Konkretisierung jeweils individuell und situativ ist,17 baut die Theologie des Magnificat sich im Zuge des Exodus ereignet haben und erinnert an den thematischen Widerhall der in Lk 1,50–54 genannten Taten Gottes in der Theologie des LkEv. 10 Die thematische Querverbindung zur Zuwendung Gottes gegenüber seiner Magd Maria ist unübersehbar; vgl. auch J. Green, Luke, 103. 11 U. Mittmann-Richert, Magnifikat, 234. 12 Man beachte an dieser Stelle die Formulierung „ἀπὸ τοῦ νῦν“ (Lk 1,48b). 13 Vgl. beispielsweise ψ 32,21; 98,3; 104,3; 105,47 u. ö. 14 Vgl. hierzu auch die erste Bitte des Vater Unser in Lk 11,2. 15 Vgl. ψ 102,11.17; 104,5. 16 J. Nolland, Luke 1, 71 bezieht die Barmherzigkeit Gottes nicht nur auf die Heilsgeschichte, sondern formuliert pointiert: „God’s mercy is an aspect of his holiness […].“ 17 Dazu gehört auch die göttlich initiierte Schwangerschaft Marias.
3.1 Das Magnificat
37
auf der Überzeugung auf, dass sich in dem je individuellen Handeln Gottes die göttliche Barmherzigkeit gewissermaßen als gemeinsamer Nenner erweist und dadurch das Wirken Gottes in charakteristischer Weise mitbestimmt. Bezieht man die Beobachtung der atl. geprägten Sprache von der Barmherzigkeit Gottes mit in die Überlegungen ein, so kann geschlossen werden, dass Lk 1,50 ein bekenntnishafter Charakter zu eigen ist. Dabei wird die barmherzige Zuwendung Gottes zu den Menschen dadurch näher bestimmt, dass die Empfänger der Barmherzigkeit zu allen Zeiten diejenigen sind, die Gott fürchten (vgl. Lk 1,50b). Das Fürchten Gottes ist ebenso wie die Niedrigkeit vor Gott (vgl. Lk 1,48a) eine geprägte Wendung aus dem Alten Testament,18 die die adäquate Haltung des Menschen gegenüber Gott beschreibt und somit als Ausdruck der Frömmigkeit, des gelebten Glaubens und der Observanz gegenüber dem göttlichen Willen verstanden werden kann.19 Unter Einbezug der relationalen Komponente, die der Barmherzigkeit notwendig zu eigen ist, kommt dem Fürchten Gottes in der Analyse der Zuwendung der göttlichen Barmherzigkeit eine wichtige Rolle zu. So wird in Lk 1,50 unter Rückgriff auf atl. Traditionen ein relationales Geflecht zwischen Gott und den Menschen beschrieben, in dem die göttliche Barmherzigkeit nicht nur der Modus der Zuwendung Gottes zu den Menschen ist, sondern auch eine Antwort auf die Art und Weise, in der die Menschen sich Gott zuwenden. Dies impliziert natürlich, dass sich Gott all denjenigen, die ihm nicht in Niedrigkeit (vgl. Lk 1,48a) und (Ehr-)Furcht (vgl. Lk 1,50b) begegnen, auch nicht als der Barmherzige erweisen wird. Diese Systematik findet sich bereits im Zusammenhang mit den zehn Geboten in Ex 20,5–6. Das Strafhandeln Gottes ist das negative Pendant zum Erweis der göttlichen Barmherzigkeit.20 18 Aus der Fülle der Belege sollen hier einige aussagekräftige Beispiele aus verschiedenen Textgattungen gegeben werden. Poetische Texte: Ps 22,24; 25,12; 34,8.10; 61,6; 66,16; 67,8; 85,10; 86,11; 103,11.17–18; 118,4; 119,63; 128,1.4; 135,20; Prov 24,21; Eccl 3,14; 7,18; 8,12; 12,13; PsSal 2,33; 4,23; 15,13. Pentateuch: Ex 1,21; Lev 19,14.32; 25,27.36.43; Dtn 6,2.13.24; 8,6; 10,12.20; 14,23; 17,19; 31,12.13. Prophetie: Mi 6,9; Mal 3,16; Jes 29,23; Jer 39,39; Dan 3,17; 2Esr 17,2. 19 M. Wolter, Lukasevangelium, 103 bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Rede von der Gottesfurcht eine „Gottesprädikation“ darstellt und mitnichten die Beschreibung einer Gruppe von Menschen meint. Allerdings wird im Magnificat eben genau unterschieden zwischen denen, die Gott fürchten und somit seiner Barmherzigkeit teilhaftig werden und denen, die Gott nicht fürchten und dadurch seinen Zorn ertragen werden müssen. Eine Einschränkung auf einen „heiligen Rest“, wie ihn U. Mittmann-Richert, Magnifikat, 201–202 vornimmt, ist ihm Gesamtaufriss lk. Theologie jedoch zu eng gefasst, da Lukas eben eine universale Ausweitung des Gottesvolkes propagiert. Es ist U. Mittmann-Richert darin zuzustimmen, dass die Gottesfürchtigen im Duktus lk. Theologie diejenigen sind, deren Glaube, so U. MittmannRichert, Magnifikat, 202, „die Anerkenntnis der messianischen Heilstat als der letzten geschichtlichen Offenbarungstat Gottes miteinschließt […].“ 20 Im Hinblick auf die weitere Analyse der göttlichen Barmherzigkeit im LkEv soll ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, inwiefern der göttlichen Barmherzigkeit
38
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Das Magnificat greift in Lk 1,50–53 diesen Dualismus auf, wobei das Strafhandeln Gottes an den Stolzen (οἱ ὑπερήφανοι [Lk 1,51b]), an den Mächtigen (τὰ δυνάστα [Lk 1,52a]) und an den Reichen (οἱ πλούσιοι [Lk 1,53b]) in der lk. Argumentation als Bestandteil der Durchsetzung der Barmherzigkeit Gottes dargestellt wird. Indem Gott die Niedrigen erhebt, stößt er die Mächtigen vom Thron, indem er die Hungrigen sättigt, lässt er die Reichen leer ausgehen. Lukas formuliert hier zum ersten Mal Grundsätze seiner Sozialethik, die er im Verlauf des ganzen Evangeliums immer wieder entfalten wird und die nicht zuletzt durch eine (eschatologische) Umkehrung der irdischen Verhältnisse bestimmt ist.21 „Der Umsturz wird von Gott gewünscht und durchgeführt, weil unter den Menschen Ungerechtigkeit herrscht. Wenn Gott seine Herrschaft einführt, rüttelt er notwendigerweise an den Thronen und verlangt das Geld der Reichen. Täte er es nicht, wäre er weder gerecht noch gütig, wäre er nicht Gott.“22
Dabei ist die besondere Solidarität Gottes mit den Armen und Erniedrigten keine Neuschöpfung des Evangelisten, sondern ebenfalls ein Erbe aus der Theologie des Alten Testaments.23 Aufschlussreich ist der Begründungszusammenhang, den Lukas an dieser Stelle bemüht. An die Reihe der chiastisch angeordneten Heils- und Unheilsankündigungen schließt sich ein kurzer, erwählungstheologischer Rekurs an, mit dem das Magnificat zu seinem Ende kommt. Israel wird als Knecht (ὁ παῖς [Lk 1,54a]) Gottes bezeichnet, dem Gott sich helfend zuwendet, wörtlich: den Gott wiederaufrichtet (ἀντιλαμβάνεσθαι [Lk 1,54a]). Dieses Bild impliziert ein vorausgegangenes Straucheln des Knechts, irgendeine Art von defizitärer Situation, aus der dieser sich aus eigener Kraft nicht befreien konnte. Die helfende Zuwendung Gottes für Israel kann als Summarium dessen verstanden werden, was in Lk 1,51–53 beschrieben worden ist. Diese Lesart wird durch die erneute Erwähnung der göttlichen Barmherzigkeit in Lk 1,54 untermauert: Gott wendet sich Israel, seinem Knecht helfend zu, indem er sich an seine Barmherzigkeit erinnert (μνησθῆναι [Lk 1,54b]).24 Somit wird die Klammer zu Lk 1,50 geeine Form der menschlichen Niedrigkeit vorausgehen muss. Es wäre durchaus denkbar, dass die Barmherzigkeit Gottes eine vorauseilende ist, die nicht notwendig von einer bestimmten menschlichen Haltung abhängig ist. 21 In diesem Zusammenhang ist natürlich an die im LkEv breit ausgeführte Problematik des Reichtums zu denken (z. B. Lk 6,20–26; 12,16–21.33–34), in deren Zusammenhang auch die Themenfelder der Unterdrückung (z. B. Lk 11,37–54; 18,1–8) und der mangelnden sozialen Fürsorge (z. B. Lk 16,19–31; 18,18–27) eine wichtige Rolle spielen. Vgl. ausführlich den Exkurs „Die Armen bei Lukas“, den ich im Zuge der Exegese der Feldrede formuliert habe. 22 F. Bovon, Lukas 1, 91. 23 Vgl. beispielsweise Dtn 24,17–22; 27,19; Hiob 22,29; Ps 9,10.13–14.19; 12,6; 14,6; 18,28; 22,25.27; 34,16–23; 37,1–40; 89,11.14–15; 107,9 u. ö.; Prov 3,34 (LXX), Jes 57,15; 58,7–9; 61,1–3; 66,2; Jer 2,34–35, Ez 21,31; Sir 10,14–18. Zudem die Belege im Zusammenhang des Exkurses „Die Armen bei Lukas“. 24 W. Radl, Lukas I, 84 erkennt hier zu Recht eine Sachparallele zu ψ 97,3.
3.1 Das Magnificat
39
schlossen, wobei das Kollektiv „Israel“ im Lichte dieses Zusammenhangs nur aus denjenigen besteht, die Gott fürchten. Die Zugehörigkeit zum Bundesvolk Gottes wird also nicht allein durch eine genealogische Abstammung gerechtfertigt; ein Thema, das der Täufer in Lk 3,8 wieder aufgreifen wird. Die Genealogie Israels spielt im Zuge des Magnificat insofern eine wichtige Rolle, als dass das Erbarmen Gottes als zentraler Bestandteil seiner Verheißung gegenüber Abraham dargestellt wird (Lk 1,55b). Durch den Verweis auf Abraham und dessen Nachkommen geraten Elemente der atl. Bundes- und Erwählungstheologie in den Blick, die eine signifikante Bedeutung für die Identitätsstiftung des Gottesvolks besitzen. Das Magnificat verweist darauf, dass das Erbarmen Gottes eben nicht nur Abraham und den Patriarchen zugesagt worden ist, sondern dass dieses Versprechen, das als Teil der göttlichen Bundeszusage verstanden werden soll, allen Nachkommen Abrahams bis in Ewigkeit (εἰς τὸν αἰῶνα [Lk 1,55b]) gelten wird. „God’s mercy is his active faithfulness to his covenant commitment to Israel.“25 Durch die zeitliche Entgrenzung der Verheißung göttlicher Barmherzigkeit, wird die inhaltliche Klammer zu Lk 1,50 nochmals verstärkt und die Realisierung der Barmherzigkeit Gottes, die im Magnificat besungen wird, wird untrennbar mit dem atl. Bundesgedanken und somit mit der jüdischen Identität verbunden.
Exkurs: Bund und Barmherzigkeit Der Bundesschluss zwischen JHWH und Israel ist zweifelsohne das identitätsstiftende Ereignis des Gottesvolkes, wobei die Frage nach dem bundesgemäßen Verhalten, sowohl seitens JHWHs als auch seitens der Menschen, in unterschiedlicher Varianz weite Teile der atl. Texte prägt. Insofern ist die allgemeine Rede von der ְבּ ִרתzwischen JHWH und seinem Volk nahezu eine universelle Begrifflichkeit der Heilsgeschichte,26 doch soll hier, im Zusammenhang mit dem Magnificat, lediglich ein Aspekt skizziert werden: die Bedeutung der Barmherzigkeit Gottes für die Rede vom Bund zwischen JHWH und seinem Volk. Die atl. Forschung verweist seit mindestens drei Dekaden mit Nachdruck darauf, dass die Rede von der Barmherzigkeit Gottes in allen Textgattungen des Alten Testaments begegnet und somit ein zentrales und verbindendes Element der unterschiedlichen atl. Autorenkreise darstellt.27 Eine Trennung zwischen dem zornigen Gott des Alten Testaments und dem barmherzigen Gott des Neuen Testaments ist inadäquat und verkennt die Hochschätzung des göttlichen Erbarmens in der Fülle der atl. Texte.28 Doch erweckt die Rede vom Bund JHWHs mit Israel die Assoziationen an die Maßstäbe der göttlichen Gerechtigkeit, die durch die Bundessatzungen wenn nicht definiert, so doch umrissen wird. Indem nun die Bedeutung der Barmherzigkeit Gottes in den atl. Bundeszusagen betont wird, öffnet sich die Perspektive hin zu dem Zusammenhang von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit; ein Miteinander, das so auch im Magnificat begegnet. 25
J. Nolland, Luke 1, 76. weiteren Lektüre vgl. Ch. Dohmen, Für immer verbündet; Ch. Koch, Vertrag, Treueid, Bund; A. Mayes, Covenant as context. 27 Vgl. beispielsweise M. Franz, Der barmherzige und gnädige Gott. 28 Vgl. dazu B. Janowski, Barmherzige Richter, 33–34. 26 Zur
40
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Ein paradigmatischer Text für die Verbindung von Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Bund stellt Ex 34,6–7 dar. Dort begegnet im Zusammenhang mit der Erneuerung des Bundes, die nach der Episode mit dem Goldenen Kalb (vgl. Ex 32,1–35) notwendig geworden war, eine „Namensoffenbarung“29 JHWHs: Gott selbst trifft also eine zentrale Äußerung über die Beschreibung seines Wesens und erweist sich als ein barmherziger Gott, der Gnade walten lässt, nicht zum Zorn neigt und sich durch Treue und durch die Bereitschaft zur Vergebung auszeichnet. Doch beinhaltet das barmherzige und vergebende Zuwenden Gottes zu den Menschen keine Auflösung seiner richterlichen Gewalt, was de facto eine Tolerierung, ja vielmehr ein Ignorieren der Ungerechtigkeit bedeutet hätte. Neben der Betonung der Vergebung Gottes tritt seine „Strafgerechtigkeit“,30 durch die eine göttliche Bestrafung der Gesetzesübertretungen der Väter bis in die vierte nachfolgende Generation verfügt wird.31 Während also auf der einen Seite eine deutliche Dominanz der Barmherzigkeit Gottes in seiner Selbstverpflichtung32 gegenüber Israel erkennbar wird, bleibt auf der anderen Seite die Betonung der Ahndung von Ungerechtigkeit bestehen. Damit wird der verbindliche Charakter der göttlichen Rechtssatzungen ([ ִמּ ְשׁ ׇפּ ִטםvgl. Ex 21,1 u. ö.])33, die sowohl das Verhältnis der Menschen gegenüber Gott als auch der Menschen untereinander festlegen, unterstrichen. Doch ist die Relation Gottes zu seinem Volk nicht allein durch die Gesetzesobservanz und die göttliche Sanktionierung menschlicher Übertretungen bestimmt. Vielmehr wird die Zuwendung Gottes zu den Menschen unter Verweis auf die in Kraft stehenden ִמּ ְשׁ ׇפּ ִטםjuristisch-formal gerahmt und durch das barmherzige Wesen Gottes relational durchformt. B. Janowski bezeichnet diese Struktur als die „rettende Gerechtigkeit“34 Gottes und sieht sie nicht nur im Pentateuch und bei den Propheten,35 sondern vor allem auch in den Psalmen36 breit beschrieben. Für B. Janowski ist die Gerechtigkeit Gottes mit dessen Barmherzigkeit untrennbar verbunden, wodurch die heilsstiftende Dimension des Richterhandelns Gottes überhaupt erst ermöglicht und anschaulich wird. 29
Ch. Dohmen, Exodus 19–40, 354. Dohmen, Exodus 19–40, 355. E. Kellenberger, häsäd wä‘äämät, 114 is t das göttliche Vergebungshandeln einer der wichtigsten Aspekte der Selbstoffenbarung Gottes in Ex 34 und steht eben gerade in schwer aufzulösender Spannung mit dem Strafhandeln Gottes. 32 In der atl. Wissenschaft wird die absolute Freiheit Gottes, die nur durch die im Bund eingegangene Selbstbeschränkung beeinflusst wird, betont. Siehe etwa J. Gertz, Art. Bund II, 1863: „Der Gott Jahwe geht kein wechselseitiges Bündnis ein, sondern gewährt seinen B[und], verpflichtet sich selbst und nimmt in die Pflicht, wem er seinen B[und] auferlegt. Die Selbstverpflichtung Jahwes ist nicht einklagbar, ihre Einhaltung darf aber erwartet werden.“ 33 Der Begriff ִמּ ְשׁ ׇפּטbesitzt einen weit größeren Bedeutungsumfang und kann auch Urteil, Recht, Gerichtsverfahren, Entscheidung etc. bedeuten; zum Überblick vgl. B. Johnson, Art. 107–93 ,מּ ְשׁ ׇפּט.ִ In Bezug auf Gott als Subjekt bzw. Urheber ist in jedem Fall die Gerechtigkeit Gottes ein zentraler Bestandteil von מּ ְשׁ ׇפּט.ִ 34 Vgl. die gleichnamige Monographie von B. Janowski. 35 Hier wird häufig auf Hos 11,8–11 verwiesen. Vgl. beispielsweise B. Janowski, Barmherzige Richter, 40–43; Ch. Dohmen, Exodus 19–40, 355; M. Wacker, Gottes Groll, Gottes Güte, 109. E. Otto, Ethik, 110 schreibt zu Hos 11,1–9: „In Gottes Schmerz gründet die Überwindung des Zornes durch sein Mitleiden. Arbeitet Gott im Mitleiden das Böse des Menschen durch, so eröffnet er dem Menschen eine neue Zukunft“. 36 Da das Magnificat und das Benedictus als Psalmen formuliert sind, lohnt sich hier vor allem der Vergleich mit der Theologie des Psalters. 30 Ch. 31 Für
3.1 Das Magnificat
41
„Denn die Barmherzigkeit, die dem Beter zuteil wird, kann erst aus der Perspektive der Gerechtigkeit Gottes angemessen erfaßt werden. Wird sie aber so erfaßt, dann ist sie kein Affekt eines Gottes, der sich dann und wann herabläßt, um ‚Gnade vor Recht‘ walten zu lassen, sondern eine Funktion seiner Gerechtigkeit, die vorfindliches Unrecht zu durchkreuzen vermag und die Welt zur Ordnungsstruktur der Gerechtigkeit formt. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bedingen sich also gegenseitig und folgen als Handlungskorrelate beide aus dem Gedanken der göttlichen Weltzuwendung.“37 Die Partizipation des Einzelnen an der rettenden Gerechtigkeit Gottes besteht nun darin, dass er die Maßstäbe seines Handelns an den Maßstäben der göttlichen Gerechtigkeit ausrichtet, dass er die in den Rechtssatzungen formulierte Rahmenbedingungen für sein eigenes Verhalten als verbindlich anerkennt und sich somit dem Willen Gottes unterwirft. Ein Mensch, der sein Verhalten an den Bundessatzungen Gottes orientiert, ist ein Gerechter ( צ ׅדיק ׅאשׁ/ ק ַ )צ ֶד ֶ und verhält sich gemeinschaftstreu.38 Demgegenüber ist ein Bruch mit den Maßstäben der göttlichen Gerechtigkeit ein gemeinschaftsschädigendes Verhalten, dessen Konsequenzen nicht nur der Einzelne, sondern alle Mitglieder der Gemeinschaft spüren werden. Insofern ist es für die Gemeinschaft selbst notwendig, sich den Ungerechten zu erwehren. Allerdings wissen und beklagen die Psalmen, dass gerade die Ungerechten augenscheinlich häufig in einer privilegierten Situation leben, während die Gerechten um ihrer Gerechtigkeit willen leiden müssen, wobei zumeist die Rettung durch Gott die abschließende, heilvolle Perspektive darstellt.39 Neben dem gerechten Lebenswandel stellt auch die Bitte um den Beistand Gottes eine Möglichkeit dar, an der rettenden Gerechtigkeit partizipieren zu können. Das für den Evangelisten Lukas so wichtige und im Magnificat bereits angesprochene Themenfeld der Sozialethik, das durch die unverbrüchliche Solidarität Gottes mit den Armen und gesellschaftlich Randständigen sowie der damit einhergehenden Verpflichtung der Menschen zur Gabe von Almosen, Unterstützung von Rechtsangelegenheiten für die Witwen und Waisen und der Warnung vor der Unterdrückung der Armen gekennzeichnet ist, wird in den Psalmen, die von der rettenden Gerechtigkeit Gottes handeln, besonders bearbeitet.40 „Gott als der Barmherzige begründet ein Ethos der Solidarität und der Barmherzigkeit mit dem Schwachen in der Gesellschaft. Wie Gott mit dem Menschen umgeht, so soll sich der Mensch zum Menschen verhalten.“41 Dabei ist die Barmherzigkeit Gottes und sein Mitleiden mit den Armen und Unterdrückten eine der wichtigsten Handlungsbegründungen für sein rettendes und helfendes Eingreifen, das zugleich eine Bestrafung der Unterdrücker mit sich bringt, wie es beispielsweise in Ps 80 dargestellt wird.42 „JHWH [ist] als Richtergott zugleich soziale Instanz: er ‚rich37 B. Janowski, Barmherzige Richter, 78. 38 Vgl. beispielsweise Ps 5,13; 11,5–7; 15,1–4;
24,3–5; 34,20–23; 52,8–11; 75,11 u. ö.; vgl. auch die entsprechenden Ausführungen bei B. Johnson, Art. צדק, 920. 39 Vgl. besonders markant Ps 7; 10; 12; 22; 35; 37; 44; 54; 56; 57; 64; 69; 70; 73; 86; 91; 94; 109; 120; 140; 142. 40 B. Janowski, Barmherzige Richter, 61.65 nennt hier insbesondere die Psalmen 3–14, sowie die sog. „Asaph-Psalmen“ (Ps 50.73–83). Die Asaph-Psalmen weisen durch den Dualismus von Bestrafung der Hochmütigen und Schutz der Elenden eine ähnliche Struktur wie das Magnificat auf. 41 E. Otto, Ethik, 85–86. 42 Vgl. zudem beispielsweise Ps 9,10.19; 10,14.18; 12,1–9; 14,5–7; 22,25; 35,10; 37,14; 69,34; 72,4.12.13 (hier ist der König der Vollstrecker des göttlichen Willens); 82,3.4; 107,41; 109,31; 112,9; 113,7; 132,15; 140,13; 146,5–10; 147,6; Diese Struktur wird außerhalb der
42
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
tet‘, indem er ‚rettet‘, d. h. den personae miserae zum Recht verhilft (V 3) und sie aus der Gewalt der Frevler befreit.“43 Ebenso wie der Schutz der Gerechten ist die Solidarität Gottes mit den personae miserae ein Bestandteil des Bundesschlusses zwischen Gott und Israel und findet seine Letztbegründung im Wesen Gottes, wie es in Ex 34,6–7 in der Selbstoffenbarung dargestellt wurde.44 Die Betonung des göttlichen Erbarmens als integrativer Bestandteil des Bundesschlusses und der Maßstäbe göttlichen Verhaltens, lenkt den Blick auf den Begriff der ֶח ֶסדGottes.45 In Ex 34,6 wird das vielfache Erbarmen Gottes durch ב־ח ֶסד ֶ ַרausgedrückt, ebenso wie das Tun der Barmherzigkeit in Ex 34,7 mit ֶח ֶסד נצרformuliert wird. ֶח ֶסדist im Alten Testament ein relationaler Begriff und benennt ein Verhalten zwischen Gott und den Menschen oder zwischen Menschen untereinander46, das durch Freundschaft, Barmherzigkeit oder Güte geprägt ist, wobei hier zumeist an den tätigen Erweis von Barmherzigkeit und nicht an eine rein innerliche Einstellung gedacht werden soll.47 Aufgrund der hohen Bedeutung von ֶח ֶסדfür den Bund zwischen JHWH und Israel und für ein bundesgemäßes Verhalten verwundert es nun nicht, dass der Begriff ֶח ֶסדeine große Nähe zu den ִמּ ְשׁ ׇפּ ִטםaufweist, wobei gegenseitige Unterdrückung und ein gemeinschaftsschädigendes Verhalten durch einen Mangel an ֶח ֶסדbegründet wird,48 während gelebte ֶח ֶסדnahezu ein Synonym für Bundesobservanz und Gerechtigkeit darstellt.49 Hinsichtlich der Propheten ist zu bemerken, dass die von den Menschen geforderte Ausübung des bundesobservanten Verhaltens sich durch eine Unterordnung der kultischen Gebote unter die sozialethischen Konsequenzen des ֶח ֶסדBegriffs auszeichnet.50 Nur insofern sich das Verhalten der Menschen untereinander durch ֶח ֶסדauszeichnet, lässt sich JHWH überhaupt im Kult erreichen. Dadurch wird menschliches und göttliches Verhalten vermittels des Motivs ֶח ֶסד in vielschichtiger Art aufeinander bezogen und die Barmherzigkeit wird zum integralen Faktor des atl. Bundesgedankens.51 Psalmen vor allem in den Schriftpropheten des AT aufgenommen, wie im Exkurs „Die Armen bei Lukas“ ausgeführt wird. 43 B. Janowski, Barmherzige Richter, 61. 44 Ähnliche Selbstaussagen Gottes finden sich in Ex 20,5–6; Dtn 5,9–10; Neh 9,17; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Joel 2,13; Jon 4,2. 45 Zur vertiefenden Lektüre seien drei Monographien empfohlen: N. Glueck, Das Wort hesed; E. Kellenberger, häsät wä′ämät; W. Börschlein, Häsäd. 46 Für ein differenzierte Aufstellung der verschiedenen zwischenmenschlichen Konstellationen vgl. N. Glueck, Das Wort hesed, 1–20. 47 Vgl. H.‑J. Zobel, Art. ח ֶסד, ֶ 53. Für den menschlichen Erweis von חֶסֶד, vgl. Gen 20,13; 21,23; 24,49; 40,14; 47,29; Jos 2,12; 1Sam 15,6; 20,8; 2Sam 2,5–6; 9,1; 16,17 u. ö. Für den göttlichen Erweis von חֶסֶד, vgl. Ex 15,13; Dtn 7,9; 2Sam 7,15; 1Kön 3,6; Ps 17,7; 25,6; 44,27; 57,4; 85,8; 98,3; 103,11; 106,7.45; Jes 54,8.10; 63,7; Jer 16,5; 31,3; Thren 3,22; Hos 2,21; Mi 7,18.20 u. ö. 48 Vgl. beispielsweise Ps 109,16–17; Jes 57,1; Hos 4,1; Sach 7,10. 49 Vgl. beispielsweise Spr 3,3–4;11,17; 14,22; 20,28; 21,21; Jes 16,5; Hos 6,4–6; 10,12; 12,7; Mi 6,8. 50 Vgl. paradigmatisch Hos 6,6 und thematisch passend Am 5,21–27 und Jes 58,1–12, auch wenn hier die Terminologie von ֶח ֶסדfehlt. 51 N. Glueck, Das Wort hesed, 34 formuliert: „Wer ח ֶסד-gemäß ֶ handelt, übt selbstverständlich Treue und Gerechtigkeit. Hesed aber ist noch mehr, ist Menschlichkeit, Brüderlichkeit überhaupt, ist der wahre Ausdruck der echten Frömmigkeit.“ W. Börschlein, Häsäd, 235 insistiert in Bezug auf die atl. Ethik darauf, dass die mensch-
3.1 Das Magnificat
43
3.1.4 Gottes Barmherzigkeit und Gottes Bundestreue im Magnificat Für das lk. Gottesbild ist das Konzept des ֶח ֶסדMotivs wie es in der Sprachund Gedankenwelt der LXX begegnet von größter Relevanz. Die LXX übersetzt den Begriff ֶח ֶסדzumeist mit τὸ ἔλεος,52 doch belegt die Selbstoffenbarung Gottes in Ex 34,6–7 ein breites Spektrum an Begrifflichkeiten, die das Motiv der Barmherzigkeit zum Ausdruck bringen. So offenbart sich Gott als gnädig (οἰκτίρμων), barmherzig (ἐλεήμων), langmütig (μακρόθυμος), vielerbarmend (πολυέλεος) und zuverlässig (ἀληθινός). Sein von Barmherzigkeit geprägtes Wesen beeinflusst auch die Durchsetzung seiner Gerechtigkeit, indem er gegenüber Tausenden53 die Gerechtigkeit aufrecht erhält (διατήρειν δικαιοσύνη) und Barmherzigkeit übt (ποιεῖν ἔλεος), wobei er Übertretungen des Gesetzes (ἀνομία), Ungerechtigkeiten (ἀδικία) und Sünden (ἁμαρτία) vergibt, sich jedoch die Richterkompetenz grundsätzlich nicht streitig machen lässt. Die Lektüre des Magnificat lässt die begründete Vermutung zu, dass der Evangelist, ausgehend vom Zeugnis der LXX, die göttliche Barmherzigkeit als die entscheidende Komponente des atl. Bundesschlusses zwischen Gott und Israel versteht. So erinnert sich Gott an der Schwelle zum Anbruch seiner Herrschaft an die Barmherzigkeit, die er den Vätern geschworen hat, und setzt seine Rechtssatzungen durch, indem er sich barmherzig den Niedrigen und den Gott Fürchtenden annimmt, und im Zuge dessen die Mächtigen, Reichen und Stolzen abgestraft werden. Das Ineinandergreifen göttlicher Barmherzigkeit und
liche Realisierung von ח ֶסד,ֶ vermittels einer Orientierung an JHWH geschehen kann, aber nicht muss. Von Relevanz für eine ethische Bewusstseinsbildung, in der dem Begriff der ֶח ֶסדeine zentrale Bedeutung zukommen soll, ist vor allem die Nachahmung des in den biblischen Texten Erzählten: „In eine Lehrformel oder Weisung läßt sich eine solche Aufforderung dabei nicht zusammenfassen und vorlegen, es sein denn, man verzichtet auf die Berücksichtigung des lebendigen Erzählgeschehens und des (personalen) Geschehens zwischen den beteiligten Menschen.“ Gerade in diesem zwischenmenschlichen Geschehen eröffnet sich der Raum für die Realisierung der göttlichen Barmherzigkeit. Siehe W. Börschlein, Häsäd, 266: „Die Zuwendung und das ‚Wohlwollen‘ [häsäd] Jahwes wird durch Menschen für Menschen erfahrbar.“ Der Begriff ֶח ֶסדist somit immer kontextabhängig und W. Börschlein, Häsäd, 435 schlägt folgende Übersetzungen vor: „Zuwendung, Hilfe, Liebe, Lebensförderung, Solidarität, Gemeinschaftstreue, Loyalität, Wohlwollen, Gunst“. 52 H.‑J. Zobel, Art. ח ֶסד, ֶ 49 nennt folgende Verteilung der LXX Übersetzungsvarianten für ח ֶסד: ֶ ἔλεος (213mal), ἐλεημοσύνη (6mal), ἐλεήος (2mal), δικαιοσύνη (8mal), χάρις (2mal), δίκαιος (1mal), δόξα (1mal), ἐλπίς (1mal), τάξις (1mal), τἀ ὄσια (1mal), οἰκτιρμός (1mal), ἀντιλήμπτωρ (1mal), δικαιοσύνη καἰ ἔλεος (1mal). 53 I. e. „allen“. Ch. Dohmen, Exodus 19–40, 355 vermutet hier eine elliptische Formulierung und ergänzt „Generationen“, wodurch sich ein Gegenüber von den tausenden Generationen, die der Barmherzigkeit Gottes teilhaftig werden, und die drei bis vier Generationen, die die Strafe Gottes erdulden müssen, ergibt.
44
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
göttlicher Gerechtigkeit, das in den atl. Traditionen beschrieben wird, findet seine Wiederaufnahme in der Theologie des Evangelisten Lukas.54 „Diese im Motiv des barmherzigen Königsgottes vorliegende Verbindung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die die Frage nach der letztinstanzlichen, alle gesellschaftliche Realität transzendierenden Grundlage des Lebens zu beantworten suchte, ist ‚ein für die biblische Theologiegeschichte und ihren Gottesbegriff zentrales Ereignis‘.“55
Im Magnificat wird also an der Schwelle zur anbrechenden Gottesherrschaft die Erfüllung der göttlichen Bundeszusagen besungen, die untrennbar mit den Protagonisten56 der Heilsgeschichte einerseits und der Selbstoffenbarung Gottes als des Barmherzigen andererseits verbunden sind. Das Interesse des Evangelisten an der damit einhergehenden Veränderung der sozialen und gesellschaftlichen Realitäten nimmt einen zentralen Raum ein und ist dabei keine lk. Neuschöpfung, sondern eine Fortführung atl. Bundestheologie. Im Magnificat wird betont, dass Gott sich und seiner Selbstverpflichtung im Bundesschluss mit Israel treu bleibt. „Ἒλεος ist das Erbarmen Gottes mit Israel trotz aller geschichtlichen Diskontinuität dieses Verhältnisses.“57 Gott erweist sich als der Barmherzige und stellt damit eine Kontinuität zu den konstitutiven, heilsgeschichtlichen Grundlagen des Alten Testaments her. Indem die bevorstehende Geburt Jesu den kontextuellen Rahmen des Magnificat bildet, wird implizit deutlich gemacht, dass die Erfüllung atl. Heilsverheißungen in Form der anbrechenden Gottesherrschaft untrennbar mit der Person Jesu, dem Sohn des Allerhöchsten (Lk 1,32), verbunden sein wird. Die bevorstehende und mit Jesu Geburt einsetzende Zäsur der Heilsgeschichte ist in erster Linie aus der Perspektive der göttlichen Barmherzigkeit heraus zu verstehen, „In fact, these terms, and especially ‚mercy‘, point even further back, to the nature of God himself. The God Mary praises is the covenant-making God, the God who acts out of his own self-giving nature to embrace men and women in relationship. God remembers … and acts.“58
Diese Intention teilt auch das Benedictus.
54
sein.
55
Kurz gesagt könnte allein Ps 146 das sozialethische Programm des Evangelisten in nuce
B. Janowski, Barmherzige Richter, 57–58. ist die Betonung Abrahams, der als Einziger der Väter namentlich genannt wird. Eine Durchsicht durch das LkEv zeigt, dass der Evangelist die abrahamitische Abstammung als genealogisches Argument der Zugehörigkeit zu Israel kannte (vgl. Lk 1,55.73; 3,8; 13,16; 16,24.25.27.30). Die Verbindung zwischen der Selbstoffenbarung Gottes als der Barmherzige und dem Bundesschluss ist allerdings im Zusammenhang des Sinaibundes formuliert und nicht expressis verbis mit dem Bundesschluss zwischen Gott und Abraham (vgl. Gen 15,1–21; 17,1–27). 57 K. Löning, Gottes Barmherzigkeit, 238. 58 J. Green, Luke, 105. 56 Auffällig
3.2 Das Benedictus (Lk 1,67–79)
45
3.2 Das Benedictus (Lk 1,67–79) 3.2.1 Übersetzung (67a) Und Zacharias, sein Vater, wurde erfüllt vom Heiligen Geist (67b) und redete prophetisch und sprach: (68a) „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, (68b) weil er sein Volk besucht und [ihm] Erlösung schafft, (69a) und weil er uns das Horn des Heils aufrichtet (69b) im Haus Davids, seines Knechtes, (70a) wie er es durch den Mund seiner heiligen Propheten (70b) von Ewigkeit her gesprochen hat, (71a) [zur] Rettung aus der Hand unserer Feinde (71b) und aus der Hand aller, die uns hassen, (72a) um Barmherzigkeit an unseren Vätern zu erweisen (72b) und um seines heiligen Bundes zu gedenken, (73a) den Eid, den er Abraham, unserem Vater, geschworen hat, (73b) um uns zu ermöglichen, (74a) ihm furchtlos, aus der Hand unserer Feinde gerettet, (74b) zu dienen, (75a) in Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit (75b) vor ihm an allen Tagen unseres Lebens. (76a) Und du aber, Kindlein, wirst Prophet des Höchsten genannt werden, (76b) denn du wirst vor dem Herrn hergehen, um seine Wege zu bereiten, (77a) um seinem Volk Erkenntnis der Rettung zu vermitteln, (77b) in Vergebung ihrer Sünden (78a) durch die tief empfundene Barmherzigkeit unseres Gottes, (78b) mit welcher uns der Aufgang aus der Höhe besuchen wird, (79a) um denen zu erscheinen, die in Finsternis und im Schatten des Todes sitzen, (79b) um unsere Füße auf den Weg des Friedens zu setzen.“
3.2.2 Die Bundestreue Wie im Zusammenhang mit dem Magnificat bereits angedeutet, ist auch das Benedictus theologisch wie sprachlich auf das Engste mit der LXX verbunden.59 59
Verwiesen sei hier auf verschiedene Begrifflichkeiten, die die Identität Israels als Gottesvolk gerade im Lichte der atl. Traditionen unterstreichen: „κύριος ὁ θεὸς τοῦ Ἰσραήλ“ (Lk 1,68), „ὁ λαὸς αὐτοῦ“ (Lk 1,68), „ὁ κέρας σωτηρίας“ (Lk 1,69) „ὁ οἶκος Δαυίδ“ (Lk 1,69), „οἱ προφῆται αὐτοῦ“ (Lk 1,70.[76]), „οἱ πατέρες ἡμῶν“ (Lk 1,72), „ἡ διαθήκη ἅγια“ (Lk 1,72), „Ἀβραὰμ τὸν πατέρα ἡμῶν“ (Lk 1,73). Darüber hinaus lassen sich vielfach Querbezüge zwischen dem Benedictus und der LXX,
46
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Darüber hinaus sind Elisabeth und Zacharias auf der narrativen Ebene des LkEv als Charaktere beschrieben, die sich nach atl. Maßstäben gegenüber Gott in hervorragender Weise als bundestreu erweisen (vgl. Lk 1,6) und somit, nach Maßstäben der LXX, als idealisierte Repräsentanten des Gottesvolkes dargestellt werden.60 Zugleich werden sie als Eltern des Täufers, der als Wegbereiter Gottes (vgl. Lk 1,17) wirken soll, in die heilsgeschichtliche Zäsur, die bereits im Zusammenhang mit dem Magnificat beschrieben wurde, eingebunden. So unterstreicht der Evangelist durch die Charakterisierung Elisabeths und Zacharias’ sowie durch die Zuschreibung der Rolle, die dem Ehepaar in der lk. Narration zukommt, dass die mit Jesus anbrechende Gottesherrschaft eine bruchlose Fortentwicklung der atl. Heilsgeschichte darstellt. Eine Fortentwicklung, die nicht zuletzt auf Bundestreue aufbaut; auch auf die Bundestreue Gottes gegenüber seinem Volk. Die Rückverweise auf die rettenden Heilstaten Gottes an Israel und die Erinnerung an die Heilsverheißungen aus dem Munde der heiligen Propheten (Lk 1,70b) werden summarisch darin zusammengefasst, dass Gott an den Vätern seine Barmherzigkeit erwiesen hat (ποιεῖν ἔλεος [Lk 1,72a]). Dieser tätige Erweis göttlichen Erbarmens ist, ganz im Sinne der atl. Diktion, mit dem Bundesschluss in Relation gesetzt, wobei der Bund einerseits als heilig, andererseits als Gottes eigene Tat qualifiziert wird (διαθήκη ἁγίας αὐτοῦ [Lk 1,72b]), was schlussendlich auf die freie Selbstverpflichtung Gottes verweist. Interessant ist das Zusammenfallen von „Barmherzigkeit“ und „Bund“, worin genau das Schema von Ex 34,6–7 widergespiegelt wird, ebenso wie die Rede von der Erinnerung an den Bundesschluss einerseits atl. Sprachgebrauch abbildet,61 andererseits als ein synonymer Parallelismus zu Lk 1,54b zu gelten hat. Die Verpflichtung, die Gott gegenüber Israel eingegangen ist, wird als Eid (ὅρκος [Lk 1,73a]) verstanden, dessen Einhaltung Gott gegenüber Abraham geschworen (ὀμνύειν [Lk 1,73a]) hat. Hierin drückt sich grundsätzlich die äußerste Form von Verbindlichkeit aus, wobei ein durch die Bundestreue Gottes sei es in Form von Zitaten, sei es in Form von Paraphrasen, beobachten. Als Beispiele seien hier genannt: Lk 1,73: Gen 26,3; Dtn 7,12; Jer 11,5; Mi 7,20. Lk 1,76: Jes 40,3; Mal 3,1. Lk 1,78: Sach 3,8; 6,12; Jer 23,5. Lk 1,79: ψ 106,10.14; Jes 9,1; 42,7. Allen diesen atl. Texten ist ein Heil verheißender Charakter gemeinsam. M. Wolter, Lukasevangelium, 111 schlussfolgert: „Wie das Magnifikat ist auch das Benedictus collageartig aus sprachlichen Versatzstücken zusammengesetzt, die aus dem AT stammen […].“ 60 Neben der in Lk 1,6 formulierten Charakterisierung wird dieser Eindruck dadurch verstärkt, dass Elisabeth dergestalt skizziert wird, dass sie Assoziationen an Sara (vgl. Gen 17– 18) und an Hanna (1Sam 1–2) weckt. Aufseiten Zacharias’ evoziert seine Tätigkeit als Priester, der durch göttlichen Losentscheid zum Opferdienst erwählt wird (vgl. Lk 1,9), eine besondere göttliche Wertschätzung ihm gegenüber. 61 Vgl. beispielsweise Gen 9,15–16; Ex 2,24; Lev 26,42.45; Ez 16,60; ψ 104,8–9; 105,45– 46, 110,5; 1Makk 4,10; 2Makk 1,2–4.
3.2 Das Benedictus (Lk 1,67–79)
47
motiviertes göttliches Eingreifen in die Geschichte nach der Darstellung des Benedictus stets zu Freiheit für das Gottesvolk führt; sei es die Befreiung von Feinden (vgl. Lk 1,74a), sei es freie Religionsausübung (vgl. Lk 1,74b) oder auch Freiheit von all den Dingen, die der Heiligung des Volkes entgegenstehen würden (vgl. Lk 1,75a). Ebenso wie im Zusammenhang des Magnificat muss im Hinblick auf das Benedictus die Frage gestellt werden, ob der Blick auf das befreiende Wirken Gottes an Israel auf die Vergangenheit zurück- oder auf die Zukunft ausgerichtet wird oder ob beide Perspektiven infrage kommen könnten. Eine Zusammenschau beider Perspektiven wäre insofern denkbar, als dass, gerade im Zusammenhang mit Lk 1,72a, implizit an rettende göttliche Interventionen im Laufe der Geschichte Israels erinnert wird, sodass das nun anstehende Rettungshandeln, dessen Wegbereiter Johannes sein wird, in eine Reihe mit den Rettungserfahrungen der Vergangenheit gestellt wird. Wäre ein solch historischer Rückblick intendiert, dann wären die zu Beginn des Benedictus begegnenden, im Aorist formulierten Taten Gottes, durch die dessen rettendes und helfendes Handeln zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Lk 1,68a–69b) allesamt im Deutschen durch ein Vergangenheitstempus wiederzugeben. Dies wäre auch dann der Fall, wenn der Besuch Gottes, das Stiften der Erlösung und das Aufrichten des Horns des Heils durch die Geburt des Johannes realisiert worden wäre. Bezieht man jedoch in die Überlegungen die Rede Gabriels gegenüber Zacharias (Lk 1,11–17) mit ein, dann wird deutlich, dass Gottes heilvoller Besuch, für den Johannes das Volk zurüsten soll, zum Zeitpunkt der Geburt noch aussteht. Allenfalls ist mit der Geburt des zukünftigen Täufers der erste Schritt zur Realisierung der Gottesbegegnung getan.62 Das Benedictus markiert aller Wahrscheinlichkeit nach, ebenso wie das Magnificat, den Beginn der oben beschriebenen heilsgeschichtlichen Zäsur und blickt grundsätzlich perspektivisch in die Zukunft; eine Zukunft, die durch die Begegnung Gottes mit seinem Volk geprägt ist, und deren Realisierung mit der Geburt des Täufers beginnt. Der Blick zurück auf die Vätergeneration, auf Abraham und den Bundesschluss macht deutlich, dass nun die im Alten Testament begegnenden, im Rahmen des Bundesschluss formulierten Heilsverheißungen jetzt ihrer Erfüllung zustreben.63 Interessant ist, dass die göttliche Rettungstat als notwendige Bedingung für Israels furchtloses Dienen (λατρεύειν [Lk 1,74b]) gegenüber Gott in Rechtschaffenheit (ὁσιότης [Lk 1,75a]) und Gerechtigkeit (δικαιοσύνη [Lk 1,75a]) 62 J. Nolland, Luke 1, 91 misst der Rolle des Täufers ein deutlich größeres Gewicht zu und interpretiert das Reden über Jesus und Johannes im Benedictus als funktional „to establish the nature of their partnership in the bringing of salvation.“ 63 Wie im Magnificat dürfte es sich dann auch in Lk 1,68–69 um die Verwendung eines proleptischen Aorists oder, im Verweis auf das in der Geschichte stets wiederkehrende rettende Handeln Gottes, um einen gnomischen Aorist handeln; vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 199 k und § 199 l.
48
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
verstanden wird. Es bedarf also nicht nur des erwählenden, sondern auch des rettenden Handelns Gottes, um eine auf Dauer angelegte (πᾶσαι αἱ ἡμέραι [Lk 1,75b]), rechtschaffene Gottesbeziehung des Volkes Israel zu ermöglichen. „λατρεύειν will hier sicher nicht im engen kultischen Sinn verstanden werden, sondern kennzeichnet in komprehensiver Weise die Gesamtheit der exklusiv auf Gott bezogenen Existenzorientierung Israels […].“64 Dieses System wird in der zweiten Hälfte des Benedictus wieder aufgegriffen, indem die Rettung des Volkes Israel durch das göttliche Eingreifen beschrieben wird (vgl. Lk 1,78– 79), wobei dem Täufer die Aufgabe zukommt, dieses Eingreifen Gottes vorzubereiten (vgl. Lk 1,76–77). Die im Benedictus besungene heilsgeschichtliche Zäsur ist also durch das wirkmächtige Handeln Gottes geprägt, vermittels dessen die an die Vätergeneration ergangenen Bundesverheißungen zur Realisierung kommen. Bemerkenswert ist dabei, dass Gott in Erinnerung an seinen Eid gegenüber Abraham nicht nur sein eigenes Verhalten auf die genannte Realisierung hin ausrichtet, also seinen Teil der im Bundesschluss eingegangenen Verpflichtungen erfüllt, sondern darüber hinaus in einer Art und Weise tätig wird, die auch sein Volk dazu befähigt, bundestreu zu werden. Es ist also allein der Initiative und dem Handeln Gottes zu verdanken, dass die Geschichte Gottes mit seinem Volk eine, nach Maßgabe der im Bundesschluss eingegangenen Verpflichtungen, positive Fortentwicklung erfährt; eine Fortentwicklung, die nach Aussage des Benedictus als eine soteriologische Transformation der Geschichte verstanden werden kann. Auf der Schwelle zu dieser Transformation kommt Johannes dem Täufer eine Schlüsselrolle zu.
3.2.2.1 Die Aufgabe des Täufers Dem Täufer wird durch sein, das Kommen Gottes vorbereitendes Handeln eine soteriologisch wichtige Funktion zugemessen, an der sich Charakteristisches der nahe bevorstehenden Theophanie ablesen lassen soll. So wird dem Täufer aufgetragen, den Weg des Herrn dadurch vorzubereiten (ἑτοιμάζειν [Lk 1,76b]), dass er dem Volk Israel zur Erkenntnis des Heils65 verhelfen soll, indem er dem Volk die Sünden vergibt (vgl. Lk 1,77b). Vermittels der Sündenvergebung werden die Menschen auf die Ankunft Gottes vorbereitet und wird der Weg gebahnt, der Gott zu den Menschen führen wird. Dieser Auftrag an Johannes steht im Zusammenhang mit der Ankündigung Gabriels (vgl. Lk 1,13–17) und mit dem Wirken des Täufers (vgl. Lk 3,1–22). Gabriel betont die Umkehr, die Jo64 M. Wolter, Lukasevangelium, 114. Er verweist hierbei zudem auf Lk 2,37; Act 24,14; 26,7; 27,23. 65 Siehe F. Bovon, Lukas 1, 108: Γνῶσις „ist kein rein intellektuelles Wissen, da sie aus der existentiellen Erfahrung der Vergebung quillt und aus einer lebendigen Beziehung mit Gott als Frucht der gepredigten Buße entspringt.“ Ähnlich äußert sich M. Wolter, Lukasevangelium, 116: „[Γ]νῶσις ist darum hier als Bekehrungsbegriff zu verstehen.“ Anders: H. Klein, Lukasevangelium, 125.
3.2 Das Benedictus (Lk 1,67–79)
49
hannes in den Menschen auslösen soll (ἐπιστρέφειν [Lk 1,16.17]). Diese soll sowohl die Relation der Menschen zu Gott (vgl. Lk 1,16) als auch die Relation der Menschen untereinander, zum einem im engen familiären Kontext (vgl. Lk 1,17), zum anderen im weiteren gesellschaftlichen Bezug (vgl. Lk 1,17) verbessern, wodurch das ganze Volk Israel gut auf die Ankunft Gottes vorbereitet sein wird (κατασκευάζεσθαι [Lk 1,17]).66 Das Auftreten des Täufers selbst ist durch einen schroffen Tonfall geprägt, der die Notwendigkeit der büßenden Umkehr (μετάνοια [Lk 3,8]) noch dadurch unterstreicht, dass er die genealogische Abstammung Israels von Abraham nicht als heilssuffizient anerkennt (vgl. Lk 3,7–8). Die „Früchte der Buße“ (vgl. Lk 3,8.9), die er einfordert, sind in erster Linie ethisch konnotiert (vgl. Lk 3,10–14) und dienen dazu, dem göttlichen Zorngericht (vgl. Lk 3,7.9.14) zu entrinnen.67 Indem die Vergebung der Sünden durch den Täufer und die Motivation zur Umkehr als Erweis der göttlichen Barmherzigkeit gesehen werden (vgl. Lk 1,78), skizziert der Evangelist anhand der Figur des Täufers ein Konzept, das die barmherzige Zuwendung Gottes zu den Menschen auch auf dem Hintergrund seines strafenden Gerichtshandelns zur Sprache bringt.68 Damit ist eine thematische Klammer zur „rettenden Gerechtigkeit“ Gottes, wie sie in Form der Umkehrung der Verhältnisse auch schon im Magnificat formuliert wurde, geschlossen.
3.2.2.2 Die Barmherzigkeit Gottes im Benedictus Die erwartete Theophanie wird als ein Besuch, eine Visitation69 beschrieben, wobei durch den Gebrauch des Deponens ἐπισκέπτεσθαι (Lk 1,78b) eine Klammer zum Beginn des Benedictus geschaffen wird. In Lk 1,68b wird ebenfalls unter Verwendung von ἐπισκέπτεσθαι die Erinnerung an das rettende und heilsstiftende Handeln Gottes eingeleitet, auf das in Lk 1,69–75 angespielt wird. Der Evangelist macht deutlich, dass die Visitationen Gottes in Israel Erlösung 66 Anklänge
an die atl. Bundestheologie sind insoweit erkennbar, als dass beispielsweise die beiden Tafeln des Dekalogs (Ex 20,2–17) normative Regelungen hinsichtlich der Gottesund der Nächstenbeziehung des Einzelnen aufweisen. Diese Doppelstruktur begegnet auch im sich anschließenden „Bundesbuch“ (vgl. Ex 21–23). 67 Das Auftreten und die Intention des Täufers weisen Analogien zum Auftreten des Propheten Samuel in 1Sam 7,2–6 auf, wodurch abermals die Samueltradition mit der Figur des Täufers in Zusammenhang gebracht wird. 68 Spätestens in Lk 7,18–23 zeigt sich die Differenz zwischen der Messiaserwartung des Täufers und dem Wirken Jesu, ungeachtet der Tatsache, dass auch Jesus selbst apokalyptische Gerichtsszenarien entwirft. Die von der Tradition geprägte Unterordnung des Täufers unter Jesus ist ein Thema, das im Laufe der Acta noch mehrfach begegnen wird (vgl. Act 13,24–25; 18,24–28; 19,1–7). 69 Die Bedeutungsnuancen des Verbs „ἐπισκέπτεσθαι“ (Lk 1,79) reichen von „besuchen“ über „mustern“ bis hin zu „heimsuchen“; vgl. W. Bauer/K . Aland, Wörterbuch, 604–605. Die Wiedergabe im Deutschen dürfte abhängig sein von der Autorität und der Intention des Handlungssubjekts.
50
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
(λύτρωσις [Lk 1,68b]) gebracht haben. An diese Kette von befreienden Ereignissen in der Heilsgeschichte knüpft die bevorstehende Begegnung zwischen Gott und seinem Volk an, wobei nun eine Steigerung in Form der messianischen Sendung erwartet wird. Diese wird durch die Ankunft des „(Sonnen-)Aufgangs aus der Höhe“ beschrieben. Die Rede von einer „ἀνατολὴ ἐξ ὕψους“ (Lk 1,78b) kann unter Rückgriff auf Sach 3,8; 6,12; Jer 23,5 (je LXX) als messianische Formel verstanden werden,70 wodurch deutlich wird, dass die Offenbarung Gottes in der Sendung des Messias geschehen wird.71 Die Verbindung der Ankunft des Messias mit einer Lichtmetaphorik wird in Lk 1,79a unter Rückgriff auf Jes 9,1; ψ 106,10.14 weitergeführt und die lebensspendende Vollmacht des erwarteten Retters unterstrichen. Den Abschluss der Messiaserwartung bildet die Hoffnung auf die Friedenszeit, die mit der Ankunft des Messias anbrechen soll (vgl. Lk 1,79b). „Der Friede ist der harmonische Zustand des von den Feinden geretteten und in der Gemeinschaft mit Gott lebenden Volkes.“72 Der Gebrauch der 1. Pers. Pl. schafft eine Identifikation mit dem Volk Gottes, auf das der Täufer in Wegbereitung für den Messias verwiesen ist, und nimmt nicht nur die Personen auf der narrativen Ebene, sondern auch die Leser mit hinein in das anbrechende Heilsgeschehen, das durch den Messias realisiert werden soll. Die Vorbereitung des Volkes durch den Täufer, die in Form der Sündenvergebung geschehen soll, und die Sendung des Messias, durch welchen eine Ära des Lebens und des Friedens anbrechen wird, sind nach den Aussagen des Benedictus jeweils auf dieselbe Handlungsmotivation Gottes zurückzuführen: „διὰ σπλάγχνα ἐλέους θεοῦ ἡμῶν“ (Lk 1,78).73 70 M. Wolter, Lukasevangelium, 117 fasst die Diskussion um diesen Begriff und die Verweise auf Referenztexte zusammen: „Also: referentiell verweist ἀνατολή auf die Sendung Jesu; signifikativ bezeichnet der Begriff das von Gott her kommende Heil, und traditionsgeschichtlich angeknüpft wird an alttestamentlich-jüdische Lichtmetaphorik […]. Dass hier nicht vom ‚Licht‘ allgemein, sondern in einschränkender Weise von seinem ‚Aufgang‘ gesprochen wird, könnte mit der semantischen Konnotation dieses Begriffs zusammenhängen, denn er markiert den Übergang von der Finsternis zum Licht […] und akzentuiert damit die Sendung Jesu gezielt als wahrnehmbaren Beginn der eschatischen Heilszeit.“ Ähnlich argumentieren F. Bovon, Lukas 1, 109; J. Green, Luke, 119; D. Bock, Luke I, 191–192. Anders W. Radl, Lukas I, 99–101: Hier wird Gott mit dem Begriff „ἀνατολή“ gleichgesetzt. Zur atl. und frühjüdischen Verwendung der Terminologie vgl. auch J. Nolland, Luke 1, 90. 71 Anders Th. Kaut, Befreier, 200: Er liest das Benedictus dergestalt, dass der Täufer selbst der „Aufgang aus der Höhe“ sein soll und verortet die messianische Würde, die Johannes somit zugeschrieben wird, in der Täufertradition, die den Ursprung des Benedictus bilden soll. Die messianische Würde des Täufers, die im Benedictus ausgedrückt sein soll, geht nach Th. Kaut, Befreier, 201 so weit, dass der Zuspruch der Sündenvergebung durch Johannes „keinen Raum mehr für eine mögliche Heilsmittlerschaft eines Messias Jesus“ lassen würde. 72 F. Bovon, Lukas 1, 110. 73 Auf der sprachlichen Ebene findet die Vernetzung zum Handeln des Täufers durch die Partikel „διά“ statt, die Verbindung zur Sendung des Messias geschieht durch das Relativpronomen „ἐν οἷς“, welches sich auf die „σπλάγχνα“ bezieht. Th. Kaut, Befreier, 190 spricht in
3.2 Das Benedictus (Lk 1,67–79)
51
Grammatisch gesehen ist die Formulierung σπλάγχνα ἐλέους ein genitivus qualitatis,74 durch den das tiefgreifende, das ganze Wesen Gottes bewegende Erbarmen beschrieben wird. Der Ausdruck ist eindeutig frühjüdischer Provenienz.75 „Die Formulierung σπλάγχνα ἐλέους findet sich in TestSeb 7,3; 8,2.6 als Tugend der Frommen (s. auch 1QS 1,22; 2,1; 4Q403 1 I,23; 4Q405 3 II,15; Kol 3,12: σπλάγχνα οἰκτιρμοῦ). Aufs Ganze gesehen findet der in VV. 77–78a zum Ausdruck gebrachte theologische Zusammenhang auch in sprachlicher Hinsicht seine engste Verbindung in OrMan 7 […].“76
Diesem Aspekt des anthropomorphen Gottesbildes liegt ein Verständnis zugrunde, das die Emotionen verschiedenen Organen des Körpers zuordnet bzw. das die einzelnen Organe sinnbildlich als Sitz der Emotionen bezeichnet.77 So können die Nieren als Ort des guten oder schlechten Gewissens verstanden werden, das auch von Gott geprüft werden kann.78 Die Nase kann ein Ventil für die Wut sein,79 die Galle als Sitz der Verbitterung verstanden werden und die Leber als Heimat des Zorns.80 Das Herz ist in der atl. Anthropolgie als Ort vielfältiger Emotionen, aber auch der Ratio bekannt.81 Indem das Erbarmen in den Organen in ihrer Gesamtheit (σπλάγχνα)82 verortet wird, wird das innere Erfüllt-Sein des Subjekts durch die Barmherzigkeit beschrieben.83 Der Einzelne ist durch und durch von dem Gefühl des Erbarmens für ein Gegenüber ergriffen und kann sich dieser Emotion auch nicht entziehen, da er sich natürlich nicht von seinen Organen trennen kann. Es soll zum Ausdruck gebracht werden, dass diese Qualität von Barmherzigkeit gewissermaßen körperlich spürbar wird und ein innerer Drang erwächst, diese Emotion in Form einer barmherzigen Zuwendung für das Gegenüber wirksam werden zu lassen. Die innere Bewegtheit fordert eine äußerliche Aktivität, andernfalls wird der von Bezug auf V. 78a von einer „Achse, die die beiden Textteile VV 76–77 und VV 78b–79 verbindet und zusammenhält.“ 74 Vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 162. 75 W. Radl, Lukas I, 99, macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Kombination der hebräischen Begriffe ֶח ֶסדund ַר ֲח ׅמיםim Griechischen durch σπλάγχνα ἐλέους wiedergegeben wird. 76 M. Wolter, Lukasevangelium, 116. 77 Allgemein das Innere als Sitz der Emotionen vgl. beispielsweise Hiob 32,19; ψ 5,10, Hhld 5,4. Aufschlussreich ist TestNaf II,8. 78 Vgl. beispielsweise ψ 16,7; 26,2, 73,21; Jer 11,20; 17,10. 79 Vgl. beispielsweise 2Sam 22,9; ψ 106,40; 124,3. 80 Vgl. TestGad V,9–11; TestNaf II,8; (TestRub III,4; TestSim II,7). 81 Vgl. Th. Krüger, Herz,103–118. 82 Vgl. TestSim II,4. Die Rede von den σπλάγχνα ist im Griechischen ebenso schillernd wie die äquivalente Rede von ֶר ֶחםim Hebräischen: In beiden Sprachen kann Barmherzigkeit, Innereien/Innerstes, aber auch der Mutterschoß gemeint sein. 83 Dies gilt sowohl für Gott als auch für den Menschen. A. Wagner, Anthropopathismen, 110 betont, dass „das ganze System des sprachlichen emotional-affektiven Ausdrucks in der Sphäre der Gottesrede […] und der Sphäre der Menschenrede dasselbe ist.“
52
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Erbarmen Bewegte nicht zur Ruhe kommen. Die enge Verbindung von Emotionen und Organen kann als sensible Beschreibung der Erfahrung verstanden werden, dass Emotionaliät den Menschen als Ganzen, als leib-seelische Einheit beansprucht und beeinflusst. Die anthropomorphe Beschreibung Gottes, die von den von Barmherzigkeit bewegten göttlichen „σπλάγχνα“ spricht, misst dem Einfluss der Emotionen auf das Wesen Gottes eine hohe Bedeutung zu. Gott selbst wird durch sein Erbarmen innerlich förmlich umgetrieben und kanalisiert dieses Erbarmen in konkreten Taten der Barmherzigkeit an seinem Volk. Dem inneren Antrieb folgt eine äußerliche Tat. Diese besteht nach Lk 1,76–78 nun einerseits in der Sendung des Propheten Johannes, der die Menschen durch die ihm verliehene Möglichkeit zur Sündenvergebung zur „Erkenntnis des Heils“ führt und somit den Weg des Herrn bereitet. Andererseits ist die Sendung des Messias, des „Aufgangs aus der Höhe“ Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes mit den Menschen. Der Messias soll dem Volk Gottes Leben und Frieden bringen.
3.3 Magnificat, Benedictus und der Psalter Salomos84 Für die Analyse der Anknüpfungen an atl. Traditionen, die der Evangelist vorgenommen hat, lohnt sich ein näherer Blick in die Schriften, die nicht in der hebräischen Version des Alten Testaments Eingang gefunden haben. Da sowohl das Magnificat als auch das Benedictus eine Adaption der atl. Psalmen darstellen, rücken neben dem Textcorpus des Psalters auch die Psalmen Salomos ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ebenso wie die lk. Hymnen sind die PsSal geprägt von der Vorstellung der Durchsetzung der göttlichen Gerechtigkeit, die im Zusammenhang mit der Bundestheologie steht, und darüber hinaus wird die Erwartung der Ankunft eines davidischen Messias lebendig gehalten (vgl. PsSal 17). Der größte Unterschied besteht darin, dass die PsSal das erhoffte Rettungshandeln Gottes in der gewaltsamen Vernichtung der Feinde Israels erkennen,85 ein Charakterzug, der in seiner drastischen Ausführung weder im Magnificat noch im Benedictus begegnet. Die Hoffnung auf die Umkehrung der sozialen Verhältnisse, wie sie im Magnificat formuliert ist, ist nicht zu vergleichen mit dem kriegerischen Tonfall, der in den PsSal begegnet. Der historische Hintergrund dürfte in erster Linie die Eroberung Jerusalems durch Pompeius gewesen sein.86 84
Zugrunde liegt die kritische Textausgabe von R. B. Wright, The Psalms of Solomon. Vgl. beispielsweise PsSal 4,19–22; 12,4; 15,4–5.7–12; 17,22–24. PsSal 2,19–27 ist ein direkter Rekurs auf Pompeius, der Jerusalem im Jahr 63 v. Chr. eroberte und 48 v. Chr. in Ägypten ermordet wurde. Ebenso ist PsSal 8,11–19 eine Anspielung auf Pompeius, der das Allerheiligste des Tempels betreten hatte; vgl. auch J. Schüpphaus, Die Psalmen Salomos, 25.45–46. 85 86
3.3 Der Psalter Salomos
53
Das Gottesbild, das in den PsSal skizziert wird, ist durch das Miteinander von der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Gottes geprägt.87 Dabei spielt die Bundesverpflichtung, die Gott mit Israel eingegangen ist, eine zentrale Rolle. So werden diejenigen, die hinsichtlich ihrer Bundestreue und der damit einhergehenden Gesetzesobservanz als Gerechte gekennzeichnet werden, von Gott geschützt und mit dem ewigen Leben belohnt, während die Frevler der ewigen Strafe Gottes anheim gestellt werden.88 Dabei wird allerdings anerkannt, dass auch die Gerechten nicht ausschließlich gute und gottgefällige Taten vollbringen, sondern sich ebenso verfehlen können. Der Unterschied zu den Ungerechten besteht darin, dass Gott die Verfehlungen der Gerechten straft, um sie zu sühnen und dass sich die Gerechten die Erziehung durch Gott gerne gefallen lassen,89 ein Wesenszug, der auch in den weisheitlichen Texten begegnet.90 Eine auffällige Parallele zu Lk 12,47–48 stellt in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von den in Unwissenheit (ἄγνοια [PsSal 13,7]) begangenen Übertretungen des göttlichen Willens gegenüber den wissentlich begangenen dar. Erstere werden nicht so streng geahndet und die Strafe dient zur Besserung. „Die Barmherzigkeit Gottes besteht nach den PsSal demzufolge darin, die Verfehlungen der Gerechten nicht zu deren Vernichtung anzurechnen, sondern ihre Wege durch Züchtigung und Beseitigung der Sünden wieder geradezumachen.“91 Doch ist die Barmherzigkeit Gottes nicht nur Motivation und Grundlage zur Erziehung der Gerechten. Folgende Begriffe begegnen im Psalter Salomonis im Zusammenhang mit dem göttlichen Erbarmen: τὸ ἔλεος (22-mal),92 ἐλεῖν (7-mal),93 ἐλεήμων (3-mal),94 ἐλεημοσύνη (2-mal),95 ἡ ἡμέρα ἐλέους (2-mal),96 χρηστός (5-mal),97 χρηστότης (7-mal),98 χρηστεύεσθαι (1‑mal),99 οἰκτίρειν (3-mal).100 So ist die Rede von der Barmherzigkeit Gottes vielmehr das Fundament der Solidarität und der Zuwendung Gottes zu seinem Volk im 87 Vgl. 88 Vgl.
J. Schröter, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, 563–564. paradigmatisch PsSal 3,11–12 und 14,3–4.9–10; daneben auch PsSal 2,32–37; 4,14–25; 7,5; 8,14–15.23–43; 9,1–3; 12,4–6, 13,11; 15,4–5.8–13; 17,7–10.22–24. 89 Vgl. PsSal 3,4; 7,3.9; 8,26.30; 9,6–7; 10,1–3; 13,5–10; 14,1–2; 16,1–4.11; 18,7. 90 Vgl. beispielsweise Prov 10,17; 12,1; 13,1.8.24; SapSal 3,5. 91 J. Schröter, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, 569. 92 PsSal 2,8.33.36; 4,25; 5,12.15; 6,6; 8,27.28; 9,8; 10,3.4; 11,9; 13,12 (2-mal); 14,9; 16,3.6; 17,3.45; 18,1.3. 93 PsSal 2,35; 7,6.10; 10,6; 11,1; 16,15; 17,9. 94 PsSal 5,2; 7,5; 10,7. 95 PsSal 9,11; 15,13. 96 PsSal 18,5.9. 97 PsSal 2,36; 5,2.12; 8,32; 10,2. 98 PsSal 5,14.15.18; 8,28; 9,7; 10,7; 18,1. 99 PsSal 9,6 in nach textkritischer Analyse gegen den bei R. Wright wiedergegebenen griechischen Obertext; jedoch in Übereinstimmung mit der englischen Wiedergabe von R. Wright und der deutschen Übersetzung durch W. Kraus und M. Karrer. 100 PsSal 7,8; 8,27; 9,8.
54
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Allgemeinen und zu den Armen und Unterdrückten im Besonderen. Hierin findet sich nun die größte thematische Nähe zum lk. Gedankengut, wie es in den beiden Hymnen Magnificat und Benedictus entfaltet und im weiteren Verlauf des LkEv fortgeführt wird. In PsSal 2,32–37 wird den Mächtigen (οἱ μεγιστᾶνες [PsSal 2,32]) der Erde Gottes Gerichtshandeln angekündigt, durch welches diejenigen, die Gott fürchten (οἱ φοβούμενοι τὸν κύριον [PsSal 2,33]),101 am Erbarmen (τὸ ἔλεος [PsSal 2,33]) anteilig werden, während den Sündern gemäß der von ihnen verursachten Unterdrückung vergolten wird (vgl. PsSal 2,35). Im Hinblick auf das barmherzige, helfende Handeln Gottes ist der Gedanke, dass Gott gegenüber allen, die sich an ihn wenden, milde (χρηστός [PsSal 2,36]) ist und sie in Kraft wieder aufrichtet (παριστάναι [PsSal 2,36]), von zentraler Bedeutung. Diese Heilsaussagen, die mit dem Anbruch der Gottesherrschaft verbunden werden, Gott wird in PsSal 2,32 als βασιλεύς bezeichnet, finden einen analogen Widerhall im Magnificat. Hier wie dort werden die Mächtigen entmachtet und Gott erweist sein Erbarmen gegenüber denen, die ihn fürchten und sich hoffnungsvoll an ihn wenden. Der PsSal 5 bezeichnet Gott als Zufluchtsort für die Armen (ἡ καταφυγὴ τοῦ πτωχοῦ [PsSal 5,2]), womit ein Themenkreis angeschnitten ist, der nicht nur im Magnificat, sondern im gesamten lk. Doppelwerk eine herausragende Rolle spielt. Eben in der Zuwendung Gottes zu den Armen und Niedrigen (vgl. PsSal 5,2.11.12) erfüllt er seine Bundeszusagen und erweist er sich als der Barmherzige. Das Hendiadioyn „χρηστὸς καὶ ἐλεήμων“ (PsSal 5,2)102 unterstreicht das Erbarmen als wichtigen Wesenszug Gottes, wobei das Lob der Milde Gottes den cantus firmus des Psalms darstellt (vgl. PsSal 5,2.12.14.15). Die göttliche Fürsorge, die ein tätiger Erweis seiner Barmherzigkeit ist, prägt den gesamten PsSal 5 und äußert sich nicht zuletzt in der Versorgung von Menschen und Tieren mit Nahrung (vgl. PsSal 5,8–12.14);103 ein Gedanke, der auch in Lk 1,53; 6,21 und nicht zuletzt in Lk 12,22–34 von Bedeutung ist. „Gottes Erbarmen, sein Wohlverhalten und seine Güte gelten der ganzen Schöpfung.“104 Auffallend ist der Gedanke der Hochschätzung der Mäßigung (vgl. PsSal 5,16–17), der auch in der hellenistisch-römischen Philosophie eine wichtige Rolle gespielt hat.105 Bei Lukas begegnet keine ausdrückliche Parallele, allerdings kennt er das Phänomen, dass Maßlosigkeit und Prasserei zur Sünde führen können (vgl. Lk 15,11–19; 16,19–31). 101 Diese Formulierung begegnet auch in PsSal 13,12; 15,13; sowie in Abwandlung in PsSal 6,5; 18,8.9.11. 102 Diese Formulierung begegnet auch in PsSal 10,7. 103 Hierin ergibt sich eine enge Anbindung an Ps 103(104),10–28. 104 J. Schüpphaus, Die Psalmen Salomos, 87. 105 Vgl. beispielsweise Aristoteles’ Ideal des rechten Maßes oder in nahezu satirischer Ausführung Cicero, Fin.Bon.Mal. 2,23.
3.3 Der Psalter Salomos
55
Die Fürsorge Gottes für die Armen in PsSal 10,6–8106 sowie seine Charakterisierung als „χρηστὸς καὶ ἐλεήμων“ (PsSal 10,7) sind analog zu dem Lobpreis in PsSal 5 angelegt. Darüber hinaus fällt auf, dass die Zuwendung Gottes zum Einzelnen in PsSal 10,1 ebenfalls eine Strukturanalogie zu PsSal 5 aufweist: In beiden Psalmen wird die Zuwendung Gottes mit dem Verb „μνησθῆναι“107 beschrieben, wobei in PsSal 10,4 das Erinnern Gottes an seine Knechte ganz im Sinne der Bundestheologie durch Barmherzigkeit geprägt ist. Zudem ist in beiden Psalmen derjenige, an den sich Gott erinnert, selig zu preisen (μακάριος [PsSal 5,16; 10,1]).108 Das Handeln Gottes an den Genannten ist dabei nicht durch Überfluss o. ä. geprägt, sondern drückt sich zum einen durch Mäßigung (PsSal 5,16) und zum anderen durch Zucht (PsSal 10,1) aus. Die sich in asketisch anmutenden Zügen ausdrückende göttliche Zuwendung entspricht in der Logik der PsSal schlussendlich einer lebensförderlichen Qualität, da sie den Einzelnen in seinen Lebensvollzügen enger an den Willen Gottes anbindet. Sowohl im Magnificat als auch im Benedictus begegnet die Rede von der Zuwendung Gottes zu den Menschen in Form des Erinnerns (vgl. Lk 1,54.72) und auch bei Lukas erwachsen daraus Konsequenzen, die das Gottesverhältnis der Menschen verbessern (vgl. Lk 1,54.73–75). Während auch Lukas die Seligpreisungen gegenüber all jenen kennt, die sich der Zuwendung Gottes freuen können (Lk 1,48; 6,20–23), fehlt bei ihm in diesen Zusammenhängen die explizite (pädagogische) Strenge. Wie oben bereits erwähnt, thematisiert PsSal 7 die Züchtigung, durch die das Volk Israel zurechtgewiesen wird (vgl. PsSal 7,3.9), als eine Form der Erziehung (παιδεύειν [PsSal 7,3]), die als ein Privileg erachtet wird, das mit dem Erbarmen Gottes verbunden ist. „However, the most significant answer of the PssSol to the question how atonement is accomplished is the reference to the παιδεία-concept as the key transition from the sphere of sin to the sphere of rightoeusness. As in some passages within wisdom literature, discipline in mercy is the alternative to wrathful death and destruction (Wis 11:9; 12;22; Sir 23:2f ).“109
Von Bedeutung ist dabei die Überzeugung, dass die barmherzige Zuwendung (οἰκτίρειν [PsSal 7,8]) Gottes zu Israel (τὸ γένος Ἰσραήλ [PsSal 7,8])110 zeitlich unlimitiert ist (εἰς τὸν αἰῶνα [PsSal 7,8]). Diese Gewissheit der ewig andau106
pe ist.
Vgl. auch PsSal 15,1; 18,2, wobei in PsSal 15,1 die Armen die angefeindete Wir-Grup-
107 So auch PsSal 16,6. Hier ist die erinnernde Zuwendung Gottes zum Menschen allerdings allein auf das Leben begrenzt; eine Existenz nach dem Tod kommt in diesem Zusammenhang nicht in den Blick. 108 Die Seligpreisung kann auch gegenüber demjenigen ausgesprochen werden, der sich an Gott wendet, vgl. PsSal 4,23; 6,1, oder auch gegenüber denjenigen, die die Güte Gottes sehen dürfen, vgl. PsSal 17,44; 18,6. 109 M. Winninge, Sinners, 137–138. 110 Parallel dazu begegnet auch die Formulierung „ἔλεεῖν τὸν οἶκον Ἰακώβ“ (PsSal 7,10).
56
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
ernden barmherzigen Zuwendung Gottes zu seinem Volk ist eine Frucht der atl. Bundestheologie und prägt den gesamten Psalter Salomos,111 ebenso wie auch der Evangelist Lukas diese Gewissheit als bestimmendes Charakteristikum göttlichen Heilshandelns in der Geschichte verstanden hat (vgl. Lk 1,50.55. [70]). Dies beinhaltet nicht zuletzt das Rettungshandeln Gottes an Israel, indem er es aus der Gewalt der Sünder herausreißt (ῥύεσθαι);112 eine Beschreibung des helfenden Eingreifen Gottes, die auch im Benedictus erwähnt wird (vgl. Lk 1,74).113 In PsSal 15 stimmt der Beter aufgrund der erfahrenen Rettung ein neues Loblied (ψαλμὸς καινός [PsSal 15,3]) an, wobei dieses als Frucht der Lippen (καρπὸς χειλέων [PsSal 15,3]) bezeichnet wird, die aus einem heiligen und gerechten Herzen (καρδία ὁσία καὶ δικαία [PsSal 15,3]) erwächst. Die Wechselwirkung zwischen der Ausrichtung des Herzens und den Worten eines Menschen ist auch dem Evangelisten Lukas bekannt (vgl. Lk 6,43–45), und auch dieser drängt als Zeichen der Zugehörigkeit zu Gott, respektive Jesus, auf das Hervorbringen guter Früchte in Form von gottgefälligen Taten. Abschließend sollen noch zwei Psalmen Salomos hinsichtlich ihrer möglichen messianologischen Verbindungen zum LkEv analysiert werden. Sowohl in PsSal 17 als auch in PsSal 18 wird das Erscheinen einer königlichen Figur genannt, die messianische Vollmacht besitzt. Die Figur wird in beiden Psalmen als χριστὸς κύριος (PsSal 17,32; 18,7) bezeichnet.114 Der PsSal 17 beginnt mit der Anrufung Gottes und der darin enthaltenen Hoffnung, dass Gott sich als die Rettung der Betenden erweisen wird, indem er seine Königsherrschaft durchsetzt, durch die alle Völker gerichtet werden. Wichtig ist dabei der Gedanke, dass die Kraft (τὸ κράτος [PsSal 17,3]) Gottes gemeinsam mit seinem Erbarmen (τὸ ἔλεος [PsSal 17,3]) ewig währt und damit die Grundlage für sein rettendes Eingreifen zugunsten der Beter geschaffen ist. Eine analoge Argumentation begegnet im Zusammenhang des Magnificat: Dort wird das ewige Erbarmen Gottes gegenüber denen, die ihn fürchten, benannt, wobei die Umsetzung dieser barmherzigen Solidarität gegenüber den Seinen in Form eines Gerichtshandelns gegen diejenigen, die ihn nicht fürchten, geschieht (vgl. Lk 1,50–53). Grundlage ist dabei, neben der Barmherzigkeit (τὸ ἔλεος [Lk 1,50]), die Kraft (τὸ κράτος [Lk 1,51]) seines Armes. PsSal 17,4–20 beschreibt den Niedergang des Volkes, der durch die Sündhaftigkeit der Menschen heraufbeschworen wurde. Die politischen und militärischen Katastrophen, die in diesem Abschnitt als Konsequenz der Sünden des 111 Vgl. PsSal 2,36–37; 3,4.12; 9,10–11, 10,7–8; 11,7.9; 13,11; 14,4; 15,13; 16,3; 17,1.3.4.46; 18,1.11. 112 PsSal 4,23; 12,1; 13,4; 17,45. 113 Eine engere Parallele zum Benedictus findet sich in 1Makk 4,10. 114 Für Th. Kaut, Befreier, 315 ist PsSal 17 die wichtigste antike Parallele zum Magnificat: „Aus all dem ergibt sich eine geistige Nähe des Magnifikat zu den PsSal, die es so zu keiner anderen uns bekannten Schrift fraglicher Zeit hat.“
3.3 Der Psalter Salomos
57
Volkes identifiziert werden, scheinen einer Revozierung der Davidsverheißung (PsSal 17,4) gleichzukommen und bieten einen Rekurs auf die historischen Gegebenheiten in Jerusalem im Zusammenhang mit der Einnahme der Stadt durch Pompeius und der Herrschaft der Hasmonäer.115 Das Festhalten an der göttlichen Verheißung gegenüber David und der damit einhergehenden ewigen Herrschaft der davidischen Königslinie (vgl. 2Sam 7,16) kommt in PsSal 17,21 angesichts der für die Beter verheerenden Zustände in Jerusalem wieder zum Tragen. Sie bitten um das Auftreten eines davidischen Herrschers, der, von Gott selbst mit Kraft ausgestattet, die ungerechten Herrscher verjagt, die Stadt Jerusalem reinigt und die Sünder von den Gerechten trennt (vgl. PsSal 17,22–23). Der erhoffte Davidide soll den Hochmut (ἡ ὑπερηφανία [PsSal 17,23]) der Sünder zerschlagen, die Völker durch das Wort seines Mundes vernichten, sodass die übrig Gebliebenen vor ihm fliehen werden, und er soll diejenigen, die mit den Gedanken ihres Herzens sündigen, zurechtweisen (vgl. PsSal 17,23–25). „Vorausgesetzt wird dabei eine übernatürliche Menschenkenntnis des kommenden davidischen Königs, eine Art wundersames Wissen um das, was diese Personen an wesentlich prägenden Gedanken in sich tragen.“116 Am Ende soll eine Herrschaft des erwarteten Königs über Israel, das heilige Volk anbrechen, die in erster Linie durch Gerechtigkeit geprägt sein wird (vgl. PsSal 17,26–27.29). Bei der Skizzierung dieser Herrschaft fallen neben der Gerechtigkeit vor allem die Motive der Heiligkeit Israels (vgl. PsSal 17,26), der Landnahme (vgl. PsSal 17,28) und der Völkerwallfahrt zum Zion (vgl. PsSal 17,30–31) auf. Die Mitglieder des heiligen Volkes werden allesamt als Söhne Gottes bezeichnet (οἱ υἱοὶ θεοῦ [PsSal 17,27]). Während der Evangelist Lukas sich in der Schilderung des rettenden Eingreifens Gottes zugunsten seines Bundesvolkes in den Hymnen Magnificat und Benedictus bezüglich der vernichtenden Attribute göttlichen Heilshandelns an Israel zurückhält, lobt er aber auch Gottes Rettungshandeln an Israel (vgl. Lk 1,71–74), durch das nicht zuletzt das Gottesverhältnis des Volkes ermöglicht wird, das durch Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit geprägt ist (vgl. Lk 1,75). Lukas kennt die Vorstellung, dass sich Gottes richtendes Handeln gegen die Hochmütigen (οἱ ὑπερήφανοι [Lk 1,51]) wendet und dass die Herrscher zugunsten der Unterdrückten entmachtet werden (vgl. Lk 1,52). Im Zusammenhang des gestifteten Heils für Israel betont Lukas die Bedeutsamkeit der davidischen Traditionslinie (vgl. Lk 1,69), der auch der Messias selbst entstammen wird (vgl. Lk 1,32–33). Der Evangelist teilt mit dem Psalter Salomonis die Vorstellungen eines davidischen Messias117 und beschreibt die Konsequenzen, 115 Vgl.
J. Schüpphaus, Die Psalmen Salomos, 66–67. S. Schreiber, Gesalbter, 173. 117 Die natürlich auch an anderen Stellen des Alten Testaments begegnen; vgl. beispielsweise Jes 9,1–6; 11,1–9; Jer 23,5–6; 33,14–26; Ez 34,23–30; Am 9,11–15; Mi 5,1–5; (Sach 12,7–12). 116
58
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
die mit dem Auftreten des Messias verbunden sind, in analoger Weise. Jedoch bleibt die gewaltsame Durchsetzung der Herrschaft des Davididen bei Lukas gänzlich außen vor; ein Charakterzug, der konstitutiv für das Christusverständnis im gesamten Neuen Testament ist.118 So sind denn auch die Söhne Gottes bei Lukas nicht diejenigen, die in Israel nach der Reinigung des Volkes von den Sündern übriggeblieben sind, sondern diejenigen, die die Fähigkeit besitzen, die universale Vergebungsbereitschaft Gottes zu imitieren und sogar gegenüber ihren Feinden anzuwenden (vgl. Lk 6,35–36). In PsSal 17,32–41 wird der davidische König näher beschrieben, wobei die gewaltsamen Wesenszüge mehr und mehr in den Hintergrund treten. Es wird die Gerechtigkeit des Königs hervorgehoben, die auf die direkte Unterweisung Gottes zurückzuführen ist (vgl. PsSal 17,32). Dabei wird die enge Relation zwischen dem erhofften König und Gott durch den Titel „χριστὸς κύριος“119 (PsSal 17,32) ausgedrückt; ein Titel, der auch die Verbindung zu David nochmals betont.120 Die besondere Beziehung zwischen Gott und seinem Gesalbten wird durch das beispielhafte Vertrauen, das der Gesalbte in Gott hat, verdeutlicht. Im Gegensatz zu einem „normalen“ König gründet der Gesalbte seine Macht nicht auf militärischer oder finanzieller Stärke, sondern allein auf der Hoffnung auf Gott (vgl. PsSal 17,33–34). Dadurch gelingt es ihm nicht nur, die ganze Welt durch das Wort seines Mundes zu schlagen,121 sondern er sieht sich zudem in der Lage, Barmherzigkeit gegenüber den Völkern zu üben (ἐλεεῖν [PsSal 17,34]), die in Furcht vor ihm stehen.122 Doch nicht nur das unerschütterliche Vertrauen des Gesalbten in Gott zeichnet den davidischen König aus, sondern auch seine Sündlosigkeit, die ihn dazu befähigt, das Volk zu beherrschen, die Fürsten zu kontrollieren und die Sünder selbst kraft seines Wortes aus dem Volk zu verbannen (vgl. PsSal 17,36). PsSal 17,37 betont die Geistbegabung des Gesalbten: Indem Gott den König mit dem Heiligen Geist erfüllt hat, wird der Davidide weise, stark und gerecht und sein Gottesverhältnis ist durch die Verleihung des Heiligen Geistes unerschütterlich (vgl. PsSal 17,37–40).
118
Natürlich mit Ausnahme der Offenbarung des Johannes.
119 Eine christliche Interpolation wird in der Forschungslandschaft ausgeschlossen. 120 Vgl. beispielsweise 1Sam 16,12–13; 2Sam 19,22; 22,51; 23,1; Hab 3,13; ψ 2,2;
20,7; 28,8; 89,39.52; 132,10.17; (Thren 4,20); 2Chr 6,42. 121 Möglicherweise ist hier eine Anspielung auf das zweite Ebed-JHWH-Lied (Jes 49,1– 6), vor allem auf Jes 49,2 zu erkennen. S. Schreiber, Gesalbter, 172–174.184 vermutet bezüglich PsSal 17 das messianische Orakel in Jes 11,2–5 als Hintergrund. 122 A. Rahlfs vermutet hier eine Textverderbnis und liest anstelle von „ἐλεήσει“ „στήσει“. Die kritische Textausgabe von R. B. Wright folgt diesem Vorschlag zu Recht nicht. M. Winninge, Sinners, 95 vermutet einen Subjektswechsel zwischen V. 34b (Gott) und V. 35 (Gesalbter): „Thus, the nations, brought to reverence for God by the judgement of Messiah, will receive mercy from the Lord himself.“
3.3 Der Psalter Salomos
59
„Die Geistbegabung des Gesalbten (V. 37; vgl. PsSal 18,7; 1QSb V 25) stellt ein Element seiner von Gott gegebenen Ausstattung dar und setzt ihn in ein enges, fast unmittelbares Gottesverhältnis, was in Jes 11,2 f. eine Grundlegung findet.“123
Somit wird der Aspekt des Vertrauens in Gott nochmals aufgegriffen, was den König schlussendlich dazu befähigt, Israel, das als die kleine Herde Gottes (τὸ ποίμνιον κυρίου [PsSal 17,40]) bezeichnet wird, verantwortungsvoll zu leiten und zu bewahren (vgl. PsSal 17,40–41). Die Hirtenmotivik weckt Assoziationen an König David und untermauert damit die davidisch-messianische Traditionslinie. Zum Abschluss des PsSal 17 werden die herausragenden Talente des Königs in der Ratsversammlung gelobt (vgl. PsSal 17,43) und es wird ein Makarismus gegenüber all jenen ausgesprochen, die die Ankunft und die Herrschaft des erwarteten messianischen Gesalbten Gottes miterleben dürfen (vgl. PsSal 17,44). Die Bitte um die baldige Sendung des Gesalbten, die als ein Erweis der ewigen Königsherrschaft Gottes einerseits und der durch die göttliche Barmherzigkeit ermöglichte Rettung Israels von seinen Feinden andererseits verstanden wird, schließt den Psalm ab (vgl. PsSal 17,45–46). Der Evangelist Lukas schöpft in der Darstellung Jesu aus denselben messianischen Traditionen, die auch für PsSal 17 von Bedeutung waren, doch interpretiert er manche zentralen Aspekte auf gänzlich andere Weise. So steht es für Lukas wie für alle ntl. Autoren außer Zweifel, dass Jesus der Gesalbte ist, auf den Israel so lange gewartet hat. Zwar wird Jesus im lk. Doppelwerk oft nur als ὁ χριστός124 oder als ὁ κύριος125 bezeichnet, doch findet auch die kombinierte Herrschertitulatur Jesu als des χριστὸς κύριος ihre Anwendung in Form der Proklamation Jesu.126 Analog zur Messiasgestalt in PsSal 17 ist auch Jesus vom Heiligen Geist erfüllt und seine Taten gründen nicht zuletzt auf dieser Geistbegabung.127 Dabei setzt er sein Vertrauen nicht in politische oder militärische Stärke, sondern all sein Wirken entsteht aus der besonderen Beziehung zu Gott, seinem Vater. Der Verzicht Jesu auf ein gewaltsames Durchsetzen wird bei Lukas dahingehend gesteigert, dass Jesus sich selbst nicht als König präsentiert, sondern stets von der Königsherrschaft Gottes spricht, deren Repräsentant er darstellt. Sein Auftreten ist vielmehr durch das eines Dieners charakterisiert, wozu er auch seine Jünger animiert: In Ablehnung militärischer und 123
S. Schreiber, Gesalbter, 181. Z. B. Lk 3,15; 4,41; 9,20; 23,2; 24,26.46 u. ö. Act 2,31; 3,18.20; 5,42; 8,5; 9,22.34; 10,36 u. ö. 125 Z. B. Lk 1,43; 5,8; 6,46; 7,13; 9,54.59.61; 10,1; 17,37; 22,33 u. ö. Act 1,6.10; 4,33; 7,59; 11,20; 16,31 u. ö. 126 Lk 2,11.26; Act 2,36; (4,26; 11,17). S. Schreiber, Gesalbter, 434 verweist zudem auf die Belege „χριστὸς τοῦ θεοῦ“ (Lk 9,20; 23,35) und sieht darin eine besondere Nähe zur frühjüdischen Tradition. Siehe allerdings auch S. Schreiber, Gesalbter, 445: „Leiden und Erweckung transformieren hier [bei Lukas S. W.] wie schon bei Paulus in der christlichen Interpretation die zentralen Denotationselemente des Gesalbten-Titels.“ 127 Vgl. Lk 1,35; 3,22; 4,1.14.18–21; 10,21; Act 1,2. 124
60
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
politischer Stärke sollen sie ihre Größe im Dienst gegenüber anderen beweisen (vgl. Lk 22,25–27).128 Die Herrschaft Jesu und seiner Jünger wird vollständig in die eschatologische Wirklichkeit verlagert (vgl. Lk 22,28–30). Die Fürsorge Gottes für sein Volk, die der lk. Jesus verkündigt und realisiert, wird auch durch die Hirtenmetapher formuliert (vgl. paradigmatisch Lk 15,3– 7), wobei die Rede von Israel als der kleinen Herde Gottes auch bei Lukas Aufnahme findet (vgl. Lk 12,32). Im Kontext dieser Fürsorge wird auch das Thema der Sünde behandelt: Ebenso wie der Gesalbte aus PsSal 17 ist das Wirken Jesu daraufhin ausgerichtet, die Sünde aus dem Volk zu schaffen. Doch im Gegensatz zum Psalter Salomonis sucht der lukanische Messias aktiv die Sünder, um sie wieder in die Gemeinschaft mit Gott zurückzubringen. Anstatt die Sünder unnachsichtig zu bestrafen, vergibt Jesus ihnen und eröffnet für sie den Weg der Umkehr.129 Der Evangelist transformiert also die Vorstellung einer Vernichtung der Sünder hin zu deren Bekehrung. Gemeinsam sind Lukas und dem Verfasser der PsSal die Vorstellung, dass die vergebende Zuwendung Gottes zu seinem Volk untrennbar verbunden ist mit der Sendung des Messias, durch welchen die Rettung und Erlösung für das Volk Gottes kommen wird.130 Die Sündlosigkeit des Gesalbten, die in PsSal 17,36 explizit als eine der Voraussetzungen seiner Herrschaft genannt wird, kann für die Christologie des Neuen Testaments im Allgemeinen auch angenommen werden (vgl. beispielsweise Hebr 7,26–28), doch ist die explizite Ausformulierung der Sündlosigkeit Jesu im lk. Doppelwerk nicht zu finden. Auch im PsSal 18 begegnet die Rede vom χριστὸς κύριος (PsSal 18,7), und in paralleler Gestaltung zu PsSal 17,44 ist auch in PsSal 18,6 ein Makarismus gegenüber all jenen formuliert, die in den Tagen des Auftretens des Gesalbten leben und das Gute sehen dürfen, das in diesem Zusammenhang realisiert werden wird. Der Evangelist Lukas knüpft an diese Vorstellung an, indem Jesus in Lk 10,23–24 seine Jünger darüber selig preist, dass es ihnen in der Nachfolge Jesu vergönnt ist, Dinge zu sehen und zu hören, die auch Propheten und Könige gerne gesehen und gehört hätten; obgleich dieser Wunsch freilich vergeblich war. Die Ereignisse, die die Menschen zur Zeit des Auftretens des Messias miterleben dürfen, sollen als Erweise der anbrechenden Gottesherrschaft verstanden werden. Im Duktus des LkEv ist dabei explizit auf die Brechung der Macht des Satans angespielt (vgl. Lk 10,17–19), während der PsSal 18 einen Schwerpunkt auf ein Leben in Gottesfurcht und Gerechtigkeit legt.131 128
Vgl. zudem Lk 12,35–48, 17,7–10. beispielhaft: Lk 5,27–32; 7,36–50; 15–3–31; 19,1–10; 24,46–47; Act 2,38; 5,31; 10,43; 13,38. 130 Dass Lukas die Zugehörigkeit zum Volk Gottes anhand des Glaubens an Jesus definiert und nicht an der israelitischen Abstammung festmacht, ist offensichtlich. 131 Siehe S. Schreiber, Gesalbter, 187: „Die Herrschaft des Gesalbten besteht nach PsSal 18 also im endzeitlichen Vollzug des Gerichts über Israel und der Aufrichtung einer 129 Vgl.
3.3 Der Psalter Salomos
61
Interessant ist die Analyse der zeitlichen Abfolge der im PsSal 18 erbetenen Ereignisse. So beginnt der Psalmist mit einem Lobpreis des göttlichen Erbarmens (τὸ ἔλεος [PsSal 18,1]) und der Milde (ἡ χρηστότης [PsSal 18,1]) Gottes, die die Zuwendung Gottes zu Israel prägen und die Menschen bis hin zu den Ärmsten vor Mangel bewahren (vgl. PsSal 18,2). Die Barmherzigkeit Gottes beeinflusst auch die Ausübung seiner Gerichtsbarkeit über die Erde (vgl. PsSal 18,2). Die Israeliten, die als Nachkommen Abrahams (τὸ σπέρμα Ἀβραάμ [PsSal 18,3]) bezeichnet werden, können sich der Liebe (ἡ ἀγάπη [PsSal 18,4]) Gottes sicher sein, die auch in der Züchtigung der Israeliten durch Gott erfahrbar wird (vgl. PsSal 18,4). Diese züchtigende Erziehung (ἡ παιδεία [PsSal 18,4]) dient dazu, das Volk Gottes für den Tag zu reinigen, an dem der χριστὸς κύριος auftreten wird; ein Tag, der als Tag der Barmherzigkeit und des Segens bezeichnet wird, wodurch die mit dem Erscheinen des Gesalbten verbundene, fulminante Zäsur der Heilsgeschichte deutlich wird (vgl. PsSal 18,4–5). Das Leben der Israeliten zur Zeit des Gesalbten wird weiterhin durch Zucht und Erziehung bestimmt sein, die zu einem Leben in Gottesfurcht, geistgewirkter Weisheit, Gerechtigkeit und Kraft verhelfen wird (vgl. PsSal 18,7–9). Die Rede, dass dieses Leben im Angesicht Gottes in den Tagen der Barmherzigkeit stattfinden wird, kann als eine Umschreibung der Gottesherrschaft verstanden werden. Der Psalm schließt mit einem Lob auf Gott, den Schöpfer (PsSal 18,10–12). Im LkEv begegnet im Kontext des Wirkens des Täufers eine ähnliche Struktur: Bevor Gott sein Volk besuchen wird, indem der Messias in Erscheinung tritt, ist es notwendig, dass Johannes der Täufer das Volk auf diese Begegnung vorbereitet.132 Seine Beauftragung besteht in der inneren Umkehr der Menschen zu einem bundesgemäßen Verhalten und zu einer Abkehr von ihren Sünden, damit sie das Heil, das ihnen in Christus begegnen wird, auch erkennen können. Sein Auftreten wird im LkEv breit beschrieben, wobei Lukas nicht nur die mk. Vorlage und den Q-Stoff verwendet, sondern in der sog. „Standespredigt“ des Täufers auch noch Sondergut verarbeitet. Die Botschaft des Täufers, die in Lk 3,3–17 formuliert wird, ist keineswegs nur in freundlichem Tonfall gehalten, sondern von einer drohenden Strenge und einem existentiellen Ernst geprägt. Das Motiv der züchtigenden Erziehung des Volkes als Vorbereitung auf die Ankunft des Messias, das im Psalter Salomonis begegnet, hat Lukas vermittels seiner Darstellung des Wirkens des Täufers ausformuliert. Das Wirken Jesu, das sich an das des Täufers anschließt, führt vor allem den Aspekt der Buße und der Umkehr fort, doch eröffnet sich darüber hinaus in der Zuwendung Jesu zu den Menschen die Teilhabe an der Königsherrschaft Gottes. Die Strukturanalogie zum PsSal 18 ist unübersehbar. Herrschaft des Heiles, der Gerechtigkeit und der Gottesfurcht für Israel, wozu er von Gott bevollmächtigt ist.“ 132 Vgl. Lk 1,15–17.76–78; 3,3–6.15–17.
62
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
3.4 Zusammenfassung und Ausblick Fasst man die Aussagen über die Realisierung der Barmherzigkeit Gottes aus dem Magnificat und aus dem Benedictus zusammen, so wird deutlich, dass die Rede von der Barmherzigkeit Gottes stets den Anknüpfungspunkt an die bereits erfolgte Heilsgeschichte und den Bundesschluss zwischen Gott und Israel bildet. Dieser Verweis auf die atl. Bundestraditionen wird narrativ dadurch unterstrichen, dass die Protagonisten Maria, Elisabeth und Zacharias als hervorragende Beispiele bundestreuer Menschen vorgestellt werden.133 Die Zuwendung Gottes speziell zu ihnen und deren damit einhergehende Einbindung in die Schlüsselereignisse der zukünftigen Heilsgeschichte sind aus der Perspektive der atl. Bundesverheißungen nur konsequent. Das in den Hymnen beschriebene erwählende, rettende und Gerechtigkeit übende Handeln Gottes, das aus dem Bundesschluss erwächst, wird ebenfalls stets mit der Barmherzigkeit Gottes in Zusammenhang gebracht. Vor dem Hintergrund der Selbstoffenbarung Gottes im Alten Testament als des Barmherzigen wird deutlich, dass sein erbarmendes Handeln, das sich im Rahmen des Bundes ereignet, Ausdruck und Erweis seines Wesens ist. Die durch die Hymnen vorbereitete Ankunft des Messias, der bereits in Lk 1,31–33 als Sohn der Maria identifiziert wurde, wird untrennbar in die Kette der Ereignisse zwischen Gott und seinem Volk eingebunden. Die Geburt Jesu ist der Beginn eines neuen Kapitels der Heilsgeschichte. Dabei kommt der Barmherzigkeit Gottes eine doppelte Funktion zu, die ebenfalls in Kontinuität zu atl. Traditionen steht. So ist das von Erbarmen bewegte Innere (Lk 1,78) die Handlungsmotivation Gottes für die kommenden Ereignisse und prägt weiterhin seine Zuwendung zu seinem Volk.134 Darüber hinaus besteht der Modus der Zuwendung Gottes zu seinem Volk in der Sendung seines Sohnes (Lk 1,32), wodurch in Aufnahme der atl. Tradition sein erbarmendes Wesen offenbart wird. Anders ausgedrückt: Jesus ist die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes.135
133
Vgl. Lk 1,5–6; 1,28.30.45.48. J. Green, Luke, 117. 135 Äußerst anschaulich wird dies in der sog. „Antrittspredigt“ Jesu (vgl. Lk 4,16–30). 134 Vgl.
Kapitel 4
Die Feldrede (Lk 6,20–49) 4.1 Übersetzung (20a) Und er hob seine Augen zu seinen Jüngern und sprach: (20b) „Selig [ihr]1 Armen, (20c) denn euer ist das Königreich Gottes. (21a) Selig [ihr],2 die ihr jetzt hungert, (21b) denn ihr werdet gesättigt werden. (21c) Selig [ihr]3, die ihr jetzt weint, (21d) denn ihr werdet lachen. (22a) Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen werden, (22b) und wenn sie euch ausschließen und beschimpfen werden, (22c) und [wenn]4 sie euren Namen als böse verschmähen werden wegen des Menschensohnes. (23a) Ihr sollt euch freuen an jenem Tag und ihr sollt hüpfen! (23b) Denn siehe, euer Lohn [wird]5 groß sein im Himmel. (23c) Denn auf dieselbe Weise haben ihre Väter an den Propheten gehandelt. (24a) Jedoch wehe euch, die ihr reich seid, (24b) denn ihr habt euren Trost schon empfangen. (25a) Wehe euch, die ihr jetzt voll gesättigt seid, (25b) denn ihr werdet hungern. (25c) Wehe, die ihr jetzt lacht, (25d) denn ihr werdet klagen und weinen. (26a) Wehe, wenn alle Menschen gut über euch sprechen, (26b) denn auf dieselbe Weise haben ihre Väter an den Falschpropheten gehandelt. (27a) Aber ich sage euch, die ihr zuhört: (27b) Liebt eure Feinde, 1 Die Anrede in der 2. P. Pl. wird hier aufgrund des in V. 20c folgenden Possessivpronomens ὐμέτερος sinngemäß ergänzt. 2 Wiederum wird die Anrede sinngemäß ergänzt, da aus der Apodosis (V. 21b) deutlich wird, dass Jesus hier die Menschen in der 2. P. Pl. anspricht. 3 Vgl. V. 21a. b. 4 Aufgrund der Parallelstruktur zu V. 22a und V. 22b sinngemäß ergänzt. 5 Elliptische Ergänzung, die sich an den Futurformen von V. 23a orientiert.
64
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
(27c) tut Gutes denen, die euch hassen, (28a) segnet diejenigen, die euch verfluchen, (28b) betet für diejenigen, die euch misshandeln. (29a) Demjenigen, der dich auf die Wange schlägt, biete auch die andere dar, (29b) und demjenigen, der dir den Mantel wegnimmt, verweigere auch nicht das Hemd. (30a) Jedem, der dich bittet, gib, (30b) und von demjenigen, der dir das deine nimmt, fordere [es]6 nicht zurück. (31a) Und ebenso, wie ihr wollt, dass euch die Menschen behandeln mögen, (31b) so sollt ihr sie gleichermaßen behandeln. (32a) Und wenn ihr diejenigen liebt, die euch lieben, (32b) welche Art von Dank gebührt euch dann? (32c) Denn auch die Sünder lieben diejenigen, die sie lieben. (33a) Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, (33b) welche Art von Dank gebührt euch dann? (33c) Denn auch die Sünder tun dasselbe. (34a) Und wenn ihr Geld verleiht [an diejenigen], von denen ihr hofft [es] zurückzubekommen,7 (34b) welche Art von Dank gebührt euch dann? (34c) Denn auch die Sünder verleihen den Sündern Geld, damit sie den gleichen Betrag zurückerhalten. (35a) Vielmehr: Liebt eure Feinde und tut Gutes und verleiht Geld, ohne auf Rückgabe zu hoffen.8 (35b) Und euer Lohn wird groß sein und ihr werdet Söhne des Allerhöchsten sein, (35c) denn er ist gütig gegen die Undankbaren und die Bösen. (36a) Seid barmherzig, (36b) ebenso wie euer Vater barmherzig ist. (37a) Und richtet nicht (37b) und ihr werdet gewiss nicht gerichtet werden. (37c) Und verurteilt nicht (37d) und ihr werdet gewiss nicht verurteilt werden. 6 Sinngemäß ergänzt. 7 Aufgrund von V. 35a
sollte λαμβάνειν hier mit „zurückbekommen“ übersetzt werden. Sen.vit. beat. I,24 wiederum mahnt dazu, Geschenke nur denjenigen zu machen, von denen man sich selbst zu einem späteren Zeitpunkt zuvorkommendes Handeln erhofft. In diesem Sinne könnte man λαμβάνειν auch direkt mit „nehmen“ übersetzen. Allerdings deutet der innere Zusammenhang der Feldrede auf die oben genannte Übersetzung hin. 8 ἀπελπίζειν bedeutet „verzweifeln“. Durch den antithetischen Zusammenhang von ἐλπίζειν λαμβάνειν (V. 34a) und ἀπελπίζειν ergibt sich jedoch die genannte Übersetzung, die vom direkten Sprachgebrauch etwas abweicht. Vgl. dazu auch W. Bauer/K . Aland, Wörterbuch, 167.
4.1 Übersetzung
65
(37e) Gebt frei (37f ) und ihr werdet gewiss freigegeben werden. (38a) Gebt (38b) und euch wird gegeben werden: (38c) Ein gutes Maß, ein fest gedrücktes, ein gerütteltes, ein überfließendes [Maß] werden sie in euren Schoß geben. (38d) Denn mit welchem Maß ihr messt, wird euch wieder zugemessen werden.“ (39a) Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: (39b) „Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? (39c) Werden sie nicht beide in die Grube fallen? (40a) Es steht der Jünger nicht über dem Lehrer. (40b) Wenn er aber vollendet ist, wird jeder sein wie sein Lehrer. (41a) Was aber blickst du auf den Splitter im Auge deines Bruders, (41b) den Balken aber, der in deinem eigenen Auge ist, nimmst du nicht wahr? (42a) Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: (42b) ‚Bruder, gestatte es! Ich werde den Splitter, der in deinem Auge ist, herausziehen.‘ (42c) ohne selbst den Balken, der in deinem Auge ist, zu sehen? (42d) Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge (42e) und dann wirst du klar sehen, um den Splitter, der im Auge deines Bruders ist, herauszuziehen. (43a) Denn es gibt keinen guten Baum, der faule Früchte hervorbringt; (43b) ferner gibt es auch keinen faulen Baum, der gute Früchte hervorbringt. (44a) Denn ein jeder Baum ist an seiner [eigenen] Frucht zu erkennen. (44b) Denn man sammelt nicht Feigen von Dornengewächsen, (44c) auch erntet man nicht Trauben vom Dornbusch. (45a) Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute zum Vorschein (45b) und der Böse bringt aus dem bösen [Schatz] das Böse zum Vorschein. (45c) Denn davon, wovon das Herz überfließt, spricht sein9 Mund. (46a) Warum10 aber ruft ihr mich ‚Herr, Herr!‘ (46b) und tut nicht, was ich euch sage? (47a) Jeder, der zu mir kommt und der meine Worte hört und der danach handelt11 – (47b) ich will euch darlegen, wem er gleich ist: (48a) Er gleicht einem Menschen, der ein Haus baut. 9
Gemeint ist hier nach wie vor der Mensch; sowohl der gute als auch der böse. Das Interrogativpronomen τί wird in diesem Zusammenhang adverbial gebraucht und somit nicht mit „was“, sondern mit „warum“ übersetzt; vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 143c. 11 Wörtlich: der tut; vollbringt. Vgl. ebenso V. 49a. 10
66
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
(48b) Der grub und machte ein tiefes Loch und legte das Fundament auf den Felsen. (48c) Als aber ein Hochwasser entstand, brach sich der Fluss an jenem Haus, (48d) aber er war nicht stark genug, um es zu erschüttern, weil es gut gebaut war. (49a) Aber derjenige, der hört und nicht danach handelt, (49b) ist einem Menschen gleich, der ein Haus auf die Erde ohne Fundament baute, (49c) an welchem der Fluss sich brach (49d) und sofort stürzte es zusammen und der Zusammenbruch jenes Hauses war gewaltig.“
4.2 Gliederung In der ntl. Forschung begegnen unterschiedliche Gliederungsvorschläge, die die Gemeinsamkeit aufweisen, dass der Abschnitt der Makarismen und Weherufe (Lk 6,20–26) als erster Hauptteil beschrieben wird. Die Differenzen ergeben sich bezüglich der Gliederung des restlichen Materials von Lk 6,27– 49. L. Topel schlägt folgende Gliederung vor: (1.) „Blessed Are the Poor“ (Lk 6,20) gewissermaßen als programmatische Überschrift über die Feldrede; (2.) „Blessings and Woes“ (Lk 6,21–26); (3.) „The Love Command“ (Lk 6,27– 36); (4.) „The Critique of Judgement“ (Lk 6,37–42), (5.) „True Discipleship“ (Lk 6,43–49).12 Der Gliederungsvorschlag ist inhaltlich überzeugend, ignoriert aber das von Lukas gesetzte formale Gliederungselement in Form einer neuen Redeeinleitung in V. 39a, das auch durch den Wechsel von der 1. Pers. Sg. in die 3. Pers. Sg. als Notiz des Erzählers gestaltet ist. Ähnlich verhält es sich mit V. 20a, der die Rede einleitet und ebenfalls in der 3. Pers. Sg. gestaltet ist. An beiden Stellen kommt zunächst der Evangelist zu Wort, um dann, auf der narrativen Ebene, Jesus in der 1. Pers. Sg. auftreten zu lassen. Unter Einbezug der in der gegenwärtigen Forschung genannten Systematisierungen13 und der 12 Vgl. J. Topel, Children, 55, 97, 127, 181, 201. 13 H. Klein, Lukasevangelium, 242 gliedert die Feldrede
in vier Sinnabschnitte: (1.) Seligpreisungen und Weherufe (Lk 6,20–26); (2.) Verhaltensregeln gegenüber Außenstehenden (Lk 6,27–35); (3.) Verhaltensregeln gegenüber Gemeindegliedern (Lk 6,36–46); (4.) Eschatologischer Abschluss (Lk 6,47–49). H. D. Betz, Sermon, 571, 591, 636 gliedert die Feldrede lediglich in drei Abschnitte: (1) „The Beatitudes and the Woes“ (Lk 6,20b–26); (2.) „Rules for the Conduct of the Disciples“ (Lk 6,27–45); (3.) „The Parable of the Two Builders“ (Lk 6,46–49). M. Wolter, Lukasevangelium, 247, 254, 261 nennt drei Sinneinheiten: (1.) „Die Seligpreisungen und die Weherufe“ (Lk 6,20–26); (2.) „Die Aufhebung des Prinzips der ethischen Reziprozität“ (Lk 6,27–38); (3.) „Gleichnisrede“ (Lk 6,39–49). Diese Gliederung führen auch F. Bovon, Lukas 1, 293, 306, 328, D. Bock, Luke I, 548 und J. Green, Luke, 261, 269, 275 an.
4.3 Auslegung
67
grammatischen Beobachtungen, sei hier folgende Gliederung der Feldrede vorgeschlagen: Lk 6,20a: Lk 6,20b–26: Lk 6,27–38: Lk 6,39–49:
Einleitung der Rede Makarismen und Weherufe Feindesliebe und Barmherzigkeit Die wahre Jüngerschaft
4.3 Auslegung 4.3.1 Die Einleitung der Rede Der Evangelist formuliert den Auftakt der Feldrede mittels einer Wendung, die ihm aus der Sprache der LXX vertraut ist:14 ἐπαίρειν τοὺς ὀφθαλμοὺς εἰς. Diese Formulierung ist insofern von Interesse, als dass Lukas das Auftreten Jesu vor der versammelten Menschenmenge mit einem Schlüsselbegriff verbindet, der die Adressaten des Evangeliums, die mit der LXX vertraut sind, aufhorchen lässt. Die Darstellung Jesu wird in einer Art und Weise gestaltet, die eine assoziative Anbindung an die Erzählstruktur der LXX ermöglicht. Diese Anbindung wird durch die sich anschließenden Makarismen und Weherufe sowohl strukturell als auch inhaltlich vertieft und weitergeführt. Wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird, schafft der Evangelist eine Verbindung zwischen Jesus und, in erster Linie, prophetischen Texten der LXX, wodurch die Verwurzelung Jesu in den Traditionen und Überlieferungen Israels klar zum Vorschein kommt. Die Besonderheit der Feldrede liegt nun nicht in einer aktualisierten Wiederaufnahme der Prophetenbücher, sondern in der Art und Weise, in der der lk. Jesus seine Lehre aus den bekannten Traditionen und Überlieferungen weiter- und fortentwickelt. Dabei tritt er stets mit einem Vollmachtanspruch auf, der seinem Wesen als Messias und Gottessohn entspricht und der zugleich auch im narrativen Verlauf des LkEv immer wieder Anlass für Auseinandersetzungen mit Teilen der jüdischen Bevölkerung, meist der Eliten, bietet. Eine ganz ähnliche narrative Struktur findet sich beim ersten öffentlichen Auftreten Jesu in der Synagoge von Nazareth in Lk 4,16–30. Die Formulierung, dass Jesus seine Augen auf seine Jünger richtet, bevor er zu sprechen beginnt, hat in der exegetischen Literatur vielfach die Frage nach den Adressaten der einzelnen Abschnitte der Feldrede aufgeworfen. So wird die These vertreten, dass der erste Abschnitt der Feldrede ausschließlich den Jüngern Jesu gelte, während der zweite Abschnitt aufgrund der Formulierung 14 Vgl. M. Wolter, Lukasevangelium, 248. Er verweist dabei auf Gen 13,10; 2Sam 18,24; 1Chr 21,16; Ez 18,6 sowie auf Chariton von Aphrodisias 1,4,7. Zu ergänzen wäre aus dem Bereich der frühjüdischen Schriften beispielsweise Philo, LegGai 269,4.
68
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
„λέγειν τοῖς ἀκούουσιν“ an alle Menschen gerichtet sei, die die Zuhörerschaft der Feldrede bilden.15 In Anlehnung an Mk 3,7–13 beschreibt Lukas eine große Menschenmenge, die sich aus dem Zwölferkreis, einer großen Menge an nicht näher benannten Jüngern Jesu und vielen weiteren Menschen aus Judäa,16 Jerusalem, Tyrus und Sidon17 zusammensetzt und sich bei Jesus versammelt hat, um seine Lehre zu hören und um von ihm geheilt zu werden. Im Gegensatz zur mk. Vorlage betont Lukas ausdrücklich den Wunsch der Menge, Jesus zu hören und nicht nur an seinen wunderheilenden Kräften anteilig zu werden. Somit schafft er die adäquaten Rahmenbedingungen für die sich anschließende Feldrede und macht deutlich, dass das Wirken Jesu stets im Zusammenspiel von Wort und Tat verstanden werden soll.18 Doch bleibt die Frage bestehen, ob die Inhalte der Feldrede differenziert auf verschiedene Adressatenkreise anzuwenden sind oder nicht. Dafür spricht einerseits die Strukturierung der Feldrede durch die Erzählnotizen, die der Evangelist in V. 20a und V. 27a eingefügt hat, sowie die Überlegung, dass es eine Parallelität gibt zwischen der Szenerie, in die die Feldrede eingebettet ist, und den in den V. 20a.27a genannten Adressaten. Es fällt auf, dass Lukas die Personen um Jesus in Lk 6,12–19 konzentrisch anordnet und die Anzahl Stück für Stück erhöht. So ist Jesus zunächst allein auf einem Berg,19 um die Nacht über zu beten (Lk 6,12). Am nächsten Morgen ruft er seine Jüngerschaft und beruft aus dieser den Zwölferkreis20 (Lk 6,13–16), bevor er dann auf das Feld hinabsteigt, auf dem er zu seiner Rede ansetzen wird (Lk 6,17). Das Auditorium um Jesus 15 Vgl.
M. Wolter, Lukasevangelium, 248, 255. Seltsam ist, dass Galiläa nicht eigens genannt wird. Entweder ist die Anwesenheit der Galiläer vorauszusetzen, da sich die Szenerie in Galiläa abspielt, oder Lukas meint mit dem Begriff Ἰουδαία sowohl den Norden als auch den Süden. W. Radl, Lukas I, 360 spricht in diesem Zusammenhang von „dem ganzen Judenland“. 17 Also haben wir es hier sowohl mit Mitgliedern des erwählten Volkes Israel als auch mit „Heiden“ zu tun. 18 Eine ganz ähnliche Struktur, die das Miteinander von Wort und Tat Jesu betont und damit die Vollmacht Jesu ausdrückt, findet sich bei Mt 5–9; vgl. M. Konradt, Matthäus, 59.131. 19 Auf die theologische Bedeutung des Berges an dieser Stelle wird in der ntl. Forschung häufig aufmerksam gemacht, da hier im Rückgriff auf LXX-Traditionen, wie beispielsweise dem Sinai-Ereignis, die Gottesnähe zum Ausdruck gebracht werden soll; vgl. W. Radl, Lukas I, 355 f.; J. Green, Luke, 258; F. Bovon, Lukas 1, 286; D. Bock, Luke I, 562. Dass Jesus die Nacht im Gebet verbringt, ist ein typischer Zug lk. Theologie, in der das Gebet eine besondere Rolle spielt und gewissermaßen eine göttliche Legitimation für das Folgende zum Ausdruck bringt; vgl. W. Radl, Lukas I, 356. Siehe auch M. Wolter, Lukasevangelium, 242: „Den Berg als Gebetsort hat Lukas aus Mk 3,13 übernommen. Dass er mit ihm besondere theologische Konnotationen verbunden wissen wollte […], darf als sicher gelten: Auch in 9,28f (Verklärung) und 22,39–42 (Verlagerung der Gethsemane-Szene auf den Ölberg!) geht Jesus zum Beten auf einen Berg.“ 20 Es ist durchaus denkbar, dass Lukas die Berufung der Zwölf direkt vor die Rede Jesu einfügt, um die Zeugenschaft der Apostel für die Lehre (und die Taten) Jesu zu unterstreichen; vgl. F. Bovon, Lukas 1, 284; Radl, Lukas I, 354. 16
4.3 Auslegung
69
setzt sich zusammen aus seiner Jüngerschaft, also dem Zwölferkreis und der großen Schar an nicht näher benannten Jüngern sowie einer Menschenmenge aus den genannten Gebieten, die offensichtlich nicht zu seiner Jüngerschaft zu rechnen ist, sondern aus verschiedenen Gründen an Jesus interessiert ist. Diese Anordnung der auftretenden Personen: (1) Jesus, der handelnde Protagonist – (2) die Jüngerschaft inkl. Zwölferkreis – (3) die Menschenmenge wird strukturell durch die Notizen des Lukas wiederholt: (1) Jesus hebt seine Augen auf (2) seine Jünger (V. 20a) und erst im Anschluss daran werden alle anderen, also (3) die Menschenmenge (V. 27a), angesprochen. Andererseits würde eine solche Differenzierung der Feldrede, V. 20b–26 gelte nur den Jüngern, V. 27–49 sei an alle Menschen gerichtet, inhaltliche und theologische Probleme schaffen, die nicht mit einem Verweis auf die Gliederungselemente gelöst werden können. Inhaltlich wäre zu fragen, wieso Jesus nur gegenüber seinen Jüngern Weherufe mit unverhohlenen, wahrscheinlich eschatologisch zu verstehenden Drohungen ausspricht? Müssten solche Weherufe nicht vielmehr den Menschen gelten, die nicht in der Nachfolge Jesu stehen? M. Wolter versucht diese Frage dadurch zu beantworten, dass er unter der Jüngerschaft keine Menschen vermutet, denen die Weherufe gelten könnten. „Sie [die Jünger S. W.] werden in den Makarismen unmittelbar angesprochen und die Reichen, die als fiktive Adressaten der Weherufe fungieren, sind als ihr Gegenbild konzipiert.“21 Ungeachtet der Frage, ob die Armut für Lukas tatsächlich eine conditio sine qua non der Jüngerschaft darstellt, scheint mir die Argumentation der fiktiven Gesprächspartner einer zu hohen Bewertung des V. 20a geschuldet zu sein. Es ist plausibler, dass die Feldrede in ihrer Gesamtheit an alle Zuhörer gerichtet ist, die Lukas als Auditorium der Rede Jesu beschreibt.22 Dadurch wäre es ohne Weiteres möglich, sowohl Empfänger der Makarismen als auch Adressaten der Weherufe in der Menge zu verorten, ohne dass ein Teil der Rede ins Leere liefe oder dass nur die Jünger Adressaten eschatologischer Drohungen würden. „The mixed character of the audience Luke has assembled for the Sermon is reinforced by the Sermon itself, when Jesus first looks on his disciples as he speaks (6:20), and yet at the end is said to have spoken to all the people (7:1). This shift of hearers may be imperceptible to the virginal implied reader, but it affects Christian readers’ interpretation of the meaning of the Sermon.“23
Gewichtiger als die Frage nach der Existenz reicher Jünger unter den Nachfolgern Jesu ist jedoch die Frage nach der theologischen Bedeutung der Feldrede. Die Rede hat den Charakter einer normativen Darstellung des Willens Jesu hin21
M. Wolter, Lukasevangelium, 247. Dies beschreibt natürlich nur die narrative Ebene. Schlussendlich ist die Feldrede an die gesamte Leserschaft des LkEv gerichtet, deren Zusammensetzung sich der Evangelist wohl als ebenso plural verfasst erhofft wie die Zusammensetzung des narrativen Auditoriums. 23 J. Topel, Children, 57. 22
70
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
sichtlich des menschlichen Verhaltens. Bedenkt man dabei zudem die motivlichen Anspielungen auf das Sinai-Ereignis,24 so ergibt sich hinsichtlich der Zuhörerschaft ein besonders markanter Unterschied: In beiden Perikopen findet eine Unterweisung der am Fuße des Berges wartenden Menschen statt. Es geht jeweils um die normative Darstellung des göttlichen Willens in Bezug auf das Verhalten der Menschen. In beiden Fällen geht dieser Verkündigung ein Kommunikationsakt des Protagonisten mit Gott voraus, wodurch die Legitimation des Gesagten und dessen Verbindlichkeit nochmals verdeutlicht wird. Doch im Gegensatz zu Ex 19–20 wartet hier nicht eine einzige Gruppe, ein von Gott erwähltes Volk auf die Offenbarung des göttlichen Willens, sondern ein plurales Publikum hat sich versammelt, das aus Jüngern Jesu besteht und solchen Menschen, die sich nicht in der Nachfolge befinden, aus Israeliten und aus Menschen aus den „heidnischen“ Gebieten um Tyrus und Sidon.25 Die Pluralität des Publikums ist der Bruch, den Lukas gegenüber dem Sinaimotiv einfügt, da die Analogie zu Ex 19–20 darin bestanden hätte, nur die Jünger Jesu, verstanden als das auserwählte „Volk“ Gottes, zu unterweisen und nicht die von allen Seiten herbeigeströmten Massen, die durchaus nicht nur dem jüdischen Volk angehören. Durch die vielfältige Zusammensetzung der Zuhörerschaft wird der öffentliche Charakter und die universelle Gültigkeit der Feldrede in all ihren Teilen versinnbildlicht. „Die Rede verrät zwar Wesentliches vom Geheimnis der Jüngerschaft, ist aber keine Geheimlehre.“26 Zwar darf der Vergleich mit dem Sinai-Ereignis nicht über die Maßen strapaziert werden, schließlich findet an dieser Stelle des LkEv kein Bundesschluss statt, doch zeigt sich hier die Tendenz des Evangelisten, die dynamische Fortentwicklung der Heilsgeschichte durch das Christusereignis darzustellen.27 „Das Heilsereignis nimmt außerhalb Jerusalems seinen Anfang. Jede Identifikation mit dem geschichtlichen Volk und der räumlichen Realität Israels wird damit von Lukas kritisiert. Die christliche Botschaft steht in Kontinuität (‚Berg‘ und ‚Ebene‘), aber auch in Diskontinuität zur Sinai-Offenbarung (6,11).“28
Indem die Feldrede im Ganzen an alle Menschen gerichtet ist, verwundert es auch nicht, dass durch die Makarismen und Weherufe des ersten Hauptteils verschiedene Gruppierungen angesprochen werden. Somit sind auch wirklich alle Menschen im Blick: die ethisch Rechtschaffenen und diejenigen, die den ethi24 Vgl.
J. Green, Luke, 262. F. Bovon, Lukas 1, 286 bezweifelt, dass es sich bei diesen Menschen nicht um Juden gehandelt haben sollte, denn „es ist noch nicht die Zeit der Heiden (ἔθνη).“ 26 W. Radl, Lukas I, 377. 27 Diese theologische Festlegung wird vor allem im Verlauf der Acta wichtig, um die Trennung zwischen der Synagoge und den Christusgläubigen dergestalt zu thematisieren, dass das atl. Motiv des Gottesvolkes nur noch auf die Gruppe der Christusgläubigen angewandt wird. Durch die Öffnung zu den Heiden wird eine ethnische Zuspitzung unmöglich gemacht. Christus wird zum gemeinsamen Nenner des „neuen“ Bundesvolkes. 28 F. Bovon, Lukas 1, 287. 25
4.3 Auslegung
71
schen Ansprüchen der Rede nicht genügen. „Here and elsewhere in Luke, the people are prospective followers; Jesus gives instructions on the way of discipleship that serve as an invitation and challenge to all.“29 Deutlich macht der Evangelist durch die Rahmung der Feldrede aber auch, dass die Maßstäbe, nach denen Gott das Verhalten der Menschen beurteilt, für alle Menschen gleich sind. Es gibt keine Bevorzugung im Sinne eines erwählten Volkes.30 Zugleich ist die Rede aber auch eine Einladung an alle Menschen, die eigene Lebensführung am Willen Gottes zu orientieren und somit, wie im weiteren Verlauf ausgeführt wird, Anteil am Reich Gottes zu haben.
4.3.2 Makarismen und Weherufe Die Struktur, in der Lukas die Makarismen (Lk 6,20b–23) und die Weherufe (Lk 6,24–26) angeordnet hat, ist übersichtlich und klar. Er gestaltet eine Reihe aus vier Makarismen, denen er im Anschluss eine parallele, antithetische Reihe aus vier Weherufen gegenüberstellt. Während die ersten drei Makarismen bzw. Weherufe von kurzer Prägnanz sind, werden der vierte Makarismus und der vierte Weheruf länger ausgestaltet und durchbrechen den Rhythmus der vorangegangenen Sentenzen. Es ist in der ntl. Wissenschaft viel über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Makarismen der Feldrede und denen der Bergpredigt geforscht worden, wobei auch immer wieder die Frage thematisiert wurde, welche Inhalte auf Jesus direkt zurückzuführen sind und welche eine spätere Bildung darstellen.31 Diesen Fragen soll in der vorliegenden Unter29
J. Green, Luke, 261; änhlich argumentiert J. Nolland, Luke 1, 276. Ganz ähnlich äußert sich Johannes der Täufer in seinen ethischen Ausführungen. Alle Menschen sind aufgefordert, ihr Leben nach den göttlichen Maßstäben zu leben und alle Menschen müssen ihr Tun an diesen Maßstäben messen lassen. Die Abrahamskindschaft bringt keinen Vorzug hinsichtlich des Richterspruches Gottes (vgl. Lk 3,7–9). 31 F. Bovon, Lukas 1, 295–298 plädiert dafür, dass die ersten drei Makarismen als Gruppe auf den historischen Jesus zurückzuführen sind, während der vierte Makarismus ebenfalls jesuanisch ist, aber ursprünglich nicht im Zusammenhang mit den ersten drei stand. Die Logienquelle fasste alle vier Makarismen zu einer Reihe zusammen. Lukas übernahm die Vorlage aus Q, wobei er die 3. Pers. Pl. in die 2. Pers. Pl. änderte, während Matthäus Q aus anderen Traditionen erweiterte und ergänzte, dabei aber die ursprüngliche Form der 3. Pers. Pl. beibehielt. Die Weherufe stammen entweder aus der Feder des Lukas oder aus der Hand eines Redaktors des LkEv. M. Wolter, Lukasevangelium, 245–247 lässt die Frage nach einer adäquaten Zuordnung der mt. oder der lk. Variante zur Vorlage in der Logienquelle offen, da diese aus exegetischer Sicht nicht zuverlässig beantwortet werden kann. Er vermutet jedoch, dass sich Lukas bezüglich der Feldrede als Ganzer stärker an Q orientierte, als dies bei Matthäus der Fall sein dürfte, der zur Formulierung der Bergpredigt die Vorlage der Logienquelle wahrscheinlich erweiterte. Die Parallelität von Makarismen und Weherufen ist jedoch der Gestaltung des Evangelisten Lukas zuzuschreiben. H. Klein, Lukasevangelium, 242–246 geht davon aus, dass die ersten drei Makarismen inhaltlich auf Jesus zurückgehen, aber nicht in der hier vorliegenden Form als zusammenhän30
72
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
suchung nicht nachgegangen werden, vielmehr soll der Fokus auf dem Inhalt und der Systematik dessen liegen, was der Evangelist Lukas als jesuanische Ethik verstanden und in seinem Doppelwerk präsentiert hat. gende Gruppe. Die bei Lukas in den ersten drei Makarismen begegnende Formulierung des Zuspruchs in der 2. Pers. Pl. soll als originär verstanden werden, während die Anrede der Adressaten ursprünglich in der 3. Pers. Pl. formuliert war. Bezüglich des Wortlauts orientiert sich Lukas bei den ersten beiden Makarismen an seiner Vorlage Q, während er den dritten Makarismus selbst formuliert. Zudem ändert er die ihm vorliegende Reihenfolge, da er den zweiten mit dem dritten Makarismus vertauscht. Der vierte Makarismus entstammt der urchristlichen Gemeinde und wurde von Lukas sprachlich an Lk 21,17 angepasst. Die Weherufe sind allesamt lukanisch ebenso wie die parallele Zuordnung von Makarismen und Weherufen, da die Gattung des Makarismus ursprünglich in die weisheitliche Tradition gehört, während die Weherufe aus der prophetischen Tradition stammen. D. Bock, Luke I, 546–553 mahnt generell zur Vorsicht hinsichtlich der redaktionsgeschichtlichen Hypothesen zur Entstehung der Feldrede bzw. der Bergpredigt und er geht davon aus, dass es durchaus mehr als nur eine Quelle gegeben haben kann, die die Inhalte der Rede Jesu tradiert hat. D. Bock sieht im lk. Umgang mit den Makarismen und den Weherufen eine Tendenz zur Gestaltung, die sich einerseits in der Kürzung vorliegenden Quellenmaterials, andererseits in der Einfügung mancher Signalwörter, z. B. νῦν (Lk 6,21a und 6,21b), ausdrückt. Inhaltlich können sowohl die Makarismen als auch die Weherufe auf Jesus selbst zurückgeführt werden. H.‑D. Betz, Sermon, 571–575 sieht keine Möglichkeit zu entscheiden, ob die lk. oder die mt. Variante der Makarismen die ursprünglichere sei. Seines Erachtens liegen dem Evangelisten sowohl die Makarismen als auch die Weherufe inhaltlich bereits in seiner Quelle vor, wobei nicht übersehen werden darf, dass auch Matthäus die Inhalte der Weherufe in sein Evangelium übernommen hat, ohne dass er dabei auf die im LkEv begegnende Form zurückgriff. H.‑D. Betz unterstreicht das kompositorische Element, das sowohl der Feldrede als auch der Bergpredigt zugrunde liegt und verweist hinsichtlich der Feldrede immer wieder auf deren hellenistischen Hintergrund, was beispielsweise die Art und Weise der Thematisierung des Reichtums belegt. Thematisch-inhaltlich würden sich also die Makarismen und die Weherufe auf eine Zeit vor Lukas zurückführen lassen, während die sprachliche Ausgestaltung das Werk des Evangelisten sei. J. Topel, Children, 57–61 vertritt die These, dass sich sowohl die Feldrede als auch die Bergpredigt aus der Logienquelle speisen, wobei die Unterschiede zwischen den beiden Reden auf die redaktionelle Arbeit der Evangelisten zurückzuführen sei. J. Topel weist die Hypothese zweier unterschiedlicher Ausgaben der Logienquelle als unbeweisbar zurück. U. Luz, Matthäus 1, 201–204 geht davon aus, dass die ersten drei Makarismen der Feldrede in ihrer Reihung auf Jesus zurückzuführen sind, während der vierte Makarismus durch die Autoren der Logienquelle dieser Reihe hinzugefügt worden ist. Im Anschluss daran wurde Q überarbeitet und der Makarismenreihe wurden redaktionell noch vier weitere Makarismen hinzugefügt. Über die Herkunft des letzten bei Matthäus genannten Makarismus ist keine Aussage möglich. Bezüglich der Sprache geht U. Luz davon aus, dass die Formulierungen in ihrem Wechsel zwischen 3. Pers. Pl. und 2. Pers. Pl., wie sie im LkEv vorliegen, auf Jesus selbst zurückzuführen sind. Matthäus hat durch die Veränderung in die 3. Pers. Pl. die Makarismen der atl. Tradition angepasst. M. Konradt, Matthäus, 67 geht ebenfalls davon aus, dass nur die ersten drei Makarismen jesuanischen Ursprungs sind, während der vierte Makarismus eine frühe, nachösterliche Bildung darstellt. Bezüglich der im MtEv zusätzlich aufgeführten Makarismen folgert M. Konradt, dass diese „auf der Basis atl. Texte und frühchristlicher Tradition gebildet“ worden sind. J. Green, Luke, 260–281 beschäftigt sich nicht mit redaktions- bzw. überlieferungsgeschichtlichen Fragestellungen bezüglich der Feldrede.
4.3 Auslegung
73
Makarismen sind in der antiken Literatur eine bekannte Gattung und finden sich sowohl in frühjüdischen als auch in hellenistisch-römischen sowie ägyptischen Texten wieder.32 Selbstverständlich begegnen Makarismen und Weherufe auch in der LXX.33 Dabei fällt auf, dass sich die Makarismen der LXX vor allem dadurch auszeichnen, dass meist diejenigen selig gepriesen werden, die ein positives Gottesverhältnis pflegen. Die Weherufe wiederum finden eine breite Anwendung bei den Propheten im Zuge der Kritik des von menschlicher Seite zerrütteten Bundesverhältnisses. Der hellenistische, außerjüdische Gebrauch34 des Begriffs „μακάριος“ beschreibt grundsätzlich einen glücklichen Zustand, doch oszilliert die Bedeutung zwischen der Glückseligkeit der Götter, die der Mühe des menschlichen Lebens enthoben sind, und dem profanen menschlichen Reichtum, der jedoch auch von den alltäglichen Mühen zu befreien mag. Als rhetorisches Element ist der Makarismus zu einer Stilform geworden, die „eine Person über das ihr zuteil gewordene Glück preist, insbesondere Grund oder Bedingung dieses Glückes heraushebt.“35 Die Makarismen werden in der griechischen Literatur, aber auch in griechischen Inschriften zu Zeugnissen dessen, was als besonders begehrenswert, tugendhaft und löblich gilt. Im Frühjudentum36 und in der LXX37 benennen die Makarismen ebenfalls einen Zustand des Glücks, wobei sie zu einer festen Stilform werden. Wie in der hellenistischen Umwelt binden auch das Frühjudentum und die LXX die Makarismen an die philosophischen und die religiösen Definitionen dessen, was ein qualitativ hochwertiges Leben ausmacht.38 Selbstverständlich spielt hierbei eine positive Relation des Einzelnen zu Gott im Sinne einer Observanz des in der Tora offenbarten Willen JHWHs eine wichtige Rolle.39 32 Für
eine Übersicht der Belegstellen vgl. F. Bovon, Lukas 1, 296–297; W. Radl, Lukas I, 374–375. W. Radl konzentriert sich in erster Linie auf die frühjüdischen und die LXX Belege. 33 Makarismen: Dtn 33,29; 1Kön 10,8; 2Chr 9,7; ψ 1,1; 2,12; 31,1.2; 33,9; 39,5; 40,2; 64,5; 83,5.6.13; 88,16; 93,12; 105,3; 111,1; 118,1.2; 126,5; 127,2; 128,1; 136,8.9; 143,15; 145,5; Prov 3,13; 8,34; 28,14; Jes 30,18; 31,9; 32,20; 56,2; Hiob 5,17; Dan 12,12; Tob 13,15.17; Sir 14,1.2.20; 25,8.9; 26,1; 28,19; 31,8; 48,11; 50,28; Bar 4,4; PsSal 4,23; 5,16; 6,1; 10,1; 17,44; 18,6; 4Makk 18,9. Weherufe: Num 21,29; 1Sam 4,7.8.21; 1Kön 12,24; 13,30; Eccl 4,10; 10,16 Jes 1,4.24; 3,9.11; 5,8.11.18.20.21.22; 10,1.5; 17,12; 18,1; 24,16; 28,1; 29,1.15; 30,1; 33,1; Jer 4,13, 6,4;10,19; 13,27; 22,18; 26,19; 27,27; 28,2; 31,1; Thren 5,16; Ez 2,10; 7,26; 13,3.18; Hos 7,13; 9,12; Am 5,16.18; 6,1; Mi 7,4; Nah 3,17; Hab 2,6.12.19; Zeph 2,5; 3,18; Jdt 16,17; Sir 2,12.13.14; 41,8; Tob 10,5 (Codex Sinaiticus). 34 Vgl. zum Ganzen: F. Hauck, Art. μακάριος, 365–366. Als Monographien seien genannt: I. Broer, Seligpreisungen; Th. Howell, Beatitudes. 35 F. Hauck, Art. μακάριος, 366. 36 Vgl. beispielsweise 4Q525; 2Hen 42,6–12; 52,11. 37 Vgl. zum Ganzen: G. Bertram, Art. μακάριος, 367–369. 38 H.‑D. Betz, Makarismen, 12–14 verweist, neben anderen, auf den Unterschied zwischen der Seligpreisung des Weisen und der apokalyptischen Seligpreisung. 39 Vgl. J. Topel, Children, 62.
74
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Indem nun Lukas die Feldrede mit einer Reihe von Makarismen beginnen lässt, greift er auf ein Stilmittel zurück, das sowohl seinen jüdischen als auch seinen hellenistisch-römisch geprägten Lesern bekannt ist und das beide Adressatenkreise mit der Beschreibung eines Glückszustandes verbinden. Die Definition dessen, was „Glück“ bedeutet, ist bei Lukas zumeist mit einem Querverweis auf die göttliche Sphäre, genauer: auf das Königreich Gottes verbunden. Dass Lukas der Makarismenreihe eine parallel aufgebaute, antithetische Reihe von Weherufen folgen lässt, kann durchaus als eine genuin lk. Struktur interpretiert werden,40 doch ist zumindest den LXX kundigen Lesern die Stilform des Weherufes als Ankündigung göttlichen Gerichts, und somit gewissermaßen als Gegenentwurf des Makarismus, vertraut. Auch außerhalb der Feldrede begegnen im LkEv Makarismen41 und Weherufe.42 Die Besonderheit der lk. Makarismen und Weherufe, insbesondere die der Feldrede, liegt nicht in der Stilform, sondern vielmehr im Inhalt derselben. „Under the strain of expressing the realities of the Reign of God it has been transformed from a platitudinous to a paradoxical expression.“43 Lukas gestaltet einen Kommunikationsakt mit seiner Umwelt, indem er zentrale, aber durch und durch herausfordernde Kernsätze jesuanischer Ethik in Form von Makarismen und Weherufen prominent an den Anfang der Feldrede stellt. Die Inhalte dürften vor allem seine hellenistisch-römischen Adressaten irritiert haben, da die Definition dessen, worin sich Glückseligkeit ausdrückt und worüber ein drohender Weheruf ausgestoßen wird, ihrer Ansicht nach förmlich auf den Kopf gestellt wird. Während der lk. Jesus in weiten Teilen mit geprägten und gefestigten Weltanschauungen der nicht-jüdischen Umwelt bricht, lassen sich, wie die Untersuchung zeigen wird, thematische Verbindungen zu den Prophetenbüchern der LXX ziehen.44 Doch vor allem der letzte Makarismus (Lk 6,22–23) macht deutlich, dass Lukas ganz gewiss nicht von einer Realisierung der prophetischen Mahnungen des AT in der Gesellschaft seiner Zeit ausgeht. Für die jüdischen Adressaten sind die von der atl. Prophetie geprägten Makarismen und Weherufe inhaltlich vertraut, doch gewinnen sie in ihrer Zuspitzung und in der klaren Benennung derer, denen sie gelten, im Gesamtaufriss des LkEv vor allem aber in der Feldrede herausfordernden Charakter. 40 Siehe M. Wolter, Lukasevangelium, 247: „Eine vergleichbare Gegenüberstellung von Seligpreisungen und Weherufen ist ansonsten weder innerhalb noch außerhalb des NT belegt.“ 41 Lk 1,45; 7,23; 10,23; 11,27.28; 12,37.38.43; 14,14.15; 23,29. In Lk 1,48 formuliert Maria die Aussicht auf die eigene Seligpreisung durch andere. In den Acta finden sich ein Makarismus in Act 20,35 und eine rhetorische Höflichkeitsfloskel, die den Begriff μακάριος verwendet in Act 26,2. 42 Lk 10,13; 11,42.43.44.46.47.52; 17,1; 21,23; 22,22. 43 J. Topel, Children, 67. 44 W. Radl, Lukas I, 376 verweist auf die Paradoxien der Makarismen und der Weherufe und begründet diese Paradoxie zwar nicht inhaltlich, aber doch formgeschichtlich mit der atl. Prophetie: „Diese in sich widersinnige apodiktische Zusage des Heils kann man nur als anstößige ‚prophetische Proklamation‘ verstehen.“
4.3 Auslegung
75
Auf dem Hintergrund der frühjüdischen Apokalyptik reiht sich der lk. Jesus in die Ordnung derer ein, die, wie beispielsweise Henoch, die Durchsetzung der göttlichen Gerechtigkeit vermittels scharf konnotierter Reihen von Makarismen bzw. von Weherufen zu formulieren wissen. Allerdings wird die Analyse zeigen, dass sich die Durchsetzung der Gottesherrschaft, wie sie Lukas versteht, mitnichten durch eine apokalyptische Doppelstruktur von Seligpreisung und Weheruf umfassend beschreiben lässt. Da der Evangelist die parallele antithetische Struktur von Makarismen und Weherufen vorgegeben hat, wird die folgende Exegese die zueinander gehörenden Makarismen und Weherufe jeweils paarweise analysieren.
4.3.2.1 Die Armen (V. 20b–c) und die Reichen (V. 24a–b) Die Makarismenreihe der Feldrede ist durchweg in der 2. Pers. Pl. gehalten, was ihr einen drängenden persönlichen Charakter verleiht.45 Den Auftakt der Reihe bildet die Seligpreisung der Armen. Dieser Makarismus darf durchaus als provokant verstanden werden, da die Lebensumstände eines πτωχός46 einen antiken Redner respektive einen antiken Autor, grundsätzlich nicht dazu motivieren, diesen ob seiner herausragenden Position selig zu preisen oder gar als Ideal darzustellen. Auch wenn den gebildeten, antiken Adressaten des LkEv manche philosophischen Konzepte bekannt waren, in denen die selbst gewählte Besitzlosigkeit als Weg zur Tugend beschrieben wird,47 so kann doch realistischerweise davon ausgegangen werden, dass weder für die philosophisch gebildete noch für die philosophisch unbedarfte Bevölkerung die bittere Armut einen Zustand darstellte, den es im konkreten, alltäglichen Leben zu erstreben galt.48 45 Es
gibt in der ntl. Forschung eine Debatte über die Frage, ob die 2. oder die 3. Pers. Pl. auf eine größere Ursprünglichkeit der Makarismen schließen lässt. Diese Debatte wird hier nicht fortgeführt werden. Siehe dazu H.‑D. Betz, Sermon, 571–572: „There is really no ground for arguing for a greater ‚originality‘ (whatever that may mean) for either formulation, although such attempts are continously made in the commentary literature.“ 46 Der von Lukas gebrauchte Begriff πτωχός beschreibt im Griechischen denjenigen, der am unteren Ende der sozialen Leiter steht und keine oder nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit hat, seinen Lebensunterhalt ohne fremde Hilfe zu bestreiten. Um zu einer Definition des πτωχός zu gelangen, wird in der ntl. Forschung gerne auf eine Aussage von Marc Aurel zurückgegriffen; so etwa M. Wolter, Lukasevangelium, 248: „Ein πτωχός ist, wer einen anderen braucht und nicht alles, was zum Leben nötig ist, selbst besitzt.“ Hinzu tritt eine begriffliche Unterscheidung zwischen einem πτωχός und einem πένης: Letzterer ist ebenfalls arm, kann aber seinen Lebensunterhalt in sehr beschränktem Umfang selbst erarbeiten; vgl. F. Bovon, Lukas 1, 299, FN 40. Ob diese semantische Unterscheidung für das LkEv überhaupt zu treffen ist, ist zumindest fraglich, da der Begriff πένης im LkEv gar nicht, ja im gesamten NT nur ein einziges Mal in Form eines Zitats begegnet (2Kor 9,9). 47 Zu denken wäre hier beispielsweise an die Bewegung der Kyniker und deren bekannten Vertreter Diogenes. 48 Nahezu ironisch bringt dies Sen.vit.beat. 1,24, auf den Punkt: „Der Reichtum, erkläre ich, ist kein Gut; wäre er es, würde er den Menschen gut machen. Weil man nun aber, was sich bei Schlechten findet, nicht als gut bezeichnen kann, spreche ich ihm diese Qualität ab. Im Üb-
76
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Exkurs: Die Armen bei Lukas Aufgrund der großen Bedeutung, die der Themenkomplex des Besitzethos im lk. Denken einnimmt,49 ist es nicht verwunderlich, dass der Makarismus gegenüber den Armen den Eingang in die Feldrede bildet. Dabei fällt jedoch auf, dass den Armen allein aufgrund ihres Arm-Seins die Teilhabe am Reich Gottes zugesprochen wird, wobei es, gerade in der Diktion des Makarismus und vor allem im Gegensatz zu den Reichen im LkEv, keine Rolle spielt, ob ihr Lebenswandel ethischen Ansprüchen genügt. Im Zusammenhang von ethisch gutem Handeln und der sich daraus ergebenden Heilsteilhabe kommen die Armen in der Argumentation des Evangelisten nicht als ethische Handlungssubjekte vor, sondern werden ausschließlich aufgrund ihres (Er-)Leidens als dem Reich Gottes würdig qualifiziert. Die Wohlhabenden wiederum werden im lk. Doppelwerk streng gemäß ihrem Handeln beurteilt und ihre Teilhabe am Reich Gottes entscheidet sich nahezu ausschließlich daran, ob ihr Verhalten den ethischen Maßstäben Jesu entspricht oder nicht. Sie werden als Handlungssubjekte wahrgenommen, deren eschatologisches Geschick zu großen Teilen in ihrer Eigenverantwortung liegt.50 Dieses Muster wiederholt sich im lk. Doppelwerk und wird beispielsweise narrativ durch die Perikope vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lk 16,19–31) anschaulich dargestellt. Es entsteht der Eindruck, als ob das finanzielle Vermögen eines Menschen darüber entscheidet, ob Lukas Ethik und eschatologische Heilsteilhabe miteinander verbindet oder nicht. Die Armen scheinen sich einer besonders privilegierten Stellung in den Augen Gottes zu erfreuen, sodass ihr eschatologisches Heil ohne weiteres Zutun bereits gesichert ist. Welche Traditionen mögen hier Einfluss auf den Evangelisten ausgeübt haben? Konstruiert er möglicherweise eine Art Spiritualität der Armut, die die Besitzlosigkeit in den Status eines religiösen Empfindens versetzt? Wer sind die Armen, von denen Lukas spricht? Die hebräische Bibel kennt sechs verschiedene Wortstämme, die sich mit dem Thema der Armut beschäftigen, wobei für die Analyse der ntl. Texte vor allem die jeweiligen griechischen Übersetzungen der LXX von Belang sind.51 Während die LXX noch zwischen ὁ πτωχός und ὁ πένης trennt,52 wird im NT, wie oben bereits gezeigt, diese Trennung nicht mehr aufrechterhalten. Darüber hinaus zeigt eine Durchsicht der LXX-Belege, dass ὁ πτωχός als Übersetzung für unterschiedliche hebräische Termini der Armut verwendet wird,53 sodass für die LXX noch mit Zurückhaltung, für das NT aber mit Bestimmtheit festgestellt werden kann, dass der Begriff ὁ πτωχός all jene beschreibt, die sich in einer wirtschaftlich desolaten Lage befinden bis hin zu dem Punkt, dass sie keinerlei Möglichkeiten besitzen, ohne fremde Hilfe ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. rigen gebe ich zu, daß man ihn haben darf, daß er nützlich ist und daß er ein sehr angenehmes Leben ermöglicht.“ 49 Vgl. hierzu den Forschungsüberblick. 50 Die einzige Aussage im LkEv, die auch gegenüber den Reichen einen gnadenhaften Charakter Gottes zum Ausdruck bringt, findet sich in Lk 18,26–27 im Anschluss an die Begegnung Jesu mit dem reichen Adligen. 51 Zu den unterschiedlichen hebräischen Begrifflichkeiten für Armut gehören: ענׇ וִ ים/ י ֲ ִענ,ׇ מ ְס ֵּכן,ּרׁש ׅ,ּדל ׇ, ֶא ְביֹון ׇund מ ְחסוֺ ר: ַ Zu den Wortbedeutungen und griech. Übersetzungen in der LXX vgl. J. Topel, Children, 68–71 und E. Bammel, Art. πτωχός, 888–889. 52 Die LXX beschreibt mit ὁ πένης eine Person, die nicht über nennenswerte Besitztümer verfügt, aber noch nicht zu den (Bettel-)Armen gehört. 53 Πτωχός kann als Übersetzung von ֶא ְביֹון, ענׇ וִ ים/ י ֲ ִ ׇענund ׇּדלverwendet werden, während ׅמ ְס ֵּכןund ַמ ְחסוֺ רnicht mit πτωχός übersetzt werden; vgl. J. Topel, Children, 68.
4.3 Auslegung
77
Das Massenphänomen der Armut und das Angewiesensein breiter Bevölkerungsschichten auf fremde Hilfe,54 stellt eine gesellschaftliche Herausforderung dar, die natürlich auch in religiösen Texten reflektiert und bearbeitet wird. Das LkEv stellt hierbei keine Ausnahme dar. Dabei greift der Evangelist umfassend auf verschiedene atl. Traditionen zurück,55 die sich in positiver56 Zugewandtheit mit den verarmten Mitmenschen beschäftigen. Die lk. Bearbeitung besitzethischer Fragestellungen gründet zuallererst auf der Überzeugung, dass die Armut ein innerweltliches Übel ist, das ein hohes Maß an Leid verursacht und das durch karitatives Verhalten der Wohlhabenden gelindert, wenn nicht sogar ganz überwunden werden soll.57 Lukas begreift die Armut in all ihren sozialen Dimensionen, die neben der wirtschaftlich desolaten Lage auch die vielfältigen Formen der Unterdrückung durch die Mächtigen und Wohlhabenden sowie des gesellschaftlichen Ausgeschlossen-Werdens beinhaltet.58 Damit wird deutlich, dass Lukas in seinen Ausführungen keine abstrakte, geistliche Form der Armut thematisiert, sondern eindeutig Menschen in wirtschaftlichen Notlagen vor Augen hat, wobei die Notlagen teilweise existenzbedrohenden Charakter annehmen. Eine Spiritualisierung der Armut59 kann lediglich insofern postuliert werden, als dass die Armen der Teilhabe an der Gottesherrschaft gewiss sein können, ohne dass danach gefragt wird, ob ihr Verhalten den Anforderungen jesuanischer Ethik entspricht oder wie es um ihren Glauben beschaffen ist.60 54
Vgl. das Schaubild bei J. Topel, Children, 267. Demgemäß waren 18 % der Bevölkerung vollkommen verarmt und weitere 70 % verfügten nur über 15 % des Gesamtvermögens, während die gesellschaftliche Oberschicht 12 % der Bevölkerung ausmachte und 85 % des Gesamtvermögens des Landes besaß. 55 Eine hilfreiche Zusammenstellung und Analyse findet sich bei J. Topel, Children, 71– 79, und dient im Folgenden als Grundlage. 56 Im AT finden sich vor allem in den weisheitlichen Texten auch ablehnende Tendenzen gegenüber den Armen, und zwar dergestalt, dass diesen die eigene Verantwortung für ihre Armut vorgehalten wird; vgl. D. Michel, Art: Armut, 72–73; Ch. Hays, Wealth Ethics, 26– 27. J. Topel, Children, 71 macht in diesem Zusammenhang kritisch darauf aufmerksam, dass hier die Armen als ֲענׇ וִ יםbezeichnet und somit in der griech. Übersetzung nicht unter dem Begriff πτωχός subsumiert werden. 57 Dies zeigt sich nicht zuletzt in der lk. Darstellung der Jerusalemer Urgemeinde (Act 2,42–47; 4,32–37). 58 Vice versa umfasst dann auch der Reichtum im lk. Denken nicht nur einen materiellen Überfluss, sondern auch die gesellschaftlich hervorgehobene Position der Reichen und der damit einhergehenden Verantwortung. Vgl. hierzu auch J. Green, Luke, 267. 59 In der Forschung hat es, nicht zuletzt ausgehend von biblischen Belegstellen wie etwa Ps 40,18; 70,6; 86,1; 109,22; Zef 2,3; 3,12 die Überlegung gegeben, ob es Strömungen im (Früh-)Judentum gab, in denen die Armen als Synonym für die Gerechten galten, ohne dass dabei notwendig von einer ökonomisch desaströsen Lebenssituation auszugehen wäre; vgl. den Forschungsüberblick bei N. Lohfink, Anawim Partei. Als Beispiel für eine solche Spiritualisierung der Armut im Frühjudentum wird oft auf die Qumrangemeinschaft verwiesen, die sich selbst als „Gemeinde der Armen“ bezeichnete; vgl. W. Radl, Lukas I, 378; M. Wolter, Lukasevangelium, 249. Eine derartige Interpretation des Begriffes „Armut“ kann wohl aber für das AT im Allgemeinen, insbesondere aber für das LkEv im Besonderen zurückgewiesen werden; vgl. J. Topel, Children, 71–74; und speziell mit Blick auf den ersten Makarismus der Feldrede W. Radl, Lukas I, 378. 60 Eine deutliche Ausnahme bildet die Witwe in Lk 21,1–4, die mit den beiden Lepta ihren gesamten Besitz Gott geopfert hat.
78
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Armut kann bei Lukas, in Anlehnung an atl. Diktion, insofern als Symbol für den Glauben dienen, dass die vollständige Hinwendung der Armen zu Gott und ihr tiefes Vertrauen in seine Hilfe ein symbolhafter Ausdruck dafür ist, wie es um die Qualität der Gottesbeziehung eines jeden Menschen bestellt sein sollte.61 „Es war eben das semantische Merkmal der Angewiesenheit auf fremde Hilfe, das es möglich machte, den Begriff πτωχός mit einer theologischen Konnotation aufzuladen […]. Dadurch wird dieser Begriff geeignet zur Bezeichnung derer, denen in ihrer objektiv bestehenden Notlage allein noch die Hilfe Gottes bleibt (z. B. Ps 9,10; 12,6; 22,25; auf Israel übertragen z. B. Jes 41,47; 49,13; 61,1; Zeph 3,12).“62 Am Zwölferkreis veranschaulicht der Evangelist bildhaft, wie sich die Jünger durch die Besitzaufgabe zu Beginn der Nachfolge in die vollständige Abhängigkeit von Gottes Fürsorge begeben. Eine Abhängigkeit, die durch ein tiefes Vertrauen in Gott geprägt ist und somit auch die Qualität ihrer Gottesbeziehung widerspiegelt. „Es ist wahrscheinlich, dass für das Jüngerbild, das Lukas hier entwirft, beide Aspekte eine Rolle spielen: Die Jünger sind in ökonomischer Hinsicht arm und sie sind dies in Bezug auf ihr Gottesverhältnis: Sie haben alles verlassen, und sie haben damit zum Ausdruck gebracht, dass sie alles nur von Gott erwarten.“63 Zwei Gedanken sind an dieser Stelle noch wichtig: Die dem Zwölferkreis von Jesus auferlegte Besitzlosigkeit ist keine conditio sine qua non der Jüngerschaft oder auch der Teilhabe am Gottesreich; diese Rolle nimmt die πίστις ein. Die Abkehr von Besitz und Gewinnstreben ist bei Lukas Ausdruck der πίστις, besser: der Nachfolge Jesu, da eine Veränderung der Prioritäten menschlichen Handelns stattgefunden hat: weg von der egoistischen Mehrung eigenen Besitzes, hin zur Realisierung der Worte Jesu, die durch Nächsten- und Gottesliebe gekennzeichnet ist.64 Insofern der Mensch aber das Gewinnstreben (ἡ πλεονεξία)65 an erster Stelle seines Handelns stellt, ist er weder zur Nächsten- noch zur Gottesliebe fähig. Das ist auch die Aussage, die hinter Lk 14,33 und Lk 18,22–27 steht. Die Besitzaufgabe des Zwölferkreises ist einerseits ein Symbol für ein tiefes Gottvertrauen, andererseits ein Ausdruck für die Gefährdung, die durch das Besitzstreben für eine gelebte Gottesbeziehung ausgeht.66 Diese Gefährdung bringt der Evangelist prägnant auf den Punkt: „Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein.“ (Lk 12,34). Das lk. Besitzethos verurteilt also nicht das Faktum des Besitzes, sondern die Priorisierung 61 Paradigmatisch können hier die Logien vom falschen und vom rechten Sorgen in Lk 12,22–34 genannt werden. 62 M. Wolter, Lukasevangelium, 248. Diesen Ausführungen folgt auch D. Bock, Luke I, 574. J. Nolland, Luke 1, 282 betont in diesem Zusammenhang vor allem die Freiheit, die die Armen gegenüber den Reichen haben; eine Freiheit, sich ganz Gott hinzuwenden, da sie nicht durch die Sorgen der Besitzstandswahrung gefangen sind. 63 M. Wolter, Lukasevangelium, 249. 64 Vgl. dazu paradigmatisch Lk 19,1–10. 65 Der Vorwurf der πλεονεξία, den Jesus gegen die Pharisäer erhebt (Lk 16,14), ist das Scharnier zwischen der Warnung vor dem Mammondienst (Lk 16,10–13) und der Perikope des armen Lazarus (Lk 16,19–31). 66 Die Belege hierfür sind über das gesamte lk. Doppelwerk verteilt. Exemplarisch seien genannt: Der reiche Kornbauer (Lk 12,16–21), die Auswahl der Gäste (Lk 14,12–14), der reiche Mann und der arme Lazarus (Lk 16,19–31), der reiche Archon (Lk 18,18–27), Hananias und Saphira (Act 5,1–11).
4.3 Auslegung
79
des Besitzstrebens, die die Umsetzung des Doppelgebotes der Liebe verhindert. Dem der πλεονεξία verfallene Mensch ist der Mammon vom Dämon zum Gott geworden. Zum anderen muss die Symbolhaftigkeit der Darstellungen des Besitzverzichts unterstrichen werden. Historisch gesehen sind Zweifel angebracht, ob die wirtschaftliche Situation Jesu und seines Zwölferkreises wirklich durch bittere Armut, der damit einhergehenden gesellschaftlichen Ausgrenzung und, wie es Lk 5,11 und Lk 18,28–29 suggerieren, Aufgabe von Freunden und Familie geprägt war. „The disciples certainly are not rich after pulling up stakes to follow Jesus, but the fact that they spend their time with a man who is the frequent recipient of banquets and has a gaggle of financially independent female supporters means that nobody would think them to be impoverished in the way the πτωχοί implies. Lazarus is πτωχός in 16.20, as is the widow of 21.2; the Twelve are not.“67 In der Dialektik zwischen dem Makarismus an die Armen und dem Weheruf gegen die Reichen schwingt der unausgesprochene Vorwurf mit, dass die Reichen aufgrund ihres selbstsüchtigen Reichtums mitverantwortlich für die Armut der Armen sind. Diesen gilt die uneingeschränkte Solidarität Gottes, während jenen mit göttlicher Vergeltung gedroht wird. „Soziologisch sind Lukas, seine Gemeinde und seine potentielle Leserschaft in einer oberen Schicht angesiedelt. Sie sind eben nicht arm und kämpfen deshalb so hart mit dem Problem des Besitzes. […] Die Armut-Reichtum-Frage ist also sowohl eine höchst konkrete Angelegenheit als auch gleichzeitig ein Testfall für das christliche Engagement.“68 Lukas knüpft dabei nahtlos an die Traditionen der prophetischen Sozialkritik an69 und übernimmt sowohl theologische Überzeugungen als auch sprachliche Stilmittel,70 um seiner Botschaft Ausdruck zu verleihen. Die Umkehrung der irdischen Verhältnisse zugunsten der Armen und zum Schaden der Reichen wird am Maßstab der göttlichen Gerechtigkeit ausgerichtet, der bereits seit den Propheten bekannt ist. Die Hochschätzung der atl. Propheten und ihrer Botschaft prägt die Sammlung der Makarismen und Weherufe und wird im letzten Makarismus und dem dazu gehörenden Weheruf explizit zum zentralen Thema. Lukas verdeutlicht, dass das Wirken und die Botschaft der Propheten auch zu seiner Zeit nichts an Relevanz verloren hat. „The world’s perspective and values are reversed here. What is condemned is a misplaced focus that zeroes in on this life and its possessions without concern for God’s desires or fellow humans. The danger of succumbing to things of only temporal value is all too real and deceptive.“71 Die Aufnahme atl. Traditionen, die sich mit Gottes Beistand für die Armen und Unterdrückten beschäftigen,72 findet nicht erst im Zuge der Feldrede, sondern bereits bei Jesu 67 68
Ch. Hays, Wealth Ethics, 108. F. Bovon, Lukas 1, 300. 69 Vgl. beispielsweise Jes 1,16–17.21–23; 3,14–23; 5,8–24; 10,1–2 u. ö.; Am 2,6–8; 3,9– 11.15; 4,1–3; 5,11–12; 6,3–14; 8,4–10; Mi 2,1–12. 70 Nach J. Gertz, Grundinformation, 309, ist die prophetische Ankündigung des Gerichts in Form einer Totenklage ist die sprachliche Vorlage der Weherufe; vgl. Jes 5,8–24.28–31; 10,1–2; Am 5,1–2.18; Hab 2,6–20. 71 D. Bock, Luke I, 583. 72 Vgl. beispielsweise Ex 22,21–23; Dtn 27,19; 24,12–15.17–21; Ps 68,6–7; 146,7–9; Jes 1,17; Jer 5,28–29; 7,6; Sach 7,10.
80
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
erstem öffentlichen Auftreten nach seiner Taufe in Nazareth statt (Lk 4,16–30). Dort wird der Anspruch formuliert, dass die Verheißung der Zuwendung Gottes zu den Hilflosen in und durch Jesus realisiert wird. Zu den Verknüpfungen mit den Prophetentraditionen tritt hier auch das Motiv des sog. Jubel- bzw. Erlassjahres hinzu, das in der Gesetzgebung des Pentateuch an prominenten Stellen behandelt wird.73 Die Bereitschaft, regelmäßig einen Schuldenschnitt zu vollziehen, auf Besitzansprüche zu verzichten und verarmten Menschen zu einer neuen Lebensgrundlage zu verhelfen, ist Bestandteil des Heiligkeitsgesetzes74 und Ausdruck göttlichen Willens sowie menschlicher Bundestreue.75 Aufgrund des Auftretens Jesu aktualisiert Lukas diese Forderungen aus dem Pentateuch und entwickelt dabei eine ganz bestimmte Perspektive auf Gott und auf die Schwerpunktsetzung in der Realisierung seines Heilswillens. So macht der Evangelist deutlich, dass sich das Heilshandeln Gottes in Jesus zuallererst denen zuwendet, die aus eigener Kraft und eigenem Vermögen nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu helfen, sondern auf Hilfe von außen angewiesen sind. Dadurch wird der soziale Anspruch,76 der mit der messianischen Sendung einhergeht, unmissverständlich zum Ausdruck gebracht und dieser Anspruch bildet zudem das Fundament für alle weiteren sozialen und karitativen Impulse, die mit dem Wirken Jesu einhergehen. „Still, irrespective of the historicity of the practice, the ideals of the Sabbath and the Jubilee years bleed through in Luke’s teaching on debt remision, as well as in the Nazareth Synagogue Sermon (Luke 4:16– 20).“77
Lässt sich die unerschütterliche Solidarität mit den Armen, die das lk. Denken auszeichnet, also vor dem Hintergrund eines atl. Traditionszusammenhangs nochmals genauer erfassen, so drängt doch der Makarismus über die Armen, der in seiner provozierend schlichten und und undifferenzierten Form den Auftakt der Feldrede bildet, förmlich nach einer Erläuterung. Diese erwächst nicht nur aus der Kenntnis des Traditionszusammenhangs, sondern auch aus der Apodosis (V. 20c): „Denn euer ist das Königreich Gottes!“ „Der Nebensatz hat also hermeneutische Funktion. Nicht wegen ihrer Armut sind die Armen glücklich! Im Gegenteil: Jesus und Lukas sind mit dem Alten Bund einig, daß 73
Vgl. Ex 23,10–11; Lev 25,1–55; Dtn 15,1–11. Siehe A. Meinhold, Art. Jubeljahr, 281: „Die theologische Bedeutung ist letztlich in der Zugehörigkeit von Lev 25 zum Heiligkeitsgesetz begründet: Damit Israel heilig sein kann und Gott entsprechen kann, bedarf es der Freiheit der ‚Sklaven Gottes‘ (V. 42) von anderen Schuldverhältnissen, die wesentlich mit dem Bodenbesitz zusammenhingen.“ 75 Inwieweit das Jubeljahr tatsächlich praktiziert wurde, sei dahingestellt. Von zentraler Bedeutung sind vielmehr die damit verbundenen theologisch-ethischen Aussagen, die Armut, soziale Ungleichheit und damit einhergehende Unterdrückung als dem Willen des Schöpfers grundsätzlich entgegengestellt und mit dem Bundesschluss zwischen JHWH und seinem Volk als unvereinbar charakterisieren; vgl. etwa J. Topel, Children, 71; I. Cardellini, Art. Erlaßjahr/Jobeljahr, 1423–1424. 76 Die Aussagen der Antrittspredigt beinhalten auf einer etwas abstrahierten Ebene natürlich auch hamartiologische Gehalte. So kann der Blinde sowohl für den Mangel an biologischer Sehkraft als auch für den Mangel an Gotteserkenntnis stehen ebenso wie der Gefangene auch gefangen in seiner Schuld vor Gott sein kann. 77 Ch. Hays, Wealth Ethics, 41–42. 74
4.3 Auslegung
81
die Armut weder ein glücklicher Zustand noch ein Ideal ist. Aber in ihrer Armut können die πτωχοί schon glücklich sein, weil sie wissen, daß das Reich Gottes schon für sie da ist.“78
Es fällt auf, dass Lukas im Gegensatz zu den folgenden Makarismen die Apodosis nicht durch futurische Verbformen strukturiert, sondern dass er hier das Präsens wählt. Die Armen sind darum selig zu preisen, weil ihnen die Teilhabe an der Gottesherrschaft verbindlich zugesprochen ist;79 eine Teilhabe, die sich bereits innerweltlich abzeichnet. In dieser Formulierung schwingt die unausgesprochene Zusage mit, dass den Armen die Zugehörigkeit zur Gottesherrschaft auch nicht mehr genommen werden kann. Indem Lukas gleich zu Beginn der Feldrede den Fokus auf die Gottesherrschaft richtet, ordnet er zumindest den ersten Hauptteil, wenn nicht die ganze Rede, diesem Themenkomplex unter. Dabei gilt es stets zu bedenken, dass das Motiv der Gottesherrschaft in der ethischen Argumentation dialektisch angewandt wird: Auf der einen Seite beschreibt die Teilhabe am Reich Gottes das eschatologische Ziel, welches der Mensch vermittels seines ethisch guten Verhaltens erreichen möchte.80 Auf der anderen Seite ist die Gottesherrschaft nicht nur eine ferne, eschatologische Größe, der sich der Einzelne zu nähern versucht, sondern sie ist bereits im Anbruch begriffen, ereignet sich in Teilen bereits diesseitig.81 Im Bewusstsein des Anbruchs der Gottesherrschaft ist der Einzelne nochmals, und wohl auch letztgültig, zu einem sittlich guten Verhalten herausgefordert.82 Im Lichte der Gottesherrschaft kann nur das Verhalten als ethisch angemessen gelten, das sich an den Kategorien der göttlichen Gerechtigkeit orientiert.83 Die Seligpreisung der Armen gründet auf dem Verständnis der Gottesherrschaft als Raum und Verwirklichung des eschatologischen Heils. Der Evangelist bringt durch den ersten Makarismus die kompromisslose und unerschütterliche Solidarität Gottes mit den Armen zum Ausdruck und führt den Adressaten vor Augen, dass die niedrigste und erniedrigende Lebensweise eines Menschen durch Gottes Intervention aufgehoben und in ihr Gegenteil verkehrt wird. Die Armen sind bereits jetzt Miterben der Königsherrschaft Gottes und sollen um ihre Heilsteilhabe wissen, die Gott ihnen hic et nunc verbindlich zugesprochen hat. Die Irritation, die der Ruf μακάριοι οἱ πτωχοί bei den Lesern des LkEv auslöst, wird durch den Verweis auf das zugesagte und garantierte eschatologische Heil aufgefangen. Die Armen befinden sich in der privilegierten Situation, be78 F. Bovon, Lukas 1, 300. 79 Der Garant dieses Zuspruches
ist natürlich Gott selbst, dessen Entscheidungen durch den Mund Jesu verbindlich formuliert werden können. 80 Vgl. Lk 10,25; 18,18. 81 Vgl. Lk 17,20–21. 82 W. Schrage, Art. Ethik, 436 formuliert es so, dass „Motivations- und Orientierungsebene ineinander übergehen.“ Vgl. zum Ganzen: W. Schrage, Art. Ethik, 435–437. 83 Diese Kategorien zu benennen ist natürlich das Anliegen der Feldrede.
82
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
reits jetzt einer Heilsgewissheit teilhaftig zu sein, während andere noch in der Spannung zwischen eschatologischem Heil und Unheil leben. Die Gegenüberstellung von Makarismen und Weherufen in der Feldrede ist durch einen antithetischen Parallelismus gekennzeichnet, wobei das Wort πλήν zu Beginn des ersten Weherufs die Antithetik deutlich hervorhebt: Während den einen heilvolle Zusagen gemacht werden, wird den anderen im Gegensatz dazu nun offenkundig gedroht.84 Auch die Weherufe besitzen in Analogie zu den Makarismen einen zukünftigen Charakter, indem den Darstellungen des Ist-Zustandes in der Protasis die angekündigten Drohungen in der Apodosis, die durch Verben im Futur ausgedrückt sind, gegenübergestellt werden. Parallel zur Makarismenreihe bildet auch bei den Weherufen das erste „Wehe“ eine Ausnahme, da es im Präsens formuliert ist, wodurch ein eschatologisches Urteil gesprochen wird, dessen Revision prima vista nicht zu erwarten ist. Der erste Weheruf ist ganz allgemein gegen die Reichen gerichtet (V. 24a). Die an und für sich harmlose Aussage, dass die Reichen ihren Trost (ἡ παράκλησις) bereits empfangen haben, bekommt ihre Eigenschaft als Begründung85 des Weherufs durch die Parallelisierung mit dem ersten Makarismus. Die Teilhabe am Königreich Gottes (V. 20c) und der bereits erfolgte Empfang eines Trostes (V. 24b) legen sich gegenseitig aus. Somit wird der feste Zuspruch der Gottesherrschaft den Armen zum Trost für ihre diesseitig zu ertragenden Leiden, während den Reichen deutlich gemacht wird, dass sie mitnichten an der kommenden Königsherrschaft Gottes teilhaben werden, da sie bereits im Diesseits ihren Trost empfangen haben (ἀπέχειν), der in den Annehmlichkeiten ihres Lebens in Reichtum besteht. „The full payment is their wealth, but nothing will come to them from God in the future.“86 Es ist wohl kein Zufall, dass Lukas hier das Verb ἀπέχειν verwendet, das in der Geschäftssprache ein terminus technicus für den quittierten Empfang eines Betrages darstellt.87 In der Sprache ihrer Lebenswelt, der sie auch ihren Reichtum verdanken und von der die Armen ausgeschlossen sind, wird den Reichen unmissverständlich vermittelt, dass der Erwerb des Trostes bereits rechtsverbindlich abgeschlossen ist. Es besteht keine Möglichkeit mehr, einen anderen Trost wie etwa die Heilsteilhabe zu erwerben. Durch ihr Streben nach Reichtum haben sie das Gut bekommen, das sie haben wollten. Ein Umtausch scheint ausgeschlossen zu sein. 84 Wie oben bereits angedeutet, haben die lk. Weherufe ein Pendant in den atl. Schriftpropheten, die ihre Unheilsankündigungen teilweise in Form einer Totenklage strukturiert haben. Die LXX-Übersetzung des hebräischen Klagerufs הוֺ יlautet οὐαί (vgl. beispielsweise Am 5,16–18; Hab 2,6.20). Für weitere atl. Parallelen zur lk. Gegenüberstellung von Makarismen und Weherufen vgl. D. Bock, Luke I, 582–583. 85 ὅτι (V.24b; 25b.d) ist hier kausal zu übersetzen. 86 D. Bock, Luke I, 583. 87 Vgl. W. Bauer/K . Aland, Wörterbuch, ἀπέχω, 169. Nahezu jeder Kommentar macht hierauf aufmerksam.
4.3 Auslegung
83
Dieser endgültige Charakter des ersten Weherufes, der durch die Präsensbildung zum Ausdruck kommt, irritiert: Während Lukas über weite Strecken in seinem Doppelwerk die μετάνοια verkündigt und somit die Menschen zur büßenden Umkehr aufruft, scheint er gegenüber den Reichen in diesem Falle eine solche Möglichkeit auszuschließen. Die Radikalität überrascht um so mehr, als dass er in narrativen Sequenzen die Umkehr reicher Protagonisten beschreibt.88 „Luke’s Jesus has no aversion to the rich; it is out of his love for them that he warns them of the peril presented by their riches.“89 Die rhetorische Schärfe der Weherufe liegt in deren Kompromisslosigkeit, die ein exaktes Gegenbild zum gnadenhaften Charakter der Makarismen entwirft. Die antithetische Parallelstruktur von Seligpreisungen und Weherufen ist aufgrund ihrer Rhetorik nicht der rechte Ort für eine abgewogene Argumentation. Das Dipthychon aus Makarismen und Weherufen lebt vielmehr von einem konsequenten Schwarz-Weiß-Denken. Ordnet man den ersten Teil der Feldrede aber in das Gesamtbild lk. Theologie und Ethik ein, so kann natürlich hinter der Provokation der Weherufe die Mahnung zur Umkehr entdeckt werden. Das Schockierende, das Aufrüttelnde der Weherufe soll die Adressaten zur intensiven Selbstreflexion und zur Veränderung des eigenen Verhaltens animieren. Auf ganz ähnliche Art und Weise argumentiert der Täufer im LkEv: Zunächst wird mit der Axt gedroht, die dem Baum bereits an die Wurzel gelegt ist. Den darauf folgenden erschrockenen Ruf der Menge „Was sollen wir tun?“, beantwortet Johannes mit einer ethischen Paränese, der sog. Standespredigt, welche vom Gedanken der büßenden Umkehr geprägt ist (vgl. Lk 3,7– 14). „The woes serve as a warning and a call of repentance to those who may be tempted to trust too greatly in wealth, comfort, popularity, and possessions.“90 Die bereits erwähnte Perikope vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lk 16,19–31) lässt erahnen, welches Bild Lukas hier vor Augen hat, wenn er den Gegensatz von armen und reichen Menschen beschreibt, bei denen die einen bereits sicher mit der Heilsteilhabe und die anderen bereits sicher mit der Ausgeschlossenheit vom Heil rechnen können. Der reiche Mann in der Lazarusperikope entspricht exakt jenem Typus Mensch, der der πλεονεξία voll und ganz verfallen ist und daher weder für Gottes Gebote noch für die Nöte seines Nächsten Aufmerksamkeit aufbringen kann. Der Evangelist benennt in Lk 16,19–22 eine Wechselwirkung zwischen der Verelendung der Armen und dem überbordenden Luxus der Reichen.91 Diese Wechselwirkungen haben für Lukas einen Einfluss auf das jeweilige eschatologische Geschick der Menschen. Die Gottesherrschaft setzt sich unter Umkehrung der irdischen Verhältnisse durch und ist gekennzeichnet durch die unverbrüchliche Solidarität Gottes mit den Armen 88
Z. B. Lk 19,1–10. J. Topel, Children, 115–116. 90 D. Bock, Luke I, 582. Eine ähnliche Argumentation bietet W. Radl, Lukas I, 385. 91 Das ist wiederum ein klassisches Motiv atl. Prophetie; vgl. beispielsweise Jes 5,8; Am 5,11–12. 89
84
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
und Erniedrigten. Eine Solidarität, die in konsequenter Weise die Umkehrung irdischer Strukturen vorantreibt und somit einhergeht mit der eschatologischen Bestrafung der Reichen und Mächtigen.92 „Note, then, that while the beatitudes concentrate on what God is doing in Jesus’ introduction of the Reign of God, the woe to the rich has a strongly implied ethic for the reader: give to the poor now, while there is time!“93 Dabei darf die Gottesherrschaft, wie Lukas sie beschreibt, aber nicht darin missverstanden werden, dass sie einen konsequenten Gegenentwurf zur Welt darstellen und gerade in dieser Kontrastierung ihr eigentliches Wesen finden würde. Lukas ist kein Gnostiker, der per se von der Verderbtheit der Schöpfung ausgeht. Vielmehr kann der Evangelist als genauer Beobachter verstanden werden, der die Verhältnisse zwischenmenschlichen Umgangs auf ihre Übereinstimmung mit dem Willen Gottes hin prüft und die Missstände, die sich in dieser Prüfung ergeben, schonungslos offenlegt. Für Lukas ist nicht die Welt in ihrer Verfasstheit das Problem, sondern Unterdrückung, Ausbeutung und Verfolgung; kurz: Gewalttaten, die Menschen in Missachtung des göttlichen Willens sich gegenseitig antun. Eines der gewichtigsten Motive für einen solchen Umgang erkennt Lukas in der menschlichen Gier nach Reichtum und Macht. Somit ist es nur folgerichtig, dass er in seiner Reich-Gottes-Botschaft einen Fokus auf eben diese Aspekte legt und dass die Durchsetzung der Gottesherrschaft mit der Durchbrechung menschlichen Macht- und Gewinnstrebens einhergehen muss, wodurch die bestehende Ordnung der Welt auf den Kopf gestellt wird. „Luke, however, portrays Jesus as redefining both, now and for the eschatological future, the way the world works; he is replacing the common representations of the world with a new one.“94 Zusammenfassend lässt sich also zunächst festhalten, dass das Motiv der Umkehrung innerweltlicher Strukturen und Verhältnismäßigkeiten als Charakteristikum der Makarismen und Weherufe im Speziellen, der Feldrede im Weiteren und der lk. Theologie im Allgemeinen verstanden werden kann. Diese Umkehrung ist untrennbar mit der Königsherrschaft Gottes verbunden, deren Vollendung zwar noch aussteht, deren Anbruch aber mit dem Auftreten Jesu begonnen hat. Somit kann gefolgert werden, dass auch die Umkehrung der Verhältnisse bereits angebrochen ist und zwar dort, wo die Lehren Jesu durch seine Jünger in die Tat umgesetzt werden.
4.3.2.2 Die Hungernden (V. 21a–b) und die Satten (V. 25a–b) Der zweite Makarismus preist all diejenigen selig, die jetzt hungern95 müssen, da ihnen Sättigung zugesichert wird. Der Makarismus ist geprägt durch den 92 Dieses Motiv findet sich bereits ganz zu Beginn des LkEv im Magnificat der Maria (Lk 1,46–52). 93 J. Topel, Children, 119. 94 J. Green, Luke, 264 f. 95 Der Hunger (V. 21a) wird im Hinblick auf das AT als zusammengehörig mit dem Arm-
4.3 Auslegung
85
Gegensatz von einer präsentischen Beschreibung des Mangels, die durch das temporale Adverb νῦν hervorgehoben wird und der zukünftigen Verheißung der Sättigung, die den Hungernden von außen, ohne ihr eigenes Zutun zukommen wird. Die Stilform des passivum divinum96 macht deutlich, dass der Urheber dieser Sättigung zweifelsohne Gott selbst sein wird. Die kommende Umkehrung von Unheil zu Heil wird also all denen zugesprochen, die aktuell unter defizitären Lebensumständen zu leiden haben97 und im Hinblick auf V. 20c ist anzunehmen, dass die Erfüllung der Heilszusage in der Realisierung der Gottesherrschaft stattfinden wird. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass Lukas von einem Wachstum des Reiches Gottes ausgeht (vgl. Lk 13,18–19), dessen Beginn diesseitig, dessen Vollendung eschatologisch zu verstehen ist. Aus dieser Perspektive betrachtet kann der Makarismus dergestalt verstanden werden, dass die Sättigung der Hungernden in dem Maß voranschreitet, in welchem die Königsherrschaft Gottes innerweltlich wächst und größer wird. Ein Seitenblick in die Acta zeigt, dass Lukas die christliche Gemeinde als Raum der Gottesherrschaft verstanden und seine Darstellung der Jerusalemer Urgemeinde so konzipiert hat, dass es in ihr keine Hungernden und keine Armen mehr gegeben hatte.98 Getragen wird dies durch einen Perspektivenwechsel innerhalb der christlichen Gemeinde: Indem nicht auf die eigenen Bedürfnisse und Nöte geachtet wird, sondern auf die der Mitmenschen, entwickelt sich ein Netz von gegenseitiger Fürsorge, das unter Einsatz des je eigenen Vermögens realisiert wird und vom Geist der Nächstenliebe geprägt ist.99 „Our position is that the rich are not to become beggars (poverty is what Jesus’ Reign of God removes), but so to share their wealth that there are no poor in the land.“100 Denkbar wäre, dass Lukas den Makarismus gegenüber den Hungernden auf einer theologischen Ebene parallel zu den Aussagen über das himmlische Gastmahl101 gestaltet hat und somit die Fülle der eschatologischen Vollendung des Sein (V. 20b) verstanden; vgl. J. Topel, Children, 98; H.‑D. Betz, Sermon, 576. Manche Exegeten fügen noch das Weinen (V. 21c) zu dieser Gruppe hinzu, vgl. M. Wolter, Lukasevangelium, 249; W. Radl, Lukas I, 379, D. Bock, Luke I, 575. 96 Lukas verwendet das Verb χορτάζειν in der 2. Pers. Pl. Fut. Pass. 97 Hier ergibt sich eine signifikante Differenz zu den Makarismen der Bergpredigt. Im Gegensatz zu Matthäus spricht Lukas in erster Linie von den Menschen, die in größten wirtschaftlichen Nöten sind und somit ganz physisch hungern. Erst auf der Metaebene ist hier ein Hunger nach sozialer Gerechtigkeit ausgedrückt. 98 Vgl. die Darstellungen zur Gütergemeinschaft in Act 2,44–47; 4,32–35 sowie die Arbeit der Armenpfleger Act 6,1–7. Als Traditionshintergrund kann hier Dtn 15,4–5 angenommen werden. 99 Allerdings wird bereits in Act 6 deutlich, dass die gegenseitige Sozialfürsorge auch in der urchristlichen Gemeinde nicht problemlos umgesetzt werden konnte. Ansonsten wäre die Ernennung der sieben Armenpfleger nicht notwendig gewesen. 100 J. Topel, Children, 117. 101 In diese Traditionslinie gehört wohl Lk 14,7–24.
86
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Reiches Gottes zum Ausdruck bringt. Eine Fülle, die in direktem und wohltuendem Kontrast zu den misslichen irdischen Lebensumständen steht.102 Allerdings scheint dies nur ein sehr hintergründiger Bedeutungsgehalt des Makarismus zu sein.103 Lukas konzentriert sich unter den Voraussetzungen des ersten Makarismus vor allem auf die irdischen Notlagen der Menschen, die es konkret zu überwinden gilt,104 bzw. die durch Gottes Heilsinitiative endgültig überwunden werden. Theologisch ist also festzuhalten, dass die Realisierung der Makarismen sich im Raum der Königsherrschaft Gottes vollzieht, die sich allein auf die Heilsinitiative Gottes gründet. Ethisch betrachtet sind aber auch all diejenigen, die an der Gottesherrschaft innerweltlich partizipieren, in der Verantwortung, ihren Beitrag zu leisten, um die Lebensrealitäten dem Willen Gottes entsprechend zu gestalten. Das bedeutet, dass die beginnende Verwirklichung des Makarismus gegenüber den Hungernden dadurch zustande kommt, dass die Mitglieder der christlichen Gemeinde sich karitativ den Sorgen und Nöten der Hungernden annehmen und ihnen zu essen geben. Der Dualismus von innerweltlichem Anbruch und eschatologischer Vollendung der Gottesherrschaft entspricht in der lk. Ethik auch dem Dualismus von göttlicher und menschlicher Verantwortung gegenüber den Hilfsbedürftigen.105 Der parallele Weheruf gilt denjenigen, die jetzt bereits gesättigt sind und kündigt ihnen künftigen Hunger an. Strukturanalog zum zweiten Makarismus entwirft der Evangelist auch hier wieder eine klare Trennung der Zeiträume. Das νῦν in V. 25a konzentriert den Blick auf die präsentischen Gegebenheiten, während das Verb πεινᾶν in der 2. Pers. Pl. Fut. (V. 25b) die Erfüllung der angedrohten Strafe auf einen zukünftigen Zeitpunkt verlagert, der wohl ebenfalls mit der Durchsetzung des Reiches Gottes zusammengedacht wird. Die zeitliche Verortung der Umsetzung der Wehe, die wiederum mit der Umkehrung der irdischen Verhältnisse einhergeht, in einen noch nicht genau bestimmbaren zukünftigen Moment darf mitnichten als eine Abschwächung des Weherufes verstanden werden. Der Evangelist lebt im Bewusstsein, dass sich das Reich Gottes mit Sicherheit vollenden wird und diese Gewissheit prägt auch die Erwartung der sich ereignenden Wehe ebenso wie des sich ereignenden Heils. Beides ist im Heilswillen Gottes eingeschlossen. 102 Deutlich unterstreicht D. Bock, Luke I, 576 den Charakter des eschatologischen Mahles: „The reference is not so much to physical filling with food as it is to spiritual satisfaction at being received by God and welcomed as one of his children […].“ 103 M. Wolter, Lukasevangelium, 249 formuliert knapp: „[D]ie Tradition vom eschatischen Festmahl hat hiermit nichts zu tun.“ 104 J. Topel, Children, 98–99 erinnert in diesem Zusammenhang an die Speisung der 5000 und an die prophetischen Traditionen, etwa Jes 58,7–10, die auf das Sättigen der Hungernden als innerweltlicher Aufgabe drängen. 105 Vgl. auch J. Topel, Children, 101.
4.3 Auslegung
87
Durch den Vergleich zwischen den angewandten Verben des Makarismus und des Weherufs wird mancherorts vermutet, dass Lukas die Beschreibung der Satten in einem anklagenden, zynischen Tonfall kleidet. Im Gegensatz zum Makarismus verwendet der Evangelist für den Weheruf nicht das Verb χορτάζειν, sondern eine Partizipialkonstruktion von ἐμπι[μ]πλήναι, um nicht nur das Motiv des Satt-Seins zu benennen, sondern darüber hinaus auch noch die Gier anzuklagen, die die Satten bestimmt.106 Aufgrund der Parallele zum Magnificat ist eine solche Interpretation auszuschließen: In Lk 1,53 wird Gottes Heilshandeln dergestalt beschrieben, dass sich die Hungernden mit Gutem sättigen können und auch hier kommt das Verb ἐμπι[μ]πλήναι zur Anwendung. Ein Motiv der Rücksichtslosigkeit und der Gier wäre sicherlich fehl am Platz,107 allerdings drückt die Wortfamilie πι[μ]πλήναι einen Charakter der Fülle, des Überflusses aus. Daher richtet sich der Weheruf auch an diejenigen, deren Leben von Überfluss gekennzeichnet ist und die sich somit in die Kategorie der im ersten Weheruf angesprochenen Reichen einordnen lassen.108
4.3.2.3 Die Weinenden (V. 21c–d) und die Lachenden (V. 25c–d) Der dritte Makarismus tröstet diejenigen, die in Trauer sind und verheißt ihnen im Reich Gottes die Transformation ihrer Trauer in Freude.109 Die Struktur ist genauso aufgebaut wie im vorangehenden Makarismus und drückt sich durch ein Gegenüber von einer präsentisch (νῦν) defizitären und einer zukünftig positiven (γελᾶν in 2. Pers. Pl. Fut.) Lebenslage aus. Indem das Hungern und das Weinen als paradigmatische Beschreibungen des Lebens der Armen (V. 20b) verstanden werden, sind gleichermaßen physische und psychische Notlagen angesprochen, die unter der Königsherrschaft Gottes nicht nur abgeschafft, sondern auch in ihr Gegenteil verkehrt werden. „In that case, as κλαίειν expresses a response to intense misery, γελᾶν expresses not vaunting triumph but the mirthful and joyous consolation of those who follow Jesus’ way of the cross through death to resurrection.“110 Der Evangelist macht durch seine Makarismenreihe deutlich, dass sich Gott um den Menschen als Ganzen, als leib-seelische Einheit kümmert und seine Fürsorge beiden Aspekten menschlicher Existenz widmet. Der dritte Weheruf formuliert im selben Zeitmuster zwischen Präsens und Futur die Antithese zum dritten Makarismus und droht denjenigen, die heute lachen, ein zukünftiges Klagen und Weinen an. Als Spiegelbild zu den Makarismen sollen die hier angesprochenen Lachenden gemeinsam mit den Satten 106
M. Wolter, Lukasevangelium, 252 übersetzt hier mit „die Vollgefresssenen“. M. Wolter, Lukasevangelium, 253 benennt diese Parallele, zieht aber keine weiteren Schlussfolgerungen für die Wortbedeutung. 108 In Analogie zu den Makarismen, kann das Satt-Sein (V. 25a) und das Lachen (V. 25c) unter das Reich-Sein (V. 24a) subsumiert werden; vgl. beispielsweise J. Topel, Children, 120. 109 Ps 126 bietet hierzu ein atl. Pendant ebenso wie Jes 61,2–3; 65,18–19. 110 J. Topel, Children, 103. 107
88
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
dem Leitmotiv der Reichen zugeordnet werden. So ist das Lachen in V. 25c kein hämisches Auslachen o. ä., sondern Ausdruck der sinnlichen, teils selbstsüchtigen Lebensfreude, die Lukas den Reichen in den diesseitigen Verhältnissen zuschreibt. „The utmost wealth is now described as not having a care in the world. Inevitably there is a sense of indifference to the needs of others in such self-satisfied joy.“111 Dem eschatologischen Weinen und Klagen kann nichts entgegengesetzt werden, da die Reichen zukünftig keinen Trost mehr zu erwarten haben. Der Verlust ihres privilegierten Lebensstils ist eine bleibende körperliche (πεινᾶν) und seelische (πενθεῖν und κλαίειν) Defiziterfahrung.112 Sie sind darüber hinaus aus dem Heilshandeln Gottes eschatologisch ausgeschlossen. Das bedeutet aber auch, dass Lukas den irdischen Reichtum der Menschen nicht als Ausdruck göttlicher Gnade und Gunst ansieht. Hiermit befindet er sich in einem Bruch mit seiner hellenistisch-römischen Umwelt und ignoriert zudem weisheitliche Passagen der LXX.
4.3.2.4 Die Gehassten (V. 22a–23b) und die Gerühmten (V. 26a–b) Die atl. Propheten dienen im vierten und letzten Makarismus nun nicht mehr als unausgesprochener Traditionshintergrund, sondern werden konkret als Vergleich zur Lebenssituation der unter Verfolgung leidenden Jünger Jesu herangezogen und benannt. Der vierte Makarismus passt insofern zur Reihe der drei vorangegangenen Makarismen, als dass er Menschen in defizitären Lebenslagen preist, doch findet ein Bruch in Form und Inhalt mit den anderen Makarismen statt, indem er einerseits deutlich ausführlicher und in Form eines konditionalen ὅταν Satzes verfasst ist,113 andererseits nicht mehr die Armut und deren Begleiterscheinung, sondern die Verfolgungssituation der Jünger zum Inhalt hat. „This recognition of rejection clearly has roots in Jesus’ ministry, since already opposition to him exists (6:2, 11).“114 Den Jüngern werden als Antagonisten schlicht „die Menschen“ gegenübergestellt, die sich dadurch auszeichnen, dass sie gerade nicht zu den Nachfolgern Jesu gehören, sondern diese hassen,115 ausgrenzen,116 beschimpfen und 111
J. Topel, Children, 121. Parallel dazu argumentiert auch Jak 5,1–6. 113 Das Konditionalgefüge macht deutlich, dass sich die Jünger der Seligpreisung zum Zeitpunkt und anlässlich der zu erleidenden Ausgrenzungen sicher sein können. Somit kann auch die Bedeutung der Formulierung ἐκεῖνη ἡ ἡμέρα (V. 23a) schwerlich eschatologisch verstanden werde; vgl. demgegenüber Betz, Sermon, 582. 114 D. Bock, Luke I, 577. 115 Im Horizont biblischer Traditionen beschreibt μισεῖν hier den Hass derer, die Gott nicht verehren, auf alles, was mit Gott in Zusammenhang zu bringen ist; vgl. J. Topel, Children, 104. 116 D. Bock, Luke Ι, 579 interpretiert ἀφορίζειν in Anlehnung an das 18-Bitten-Gebet als Synagogenausschluss. Demgegenüber ist jedoch M. Wolter, Lukasevangelium, 250, Recht 112
4.3 Auslegung
89
diffamieren.117 Die Perspektive der Makarismenreihe weitet sich also von den leib-seelischen Bedürfnissen des Menschen hin zu seiner Einbettung in soziale Kontexte. Diese ist im vorliegenden Fall bestimmt durch eine Gruppenzugehörigkeit, ein Bekenntnis zum Menschensohn,118 wodurch sich eine klare Trennung zum anderen Teil der Gesellschaft ergibt, der dieses Bekenntnis nicht zu teilen vermag. Auffallend ist dabei, dass die Nachfolger Jesu nicht nur ignoriert werden, sondern dass ihnen mit Aggression begegnet wird. Für den Evangelisten ist die öffentliche Anfeindung ein Anlass zur ausgelassenen Freude. Die Adressaten werden nachdrücklich dazu aufgefordert, sich angesichts der Verfolgungen zu freuen und vor Freude zu hüpfen.119 Diese paradoxe Reaktion wurzelt in dem Bewusstsein, die Anfeindungen gerade wegen (ἕνεκα) der Relation zu Jesus zu erleiden, die ganz offensichtlich nicht verborgen bleibt, sondern öffentlich bekannt geworden und darüber hinaus sogar auf Widerstand gestoßen ist, dem sich der Einzelne nicht gebeugt hat. „What seems described is the reaction of groups to the preaching of the Gospel as a disturbing of the established order, or as the promotion of a heterodox opinion.“120 Die gesellschaftliche Ausgrenzung, die die Anhänger Jesu erfahren, versteht der Evangelist sozusagen als Erweis der Treue gegenüber Jesus, die durch einen großen himmlischen Lohn vergolten werden wird. Anders ausgedrückt: Wer aufgrund seines Bekenntnisses zu Jesus in die Situation gerät, öffentlich diffamiert zu werden, kann sich seiner himmlischen (eschatologischen) Belohnung sicher sein.121 Der Begriff des himmlischen Lohnes (ὁ μισθὸς ἐν τῷ οὐρανῷ)122 spielt im LkEv eine wichtige Rolle, um einerseits eine eschatologische Belohzu geben, der hier nicht den Synagogenausschluss als Hintergrund annimmt, „sondern ganz allgemein die Erfahrung der sozialen Ausgrenzung und Isolierung der Christen von den Anfängen bis in die lk Gegenwart […].“ 117 Für die ersten drei Begriffe macht M. Wolter, Lukasevangelium, 250, auf Parallelen in 1Petr 4,14a und Jes 66,5 (BHS) aufmerksam. 118 M. Wolter, Lukasevangelium, 251 versteht die Diffamierung nicht individuell, sondern unter Bezugnahme auf Sueton, Nero 16,2, als Angriff auf die Gemeinschaft der Christusgläubigen. F. Bovon, Lukas 1, 304 verweist dagegen auf die individuelle Diffamierung. Ich würde in diesem Falle F. Bovon zustimmen, da die individuelle Form bei den Protagonisten der Acta sichtbar wird. 119 χαίρειν (V. 23a) und σκιρτᾶν (V. 23a) sind jeweils in der 2. Pers. Pl. Fut. formuliert und sollen an dieser Stelle als Imperativ übersetzt werden. Zur imperativen Verwendung von Verben im Futur vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 202 b. f. 120 J. Topel, Children, 108–109. 121 Die oben bereits erwähnte Sachparallele zwischen den Makarismen und Weherufen der Feldrede und Jes 65 kommt auch hier wieder zum Tragen; vgl. Jes 65,13–14. Allerdings unterscheidet sich Lukas von TritJes insofern, als dass die Jünger bereits angesichts der Verfolgungen jubeln sollen und nicht erst nach Ende derselben. Siehe J. Topel, Children, 109: „The OT has no instance of joy in suffering, but the theme is developed in intertestamental Judaism (2Macc 6:28–30; 4Macc 10:20; 2 Bar 52:5–7).“ 122 Auch in Abweichungen wie beispielsweise der Schatz im Himmel oder einfach nur der Lohn.
90
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
nung zum Ausdruck zu bringen123 und um andererseits in der Gegenüberstellung zu irdischem Reichtum adäquate Kategorien menschlichen Handelns zu benennen.124 „Beyond the use of μισθός itself, the concept of divine reward for the disciples’ faith is frequently implied, always disproportionate to human expectation of exchange.“125 Im vierten Makarismus schwingt natürlich unausgesprochen der Gedanke mit, dass es diese Anfeindungen auszuhalten gilt und dass ein Festhalten am Bekenntnis gerade in solch leidvollen Situationen um so wichtiger wird.126 Der Aspekt der Leidensnachfolge, der die Jüngerschaft auch im LkEv stark prägt, wird hier angesprochen.127 Der Rückgriff auf die Propheten und deren gewaltsames Geschick am Ende des Makarismus (V. 23c) dient dazu, die Verheißung nochmals zu bestärken. So werden die Nachfolger Jesu mit den Propheten des AT gleichgesetzt, die sich ebenfalls durch ihre Treue gegenüber Gott und durch ihr unbeugsames, unbequemes Verhalten in der Öffentlichkeit, mit der sie der Botschaft Gottes Gehör verschafft haben, ausgezeichnet haben. Ebenso wie die Propheten sind auch die Jünger Jesu zur tätigen Nachfolge und zum Zeugendienst aufgerufen. Und ebenso wie bei den Propheten ist damit zu rechnen, dass die Menschen, denen die unbequemen Wahrheiten der Botschaft Gottes gelten, mit Gewalt gegen die Botschafter vorgehen.128 Der Verweis auf das Geschick der Propheten gewinnt aber dadurch an Stärke, dass nicht nur die Treue der Propheten gegenüber Gott ein bekanntes und nicht zu hinterfragendes Charakteristikum darstellt, sondern dass auch Gottes Solidarität mit seinen Propheten als allgemein anerkannt gilt. Indem fraglose Übereinstimmung darin herrscht, dass den Propheten himmlischer Lohn zuteil geworden ist, kann die Gewissheit des eschatologischen Lohnes für die angefochtenen Nachfolger Jesu durch die Gleichsetzung der Jünger mit den Propheten unterstrichen werden. Der letzte Weheruf rekurriert antithetisch zum letzten Makarismus auf die Geschicke der Propheten und auf das Verhalten der Menschen, die sich mit dieser Botschaft auseinandersetzen mussten. So werden diejenigen gewarnt, die sich im Licht des öffentlichen Ansehens sonnen, dass auch die Falschpropheten, die im AT als Antagonisten der echten Propheten aufgetreten sind, sich einer 123 124
Vgl. beispielsweise Lk 6,35. Vgl. beispielsweise Lk 12,21.33–34; 18,18–23. 125 J. Topel, Children, 111. 126 Eine ganz ähnliche Struktur findet sich in Lk 9,26–27, wo davor gewarnt wird, sich der Person und der Worte Jesu zu schämen, da sich in diesem Fall wiederum Jesus im eschatologische Gericht für den betreffenden Menschen schämen und sich nicht für dessen Verbleib im eschatologischen Heil einsetzen wird. Vgl. dazu auch Lk 12,2–9. 127 Vgl. Lk 9,23–27; 10,57–62, 14,25–35. 128 W. Radl, Lukas I, 384 macht auf eine Linie vom vierten Makarismus über Lk 11,47 zu Act 7,51 aufmerksam. In allen Fällen wird den Gegnern der Christusgläubigen vorgeworfen, sich ebenso wie ihre Väter den Botschaftern Gottes zu verweigern und diese sogar anzufeinden. M. Wolter, Lukasevangelium, 251–252, greift diesen Gedanken auf, warnt aber zu Recht vor einer Einengung der lk. Aussage auf eine antijüdische Perspektive.
4.3 Auslegung
91
hohen gesellschaftlichen Popularität erfreuten.129 Ebenso wie bei den von Gott gesandten Propheten hing das Maß der Popularität von der Art der Botschaft ab: Indem sich die falschen Propheten nicht den mahnenden Worten Gottes verpflichtet sahen, sondern den Menschen nur Gutes ankündigten und sie in ihrer von Gott abgewandten Lebensführung bestärkten, konnten sie sich des öffentlichen Erfolgs und der öffentlichen Beliebtheit sicher sein.130 Der Weheruf, der sich auf diese Konstellation bezieht, wurzelt in dem unausgesprochenen, aber dennoch wohl bekannten Bewusstsein, dass die Falschpropheten allesamt der Strafe Gottes anheimfielen,131 da sie sich aus Eigen- und Ruhmsucht populistischen Inhalten verschrieben und sich in der Konsequenz von Gottes Wort und Willen abgewandt hatten. Lukas ruft seinen Adressaten mit drängenden und drohenden Worten die Tatsache ins Bewusstsein, dass der gesellschaftliche Ruhm kein Indikator für die Anerkennung eines Menschen vor Gott darstellt. Im Gegenteil: Die Reaktion der Menschen auf die kritischen Worte Gottes besteht zumeist in Ablehnung und Gewalt gegenüber dem Boten. Auch dieses gesellschaftliche Muster wird erst im Königreich Gottes überwunden sein. „Moreover, the new world and the values it embodies will catch unawares those who measure their lives by the old order; their sense of well-being and self-assurance is grounded in false values.“132
4.3.2.5 Zusammenfassung Die in einem antithetischen Parallelismus gestaltete Reihe von vier Makarismen und vier Weherufen bildet den Auftakt der Feldrede und vermittelt den Adressaten des Evangeliums einige wesentliche Punkte lk. Ethik. So wird die grundsätzliche und unumstößliche Solidarisierung Gottes mit den Armen, Leidenden und Unterdrückten hervorgehoben, wobei die Anknüpfung an atl. Traditionen, vornehmlich die der prophetischen Sozialkritik, klar zum Vorschein kommt. Den Rekurs auf die Propheten fortführend unterstreicht der Evangelist, dass diejenigen, die sich der Jesusnachfolge verschrieben haben, analog zu den Propheten zwar eine von Gott legitimierte Botschaft verkündigen und repräsentieren, dabei aber durchaus, ebenso wie die Propheten, mit dem Erleiden von Repressalien seitens derer, die die Botschaft Jesu ablehnen, zu rechnen haben. Die Seliggepriesenen können sich einer Umkehrung ihrer irdischen, von Leid und Entbehrung gekennzeichneten Verhältnisse gewiss sein; freilich erst im 129 Man kann hier eine Verbindung zu den in Lk 20,45–47 angesprochenen Schriftgelehrten entdecken, sollte den Weheruf aber nicht auf diese einengen. 130 Es gibt im AT einige Beispiele für diese Konstellation, von denen seien hier genannt: Jeremia und Hananja (Jer 28,1–17), Jeremia und Schemaja (Jer 29,24–32), Amos und Amazja (Am 7,10–17). Vgl. thematisch auch Jer 8,4–13, Mi 2,6–11. 131 In Dtn 13,6; 18,20 wird die Todesstrafe für die Falschpropheten gefordert. In Jer 28,17; 29,32 und Am 7,17 tritt Gott selbst als Richter über die Falschpropheten auf. 132 J. Green, Luke, 266.
92
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Zuge der Durchsetzung und Vollendung der sich bereits im Anbruch befindlichen Gottesherrschaft. Diese Umkehrung bringt es mit sich, dass die Reichen, Satten, Lachenden und Gerühmten dieser Tage mit eschatologischem Unheil konfrontiert sein werden. Liegt den Weherufen der Feldrede, in Analogie zur Täuferbotschaft, eine implizite Aufforderung zur Umkehr zugrunde, so steht diese expressis verbis nicht im Vordergrund. Vielmehr liegt die Intention der harten Unterscheidung zwischen Wohl und Wehe zwischen denen, die sich des göttlichen Beistands gewiss sein können, und denen, die sich dem göttlichen Richterspruch ausgeliefert sehen; in der Hervorhebung des existentiellen Ernstes und der Dringlichkeit, die der Botschaft der Feldrede inne wohnen.
4.3.3 Feindesliebe und Barmherzigkeit (Lk 6,27–38) Der zweite Hauptteil der Feldrede lässt sich in vier Abschnitte gliedern, wobei diese Feingliederung auch die folgende exegetische Untersuchung strukturieren wird: a) Feindesliebe und Gewaltverzicht (V. 27b–30b) b) Die Goldene Regel in der Ethik Jesu (V. 31a–34b) c) Gotteskindschaft und Barmherzigkeit (V. 35a–36b) d) Abschließendes Summarium (V. 37a–38d) Der Beginn des zweiten Hauptteils der Feldrede ist klar markiert durch die redeeinleitende Sentenz aus dem Munde Jesu in V. 27a. Die Reihe der Makarismen und Seligpreisungen ist abgeschlossen und nun folgt ein neuer Gedankengang, anlässlich dessen die Aufmerksamkeit der Zuhörer erneut geweckt werden soll. Der Evangelist markiert diesen neuen Abschnitt der Rede sprachlich durch die Verwendung der Konjunktion ἀλλά,133 vermittels derer eine Zäsur gegenüber der vorangegangenen Kette von Makarismen und Weherufen geschaffen wird. Durch die Formulierung „ὑμῖν […] τοῖς ἀκούουσιν“ (V. 27a) wird im Verbund mit der in Lk 6,17–19 beschriebenen Zuhörerschaft deutlich, dass auch die folgenden ethischen Sentenzen, wiewohl sie eine ethisch ideale Lebensführung im Zuge der Jesusnachfolge beschreiben, keine spezielle „Jüngerethik“ darstellt, keine Aufforderung an die „Evangelischen Räte“, sondern einen für alle Menschen verbindlichen Charakter haben. Die allgemeine Verbindlichkeit erwächst ebenso wie die Zuspitzung auf die Lebensführung in der Nachfolge Jesu, aus der souveränen Lehre Jesu, die nach Darstellung den Evangelisten durch göttliche Autorität gestützt und somit normativ ist. Freilich ergeben sich hieraus einige Fragen, die im Folgenden bedacht werden sollen. So ist zum einen zu prüfen, inwiefern die als allgemein verbindlich geltende Unterweisung Jesu für 133 Sinngemäß könnte man auch übersetzen: „In Anbetracht dessen sage ich euch, die ihr zuhört:“ Vgl. in ähnlicher Form D. Bock, Luke I, 588: „It represents a shift back to the desired activity of disciples.“
4.3 Auslegung
93
die antiken Adressaten auch allgemein verständlich, respektive in das Denken und Handeln integrierbar ist. Die Analyse der außerntl. Quellen wird sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Zum anderen wäre mit Blick auf die normative Lehrautorität Jesu und auf das Setting, das an die Sinaiperikope erinnert, danach zu fragen, inwieweit das Motiv eines göttlichen Offenbarungshandelns für die Auslegung der Feldrede von Relevanz ist. Auch diesem Fragekomplex soll nachgegangen werden.
4.3.3.1 Feindesliebe und Gewaltverzicht (V. 27b–30b) Der zweite Hauptteil der Feldrede beginnt mit einem Hauptstück jesuanischer Ethik,134 das „nicht nur etwas Unerwartetes wie die Seligpreisungen, sondern eine Zumutung [ist]: Liebet eure Feinde!“135 Die Feindesliebe dient als Leitmotiv des ersten Abschnitts und dominiert in verschiedener Ausdifferenzierung auch noch weite Teile des zweiten Hauptteils, wobei vor allem die Frage nach der Motivation im Hintergrund steht: Wie kann es einem Menschen gelingen, einen offensichtlichen Widerspruch zu leben, nämlich seine Feinde nicht nur zu respektieren, sondern sie zu lieben? Wodurch sollte ein Mensch dazu animiert werden können, die Kluft der Feindschaft durch Liebe und Gewaltverzicht zu überwinden und dabei sein Recht auf Verteidigung aufzugeben? Wie ist die Autorität beschaffen, die solch eine Herkulesaufgabe dem Menschen nicht nur anempfiehlt, sondern als zentrale ethische Forderung zumutet? Gerade weil das Feindesliebegebot der berühmteste Bestandteil jesuanischer Ethik ist,136 ist die Exegese herausgefordert, sich kritisch mit dieser Forderung auseinanderzusetzen und die Widersprüche und Spannungen, die die Feindesliebe produziert, zu benennen und auszuhalten. Es soll in jedem Falle vermieden werden, das Feindesliebegebot gerade wegen seiner Berühmtheit und seiner Verortung in der Ethik Jesu, schlicht als gegeben hinzunehmen und dabei über die Herausforderungen für die menschliche Natur hinwegzugehen. Die Gliederung der V. 27b–30b offenbart das kompositorische Geschick des Evangelisten Lukas: Eine Reihe von vier Imperativen in der 2. Pers. Pl. beschäftigt sich mit unterschiedlichen Ausformulierungen der Feindesliebe. Dem folgt eine Reihe aus vier Imperativen in der 2. Pers. Sg., die, gewissermaßen als Unterthema der Feindesliebe, die Aspekte des Gewaltverzichts behandeln. Mit Ausnahme der ersten imperativischen Forderung (V. 27b), ist das feindliche 134 So die Mehrheitsmeinung ntl. Exegeten, der auch ich mich anschließen möchte. J. Sauer, Feindesliebe, 26–27 jedoch plädiert aufgrund eines traditionsgeschichtlichen Vergleichs zwischen Lk 6,27 ff. par. und Röm 12,9–21 dafür, dass das Feindesliebegebot eine nachpaulinische Bildung ist und nicht aus dem Munde Jesu stammen kann. 135 W. Radl, Lukas I, 397. 136 M. Wolter, Lukasevangelium, 256 schreibt über die Feindesliebe: „Sie gilt seit alters als die Differentia specifica der christlichen Ethik […] – und das wohl auch mit Recht, denn nirgendwo gibt es eine Formulierung, die dazu auffordert, Feinde zu lieben.“
94
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Handeln der unterschiedlich charakterisierten Gegner, denen liebevoll und gewaltfrei begegnet werden soll, stets im Partizip formuliert. Den pluralisch verfassten Imperativen sind die ebenfalls im Plural gehaltenen Partizipialkonstruktionen nachgestellt, während den singularisch verfassten Imperativen die Partizipien vorangestellt sind und ebenfalls allesamt im Singular begegnen. Es entsteht ein erster Eindruck, als ob der Evangelist zwei soziale Bereiche umfasst: die Gruppendynamik in einer Gesellschaft und das zwischenmenschliche Verhalten einzelner Personen. Der Fokus der Aussagen spitzt sich also auf die Handlungsverantwortung des Einzelnen zu. Wie bereits erwähnt, fügt sich die erste Forderung grammatisch gesehen insofern nicht in die Reihe der sieben anderen Forderungen ein, da die zu liebenden Feinde nicht als Partizip, sondern als Substantiv begegnen. Dadurch macht Lukas den summarischen, allumfassenden Charakter des Feindesliebegebots deutlich, das er anhand der sich anschließenden Formulierungen in unterschiedlichen Lebensvollzügen exemplarisch zu fassen versucht. „While Matthew builds to the command to love enemies as the climax and summary of his antitheses (5:44), Luke makes it the first of Jesus’ commands, the topic sentence that the rest of his commands exemplify and explain.“137 Die Strukturanalogie zu den ersten drei Makarismen und den ersten drei Weherufen wird deutlich:138 Während dort die Armen und die Reichen als Oberbegriff der folgenden Gruppierungen verstanden werden können, sind hier die Feinde die Gruppe, die näher bestimmt werden soll. Das Gebot, die Feinde zu lieben (V. 27b), besitzt im Duktus der Feldrede einen universalen Anspruch und wird im weiteren Verlauf der Rede auch nicht eingeschränkt oder gar relativiert. Während sowohl in der frühjüdischen als auch in der hellenistisch-römischen Umwelt des Evangelisten ethische Reflexionen über den milden, teilweise sogar barmherzigen Umgang mit den Feinden begegnen,139 gilt es dabei doch zu beachten, dass es in diesen Zusammenhängen zumeist140 um das Verhalten derer geht, die gegenüber ihren Feinden im Vorteil sind141 oder ihre Feinde (gänzlich) besiegt haben. Diese sollen sich 137
J. Topel, Children, 134. M. Wolter, Lukasevangelium, 255. hierzu J. Nolland, Luke 1, 302, und ausführlich F. Bovon, Lukas 1, 312–316. Er verweist für die jüdischen Traditionen auf Ex 23,4–5; Spr 24,17; 25,21; Josephus Ap II 28 § 209–210; EpArist 227, slHen 50,3; JosAs 23,9; 28,14; 29,3; Philo, Vir. 112–118; TestBen IV,2–3; TestJos XVIII,2; TestGad VI,4–7. Für die hellenistisch-römische Umwelt nennt er Seneca, De otio 1,4; De bene. IV,26; De ira II, 32,1–34,7; Epiktet, Ench. 42; Diss. III 13,11.13; 22,54.81.82. 140 Eine Ausnahme bildet hier Ex 23,4–5, wobei die beiden Verse nicht über einen zwischenmenschlichen Umgang handeln, sondern über die gebotene Hilfe für in Not geratene Nutztiere des Feindes. 141 Spr 25,21 fordert zur Versorgung des hungernden und dürstenden Feindes auf. Zwar ist der Feind hier nicht geschlagen, aber zumindest angeschlagen und auf Hilfe angewiesen. Auch Josephus warnt in Ap II 28 davor, einen Vorteil gegenüber einem zum Feind gewor138 Vgl. 139 Vgl.
4.3 Auslegung
95
jenen gegenüber barmherzig und nicht rachsüchtig zeigen. „Hinsichtlich des besiegten ‚Feindes‘ versuchten die Weisen, durch ethische Ratschläge Sieger und Herrscher vom Wert des Erbarmens zu überzeugen; blinde Rache sei einem gebildeten Herrn unangemessen.“142 Das radikal Neue, durch welches sich die Ethik des lk. Jesus an dieser Stelle auszeichnet, ist einerseits die Steigerung des barmherzigen Verhaltens gegenüber Feinden hin zu Taten der (Nächsten-)Liebe und andererseits die Anwendung der Feindesliebethematik auf diejenigen, die sich mitnichten als Sieger fühlen dürfen, sondern die vielmehr unter Ausgrenzungen und Anfeindungen zu leiden haben: sowohl seitens der römischen Besatzungsmacht als auch seitens der einheimischen Bevölkerung (vgl. Lk 6,22– 23).143 Die Forderung an die Adressaten, die Feinde zu lieben (V. 27b), wird zunächst hinsichtlich der Gemeinde als Gruppe ausgelegt und vertieft: So ist die Gemeinde angehalten, denen Gutes zu tun, die ihr mit Hass begegnen (V. 27c), diejenigen zu segnen, von denen sie verflucht wird (V. 28a), und für diejenigen zu beten, von denen sie misshandelt wird (V. 28b). Die Reihe der ersten vier Imperative zeigt, dass den unterschiedlichen Ausformungen kollektiver Anfeindung durch ein diametral entgegengesetztes Verhalten begegnet werden soll.
a) Liebe und Feindschaft Der Begriff „ὁ ἐχθρός“ wird von Lukas universal gebraucht144 und somit bietet die Paränese, die sich auf den Umgang mit den Feinden bezieht, eine Projektionsfläche für jedwede Art von Anfeindung: Von gesellschaftlicher Ausgrenzung bis hin zu tätlichen Übergriffen. Die sich anschließenden drei Näherbestimmungen der Feinde (V. 27c, 28a, 28b) untermauern diese Öffnung des Bedeutungshorizonts. Die Aufforderung, die Feinde zu lieben, benennt Lukas mit dem griechischen Verb ἀγαπᾶν, dessen theologische Verwurzelung in der LXX angelegt ist und vor diesem Traditionshintergrund einerseits die Liebe Gottes, andererseits die menschliche Liebe beschreiben kann.145 Im NT nimmt das Wortfeld ἀγαπᾶν denen Freund auszunutzen; konkret geht es um das Aufdecken von Geheimnissen, die unter dem Siegel freundschaftlicher Verschwiegenheit geteilt worden sind. 142 F. Bovon, Lukas 1, 314. 143 Vgl. hierzu auch J. Nolland, Luke 1, 296. 144 Im Sprachgebrauch der LXX kann ὁ ἐχθρός auch eine religiöse Dimension gewinnen, indem die Feinde Israels als Feinde Gottes bezeichnet werden (vgl. etwa Ex 23,22). Vgl. zum Ganzen W. Foerster, Art. ἔχθρος, 811–813. Eine derartige Dimension kann auch für das lk. Denken angenommen werden, wenn beispielsweise Anfeindungen gegen die Gemeinde und ein darauffolgendes Strafhandeln Gottes gegen die Feinde thematisiert werden (vgl. Act 12,1– 4.20–23), doch lässt sich eine Zuspitzung auf die religiöse Dimension des Begriffes ὁ ἐχθρός für die Feldrede nicht erkennen. 145 Zu den theologischen Spezifika verschiedener Übersetzungsmöglichkeiten des hebräischen Verbs אהבdie der LXX zugrunde liegen; vgl. G. Quell/E. Staufer, Art. ἀγαπάω, 20–
96
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
sowohl für Theologie als auch für die Ethik eine herausragende Bedeutung ein und begegnet in der jesuanischen Ethik an prominenter Stelle wie beispielsweise dem Doppelgebot der Liebe. „Jesus steht deutlich und bewußt in der Sittentradition seines Volkes. Aber er fordert die Liebe mit einer Ausschließlichkeit, daß alle anderen Gebote darin aufgehen, daß alle Gerechtigkeit in der Liebe ihr Maß finden muß.“146 Ohne der inneren Logik der Feldrede vorzugreifen, können bereits an dieser Stelle drei Aspekte festgehalten werden: (1) Das Gebot der Feindesliebe ist eine Provokation, da sie durch einen inneren Widerspruch geprägt ist, den es unbedingt aufzulösen gilt. In ihrem provokativen Charakter reiht sich das Gebot ein in die Herausforderungen der vorangegangenen Makarismen, wodurch sich die Überlegung ergibt, das Widersprüchliche der Feindesliebe analog zum Widersprüchlichen der Makarismen durch einen Verweis auf das Reich Gottes zu erklären. „Having undercut the conventional view of the world that oriented the action and inclinations of daily existence, Jesus redefines the world, then begins to indicate what comportment and practices this new foundation and this new dispositions will generate and support.“147
(2) Das Gebot der Feindesliebe weckt von der Struktur und der Sprache her Assoziationen an das Gebot der Nächstenliebe. Den Aspekt der Feindschaft einmal ignorierend sind beide Gebote durch die Schwierigkeit geprägt, dass Liebe zu einem anderen Menschen förmlich angeordnet wird. Somit muss geklärt werden, wodurch sich der hier gebrauchte Bedeutungshorizont von Liebe auszeichnet und worin die Befähigung zur Liebe begründet liegt. (3) Das Wortfeld ἀγαπᾶν begegnet im LkEv zum ersten Mal in Lk 6,27b, wodurch der aufrüttelnde Charakter des Feindesliebegebotes noch unterstrichen wird. Allerdings ist es unplausibel anzunehmen, dass die Adressaten des LkEv niemals von der Bedeutung der Liebe, speziell: der Liebe Gottes, im Zusammenhang mit dem Christusereignis gehört hätten. Somit drängt die, für die menschliche Logik und das menschliche Liebesempfinden groteske Forderung auf eine Einbettung in einen außermenschlichen Horizont, in die Liebe Gottes.
b) Gutes tun und Hass F. Bovon insistiert darauf, dass die Adressaten des LkEv aufgrund ihres hellenistischen Hintergrunds auf eine Erklärung des ursprünglich semitisch geprägten Sinngehalts von ἀγαπᾶν angewiesen waren. „Der nur bei Lukas belegte Imperativ ‚tut denen Gutes, die euch hassen‘ ist erklärende Paraphrase für griechische Hörer, die die ursprünglich semitische Forderung nicht gut ver55. Bezüglich des Griechischen ist hierbei vor allem der Unterschied zum affektiven ἐρᾶν und zu dem der Freundschaftsethik zugeordneten φιλεῖν von Bedeutung. 146 E. Staufer, Art. ἀγαπάω, 45. 147 J. Green, Luke, 269.
4.3 Auslegung
97
standen.“148 Es scheint fraglich zu sein, ob es hier lediglich um eine Erklärung für einen bestimmten Adressatenkreis geht, oder ob hierbei nicht viel eher eine, im weitesten Sinne konkretisierende, Fort- und Ausführung des Feindesliebegebots vorliegt. Ebenso wie die nicht näher definierte Feindschaft ist auch die Forderung, diese Feinde zu lieben eine universale Aussage, in die sich vielerlei Konkretionen hineinprojizieren lassen. Der Evangelist nutzt dies zunächst, um das Feindesliebegebot in der Lebenswirklichkeit einer verfolgten Gemeinde zu verorten. Das Gute, das denen getan werden soll, die die Gemeinde hassen, ist ein Sammelbegriff für Wohltaten unterschiedlichster Art,149 in erster Linie aber vor allem der diametrale Gegensatz zu all den Taten, die aus Hass erwachsen. Es ist zudem plausibel, die geforderten Wohltaten im Lichte des Verbs „ἀγαθοποιεῖν“ (V. 33a.35b) zu verstehen. Der Begriff hat „seinen Ton im Liebeserweis, der keine Beschränkung duldet.“150 Alles in allem fordert Lukas hier nicht nur das geduldige Ertragen von hasserfüllter Gegnerschaft, sondern die tatkräftige Begegnung dieses Hasses in Form von Werken der Nächstenliebe und des Wohlwollens.
c) Segen und Fluch Die angesprochenen Verfluchungen müssen wohl aufgrund der Dialektik zum Segen weniger als Ausdruck des Schimpfens oder des Missfallens, sondern vielmehr im Sinne eines performativen Sprechakts verstanden werden. Den Gemeindemitgliedern wird gewissermaßen ein Schaden gewünscht, dessen Verwirklichungsgrund ein transzendenter ist und dessen Realisierung erhofft wird. Diesem Fluchen sollen die Nachfolger Jesu antithetisch begegnen, indem sie die Fluchenden segnen sollen, wobei das Segnen seinerseits als performativ gedacht wird. „Segnen ist eigentlich Sache Gottes. Wer segnet, […] nimmt darum gewissermaßen an Gottes Segensmacht teil.“151 Somit wird der Boshaftigkeit, die dem Verfluchen zugrunde liegt, die Liebe Gottes entgegengestellt und zwar dergestalt, dass die Fluchenden dieser Liebe teilhaftig werden können. Während sich die Gemeinde, nicht zuletzt vermittels des Heiligen Geistes, von Gottes Segen erfüllt weiß (vgl. Lk 24,49–50; Act 1,8; 2,1–4), soll sie den Segensraum gerade für diejenigen öffnen, die sich noch nicht darin befinden und die nach menschlichem Ermessen diese Teilhabe aufgrund ihres Verhaltens auch nicht verdient haben. Die Gemeinde wird aufgefordert, im Zuge der Nächs148 149
F. Bovon, Lukas 1, 316. Ähnlich H.‑D. Betz, Sermon, 592–593. In diesen Zusammenhang gehören auch die καλὰ ἔργα, die beispielsweise unter Verweis auf Mt 25,34–36 näher bestimmt werden können und aus der Zugehörigkeit des Menschen zu Gott erwachsen. Vgl. hierzu W. Grundmann, Art. καλός, 547–550. 150 W. Grundmann, Art. ἀγαθοποιέω, 17. 151 W. Radl, Lukas I, 398.
98
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
tenliebe durch das Segnen der Verfluchenden zum Mittler der Gnade Gottes zu werden.152
d) Fürbitte und Misshandlung Das Gebet spielt im lk. Doppelwerk eine wichtige Rolle und bringt die enge Relation des Beters mit Gott zum Ausdruck. Indem die Misshandelten zur Fürbitte für ihre Misshandler aufgerufen werden, sollen sie ihre besondere Beziehung zu Gott zum Wohle derer einsetzen, unter denen sie leiden. Diese Form der Fürbitte offenbart eine Perspektive auf die Feindesliebe, bei der sich die Liebe einerseits durch ein Verzeihen gegenüber den Feinden, andererseits durch eine Hoffnung auf einen Sinneswandel um ihrer selbst willen auszeichnet. Dieses Motiv findet sich narrativ ausgestaltet bei der Kreuzigung Jesu (Lk 23,34) und als Akt der Nachahmung Jesu bei der Steinigung des Stephanus (Act 7,60). Die Peiniger sollen nicht in einem Status der Schuld vor Gott verbleiben, sondern die Schuld, die sie sich aufgrund der Misshandlungen aufgeladen haben, soll ihnen vergeben werden. „[I]n the context of increasingly external action against them, and increasingly spiritual response on their part (6:27–28), one assumes persistent prayer for the forgiveness, well-being, and even conversion of the enemy to amity with God and the Christian community.“153
Dass die Feindesliebe nicht nur eine kollektive Aufgabe der christlichen Gemeinschaft ist, sondern dass dabei auch der Einzelne ganz konkret in die Verantwortung genommen wird, macht der Evangelist durch die zweite Kette aus vier Imperativen in der 2. Pers. Sg. deutlich (V. 29a–30b). Während bei den Forderungen gegenüber der Gemeinde das Wohl der Verfolger als Ausdruck der Feindesliebe im Vordergrund stand, richtet sich die Perspektive nun auf den Gewalt- und auf den Besitzverzicht, die mit der gelebten Feindesliebe einhergehen und den Einzelnen zu einer individuellen Form der Demut aufrufen. So wird das wehrlose Hinnehmen von Schlägen (V. 29a), das Erdulden von Raub (V. 29b) und das uneingeschränkte Teilen des eigenen Besitzes (V. 30a–b) als Erweis individueller Feindesliebe verstanden.
e) Die Schläge auf die Wange Die individualethischen Ausführungen zur Feindesliebe schärfen zu Beginn den völligen Verzicht auf Gewalt, und sei sie auch nur defensiver Natur, ein. Im Duktus der bisher geschilderten Leidenssituation der Christusgläubigen kann auch hier davon ausgegangen werden, dass der Schlag auf die Wange keine tatkräftige Antwort auf eine vorangegangene Provokation darstellt, sondern Aus152 153
In der ntl. Forschung wird zu Recht auf die Sachparallele in Röm 12,14 verwiesen. J. Topel, Children, 148.
4.3 Auslegung
99
druck von Gewalt ist, die die Angesprochenen erleiden müssen. Dabei wird deutlich, dass der Evangelist keine Zuspitzung auf eine bestimmte gewalttätige Gegnerschaft vornimmt, sondern ein allgemeines Prinzip des Gewalt- und Vergeltungsverzichts formuliert.154 Dieses fordert die willige Übernahme von Schmerzen und Demütigung155 seitens des Geschlagenen; die Darbietung der anderen Wange156 ist geradezu ein Symbol für die Vermeidung jedweden Protests gegen die erlittene Gewalt. „Die in 29a formulierte Aufforderung, sich nicht nur auf die eine Wange, sondern auch noch auf die andere schlagen zu lassen, ist analogielos. […] Lediglich zwei Texte gehen in eine ähnliche Richtung: in Jes 50,6 die Worte des Gottesknechts und in Thren 3,28–30 die Worte des Propheten […]. Beiden Texten ist gemeinsam, dass sich der Blick der Geschlagenen einzig und allein auf Gott richtet: Um Gottes willen, nicht um die Gewalttäter oder die Welt zu bessern, gehen beide dem Leiden nicht aus dem Weg. In diesem Sinne kann Jesus das Wort gemeint haben; für Lukas war es eine weitere Konkretion von Feindesliebe.“157
Die gelebte Feindesliebe des Einzelnen absorbiert buchstäblich die körperlichen Anfeindungen, ohne dass auch nur der Gedanke an ein Zur-Wehr-Setzen aufkommen würde. Die Liebe zum feindlich gesinnten Gegenüber verbietet dessen Schädigung und nimmt stattdessen lieber einen zweiten Schlag in Kauf. Damit ist nicht nur das ius talionis (Ex 21,23–25) ausgehebelt, sondern eine neue Dimension des Umgangs mit Feinden beschrieben.
f) Der Mantel und das Hemd Die zweite individualethische Forderung ist ebenfalls im Zusammenhang mit erlittener Gewalt formuliert und thematisiert anhand eines Raubüberfalls158 den Verzicht auf Verteidigung, auf Vergeltung und auf Würde. Dem Räuber, der den Mantel stiehlt, soll auch noch, gewissermaßen als Dreingabe, das Hemd gegeben werden.159 Aus der Perspektive der Liebe wird dem Räuber mit zuvorkommender Generosität begegnet: So ist ein Verzicht auf (gewaltsame) Verteidigung des Eigenbesitzes schon aufgrund von V. 29a ausgeschlossen und darüber hinaus wird dem Räuber mehr gegeben, als er eigentlich gefordert hat. Eine Situation, die an Absurdität schwer zu überbieten ist, die aber im lk. Duktus als Erweis der Liebe gegenüber dem Feind verstanden wird. Die Feindesliebe 154 Vgl.
W. Radl, Lukas I, 399. Siehe H.‑D. Betz, Sermon, 596: „In antiquity, as it is today, striking a person on the cheek with the hand was an act of severe humiliation.“ 156 Im Gegensatz zum Mt 5,39 können hier die Überlegungen zu Schlägen mit Vor- und Rückhand, wie etwa bei U. Luz, Matthäus I, 259, entfallen. 157 M. Wolter, Lukasevangelium, 253. 158 Das Verb ἀρεῖν drückt hier ein gewaltsames Wegnehmen aus; vgl. W. Bauer/ K. Aland, Wörterbuch, Art. αἴρω, 46. 159 Der Unterschied zu Mt 5,40 erklärt sich aus der mt. Orientierung an Ex 22,25–26. 155
100
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
ist der hermeneutische Schlüssel für das Verständnis dieses Logions und nur im Lichte einer an Selbstentäußerung grenzenden Liebe kann der geschilderten Situation überhaupt eine gewisse Sinnhaftigkeit abgewonnen werden. Offen bleibt nach wie vor, woraus diese Liebe erwachsen soll?
g) Das freizügige Geben Die dritte Forderung wendet sich nun ganz allgemein dem Besitz zu und fordert dazu auf, jedem Bittsteller zu geben, ohne dass von irgendwelchen Einschränkungen die Rede ist. „Besides this double (with παντί) generalizing tendency, Jesus here allows of no qualifications that restrict this limitless giving.“160 Da die Forderung nach wie vor im Rahmen des Feindesliebegebots erhoben wird, kann davon ausgegangen werden, dass hier vor allem von betrügerischen Absichten die Rede ist und von Bittstellern, die keinen Gedanken an die Situation dessen verschwenden, von dem sie etwas verlangen.
h) Geben ohne Rückerstattung Die Mahnung, den eigenen Besitz mit jedermann zu teilen, wird durch die letzte Ausführung zum Feindesliebegebot nochmals aufgegriffen und in ihrer Radikalität geschärft. Lukas macht deutlich, dass es sich nicht um ein Verleihen von Besitz handelt, da er die Forderung auf Rückgabe des Gegebenen verbietet. Aufgrund der Verwendung des Verbs αἴρειν ist es nicht ganz deutlich, welche Situation der Evangelist hier vor Augen hat: Handelt es sich um einen Akt des Stehlens (analog zu V. 29b) oder um einen Akt des Bettelns (analog zu V. 30a)? J. Green geht davon aus, dass die Adressaten des Lukas durchaus zu den besitzenden Gesellschaftsschichten gehörten und formuliert eine Art oszillierendes Modell, in welchem das Betteln und das Stehlen nahezu ineinander übergehen. Aufgrund des Ausgestoßen-Seins des Bettlers aus den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Besitzenden wird er seitens der Wohlhabenden gewissermaßen als „Feind“ gesehen, wodurch jeder Anspruch auf Teilhabe am Besitz der Wohlhabenden Ausdruck eines „Stehlens“ ist.161 In jedem Falle ist der einzelne Nachfolger Jesu dazu aufgefordert, seinen Besitz nicht zu verteidigen, sondern jedem davon zu geben, auf welche Art auch immer dieser seinen Anspruch geltend macht. Lukas gelingt es dadurch, die Feindesliebe mit dem Besitzethos in Verbindung zu bringen. Somit scheinen die Grundlagen des Besitzethos mit den Begründungen des Feindesliebegebots zusammenzuhängen oder gar übereinzustimmen.162 160 J. Topel, Children, 153. 161 Vgl. J. Green, Luke, 272.
162 K. Mineshige, Feindesliebe, 12 geht davon aus, dass das lk. Verständnis der Feindesliebe sich nahezu ausschließlich auf die Thematik der Almosen reduzieren lässt. Diese the-
4.3 Auslegung
101
Zusammenfassung Das Feindesliebegebot ist in all seinen Ausführungen durch eine herausfordernde Wechselwirkung strukturiert: Die Radikalität der Feindschaft spiegelt sich in der Radikalität der geforderten Liebeswerke wider. Die Spannung, der die Gemeindemitglieder durch diese Paränese ausgesetzt werden, ist nicht zu leugnen und auch nicht zu übersehen. Dass gerade denjenigen, die sich in einer unterdrückten Minderheitenposition163 befinden, zugemutet wird, die vielfältigen Formen der Unterdrückung nicht nur hinzunehmen und auszuhalten, sondern ihnen sogar mit tatkräftiger Nächstenliebe zu begegnen, widerspricht jedem menschlichem Reflex und sprengt auf den ersten Blick die Grenzen des Zumutbaren. Auffallend ist die doppelte Problematik, die sich aus dem Gebot der Feindesliebe ergibt: So scheint es zum einen unmöglich zu sein, Liebe qua Gesetz, respektive Gebot, anordnen zu können.164 Zum anderen wird der Feind zum Objekt der Liebe gemacht. Während die Nächstenliebe in erster Linie keine negative Konnotation des Nächsten enthält, ist die Feindesliebe ein Widerspruch in sich: Denjenigen, der gerade durch seine Feindschaft zum handelnden Subjekt charakterisiert wird, soll zum Objekt der Liebe werden. „Zur Feindesliebe gehört es, daß sie ohne den tragenden Strom instinktnaher Sympathie, spontaner Zuneigung und selbstverständlichen Wohlwollens auskommen muß. Dieser Art von Liebe bleibt gar nichts anderes übrig, als gegen den Strom negativer Gefühle und Affekte zu schwimmen.“165
Blickt man über die Feldrede hinaus, so wird anhand der Perikope vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) deutlich, dass Lukas die Feindes- und die Nächstenliebe untrennbar miteinander verbunden hat.166 Er thematisiert die Nächstenliebe unter der Perspektive der Feindschaft zwischen den Samaritern und den Israeliten und weitet den Begriff des Nächsten dergestalt, dass auch der Feind darin stets notwendig miteingeschlossen ist. Die gebotene Liebe äußert sich in der Fraglosigkeit der Taten, die zugunsten des Nächsten realisiert werden. Die Überforderung, die das Gebot der Feindesliebe mit sich bringt, wird dadurch noch verstärkt, dass der Evangelist keinerlei Abstriche macht167 und auch matische Einengung verkennt die universale Weite des Begriffes „Feindschaft“, die der Evangelist skizziert. 163 Hierbei ist möglicherweise weniger die soziale Stellung einzelner Gemeindeglieder als vielmehr das soziale Ansehen der christusgläubigen Gemeinschaft angesprochen. Die Didache 1,5 wiederum redet in diesem Zusammenhang eine Adressatenschaft an, die nicht einmal die Möglichkeit besitzt, sich zu wehren und somit sicher nicht zur besitzenden Gesellschaftsschicht gehört. 164 Diese Problematik kennzeichnet auch das Doppelgebot der Liebe. 165 H. Stenger, Jesu Aufforderung, 31. 166 G. Theiẞen, Jesusbewegung, 262 spricht von einer dreifachen Radikalisierung der Nächstenliebe, „als Liebe zum Feind […], zu den Fremden […] und zu den Sündern.“ 167 Der Vergleich mit Mt 5,43–48 lässt darauf schließen, dass Lukas die Vorlage aus Q
102
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
keine Möglichkeiten andeutet, die Forderungen der Feindesliebe abzuschwächen oder zu relativieren.168 Somit wird zunächst deutlich, dass das Feindesliebegebot im Zusammenhang mit zwei wichtigen Themenfeldern steht, die die lk. Ausführungen zur Nachfolge und zur Jüngerschaft prägen: das Motiv der Demut und das Motiv der Leidensnachfolge.169 Einzig unter den Rahmenbedingungen der Bereitschaft zur Übernahme von körperlichem und seelischem Leid lassen sich die Imperative zur Feindesliebe formulieren und verstehen. Dabei fällt auf, dass Lukas mitnichten davon spricht, dass die Anfeindungen von außen aufgrund der selbstentäußernden Liebeswerke an den Feinden aufhören werden. Lukas schreibt nichts von einem Innehalten der Misshandler aufgrund eines paradoxen Erweises von Nächstenliebe.170 Er formuliert keine Sicherheit, dass der Hass der Gegner auf die Gemeinde abkühlen wird, sobald sie in den Genuss der christlich motivierten Wohltaten kommen.171 Der Evangelist fordert jedoch unmissverständlich, dass die um Jesu willen Angefeindeten, die Gehassten und Verfluchten, die Misshandelten und Beraubten ihre ganze Kraft darauf verwenden, dem Affekt des Zurückschlagens zu wehren und demgegenüber alles dafür zu tun, dass die Feinde der Erfahrung verzeihender Liebe teilhaftig werden. Somit ruft das Gebot der Feindesliebe förmlich nach einem Begründungszusammenhang, einer Handlungsmotivation, die die Menschen zur Übernahme solchen Leides befähigen kann. „Anstelle von Werten wie Erfolg, Fülle und Glück bringt die Predigt des Reiches eine leidvolle Spannung, die die Christen ertragen und für die sie sich theologisch rechtfertigen müssen.“172 Die Fragen nach dem Begründungszusammenhang der Feindesliebe und nach dem Ermöglichungsgrund bleiben zunächst offen. Und es ist gewiss nicht zielführend, die Herausforderung, die Provokation, die das Feindesliebegebot mit sich bringt, durch den Verweis auf den Mehrwert friedlichen Verhaltens abzutun.173 Die ethische (Binsen-)Weisheit, dass Gewalt stets Gegengewalt erzeugt und somit alles dafür getan werden muss, um die Spirale der Gewalt durch friedfertiges Verhalten zu durchbrechen, ist schneller theoretisch formumittels der beiden Imperativketten deutlich erweitert hat. Durch die unterschiedlichen Ausformungen von Feindschaft betont der Evangelist den universalen Charakter des Gebots. 168 Das JohEv kennt beispielsweise keine Feindesliebe, sondern nur die Freundesliebe innerhalb der Gemeinde. J. Becker, Feindesliebe, 16 formuliert dazu: „Ein Übersteigen der Gemeindegrenze durch Akte der Liebe ist nicht eingeplant.“ 169 Vgl. die Ausführungen zum 4. Makarismus. 170 Diese Logik lässt sich im 4. Gottesknechtslied erkennen. Nachdem die Verfolger den schuldlosen Knecht erschlagen haben, erkennen sie gerade aufgrund seines Verzichts auf Vergeltung und Widerstand ihre eigene Schuldhaftigkeit. Vgl. Jes 52,13–53,12, zudem die Auslegung bei B. Janowski, Ecce homo. 171 Vgl. hierzu auch K. Owczarek, Sons of the Most High, 138. 172 F. Bovon, Lukas 1, 314–315. 173 Interessanterweise findet sich in Did 1,3 eine solche Argumentation, die gegenüber den Fassungen bei Mt. und Lk. eine Erweiterung darstellt: „Ihr aber sollt diejenigen als Freunde lieben (φιλεῖν), die euch hassen und ihr werdet keinen Feind [mehr] haben.“
4.3 Auslegung
103
liert, als praktisch umgesetzt und trifft sicherlich nicht den Kern der lk. Perspektive. Auch greift der Gedanke zu kurz, dass ein nahezu schon provokant friedfertiges Verhalten angesichts erdrückender Gewalt die Gewalttäter zum Einlenken bewegen wird, da das irrationale Moment der zuvorkommenden Liebenswürdigkeit der Opfer die Täter beschämt und zum Nachdenken anregt.174 Um das Phänomen der Feindesliebe adäquat untersuchen und in die ethischen Strukturen des lk. Doppelwerks einordnen zu können, darf nicht nur und vor allem nicht in erster Linie danach gefragt werden, was durch die Umsetzung der Feindesliebe erreicht werden kann, welche Resultate aus einer gelebten Feindesliebe erwachsen können. Anders ausgedrückt: Die Frage „Wozu werden die Adressaten des LkEv zur Umsetzung der Feindesliebe angehalten?“ verweist in der Denkstruktur des Evangelisten zunächst auf den Bereich des eschatologischen Lohnes,175 löst aber bei weitem nicht die anstößige Paradoxie, die dem Feindesliebegebot nach Maßstäben menschlicher Logik zu eigen ist. Das provokative Element, das dem Feindesliebegebot in seinem Kern zugrunde liegt, lässt sich in unterschiedlichen Variationen in nahezu allen theologischethischen Spitzenaussagen des LkEv entdecken. Vor allem das lk. Sondergut sowie die Perikopen, die durch Lukas stark überarbeitet worden sind,176 zeichnen sich durch teils provokative, teils paradoxe Aspekte aus, die das Handeln der Protagonisten oder die Pointen der Argumentation wesentlich prägen. Dadurch fordert Lukas seine Adressaten dazu auf, sich den Herausforderungen der Provokationen zu stellen, die Paradoxien zu entschlüsseln, um zum wesentlichen Punkt seiner theologisch-ethischen Argumentation vorzudringen. Die zentrale Frage muss lauten: Unter welchen Bedingungen lassen sich die ethischen Forderungen des LkEv realisieren? „Durchweg zeigt die Auslegung des Liebesgebotes, daß es angewiesen ist auf einen ihm vorgegebenen Sinnhorizont. Nicht der Appell zur Liebe als solcher bessert die Welt.“177
4.3.3.2 Die Goldene Regel in der Ethik Jesu (V. 31a–34b) Bevor sich Lukas den Konstitutionsbedingungen gelebter Feindesliebe zuwendet, entwickelt er die Charakterzüge seiner „empathischen“ Ethik weiter und bezieht dabei eine Variante der in der Antike wohlbekannten178 Goldenen Regel 174
Diese Art der Interpretation begegnet beispielsweise bei J. Topel, Children, 150–154 im Zusammenhang mit den individualethischen Forderungen (V.29a–30b). 175 Die Überzeugung, dass irdisch gelebte Nachfolge mit all ihren Unannehmlichkeiten durch himmlischen Lohn vergolten werden wird, ist ein Kernpunkt lk. Eschatologie und begegnet auch in den folgenden Abschnitten der Feldrede an zentraler Stelle. Eine durch „lutherische Orthodoxie“ geprägte Lesart, die diesen Aspekt des lk. Denkens ausklammern möchte, geht an der Intention des Evangelisten vorbei. 176 Zu denken wäre neben der Feldrede z. B. an die Perikope der Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50). 177 J. Becker, Feindesliebe, 17. 178 Zu den vielfältigen Belegen der Goldenen Regel in der Umwelt des NT vgl. G. Thei-
104
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
mit ein. Damit schafft er einen Anknüpfungspunkt an die ethischen Diskurse seiner Umwelt, setzt jedoch durch zwei Transformationen im Anwendungsbereich der Goldenen Regel einen für die Umwelt neuartigen ethischen Impuls. Die erste Transformation, die Lukas vornimmt, ist eine soziologische. Der Evangelist wählt die positive Formulierung der Goldenen Regel: „Und ebenso, wie ihr wollt, dass euch die Menschen behandeln mögen, so sollt ihr sie gleichermaßen behandeln.“ Während die negative Variante der Goldenen Regel179 in der Umwelt des Evangelisten Bestandteil einer allgemeinen ethischen Paränese war, wurde die positive Formulierung generell nur in zwei Bereichen angewandt: Der eine Bereich umfasst das Familien- und Freundschaftsethos, das die Gruppe derer, die das Handlungssubjekt als Adressaten seines ethisch korrekten Verhaltens vor sich hat, bedeutend einschränkt. Der andere Bereich wurde durch das Herrscherethos definiert. Hier fand zwar eine allgemeine Öffnung des Adressatenkreises statt, allerdings war die Gruppe der Handlungssubjekte nur auf Könige etc. eingeschränkt.180 Die Argumentationsstruktur der Feldrede ist dergestalt aufgebaut, dass die positiv formulierte Goldene Regel allgemeinverbindlich zu verstehen ist: ohne Einschränkung der Handlungssubjekte und ohne Einschränkung der Adressaten des ethisch korrekten Handelns. „Die Jesusüberlieferung kennt die Goldene Regel daher nicht als durchschnittliche Alltagsmoral, sondern in einer signifikanten Zuspitzung: Eine Maxime für Mächtige soll für kleine Leute gelten, eine Maxime für Nahestehende für alle Menschen. Das Subjekt des geforderten Handelns wie sein Adressat werden universalisiert.“181
Der Evangelist durchbricht mit seiner ersten Transformation die gewohnten Anwendungsbereiche der Goldenen Regel: Je nach philosophisch-ethischer Prägung wird der einzelne antike Hörer der Feldrede in der lk. Version der Goldenen Regel entweder die Anwendung eines Herrscherethos auf die breite Masse erkennen oder eine Ausweitung des ethisch relevanten sozialen Nahbereichs auf jedweden Menschen. In beiden Fällen eine, für antike Kontexte, gelinde ausgedrückt: ungewohnte ethische Argumentation. Doch assoziiert die positive Formulierung der Goldenen Regel nicht nur ein Herrscherethos bzw. eine Ausweitung soziologisch fundierter Verantwortungsbereiche, sondern sie rückt die sich aus der Goldenen Regel ergebenden Handlungsanweisungen in ein bestimmtes Licht: Während die negative Variante der Regel grundsätzlich auf das Vermeiden von Handlungen bedacht ist, schafft die positive Formulierung eine Ermutigung dazu, die Handlungsinitiative zu erẞen, Goldene Regel, 390–392 (hellenistisch-römische Belege), 393–398 (frühjüdische Belege). Vgl. zudem die Aufstellung bei D. Bock, Luke I, 596–597, der zwölf antike Belege für die Goldene Regel anführt, inkl. eines chinesischen Beispiels von Konfuzius. 179 „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu.“ (Vgl. beispielsweise Tob 4,16.) 180 Vgl. G. Theiẞen, Gesetz und Goldene Regel, 241. 181 G. Theiẞen, Jesusbewegung, 267.
4.3 Auslegung
105
greifen. Der Handelnde soll an und für den Nächsten in positiver Weise tätig werden. Die Ermessensgrundlage dafür, was nun ein Handeln als ethisch korrekt beschreibt, liegt interessanterweise im jeweiligen Handlungssubjekt selbst. Die lk. Formulierung der Goldenen Regel unterstreicht, dass es im Verantwortungsbereich des Einzelnen liegt, sich zunächst in die individuelle Situation des Gegenübers einzufühlen. Im nächsten Schritt soll vom Standpunkt des Anderen her bedacht werden, welche Hilfe und welchen Handlungen man selbst in dieser Situation erwarten und erhoffen würde (καθὼς θέλετε [6,31a]). Die Erfüllung dieser Erwartungen und Hoffnungen beschreiben sodann das geforderte Verhalten des Handelnden an seinem Gegenüber (ποιεῖτε ὁμοίως [6,31b]). „Mit der Goldenen Regel wird eine Empathieethik formuliert, die sich an den konkreten Bedürfnissen anderer orientiert. Sie enthält eine ideale Gegenseitigkeitsethik: Unabhängig davon, wie mich der andere Mensch faktisch behandelt, verpflichtet sie, ihn so zu behandeln, wie ich wünsche, von ihm behandelt zu werden. Sie ist eine Autonomieethik: Denn jeder Mensch muss selbst urteilen, was er tun soll, findet er doch in sich selbst einen Maßstab unabhängig von vorgegebenen sozialen Normen.“182
Der Begriff der „Gegenseitigkeitsethik“ sollte dabei jedoch nicht falsch verstanden werden. So ist es für die lk. Diktion kennzeichnend, dass hier mitnichten von einem Reziprozitätsgedanken ausgegangen wird:183 Nicht das Interesse an zukünftiger Wiedervergeltung der geleisteten Wohltaten bestimmt das Handeln des Einzelnen, sondern das ehrliche Interesse am Mitmenschen und das Wohlergehen des Nächsten stehen im Mittelpunkt. Das Maß an Empathie und an Solidarisierung mit dem Nächsten, das hier impliziert wird, ist natürlich enorm und fordert die emotionale Intelligenz des Menschen heraus. Positive Vergeltung der erwiesenen Wohltaten wird in der lk. Lesart vom Gegenüber weder erwartet noch erbeten. Somit fällt jeder Gedanke an Reziprozität als Fundament der Goldenen Regel in sich zusammen. Die zweite Transformation findet hinsichtlich der Adressaten statt, denen sich der Einzelne in seiner empathischen Zugewandtheit widmen soll. So ist die Nennung der Goldenen Regel im Zusammenhang mit dem Feindesliebegebot sicherlich kein Zufall, sondern entspringt der absichtsvollen Gestaltung des Evangelisten.184 Indem Lukas die Goldene Regel mit dem Feindesliebegebot 182
G. Theiẞen, Gesetz und Goldene Regel, 241. Punkt betont M. Wolter, Lukasevangelium, 259 zurecht mit aller Deutlichkeit: „Christen erhalten ihre ethische Alleinstellung dadurch, dass sie sich in ihrem zwischenmenschlichen Handeln nicht am Prinzip der Reziprozität orientieren, sondern einseitig das tun, was alle Menschen sich voneinander wünschen.“ Ähnlich argumentiert auch J. Nolland, Luke 1, 298. 184 Die neuere exegetische Literatur ist sich in diesem Punkt einig und geht damit auf Distanz zu älteren Analysen wie beispielsweise von P. Ricoeur, Golden Rule, 393–394 oder A. Dihle, Goldene Regel, 110–111, die in der Goldenen Regel einen logischen Bruch der Feldrede gesehen haben. Vgl. zur gegenwärtigen Forschung: J. Topel, Tarnished Golden Rule, 478; M. Wolter, Lukasevangelium, 258; F. Bovon, Lukas 1, 321–322. 183 Diesen
106
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
verbindet, macht er unmissverständlich klar, dass auch und gerade der Feind in den Fokus des ethisch guten Handelns rückt. Analog zum hellenistischen Herrscherethos soll der Einzelne Feindschaft nicht mit Feindschaft, sondern mit Großmut und Vergebung begegnen.185 Allerdings hat sich an den Grundbedingungen des lk. Feindesliebegebotes nichts geändert und so gilt nach wie vor, dass hier nicht von der Situation ausgegangen werden kann, dass ein Sieger zur großmütigen Vergebung seines Feindes aufgerufen wird, sondern dass die Opfer von Gewalt und Unterdrückung gemahnt werden, trotz allem ihre Feinde zu lieben.186 Dadurch findet nicht nur eine Entschränkung der Adressatenkreise des christlich motivierten ethischen Handelns statt, sondern vielmehr eine Fokussierung auf den ethisch korrekten Umgang mit den Feinden. Die Motive der Demut und der Leidensübernahme, die in den V. 27–30 im Zentrum standen, behalten ihre Gültigkeit auch in der Fortentwicklung der Feindesliebe unter den Bedingungen der Goldenen Regel und werden durch die oben ausgeführten empathischen Motive ergänzt. Die lk. Interpretation der Intention der Goldenen Regel in Gestalt einer empathisch motivierten, aktiven Feindesliebe geht einher mit der Abqualifizierung des hellenistischen Freundschaftsethos. Dieser Bestandteil der zweiten Transformation wird durch die V. 32–34 zum Ausdruck gebracht. Lukas gestaltet in diesen Versen eine parallel aufgebaute Trias, die das Charakteristikum der Feindesliebe thematisiert. Jeder Vers ist geprägt durch den Gegensatz zwischen den Adressaten der Feldrede (ὑμεῖς) und den Sündern (ἁμαρτωλοί). Dabei wird den Adressaten die jeweils rhetorisch gemeinte Frage gestellt, inwiefern ein Verhalten, das auch die „Sünder“ praktizieren, irgendeine Art von Dank (χάρις) nach sich ziehen könne? Auffällig ist der schillernde Charakter des Begriffes „χάρις“, da hier das Bedeutungsspektrum von schlichter menschlicher Dankbarkeit, über eine Form der positiven Wiedervergeltung bis hin zu einem göttlichen Gnadenerweis reicht. Diese Breite der Deutungen ist sicherlich durch den Evangelisten intendiert und orientiert sich, wie die V. 35–36 zeigen werden, mehr und mehr in Richtung eines göttlichen Akts der Dankbarkeit. Trotzdem soll χαρίς aber nicht mit „Gnade“ übersetzt werden, da hierbei die zwischenmenschlichen Aspekte des Gesagten ausgeblendet werden.187 Die thematisierten Verhaltensweisen sind durch Inhalt und Wortwahl rückgebunden an die beiden Imperativketten in V. 27–30. In der ersten Sentenz (V. 32) steht die Nächstenliebe im Mittelpunkt. In diesem Zusammenhang wird kritisch hinterfragt, welcher Lohn zu erwarten ist, 185
Ein klassisches Beispiel aus dem Frühjudentum wäre hier EpArist 187. M. Wolter, Lukasevangelium, 258 vermutet hier ein Gruppenethos, das in Anlehnung an den vierten Makarismus das Verhalten der verfolgten christlichen Gemeinde gegenüber ihren Verfolgern definieren soll. Es wird aber nicht deutlich, wieso hier eine Einschränkung der ethischen Paränese auf ein Gruppenethos stattfinden sollte. 187 Vgl. F. Bovon, Lukas 1, 317. 186
4.3 Auslegung
107
wenn man nur diejenigen liebt, die einem selbst in Liebe begegnen. Die nachgeschobene Ausführung, dass auch die Sünder diejenigen lieben, von denen sie selbst geliebt werden (V. 32c), verdeutlicht, dass der Evangelist solche auf strikte Reziprozität aufbauende Verhaltensmuster als defizitär missbilligt. Die Frage nach einem liebevollen Miteinander wird nicht nur in einem ganz allgemeinen Sinne durch das übergeordnete Thema der Feindesliebe bestimmt. Vielmehr ist der V. 32 durch das Wortfeld „ἀγαπᾶν“ eng mit dem Gebot der Feindesliebe in V. 27 verbunden. Die lk. Darstellung des Agierens Jesu korreliert mit der sprachlichen Bedeutungsvielfalt des Verbums ἀγαπᾶν. Damit wird Jesus für seine Nachfolger der Ermöglichungsgrund der Feindes- bzw. Nächstenliebe: Aus dem Vorbild, dass Jesus in Wort und Tat seinen Jüngern gegeben hat, lässt sich jedes menschliche Liebeswerk deduzieren. „Der imperativistische Satz [das Gebot der Feindesliebe S. W.] ist kein gesetzlicher Spitzensatz, sondern Eröffnung einer Perspektive, ausnahmslos jedem lebensfördernd zu begegnen, wie Gott der Schöpfer es tut.“188 Der innere Widerspruch im Menschen, der in der Aufforderung, den Feind zu lieben, angelegt ist, wird in der Logik der lk. Ethik als ein zu überwindender Widerspruch verstanden. Entweder ist die innere, emotionale Verfasstheit des Menschen durch einen Willensakt zu überwinden. Einen Willensakt, der sich an der Befolgung der göttlichen Gebote orientiert. Oder die Erfahrung der göttlichen Zuwendung und Fürsorge bewirkt einen solch radikalen Perspektivenwechsel im Menschen, dass die Feindschaft gegenüber dem zu liebenden Gegner im Nachfolger Jesu erloschen ist. Der Ermöglichungsgrund der Feindesliebe liegt in diesem Fall in einer einseitigen Beilegung der Feindschaft. Somit ist der Feind „nur“ noch aus diesem Grunde ein Feind, da er selbst in Feindschaft gegenüber dem in der Nachfolge Stehenden auftritt. Für einen Jünger Jesu ist der Feind längst zu einem Nächsten geworden. Die in der Feldrede formulierte Ethik der Feindesliebe und die daraus folgende Kritik an all denjenigen, die sich einem durch die Feindesliebe geprägten Verhalten verschließen, ist grundsätzlich eine Abqualifizierung von ethischen Modellen, die auf menschliche Reziprozität aufbauen. Anders ausgedrückt: Im Wissen darum, dass Jesus die Menschen zur Feindesliebe auffordert, kann ein liebevoller Umgang allein mit denjenigen, von denen man selbst geliebt wird, nicht als ethisch suffizient bewertet werden. Stattdessen ist der einzig auf Reziprozität aufbauende Umgang miteinander Ausweis eines Verhaltens, dass auch und gerade die Sünder charakterisiert. Indem Lukas den ὑμεῖς die ἁμαρτωλοί antithetisch gegenüberstellt, unterstreicht der Evangelist die Forderung an die Adressaten der Feldrede, dass sie sich in ihrem Verhalten von demjenigen der Sünder distanzieren sollen. Andernfalls müssten sie sich selbst zu den Sündern zugehörig fühlen und könnten jedwede Hoffnung auf eine χάρις aufgeben. Das 188
J. Becker, Feindesliebe, 7.
108
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
bedeutet nun nicht, dass die Menschen diejenigen, die ihnen in Liebe zugetan sind, ignorieren sollen. Vielmehr sind sie aufgefordert, allen Menschen in Liebe zu begegnen, unabhängig davon, ob sie von diesen wieder geliebt werden oder nicht. Die eigenen Bedürfnisse muss der ethisch Handelnde nach der Logik der Feldrede zurückstellen. Er muss, ganz im Sinne der Goldenen Regel, die im Zusammenhang mit dem Feindesliebegebot positiv formuliert worden ist, das für sein Gegenüber Gute suchen und sich aktiv darum bemühen. Die eigenen Bedürfnisse werden dabei, ganz im Sinne der Demut, zurückgestellt. Lukas provoziert mit dieser Aussage die Adressaten seines Evangeliums, da das auf Reziprozität aufgebaute Verhalten im zwischenmenschlichen Umgang nicht nur einer allgemeinen menschlichen Logik einsichtig, sondern darüber hinaus auch in verschiedenen frühjüdischen, aber auch hellenistisch-römischen Konzeptionen189 von Ethik enthalten ist. F. Bovon macht in diesem Zusammenhang zu Recht darauf aufmerksam, dass durch die Forderung Jesu nicht nur einige atl. Weisheitstexte wie Spr 24,17 u. a. in ihrem Bedeutungsgehalt erweitert werden, sondern dass sich der lk. Jesus klar in Opposition zu einer Theologie setzt, deren Grundlage der Heilsexklusivismus des Bundesvolkes darstellt: „So kann der exklusive Partikularismus von Dtn 30,7 nicht mehr gelten: ‚Und alle diese Flüche wird der Herr, dein Gott, auf deine Feinde und auf deine Hasser legen, welche dich verfolgt haben.‘ Jesus überwindet das Prinzip der Gegenseitigkeit und der Vergeltung. Er steht also im Widerspruch zu den Essenern, die in ihrer Sucht nach kultischer Reinheit den Haß gegen die Bösen von jedem Mitglied der Sekte als Schwur verlangten, weil sie so den eschatologischen Kampf vorbereiten wollten.“190
Eine klassische hellenistische Struktur einer do ut des Ethik wird dabei ebenso als ethisch insuffizient gekennzeichnet wie auch die Grundbedingungen eines menschlichen Patronatsverhältnisses.191 Die beiden folgenden Sentenzen in V. 33 und V. 34 vertiefen das Gebot der Feindesliebe und unterstreichen dabei wiederum die Ablehnung von menschlicher Reziprozität, während initiatives Handeln zugunsten eines jeden Nächsten und unter Absehung der eigenen Bedürfnisse gefordert wird. In V. 33 wird der aktive Charakter des ethisch korrekten Tuns, das ausschließlich das Wohl des Gegenübers zum Ziel hat, durch die Verwendung des Verbs „ἀγαθοποιεῖν“ 189 M. Wolter, Lukasevangelium, 258–259 nennt als Belege: Plato, Leg. 774c; Hesiod, Op. 349; Xenophon, Mem. 2,6,28; Epiktet, Diss. 2,14,18; Aristoteles, Nic.Eth. 1164b.26; Pseudo-Aristoteles, Rhet.Alex. 1421b38–39; Thucydides 3,67,6; Sir 3,31; 12,1; 30,6; 35,2; Josephus, Ant XIV,212. 190 F. Bovon, Lukas 1, 313–314. 191 Eine ausführliche Studie zu den Zusammenhängen von verschiedenen Formen des hellenistischen Patronatsverhältnisses und der lukanischen Ethik legt J. Marhsall in seinem Buch „Jesus, Patrons, and Benefactors. Roman Palestine and the Gospel of Luke.“ vor. Die Abwertung menschlicher Patronatsverhältnisse als Ausweis einer christlichen Ethik erkennt auch Marshall im Zusammenhang mit der Feldrede; vgl. J. Marshall, Jesus, 231.
4.3 Auslegung
109
zum Ausdruck gebracht.192 Inhaltlich findet hier eine Verklammerung zu V. 27c statt, wo zu gutem Handeln (καλῶς ποιεῖν) gegenüber den Hassenden aufgefordert wird. Insofern sich der Mensch nicht mit ganzer Kraft dafür einsetzt, sich auch um das Wohlergehen derjenigen zu kümmern, die ihrerseits kein Interesse am Gegenüber zeigen, gehört er in die Kategorie der Sünder und sein Verhalten bietet keinerlei Anlass zu Dank. Die dritte Sentenz (V. 34) gestaltet die Forderung zur Feindesliebe im Zusammenhang mit Fragen nach dem Besitz. So wird dazu aufgefordert, gerade denjenigen beispielsweise Geld zu geben, von denen keine Rückgabe zu erwarten ist. Nur so kann sich der Einzelne eines ethisch guten Umgangs mit seinem Besitz gewiss sein. Sobald auf die Wiedererstattung gehofft oder gar gedrängt wird, befindet sich der Handelnde wieder in einer Reihe mit den Sündern, die nach Lukas nur dann Geld verleihen, wenn sie das Ihre wieder zurückerstattet bekommen. Die Verbindung zu V. 30 ist offenkundig, aber auch die Vernetzung mit weiteren Stellen im lk. Doppelwerk, die sich mit der Frage des Besitzethos beschäftigen, ist plausibel. Interessant ist jedoch die Frage, warum diese Sentenz im Zusammenhang mit dem Feindesliebegebot genannt wird? V. 34c macht deutlich, dass es sich hier mitnichten um einen Raubüberfall handelt, sondern vielmehr um die Bitte um ein Darlehen. Eine Bitte, die nicht zurückgewiesen werden darf, und der darüber hinaus auch noch mit überschwänglicher Generosität begegnet werden soll, indem auf eine Rückzahlung des Darlehens verzichtet wird. Die Tatsache, dass die Bitte um ein Darlehen im Zusammenhang mit dem Feindesliebegebot thematisiert wird, lässt einen tiefen Blick auf die reichen Adressaten des LkEv zu. Aller Wahrscheinlichkeit nach fanden Bittsteller meist keine freundliche Aufnahme bzw. wurden diese als eine Art „Feind“ betrachtet, da sie es auf den Besitz der Adressaten des LkEv abgesehen hatten. Zur Ethik der Feindesliebe gehört es nach lk. Diktion dann auch, sich den Bittstellern freundlich und großzügig zuzuwenden und die Sorge um den eigenen Besitzstand, sowie die „Gefahr“ für den Besitz, der von den Bittstellern ausgeht, zu vergessen. Stattdessen soll um das Wohl des Bittstellers willen großzügig gegeben werden, ohne dass auch nur die Hoffnung auf eine Wiedererstattung aufkeimen könnte. Die Durchbrechung des Prinzips Reziprozität wird somit auch auf ökonomische Zusammenhänge ausgeweitet. „Thus ends Jesus’ rejection of any interpretation of his Golden Rule as Greek reciprocity: it is the morality of sinners.“193 Zwei Aspekte sind aber bisher offengeblieben: Einerseits deutet die dreifache Frage nach der χάρις, die aus einem bestimmenden Handeln resultiert bzw. nicht resultiert, darauf hin, dass es nach lk. Verständnis durchaus eine Kategorie 192 Im Hinblick auf die Verwendung dieses Verbs in 1Petr und 3Joh schreibt W. Grundmann, Art. ἀγαθός, 17: „Jeweils hat es seinen Ton im Liebeserweis, der keine Beschränkung duldet.“ Diese Interpretation gilt gewiss auch für das LkEv. 193 J. Topel, Children, 167.
110
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
von χάρις gibt, an der die Menschen in der Umsetzung des Feindesliebegebots anteilig werden können. Diese Form der χάρις ist nicht für die Sünder bestimmt. Durch die hamartiologische Dimension der lk. Argumentationsstruktur richtet sich die Aufmerksamkeit auf eine mögliche Reaktion Gottes gegenüber denen, die sich nicht als Sünder, sondern vielmehr als „Gerechte“ erweisen, indem sie ihren Lebenswandel an seinen Geboten und an seinem Willen, formuliert durch den Mund Jesu im Zuge der Feldrede, ausrichten. Andererseits bewirkt weder die Einbettung der Goldenen Regel in den Horizont der Feindesliebe noch die sich daran anschließenden Ausführungen in den V. 32–34, dass die Provokation, die dem Feindesliebegebot inhärent ist, abgemildert wird. Die Fragen nach der Plausibilität und dem Ermöglichungsgrund des Feindesliebegebots bleiben nach wie vor offen und drängen auf eine Beantwortung.
4.3.3.3 Gotteskindschaft und Barmherzigkeit (V. 35a–36b) In den V. 35–36 findet die lk. Argumentationsstruktur zur Feindesliebe ihren Höhepunkt. V. 35a bietet ein dreigliedriges Summarium der zuvor erhobenen ethischen Forderungen, die im Zusammenhang mit dem Feindesliebegebot formuliert worden sind. Dabei unterstreicht der Evangelist durch die Verwendung der Formulierung πλήν,194 dass sich ein Verhalten, das sich an den Maßstäben der Feindesliebe und der Zugewandtheit zum Nächsten orientiert, in Opposition zu den Wertmaßstäben befindet, die in den V. 32–34 den Sündern zugeordnet worden sind. Anstelle eines auf Reziprozität aufbauenden Lebenswandels, in dessen Verlauf nur die Freunde in den Genuss ethisch guter Taten kommen, sollen die Menschen ihre Feinde lieben, ihre Kraft darauf verwenden, uneingeschränkt allen Gutes zu tun und darüber hinaus all denjenigen Geld und Besitz zu geben, von denen sie eine Rückgabe nicht erhoffen können.195 Es ist deutlich, dass Lukas die drei Schlagworte ἀγαπᾶν τοὺς ἐχθρούς, ἀγαθοποιεῖν und δανίζειν als übergeordnete ethische Motive verwendet, deren konkrete Ausgestaltung er bewusst offen lässt, um so seinen Adressaten die Möglichkeit zu geben, die Umsetzung dieser allgemein formulierten Forderungen innerhalb der jeweiligen Lebensvollzüge zu realisieren. Der Evangelist ist klugerweise nicht daran interessiert, einen ethischen Maßnahmenkatalog zu erstellen, der jedweden Lebensbereich abdeckt, sondern er gibt durch seine ethische Paränese die 194
Ähnlich argumentiert M. Wolter, Lukasevangelium, 259. J. Topel, Children, 168 macht im Zusammenhang des Verschenkens von Geld auf die ethischen Analogien in der Antike aufmerksam: „Thus Jesus’ own ethic is a generalized reciprocity that converts every loan into a gift, a position articulated by Aristotle for true benevolence to friends and by Philo of Alexandria for observing the law.“ Auch H.‑D. Betz, Sermon, 605–608 weist auf die Sachparallelen zu Aristoteles und Philo hin. Dabei unterstreicht er deutlich, dass das Verhalten, das in der Feldrede gefordert wird, eine Entschränkung der hellenistischen Freundesethik darstellt, welche nun alle Lebensbereiche und alle Mitmenschen umfassen soll. 195
4.3 Auslegung
111
allgemeine Richtung vor, in der sich ein christlich-ethischer Lebenswandel entwickeln soll. Eine Auflistung aller möglichen Bedeutungsnuancen dieses Summariums wäre stets defizitär und somit für die ethische Paränese untauglich. Die Frage nach der χάρις, die aufgrund eines bestimmten Verhaltens zu erwarten wäre, prägte die Ausführungen in den V. 32–34. Aufgrund der als rhetorische Fragen angewandten Konditionalsätze wurde deutlich, dass das Verhalten der Sünder auf keinen Fall eine χάρις nach sich ziehen wird. In V. 35 wird dieses Thema ebenfalls aufgegriffen und nun, im Lichte der zu realisierenden Feindesliebe, positiv beantwortet. Auch wenn hier kein konditionales Satzgefüge vorliegt, soll die Argumentation in V. 35a–b dennoch dergestalt verstanden werden: Wenn die Angesprochenen die Feindesliebe in ihren verschiedenen Facetten realisieren, dann werden sie einen großen Lohn (μισθὸς πολύς) bekommen. Interessanterweise steht diese Lohnverheißung nicht nur in Opposition zur χάρις, die nicht verliehen werden wird, sondern auch in Überbietung gegenüber der Erwartungshaltung der Sünder: Während diese erwarten, dass ihnen ihre guten Taten im gleichen Maße vergolten werden (τὰ ἴσα), formuliert Lukas für seine ethischen Ausführungen einen überreichen Lohn (πολύς). Dieses Motiv der Fülle und des überreichen Vergeltens wird in V. 38 weiter vertieft.196 Der futurische Charakter des Lohnes sowie dessen Bindung an ein Verhalten, das durch Demut und Leidensübernahme geprägt ist, rücken den Lohn in den Zusammenhang mit den Verheißungen der Makarismen und dem in Lk 6,23 versprochenen himmlischen Lohn. Es kann also davon ausgegangen werden, dass sich auch die Lohnverheißung in V. 35b auf einen eschatologischen Lohn bezieht, der in Verbindung mit der Durchsetzung der Gottesherrschaft steht. Die Realisierung der Feindesliebe eröffnet dem Einzelnen die Teilhabe am Reich Gottes. An dieser Stelle kommt nun wieder das Motiv der Reziprozität ins Spiel. Während man die „Durchbrechung der Reziprozität des zwischenmenschlichen Handelns als ethischen identity marker der […] Kinder des Höchsten“197 definieren kann, löst Lukas den Gedanken einer Wiedervergeltung für ethisch gute Taten mitnichten auf. Vielmehr verlagert er die Verantwortung für eine solche Wiedervergeltung in den Bereich Gottes. Die Nachfolger Jesu können sich sicher sein, dass ihre Taten der entschränkten Nächstenliebe, obgleich sie nicht von den Menschen belohnt und gewürdigt werden, von Gott vergolten werden. Das System der Reziprozität wird also von den menschlichen Akteuren abgelöst und in den Verantwortungsbereich Gottes verschoben. „Some object that the introduction of reward here subtly insinuates egoism into what has been 196 Die Darstellung des überreichen Wiedervergeltens lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers hin zu Gott. Bereits im AT ist die positive Reziprozität Gottes gegenüber denen, die treu zu ihm und zu seinem Bund standen, nicht durch Gleichwertigkeit, sondern durch Überfülle geprägt (vgl. beispielsweise Gen 15,5–6; Hiob 42,10–17; Jes 40,31 u. ö.). 197 M. Wolter, Lukasevangelium, 255.
112
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
portrayed as altruism. As we will see, however, the reward is participating in the divine altruism!“198 Somit bricht Lukas eindeutig mit den ethischen Prinzipien zwischenmenschlichen Handelns, die er in seiner hellenistischen Umwelt vorfindet, löst sich aber nicht grundsätzlich von dem Gedanken einer positiven Vergeltung für ethisch gute Taten.199 Gott ist derjenige, der den ethisch korrekt Handelnden eschatologisch belohnen wird. Indem er das ethische Interaktionsgefüge zwischen zwei menschlichen Parteien durch die dritte Größe „Gott“ erweitert, gewinnt die zwischenmenschliche Relation auf beiden Seiten an heilvoller Dynamik. Während sich das in der Nachfolge Jesu stehende Handlungssubjekt aufgrund seines Handelns der überreichen himmlischen Belohnung sicher sein kann, erfährt sein Gegenüber durch die von christlicher Ethik geprägten Handlungen eine liebevolle Zuwendung. Bei aller Betonung eines heilvollen Zugewinns auf beiden Seiten muss dennoch anerkannt werden, dass Lukas nicht in sozialromantische Schwärmereien verfällt: Die Überwindung von Leiderfahrungen kann bereits diesseitig erfahren werden, jedoch liegt die diesseitige Überwindung nicht im Fokus der ethischen Argumentation. In den Genuss eines überreichen Lohnes und der Befreiung von jedwedem Leid kommen die Nachfolger Jesu erst, dann aber mit Gewissheit, im eschatologisch vollendeten Reich Gottes.200 Neben dem nicht näher bezeichneten himmlischen Lohn, wird den Adressaten der Feldrede die Zusicherung der Gotteskindschaft verheißen.201 Ebenfalls im Futur formuliert (ἔσεσθε), führt der Evangelist aus, dass diejenigen, die ihr Verhalten nach den Maßstäben der Feindesliebe gestalten, zu Söhnen des Höchsten202 werden. Mit diesem Terminus greift der Evangelist ein in der 198
J. Topel, Children, 169. hierzu auch J. Green, Luke, 273–274: „First, he vouches for the continuance of the notion of reciprocity, albeit in a radicalized form. […] In this new economy, however, the patron gives without strings attached, yet is still repaid, now by a third party, God, the great benefactor, the protector and the benefactor of those in need.“ 200 J. Green, Luke, 274 beharrt darauf, dass die jesuanische Ethik nicht in Form eines Vertrags zwischen Gott und den Menschen gedacht werden kann, wodurch Gott zu irgendeiner Art heilvoller Wiedervergeltung verpflichtet werden könnte. Vielmehr soll die Heilsverheißung im Vordergrund stehen, die im Wesen Gottes gründet. Dabei wird zudem eine Art Patronatsverhältnis zum Ausdruck gebracht, in der Gott an die Stelle des römischen Imperators tritt, wodurch in der lk. Ethik nicht nur eine Gesellschafts-, sondern vielmehr eine Staatskritik entwickelt wird. Die Betonung der Freiheit Gottes ist sicherlich wichtig, doch verwendet Lukas hier tatsächlich reziproke Strukturen, die die Gewissheit der Heilsteilhabe aufgrund der aktiven Leidensnachfolge zum Ausdruck bringen. Gott verpflichtet sich in Jesus und seiner Botschaft gegenüber den Nachfolgern Jesu. Die Herausforderung liegt jedoch aufseiten der Menschen darin, im Erfahren und Erdulden der Leidensnachfolge vertrauensvoll an den göttlichen, eschatologisch geprägten Heilszusagen festzuhalten. Eine politische Dimension steht hier sicherlich nicht im Vordergrund. 201 M. Wolter, Lukasevangelium, 259 geht davon aus, dass gerade die Gotteskindschaft der verheißene Lohn für die Nachfolger Jesu darstellt. 202 „ὁ ὕψιστος“ ist ein aus der LXX stammender Begriff für Gott; vgl. G. Bertram, Art. ὕψιστος, 615–616. 199 Vgl.
4.3 Auslegung
113
frühjüdischen wie auch in der paganen Antike bekanntes Motiv auf. Die Söhne Gottes sind diejenigen, die in einem besonders engen Verhältnis zu einer Gottheit standen; ein Verhältnis, das sich häufig aufgrund eines Erwählt-Seins formulieren ließ. Während viele Kulturen die Identifikation des Königs als υἱὸς ὑψίστου kannten, war es nach der israelitischen Bundestheologie auch möglich, das Volk Israel selbst als Söhne des Höchsten zu bezeichnen.203 Daneben findet die Bezeichnung auch bei Engeln ihre Anwendung oder bei paganen Wundertätern.204 Die in Lk 6,35 formulierte Verheißung der Gotteskindschaft für all jene, die sich der Nachfolge Jesu verschrieben und ihre Lebensvollzüge an der sittlichen Botschaft Jesu ausgerichtet haben, kann also als Transformation atl. Traditionslinien verstanden werden; eine Transformation, deren Dynamik sich nach Darstellung des Evangelisten aus der vollmächtigen Lehre Jesu im Lichte der anbrechenden Gottesherrschaft entfaltet. Die Zusicherung der Gotteskindschaft, die sich aufgrund der Nachfolge Jesu ergibt, findet sich im lk. Zusammenhang nochmals in Lk 8,19–21205 und hier wie dort wird betont, dass es allein mit dem Hören der Worte Jesu nicht getan ist, sondern dass die geforderte Nachfolge sich in einer aktiven Lebensgestaltung ausdrücken muss.206 Die Gotteskindschaft ist im gesamten NT ein Erweis der Heilsgewissheit207 und darf zudem, indem das Motiv der Nachfolge in seinem relationalen Bedeutungsgehalt erfasst wird, als Ausdruck tiefen und lebendigen Glaubens verstanden werden. Diese enge Gottesbeziehung ergibt sich nach dem Duktus von Lk 6,35–36 dadurch, dass der Mensch in seinem durch Feindesliebe bestimmten Handeln die Güte und Barmherzigkeit Gottes nachahmt. So insistiert Lukas darauf, dass Gott sich gerade auch gegenüber den Undankbaren (οἱ ἀχάριστοι) und den Bösen (οἱ πονηροί) als gütig208 erweist. Dieser Charakterzug Gottes209 ist wegweisend für das Gebot der Feindeslie203 Sir 4,10; SapSal 2,18; 5,5 sind in ethischer Hinsicht von Relevanz. Dort wird denjenigen, die sich ethisch gut verhalten, die Zusage der Gotteskindschaft verheißen. Anders formuliert: Wer sich in ethischer Hinsicht am Willen Gottes orientiert, der ist ein Kind des Höchsten. Es zeigt sich an dieser Stelle, wie eng die Argumentationen des Evangelisten mit sapientialen Traditionen der LXX verbunden sein können. 204 Zur Übersicht über die Belege vgl. J. Topel, Children, 170–172. J. Topel betont dabei auch, dass im Kontext des NT die Bezeichnung der „Söhne Gottes“ generell der pln. und der joh. Theologie zuzuordnen ist. 205 Die Gotteskindschaft wird hier nicht als Begriff erwähnt, allerdings werden die Angesprochenen als Geschwister Jesu bezeichnet. Wer ein Bruder des Gottessohnes ist, muss folgerichtig auch ein Gottessohn sein. 206 Mit diesem Appell wird auch das Ende der Feldrede gestaltet, vgl. Lk 6,46–49. 207 Das gilt insbesondere auch für Lk 20,36, in denen die υἱοὶ θεοῦ durch den Begriff υἱοὶ τῆς ἀναστάσεως näher bestimmt werden. 208 Lukas verwendet hier das Adjektiv χρηστός, das in Bezug auf Gott bereits in der LXX die Güte und Milde Gottes beschreibt, in der ntl. Verkündigung Jesu jedoch immer stärker auch zum ethisch-paränetischen Argument wird; vgl. K. Weiẞ, Art. χρηστός, 476–477. 209 H.‑D. Betz, Sermon, 610 insistiert darauf, dass die Beschreibung Gottes wie sie in Lk 6,35 formuliert wird, mitnichten christlicher Originalität entspringt, sondern in der gesam-
114
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
be. Lukas macht deutlich, dass die Forderung der Feindesliebe sich einzig und allein in Gottes Wesen gründet und in seiner vergebenden und zugewandten Liebe, von der er auch seine Feinde nicht ausschließt. In Orientierung an diesem Wesenszug Gottes ist es den Nachfolgern Jesu aufgetragen, sich selbst gegenüber den Feinden als gütig und vergebend zu verhalten. Durch die Formulierungen in V. 36 wird die Barmherzigkeit Gottes zum Maßstab menschlichen Handelns erkoren. Während in V. 35c durch den Verweis auf Gottes Güte gegenüber den Undankbaren und den Bösen sowohl die Gotteskindschaft der Nachfolger Jesu als auch das Feindesliebegebot plausibilisiert werden, mahnt210 V. 36, gewissermaßen als Summarium der ethischen Argumentation, die Adressaten der Feldrede abermals zu einem Verhalten, das allein an der Barmherzigkeit Gottes orientiert ist. So werden die Adressaten aufgefordert, ebenso (καθώς) barmherzig (οἰκτίρμων) zu sein, wie ihr Vater barmherzig ist, wodurch eine qualitative Annäherung menschlicher Barmherzigkeit an das göttliche Vorbild verlangt wird.211 Lukas verschränkt hier das Motiv der Barmherzigkeit, das Motiv der Gotteskindschaft und das Motiv der Nachahmung miteinander. Die Rhetorik der Argumentationslinie ist beeindruckend: Während in den V. 32–34 zunächst eine Distanzierung zwischen den Adressaten der Rede und den Sündern vorgenommen wird, verheißt V. 35 die Gotteskindschaft der Adressaten, die sich aus eben jener Distanznahme ergibt. Dabei bedeutet Distanzierung aber nicht ein Abwenden der Adressaten von den Sündern, sondern nur ein Abwenden von den Verhaltensmustern der Sünder. Die verheißene Gotteskindschaft ergibt sich gerade aus der Zuwendung zu den Sündern. In V. 36 ist die Gotteskindschaft nun keine zukünftige Verheißung, sondern ein fester Bestandteil der Argumentation: Gott wird als Vater (πατήρ)212 der Zuhörer genannt, wodurch auf die enge Bindung zwischen Gott und den Adressaten hingewiesen wird, die für die Hörer im ten hellenistischen Antike begegnet. Dadurch verschafft Lukas seinen hellenistisch-paganen Adressaten einen Anknüpfungspunkt an die in der Feldrede formulierte ethische Unterweisung, die ihren Grund in Gottes barmherzigem Wesen hat. 210 Das Verb γίνεσθε (2. Pers. Pl. Fut.) soll hier als Imperativ übersetzt werden; vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, §201. 211 Im Mt.-Ev. findet sich an dieser Stelle die Aufforderung ebenso vollkommen (τέλειος) zu sein, wie Gott vollkommen ist. In der ntl. Forschung gibt es keinen Konsens darüber, ob nun Mt. oder Lk. den ursprünglichen Wortlaut der Logienquelle wiedergibt, bzw. wer die Logienquelle zugunsten des kulturellen Hintergrunds seiner Adressaten verändert hat; vgl. D. Bock, Luke I, 604–605. Zudem wird häufig die Parallele in Jak 5,11 benannt, wobei sich zudem in Jak 5,1–10 die ethische Nähe zur Feldrede zeigt. Es muss offenbleiben, ob τέλειος oder οἰκτίρμων ursprünglich ist. Wichtig für das LkEv ist die Beobachtung, dass die Konzentration auf die Barmherzigkeit Gottes die gesamte lk. Ethik prägt, wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird. Siehe dazu auch J. Topel, Children, 176: „Since this is the only occurrence of the stem in the gospel tradition, it is likely to be Lukan redaction, and indeed it displays a basic theme of the Lukan gospel.“ 212 Hier eröffnet sich ein typischer Wesenszug der jesuanischen Verkündigung, der seine Spitzenaussage im Vater Unser findet (Lk 11,2–4).
4.3 Auslegung
115
vorliegenden Zusammenhang zunächst eine ethische Dimension besitzt. „Thus with this one word πατήρ, used only once in the sermon, in the climactic place of the love commandment section, Jesus makes clear that his ethic is not about obedience, but about personal love.“213 Selbstverständlich darf bei aller Hochschätzung der ἀγάπη für die jesuanische Ethik nicht übersehen werden, dass die Nachfolger Jesu im LkEv immer wieder zu Gehorsam214 gegenüber Gott aufgefordert werden. Ein Verkennen dieses Aspekts würde die ethische Paränese in eine Schieflage bringen. Allerdings eröffnen sich durch den Verweis auf Gott als den barmherzigen Vater der Adressaten auch zwei helfende Perspektiven: So liegt nicht nur der Maßstab, sondern auch der Ursprung aller Barmherzigkeit außerhalb des Menschen in Gott. Durch die enge Relation des Einzelnen zu Gott, was durch die Bezeichnung Gottes als Vater veranschaulicht wird, weist Lukas darauf hin, dass sich die menschliche Barmherzigkeit aus der Barmherzigkeit Gottes speist. Der Einzelne muss zwar selbst zum Handelnden werden und sich barmherzig an seinem Nächsten zeigen, aber er soll und darf dabei an Gottes Barmherzigkeit anteilig werden.215 Hier knüpft die zweite Perspektive an: Das Wissen um Gottes Barmherzigkeit, die er nicht nur gegenüber den Bösen und Undankbaren, sondern natürlich auch gegenüber seinen Kindern erweist, erlaubt es dem einzelnen Nachfolger Jesu, mit Misserfolgen in der Nachfolge heilvoll umzugehen.216 Die ethischen Forderungen, die Lukas hier erhebt, sind gewaltig. Somit muss auch damit gerechnet werden, dass Menschen, die in der Nachfolge stehen, an ihnen scheitern; und wahrscheinlich mehr als nur einmal. Dieses Scheitern bedeutet aber kein Ende der Gotteskindschaft, da sich jeder im Zuspruch der göttlichen Barmherzigkeit und der göttlichen Vergebung geborgen wissen 213
J. Topel, Children, 177. Vgl. hierzu beispielhaft: Lk 6,46.47–49; 12,47–48; 17,7–10; 19,11–27. 215 Dies wird vor allem in den Perikopen deutlich, in denen die Fürsorge Gottes für die Seinen zum Thema wird; vgl. beispielsweise Lk 11,5–13; 12,22–34; 15,1–32. Gottes Fürsorge äußert sich in Versorgung und Bewahrung, aber auch in gnädiger Annahme des Einzelnen. Damit wird insinuiert, dass der einzelne Glaubende die Anforderungen der Nachfolge nicht allein aus eigener Kraft zu leisten hat. 216 Diese Dimension wird an dieser Stelle der Feldrede nicht expressis verbis ausgeführt, doch ist, wie etwa die Perikopen von der Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50) oder die Begegnung Jesu mit dem Zöllner Zachäus (Lk 19,1–10) zeigen, die vergebende Barmherzigkeit Gottes ein entscheidender Faktor für eine gelingende Nachfolge. Die Tatsache, dass diese Dimension göttlicher Barmherzigkeit in der Feldrede nicht näher diskutiert wird, dürfte vermutlich ihrem paränetischen Charakter geschuldet sein. Es geht hier zunächst um die Definition ethisch qualifizierten Verhaltens und um die Beschreibung der Reichweite ethischer Verantwortung. Der Umgang mit dem Scheitern angesichts dieser Forderungen ist hier, allein aus argumentativer Perspektive, nicht im Blick. Analog baut auch der Evangelist Matthäus seine ethische Argumentation auf: Während in der Bergpredigt (Mt 5–7) kein Jota von den teils sehr herausfordernden ethischen Ansprüchen abgewichen wird, wird die Dimension der Vergebung Gottes erst an anderer Stelle hervorgehoben (z. B. Mt 18,21–35). 214
116
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
darf. Im Endeffekt ist die Barmherzigkeit Gottes ein doppelter Ermöglichungsgrund lk. Ethik: Zum einen initial als Fundament christlichen Handelns, zum anderen redundant als Hilfe in Krisensituationen. Die Gotteskindschaft ist Zuspruch und Anspruch zugleich:217 Zuspruch, insofern die Teilhabe am Reich Gottes zugesichert wird, Anspruch, indem das Verhalten der Gotteskinder gegenüber ihren Mitmenschen einzig durch die Orientierung an der göttlichen Barmherzigkeit bestimmt wird; eine Barmherzigkeit, die wohl als schrankenlos verstanden werden muss.218 „Wheras the Golden Rule began with my own desires, οἰκτίρμων implies already primordially the face of the Other that summons my aid, out of my Mitmenschsein.“219 Dabei wird deutlich, dass der Begriff οἰκτίρμων durch seine Bedeutung als Mitleid und Erbarmen eine emotionale Dimension des Menschen beansprucht. Ein so verstandenes barmherziges Verhalten verlangt ein Sich-Einfühlen in die Bedürfnisse des Gegenübers, ein Mitleiden an dessen Schmerz, einen Perspektivenwechsel, um die Welt aus den Augen des Anderen nachvollziehen zu können. Somit wird einerseits der Bogen zurück zur Goldenen Regel in V. 31 geschlagen, andererseits aber auch der Blick zu verschiedenen Konkretionen der Barmherzigkeit geöffnet, wie sie im LkEv noch begegnen werden.
4.3.3.4 Abschließendes Summarium (V. 37a–38d) Das Miteinander von ethischer Paränese, die auf der Barmherzigkeitsforderung aufgebaut ist, und von eschatologischem Heilsausblick, der mit dem Motiv der Gotteskindschaft verbunden ist, wird am Ende des zweiten Hauptteils der Feldrede vertieft. Das abschließende Summarium zerfällt in zwei Teile: Während V. 37 das Unterlassen verurteilender Handlungen zum Inhalt hat, wird V. 38 durch die allgemein gehaltene Aufforderung zum Geben bestimmt. Als thematische Klammer dient der Gedanke der Generosität. Der ganze Abschnitt wird durch das Motiv der positiven Vergeltung dominiert: Wer nicht über andere richtet, wird selbst nicht gerichtet werden, wer anderen gibt, der wird empfangen. Aufgrund der vorangegangenen Ausführungen der Feldrede wird hier, wenn auch unausgesprochen, deutlich, dass es sich natürlich nicht um eine Form der menschlichen Reziprozität handelt, sondern dass die Vergeltung der ethisch guten Taten durch Gott geschehen wird. 217 J. Nolland, Luke 1, 303 formuliert dazu: „Where in v 35 to be a son of God is the goal for one’s actions, in v 36 having God as Father is the starting point from which imitation proceeds.“ 218 W. Radl, Lukas I, 415 problematisiert diesen Gedanken der schrankenlosen Barmherzigkeit. „Sie [die Nachahmung Gottes S. W.] kann allerdings nicht im vollen Sinne des Wortes gemeint sein, auch V. 36 nicht, trotz des καθώς. Dieses ‚(ebenso) wie‘ hat hier eher begründende als vergleichende Bedeutung: Weil Gott barmherzig ist, sollen es auch die Menschen sein.“ 219 J. Topel, Children, 177.
4.3 Auslegung
117
Die Warnungen vor dem Verurteilen anderer wird durch die Verben κρίνειν, καταδικάζειν und ἀπολύειν zum Ausdruck gebracht. Interessant ist die grammatische Struktur, mit der Lukas den Inhalt seiner Botschaft unterstreicht. Das Verbot, zu richten (κρίνειν) und zu verurteilen (καταδικάζειν) wird durch die Verneinung der in der 2. Pers. Pl. formulierten Verben mithilfe der Partikel μή knapp und deutlich zum Ausdruck gebracht. Der Evangelist verzichtet hierbei auf jedwede Ausführung des Verbots. Die Aufforderung, frei zu geben,220 wird natürlich nicht negiert. Doch auch hier dominiert der knappe, scharf formulierte Tonfall, der deutlich macht, dass dem Gebot nichts mehr hinzuzufügen ist. Die Begründung, warum die Adressaten nicht über andere richten sollen, erwächst aus dem direkten Zusammenhang mit dem Feindesliebegebot221 und der Barmherzigkeitsforderung, an die das Verbot nahtlos anschließt. Lukas entwickelt den Gedanken unlimitierter Barmherzigkeit konsequent weiter: Wer sich seiner Gotteskindschaft würdig erweisen will, muss jedweder Form von verurteilendem Handeln entsagen.222 Die Konzentration liegt hier auf dem Verbot der Verurteilung;223 es wäre nicht stimmig, dass die Nachfolger Jesu sich nach der ethischen Unterweisung durch die Feldrede eines Urteils über das ihnen begegnende Verhalten anderer enthalten könnten. Die Fähigkeit zur gegenseitigen, brüderlichen Ermahnung224 bedarf eines klaren Urteilsvermögens. Die Barmherzigkeitsforderung verlangt, gerade gegenüber denen, die schuldig werden, vergebend aufzutreten. „The text’s emphasis is on reflecting mercy, being able to forgive, and refusing to judge harshly.“225 Die Heilsperspektive, die sich dem ethisch korrekten Tun anschließt, wird ebenfalls durch κρίνειν, καταδικάζειν und ἀπολύειν gestaltet, wodurch sich eine klare Struktur ergibt, die den Entscheidungen und Handlungen des Einzelnen eschatologisches Gewicht zumisst. Auffällig ist dabei vor allem die Art und Weise, in der Lukas die Begriffe κρίνειν (V. 37b) und καταδικάζειν (V. 37d) in die Heilsaussage integriert: Er formuliert die beiden Verben im Konj. Aor. Pass. in der 2. Pers. Pl., der durch die Partikel οὐ μή verneint wird. Somit belässt er es nicht bei einer vagen Heilshoffnung, die sich auf die Orientierung an den 220 Hier wäre an verschiedene Formen der Freilassung zu denken, beispielsweise aus der Gefangenschaft oder aus einer finanziellen Abhängigkeit oder aus der Sklaverei. Eine thematische Rückbindung an die Antrittspredigt, in der die Freilassung der Gefangenen durch das Wirken Jesu postuliert wird (Lk 4,18), wäre denkbar, insofern die Nachfolger Jesu die Durchsetzung des Heilshandelns Jesu unterstützen. Allerdings drängt sich ein Rückverweis auf Lk 4 nicht gerade auf. F. Bovon, Lukas 1, 324 denkt hier zudem an ein Tolerieren anderer Meinungen. 221 So auch J. Topel, Children, 184: „With the prohibitions of judging and condemning, the command to pardon specifies the command to love one’s enemies.“ 222 Wie sich spätestens in der Apostelgeschichte zeigen wird, hält der Evangelist diesen Gedanken nicht konsequent aufrecht. 223 Vgl. auch J. Topel, Children, 183. 224 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Lk 6,41–42. 225 D. Bock, Luke I, 607.
118
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Weisungen Jesu aufbaut, sondern Lukas bringt eine unerschütterliche Heilsgewissheit zum Ausdruck: Wer andere nicht richtet, der wird ganz gewiss nicht gerichtet werden, wer andere nicht verurteilt, der wird ganz gewiss nicht verurteilt werden.226 Diese Sicherheit gilt auch für die dritte Sentenz über das Freilassen in V. 37e–f: Lasst frei und ihr werdet gewiss freigelassen werden.227 Der Empfang des göttlichen Heilshandelns wird durch die Realisierung der Barmherzigkeitsforderungen garantiert. Lukas erweckt jedoch durch das Betonen der Heilsgewissheit den Anschein, dass die Heilsteilhabe, wiewohl parallel zu den menschlichen Handlungen formuliert, die irdischen Bemühungen qualitativ übersteigen wird. Dieser Gedanke wird in V. 38 deutlich zum Ausdruck gebracht. Der Forderung, zu geben, in schlichtem, drängendem Stil formuliert,228 wird das Bild eines überreichen Empfangens gegenübergestellt. Auch wenn von dieser Mahnung eine Verbindung zu den monetären Aspekten der Feindesliebe im engeren und zum lk. Besitzethos im weiteren Zusammenhang hergestellt werden kann, orientiert sich Lukas weiterhin an der relativen Offenheit seiner ethischen Forderungen für die unterschiedlichsten Anwendungsgebiete und Lebenslagen. Die Adressaten sollen sich ein Ethos der Großzügigkeit zu eigen machen und dieses dann in ihrem jeweiligen Lebenszusammenhang realisieren. Wieder wird dem menschlichen Verhalten ein göttliches Vergelten in Aussicht gestellt, das sich ebenso wie in V. 37 in denselben Handlungszusammenhängen formulieren lässt. Doch belässt es Lukas hier nicht mit einer ausdrücklichen Zusage eschatologischen Heils, sondern zeichnet ein Bild der Fülle und des Überflusses. Der Vergleich mit einem Hohlmaß229 dient ihm dabei zur Veranschaulichung: So wird Gott230 implizit mit einem Getreidehändler verglichen, der seinem Kunden nicht nur ein volles Maß Korn verkauft, sondern das Maß drückt (πιέζειν), rüttelt (σαλεύειν), um eventuelle Hohlräume zu vermeiden, und dann als Ausdruck äußerster Großzügigkeit so viel Korn in das Hohlmaß einfüllt, bis dieses überfließt (ὑπερεκχύννεσθαι). Es wird deutlich, dass Lukas die göttliche Belohnung, die er seinen Adressaten aufgrund ethisch korrekten Verhaltens zusichert, 226 Siehe H. v. Siebenthal, Grammatik, § 247a, 423: Die Verneinung eines Konj. Aor. durch die Partikel οὐ μή „stellt […] die stärkste Verneinung einer Aussage über Zukünftiges dar.“ 227 Die Übersetzung von ἀπολύειν im Ind. Fut. Pass. in der 2. Pers. Pl. im Charakter der Gewissheit ergibt sich durch den Kontext der beiden vorangehenden Verbformen. 228 Ausgedrückt durch δοῦναι im Imp. Präs. in der 2. Pers. Pl. 229 Es ist sicherlich kein Zufall, dass das Fälschen eines Hohlmaßes bzw. einer Waage eine bekannte Anklage der Propheten gegen betrügerische Händler ist, die vor allem die Armen ausbeuten (vgl. Hos 12,8; Am 8,4–8). 230 Siehe F. Bovon, Lukas 1, 325, FN 79: „Der Plural δώσουσιν ist entweder ein Pluralis majestatis für Gott oder, vielleicht eher, ein Plural, der auf die eschatologischen Mitarbeiter Gottes, d. h. auf die Engel hinweist.“ M. Wolter, Lukasevangelium, 261 vermutet hinter dem Plural „entweder […] Gott oder das unpersönliche ‚man‘“. Eine ähnliche Konstruktion findet sich auch in Lk 16,9.
4.3 Auslegung
119
nicht in einer scharf kalkulierten do ut des Pragmatik verhaftet sieht. Dies hätte er durch das Bild eines „normal“ gefüllten Hohlmaßes erreichen können. Allerdings ist solch ein Verhalten innerhalb der Logik der Feldrede kennzeichnend für die Sünder, die lediglich τὰ ἴσα erwarten und erhalten. Die göttliche Gnade gegenüber den Nachfolgern Jesu übersteigt jedes Maß an Güte und Barmherzigkeit, das diese im Zuge der Nachfolge ihrem Nächsten angedeihen lassen.231 Die vier ethischen Forderungen in den V. 37–38 und die damit verbundenen Heilsaussagen werden in V. 38d summarisch auf den Punkt gebracht: „Denn mit welchem Maß ihr messt, werdet ihr wiedergemessen werden.“ Unter dem Eindruck der überfließenden göttlichen Gnade liest sich der letzte Satz dieses Abschnittes als eine Aufmunterung, dem Gegenüber mit derselben unlimitierten, großzügigen Barmherzigkeit zu begegnen, mit der auch Gott selbst den Glaubenden begegnen will. Im Wissen um das Getragen-Sein von göttlicher Gnade und Barmherzigkeit wird der Einzelne zurückverwiesen auf die V. 35–36, in denen die Nachahmung göttlicher Barmherzigkeit zum Fundament allen ethischen Handelns wird, in dem auch das Feindesliebegebot und die damit verbundene Goldene Regel eingebettet sind wie auch die Mahnung, nicht über andere verurteilend zu richten. Die eigene Generosität im zwischenmenschlichen Umgang findet nicht nur einen Widerhall, sondern auch eine Überbietung im Handeln Gottes am Menschen. Das eigene Handeln wirkt ausschlaggebend für die Heilsteilhabe und somit stellt sich die Frage nicht wirklich, ob es sich lohnt, dem Mitmenschen stets freundlich, zuvorkommend und barmherzig zu begegnen, bei all den Unannehmlichkeiten, die damit verbunden sein können: Es lohnt sich232 in jedem Fall, wie das Bild vom überfließenden Maß zeigt. Andererseits liegt in diesem letzten Satz auch eine kaum versteckte eschatologische Drohung: Insofern sich die Adressaten nicht an den Maßstäben überfließender Barmherzigkeit orientieren, insofern sie sich zum Richter über ihre Mitmenschen aufschwingen und sich weigern, dem Gegenüber großzügig und großmütig zu begegnen, können sie sich des göttlichen Gerichts sicher sein. „Bei Lukas verdeckt die eschatologische Heilsperspektive nie den Ernst der gegenwärtigen Entscheidung.“233 Indem die eigene Barmherzigkeit im Übermaß vergolten wird, kann auch vice versa in der Logik von V. 38d davon ausgegangen werden, dass auch die eigene Unbarmherzigkeit ihr eschatologisches Pendant finden wird. Dadurch verweist die Argumentationsstruktur unausgesprochen zurück auf den Anfang der Feldrede, der durch den Dualismus von 231 232
Genau dieselbe Argumentation findet sich in Lk 18,28–30. F. Bovon, Lukas 1, 324 warnt davor, den Fokus zu sehr auf die eschatologische Vergeltung zu richten, was aufgrund der hier begegnenden Heilsverheißungen nahe liegen würde. „Die Jünger sollen vergeben (ἀπολύετε), nicht um egoistisch am letzten Tag Vergebung zu erlangen, sondern weil mit der Botschaft Jesu die Vergebung in ihr Leben getreten ist. Wenn sie so frei und selbstlos handeln, werden sie von Gott eschatologisch aufgenommen und freigelassen (ἀπολυθήσεστε).“ 233 F. Bovon, Lukas 1, 326.
120
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Makarismen und Weherufen geprägt ist. Der erste Hauptteil der Feldrede endet in der Spannung zwischen ausgesprochenen Heils- und angedeuteten Unheilsankündigungen und betont die hohe Verantwortung der Adressaten auch für das eigene innerweltliche Verhalten.
4.3.3.5 Zusammenfassung Die Barmherzigkeit Gottes,234 die Lukas durch verschiedene Begriffe zum Ausdruck bringt, stellt das Herzstück der lk. Ethik dar, wie sie im zweiten Hauptteil der Feldrede formuliert wird. Die provokative Spannung, in die der Evangelist seine Adressaten durch die Ausführungen zur Feindesliebe und der damit zusammenhängenden positiv formulierten Goldenen Regel stellt, kann nur durch die Rückbindung an die Barmherzigkeit Gottes gelöst werden. „Thus Luke 6:36 concludes this section on love of enemies by echoing and expanding the other general rule in this section, the Golden Rule. But the norm has been infinitely enlarged to the measure of God’s own compassion.“235 Lukas kennzeichnet diesen Wesenszug Gottes als den für die Ethik bedeutsamsten und schafft eine Fokussierung auf die Barmherzigkeit und das damit verbundene Bedeutungsfeld. Die vergebende, unlimitierte Barmherzigkeit Gottes wird als Vorbild und als Realisierungsgrund des ethisch qualifizierten, menschlichen Handelns bezeichnet. Die Maßstäbe, die Lukas damit für das Handeln des Einzelnen setzt, sind nicht weniger anspruchsvoll als in der synoptischen Parallele Mt 5,48, doch sind sie stärker fokussiert auf einen einzigen Aspekt des göttlichen Wesens. Es geht in der lk. Ethik also mitnichten um eine imitatio Dei, ein Konzept, das aufgrund seiner undifferenzierten Offenheit stets von dogmatischer Seite angeprangert wurde und inhaltlich enger bestimmt werden musste.236 Es geht Lukas einzig um die imitatio misericordiae Dei. Diese Näherbestimmung ist notwendig, um das Charakteristische der Konzeption lk. Ethik benennen und die ethische Paränese analysieren zu können. Durch die Konzentration auf die Barmherzigkeit als Herzstück des menschlichen Handelns ergibt sich zwangsläufig das Verbot von verurteilendem Richten, da nicht die Verurteilung, sondern die Milde (χρηστός) das letzte Wort haben muss. Zudem lässt sich nur durch die Orientie234 Das Wesen der Barmherzigkeit im LkEv soll im Anschluss an die Auslegung der Feldrede breiter thematisiert werden. An dieser Stelle soll lediglich eine Zusammenfassung dessen, was im zweiten Hauptteil der Feldrede ausgedrückt worden ist, formuliert werden. 235 J. Topel, Children, 180. 236 Die Bestimmung der lk. Ethik als einer imitatio Dei nimmt natürlich die Forderung zur Nachahmung in Lk 6,35–36 auf und ermöglicht zudem den Vergleich mit anderen antiken ethischen Konzeptionen, die ihrerseits ein bestimmtes Gottesbild als leitend für die Formulierung ethischer Forderungen nutzen (vgl. hierzu Kap. II,4). Dieser Idee soll im Grundsatz auch in dieser Arbeit nachgegangen werden. Doch sind die dogmatischen Anfragen an die Konzeption einer imitatio Dei nicht von der Hand zu weisen; vgl. W. Schrage, Ethik, 49, 162–163, 199. Somit ist eine Näherbestimmung dessen, was unter imitatio Dei gemeint ist, unbedingt vonnöten.
4.3 Auslegung
121
rung an der göttlichen Barmherzigkeit, der ein universaler, grenzenloser Wesenszug inne liegt (ἐπὶ τοὺς ἀχαρίστους καὶ πονηρούς), die Forderung zur uneingeschränkten Feindesliebe plausibilisieren. Die imitatio misericordiae Dei bringt einen Wechsel der Perspektive und der Verwiesenheit des Menschen mit sich. Lukas nötigt seine Adressaten geradezu, die Welt und somit ihr innerweltliches Verhalten, ihre Wertmaßstäbe aus der Perspektive Gottes zu betrachten, genauer: aus der Perspektive der Barmherzigkeit Gottes. Dies führt zwangsläufig zu einem Aufbrechen der traditionellen, im Lichte der anbrechenden Gottesherrschaft aber überwundenen, ethischen Traditionen und Normen, die das Gefüge der antiken Welt bestimmt haben. Somit kann Lukas das antike Freundesethos universalisieren und eben auch auf die Feinde anwenden. Ebenso transzendiert er die Strukturen zwischenmenschlicher Reziprozität, durch die die ethisch korrekten Taten zu einer Art Handelsware geworden sind. Der Verzicht auf eine positive Vergeltung der ethisch guten Taten seitens des menschlichen Gegenübers wird zu einem Charakteristikum lk. Ethik und ist durch die Formulierung der Feindesliebe schlicht konsequent: Wer sich in unlimitierter Barmherzigkeit seinem Feind zuwendet, der darf nicht damit rechnen, dass der Feind diese Liebesdienste angemessen honoriert. Die positive Vergeltung ethisch guter Taten, die für die Adressaten des LkEv fraglos als Ausdruck einer funktionierenden Gesellschaft gilt, wird in die Königsherrschaft Gottes und somit auch in den Verantwortungsbereich Gottes verschoben. „One often thinks of 1Cor. 13 as the ‚love chapter‘ in the Bible, but Jesus’ remarks on love in 6:27–36 form the center of his ethic and are even more profound. Such sacrifical love is possible only through faith in God and through a belief the God will balance the scales of justice one day. In short, the sermon is a call to love all humanity in the face of reality of God’s blessing, justice, and character. The experience of God’s grace requires that God’s children be gracious (Eph. 4:30–5:2).“237
Das Aufrechterhalten der zwischenmenschlichen reziproken Erwartungshaltung stellt für Lukas lediglich das Verhaltensmuster der Sünder dar, die eben nicht zu den Kindern des Allerhöchsten gerechnet werden können. Doch ist diese Trennung zwischen Sündern und Gotteskindern in erster Linie eine Kritik nach innen, damit die Adressaten vor einem auf Reziprozität fokussierten Verhalten gewarnt werden. Im Umgang der Gläubigen mit den Sündern ändert dieses Bewusstsein nichts. Den Glaubenden ist es trotz allem aufgetragen, sich liebevoll und vergebend den Sündern zuzuwenden und im Zuge dessen Leid und Unterdrückung auf sich zu nehmen. Das Wissen um die Teilhabe am Reich Gottes entbindet gerade nicht von der Pflicht, sich mit den Kindern der Welt liebevoll auseinanderzusetzen. Lukas sieht im Dualismus zwischen den Kindern Gottes und den Sündern gerade keinen Anlass, dass sich die Gotteskinder von den Sündern abwenden dürften. Die Gotteskindschaft verweist vielmehr auf 237
D. Bock, Luke I, 548.
122
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
die Sünder, wodurch wiederum die Perspektive göttlicher Barmherzigkeit und die Durchbrechung der reziproken ethischen Systeme der antiken Umwelt des Evangelisten sichtbar werden. Die Ethik, die Lukas im Lichte der anbrechenden Gottesherrschaft als imitatio misericordiae Dei formuliert, ist die Krisis der antiken ethisch-sozialen Strukturen.238
4.3.4 Die wahre Jüngerschaft (Lk 6,39–49) Der dritte Hauptteil der Feldrede ist durch Lukas mittels eines Erzählerkommentars klar vom vorangehenden Text abgegrenzt:239 „Εἶπεν δὲ καὶ παραβολὴν αὐτοῖς“ (V. 39a). Die wörtliche Rede Jesu wird unterbrochen und dem Leser der Feldrede wird eine Zäsur vor Augen geführt. Es ist anzunehmen, dass sich Lukas in der Gestaltung240 des dritten Hauptteils der Feldrede nun einem neuen Themenfeld zuwendet, dass er dieses aber in den Gesamtduktus der Feldrede einordnet und mit dem bisher Entfalteten verknüpft. Die sich anschließende Gleichnisrede Jesu bespricht verschiedene Aspekte, die sich mit dem Thema „Jüngerschaft“ beschäftigen. So richtet sich der Blick zunächst nach innen auf die Gruppe der Nachfolger Jesu und die Konstellation zueinander (V. 39b–40). Im Anschluss daran richtet sich der Fokus auch nach außen und es wird unterschieden zwischen den guten und den schlechten Menschen (V. 43–45). Ausschlaggebend sind hierbei die Werke des Einzelnen, die einen Rückschluss über dessen innere Ausrichtung zulassen. Abschließend wird im Duktus des bekannten Hausbaugleichnisses die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Jüngern Jesu vorgenommen, zwischen denen, die die Worte Jesu hören und befolgen, und denen, die die Worte Jesu zwar hören, aber nicht befolgen (V. 46–49). Im Verlauf der gesamten Gleichnisrede begegnet immer wieder das Thema des eschatologischen Geschicks der Menschen, das sich anhand der Relation des Einzelnen zu Jesus entscheidet.
4.3.4.1 Der blinde Blindenführer (V. 39b–c) Das erste Bildwort, das in der Gleichnisrede begegnet, ist in der Form einer rhetorischen Frage formuliert, „Kann denn ein Blinder einen Blinden führen?“ wobei die Verwendung der Fragepartikel „μήτι“ ein klarer Hinweis darauf ist, dass die Antwort auf diese Frage nur ein „Nein!“ sein kann.241 Die Folge einer 238
Vgl. hierzu die Ausführungen zu Seneca.
239 Anders J. Topel, Children, 187, der den Erzählerkommentar nicht als ausschlaggeben-
des Argument der Gliederung versteht, sondern die Thematik des Verbots zu richten als übergeordnete Klammer von V. 37–42 ansieht. 240 Bezüglich verschiedener redaktionskritischer Thesen zu diesem Abschnitt vgl. W. Radl, Lukas I, 423–424. Demgegenüber formuliert M. Wolter, Lukasevangelium, 262: „Der Anteil von Texten, die keine Parallele in der Bergpredigt haben, ist hier deutlich höher als sonst in der Feldrede […]. Was davon in der Feldrede von Q stand, kann man nicht wissen.“ 241 Vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 246a.
4.3 Auslegung
123
solchen Kombination wird wiederum in einer rhetorischen Form dargelegt, wobei hier aufgrund der Fragepartikel „οὐχί“ zwingend ein „Ja, gewiss!“ als Antwort folgen muss.242 „Würden sie nicht beide in eine Grube hineinfallen?“ Das Bild des blinden Blindenführers ist sicherlich keine lk. Schöpfung, sondern eine in der Antike allgemein bekannte Chiffre für etwas Unmögliches, Widersprüchliches243 und kann im vorliegenden Zusammenhang dem Spruchgut der Logienquelle zugeschrieben werden. Im Duktus des dritten Hauptteils der Feldrede dürfte das Logion vom blinden Blindenführer in die Gemeindeparänese244 eingebettet sein und bekommt darin eine doppelte Bedeutung. Einerseits warnt das Bild davor, sich unwissenden und somit „blinden“ Gemeindeleitern anzuvertrauen, die keinerlei Kompetenz besitzen, andere anzuleiten und die Gemeinde zu führen. Die Gefahren, die dadurch für die ganze Gruppe245 heraufbeschworen werden, sind dramatisch: Der Sturz in die Grube ist durch dasselbe Wortfeld246 ausgedrückt wie der Zusammensturz des schlecht gebauten Hauses in V. 49c und kann aller Wahrscheinlichkeit nach im Duktus eschatologischer Szenarien verstanden werden, die eine thematische Klammer um den letzten Hauptteil der Feldrede legen. In beiden Fällen handelt es sich nicht um einen kleinen Unfall, ein zu behebendes Missgeschick, sondern um ein radikales Unglück mit dramatischen Folgen. Es gilt zu prüfen, ob sich diejenigen, die sich der Leitungsverantwortung stellen, auch tatsächlich dazu eignen. Blindes Vertrauen kann sich die Gemeinde nicht leisten.247 Andererseits kann das Bild des blinden Blindenführers eine Paränese für die Gemeindeleiter darstellen, die diese dazu aufruft, nicht in verblendeter Selbstherrlichkeit zu agieren, sondern in Zurückhaltung und Reflexion sich zuerst selbst zu prüfen, inwieweit sie „Sehende“ und inwieweit sie „Blinde“ sind, ob sie den Anforderungen der Gemeindeleitung gerecht werden können, oder ob sie eine Gefahr für die ganze Gruppe darstellen.248 Die in dieser Lesart begegnenden Motive der Zurückhaltung und der kritischen Selbstreflexion verweisen auf den weiteren Zusammenhang der folgenden Bildworte und lassen sich durch die Nähe zu dem Motivcluster der Demut in den innerlk. Gesamtzusammenhang einordnen. 242 Vgl.
H. v. Siebenthal, Grammatik, § 245b. Vgl. die Übersicht der antiken Belege bei M. Wolter, Lukasevangelium, 262. Zudem wird auch häufig auf die Parallele in Röm 2,17–24 verwiesen. Die Analogie der ungeeigneten Lehrer und Leiter ist sicherlich vorhanden, doch liegt im LkEv kein Zusammenhang mit einer postulierten Erleuchtung durch das Gesetz vor. 244 Vgl. H. D. Betz, Sermon, 619. 245 Lukas schreibt, dass ἀμφότεροι – beide, also der Leiter und diejenigen, die sich seiner Leitung anvertraut haben, in die Grube stürzen werden. 246 Ἐμπίπτειν (V. 39c) und συνπίπτειν (V. 49c). 247 F. Bovon, Lukas 1, 332 schreibt hierzu treffend: „Wichtig bleibt das Argument, daß riskante Führung in eine noch schlimmere Lage als vorher bringen kann.“ 248 Das Thema der Verantwortung der Gemeindeleiter begegnet auch an anderen Stellen im LkEv Besonders eindrücklich stellt sich dabei Lk 12,48b heraus. 243
124
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
4.3.4.2 Der Schüler und sein Lehrer (V. 40) Das nächste Bildwort thematisiert die Relation zwischen Schüler und Lehrer und betont, dass ein Schüler niemals über seinem Lehrer stehen, sondern lediglich auf eine gemeinsame Stufe mit ihm gelangen kann, insofern seine Ausbildung vollendet (καταρτίζειν) worden ist.249 Das Logion hat eine doppelte Aussageintention: Zum einen zielt es auf die Strukturen innerhalb der Gemeinde, in der es Lehrer-Schüler-Verhältnisse gibt. Dabei wird im Lichte von V. 39b–c zunächst deutlich, dass eine generelle Hochschätzung von Ausbildungsprozessen vorherrscht, um der Gefahr, die von blinden Blindenführern ausgeht, entgehen zu können. Die Rangfolge zwischen Lehrer und Schüler wird dergestalt beschrieben, dass ein Schüler niemals seinen Lehrer überragen wird. Die Beschreibung eines Lehrers der Christusgläubigen,250 der in seiner Würde und in seinem Wissen maximal imitiert, aber nicht übertroffen werden kann, richtet den Fokus natürlich auf Jesus selbst. Dieser tritt im Zusammenhang der Feldrede als ein Lehrer auf, dessen Lehre normativ für alle seine Nachfolger ist und an der sich auch alle, die sich der Aufgabe der Gemeindeunterweisung oder im Hinblick auf V. 39b–c der Gemeindeleitung stellen, orientieren müssen. Im Zusammenhang mit dem Ruf in die Nachfolge wird deutlich, dass die Jünger Jesu in ihm einerseits den Leitstern, andererseits den letztgültigen Horizont dessen vorfinden, worin sich christliches Leben auszeichnet. Ein Übertreffen der Weisheit Jesu ist in Bezug auf die Fragen nach dem Vollzug eines christusgläubigen Lebens schlichtweg unmöglich. Das Bildwort soll im Duktus der Feldrede nicht ohne diesen christologischen Bezug gelesen werden.251 Es ist durchaus denkbar, dass sich hinter diesem Wort ein Problemfeld unterschiedlicher, miteinander in Konflikt stehender Lehrmeinungen verbirgt oder dass hier auf verschiedene pädagogische Konzepte der hellenistischen Antike verwiesen wird, die auch für die Adressaten des LkEv hinsichtlich der Unterweisung und Ausbildung in den Gemeinden von Relevanz sein sollen. Jedoch lassen sich alle Fragestellungen hinsichtlich der Lehre und Unterweisung innerhalb der christusgläubigen Adressatenschaft des LkEv niemals ohne die Verbindung zu Jesus als dem normativen Lehrer,252 wie er in der Feldrede dargestellt ist, bearbeiten. Das Logion ist in letzter In249
H.‑D. Betz, Sermon, 625 kann zeigen, dass das Verb καταρτίζειν in der Umwelt des NT stets zu einem schulischen Kontext, zu einem Bedeutungszusammenhang der Ausbildung gehört. Hierin folgt der Evangelist eindeutig der griechischen Sprachwelt. 250 Der griechische Begriff „μαθητής“ schillert an dieser Stelle: So bezeichnet er zum einen die Person eines Schülers, zum anderen werden im Kontext der Feldrede alle Nachfolger Jesu als μαθηταί bezeichnet. Die christologische Dimension dieses Logions verweist auf die Zusammenhänge innerhalb der christlichen Gemeinde. 251 Anders H.‑D. Betz, Sermon, 624, der hier keinerlei christologischen Bezüge identifizieren will, sondern sich allein auf pädagogische Strukturen innerhalb der Jüngerschaft konzentriert. 252 Vgl. M. Wolter, Lukasevangelium, 263.
4.3 Auslegung
125
stanz eine Aussage über die Relation des einzelnen Jüngers zu Jesus, deren Qualität über die Fähigkeit des Jüngers entscheidet, andere zu unterrichten und anzuleiten.
4.3.4.3 Der Splitter und der Balken im Auge (V. 41a–42e) Das Gleichnis253 nimmt die Themenfelder der beiden vorangehenden Bildworte auf und entwickelt sie in Form einer mahnenden Paränese weiter, wobei eindeutig auf gruppeninterne Konstellationen der christlichen Gemeinde angespielt wird.254 Durch den Wechsel in die 2. Pers. Sg. bekommt die mahnende Dimension des Gleichnisses einen strengen Charakter, indem sich jeder Leser des LkEv persönlich angesprochen fühlen soll. Das Gleichnis bespricht die Konstellation zweier Menschen zueinander, in welcher der eine dem anderen einen Splitter aus dem Auge ziehen will, während er selbst einen ganzen Balken im Auge hat, den er jedoch nicht einmal bemerkt oder bemerken möchte,255 da die ganze Aufmerksamkeit auf die Korrektur des Bruders gerichtet ist. Die an eine Parodie256 grenzende Rede vom Splitter und vom Balken im Auge transportiert ein Summarium an Motiven, die sich allesamt mit dem soziologisch schwierigen Thema der gegenseitigen Zurechtweisung beschäftigen. Der Splitter und der Balken stehen jeweils für ein Fehlverhalten oder eine falsche Perspektive, die korrigiert werden sollen. Dabei symbolisiert die Größe des Holzstückes die Größe des Fehlers. Indem nun derjenige, der den Balken im Auge hat, den eigenen Fehler nicht wahrnimmt oder schlicht nicht wahrhaben will, sondern sich nur auf das Fehlverhalten des Gegenübers konzentriert, das viel geringfügiger ist als sein eigenes, macht er sich nicht nur unglaubwürdig, sondern mutiert zu einem Heuchler, „ὑποκριτής“. Die Heuchelei wird dadurch noch verstärkt, dass er durch seine vorgebliche Fürsorge gegenüber seinem Nächsten einerseits auf dessen Fehler als eine Form des dringend zu behebenden Defizits hinweist und andererseits sich selbst in der Position sieht, dieses Defizit korrigieren zu können. Somit schafft der Heuchler ein moralisches Gefälle zwischen sich und seinem Gegenüber, ohne dass er auch nur einen Gedanken daran verschwendet, seine eigene, viel größere Fehlerhaftigkeit zu erken253 Es gibt zu diesem Gleichnis in der Umwelt verschiedene Parallelen: M. Wolter, Lukasevangelium, 263 verweist auf ein Logion von Rabbi Tryfon (bArak 16b) und eine Aussage von Plutarch (Mor. 515d). J. Green, Luke, 279, FN 74 nennt darüber hinaus eine Sachparallele bei Aristoteles (Rhet. 1384b). 254 Dies wird nicht zuletzt durch die Bezeichnung „ἀδελφός“ deutlich; vgl. hierzu auch Wolter, Lukasevangelium, 263. 255 F. Bovon, Lukas 1, 334–335 spricht hier von eine „unbewussten Selbsttäuschung“ des Heuchlers, wodurch er überhaupt zum Heuchler wird. 256 F. Bovon, Lukas 1, 334 verweist in diesem Zusammenhang auf die Charakteristika frühjüdischer Unterweisungen, die sich durch Übertreibung und Ironie auszeichnen. Da sich hier zudem keine eschatologischen Aspekte identifizieren lassen, ordnet F. Bovon das Gleichnis in den sapientialen Horizont des Frühjudentums ein.
126
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
nen und zu beheben, bevor er sich selbst überhaupt in die Position bringen kann, einen kleineren Makel bei seinem Nächsten anzuprangern und zu korrigieren. Das Gleichnis ist eine deutliche Warnung vor Hochmut, vor Überheblichkeit und drängt den Einzelnen dazu, in allererster Linie Selbstreflexion257 zu betreiben, bevor er den Nächsten ob dessen Verhaltens kritisiert. Durch das Bild des im Auge steckenden Balkens bzw. Splitters wird das Motiv der Blindheit aus V. 39b–c wieder aufgegriffen. Wer sinnbildlich einen Balken im Auge hat und sich dann um einen Splitter im Auge des Nächsten kümmern will, der muss sich selbst im Bild des blinden Blindenführers wiederfinden; ja er ist in seiner Fähigkeit zu sehen sogar noch weitaus eingeschränkter als derjenige, der an einem Splitter zu leiden hat. Er ist somit weder in der Lage noch in der Position, sich als (moralischer) Richter über den anderen aufzuschwingen. Die Grundlage seines Richtens ist nicht die eigene Rechtschaffenheit, sondern die eigene Heuchelei. Hierin zeigt sich der Zusammenhang258 zum Ende des zweiten Hauptteils der Feldrede, in welchem eindringlich vor dem verurteilenden Richten des Anderen gewarnt wird. Während in V. 37–38 in erster Linie die aus Barmherzigkeit resultierende Vergebungsbereitschaft zur Grundlage des Nicht-Richtens erhoben wird, ist es in V. 41–42 die mangelnde Kompetenz, die das Verurteilen des Anderen untersagt.259 Dabei ist der vorhandene Splitter jedoch grundsätzlich aus dem Auge zu entfernen (V. 42e). Die dazu nötige Kompetenz kann angeeignet werden, indem der Einzelne die eigenen Wertmaßstäbe zunächst auf sich selbst anwendet,260 in schonungsloser Ehrlichkeit und in aller Demut. Es bedarf der Erkenntnis, selbst einen Balken im Auge zu haben, selbst der Veränderung und der Umkehr dringend zu bedürfen, bevor die Notwendigkeit der Korrektur, der Buße bei anderen angeprangert und eingefordert wird. Hier schließt das Gleichnis an das Motiv der μετάνοια an, das im gesamten lukanischen Doppelwerk zur Grundlage und zur Ausgangsposition jeder Christusnachfolge wird und die nicht nur einmal und für immer, sondern immer wieder vollzogen werden 257 Ein weiterer denkbarer Aspekt dieses Gleichnisses wäre zudem, dass der Balken für alle anderen unübersehbar ist, wodurch das überhebliche, heuchlerische Verhalten für alle Gemeindeglieder offensichtlich ist. Einzig derjenige, der den Balken im Auge hat, ignoriert diese Tatsache. Diese Form der Gruppenkonstellation wird aber nicht ausformuliert, sondern das Hauptaugenmerk des Gleichnisses liegt auf der Einzelunterweisung zwischen Jesus und dem angesprochenen „Du“. 258 M. Wolter, Lukasevangelium, 263 widerspricht diesem Zusammenhang, „denn es fehlt jeder Bezug auf das eigene Ergehen im Endgericht.“ 259 Matthäus bindet die Logien vom Verbot zu richten und vom Splitter bzw. Balken im Auge direkt aneinander. Allerdings fehlt im MtEv an dieser Stelle sowohl der Zusammenhang mit der Barmherzigkeit als auch der Verweis auf den überreichen eschatologischen Lohn (vgl. Mt 7,1–5). 260 H.‑D. Betz, Sermon, 626 macht hier zurecht auf den Unterschied zwischen βλέπειν und κατανοεῖν aufmerksam: Während der Fehler beim Nächsten gesehen wird, mangelt es dramatisch an Erkenntnis in Bezug auf die eigene Verfasstheit.
4.3 Auslegung
127
kann und muss. Die Dringlichkeit der eigenen Umkehr und der Vergebungsbedürftigkeit verweist den einzelnen Gläubigen zum einen immer wieder auf Christus, verhindert zum anderen die Überheblichkeit gegenüber dem Nächsten. Aus Hochmut wird Demut gegenüber sich selbst und gegenüber den Mitmenschen. Wird diese Notwendigkeit zur persönlichen Umkehr geleugnet, das eigene Fehlverhalten im Zuge der Machtanmaßung über andere verkannt oder vertuscht, so erweist man sich selbst als Heuchler.261 Der Konkordanzbefund zu ὑποκριτής ist für das LkEv wenig ergiebig, jedoch zeigt sich in Lk 13,10– 17 eben jener Zusammenhang, in welchem die Heuchelei Ausdruck eines verurteilenden Verhaltens ohne Demut und Selbstreflexion ist und somit auch ohne einen Sinn für Nächstenliebe ist. Die Konstellation, die in Lk 13,10–17 begegnet, widerspricht fundamental einem Ethos der Barmherzigkeit, wie es in der Feldrede formuliert ist. Anstatt eines richtenden Verhaltens gegenüber dem Bruder formuliert das Gleichnis vom Splitter und vom Balken im Auge einen Dienst am Nächsten und ordnet sich so thematisch in die Reihe der Jüngerunterweisungen ein, die eben jenen Dienst als Kennzeichen echter Christusnachfolge verstehen. So betont Lk 22,24–27 die Notwendigkeit, den anderen zu dienen, ebenso wie Christus zum Diener aller wurde, und sich nicht in Macht und Selbstgefälligkeit über die Mitmenschen zu erheben. Einen Herrschaftsanspruch262 zu formulieren und durchzusetzen, ohne zum aufopferungsvollen Dienst am Nächsten bereit zu sein, ohne sich selbst als bußfertig zu erweisen, kann im Sinne der jesuanischen Ethik nur illegitim sein.
4.3.4.4 Die guten und die schlechten Früchte (V. 43a–45c) Die Bildwörter von dem guten und dem schlechten Baum (V. 43–44) und von dem guten und dem schlechten Menschen (V. 45) sind dergestalt aufeinander bezogen, dass die Bäume und ihre Früchte sinnbildlich für die Menschen und deren Taten bzw. Worte stehen.263 Die Struktur des Abschnittes ist durch klare, antithetische Parallelismen bestimmt, die durch ein Schwarz-Weiß-Denken264 geprägt sind: Ein guter Baum bringt keine faulen Früchte hervor, ein fauler 261 J. Green, Luke, 279 definiert den „Heuchler“ an dieser Stelle vor allem durch eine Differenz zwischen den Handlungen, die fromm wirken sollen, und der inneren Ausrichtung, die sich eben nicht an Gott orientiert. „Their hearts and actions are inconsistent.“ 262 F. Bovon, Lukas 1, 335 konzentriert sich in seiner Auslegung dieses Gleichnisses auf die Relationen der Gemeindeglieder untereinander und versteht den Balken im Auge als „eine sehr ernsthafte Störung der zwischenmenschlichen Beziehung.“ So liege die Stärke der jesuanischen Unterweisung in ihrer ekklesiologischen Pädagogik, die den Einzelnen dazu anleitet, unter dem Verweis auf Jesus erst sich selbst zu korrigieren und dann dem Anderen Hilfe anzubieten, aber nicht aufzuzwingen. 263 Vgl. F. Bovon, Lukas 1, 338. 264 Vgl. die strukturelle Parallele zu dem Schwarz-Weiß-Denken im Zusammenhang mit den Makarismen und den Weherufen.
128
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Baum bringt keine guten Früchte hervor. Ein guter Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens nur Gutes hervor, ein schlechter Mensch bringt aus dem schlechten Schatz seines Herzens nur Schlechtes hervor. Eine Alternative scheint nicht möglich zu sein. Die hier verwendeten Vergleiche des Menschen mit einem guten oder einem faulen Baum sind auf der Bildebene sehr einprägsam. Aufschlussreich ist die Einbindung der einzelnen Bilder und Formulierungen in den Kontext des LkEv. So spricht Lukas zunächst davon, dass die Bäume, in Abhängigkeit von ihrer inneren Konstitution, Früchte hervorbringen, wörtlich: „schaffen“ (ποιεῖν). Die praktische Umsetzung der inneren Ausrichtung in konkret fassbare Ergebnisse, seien es nun Worte oder Taten, ist grundsätzlich das Anliegen der ethischen Unterweisung der Feldrede im Speziellen, der ethischen Aussagen des LkEv im Allgemeinen.265 So fordert der Täufer in Lk 3,8 seine Zuhörer auf, Früchte der Buße hervorzubringen, also den inneren Vollzug der geforderten μετάνοια266 in Form konkreter Taten auch nach außen hin wirksam werden zu lassen. Das Bild des faulen Baumes (Lk 6,43b), der aufgrund seiner inneren, grundsätzlichen Verderbtheit267 keine guten Früchte hervorzubringen vermag, verweist einerseits auf die apokalyptische Drohung des Täufers (Lk 3,9) zurück und wird andererseits, ebenfalls in apokalyptischen Zusammenhängen, im Gleichnis des unfruchtbaren Feigenbaumes (Lk 13,6–9) wieder aufgegriffen. Lukas knüpft hier an atl. Traditionen an, die das Bild der schlechten Früchte bzw. ausbleibenden Ernte als Symbol für schlechte menschliche Taten verwenden, welche als klare Indizien für eine innere Abwendung des Menschen von Gott verstanden werde.268 Eine direkte Parallele weist Sir 27,7–8 auf: Hier wird die Rede des Menschen als Ausdruck seines Herzens verstanden, ebenso wie die Qualität der Früchte einen Rückschluss auf die Pflege eines Baumes zulässt. Das Bild des guten respektive des faulen Baumes und ihren Früchten dient, wie bereits erwähnt, dazu, den Menschen zu charakterisieren, dessen äußere Taten untrennbar mit seinem Wesen verbunden sind. Der Rekurs auf das Herz des Menschen bzw. auf den Schatz seines Herzens269 ist wiederum sowohl mit 265 Es soll an dieser Stelle nochmals auf den Zusammenhang der lk. Ethik mit dem Motiv der imitatio misericordiae Dei hingewiesen werden. Barmherzigkeit ist etwas, das das Innere eines Menschen oder auch das Innere Gottes bewegt und dann aber zu einer konkreten Tat führt. Ebenso wie Gott den Menschen Barmherzigkeit in verschiedenen Taten erweist (ποιεῖν), sollen sie ihrerseits Taten der Barmherzigkeit an den Mitmenschen erweisen. 266 An dieser Stelle endet natürlich die Tragfähigkeit des Bildes: Ein verfaulter Baum erholt sich nicht mehr, eine Umkehr hin zu einem gesunden Stamm bleibt ihm verschlossen. 267 Vgl. O. Bauernfeind, Art. σαπρός, 94–98: Der Begriff bezieht sich im Hinblick auf Nahrungsmittel meistens auf eine völlige Ungenießbarkeit. Lediglich in Bezug auf alten Wein und gereiften Käse kennt die hellenistische Antike auch die positive Verwendung von σαπρός. 268 Am eindrücklichsten ist in diesem Zusammenhang das sog. Weinberglied in Jes 5,1–7. Vgl. ebenso: Jer 17,10; 21,14; 32,19. 269 Die Rede vom Schatz des Herzens begegnet im lk. Doppelwerk nur hier. Thematisch
4.3 Auslegung
129
der atl. Tradition als auch mit der Ethik des LkEv verbunden. So ist das lk. Verständnis des Menschen durch die atl. Überzeugung geprägt, dass das Herz das Personenzentrum des Menschen ist. Woran sich das Herz des Menschen orientiert, wodurch es beeinflusst ist und was es begehrt, das entscheidet grundsätzlich über das Wesen des Einzelnen, das beeinflusst normativ die Wünsche und Taten des Menschen. Ist das Herz des Menschen nun böse (πονηρός), in Analogie zum verfaulten Baum, so kann es nach der lk. Diktion keine Möglichkeit geben, dass dieser Mensch gute Taten und gute Worte hervorbringt, ebensowenig wie ein verfaulter Baum gute Früchte hervorzubringen vermag. In Verbindung mit der ethischen Unterweisung, die in der Feldrede formuliert wird, ist diese anthropologische Beobachtung des Evangelisten von Brisanz. So ist es in allererster Linie dringend geboten, ein gutes (ἀγαθός) Herz zu bekommen, um überhaupt die ethischen Anforderungen der Feldrede in die Tat umsetzen zu können. Hier zeichnet sich wieder das für die lk. Ethik bedeutsame Motiv der μετάνοια ab, durch die dem Menschen die Hinwendung zu Gott ermöglicht werden soll. Strukturell lässt sich hierbei eine Parallele zum Bußruf des Täufers (Lk 3,7–9)270 und der sich an die Buße anschließenden guten Taten feststellen. Insofern das Herz des Menschen böse, also nicht auf Gott ausgerichtet ist, ist alles menschliche Streben eine Bewegung weg von Gott und hin zu anderen Zielen, die demgemäß zum Götzen des Menschen werden. Diese grundsätzliche Überzeugung prägt die Anthropologie und die Ethik des Evangelisten durch und durch. In Aufnahme der Thematik von Lk 6,45 formuliert Lukas in Lk 12,34 seine Forderung zur Abwendung von der Gewinnsucht und der Anhäufung materieller Schätze zugunsten eines tiefen Vertrauens in Gott. Die existentielle Orientierung des Menschen, die Ausrichtung seines Herzens, bestimmt letztlich nicht nur über die menschlichen Taten, sondern auch über seine Teilhabe an der Gottesherrschaft. Lukas weiß, dass sich diese Teilhabe aber ausschließlich über einen lebendigen Glauben, eine den Menschen bestimmende Relation zu Gott erreichen lässt. Um im Bildwort zu bleiben: Der Eingang des Menschen in die Gottesherrschaft lässt sich nur dann realisieren, wenn Gott zum Schatz des Menschen wird, wenn sich das Herz des Menschen allein an Gott ausrichtet. Der θησαυρὸς τῆς καρδίας, besser gesagt die Qualität dieses Schatzes bestimmt also über die moralische Integrität eines Menschen. Lukas insistiert dabei auf den Gedanken, dass dies nicht unbemerkt bleibt, sondern das wahre wird das Herz als Personenzentrum des Menschen allerdings häufig verwendet. Es soll hier in drei verschiedene Bereiche unterschieden werden: (1) Die Zuwendung zu Gott: Lk 1,17; 6,45; 8,15; 10,27; 12,34; 24,32; Act 2,26.37.46; 11,23; 14,17(?); 15,9; 16,14. (2) Die Abwendung von Gott: Lk 1,51; 6,45; 8,12; 12,34; 12,45; 16,15; 21,34; 24,28; Act 5,3.4; 7,39.51.54; 8,21; 28,27 (3) Die Rede vom Denken im Herzen: Lk 1,66; 2,19.35.51; 3,15; 5,22; 9,44; 21,14; 24,38; Act 7,23, 21,13. Act 4,32 ist ein Zitat aus der pythagoreischen Philosophie; Act 13,22 ist eine Selbstaussage Gottes. 270 Ähnlich argumentiert auch J. Green, Luke, 279.
130
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Wesen des Menschen, die moralische Qualität seines Inneren anhand seines Verhaltens, seiner Worte und seiner Taten erkennbar ist (γινώσκειν).271 Durch das einleuchtende Bild von den Feigen und den Trauben, die nicht von den Dornenbüschen geerntet werden können (V. 44), wird symbolisch zum Ausdruck gebracht, dass die Suche nach guten Taten als Erweis eines ethisch fruchtbringenden Menschen bei all jenen vergeblich ist, deren Inneres böse ist. Die Natur der Dornenbüsche macht das Hervorbringen von Trauben und Feigen per se unmöglich. Vielmehr bringen sie das hervor, was ihrer Natur entspricht: Dornen! In V. 45 wird das dem Wesen gemäße Hervorbringen (προφέρειν) durch die Fokussierung auf die Rede des Menschen nochmals unterstrichen. Lukas argumentiert, dass der Mund des Menschen von dem redet, ja reden muss, wovon das Herz übervoll ist.272 Es soll an dieser Stelle nicht davon ausgegangen werden, dass Lukas im Sprechen des Menschen den wichtigsten Aspekt seiner Handlungsfähigkeit sieht, der die Taten an Bedeutung überstrahlt.273 Vielmehr soll hier an das Ensemble von Taten und Worten gedacht werden, anhand derer sich das Innere eines Menschen offenbart.274 Während die V. 43–45a die Früchte des Menschen, also seine Taten, beleuchtet haben, nimmt nun V. 45b auch die Worte in den Blick.275 Der Konkordanzbefund zu σαπρός zeigt, dass der Begriff neben den mt. Parallelen (Mt 7,17; 12,33) nur noch im Zusammenhang mit dem mt. Sondergutgleichnis vom Fischnetz (Mt 13,38) sowie in Eph 4,29 begegnet.276 Die Argumentation in Eph 4,20–32 verwendet zwar nicht das Bild eines Baumes und seiner Früchte, aber beschäftigt sich durchaus mit dem konkreten Handeln der Christen in Wort und Tat, wobei die schlechten (σαπρός) Worte im Gegensatz zu den guten (ἀγαθός) stehen. Im Grundsatz ist die Aussageintention 271 D. Bock, Luke I, 616 betont, wahrscheinlich im Licht von V. 41–42, dass die Erkenntnis der moralischen Qualität des Menschen eine Selbsterkenntnis ist und keine Erkenntnis über einen Mitmenschen. Dieses Argument könnte dadurch noch gestützt werden, dass es im LkEv stets nur Jesus ist, der in die Herzen der Menschen blicken kann. Allerdings kann in der Argumentation der Feldrede davon ausgegangen werden, dass es sich hier nicht nur um die Formulierung eines Prozesses der Selbstreflexion handelt, sondern auch um eine Warnung: Das Innere eines Menschen wird stets früher oder später durch seine Werke und vor allem durch seine Worte (vgl. V. 45) für alle sichtbar werden; vgl. in ähnlicher Weise M. Wolter, Lukasevangelium, 264. 272 F. Bovon, Lukas 1, 339 verwendet zur Kommentierung dieses Verses das Bild eines Brunnens (= das menschliche Herz), aus dem ein Schöpfgefäß (= der menschliche Mund) nur das schöpfen kann, was sich in dem Brunnen befindet. 273 So argumentiert H.‑D. Betz, Sermon, 635. 274 Anhand der Verwendung des Verbes „λαλεῖν“ in der atl. Prophetie als Bezeichnung des Offenbarungsaktes, kennzeichnet J. Topel, Children, 209 die Bedeutung von V. 45c als Offenbarung des Herzens: „Here the meaning of the mouth connotes both speaking and revealing the heart.“ 275 M. Wolter, Lukasevangelium, 264 verweist zu Recht auf Parallelen in der sapientialen Tradition wie beispielsweise Sir 21,26. 276 Zudem kennt der Jakobusbrief das Verb „σήπειν“ (Jak 5,2) mit welchem das Vergehen des Reichtums ausgedrückt wird. Wiederum findet sich hier eine enge Sachparallele zur lk. Ethik.
4.3 Auslegung
131
von Lk 6,43–45 identisch mit Eph 4,20–32, wobei das gesamte Verhalten des Menschen seine grundsätzliche Ausrichtung, sein inneres Wesen, im Epheserbrief die Versiegelung durch den Hl. Geist, widerspiegelt.277 Dass das menschliche Verhalten deutlich vielschichtiger und komplexer ist, als es hier charakterisiert wird, war dem Evangelisten sicherlich bekannt.278 Doch scheint es Lukas daran gelegen zu sein, die Grundlage für eine erfolgreiche und ehrliche Umsetzung der ethischen Paränese nochmals einzuschärfen: die Ausrichtung des Herzens an Gott. Dadurch verweist der Evangelist zurück auf das Herzstück der Feldrede und erinnert implizit an die Aufforderung zur imitatio misericordiae Dei. Dem schließt sich die Warnung vor Heuchelei, die Notwendigkeit zur μετάνοια und die Zuwendung zu den Bedürfnissen des Nächsten an. Erst durch die Einbettung in den Kontext279 der lk. Ethik gewinnt das Bildwort vom guten und vom schlechten Baum seine inhaltliche Fülle.
4.3.4.5 Das Gleichnis vom Hausbau (V. 46a–49c) Der Abschluss der Feldrede wird, parallel zum Abschluss der Bergpredigt, durch das Gleichnis vom Hausbau bestimmt. Durch dieses Gleichnis soll die Differenzierung zwischen denen, die die Worte Jesu umsetzen und denen, die sie lediglich hören, aber nicht umsetzen, dargestellt werden. Das Ende der Feldrede ist durch einen apokalyptisch gefärbten Dualismus geprägt, dessen individuell positiver oder negativer Verlauf in der Verantwortung des Einzelnen liegt. Es geht darum, die Worte Jesu nicht nur zu hören, sondern sie in konkrete Taten umzusetzen. Dies wird bereits im anklagenden Auftakt zu diesem Gleichnis deutlich: „Warum aber ruft ihr mich ‚Herr! Herr!‘ und tut nicht, was ich euch sage?“280 (V. 46) „The reinforcing repetition κύριε, κύριε not merely names, but pretends to make Jesus one’s Lord.“281 Lukas greift das Thema der Heuchelei erneut auf 277
Eine ganz ähnliche Argumentation begegnet in Mk 7,20–23. Dies zeigt sich nicht zuletzt durch die Aussage von V. 46. Vgl. ebenso M. Wolter, Lukasevangelium, 264. 279 J. Topel, Children, 202 denkt zunächst an eine direkte Verbindung zum vorangehenden Gleichnis: „Γάρ connects the quite disparate material in 6:43–44 to 6:41–42, as an illustration of how the disciple can see clearly (διαβλέψεις, 6:42) to cast out the speck in the brother’s eye.“ Die anthropologische Aussage von V. 43–45 ist jedoch viel tiefgründiger und grundsätzlicher als die Rede vom Splitter und vom Balken. Daher sollte eine Interpretation den potentiell syndetischen Charakter von „γάρ“ nicht zu sehr hervorheben. Im weiteren Verlauf seiner Exegese betont J. Topel dann die Bedeutung der gesamten Feldrede als Kontext der anthropologischen Aussagen von V. 43–45; vgl. J. Topel, Children, 210–211. 280 Würde man die Aussageintention dieses Satzes in der Übersetzung verstärkt wiedergeben wollen, so müsste ein „dennoch“ eingefügt werden: „Warum aber ruft ihr mich ‚Herr! Herr!‘ und tut dennoch nicht, was ich euch sage?“ Die atl. Prophetie dürfte hier als Traditionshintergrund dienen; vgl. F. Bovon, Lukas 1, 340; W. Radl, Lukas I, 432. 281 J. Topel, Children, 211. 278
132
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
und formuliert es nun nicht in Bezug auf das Verhältnis zweier Gemeindeglieder untereinander, sondern hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem einzelnen Menschen und Jesus. Indem der Mensch Jesus als seinen Herrn282 bekennt,283 ordnet er sich einerseits dem Willen Jesu unter und tritt somit in die Nachfolge ein, andererseits gewinnt er die Gewissheit, dass durch den Eintritt in die Jüngerschaft, durch die Unterordnung unter die Herrschaft Jesu, das persönliche eschatologische Geschick ein heilvolles sein wird, dass die Vergebung der Sünden zugesprochen wird, dass sich der Gottessohn auch dem einzelnen Menschen verpflichtet. In V. 46 werden nun aber all jene scharf gerügt, deren Bekenntnis zu Jesus einzig ein Lippenbekenntnis bleibt, deren Willen zur Nachfolge sich allein darin erschöpft, Jesus als Herrn zu bekennen, ohne dass dies Auswirkungen auf die konkrete Lebensgestaltung hat. Hinsichtlich des Zusammenhangs mit dem vorangegangenen Bildwort vom guten und vom schlechten Baum, ist die Verwendung des Verbs „ποιεῖν“ an dieser Stelle bemerkenswert: Der Vorwurf, den Jesus hier formuliert, konzentriert sich auf das Ausbleiben der Tat, ebenso wie V. 47 und V. 49 der Mensch dadurch unterschieden wird, ob er die Worte und Weisungen Jesu in die Tat umsetzt oder nicht. Somit ist nicht nur für die lk. Ethik, sondern für das umfassende lk. Verständnis von Jüngerschaft die tätige Realisierung der Weisung Jesu im jeweiligen Lebensvollzug des Einzelnen ein unumgänglicher Aspekt. Ein rein innerlicher Glaube, der sich nicht in äußeren Vollzügen konkretisiert, ist für den Evangelisten gleichzusetzen mit einem nicht existenten Glauben.284 V. 47 bildet den Übergang zum abschließenden Hausbaugleichnis, indem ein Mensch dargestellt werden soll, der zu Jesus kommt (ἔρχεσθαι), seine Worte hört (ἀκούειν) und diese Worte dann in seiner Lebensrealität auch umsetzt (ποιεῖν), anders ausgedrückt: Jesus skizziert im ersten Abschnitt des Gleichnisses einen echten Jünger. Auffällig ist hierbei der Verweis zur Eingangsszenerie der Feldrede: Die große Menschenmenge ist zu Jesus gekommen, nicht nur um sich von ihm heilen zu lassen, sondern auch um ihn zu hören (Lk 6,17– 282
Κύριος soll hier als christologischer Hoheitstitel verstanden werden. F. Bovon, Lukas 1, 340 differenziert hier zwischen Bekenntnis und Gebet und ordnet den Ruf „κύριε, κύριε“ dem Gebet zu. Diese Differenzierung scheint insofern unnötig zu sein, als dass sowohl im Bekenntnis als auch im Gebet die Herrschaft Christi bejaht wird. 284 M. Wolter, Lukasevangelium, 265 verweist hier mit Recht auf die Sachparallele in Jak 2,14–26 und formuliert die These, dass „es in den frühen christlichen Gemeinden der Glaube war, dem die Funktion eines identitätsstiftenden Ethos zugeschrieben wurde, und es, abgesehen vom Gottesdienst, keine bestimmten institutionalisierenden Handlungen gab, durch die die christliche Identität in exklusiver Weise zur Anschauung gebracht wurde […].“ Inwiefern diese Identitätsbestimmung allein durch den Gottesdienst tatsächlich der Realität entsprach, muss an dieser Stelle offenbleiben. Deutlich wird in jedem Falle, dass sich Lukas in derselben Argumentationslinie bewegt wie Jakobus. Zwar wird in nahezu jeder ntl. Schrift der Zusammenhang von Glaube und Ethik thematisiert, doch ist die hier begegnende Betonung der soteriologischen Konsequenz der Ethik das bestimmende Merkmal einer theologischen Tradition, zu der die Synoptiker ebenso gehören, wie auch der Jakobusbrief. 283
4.3 Auslegung
133
19). Jesus spricht, wie die Formulierung „πᾶς“ zu Beginn des V. 47 zeigt, jeden von ihnen an und ermutigt und ermahnt dazu, dass sie zu „Tätern des Wortes“ (Jak 1,22) werden sollen. Die Aufforderung zum Eintritt in die Jüngerschaft gilt universal allen, die sich bei Jesus versammelt haben.285 Somit gelingt es Lukas, eine Klammer um die Feldrede zu schaffen, deren Kennzeichen die Universalität der Botschaft Jesu darstellt. Das erste Bild des Hausbaugleichnisses dient also dazu, eine positive Botschaft zu vermitteln und das Ergehen dessen darzustellen, der sich für einen umfassenden Eintritt in die Jüngerschaft entschieden hat, zu der neben dem Hören auch das Tun der Worte Jesu gehört. Der Jünger wird mit einem Menschen verglichen (ὅμοιος εἶναι), der ein Haus baut286 und dabei darauf achtet, dass das Haus auf ein solides Fundament gegründet wird.287 Um dieses Ziel zu erreichen, nimmt er einige Anstrengung auf sich. Dies zahlt sich jedoch aus, als der Fluss bei einem Hochwasser über die Ufer tritt und das Haus den Fluten nicht nur standhält, sondern nicht einmal erschüttert werden konnte,288 da es gut gebaut (καλῶς οἰκοδομῆσθαι) war. Auf die Lebenssituation der Adressaten der Rede übertragen, drückt die Rede vom Hausbau folgende Zusicherung aus: Derjenige, der nicht auf Jesu Worte hört und sich nicht nur auf Lippenbekenntnisse zu Jesus als seinem Herrn verlässt, sondern die mühevolle und anstrengende Umsetzung der tätigen Nachfolge Jesu auf sich nimmt, der gründet seine Existenz auf ein solides Fundament. Im Lichte der Leidensnachfolge betrachtet, transportiert das Bild vom reißenden Fluss zudem die Aussage, dass derjenige, der seine Existenz auf die Nachfolge Jesu gründet, durchaus auch die damit einhergehenden Anfeindungen von außen auszuhalten vermag. Erkennt man in dem reißenden Fluss jedoch ein eschatologisches Motiv, so wird deutlich, dass die Nachfolger Jesu das endzeitliche Gericht überstehen werden. Dem gegenüber (V. 49) steht derjenige, der sich nicht die Mühe gemacht hat, tief zu graben und das Fundament des eigenen Hauses auf einen soliden Felsen zu gründen. Dieses Haus kann einem Hochwasser nichts entgegensetzen und stürzt sofort (εὐθύς) in die Fluten, sobald sich der Fluss an dem Haus bricht.289 Der Einsturz des Hauses wird von Lukas in dramatischen Worten beschrieben (τὸ ῥῆγμα […] μέγα), wodurch einerseits das umfassende Ausmaß der Katastrophe verdeutlicht, andererseits aber auch die Unumkehrbarkeit der Ereignisse unterstrichen wird. Der Evangelist benennt jenen Hausherrn explizit als denjenigen, der die Worte Jesu zwar hört, sie aber nicht in die Tat 285 Vgl.
J. Topel, Children, 214. Stilistisch auffallend ist die figura ethymologica „οἰκοδομεῖν οἰκίαν“. Die ausführliche Beschreibung der Bautätigkeit durch die Verben „σκάπτειν“, „βαθύνειν“, „θεμέλιον“ ist der lk. Redaktion geschuldet; vgl. J. Topel, Children, 215. 288 Vgl. J. Topel, Children, 216. 289 Während das erste Haus noch nicht einmal erschüttert wird, bricht das zweite Haus sofort ein. Diese auffällige Kontrastierung der beiden Häuser soll die Gegensätzlichkeit auf die Spitze treiben. 286 287
134
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
umsetzt. Im Zusammenhang mit V. 46 sind hier diejenigen angesprochen, die Jesus zwar als ihren Herrn bekennen, aber in Wirklichkeit keinerlei Ambitionen zeigen, sich der Herrschaft Jesu wirklich unterzuordnen und dementsprechende Konsequenzen für die eigene Lebensgestaltung zu ziehen. In einem klaren Schwarz-Weiß-Muster trennt Lukas zwischen den Nachfolgern Jesu und denen, die sich lediglich als solche bezeichnen und daraufhin mit existentiell dramatischen Folgen290 rechnen müssen. „Vom Tun oder Nichttun hängt das Schicksal ab.“291 Es ist allerdings auffällig, dass sich der Evangelist nicht mit denjenigen beschäftigt, die keinerlei Interesse an Jesus und an seiner Botschaft haben oder ihm gar feindlich gegenüberstehen. Lukas hat in der abschließenden Paränese nur diejenigen vor Augen, die sich im Kreise der Nachfolger Jesu, möglicherweise im Kreise der christlichen Gemeinde bewegen. Unter diesen unterscheidet er zwischen den Heuchlern und zwischen den wahren Jüngern Jesu, die die Nachfolge Jesu in all ihrer Konsequenz auf sich nehmen. Die Drohung gegenüber denen, die nur äußerlich zu den Jüngern Jesu gehören, aber in Wirklichkeit keinerlei Bemühungen zeigen, sich der tätigen Umsetzung der Worte Jesu zu stellen, kann durchaus eschatologisch verstanden werden.292 Damit lässt sich das Hausbaugleichnis einordnen in die Reihe der Perikopen, die ebenfalls das eschatologische Geschick derer vor Augen hat, die sich nicht an den Worten Jesu orientiert haben.293 Durch die Formulierung eines bedrohlichen eschatologischen Horizonts drängt Lukas seine Adressaten dazu, sich der Nachfolge Jesu anzuschließen und die damit verbundenen Anstrengungen auf sich zu nehmen.294 Der „pädagogische“ Aspekt, der dieser Perikope inne liegt, wird dadurch noch verstärkt, dass Lukas seine Feldrede mit der Darstellung des dramatischen Geschicks beendet. „Der Ton liegt also auf der Beschreibung der 290 Die Dramatik liegt klar auf der Hand: Derjenige, der das schlecht gebaute Haus besitzt, wird den Ansturm des Flusses nicht überleben können. 291 W. Radl, Lukas I, 432. Er verweist an dieser Stelle auf die atl. Traditionen, wie z. B. Lev 26,3–13; Dtn 11,26–28 u. a., die eine „Zwei-Wege-Lehre“ formulieren und hier als theologische Schablone gedient haben. Vgl. ebenso F. Bovon, Lukas 1, 340, der hier noch auf Ps 1 verweist. 292 Denkbar wäre natürlich auch ein innerweltliches Geschehen, das den Abfall von Jesus aufgrund äußerer Anfeindungen beschreibt. Allerdings müssten in diesem Falle aber nochmals die Konsequenzen dieses Abfalls für den Einzelnen beleuchtet werden, die dann wohl wieder in die Richtung des eschatologischen Geschicks und der Teilhabe an der Gottesherrschaft verweisen würden. 293 Vgl. beispielsweise Lk 9,23–27; 12,1–10; 12,41–46; 13,22–30; 16,19–31; 18,18–27; 19,11–27. Höchstwahrscheinlich ordnet Lukas all jene, die sich gegenüber Jesus feindlich verhalten, per se der Gruppe zu, die ein eschatologisches Strafgericht erleiden müssen. 294 J. Topel, Children, 215 formuliert hier im Hinblick auf das in V. 48 beschriebene Ausschachten der Baugrube und das Legen des Fundaments: „This image evokes the enormous task involved: not simply to come to Jesus and listen to his words, but to put into practice the radical ethic of the Sermon.“
4.3 Auslegung
135
negativen Handlungsfolge, und es wird deutlich mehr gedroht als versprochen.“295
4.3.4.6 Zusammenfassung Die gesamte Feldrede ist durch die Überzeugung des Evangelisten geprägt, dass der Mensch sich durch eine grundsätzliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit auszeichnet, durch die er auch sein Gottesverhältnis mitgestalten kann. Es bleibt für Lukas letztlich die Entscheidung des Einzelnen, wie er sich gegenüber dem Ruf Jesu in die Nachfolge verhalten will. Allerdings betont er im letzten Abschnitt der Feldrede, dass die zu treffende Entscheidung für oder gegen Jesus weitreichende existentielle Folgen mit sich bringt, nicht zuletzt in eschatologischer Hinsicht. Die Eigenverantwortung des Menschen und die damit einhergehende Entscheidungsfreiheit, auch und gerade gegenüber dem Ruf Jesu, ist ein wichtiges Charakteristikum der lk. Anthropologie und der lk. Ethik.296 Fällt die Entscheidung für Jesus und den Ruf in die Nachfolge aus, so muss das Leben des Einzelnen grundsätzlich und vor allem durch das Bekenntnis zu Jesus als dem κύριος geprägt sein, was eine Orientierung am Willen und an den Weisungen Jesu mit sich bringt.297 Der letzte Hauptteil der Feldrede konzentriert sich auf die Frage, wodurch sich wahre Jüngerschaft auszeichnet. Dabei geraten immer wieder die Verhaltensweisen in den Blick, die den falschen von dem wahren Nachfolger Jesu trennen, die die Unterscheidung zwischen einem Heuchler und einem Jünger markieren. Lukas macht deutlich, dass das Wesen der Jüngerschaft nur durch gegenseitige Lehre und Unterweisung erkannt werden kann, dass es für die Gemeinschaft der Gläubigen notwendig ist, darüber unterrichtet zu werden, was das Leben in der Nachfolge Jesu auszeichnet (V. 39). Doch insistiert der Evangelist darauf, dass sich alle Lehre an der vollmächtigen Unterweisung Jesu orientieren muss und dass die Vollkommenheit des jesuanischen Vorbilds maximal imitiert, aber niemals übertroffen werden kann (V. 40). Dadurch wird die normative Autorität dessen, was der Evangelist als Lehre298 Jesu überliefert, für die Adressaten des LkEv festgehalten. Die damit einhergehende Warnung vor der Selbstüberschätzung des Einzelnen hinsichtlich seiner Autorität in der Gemeinschaft der Glaubenden und hinsichtlich seines Vorbildcharakters für die anderen Christusgläubigen wird durch das Bild vom Balken im Auge nochmals ausdrücklich wiederholt. So ist jeder 295
M. Wolter, Lukasevangelium, 266. Lukas geht sogar so weit, dass er seine Adressaten dazu auffordert, die Kosten der Nachfolge gut zu kalkulieren (vgl. Lk 14,25–33). Allerdings sollten diese Kosten denen gegenübergestellt werden, die sich aufgrund der Entscheidung gegen die Nachfolge ergeben werden. 297 Vgl. W. Radl, Lukas I, 437. 298 In diesem Zusammenhang müsste wohl auch das Handeln Jesu, wie es im LkEv beschrieben wird, als normatives Vorbild verstanden werden. 296
136
Kapitel 3: Das Magnificat und das Benedictus
Nachfolger Jesu in erster Linie dazu aufgefordert, sich selbst in Demut zu üben, sein eigenes Verhalten an den Maßstäben Jesu zu überprüfen und dementsprechend zu korrigieren, bevor er sich mahnend an seine Geschwister im Glauben wendet. So wenig das Gleichnis vom Splitter und vom Balken im Auge die Notwendigkeit gegenseitiger Ermahnung und Korrektur verneint, so sehr drängt es doch darauf, angesichts der Fehlerhaftigkeit des Nächsten nicht in selbstvergessene Überheblichkeit zu verfallen. Die drei Bildworte in den V. 39–42 lassen Aspekte eines lk. Leitungsethos erkennen, das im LkEv immer wieder begegnet und durch die Motive der Demut, des Dienstes, der μετάνοια und der immensen Verantwortung gegenüber dem Nächsten und gegenüber Gott gekennzeichnet ist. Es wäre zu prüfen, inwieweit sich diese Motive in der narrativen Darstellung der Gemeindeleitung innerhalb der Acta wiederfinden lassen. Die Thematik der Unvollkommenheit, der gegenseitigen brüderlichen Ermahnung sowie der damit verbundenen Frage nach der Kompetenz zur Ermahnung leitet über zur grundsätzlichen Erörterung über den Zusammenhang zwischen den Taten und dem Wesen des Menschen. Dabei ist die Überzeugung des Evangelisten leitend, dass das Wesen und die Taten des Menschen untrennbar miteinander verbunden sind, sodass das Innere des Menschen an seinen Worten und seinen Werken erkennbar wird. Lukas folgt der atl. Anthropologie, in der die Ausrichtung des Herzens das Wesen des Menschen definiert und sich bestimmend auf sein Handeln auswirkt. Ein böser Mensch bringt nur böse Taten hervor, ein guter Mensch schafft gute Taten. Auch wenn diese schroffe Kontrastierung sicherlich nicht der Komplexität des menschlichen Lebens gerecht wird, drückt sie dennoch ein wesentliches Merkmal lk. Ethik aus: Um gute, also der Lehre Jesu entsprechende, Taten zu vollbringen, bedarf es der ganzheitlichen Hinwendung des Menschen zu Jesus; ein ontologischer Prozess, der mit dem Motiv der μετάνοια verbunden ist. Insofern sich in der Handlung eines Menschen dessen wesenhafte Ausrichtung an Jesus widerspiegelt, stimmt der Mensch mit seinem Handeln überein und schöpft aus dem guten Schatz seines Herzens Gutes, ist er ethisch gut. Sollte das Wesen des Menschen aber nicht an Jesus orientiert sein, so können seine Handlungen, auch wenn sie auf den ersten Blick gut erscheinen, nicht ethisch gut sein. Sie stimmen nicht mit seinem Wesen überein und kennzeichnen ihn dadurch als Heuchler. Darüber hinaus ist der Evangelist davon überzeugt, dass die Bosheit des schlechten Herzens früher oder später durch die Worte und Taten des Menschen offenkundig wird, da der Mensch sein Wesen nicht dauerhaft von seinem Wirken trennen kann.299 Diese Diskrepanz zwischen Wesen und Wirken des Menschen wird auch im abschließenden Hausbaugleichnis nochmals von einer anderen Perspektive aufgenommen. So klagt Lukas diejenigen an, deren Bekenntnis zu Jesus nicht in Übereinstimmung mit ihren Taten stehen, die ihre Nachfolge lediglich propa299
Offenbar hätte 1Sam 16,7 für Lukas nur eine begrenzte Bedeutung.
4.3 Auslegung
137
gieren, aber nicht leben. Für den Evangelisten ist die Schimäre des Lippenbekenntnisses eine Entscheidung gegen die Nachfolge, gegen Jesus. Das Gleichnis von den beiden Häusern mahnt, besser: droht all denen, die sich zwar auf Jesus berufen, sich aber in ihrem Lebensvollzug nicht auf ihn gründen wollen. Es steht für Lukas außer Frage, dass das bloße Anrufen Jesu als des Herrn keinen eschatologischen Bestand haben wird. Die Teilhabe am Reich Gottes erreicht nur derjenige, der die Anstrengung der Nachfolge auf sich nimmt, die im lk. Duktus eine tägliche Kreuzesnachfolge ist (vgl. Lk 9,23). Nur insofern das Wesen und die Taten des Menschen in der Orientierung an Jesus und an seiner Lehre übereinstimmen, kann von einem eschatologischen Bestehen ausgegangen werden. Diese Orientierung wurde in der Mitte der Feldrede als die imitatio misericordiae Dei bestimmt. Dadurch dass der Einzelne seine Taten an der Barmherzigkeit Gottes ausrichtet, wird er zu einem Kind Gottes. Und derjenige, dessen Wesen durch die Gotteskindschaft bestimmt ist, ist in der Lage, die Barmherzigkeit Gottes an seinen Mitmenschen wirksam werden zu lassen. Das Miteinander von Wesen und Tat, von Gotteskindschaft und gelebter Barmherzigkeit beschreibt eine Wechselwirkung, die im Vollzug der Nachfolge Jesu, im Leben des Glaubens an Jesus als den κύριος stattfindet. Indem die Früchte einen Rückschluss auf den Baum zulassen, muss nun näher gefragt werden, worin das geforderte barmherzige Verhalten besteht, das den Nachfolgern Jesu aufgetragen ist? Was zeichnet die Barmherzigkeit aus, die Lukas zum Kernpunkt seiner Ethik gemacht hat? Die nächste Aufgabe besteht darin, das Wesen der Barmherzigkeit im LkEv zu bestimmen.
Kapitel 5
Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37) 5.1 Übersetzung (25a) Und siehe, ein Gesetzeslehrer stand auf, um ihn zu versuchen und sprach: (25b) „Lehrer, was muss ich tun,1 damit ich das ewige Leben erben werde?“ (26a) Er aber sprach zu ihm: (26b) „Im Gesetz, was ist geschrieben? Wie liest du [es]?“ (27a) Er aber antwortete und sprach: (27b) „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben,2 (27c) aus deinem ganzen Herzen und mit3 deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand, (27d) und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (28a) Er sprach aber zu ihm: (28b) „Du hast richtig geantwortet. Tu dies und du wirst leben!“ (29a) Da er sich aber selbst als gerecht erweisen wollte, sprach er zu Jesus: (29b) „Und wer ist mein Nächster?4“ (30a) Jesus ergriff das Wort und sprach: (30b) „[Irgend]Ein Mensch ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter Räuber, (30c) und die gingen, nachdem sie ihn ausgezogen und ihm Schläge versetzt hatten,5 davon und ließen ihn halb tot liegen. (31a) Zufällig ging aber auch ein Priester auf jenem Weg hinab (31b) und als er ihn sah, ging er vorüber. (32a) Gleichermaßen aber kam auch ein Levit an den Ort (32b) und als er [ihn] sah, ging er vorüber. 1
Zur Übersetzung des Ptz. Aor. „ποιήσας“ mit „tun müssen“ vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 289j (d.). 2 „ἀγαπήσεις“ (2. Sg. Fut.) wird als Imperativ übersetzt; vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 202 f. 3 Die Formulierungen im griechischen Text „ἐν“ + Dativ entsprechen einem Dativus instrumenti, wobei das griechische „ἐν“ im Deutschen als „mit“ übersetzt wird; vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, §§ 177a; 184i. 4 Der Begriff „πλησίον“ soll als Substantiv und nicht als Adverb verstanden werden; vgl. F. Bovon, Lukas 2, 87. 5 Πληγὴν ἐπιτιθέναι ist eine feste Wendung im Griechischen; vgl. W. Bauer/K . Aland, Wörterbuch, 613.
140
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
(33a) Ein Samariter aber, der sich auf Reisen befand, kam an die Stelle6 (33b) und als er [ihn] sah, erbarmte er sich; (34a) und nachdem er herangetreten war, verband er seine Wunden, indem er Öl und Wein darüber goss. (34b) Nachdem er ihn aber auf sein eigenes Reittier hatte aufsteigen lassen, führte er ihn in eine Herberge und sorgte für ihn. (35a) Und am [nächsten] Morgen nahm er zwei Denare heraus und gab [sie] dem Wirt und sagte: (35b) ‚Pflege ihn, und das, was du zusätzlich aufwenden solltest, werde ich dir bei meiner Rückkehr erstatten.‘ (36a) Welcher von den Dreien scheint dir (36b) demjenigen, der unter die Räuber gefallen ist, der Nächste geworden zu sein?“ (37a) Er aber sagte: (37b) „Derjenige, der Barmherzigkeit an ihm getan hat.“ (37c) Es sprach aber Jesus zu ihm: (37d) „Geh hin und handle du gleichermaßen!“
5.2 Kontext und Struktur Der Diskussion um das Doppelgebot der Liebe geht die Rückkehr der ausgesandten 72 Jünger voraus, denen Jesus die Teilhabe am Reich Gottes (vgl. Lk 10,20) zusichert. Er formuliert gegenüber den Jüngern einen Makarismus, da ihnen aufgrund ihrer Jüngerschaft Einblicke in und Erfahrungen mit dem Wirken Gottes zuteil werden, die weder Propheten noch Könige erlebt haben (vgl. Lk 10,23–24). Dieser expliziten Überordnung der Jünger über die Propheten und Könige entspricht auch der Jubelruf Jesu: Den Unmündigen („οἱ νήπιοι“ [Lk 10,21]) wird die Offenbarung Gottes zuteil, während den Weisen („οἱ σοφοί“ [Lk 10,21]) und Verständigen („οἱ συνετοί“ [Lk 10,21]) diese verschlossen bleibt. So wird in der Logik von Lk 10,1–24 deutlich, dass die Nachfolge Jesu das zentrale Moment ist, das über die Qualität der Gottesbeziehung des Einzelnen entscheidet, wobei diese sowohl sozial-gesellschaftliche Kategorien umkehren kann als auch normativ über eschatologisch-soteriologische Aspekte urteilt. Auf diesem Hintergrund tritt nun ein Gesetzeslehrer auf, um die Frage nach der Teilhabe des ewigen Lebens zu stellen (vgl. Lk 10,25).7 6 Die Wendung „ἔρχεσθαι κατ’αὐτόν“ ist eine Analogiebildung zu „κατὰ τὸν τόπον ἔρχεσθαι“ (V. 32a). 7 G. Sellin, Gleichniserzähler II, 22 geht davon aus, dass der Gesetzeslehrer sich aufgrund der Aussagen Jesu gegenüber den 72 Jüngern provoziert gefühlt haben muss, da er durch die Rede Jesu von der Teilhabe an der Gottesherrschaft ausgeschlossen worden ist.
5.2 Kontext und Struktur
141
Der kurze Dialog zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer prägt den ersten Hauptteil der Perikope (Lk 10,25a–29b) und beinhaltet die Formulierung des Doppelgebots der Liebe, wobei der Gesprächspartner Jesu durch die redaktionellen Anmerkungen des Evangelisten zunächst als unsympathischer Antagonist8 skizziert wird (vgl. V. 25a; 29a). Auffällig ist im synoptischen Vergleich, dass hier der Gesetzeslehrer das Doppelgebot formuliert, während im MkEv und im MtEv Jesus derjenige ist, der, wohl nicht zuletzt als Erweis seiner vollmächtigen Lehre, das Doppelgebot als Antwort auf die Frage nach dem ersten (vgl. Mk 12,28), respektive nach dem größten Gebot (vgl. Mt 22,36) gibt.9 Während die beiden Seitenreferenten die Diskussion um das Doppelgebot nicht weiter vertiefen, verlangt der lk. Gesetzeslehrer eine Definition des zu liebenden Nächsten (vgl. V. 29b). Diese Frage bildet den Übergang zur Parabel10 vom barmherzigen Samariter aus dem Munde Jesu. Die Parabel bildet den zweiten Hauptteil der Perikope (Lk 10,30a–35b) und ist Teil des lk. Sonderguts. In der ntl. Forschung wurde und wird ausführlich, allerdings auch konsenslos, über die unterschiedlichen traditions- und redaktionsgeschichtlichen Modelle diskutiert, die die Hintergründe der Parabel einerseits und den Gesamtzusammenhang der Perikope Lk 10,25–37 andererseits erklären sollen.11 Die vorliegende Analyse wird auf einen weiteren Beitrag zu die8 Das Verb „ἐκπειράζειν“ kann entweder „auf die Probe stellen“ oder „versuchen“ meinen; vgl. W. Bauer/K . Aland, Wörterbuch, 490. Das Verhältnis zwischen Jesus und den Gesetzeslehrern ist im LkEv grundsätzlich durch eine Spannung, die auch in Feindseligkeit umschlagen kann, geprägt (vgl. Lk 7,29–30; 11,46–52; 14,1–6). Somit kann folgerichtig auch für Lk 10,25 eine aggressiv-herausfordernde Intention des Gesetzeslehrers angenommen werden, sodass auch „ἐκπειράζειν“ eher als „versuchen“ im Sinne von „eine rhetorische Falle stellen“ übersetzt werden soll. Anders M. Wolter, Lukasevangelium, 392: „Mit ἐκπειράζων αὐτόν charakterisiert Lukas die Intention der Frage, ohne dadurch jedoch dem Fragenden eine feindselige Haltung gegenüber Jesus zu unterstellen […], denn das gibt die Bedeutung des Verbs nicht her […].“ 9 Im MkEv wiederholt der Schriftgelehrte das Doppelgebot nochmals in eigenen Worten und formuliert dadurch einen Konsens zwischen seiner Lehrmeinung und der Lehre Jesu; vgl. Mk 12,32–33. 10 Es soll in Anlehnung an R. Zimmermann, Parabeln, 383–419 grundsätzlich von „Parabel“ gesprochen werden. 11 H. Klein, Barmherzigkeit, 74–75 geht, in Anlehnung an A. Jülicher, davon aus, dass die Einheit von Lk 10,25–37 durch den Evangelisten geschaffen worden ist, dem das Gespräch zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer sowie das Gleichnis als voneinander getrennte Perikopen vorlagen. Dadurch ließe sich auch die Spannung zwischen V. 29b und V. 36 erklären; vgl. zudem H. Klein, Lukasevangelium, 388–389; M. Ebersohn, Nächstenliebegebot, 211; J. Kiilunen, Doppelgebot, 51. Diese Position dominierte lange die Mehrheitsmeinung der Exegeten. G. Sellin, Gleichniserzähler II, 21 vermutet hinter der lk. Endgestalt des Doppelgebots eine Kombination aus Q und dem MkEv. Allerdings geht er nicht von einer separaten Überlieferung der Parabel aus, sondern definiert diese als lk. Bildung zur Erläuterung des Doppelgebots; vgl. G. Sellin, Gleichniserzähler II, 37. Ph. Esler, Intergroup Conflict, 332 interpretiert Lk 10,25–37 als Verschmelzung zweier Perikopen, doch betont er, unter Bezug auf G. Theißen, die sinnvolle Geschlossenheit des lk. Textes; vgl. ähnlich H. Schürmann, Lukasevangelium II, 129. J. Jeremias, Gleichnisse Jesu, 19 verweist auf die mündliche Tradie-
142
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
ser Debatte verzichten. Die Konzentration soll vielmehr auf der lk. Endgestalt des Textes liegen, wobei nicht zuletzt die Frage zu beantworten ist, inwiefern Lk 10,25–37 mit der Konzeption der lk. Theologie vernetzt ist. Der dritte Hauptteil gestaltet eine conclusio der beiden vorangehenden Teile, wobei die Frage nach dem Tun (vgl. V. 25b.37a–d) ebenso wieder aufgenommen wird wie die Frage nach der Identifikation des Nächsten (vgl. V. 29b.36a–37b). Auffällig ist hierbei die oszillierende Anwendung des Begriffs „Nächster“ im Gesamtzusammenhang der Perikope. Die Analyse wird zeigen, worin die theologische und argumentative Stärke der lk. Begriffsbestimmung liegt.
5.3 Auslegung 5.3.1 Das Doppelgebot der Liebe (Lk 10,25–29) Die Frage des Gesetzeslehrers nach der vom Menschen zu erfüllenden Bedingung für die Teilhabe am ewigen Leben weicht als Auftakt für die Formulierung des Doppelgebots der Liebe im synoptischen Vergleich von den Seitenreferenten ab, ist aber innerhalb des LkEv eine Frage von zentraler Bedeutung.12 Als prägnantes Beispiel sei die Begegnung von Jesus und dem reichen Aristokraten (vgl. Lk 18,18–30) erwähnt, die ebenfalls durch die Frage nach dem ewigen Leben (vgl. Lk 18,18) geprägt ist, wobei die nahezu13 wörtliche Übereinstimmung zwischen Lk 10,25b und Lk 18,18b auf die bewusste Gestaltung durch den Evangelisten hinweist. In beiden Fällen wird die Frage nach der Ermöglichung des ewigen Lebens durch einen Verweis auf die Schrift beantwortet und in beiden Fällen begegnet die Formulierung einer spezifisch „jesuanischen“ rung des Gleichnisses, die der Verschriftlichung vorausging und die zudem einen Einfluss auf die thematische Rahmung des Gleichnisses ausgeübt hat. Er betont, dass Lukas die Diskussion um das Doppelgebot der Liebe nicht aus dem MkEv übernommen hat, sondern dass sie ihm als eigenständige, mündliche Tradition begegnet ist; vgl. J. Jeremias, Gleichnisse, 200; ähnlich U. Luz, Matthäus 3, 271; D. Bock, Luke 2, 1019–1020. Dieser, durch den synoptischen Vergleich erarbeiteten, plausiblen Position schließt sich auch F. Bovon, Lukas 2, 84 an, der auch eine Verortung der lk. Variante des Doppelgebots in Q explizit ablehnt. M. Wolter, Lukasevangelium, 392 benennt die unterschiedlichen Lösungsmodelle, ohne sich selbst zu positionieren. Er lehnt lediglich den Gedanken ab, dass Lukas schlicht die Vorlage aus dem MkEv angewandt habe. J. Green, Luke, 425 behandelt Lk 10,25–37 als eine narrative Einheit, ohne redaktionsgeschichtliche Modelle zu thematisieren. 12 Thematisch finden sich hier Querverbindungen zu Lk 3,7–14; 6,35–38.46–49; 7,47; 8,15; 11,28; 12,8–9.16–21.33–34; 13,5–9.23–30; 14,12–14.15–24; 15,11–32; 16,13.19–31; 18,9–14; 19,11–27; 21,29–36; 22,24–30. 13 Der einzige Unterschied liegt in der Verwendung des Adjektivs „ἀγαθός“, das Lukas einerseits aus der mk. Vorlage übernommen hat und das andererseits für die Qualifizierung Gottes als des einzig Guten von zentraler Bedeutung ist. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass ein Gesetzeslehrer, dessen Ziel es ist, Jesus zu versuchen Jesus sicherlich nicht mit „guter Lehrer“ ansprechen würde.
5.3 Auslegung
143
Schrifthermeneutik, die letztlich im Kontrast zur Hermeneutik des Gesprächspartners steht. Somit wird deutlich, dass der Evangelist zwar grundsätzlich die Bedeutung des Gesetzes auch in soteriologischer Hinsicht anerkennt, dass der normative Charakter aber erst und ausschließlich durch eine Präzisierung anhand der jesuanischen Schriftauslegung gewonnen wird. Die Diskussion um das Doppelgebot der Liebe, die vermittels des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter geführt wird, ist paradigmatisch für das lk. Schriftverständnis. Diese Strukturelemente der lk. Hermeneutik des Alten Testaments finden ihre Aufnahme bereits durch die Spezifika der Personenkonstellation im Auftakt der Perikope. So wird der Fragesteller pointiert als Gesetzeslehrer (ὁ νομικός [V. 25a]) charakterisiert und die Antwort, die Jesus gibt, rekurriert ihrerseits auf das Gesetz (ὁ νόμος [V. 26b]), das hier als Synonym für den Pentateuch, wenn nicht für das gesamte Alte Testament gebraucht wird. Im Verlauf des Dialoges zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer wird deutlich, dass der Rekurs auf das Gesetz sich nicht allein in der korrekten Wiedergabe eines Schriftzitats erschöpft, sondern auf die je individuelle Interpretation der Tora rekurriert (vgl. V. 26b). Das Schriftverständnis und die sich daraus entwickelnde Lehre ist Gegenstand der Diskussion zwischen Jesus und seinem Gegenüber. Der Gesetzeslehrer fordert Jesus mit seiner Frage nach dem, was zu tun ist, um das ewige Leben zu ererben, heraus und wird dabei von der Absicht geleitet, Jesus zu „versuchen“ (ἐκπειράζειν [V. 25a]), also ihn zu einer falschen Antwort zu verleiten, ihn zu diskreditieren. Daraus lässt sich schließen, dass es, zumindest im lk. Verständnis rechtsgelehrter Toraauslegung, auf die gestellte Frage nach den Möglichkeiten menschlichen Zutuns zum Erwerb des ewigen Lebens eine, möglicherweise standardisierte, „richtige“ Antwort gibt, die einerseits über jedweden Zweifel erhaben ist, andererseits auch über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügt. Anders ausgedrückt: Die Frage scheint für den Evangelisten in den Kreisen der Gesetzeslehrer und Pharisäer14 eine Art Testfrage gewesen zu sein, mit der die „Orthodoxie“ eines öffentlich auftretenden (Tora-)Lehrers, festgestellt werden konnte.15 Unabhängig davon, ob die Anrede Jesu als διδάσκαλος (V. 25b) seitens des Gesetzeslehrers respektvoll16 gemeint ist oder nicht, illustriert die Szenerie, dass Jesus im lk. Kontext in der Öffentlichkeit als Lehrer wahrgenommen wird, dessen Verkündigung der ReichGottes-Botschaft Aufmerksamkeit erregt. Interessanterweise verweist Lukas von Beginn des Wirkens Jesu an auf dessen Lehre,17 doch wird ihm der Titel „διδάσκαλος“ erst nach Abschluss der Feldrede zugeeignet. 14
Zum Zusammenhang zwischen den Pharisäern und Gesetzeslehrern vgl. Lk 11,45. F. Bovon, Lukas 2, 85 notiert hierzu: „Im Übrigen stellt er mehr die rechte Praxis als den rechten Glauben Jesu auf die Probe: alles dreht sich ums ‚Tun‘ […].“ 16 So beispielsweise H. Klein, Lukasevangelium, 390; F. Bovon, Lukas 2, 85. 17 Man denke hierbei sowohl an den 12-jährigen Jesus im Tempel (vgl. Lk 2,46–47), als 15
144
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
Durch die an Jesus gestellte Frage gewinnt die Perikope soteriologisch-eschatologische Bedeutung: „Διδάσκαλε, τί ποιήσας ζωὴν αἰώνιον κληρονομήσω;“ (V. 25b). Die Formulierung des Eingangs in das ewige Leben durch κληρονομεῖν verweist einerseits auf die Verwendung des Verbs als terminus technicus eschatologischer Heilsteilhabe,18 andererseits in Verbindung mit dem atl. Hintergrund des Doppelgebots der Liebe auf die Veränderung der soteriologischen Metaphern. Während im Kontext von Dtn 6,5, dem Gebot der Gottesliebe, das Wortfeld „κληρονομεῖν“ im Zusammenhang mit dem verheißenen Land als Konsequenz der Gebotserfüllung angewandt wird,19 ist dasselbe Bild im ntl. Denken dahingehend transformiert worden, dass nun das Reich Gottes bzw. im vorliegenden Falle das ewige Leben als Folge der Observanz des göttlichen Willens „ererbt“ wird. Der Dialog zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer ist in seiner eschatologischen Dimension strukturell und inhaltlich eng mit dem Alten Testament und dessen adäquater Auslegung in Bezug auf soteriologische Fragen verbunden. Im Gegensatz zu den beiden anderen Synoptikern beantwortet Jesus die Frage nicht, indem er das Doppelgebot der Liebe formuliert, sondern indem er die Herausforderung des Gesetzeslehrers durch eine Gegenfrage an diesen zurückgibt (vgl. V. 26). „Inquiring into the content of the law, Jesus assumes and endorses its ongoing normativity. What is at stake for him is not the law per se, but its construal. Hence, he inquires into the nature of his antagonist’s legal interpretation.“20 Die als Doppelgebot der Liebe formulierte Antwort des Gesetzeslehrers begegnet in dieser Art nicht im Alten Testament, sondern ist eine Verschmelzung aus Dtn 6,5 und Lev 19,18. Der Zusammenhang mit dem Schema war Lukas sicherlich bewusst, doch soll dieser, da Lukas ihn im Gegensatz zu seiner mk. Vorlage nicht erwähnt, auch in der Auslegung des Textes nicht in den Vordergrund gestellt werden. Während in der ntl. Forschung ausführlich über den Ursprung21 des Doppelgebots der Liebe debattiert wird und sich daran die Frage anschließt, ob dieses Summarium des Gesetzes aus dem Munde eines Gesetauch an den Beginn des jesuanischen Wirkens, welches durch seine Lehrtätigkeit in den Synagogen geprägt ist (vgl. Lk 4,15). 18 Vgl. für den ntl. Sprachgebrauch: Mt 5,5; 19,29; 25,34; Mk 10,17; Lk 18,18; 1Kor 6,9.10; 15,50; Gal 4,30; 5,21; Hebr 1,4.14; 6,12; 1Petr 3,9; Offb 21,7. 19 Vgl. Dtn 5,31.33; 6,1.18. 20 J. Green, Luke, 428. 21 Es lassen sich in diesem Falle zwei Positionen skizzieren: 1.) Das Doppelgebot der Liebe geht auf Jesus zurück; vgl. beispielsweise W. Schrage, Ethik, 75; G. Theiẞen, Doppelgebot, 72; etwas zurückhaltend H. Schürmann, Lukasevangelium II, 140. 2.) Das Doppelgebot ist frühjüdischen Ursprungs und wurde von hellenistischen christlichen Gemeinden im Laufe des 1. Jahrhunderts übernommen; vgl. beispielsweise Ch. Burchard, Das doppelte Liebesgebot, 25–26; M. Wolter, Lukasevangelium, 394; H. Klein, Lukasevangelium, 389. Zur ausführlichen Darstellung der unterschiedlichen Positionen und der Diskussion vgl. G. Theiẞen/A. Merz, Der historische Jesus, 339–345.
5.3 Auslegung
145
zeslehrers tatsächlich historisch plausibel sein kann,22 spielen diese Bedenken für den Evangelisten keine Rolle. Wichtiger ist in der vorliegenden narrativen Struktur vielmehr die argumentative Bewegung, die sich von der Frage nach dem ewigen Leben über das Doppelgebot der Liebe hin zur Parabel vom barmherzigen Samariter entwickelt. Indem der lk. Jesus den Gesetzeslehrer nicht nur auf den Text der Tora verweist (vgl. V. 26b), sondern auch nach der Auslegung des biblischen Textes fragt (πῶς ἀναγίνωσκειν [V. 26b]), eröffnet sich überhaupt die Möglichkeit, ein Summarium aus der Perspektive des Gesetzeslehrers zu formulieren, das seinerseits als Auslegung der Tora sowohl normativen als auch soteriologischen Charakter beansprucht.23 So bezeichnet der Gesetzeslehrer die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten als das geforderte Handeln, durch welches der Mensch ein Anrecht auf das ewige Leben bekommen kann. Dabei fällt auf, dass die Liebe zu Gott den Menschen in seiner Gesamtheit als leibseelische Einheit in Anspruch nimmt. Die vier menschlichen Attribute „καρδία“ (V. 27c), „ψυχή“ (V. 27c), „ἰσχύς“ (V. 27c) und „διάνοια“ (V. 27c) bilden diese Gesamtheit ab,24 die ihrerseits noch dadurch verstärkt wird, dass jeweils das Ganze (ἐξ ὅλης / ἐν ὅλῃ [V. 27c]) der einzelnen Attribute angesprochen wird.25 Entscheidend für ein adäquates Verständnis des Nächstenliebegebots, also den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist die inhaltliche Nähe zur Goldenen Regel (Lk 6,31).26 Hier wie dort geht es um eine zuvorkommende, helfende und heilende Zuwendung zum Nächsten, die sich nicht durch Bevormundung, sondern durch Einfühlungsvermögen auszeichnet: „Welche Hilfe, welche Unterstützung würde ich mir wünschen, wenn ich in der Situation meines Gegenübers wäre?“ Den Nächsten wie sich selbst zu lieben erfordert eine empathische Einstellung, 22 Aufgrund
sein.
der frühjüdischen Parallelen scheint die Plausibilität durchaus gegeben zu
23 Zur strukturanalogen Verwendung des Verbums „ἀναγινώσκειν“ vgl. Mt 12,3par.; 12,5; 19,4; 21,16.42par; 22,31par.; 24,15par.; Lk 4,16; Act 8,28.30.32. 24 Vgl. dazu auch F. Bovon, Lukas 2, 86. 25 Die Differenzen, die sich zwischen dem Text in Dtn 6,5 und dem LkEv respektive zwischen den anderen Synoptikern und dem Deuteronomium bzw. zwischen den Synoptikern untereinander ergeben, waren bereits des Öfteren Anlass wissenschaftlicher Untersuchungen. Aller Wahrscheinlichkeit nach kann davon ausgegangen werden, dass Lukas die Reihe der vier Attribute als traditionell mit dem Gottesliebegebot verknüpft verstanden hat. Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass keineswegs mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass unsere gegenwärtige LXX-Ausgabe im Detail derjenigen entspricht, die dem Evangelisten bekannt war. Selbst Matthäus, dessen LXX-Kenntnis über jeden Zweifel erhaben ist, ordnet der Gottesliebe die Attribute „καρδία“, „ψυχή“ und „διάνοια“ (Mt 22,37) zu, während die uns bekannte LXX in Dtn 6,5 von „καρδία“, „ψυχή“ und „δύναμις“ spricht. Eine redaktionelle Überarbeitung des Codex Vaticanus bezeugt die Einfügung „διάνοια“, wobei freilich unklar ist, ob die Überarbeitung durch die Lektüre des ntl. Textes motiviert worden war oder nicht. Die Existenz unterschiedlicher LXX-Variationen scheint für diese Problematik die plausibelste Erklärung zu sein. Zur Nennung unterschiedlicher menschlicher Attribute im Zusammenhang mit der Gottesliebe vgl. auch M. Wolter, Lukasevangelium, 393. 26 Vgl. F. Bovon, Lukas 2, 86.
146
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
die die Bereitschaft impliziert, die Welt durch die Augen des Anderen zu sehen und sich auf dessen Nöte einzulassen, ohne sich, wie die folgende Parabel zeigen wird, von Abwehrmechanismen oder persönlicher Bequemlichkeit bestimmen zu lassen.27 Dass ἀγαπᾶν im Sinne der Nächstenliebe nicht nur ein emotionales SichEinlassen auf den Nächsten, sondern auch eine durch Taten charakterisierte, helfende und unterstützende Zuwendung meint, wird bereits durch die in dieser Perikope starke Betonung des Verbs „ποιεῖν“ (V. 25b; 28b; 37b.d) ersichtlich.28 Die Zustimmung Jesu zur Antwort des Gesetzeslehrers wird durch den knappen Zusatz „Tu dies, und du wirst leben!“ (V. 28b) ergänzt, wodurch zudem ein Bogen zur anfänglichen Frage des Gesetzeslehrers (V. 25b) geschlagen wird. Die Formulierung in V. 28b begegnet ansonsten nicht mehr im Neuen Testament, schließt aber eng an atl. Traditionen an,29 die das gelingende, nicht zwingend eschatologisch verstandene, Leben des Einzelnen notwendig mit dem Tun der göttlichen Gebote verbinden. Indem Jesus der Toraauslegung des Gesetzeslehrers zustimmt, wird grundsätzlich ein Konsens zwischen den beiden Gesprächspartnern auf dem Boden des Doppelgebots der Liebe erzielt. Dieser Konsens trägt zwar nicht den nahezu euphorischen Charakter der Übereinkunft, der in der mk. Vorlage geschildert wird (vgl. Mk 12,34), doch ist die Formulierung einer gemeinsamen Tora-orientierten Basis zwischen Jesus und seinem Kontrahenten nicht gering zu schätzen. Dennoch würde ein Abbruch der Perikope an dieser Stelle nachdenklich stimmen: Es kann, nicht zuletzt aufgrund der mk. Vorlage, davon ausgegangen werden, dass der Evangelist das Doppelgebot der Liebe als einen zentralen Aspekt jesuanischer Ethik verstanden hat, die die frühchristlichen Traditionen prägte.30 Aus welchem Grund sollte Lukas ein solch wichtiges Theologumenon einem Kontrahenten Jesu in den Mund legen? Würde der Gesetzeslehrer tatsächlich eine vollumfängliche Antwort im Sinne Jesu geben, dann würde der Evangelist in seiner Präsentation des Doppelgebots ein Kernstück christlicher Existenz schlichtweg verschenken. Indem er das Gespräch zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer aber von diesem Grundkonsens aus weiterführt, kann er dem Adressatenkreis seines Evangeliums einerseits die Verwurzelung der Jesusbewegung in jüdischen Traditionen31 vor 27 Natürlich kann im vorliegenden Zusammenhang nur das lk. Verständnis der Goldenen Regel zur Anwendung kommen. A. Schenker, Nächstenliebe, 248 nennt in seiner Auslegung des Nächsten- und des Fremdenliebegebots in Lev 19 die negativ formulierte Goldene Regel als Interpretationsrahmen. 28 Vgl. auch J. Green, Luke, 425. 29 Vgl. Lev 18,5; Ez 20,21; Neh 9,29. 30 Siehe M. Konradt, Menschen- oder Bruderliebe, 296, FN 1: „Die Zentralstellung des Liebesgebots lässt sich als ökumenische Basisüberzeugung des frühen Christentums bezeichnen.“ 31 Vgl. auch G. Sellin, Gleichniserzähler II, 22–23. Allerdings insistiert G. Sellin, Gleichniserzähler II, 55.57–59 im Laufe seiner Analyse darauf, dass Lukas ein hohes Interesse an der Darstellung eines gesetzesobservanten Judenchristentums habe. Ähnlich argumen-
5.3 Auslegung
147
Augen führen und somit diesen Aspekt des jüdischen Erbes hervorheben, andererseits wird durch den weiteren Verlauf der Perikope die normative Lehrautorität Jesu gegenüber den Eliten Israels betont und die spezifisch jesuanische Hermeneutik beispielhaft verdeutlicht. Somit wird durch die Diskussion um die Bedeutung des Doppelgebots der Liebe ein Transformationsprozess gestaltet, in welchem der Evangelist eine wichtige ethisch-theologische Grundüberzeugung seiner frühjüdischen Umwelt aufnimmt und dieser durch die dargestellte Lehre Jesu eine neue, für die Gemeinschaft der Christusgläubigen verbindliche, Interpretation verleiht. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden die Fragen nach der Relevanz und nach der Deutung des Doppelgebots der Liebe in frühjüdischen Texten immer wieder eine Rolle spielen. Im Vergleich mit dem LkEv werden dann die Gemeinsamkeiten im Umgang mit dem Doppelgebot ebenso ersichtlich wie auch das lk. Proprium. Die Rückfrage des Gesetzeslehrers wird zwar prima vista als Ausdruck der gefühlten Unterlegenheit charakterisiert (vgl. V. 29a),32 doch ist eine Präzisierung des Doppelgebots durchaus im Sinne des theologischen Skopus der Perikope. Während über die gebotene Gottesliebe offensichtlich Einigkeit33 herrscht, bietet das Nächstenliebegebot Anlass zur Diskussion. Interessanterweise wird nicht nach der Umsetzbarkeit des Nächstenliebegebots gefragt, also „Was bedeutet es konkret, meinen Nächsten zu lieben?“, sondern die Reichweite der Nächstenliebe wird durch die Rückfrage des Gesetzeslehrers in den Mittelpunkt gestellt. „It is a boundary question of an exclusionary type.“34 Durch die kritische Bemerkung des Evangelisten, der Gesetzeslehrer wolle sich mit dieser Frage selbst als gerecht erweisen,35 kann implizit geschlossen werden, dass das Faktum der Limitierbarkeit der Nächstenliebe für den Fragenden bereits entschieden ist und er nun lediglich eine, der Tora entsprechende, Definition des Wirkungsbereichs der Nächstenliebe und somit eine Konkretisierung des Begriffs „Nächster“ erwartet. Um es deutlich zu sagen: Die Rückfrage des tiert M. Ebersohn, Nächstenliebegebot, 228–229, der eine lk. Hochschätzung der mosaischen Gebote vermutet, zu denen die Verkündigung der Gottesherrschaft ergänzend und erweiternd hinzukommt. Ein derart starkes Interesse an Toraobservanz kann für den Evangelisten Lukas sicherlich nicht angenommen werden. Besser M. Wolter, Lukasevangelium, 394: „Obwohl die christlichen Gemeinden von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr more Iudaico lebten, konnten sie mit der Verankerung der für sie zentralen ethischen Norm der Liebe in der Tora den Anspruch erheben, dass sie die Tora erfüllten und damit auch an deren Lebensverheißung partizipierten.“ 32 So etwa J. Nolland, Luke 2, 592. 33 Auch an dieser Stelle wäre eine Präzisierung durch den Evangelisten wünschenswert. Innerhalb des lk. Kontexts wäre es denkbar, zur Erläuterung der Gottesliebe alle Texte über die Nachfolge Jesu heranzuziehen, sowie alle Perikopen, die sich mit dem Motiv des Gebets beschäftigen. 34 Ph. Esler, Reduction, 335. 35 M. Wolter, Lukasevangelium, 394 verweist auf die Parallele in Lk 16,15, in der das heuchlerische Verhalten der Pharisäer mit diesem Verb beschrieben wird.
148
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
Gesetzeslehrers ist in der Logik der Perikope nicht ergebnisoffen, sondern dient, ebenso wie die Frage nach den Bedingungen der Heilsteilhabe, zur öffentlichen Prüfung der „Orthodoxie“ jesuanischer Lehre. „Mit seiner Frage stellt er im Grunde die Frage nach der Grenze der ‚Nächsten‘-Liebe. Es geht um den Geltungsbereich von Lev 19,18b und aller Tora-Vorschriften, die den ‚Nächsten‘ betreffen.“36 Die Antwort Jesu erfolgt in Form der Parabel vom barmherzigen Samariter37 und ist, wie die Partizipialform des Verbs „ὑπολαμβάνειν“ (V. 30a) zeigt, seitens des Evangelisten als direkte Aufnahme des vorangegangenen Themenkomplexes gekennzeichnet. Somit spielt nicht nur die Frage nach der Identität des Nächsten und nach der möglichen Limitierung der Nächstenliebe eine Rolle, sondern auch die Frage nach dem Tun der Liebe und nach dem Zusammenhang von Gottes- und Nächstenliebe. Wie die Analyse zeigen wird, bieten diese Aspekte schlussendlich Anknüpfungspunkte an den Gesamtaufriss lk. Theologie und Ethik.
5.3.2 Die Parabel vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–35) Die Parabel skizziert eine Szenerie, in der ein anonymer Reisender auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho mit äußerster Brutalität von Räubern überfallen wird: Am Ende wird er nackt und halb zu Tode38 geschlagen auf der Straße liegend zurückgelassen. Ansonsten wird nichts über die Identitäten der auftretenden Personen bekannt. Während die Räuber in der Narration der Parabel nur eine funktionale Rolle haben,39 repräsentiert der Überfallene eben genau 36 H. Schürmann, Lukas II, 142. Siehe auch W. Schrage, Ethik, 79: „Geht man von der Frage aus ‚Wer ist mein Nächster?‘, so ist das die Frage nach der Reichweite und der Grenze der Liebesverpflichtung.“ Anders M. Wolter, Lukasevangelium, 394, der im Hinblick auf den hebräischen Terminus „“ר ַע, ֵ bzw. das griechische Pendant „πλησίον“ betont, „dass auch in jüdischen Texten keiner der beiden Begriff ethnisch definiert ist (etwa im Sinne von ‚Volksgenosse‘ o. ä.).“ M. Wolter, Lukasevangelium, 395 vermutet hinter der Frage nach dem Nächsten vielmehr die Strukturen und Grenzen eines hellenistischen Freundschaftsethos: „Der νομικός fragt also nicht nach der ‚Reichweite‘ (G. Sellin, 46) des Gebots der Nächstenliebe. Vorausgesetzt ist vielmehr, dass der Fragesteller in unterschiedlichen sozialen Sinnwelten Beziehungen zu Menschen unterhält und er wissen möchte, in welcher Sinnwelt die engeren Beziehungen bestehen.“ Denkbar wäre, dass der hellenistisch-römische geprägte Adressat des LkEv diese Perikope demgemäß versteht. Dennoch ändert dies nichts an der Frage der „Reichweite“ des Nächstenliebegebots. 37 Diese Parabel gehört zur Gruppe der sog. „ἄνθρωπός τις“ Parabeln, die im lk. Sondergut häufig begegnen, und ist darüber hinaus, ebenfalls wie andere Parabeln des lk. Sonderguts, einer der bekanntesten Texte des Neuen Testaments. Die Auslegungsgeschichte ist dementsprechend vielfältig und auch die Lücken des Nicht-Erzählten sind interpretiert und gefüllt worden; vgl. hierzu die Studien von H. Klemm, Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und von W. Monselewski, Der barmherzige Samariter. Die vorliegende Analyse wird sich auf Vorhandenes beschränken. 38 Man beachte das Hapax legomenon „ἡμιθανής“, das die Lebensgefahr des Überfallenen unmissverständlich zum Ausdruck bringt. 39 Vgl. auch F. Bovon, Lukas 2, 89; M. Wolter, Lukasevangelium, 395.
5.3 Auslegung
149
das, was beschrieben wird: einen Menschen in größter Not, der sich aus eigener Kraft nicht mehr helfen kann, der in Lebensgefahr schwebt und ausschließlich durch Hilfe eines anderen gerettet werden kann;40 „he is simply a human being, a neighbor, in need.“41 Diesem leidenden Menschen begegnen zufällig (κατὰ συγκυρίαν [V. 31a]), ebenfalls auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho,42 nacheinander ein Priester und ein Levit. Beide sehen den Verwundeten und gehen, ohne ihm zu Hilfe zu kommen, an ihm vorbei (vgl. V. 31–32). Es wurde und wird in der ntl. Forschung breit diskutiert, inwiefern kultische Reinheitsgebote einer Hilfeleistung des Priesters und des Leviten im Wege gestanden haben könnten.43 Diese Argumentation würde thematisch an die Auseinandersetzung zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer anschließen und die Überordnung des Doppelgebots der Liebe über die Reinheitsgebote unterstreichen; eine Überordnung, die sich sowohl bei Markus (vgl. Mk 12,33) als auch sinngemäß bei Matthäus (vgl. Mt 9,13; 12,7) wiederfinden lässt. So wurde daran gedacht, dass es Priestern verboten ist, Leichen zu berühren, es sei denn, es würde sich dabei um Familienangehörige handeln.44 Die Beschreibung des Überfallenen als „halbtot“ (V. 30c) wurde als Hinweis darauf gedeutet, dass der Priester und der Levit einer Fehleinschätzung der Situation unterlagen und den auf der Straße Liegenden als Leiche wahrgenommen hätten. Priester und Levit wären aufgrund der sie verpflichtenden Reinheitsgebote der Tora nahezu gezwungen, den Überfallenen zu ignorieren. Würde diese Interpretation der lk. Argumentation entsprechen, so läge der Fokus des Evangelisten auf der Abwertung der Kultgesetze und der damit verbundenen Reinheitsgebote. Indem diese gerade die Menschen, die sich durch besondere Treue gegenüber den göttlichen Geboten auszeichnen, also den Priester und den Leviten, dazu zwingen, sich aufgrund ihrer Gebotsobservanz nicht um den Überfallenen zu kümmern, würde nach allgemeinem menschlichen Empfinden deutlich, dass eben jenen Kult- und Reinheitsgesetzen ein zutiefst misanthroper Charakter zugrunde liegt. Darüber hinaus stünden sie im diametralen Kontrast zum Nächstenliebegebot, das doch den Weg zum ewigen Leben bahnt. Indem die so verstandenen Kult- und Reinheitsgesetze dem Nächstenliebegebot widersprechen, können sie in der Logik des Doppelgebots auch nicht Ausdruck einer recht verstandenen Gottesliebe 40 Eine ethnische Zugehörigkeit des Überfallenen wird gerade nicht ausformuliert. Anders H. Gollwitzer, Barmherziger Samariter, 50: „Daß der Überfallene ein Jude ist, ist sachlich wichtig, – nach K. H. Rengstorf kam möglicherweise auch er vom Tempelgottesdienst in Jerusalem.“ 41 J. Green, Luke, 429. 42 Vgl. das Verb „καταβαίνειν“ (V. 31a) sowie den Forschungskonsens, dass das Hinabgehen sich auf den Höhenunterschied zwischen Jerusalem (740m) und Jericho (–250m) bezieht; dazu exemplarisch F. Bovon, Lukas 2, 89. 43 Vgl. beispielsweise M. Zimmermann, Der barmherzige Wirt, 50–51; ebenso R. Bauckham, Scrupulous Priest, 477–480. 44 Bezüglich der Priester vgl. Lev. 21,1–3; bezüglich der Nasiräer vgl. Num 6,6–7; grundsätzlich Num 19,11–22.
150
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
sein. Wie könnten die Adressaten des LkEv anders, als diese Gesetze als defizitär anzusehen und sie innerhalb der jungen Kirche abzuschaffen? Doch gehen diese Versuche, das Verhalten der beiden Repräsentanten des Tempelkultes aufgrund der Reinheits- und Kultgebote zu erklären, ebenso an der Aussageintention der Parabel vorbei wie auch der implizite Wunsch, durch die Gegenüberstellung von Kultgeboten und dem Doppelgebot der Liebe doch noch eine Diskussion um das erste (Mk 12,28) bzw. das größte (vgl. Mt 12,36) Gebot im LkEv verorten zu können.45 Während unter Verweis auf beispielsweise Lev 21,1–3 noch prinzipiell darüber nachgedacht werden kann, inwiefern ein Priester tatsächlich aufgrund kultischer Bedenken den Kontakt mit einem Verstorbenen meidet, ist doch im Duktus der Parabel anzuerkennen, dass der Priester zum einen nicht auf dem Weg zu seinem Dienst am Tempel ist, sondern sich auf dem Weg von Jerusalem weg nach Jericho befindet und somit eine kultische Problemstellung nicht im Zentrum seiner Besorgnis hätte stehen können.46 Zum anderen ist Lukas daran gelegen, den Überfallenen gerade nicht als verstorben, sondern als dem Tode nahe, eben „halbtot“ zu charakterisieren. Insofern ihm allerdings keine Hilfe von außen zukommt, wird er an seinen Verletzungen sterben.47 Aus eigener Kraft kann er sich nicht mehr retten. Darüber hinaus wird in den Gegenüberstellungen zwischen Reinheits- und Liebesgebot nicht ersichtlich, wieso auch der Levit den Reinheitsgeboten der Priester unterworfen sein sollte.48 Nach der narrativen Logik eines dramatischen Dreiecks werden Priester und Levit häufig zu einer Gruppe zusammengefasst49 gegenüber dem Überfallenen auf der einen und dem Samariter auf der anderen Seite. Das ist erzähllogisch sicherlich richtig, doch liegt die Pointe einer solchen Zusammenfassung nicht in der Adaption der priesterlichen Reinheitsgebote durch den Leviten. Vielmehr symbolisieren Priester und Levit einen Teil der gesellschaftlichen Elite, deren Handeln über allen Zweifel erhaben ist und die als Vorbilder für ein dem Willen Gottes gemäßes Leben dienen. Dem äußeren Anschein nach verkörpern sie das Bild bundestreuer Gerechter, die als Antipoden zu den verbrecherischen Räubern zu gelten haben. Diejenigen, die sich als vorzügliche Exponenten der Bundestheologie öffentlich hervortun, nutzen jedoch die Abgeschiedenheit der einsamen Straße, um sich aus der persönlichen Verantwortung steh45 Es müsste zudem kritisch nachgefragt werden, welches Interesse der Evangelist an einer Auseinandersetzung mit Kultgeboten gehabt haben könnte, die sich auf den Priesterdienst im Tempel beziehen. Schließlich existierte dieser zur Abfassungszeit des LkEv nicht mehr. 46 Vgl. F. Bovon, Lukas 2, 89. 47 Vgl. hierzu auch J. Nolland, Luke 2, 593. 48 J. Jeremias, Gleichnisse, 202 schreibt treffend: „[E]s ist schwierig, den Leviten von rituellen Besorgnissen geleitet sein zu lassen.“ 49 Vgl. G. Sellin, Gleichniserzähler I, 180–181. Anders R. Zimmermann, Berührende Liebe, 540.
5.3 Auslegung
151
len zu können, ohne dass dabei ihr öffentlicher Ruf gefährdet wird. Die Verantwortung gegenüber dem Gesetz, das sein Summarium im Doppelgebot der Liebe erfährt,50 wird hier aufgrund persönlicher Bequemlichkeit gebrochen. In der Parabel wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass beide sehenden Auges (ἰδεῖν [V. 31b.32b]) an dem Verletzten vorübergehen, ohne dass sich in ihrem Innern irgendeine Form des Mitleids oder der Hilfsbereitschaft gerührt hätte. Der äußere Schein, das Ansehen, das der Priester und der Levit in der Gesellschaft genießen, ist trügerisch und stimmt mitnichten mit ihrem tatsächlichen Wesen überein. Thematisch knüpft diese Szenerie zum einen eng an die Weherufe gegenüber den Pharisäern und Gesetzeslehrern an, denen der Evangelist vorwirft, dass ihnen nur an ihrem hohen Ansehen in der Öffentlichkeit gelegen sei, ohne dass sie sich im Mindesten um die Menschen und die Einhaltung der wichtigen Aspekte des göttlichen Willens, ergo die Liebe und das Bestehen im göttlichen Gericht, kümmern (vgl. Lk 11,37–52). Zum anderen wird das Bildwort vom morschen Baum, der an seinen Früchten erkannt wird (vgl. Lk 6,43– 44), hier narrativ verarbeitet. Die Diskrepanz zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen gesellschaftlichem Ansehen und tatsächlichem Charakter ist der Kulminationspunkt der Kritik, die an dem Priester und dem Leviten durch das Gleichnis geübt wird. Indem sie sich nicht um den Überfallenen kümmern, verstoßen sie einerseits gegen das Gebot Gottes, andererseits gegen das Gebot der Mitmenschlichkeit und werden im Duktus der Parabel als die Heuchler entlarvt, die sie für Lukas in Wahrheit sind. Ihnen gegenüber wird nun der Samariter eingeführt, der als letzter Protagonist auf der Straße von Jerusalem nach Jericho auftritt und sich dem Überfallenen mitleidsvoll und vor allem helfend zuwendet. Dabei handelt es sich sicherlich nicht um einen Zufall, dass die Person, die allein aufgrund ihrer Taten als positiver Kontrast zu dem Priester und dem Leviten aufgebaut wird, ein Samariter ist. Zur Zeit Jesu herrschte eine lebhafte Feindschaft zwischen den Israeliten und den Samaritern,51 die sich nicht zuletzt an kultischen Fragen entzündete, da die Samariter sich nicht dem Tempelkult in Jerusalem zugehörig fühlten, sondern mit dem Berg Garizim einen eigenen Kultort hatten, auf dem in vorchristlicher Zeit sogar ein JHWH Tempel der Samariter zu finden war.52 Während also schon ein Aufeinandertreffen eines Israeliten und eines Samariters von Spannungen geprägt war, ist die narrative Gegenüberstellung zwischen 50
28).
Über diese Frage herrscht zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer Einigkeit (vgl. V. 25–
51 Bei Josephus findet sich eine Passage, in der die Samariter beschuldigt werden, während des Passahfestes den Tempel in Jerusalem durch das nächtliche Ausstreuen menschlicher Knochen unrein gemacht zu haben (vgl. Josephus, Ant XVIII,30). Inwiefern diese Behauptung historisch zuverlässig ist, sei dahingestellt. Doch zeigt diese Legende die tiefe, auf kultische Differenzen basierende Feindschaft zwischen den Samaritern und den Israeliten. Zum weiteren Überblick vgl. R. Zimmermann, Berührende Liebe, 545, vor allem aber M. Böhm, Samarien. 52 Der Tempel wurde im zweiten vorchristlichen Jahrhundert zerstört.
152
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
einem Samariter und Vertretern des Jerusalemer Tempels eine bewusst formulierte Spitze, die sich in dem Moment in eine schwer zu ertragende Provokation53 verwandelt, in welchem deutlich wird, dass sich ausgerechnet der Samariter richtig und dem Willen Gottes gemäß verhält, während der Priester und der Levit versagen.54 „So the Samaritan in the parable is the least likely exemplar of proper obedience to the law of Moses. Unlike a Gentile, he is obligated to it and claims to obey it, but of all who so claim he is, for Jews, the least likely to illustrate correct obedience. So the Samaritan in the parable has shock value.“55
Zwei Aspekte sollen in Bezug auf die Begegnung zwischen dem Samariter und dem Überfallenen näher analysiert werden: Einerseits soll danach gefragt werden, wodurch sich das Handeln des Samariters, nicht zuletzt im Gegenüber zu Priester und Levit, auszeichnet. Andererseits soll die Identität des Samariters in Beziehung zur Frage des Gesetzeslehrers (vgl. V. 29b) gebracht werden. Das Auftreten des Samariters ist parallel zum Auftreten der beiden vorangegangenen Figuren gestaltet. Es wird kein Grund seiner Anwesenheit auf dieser Straße genannt, es wird auch nichts über seinen sozialen Hintergrund oder über seinen Beruf erzählt. Es ist lediglich von Bedeutung, dass der Samariter an jenem Tag den Weg von Jerusalem nach Jericho hinabgeht und dabei auf den Überfallenen trifft, den der Priester und der Levit zuvor ignoriert haben. Indem aber der Samariter den Überfallenen sieht (ἰδεῖν [V. 33b]), ignoriert er diesen nicht, sondern wird von Erbarmen gegenüber dem Notleidenden erfüllt. Der Affekt des Erbarmens, den der Samariter angesichts der leidvollen Situation des Überfallenen verspürt, wird durch das Verb „σπλαγχνίζεσθαι“ (V. 33b) zum Ausdruck gebracht, wodurch die Szenerie formal zur Begegnung zwischen Jesus und der Witwe zu Nain (vgl. Lk 7,11–17) sowie zum Wiedersehen zwischen dem Vater und seinem verlorenen Sohn (vgl. Lk 15,20b–24) in Beziehung gesetzt wird. Wie oben bereits ausgeführt, beschreibt das Verb „σπλαγχνίζεσθαι“ ein emotional-innerliches Movens, das den Menschen in seinem ganzen Wesen ergreift und bestimmt. In allen drei Perikopen verspürt das 53 Diese reiht sich ein in die bereits erwähnte Sammlung von Provokationen, die Lukas gerne als Stilmittel verwendet, um die Aufmerksamkeit seiner Adressaten auf eine bestimmte Perikope zu lenken. 54 Bereits J. Jeremias, Gleichnisse, 202 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die zu erwartende dritte Person ein jüdischer Laie gewesen wäre. „Es ist ihnen [den Hörern S. W.] völlig unerwartet und verletzend, daß der Dritte, der das Liebesgebot erfüllt, ein Samariter ist.“ Auf diese Reihe „Priester-Levit-Israelit“ als gewohnte Figurenkonstellation verweist auch R. Zimmermann, Gleichniskompendium, 547 unter Bezug auf Esr 2,70; 7,7; Dtn 18,1; 27,9; Jos 3,3; 1Kön 8,4–5; Ez 44,15; 1Q28 2,11.19–21; Josephus, Ant IV,222; VII,363. Uneindeutig sind m. E. die Belege Dtn 18,1; 27,9; Jos 3,3; Ez 44,15: Zwar werden dort Priester, Leviten und Israeliten genannt, allerdings dient der Begriff „Leviten“ lediglich als eine Näherbestimmung der Priester. 55 R. Bauckham, Scrupulous Priest, 487.
5.3 Auslegung
153
handelnde Subjekt angesichts der Not des Gegenübers innerlich das Gefühl des Erbarmens und wird dadurch zu einer liebevollen, zuwendenden und helfenden Handlung zugunsten des Nächsten motiviert. In allen drei Perikopen geht dem Erbarmen das Sehen (ἰδεῖν [Lk 7,13a; 10,33b; 15,20b]) voraus; ebenso, wie auch der Priester und der Levit den Überfallenen gesehen haben. Es geht also in der Logik der Barmherzigkeit nach dem lk. Verständnis zunächst darum, die defizitäre Situation des Gegenübers wahrzunehmen, um daraufhin Erbarmen für den Nächsten zu empfinden, welches sich dann in konkreten Taten der Zuwendung ausdrückt. Das Erbarmen des Menschen wird somit zu seiner Handlungsmotivation und gleicht in dieser Hinsicht der Barmherzigkeit Gottes, die einerseits bereits im Benedictus als göttliche Handlungsmotivation beschrieben wird und die andererseits ihre Offenbarung in der konkreten Zuwendung Jesu zu den Menschen erfährt. Da in der Feldrede, wie bereits gezeigt, zur imitatio misericordiae Dei aufgerufen wird, wäre eine allegorisierende Auslegung der Parabel vom barmherzigen Samariter, nach welcher Jesus durch den Samariter und jeder sündige Menschen durch den Überfallenen versinnbildlicht wird, verfehlt.56 Ein solche Allegorese würde gerade die imitatio misericordiae Dei als formgebendes Prinzip lk. Ethik ignorieren. Vielmehr dient die Parabel dazu, die Umsetzung dieses Prinzips durch zwischenmenschliche Hilfe expressis verbis zu verdeutlichen. Am Verhalten des Priesters und des Leviten kann ex negativo festgestellt werden, dass ein Mangel an barmherziger Empathie gegenüber dem notleidenden Nächsten zu einer Handlung57 motiviert, die sich schlechterdings als unethisch und, wie sich im Gesamtzusammenhang der Perikope zeigt, als Widerspruch gegen den Willen Gottes, der im Nächstenliebegebot formuliert ist, erweist. „The parable focuses on basic morals and compassion, not salvation history.“58 Darüber hinaus wird in Bezug auf die Wirkweise der Barmherzigkeit als innerer Antrieb des Menschen deutlich, dass sich das Erbarmen über bzw. die barmherzige Zuwendung zu einem Mitmenschen anhand eines konkreten Sachverhalts entzündet. Das Aufflammen der Barmherzigkeit im Innern des Menschen, das durchaus als eine Art Affekt verstanden werden kann, ist gerade keine grundsätzliche Haltung, sondern ein sich immer wieder neu und sich immer wieder situationsabhängig konstituierender Affekt. Anders ausgedrückt: Nach dem Verständnis des Evangelisten Lukas ist der Mensch grundsätzlich offen für eine barmherzige Wahrnehmung seiner Umwelt und wehrt nicht dem 56 Vgl. beispielsweise H. Gollwitzer, Gleichnis, 69, der in Aufnahme der entsprechenden altkirchlichen Tradition eine solche Allegorese vertritt. Der Kernpunkt ist dabei die Verwendung des Verbums „σπλαγχνίζεσθαι“, welches nur die göttliche Barmherzigkeit beschreiben soll. 57 Das Ignorieren und das Weglaufen sind die Ergebnisse der unethischen Handlungsmotivation. 58 D. Bock, Luke II, 1034. Vgl. ähnlich auch J. Nolland, Luke 2, 594–595.
154
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
Affekt des Erbarmens, sondern erweist sich vielmehr bei konkreten Anlässen als Barmherziger.59 Im Falle des Samariters führt das Aufflammen seiner Barmherzigkeit dazu, dass er sich, im Gegensatz zu Priester und Levit, dem Verletzten nähert und erste Hilfe leistet, indem er dessen Wunden versorgt und seine Reisepläne den Bedürfnissen des Überfallenen anpasst. Dem Verwundeten wird oberste Priorität eingeräumt und zwar so lange, bis der Samariter den Überfallenen in der Herberge in guten Händen weiß und seine Reise fortsetzen kann. Die Finanzierung der Pflege (vgl. V. 35a–b), die der Samariter sicherstellt, ist ein interessanter Zug der Parabel: Sie illustriert die Vielfältigkeit barmherziger Zuwendung, jedoch ohne dabei den Verantwortlichen gänzlich aus der Pflicht zu entlassen. Das Versprechen, eventuell zusätzliche anfallende Kosten ebenfalls zu ersetzen (vgl. V. 35b), bindet den Samariter einerseits an die Ehrlichkeit des Wirtes,60 demonstriert andererseits auch, dass die Genesung des Verwundeten das wichtigste Ziel darstellt, dem alle anderen Fragen zu- und untergeordnet werden. Innerhalb der Parabel nimmt der Wirt ebenso wie die Räuber nur eine rein funktionale Rolle ein, wie die anschließende Diskussion um die Erfüllung der Nächstenliebe und um das geforderte Tun des Einzelnen belegt (vgl. V. 36a–37b).61 Wie bereits erwähnt, ist es für jüdische Adressaten ein provokatives Element, dass der Helfende ausgerechnet ein Samariter ist. Innerhalb der Logik der Perikope wirkt sich diese Provokation dadurch aus, dass die Parabel als Antwort auf die Frage eines jüdischen Gesetzeslehrers gegeben wird, wodurch einerseits die religiösen Eliten, zu denen sich auch der Fragesteller zählen dürfte, dadurch diskreditiert werden, dass ausgerechnet der aufgrund religiöser Differenzen Verachtete beispielhaft das Gebot der Nächstenliebe erfüllt. Der im Hintergrund des Gleichnisses stehende Konflikt zwischen Israeliten und Samaritern wirkt sich im Duktus der Perikope auch auf die Frage nach der potentiellen Beschränkung der Reichweite des Nächstenliebegebots (vgl. V. 29b) aus, da die konkrete Ausgestaltung des Gebotes auch die zwischenmenschlichen Barrieren, die sich durch ethnische oder religiöse Konflikte ergeben mögen, durchbricht. Somit positioniert sich der lk. Jesus klar gegen eine, möglicherweise 59 Die grundsätzliche Offenheit gegenüber einem Affekt, in diesem Falle dem Affekt der Barmherzigkeit, markiert gerade gegenüber ethischer Überzeugungen der Stoa einen signifikanten Unterschied. Dies wird im Kapitel zu Seneca nochmals thematisiert werden. 60 Diese kann nicht vorausgesetzt werden, da die Herberge explizit als τὸ πανδοχεῖον (V. 34b) beschrieben wird; eine Form von gewerblicher Unterkunft, die gegenüber einer nichtgewerblichen Herberge (τὸ κατάλυμα [Lk 2,7; 22,11]) in der Antike einen schlechten Ruf genoss. Die Erwähnung einer Krankenpflege durch den Besitzer eines πανδοχεῖον könnte als weiterer provokativer Zug des Evangelisten gewertet werden. Vgl. hierzu ausführlich M. Zimmermann, Der barmherzige Wirt, 52–53. 61 Dem widerspricht M. Zimmermann, Der barmherzige Wirt, 54–58, die die Parabel nicht zuletzt in Verbindung mit gegenwärtiger diakonischer Arbeit auslegt, wobei dem Wirt aus dieser Perspektive natürlich eine wichtige Bedeutung zukommt.
5.3 Auslegung
155
zur Zeit des Evangelisten lebendige, Überzeugung, dass die in der Tora geforderte Nächstenliebe grundsätzlich nur ein gruppeninternes Verhalten der Israeliten untereinander beschreibt, in das alle anderen Nicht-Israeliten, wie beispielsweise die Samariter, nicht notwendig eingebunden werden müssen.62 Es wäre denkbar, dass der rechtsgelehrte Gesprächspartner Jesu nach der Darstellung des Evangelisten diese Überzeugung repräsentiert, und dass es für ihn auf beide Fragen (V. 25b.29b) eine gewissermaßen „standardisierte“ Antwort gibt, bei der die Einbindung der Samariter in das Nächstenliebegebot keine Berücksichtigung erführe. Die lk. Notiz, dass der Gesetzeslehrer mit der zweiten Frage sich selbst als gerecht erweisen will, belegt in diesem Zusammenhang lediglich, dass die Übereinstimmung zwischen ihm und Jesus hinsichtlich des Doppelgebots der Liebe für den Gesetzeslehrer unerwartet war. Mit der zweiten Frage will er seine Lehrautorität gegenüber Jesus wiederherstellen, was schlussendlich nicht gelingt. Es lässt sich also zusammenfassend aufgrund der Konstellationen der in der Perikope genannten Personengruppen vermuten, dass es nach lk. Verständnis tatsächlich unter jüdischen Eliten eine Definition des zu liebenden Nächsten gab, die die Samariter nicht beinhaltete63 und im Rahmen derer somit das Nächstenliebegebot in seiner Reichweite ethnisch bzw. religiös limitiert war.64 Darüber hinaus spielt die Parabel mit dem kultischen Konflikt zwischen Israeliten und Samaritern, welcher aus israelitischer Sicht eine umfassende Erfüllung des göttlichen Willens seitens eines Samariters, und vor allem im Gegenüber zu Priestern und Leviten, als undenkbar beschreibt. Das provokative Element wird dadurch noch verschärft, dass die Erfüllung der Nächstenliebe Bestandteil des sog. Heiligkeitsgesetzes (Lev 17–26) ist. Indem der religiösen 62 Der biblische Befund ist diesbezüglich uneindeutig. Während in Ex 22,20; 23,9 davon die Rede ist, dass die Fremden, die in Israel leben, lediglich nicht unterdrückt werden dürfen, wird in Lev 19,33–34; Dtn 10,19 von der Liebe (ἀγαπᾶν) zum Fremden gesprochen. Zieht man dabei in Betracht, dass Lukas nur die LXX vorliegen hatte, so formulieren die genannten Stellen eine Liebe zu den Proselyten (ὁ προσήλυτος) und nicht zu Fremden im Allgemeinen. Somit müsste danach gefragt werden, wie der Evangelist in dieser Diskussion den Begriff „Proselyt“ verstanden hat. Als eine Art Gottesfürchtiger (vgl. Act 13,43)? Als ein Asylsuchender? Oder einfach nur als Synonym für Fremder? Letzteres würde zumindest durch Ex 23,9; Dtn 10,19 gestützt, da beide Texte von den Israeliten als „Proselyten“ in Ägypten sprechen. Darüber hinaus müsste festgestellt werden, wie Lukas in dieser Frage die Begriffe „ὁ προσήλυτος“ und „ὁ πάροικος“ inhaltlich voneinander unterschieden hätte, da beide in der LXX als Übersetzung des hebräischen Wortes גֵרangewandt werden können (vgl. beispielsweise Ex 2,20 und Ex 22,20). Darüber hinaus begegnen auch eindeutig abgrenzende Texte, die die Binnenperspektive der Solidarität und der damit einhergehenden Feindschaft zu Außenstehenden unterstreichen (vgl. beispielsweise Dtn 7,1–26). 63 Vgl. R. Zimmermann, Berührende Liebe, 543. 64 Vgl. H.‑P. Mathys, Liebe deinen Nächsten, 128. Zu den unterschiedlichen Bedeutungsnuancen der Begriffe „Nächster“ und „Nächstenliebe“ im Alten Testament vgl. H.‑P. Mathys, Liebe deinen Nächsten., 29–39. So kommt H.‑P. Mathys, Liebe deinen Nächsten., 39 zu dem Schluss: „Das Gebot der Nächstenliebe bezieht sich im jetzigen Zusammenhang auf den Volksgenossen. Es hätte aber in der Geschichte niemals eine derartige Bedeutung gewinnen können, wäre es nicht recht allgemein formuliert gewesen.“
156
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
Elite die Einbettung in das Motiv der „Heiligkeit“ ab- und dem verachteten Samariter zugesprochen wird, bewegt sich der Evangelist gänzlich außerhalb des religiösen Selbstverständnisses des skizzierten Gesetzeslehrers. Anders ausgedrückt: Der lk. Jesus konfrontiert den Gesetzeslehrer mit der Parabel vom barmherzigen Samariter und führt bei ihm eine nachhaltige Irritation seiner religiösen und identitätsstiftenden Überzeugungen herbei.
5.3.3 Die Reichweite und die Realisierung der Nächstenliebe (Lk 10,36–37) Ebenso, wie der Frage „Lehrer, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erben werde?“ (V. 25b) mit der Replik Jesu: „Im Gesetz, was ist geschrieben? Wie liest du [es]?“ (V. 26b) begegnet wird, wird die Frage nach der Identität des Nächsten durch die Gegenfrage: „Welcher von den Dreien scheint dir demjenigen, der unter die Räuber gefallen ist, der Nächste geworden zu sein?“ (V. 36a– b) an den Gesetzeslehrer zurückgegeben. Und wiederum formuliert dieser eine richtige Antwort: „Derjenige, der Barmherzigkeit an ihm getan hat.“ (V. 37b) Wird diese Antwort systematisch streng auf die Frage des Gesetzeslehrers „Und wer ist mein Nächster?“ (V. 29b) bezogen, so würde sich der Fragende in der Rolle des unter die Räuber Gefallenen wiederfinden, der den Samariter zu lieben hat, da dieser ihm aufgrund seiner Hilfeleistung zum Nächsten geworden ist. Während diese Konstellation zum einen eine Haltung offenbaren würde, die in der Feldrede strikt abgelehnt wird (vgl. Lk 6,32–35), gerät der streng systematische Zugang zum anderen auch durch die abschließende Antwort Jesu vollends aus dem Gleichgewicht: „Geh hin und handle du ebenso!“ (V. 37d) Das zu imitierende Handeln bezieht sich gewiss auf die tätige Barmherzigkeit, die der Samariter erwiesen hat und die zweifelsohne als vorbildlicher Akt der Nächstenliebe zu interpretieren ist. In der ntl. Forschung finden sich verschiedene Varianten, um diesen logischen Widerspruch zu lösen.65 Der Evangelist hat die V. 36–37 als conclusio der gesamten Perikope gestaltet und dabei die unterschiedlichen Perspektiven miteinander verwoben, die durch den Gang der Er65 J. Jeremias, Gleichnisse, 203 verweist auf die Wechselseitigkeit des Begriffs „Nächster“ und warnt davor, eine allzu strenge Systematisierung an den Text anzulegen: „Schwerlich hat die Verschiebung der Frage einen tieferen Sinn. Es wird sich lediglich um eine formale Inkonzinnität handeln, die nichts Befremdliches hat, sobald man sich den philosophischen Tatbestand vergegenwärtigt, daß das Wort ‘rea eine reziproke Beziehung zum Ausdruck bringt, wie unser ‚Kamerad‘ […].“ G. Sellin, Gleichniserzähler II, 48.51 betont, dass die Parabel nur dann richtig verstanden wird, wenn nicht der Samariter als Hauptperson in das Zentrum gerückt wird, sondern der Überfallene. Aus dessen Perspektive ist das ganze Gleichnis zu lesen und zu verstehen. Der abschließende Satz Jesu bezieht sich natürlich auf die barmherzige Zuwendung, die der Samariter realisiert hat, doch darf V. 37 nicht mehr als Teil der Erzähllogik der Parabel verstanden werden. J. Green, Luke, 432 versteht die Frage Jesu als bewusste Durchbrechung der limitierenden Auffassung von Nächstenliebe, die der Gesetzeslehrer vertritt, und geht nicht weiter auf die systematische Inkohärenz ein; vgl. ähnlich D. Bock, Luke II, 1034.
5.3 Auslegung
157
zählung und die darin enthaltenen Fragen des Gesetzeslehrers einerseits sowie durch die Struktur der Nächstenliebe andererseits eröffnet worden sind. Die Struktur der lk. conclusio ist ein kunstvolles Gebilde, bei dem nicht ein reiner Wechsel zwischen Subjekt und Objekt der Nächstenliebe beschrieben wird. Es gilt, die Perikope in ihrer Gesamtheit im Blick zu behalten, um die unterschiedlichen Perspektiven integrieren zu können.
5.3.3.1 Erste Perspektive: „Lehrer, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erben werde?“ Die Eingangsfrage des Gesetzeslehrers ist nach lk. Maßstab eine legitime und wichtige Frage66 und wird in der Perikope in zweifacher Weise positiv aufgegriffen. Die erste Antwort, die den Weg in das ewige Leben weist, besteht in der Aufforderung, das Doppelgebot der Liebe zu erfüllen (vgl. V. 28b). Diese Aufforderung wird durch die Parabel näher bestimmt, indem anhand des Verhaltens des Samariters beispielhaft veranschaulicht wird, wodurch sich Nächstenliebe auszeichnet: durch die Taten der Barmherzigkeit. Das ist die zweite Antwort auf die Frage nach dem Erwerb des ewigen Lebens. Die Bedeutung der Barmherzigkeit für das lk. Verständnis der Nächstenliebe wird einerseits durch die Betonung des Verbs „σπλαγχνίζεσθαι“ (V. 33b) als Handlungsmotivation des Samariters, andererseits durch die summarische Zusammenfassung seiner Zuwendung gegenüber dem Überfallenen als ποιεῖν τὸ ἔλεος (V. 37b) hervorgehoben.67 Auffallend ist in dieser Perspektive die Betonung des Ausübens der Nächstenliebe, des praktizierten Tuns68 dessen, was als Nächstenliebe charakterisiert wird. Die Perikope schließt im Hinblick auf das „ποιεῖν τὸ ἔλεος“ (V. 37b) mit der Aufforderung Jesu an den Gesetzeslehrer „Geh hin und handle du gleichermaßen!“ (V. 37d). Hierbei begegnet zum einen wieder die Hervorhebung des Tuns (ποιεῖν), zum anderen wird dabei ein Bogen zurück zur Eingangsfrage und zur ersten positiven Antwort Jesu geschlagen. Darüber hinaus wird die persönliche Verantwortung des Einzelnen durch die explizite Nennung des Personalpronomens σύ unterstrichen. Zusammengefasst bedeutet dies, dass es in der Verantwortung des Einzelnen liegt, sich die Teilhabe am ewigen Leben durch eine realisierte Gottes- und Nächstenliebe zu erwirken, wobei die Nächstenliebe als die konkrete Umsetzung barmherziger Zuwendung zum Nächsten verstanden wird. 66
Vgl. die Parallele in Lk 18,18. W. Schrage, Ethik, 83–84 argumentiert, dass Nächstenliebe „nicht mit Gefühlen oder Affekten identisch ist, sondern aktives Dasein und konkretes Eintreten für den notleidenden anderen meint.“ In der lk. Darstellung wird jedoch ein Integral aus Barmherzigkeit (Gefühl) und helfenden Handlungen beschrieben. Allerdings wäre ein reines Verharren im Mitleid ohne Hilfe für den Überfallenen natürlich keine Nächstenliebe. 68 Vgl. auch M. Ebersohn, Nächstenliebegebot, 230. 67
158
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
5.3.3.2 Zweite Perspektive: „Und wer ist mein Nächster?“ Wie bereits ausgeführt, ist die Frage nach dem Nächsten eine Frage nach der Limitierbarkeit der Nächstenliebe. Synonym könnte auch gefragt werden: „Und wen soll ich lieben?“ bzw. „Und wen muss ich nicht lieben?“ Während die Identität des Nächsten in dieser Perspektive unsicher zu sein scheint, ist die Konkretisierung der Nächstenliebe durch die barmherzige Zuwendung zweifelsfrei definiert. Die Antwort des Gesetzeslehrers auf die Replik Jesu „Wer von diesen dreien scheint dir dem, der unter die Räuber gefallen ist, zum Nächsten geworden zu sein?“ (V. 36a–b) unterstreicht die Übereinstimmung beider Gesprächspartner hinsichtlich der Nächstenliebe als Akt der Barmherzigkeit (vgl. V. 37b). Somit wird deutlich, dass die Identität des Nächsten zwar durch die Fragen in V. 29b und V. 36a–b von verschiedenen Standpunkten aus bestimmt wird, dass aber in beiden Fälle dasselbe Motiv dominierend ist: das konkrete Tun der Liebe. Das Nächster-Sein und bzw. das Zum-Nächsten-Werden ist also jeweils notwendig an die Umsetzung der Nächstenliebe gebunden. Im Duktus der Parabel ist dabei die bewusste Auslassung einer Näherbestimmung des unter die Räuber Gefallenen von Bedeutung: Es handelt sich nicht um einen Israeliten, einen Griechen oder Samariter. Es handelt sich um einen Menschen in Not, wodurch eine potentielle ethnische oder auch religiöse69 Limitierung des Begriffes „Nächster“ unmöglich gemacht wird und die Konkretisierung der Nächstenliebe sich an den Nöten und Bedürfnissen des Gegenübers misst. In diesem Sinne erkennt der Samariter in dem Überfallenen seinen Nächsten, da er sich diesem liebend zuwendet, während der Priester und der Levit aufgrund der nicht praktizierten Barmherzigkeit den Ausgeraubten nicht als ihren Nächsten anerkennen. Ihre verweigerte Hilfe definiert recht genau die Grenze ihrer Nächstenliebe und somit auch die Identität dessen, wer ihr Nächster ist und wer es nicht ist. Da sich Priester und Levit nur um sich selbst zu kümmern scheinen, sind sie sich auch selbst sprichwörtlich zum Nächsten geworden. Außerhalb ihrer selbst existiert in der Logik der Parabel für sie kein Nächster, wodurch sie, die Eingangsfrage des Gesetzeslehrers aufgreifend, auch nicht Anteil am ewigen Leben haben werden. Die Gegenfrage Jesu (vgl. V. 36a–b) wechselt die Perspektive und stellt den Überfallenen und die Identität seines Nächsten in den Mittelpunkt. Dies irritiert insofern, als dass sich die Beantwortung der Frage nach der Nächstenliebe dadurch von den Taten des Samariters weg und zur Relation, die der Überfallene gegenüber dem Samariter aufbaut, hinbewegt. Jedoch stellt sich in dieser Perspektive nicht die Frage nach der Liebe, die der Überfallene möglicherweise 69 Die von Q. Liu, Paradox, 681–694 diskutierten Spannungen, die sich zwischen der universal verstandenen Nächstenliebe und der gebotenen Gottesliebe ergeben könnten, indem ein Christ Nächstenliebe gegenüber einem Menschen anderen Glaubens oder gegenüber einem Atheisten erweist, sind lediglich dogmatischer Natur. Die Parabel vom barmherzigen Samariter würde auch eben jene dogmatischen Vorbehalte kritisieren.
5.3 Auslegung
159
gegenüber seinem Nächsten, also dem Samariter, erweist. Dies wäre tatsächlich im Lichte von Lk 6,32–35 eine „Zöllner-Ethik“,70 da er nur denjenigen lieben würde, von dem er etwas Gutes empfangen hat. So ist an dieser Stelle vielmehr die Frage nach dem Nächsten im Mittelpunkt, um die relationalen Bezüge der Nächstenschaft zu beleuchten. Der Samariter ist dem Überfallenen zum Nächsten geworden, indem er den Überfallenen als seinen Nächsten geliebt hat.71 Es zeigt sich also, dass die Begrifflichkeit des „Nächsten“ ein wechselseitiges, relationales Geschehen ist, in das beide Seiten notwendig eingebunden sind. „Wenn einer für den anderen πλησίον ist, so gilt das immer auch umgekehrt […].“72 Somit verweist die Frage Jesu in V. 36a–b auf das Charakteristikum der persönlichen Inanspruchnahme, die der relationalen Verfasstheit der Nächstenschaft zu eigen ist. Mit anderen Worten: Die Strukturen der Nächstenschaft verweisen zwei Personen aufeinander, es gibt kein anonymes Nächster-Sein, das es einer oder beiden Parteien erlauben würde, sich selbst aus diesem Geschehen zu entziehen. Eine solche Verweigerung des persönlichen Engagements wird eben durch den Priester und den Leviten repräsentiert und ist eben keine Nächstenliebe, da die Identität des Nächsten und die persönliche Einbindung in die Nächstenschaft geleugnet wird. Dadurch ist nun auch die Frage Jesu (vgl. V. 36a–b) im Gegenüber zur Frage des Gesetzeslehrers (vgl. V. 29b) kein Wechsel vom Objekt zum Subjekt der Nächstenliebe.73 Schließlich ist über die Liebe des Überfallenen zum Samariter nichts bekannt. Sicherlich, es wäre plausibel, dass der Überfallene gegenüber dem Samariter eine tiefe Dankbarkeit verspürt, da er ihm das Leben gerettet und darüber hinaus auch noch die Rahmenbedingung seiner Genesung organisiert und bezahlt hat. Allerdings ist Dankbarkeit in der Logik der Perikope keine Nächstenliebe! Die Taten der barmherzigen Zuwendung wurden als Nächstenliebe bestimmt. Aus dieser Perspektive wäre der Überfallene auch gar nicht in der Lage gewesen, seinen Nächsten zu lieben, da er in seiner Hilflosigkeit gänzlich auf Rettung durch einen Mitmenschen angewiesen war. Kann man dann im Sinne der oben stehenden Argumentation überhaupt davon sprechen, dass der Samariter dem Überfallenen zum Nächsten wurde, wenn der Überfallene nicht in der Lage war, sich liebend auf seinen Nächsten einzulassen? Gewiss! So verweist die Formulierung „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ auf die 70
G. Sellin, Gleichniserzähler II, 25. diesen Aspekt weist auch J. Nolland, Luke 2, 597 mit Nachdruck hin: „The Samaritan has become a neighbor through his compassionate action, but integral to this concrete action has been his own seeing of the situation from the victim’s point of view.“ 72 M. Wolter, Lukasevangelium, 391. Ähnlich auch F. Bovon, Lukas 2, 92; J. Jeremias, Gleichnisse, 202. 73 Die der Parabel adäquate Zuordnung von Subjekt und Objekt der Nächstenliebe begegnet häufig in der ntl. Forschung; vgl. beispielsweise M. Wolter, Lukasevangelium, 398; F. Bovon, Lukas 2, 91–92; H. Schürmann, Lukas II, 147; G. Sellin, Gleichniserzähler II, 23–31, M. Ebersohn, Nächstenliebegebot, 230–231. 71 Auf
160
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
Fähigkeiten und Möglichkeiten, die dem Einzelnen zu Verfügung stehen. Je schlechter die Konstitution des Einzelnen ist, desto mehr ist er aus der Pflicht der zuvorkommenden, tätigen Liebe gegenüber dem Anderen entbunden und desto mehr ist der Einzelne darauf angewiesen, dass er durch die Liebe des Anderen in die Relation der Nächstenschaft hineingenommen wird. Da der Überfallene geschlagen, ausgezogen und halbtot war, sah er sich seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten gänzlich beraubt, sodass er vollständig auf die tätige Liebe des Anderen angewiesen war, der ihm zum Nächsten wurde.74
5.3.3.3 Dritte Perspektive: Priester, Levit, Samariter Die Konstellation der auftretenden Personen ist sicherlich kein Zufall und das provokative Element, das der Samariter im Gegensatz zum Priester und zum Leviten darstellt, wurde bereits benannt. Dabei kann jedoch nochmals bedacht werden, inwiefern das Doppelgebot der Liebe und die Frage nach der Umsetzung der Nächstenliebe mit den Protagonisten, oder besser: mit dem, was die Protagonisten symbolisieren, im Zusammenhang steht. Die Diskussion um die Identität des zu liebenden Nächsten ist in den Horizont der atl. Bundestheologie eingebettet.75 Hierin liegt eine doppelte Pointe der Perikope. So war es für Lukas evident, dass der Gesetzeslehrer eine theologische Position vertritt, die eine Beschränkung des Nächsten auf die Gruppe des Bundesvolkes vornimmt, wodurch die Samariter aus dieser Gruppe ausgeschlossen werden. Dass nun ausgerechnet ein Samariter sich als Nächster gegenüber dem Überfallenen erweist, während die Symbolgestalten für den Sinaibund vor dieser Aufgabe versagen, ist an sich bereits bemerkenswert. Dem Gesprächspartner Jesu bleibt auch keine andere Wahl, als diese Tatsache gerade angesichts der realisierten Barmherzigkeit anzuerkennen.76 Es ist an dieser Stelle explizit darauf zu verweisen, dass die Frage der Bundeszugehörigkeit, die gegebenenfalls über den Status „Nächster“ entscheiden könnte, im Duktus der Perikope nur hinsichtlich des Priesters, des Leviten und des Samariters thematisiert werden kann. Über die Herkunft des Überfallenen ist schlicht nichts bekannt.77 Die Überlegung, ob dem Überfallenen aufgrund seiner eth74
Eine analoge Argumentation findet sich beispielsweise in Gal 5,13–14; 6,2; Phil 2,1–4. ergibt sich einerseits aus der Begegnung Jesu mit einem Gesetzeslehrer und dem Verweis auf das, was im Gesetz zu lesen sei. Andererseits ist die Figurenkonstellation der Parabel, die sich aus Priester, Levit und Samariter zusammensetzt, ein Verweis auf den atl. Bezugsrahmen. 76 Ob die nicht erfolgte Nennung des Begriffs „Samariter“ nun die generelle Verachtung des Gesetzeslehrers gegenüber den Samaritern ausdrückt, wie J. Jeremias, Gleichnisse, 203 betont, oder ob es sich lediglich um eine Konzentration auf ποιεῖν τὸ ἔλεος handelt, wie M. Wolter, Lukasevangelium, 398 unterstreicht, muss an dieser Stelle offenbleiben. 77 P. Essler, Reduction, 337–339 geht noch dem Gedanken nach, dass die Nacktheit des Überfallenen eine mögliche Beschneidung offenbaren könnte, wodurch sich wiederum ethnische Erwägungen hätten anschließen können. Schlussendlich verweist aber auch P. Essler, 75 Dies
5.3 Auslegung
161
nischen Herkunft überhaupt der Status eines Nächsten im Sinne der Bundeszugehörigkeit zukommt, führt ins Leere. Angesichts der desolaten Situation des Ausgeraubten sind die drei potentiellen Helfer auf sich selbst zurückgeworfen und mit der Frage konfrontiert, ob sie dem Gegenüber zum Nächsten werden wollen und somit das Gebot der Nächstenliebe erfüllen oder nicht. Das Versagen der Eliten, gerade im Gegensatz zu der durch sie verachteten Gruppe der Samariter, muss als unverhohlene Kritik aufgefasst werden, konterkariert das in der Narration dargestellte Verhalten von Priester und Levit doch gerade die theologischen Werte und Überzeugungen, die sie allein schon qua Amt repräsentieren und für deren Repräsentanz sie in der Öffentlichkeit geachtet werden. Doch eröffnet sich durch diese Konstellation noch ein weiterer Aspekt, der über die Kritik an den Eliten und über den durch die Parabel formulierten Vorwurf der Heuchelei hinausgeht. Im Horizont der Bundestheologie ist es unstrittig, dass das Bundesvolk Gottes auf die Erfüllung des göttlichen Willens verpflichtet ist.78 Diese Verpflichtung ist auch für den Evangelisten bindend. Doch findet die Formulierung des Willens Gottes im LkEv in erster Linie durch die Unterweisung Jesu statt, der ein normativer Charakter zukommt. Die Verbindungen zu den Traditionen des Alten Testaments werden dabei entweder durch materialethische Schwerpunktsetzungen, wie beispielsweise die prophetische Sozialkritik, oder durch die Anwendung von Summarien, die bemerkenswert offenbleiben können,79 hergestellt. Es lässt sich beobachten, dass atl. Traditionen, die bei Lukas Aufnahme finden, in die Worte und Taten Jesu eingewoben werden, zumeist ohne dass breite Auseinandersetzung über die Intention der Traditionen, etwa im Stil einer halachischen Diskussion stattfindet. Dadurch ergibt sich eine implizite Gültigkeit atl. Gesetze und Normen, insofern sie christologisch adaptierbar sind bzw. nachdem sie eine christologische Transformation erfahren haben. Eine Ausnahme stellen hierbei nur die beiden Kindheitskapitel dar, in denen die Protagonisten als vorzügliche Beispiele toratreuer Gerechter präsentiert werden. Somit überrascht es auch nicht, dass in Lk 10,25–27 die Frage nach dem im Gesetz Geschriebenen durch den Gesetzeslehrer mit dem Doppelgebot der Liebe, das summarische Funktion hat, beantwortet wird. Die Auslegung des Doppelgebots Reduction, 343 gerade auf die Loslösung der Parabel von ethnisch begründeten Einengungen des Nächstenliebegebots. 78 Vgl. beispielsweise Ex 19,5–8; 24,3; Dtn 5,27–33; 26,16–19; 27,9–10. R. Zimmermann, Berührende Liebe, 549 ändert, unter Einbezug von E. Lévinas die Argumentation unter dem Blickwinkel von Subjekt und Objekt dahingehend, dass der Samariter durch sein Verhalten überhaupt erst zum Subjekt werden konnte: „Die Selbstwerdung des Menschen vollzieht sich relational. Nur wer sich anrühren lässt, nur wer den anderen in seiner Bedürftigkeit an sich heranlässt, wird zu einem handlungsfähigen Menschen, wird zum Nächsten […].“ 79 Dies ist ein Charakteristikum der lk. Beschäftigung mit dem atl. Gesetz und der damit verbundenen eschatologischen Fragestellung; vgl. Lk 16,16.29; 18,20; 24,44.
162
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
geschieht durch die Lehre Jesu in Form der Parabel einerseits und die Einbettung der Inhalte der Parabel in den Gesamtzusammenhang jesuanischer Lehre und Tat im LkEv andererseits. Insofern nun das Doppelgebot der Liebe die Zusammenfassung des Willens Gottes darstellt, bekommt derjenige, der das Doppelgebot erfüllt einerseits Anteil am ewigen Leben, andererseits ist er Teil des Bundesvolkes. Dass diesbezüglich der Barmherzigkeit eine wichtige Bedeutung zugemessen wird, ist schon zu Beginn des LkEv durch die Hymnen Magnificat und Benedictus ersichtlich geworden. Die Barmherzigkeit Gottes wird dort als konstitutives Element des Bundes und der Bundesgerechtigkeit beschrieben. Indem nun der Samariter im Gegensatz zu Priester und Levit am Überfallenen Barmherzigkeit übt (ποιεῖν τὸ ἔλεος [V. 37b]), erfüllt er das Nächstenliebegebot und erweist sich dadurch als legitimes Mitglied des göttlichen Bundesvolkes. Demgegenüber disqualifizieren sich Priester und Levit, die aufgrund ihrer kultischen Funktion eigentlich herausragende Träger der Bundesverheißung sein sollten, durch ihr unbarmherziges Verhalten selbst als Mitglieder des Volkes Gottes. Damit wird die Provokation, die Lukas durch das Auftreten des Samariters initiiert hat, noch gesteigert. Er spricht den kultisch sowie ethnisch fundierten Argumenten der Bundeszugehörigkeit die Bedeutung ab und ersetzt diese durch eine klare Priorisierung der ethischen Implikationen des atl. Bundesgedankens. All diejenigen, die sich in Orientierung der normativen jesuanischen Lehre bundesgemäß verhalten, werden als Teil des Gottesvolkes bezeichnet, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft.80 Die Definition „Gottesvolk“ orientiert sich schlussendlich an der Nachfolge des Einzelnen zu Jesus; ein Argument, das in den Acta im Zuge der Trennung zwischen Synagoge und Kirche immer stärker in den Vordergrund rückt. Lukas bereitet diesen Gedanken bereits durch das Auftreten des Täufers vor, der seinen Auftrag, Israel zur Umkehr zu Gott zu bewegen, dadurch beschreibt, dass nicht die Abrahamskindschaft, sondern das Tun des göttlichen Willens über die Zugehörigkeit zum Volk Gottes und somit über eschatologisches Heil und Unheil entscheidet (vgl. Lk 3,7–9). Es lässt sich also konstatieren, dass der Evangelist nicht nur eine Transformation des Doppelgebots der Liebe vorgenommen hat, indem er dieses durch die Unterweisung aus dem Munde Jesu für die Christusgläubigen normativ interpretiert. Er hat zudem eine Transformation des Bundesgedankens vorgenommen, welche sich dadurch auszeichnet, dass alle Menschen Teil des Gottesvolkes werden können, insofern sie sich in der Nachfolge Jesu dem Willen Gottes gegenüber als treu erweisen. Diese universale Öffnung des Gottesvolkes ist, wie im Laufe dieser Untersuchung bereits ersichtlich wurde, in der Theologie des Evangelisten ein sich wiederholendes Motiv. 80 G. Sellin, Gleichniserzähler II, 50 formuliert knapp und treffend: „Das hat eine doppelte Konsequenz: 1. Nichtjuden können Bundesgenossen werden. 2. Juden können ihre Bundesgliedschaft verlieren.“
5.3 Auslegung
163
5.3.3.4 Vierte Perspektive: „Geh hin und handle du gleichermaßen!“ Wie die vorangegangene Analyse gezeigt hat, ist die Parabel eng mit zentralen Aspekten lk. Theologie vernetzt. So ist das Handeln des Samariters, das als vorbildlich charakterisiert wird, eine Umsetzung der Ethik, die in der Feldrede formuliert wird. Die Kategorien, die das Handeln des Samariters bestimmen, bestehen in der Wahrnehmung der Not des Gegenübers und der darauffolgenden Anteilnahme, die sich in konkretem Hilfshandeln umsetzt, das allein die Rettung und Genesung des Überfallenen zum Ziel hat. Die eigenen Pläne und Bedürfnisse werden ganz der Goldenen Regel (vgl. Lk 6,31) entsprechend zurückgestellt. Sein durch Barmherzigkeit motiviertes und geprägtes Handeln entspricht der Aufforderung zur imitatio misericordiae Dei (vgl. Lk 6,35–36) und zeichnet sich zudem dadurch aus, dass er seinen Besitz dafür verwendet, demjenigen zu helfen, der in Not ist. Eine Rückgabe des aufgewandten Betrags ist ebenso wenig im Horizont der Parabel wie die Hoffnung des Samariters auf Dankbarkeit seitens des Überfallenen. Indem die Hilfe des Samariters im Kontext der Perikope beispielhaft für ein Handeln steht, durch das das ewige Leben erworben wird, besteht der zu erwartende Lohn in der Teilhabe an der Königsherrschaft Gottes. Dieses Muster eines eschatologischen Verdienstes, der mit dem Verzicht auf irdische Belohnung einhergeht, prägt auch die Feldrede (vgl. Lk 6,32–38). Darüber hinaus verweist die Kritik an den religiösen Eliten, die sich an der unterlassenen Hilfeleistung entzündet, ebenso auf das Logion des Baumes, der an seinen Früchten zu erkennen ist (vgl. Lk 6,43–44), wie auch auf die Parabel vom Hausbau (vgl. Lk 6,47–49), die gegenüber all denen formuliert ist, die zwar den Herrn anrufen, aber seinen Willen nicht erfüllen (vgl. Lk 6,46). Das Bild des eschatologisch zu verstehenden Einsturzes des Hauses dessen, der zwar die Worte des Herrn hört, aber nicht nach ihnen lebt (vgl. Lk 6,49), korrespondiert mit der unausgesprochenen Drohung, dass der Priester und der Levit keine Teilhabe am ewigen Leben haben werden, da sie sich gerade nicht in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen verhalten haben. Dies führt zu einem letzten Punkt: der Liebe zu Gott. Es ist auffällig, dass nur die Frage nach der Nächstenliebe Anlass zum weiteren Gespräch zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer gibt, während die Aufforderung zur Liebe gegenüber Gott offensichtlich keinerlei weiteren Erklärungsbedarf verzeichnet. Doch sind die beiden Liebesgebote durch die Form als Doppelgebot notwendig aufeinander bezogen, sodass das eine nicht ohne das andere zu denken ist.81 Gott zu lieben beschreibt eine lebendige Beziehung zu Gott, die einerseits durch den Glauben und bei Lukas im besonderen Maße durch das Gebet82 beschrieben 81 Der Evangelist setzt diese Überzeugung auch strukturell in seinem Evangelium um, indem er der Parabel vom barmherzigen Samariter die Begegnung Jesu mit Maria und Marta folgen lässt, bei der die Gottesliebe in das Zentrum gestellt wird; vgl. F. Bovon, Lukas 2, 82. 82 Vgl. Lk 3,21–22; 5,16; 6,12; 9,18.28; 11,1–4; 22,41–44; 23,46. Act 1,24; 2,42; 4,24– 31; 6,6; 8,15; 9,11.40; 10,9.30; 11,5; 12,5.12; 13,3; 14,23; 16,25; 20,36; 21,5; 22,17; 28,8.
164
Kapitel 5: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37)
wird, aus der sich andererseits aber auch eine Observanz des göttlichen Willens notwendig ergibt. Wird der Wille Gottes ignoriert, kann auch keine Gottesliebe mehr ernstlich behauptet werden; jede öffentliche oder auch private Form der Gottesverehrung als Ausdruck der Liebe zu Gott gerät dabei zu einer reinen Schimäre. Im vorliegenden Falle tritt eben jene Konstellation ein: Der Priester und der Levit gelten nach außen hin als institutionelle Verkörperung gelebter Gottesliebe und stehen doch aufgrund der nicht realisierten Nächstenliebe in scharfem Kontrast zum göttlichen Willen. Damit haben sie das Doppelgebot in seiner Gesamtheit gebrochen.
Kapitel 6
Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50) Die Perikope von der Salbung Jesu durch die Sünderin im Haus des Pharisäers Simon besticht im synoptischen Vergleich durch ihre Sonderstellung im Gegenüber zu den Seitenreferenten und ist innerlukanisch von großer Bedeutung, da in ihr verschiedene, für Lukas wichtige Theologumena aufgegriffen und bearbeitet werden und zudem christologische Hauptpunkte des Evangelisten markant zum Vorschein kommen. Die folgende Analyse wird sich auf diese spezifisch lukanischen Charakteristika konzentrieren, wobei der Ertrag der Analyse für die Untersuchung der ethischen Begründungszusammenhänge im lk. Doppelwerk nicht zuletzt durch die Rückbindung des in der Perikope Erzählten an die im lk. Verlauf kurz zuvor berichtete Feldrede liegt. Das lk. Proprium der Perikope kann zwar durch den synoptischen Vergleich bis zu einem gewissen Grad skizziert werden,1 doch gewinnen die spezifisch lk. Theologie und Ethik, die die Perikope prägen, vor allem durch die Einbettung der Erzählung in den theologischen Gesamtzusammenhang des LkEv an Schärfe und Deutlichkeit.
6.1 Übersetzung und Gliederung (36a) Es bat ihn aber einer der Pharisäer, dass er mit ihm esse, (36b) und er ging in das Haus des Pharisäers hinein und legte sich zu Tisch. (37a) Und siehe, [es gab] eine Frau, welche in der Stadt eine Sünderin war, (37b) und als sie erfuhr, dass er im Haus2 des Pharisäers zu Tisch lag, (37c) begann3 sie, nachdem sie ein Alabastergefäß mit Salböl gebracht hatte (38a) und von hinten an seine Füße herangetreten war, 1 Der synoptische Vergleich wurde in der ntl. Forschung bereits hinreichend analysiert. F. Bovon, Lukas 1, 385 bringt die Fülle der Analysen ironisch auf den Punkt: „Mit geradezu langweiliger Ausdauer haben die Exegeten die beiden Salbungsberichte in Betanien (Mk 14,3– 9) und hier miteinander verglichen.“ 2 Der Unterschied zwischen „ὁ οἶκος“ (Lk 7,36b) und „ἡ οἰκία“ (Lk 7,37b) ist im Deutschen zu vernachlässigen. Denkbar wäre, im Zusammenhang von „ἡ οἰκία“ die versammelten Personen mitzudenken, im Sinne einer Hausgemeinschaft. 3 Das finite Verb begegnet im griechischen Text erst in V. 38b. Um in der deutschen Übersetzung eine möglichst genaue Wiedergabe der griechischen Partizipialkonstruktionen in den V. 37–38 zu ermöglichen, muss es bereits hier genannt werden.
166
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
(38b) weinend seine Füße mit Tränen zu benetzen, (38c) und mit den Haaren ihres Kopfes wischte sie [sie] ab (38d) und sie küsste fortwährend seine Füße (38e) und salbte [sie] mit dem Salböl. (39a) Als aber der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, [das] sah, sprach er zu sich selbst und sagte: (39b) „Wenn dieser ein Prophet wäre, dann würde er wissen, wer und von welcher Art die Frau ist, die ihn berührt; dass sie eine Sünderin ist.“ (40a) Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: (40b) „Simon, ich habe dir etwas zu sagen.“ (40c) Der aber sprach: „Lehrer, sag es!“ (41a) „Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. (41b) Der eine schuldete 500 Denare, der andere aber 50. (42a) Da sie nicht zurückzahlen konnten, erließ er [es] beiden. (42b) Welcher von ihnen wird ihn also mehr lieben?“ (43a) Simon antwortete und sprach: (43b) „Ich vermute der, dem er mehr erlassen hat.“ (43c) Er aber sagte zu ihm: „Du hast richtig geurteilt.“ (44a) Und während er sich zu der Frau umwandte, sagte er zu Simon: (44b) „Siehst du diese Frau? (44c) Ich bin in dein Haus gekommen, [doch] Wasser für die Füße hast du mir nicht gegeben, (44d) sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. (45a) Einen Kuss hast du mir nicht gegeben, (45b) sie aber hat, seitdem ich hereingekommen bin, nicht aufgehört, meine Füße zu küssen. (46a) Mit Öl hast du meinen Kopf nicht gesalbt, (46b) sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. (47a) Deshalb sage ich dir, ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt.4 (47b) Wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ (48a) Er aber sprach zu ihr: (48b) „Deine Sünden sind vergeben.“ (49a) Und es begannen die, die mit zu Tisch lagen, zu sich selbst zu sagen: (49b) „Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt?“ 4 Die Übersetzung des ὅτι-Satzes ist umstritten: Einerseits kann der Erweis der Liebe als Grund für die folgende Sündenvergebung verstanden werden, andererseits kann der Erweis der Liebe als Erkenntnisgrund dafür verstanden werden, dass ihr bereits viele Sünden vergeben worden sind; vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 333 d.
6.2 Der synoptische Vergleich
167
(50a) Er aber sprach zu der Frau: (50b) „Dein Glaube hat dich gerettet. Geh hin in Frieden!“ Die Perikope lässt sich in vier Sinnabschnitte einteilen: Lk 7,36–39: Der Pharisäer und die Sünderin Lk 7,40–43: Das Gleichnis von den beiden Schuldnern Lk 7,44–47: Die Liebe der Sünderin Lk 7,48–50: Die Vollmacht zur Sündenvergebung Problematisch ist der logische Zusammenhang zwischen dem Gleichnis von den beiden Schuldnern und dem die Perikope abschließenden Zuspruch der Sündenvergebung mit Blick auf die erwiesene Liebe. Die Analyse der Perikope wird sich eingehend damit beschäftigen, ob und inwiefern hier von einem stringenten Argumentationsgang des Evangelisten ausgegangen werden kann.
6.2 Die lk. Variante im synoptischen Vergleich Die lukanische Variante der Salbung Jesu nimmt im Vergleich mit den drei anderen Evangelien eine Sonderstellung ein (vgl. Mt 26,6–13; Mk 14,3–9; Joh 12,1–8). So stellt Lukas keinen Zusammenhang zwischen der Salbung und dem Tode Jesu her und entkoppelt die Perikope gänzlich von den Ereignissen in Jerusalem. Während Lukas zwar das Motiv der Entrüstung, die sich angesichts der Salbung Jesu entzündet, kennt, verbindet er sie doch mit der Charakterisierung der anonymen Frau als Sünderin und lässt den Vorwurf der Geldverschwendung (vgl. Mk 14,4–5 par.) gänzlich außer Acht. Das ist umso erstaunlicher, als gerade Lukas in seinem Evangelium einen besonderen Schwerpunkt auf die karitative Verwendung von Besitz legt. Die Szenerie selbst findet im Haus des Simon statt, allerdings ist dieser bei Lukas ein Pharisäer und kein Lepröser (vgl. Mk 14,3). Die Zugehörigkeit Simons zur Gruppe der Pharisäer ist für die lk. Variante, wie sich zeigen wird, von zentraler Bedeutung, während die Identität des Simon bei den synoptischen Seitenreferenten keine Rolle spielt. Obwohl Lukas aufgrund seiner mk. Vorlage die Bedeutung der Salbung im Horizont des Todes Jesu kannte,5 hat er am Ende des Evangeliums keine Dublette der Perikope aufgeführt, worin sich ein gestalterisches Element des Evangelisten zeigt. Die durch die Salbung generierte Aufmerksamkeit der Adressaten nutzt Lukas, um die Thematik der Sündenvergebung zu illustrieren. Damit ist eine grundsätzliche redaktionelle Entscheidung gefallen, da der rhetorische Effekt der Salbung nur einmal angewandt werden kann. Anders ausgedrückt: Es kann von einem bewussten Umgang mit der Salbungs5 Dies gilt auch für die joh. Variante, die ebenso wie die lk. Version von einer Salbung der Füße Jesu spricht (vgl. Joh 12,1–8).
168
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
tradition durch den Evangelisten ausgegangen werden und dieser Umgang lässt sich dadurch beschreiben, dass die Thematik der Sündenvergebung für Lukas im Vordergrund stand und somit das Motiv der Totensalbung verdrängt hat. Doch bleibt die Frage bestehen, ob Lukas die geschilderte Szenerie aus den Traditionssammlungen seines Sondergutes entnommen hat und somit auf die Salbung in Bethanien verzichtet hat, oder ob die mk. Vorlage durch Lukas bewusst umgestaltet worden ist. Aufgrund der Besonderheit der Salbung der Füße anstelle des Kopfes und des Motivs der Haare, die zum Trocknen der Füße eingesetzt werden, kann vermutet werden, dass Lukas und Johannes auf ein gemeinsames Traditionsgut zurückgegriffen haben, das ggf. eine mündliche Variante der Salbung in Bethanien darstellte. In der Zusammenschau von Traditionsgut und mk. Vorlage dürfte Lukas eine eigenständige redaktionelle Entscheidung im Sinne der oben genannten Überlegungen zum erzählerisch-dramatischen Potential der Salbung getroffen haben. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Verschmelzung der Salbung Jesu und des Gleichnisses von den beiden Schuldnern zu einer einzigen Perikope auf den Evangelisten zurückgeht. Letztlich kann aufgrund des Umfangs, der Personenkonstellation, des Themas und der Verortung der Perikope im Evangelium davon gesprochen werden, dass der lk. Variante der Salbung Jesu der theologische Status eines lk. Sonderguts zukommt, auch wenn das reine Faktum der Salbung von allen anderen Evangelisten geteilt wird.
6.3 Auslegung 6.3.1 Der Pharisäer und die Sünderin (Lk 7,36–39) Die Perikope wird sachlich durch das Zeugnis Jesu hinsichtlich des Täufers (vgl. Lk 7,24–35) vorbereitet. So ist die Diskrepanz zwischen den Zöllnern und Sündern auf der einen und den Pharisäern und Gesetzeslehrern auf der anderen Seite bereits angesprochen, wobei der gravierendste Unterschied darin besteht, dass gerade die Zöllner und Sünder den Bußruf des Täufers auf- und ernstgenommen haben (vgl. Lk 7,29–30) und darüber hinaus, als Konsequenz ihrer Offenheit gegenüber dem Ruf zur Umkehr, zu Freunden Jesu wurden, während die religiösen Eliten gerade wegen dieser Freundschaft eine kritische Distanz zu Jesus beibehalten (vgl. Lk 7,34). Die Erwiderung Jesu, die gerade die Umkehr der Zöllner und Sünder und deren Nähe zum Menschensohn als Ausdruck der Weisheit Gottes versteht, findet ihr narratives Pendant in der Perikope von der Salbung durch die Sünderin. Es ist somit fraglich, ob die Einladung, die der Pharisäer gegenüber Jesus ausspricht, wirklich neutral verstanden werden kann, oder ob das Interesse des Pharisäers an Jesus nicht von Beginn an ein anderes sein muss als das der Zöllner und Sünder.6 6
Damit würde die Szenerie sachlich durch Lk 14,1 wiederholt werden. Dort wird explizit
6.3 Auslegung
169
Der Pharisäer Simon wird sicherlich mit einem anderen Selbstbewusstsein auf Jesus zugegangen sein als die Zöllner und Sünder, da er nach der Darstellung des Evangelisten nicht durch das Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit und der daraus resultierenden Vergebungsbedürftigkeit die Einladung an Jesus ausgesprochen hat. Vielmehr dürfte er im Bewusstsein der eigenen theologischen wie sittlichen Qualität in Jesus in erster Linie einen Toralehrer gesehen haben, dem er auf Augenhöhe begegnen kann und mit dem er einen gelehrten Disput zu führen vermag, ohne dass eine Übereinstimmung in Lehrfragen vorauszusetzen wäre. Lk 7,39b zeigt zudem, dass Jesus bereits ein gewisser Ruf vorausgeeilt ist, sodass manche ihn als einen Propheten bezeichnen. Allerdings deutet nichts im Verhalten Simons darauf hin, dass er sich dieser Meinung angeschlossen hätte. Vielmehr steht lediglich die Option einer besonderen, möglicherweise prophetischen Begabung Jesu im Raum, die es im Laufe des Essens, gewissermaßen en passant zu prüfen gilt. Da den Pharisäern meist eine durch und durch ablehnende Haltung gegenüber Jesus zugemessen wird, auch das LkEv ist nicht frei von solchen Darstellungen, ist es hier wichtig zu betonen, dass der Pharisäer Simon zu Beginn der Perikope eine neutrale Position einnimmt, die sich durch Interesse an Jesus auszeichnet. Es geht Simon nicht darum, Jesus im Verlauf des Essens vorsätzlich zu diskreditieren.7 Freilich verändert sich die Einstellung Simons im Laufe der Perikope, da er Jesu Duldung der Salbung durch die Sünderin nicht zu akzeptieren vermag; eine Duldung, die sich im weiteren Verlauf der Perikope zu einer vergebenden Zuwendung steigern wird. Im Überblick über das LkEv lässt sich feststellen, dass sich Konflikte zwischen Jesus und den Pharisäern meist an der Frage des adäquaten, sprich: dem Willen Gottes gemäßen Umgangs mit den Sündern entzünden.8 Darüber hinaus verschärft sich im Laufe des LkEv die Tonlage zwischen Jesus und den Pharisäern. Die von einem Pharisäer ausgesprochene Essenseinladung in Lk 11,37 führt in der Darstellung des Evangelisten zu einem Eklat zwischen Jesus auf der einen, den Pharisäern und Gesetzeslehrern auf der anderen Seite. Die Szenerie ist durch die Reihe von Weherufen gegenüber den Pharisäern und Gesetzeslehrern geprägt (vgl. Lk 11,39–52), die im LkEv das Ende einer freundlich-neutralen Begegnung zwischen Jesus und den Pharisäern markiert. Die Kluft wird im weiteren Verlauf des LkEv sogar noch weiter verdarauf hingewiesen, dass die Pharisäer Jesus argwöhnisch beobachten („παρατηρεῑσθαι“). Bereits F. Bovon, Lukas 1, 390 weist auf die Verbindung zu Lk 14,1 hin, allerdings im Zusammenhang mit der vermuteten lk. Vorliebe für derartige Szenerien. 7 Dies wird auf der Textebene durch das Fehlen entsprechender Terminologien wie etwa „ἐκπειράζειν“ (vgl. etwa Lk 10,25) ebenso deutlich, wie durch das Nicht-Vorhandensein eines Erzählerkommentars, der die feindliche Gesinnung des Pharisäers Simon offenbaren würde; vgl. demgegenüber beispielsweise Lk 6,11. 8 Vgl. Lk 5,17–26.27–32; 7,36–50; (11,37–42); 15,1–2(3–32); 18,9–14. Die Sabbatfrage ist zwar auch virulent, tritt aber gegenüber der Zuwendung zu den Sündern zurück, vgl. Lk 6,1–11; 14,1–6.
170
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
tieft, indem den Pharisäern Gewinnsucht vorgeworfen wird (vgl. Lk 16,14–15) und die dramatischen eschatologischen Folgen eines solchen Verhaltens durch die Perikope vom reichen Mann und armen Lazarus illustriert werden (vgl. Lk 16,19–31). Dadurch wird den Pharisäern nicht nur unverhohlen gedroht, sondern sie werden nach den Kategorien lk. Ethik aufgrund ihrer Gewinnsucht in die Gruppe derer eingereiht, die sich diametral dem Willen Gottes entgegenstellen. „Mit der Feststellung, dass Menschen und Gott gegensätzliche Wertvorstellungen haben, werden die Pharisäer beschuldigt, genau das hochzuschätzen, was Gott verabscheut, weil es in seinen Augen ein Gräuel ist […].“9 Erst in den Acta wird eine Annäherung mancher Pharisäer an die Gruppe der Christusgläubigen beschrieben (vgl. Act 15,5), wobei auch diesen noch ein oppositioneller Charakter in kultischen Fragen anhaftet. Der Auftakt der Perikope ist durch das erzählerische Geschick des Evangelisten geprägt, der die um Jesus versammelten Protagonisten nicht individuell charakterisiert, sondern sie stereotyp als „Pharisäer“ und als „Sünderin“ kennzeichnet. Dadurch wird weniger deren Persönlichkeit, sondern vielmehr die Symbolkraft der Stereotypen10 in den Vordergrund gestellt, die auf die Leserschaft des Evangeliums einwirken soll. Dabei sind die Figuren „Pharisäer“ und „Sünderin“ offen für unwillkürliche Projektionen der Adressaten, denen die unüberbrückbare gesellschaftliche wie religiöse Kluft zwischen einem „Pharisäer“ und einer „Sünderin“ nicht eigens erläutert werden muss. Es gelingt Lukas 9
M. Wolter, Lukasevangelium, 554. Er verweist dabei auf den traditionsgeschichtlichen Zusammenhang mit Dtn 7,25; 17,1; 22,5; 24,4; 25,16; Prov 11,1.20; 12,22; 15,8–9.26; JosAs 8,7; TestHiob XV,8; äthHen 96,4. 10 Dies wird durch die rhetorische Gestaltung noch unterstrichen, da Lukas den Namen des Pharisäers erst in V. 40 einführt. Anders J. Green, Luke, 307–308, der sich gegen eine stereotype Funktionalisierung der Protagonisten ausspricht und dies nicht zuletzt an der Namensnennung des Pharisäers festmacht. Für F. Bovon, Lukas 1, 386, FN 5 ist die Namensnennung des Pharisäers ein Zeichen dafür, dass er an Autorität gegenüber Jesus verliert und vom Lehrer zum Schüler herabsinkt. Diese Interpretation erscheint mir nicht gänzlich plausibel zu sein. Unsachgemäß ist der Vorwurf, dass eine stereotype Verwendungsweise der Charaktere einen Antijudaismus zum Vorschein bringen würde; vgl. L. Oberlinner, Begegnungen mit Jesus, 260. Dem Evangelisten wird, wohl vor allem wegen mancher Sentenzen in den Acta, in der ntl. Forschung immer wieder der Vorwurf des Antijudaismus oder gar des Antisemitismus gemacht; vgl. hierzu ausführlich G. Wasserberg, Aus Israels Mitte. Doch ist demgegenüber festzuhalten, dass die lk. Intention mitnichten in einer Abqualifizierung Israels liegt, sondern vielmehr in der Darstellung der christusgläubigen Kirche als der Weiterentwicklung des Gottesvolkes, ohne dass ein Bruch zur Heilsgeschichte, wie sie in der LXX beschrieben ist, konstatiert werden könnte; vgl. dazu auch D. Rusam, Das Alte Testament bei Lukas, 40. Allerdings verläuft die Heilsgeschichte notwendig über Jesus und über das Bekenntnis zu ihm, sodass auch die genealogischen Mitglieder des Volkes Israels vor die Entscheidung gestellt werden „aut Iesus, aut nihil“. Letztendlich ist diese Form der heilsgeschichtlichen Entwicklung aber kein Novum. So finden sich immer wieder Konstellationen, in denen einzelne Zweige des abrahamitischen Stammbaums aus der atl. Heilsgeschichte ausscheiden, wie etwa Ismael vs. Isaak, Esau vs. Jakob. Die Besonderheit der lk. Ekklesiologie liegt also nicht in der innerjüdischen Differenzierung, sondern in der universellen Öffnung des Gottesvolkes; eine Öffnung, die durch die Nachfolge Jesu erreicht wird.
6.3 Auslegung
171
mittels der Eingangsszenerie, der Perikope den Charakter eines Theaterstücks zu verleihen, dessen Dramatik einerseits in der Konfliktsituation zwischen dem Pharisäer und der Sünderin, andererseits in der Erwartung der Reaktion Jesu liegt. Der Evangelist lässt von Beginn der Perikope an keinen Zweifel daran, dass sowohl der Pharisäer als auch die Sünderin ein gesteigertes Interesse an Jesus besitzen (vgl. Lk 7,36–37) und dass dieser im Zentrum des Aufeinandertreffens der sich diametral gegenüberstehenden Protagonisten steht. Im Lichte des mit Sicherheit historischen Vorwurfs, Jesus sei ein „Fresser und Weinsäufer“ (φάγος καὶ οἰνοπότης [Lk 7,34]), mutet es geradezu ironisch11 an, dass der Pharisäer Jesus ausgerechnet zum Essen bittet.12 Ebenso wie gegenüber den Zöllnern und Sündern zeigt Jesus auch gegenüber dem Pharisäer und seinen Gästen keinerlei Berührungsängste, sondern geht mit diesen ebenso bereitwillig Tischgemeinschaft ein wie mit jenen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Lukas hierbei implizit deutlich macht, dass es für Jesus keinen Unterschied zwischen Zöllnern und Pharisäern gibt, da beide der Umkehr bedürfen und Jesus somit stets Tischgemeinschaft mit den Sündern hat; unabhängig davon, ob er sich im Hause des Simon (Lk 7,40) oder des Levi (vgl. Lk 5,29) befindet. Durch das Erscheinen der Sünderin gewinnt die Szenerie an dramatischem Schwung. Der Evangelist beschreibt die Frau, die gegenüber dem Pharisäer in einer oppositionellen Rolle aufgebaut wird, nicht näher: Weder nennt er ihren Namen, noch erklärt er, woher die Frau etwas über Jesus in Erfahrung gebracht hat und was dies sein könnte. Er erläutert auch nicht, worin die Sündhaftigkeit der Frau besteht,13 doch spielen solche Konkretionen im vorliegenden Falle keine Rolle. Die Frau ist eine Repräsentantin der im Vorfeld angesprochenen Gruppe der Sünder (vgl. Lk 7,34) und das Interesse des Evangelisten besteht 11 Vgl. auch J. Green, Luke, 306. Die Ironie ist, wie die weitere Analyse zeigen wird, in dieser Perikope das dominierende Merkmal lk. Erzählkunst. 12 Inwiefern hier davon ausgegangen werden soll, dass Lukas ein hellenistisch geprägtes Symposion im Sinne einer Disputation vor Augen hat, vgl. etwa J.Green, Luke, 306; W. Radl, Lukas, 491–492, sei dahingestellt. Wichtiger sind das Motiv der Tischgemeinschaft und die damit verbundenen sozialen Aspekte, die ein gewisses Maß an Akzeptanz zwischen dem Gast und dem Gastgeber implizieren. Dieses kann gerade nicht zwischen dem Pharisäer und der Sünderin behauptet werden, die deswegen ungeladen erscheint. Auf diesen Aspekt macht auch J. Green, Luke, 307 aufmerksam. 13 Ggf. ist die Bezeichnung „ἡ ἁμαρτωλός“ ein Synonym für eine Prostituierte, allerdings wird dies nicht deutlich. Zudem kennt Lukas für diesen Zusammenhang den Begriff „ἡ πόρνη“ (Lk 15,30). Anders F. Bovon, Lukas 1, 390, der aufgrund der Formulierung „ἐν τῇ πόλει“ die Sünderin eindeutig als Prostituierte identifiziert. Allerdings übersetzt F. Bovon, Lukas 1, 385 Lk 7,37a auch anders: „Und siehe, eine Frau, die in der Stadt eine Sünderin war […]“. Siehe ebenso J. Green, Luke, 309: „Undoubtedly, this characterization marks her as a prostitute by vocation, a whore by social status, contagious in her impurity, and probably one who fraternizes with Gentiles for economic purposes.“ L. Oberlinner, Begegnungen mit Jesus, 269–273 hingegen verwendet viel Mühe auf die Beweisführung, dass es sich bei der Frau nicht zwangsläufig um eine Prostituierte handelt.
172
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
darin, in narrativer Form den tieferen Sinnzusammenhang der Freundschaft Jesu zu den Sündern zu entfalten.14 Als die Frau erfährt, dass sich Jesus in der Stadt, genauer im Haus des Pharisäers, befindet, reagiert sie, als ob sie von Jesus persönlich gerufen worden wäre.15 Sie bricht zum Haus des Pharisäers auf und nimmt ein Alabastergefäß voll Salböl mit, ein Luxusprodukt von großem materiellem Wert. Die Verwendung des Öls zur Salbung der Füße Jesu ist ein symbolischer Akt: Der Einsatz des denkbar teuersten Guts ist für die Sünderin gerade gut genug, die Füße des Menschensohnes zu salben.16 An eine Salbung des Kopfes mag sie noch nicht einmal gedacht haben.17 Die Kette der Ereignisse, das „Waschen“ der Füße Jesu mit Tränen und Haaren18 der Sünderin, das Küssen und Salben der Füße, soll als Ausdruck ihrer Selbsterniedrigung19 gegenüber Jesus verstanden werden.20 Die Begegnung zwischen ihr und Jesus gestaltet die Frau derart, dass sie sich vollständig Jesus unterordnet und alles, worüber sie verfügen kann, ihren Besitz und ihre Persönlichkeit, Jesus buchstäblich zu Füßen legt. Auffällig ist, dass der Ablauf der Szenerie einen Grad an Erniedrigung und auch Intimität aufweist, der dem öffentlichen Charakter des Mahles diametral gegenübersteht.21 Die Anwe14 Daher ist es auch unerheblich, wie sich die Frau Zutritt in das Haus des Pharisäers verschaffen konnte. Ebenso wie die nähere Charakterisierung der Sünderin überspringt Lukas die technischen Details und konzentriert sich auf das Wesentliche: die Begegnung zwischen Jesus und der Sünderin. 15 Hier spiegelt sich die Struktur von Lk 5,32 wider. 16 Grundsätzlich ist τὸ μύρον ein wertvoller Luxusgegenstand. Vgl. die einschlägigen Belege der LXX: Ex 30,25; 1Chr 9,30; 2Chr 16,14; Jdt 10,3; ψ 132,2; Prov 27,9; Hhld 1,3.4; 4,14; SapSal 2,7; Am 6,6; Jes 25,6; 39,2; Jer 25,10; Ez 27,7. 17 Die Salbung des Kopfes ist im antiken Kontext in erster Linie eine Geste der Gastfreundschaft (vgl. auch den Vorwurf in Lk 7,46), wobei kein teures Salböl verwendet wird. Eine rituelle Salbung im Sinne einer Königs-, Propheten- oder Priestersalbung würde ebenfalls die Salbung des Kopfes verlangen. Dies scheidet also als Interpretationsrahmen ebenso aus wie das Verständnis der Seitenreferenten, die das Geschehen als vorweggenommene Totensalbung deuten. Anders J. Nolland, Luke 1, 354–355, der die Szenerie derart deutet, dass es die Frau nur wagt, am Rande der zu Tische Liegenden aufzutauchen und somit gewissermaßen nur bis zu den Füßen Jesu vordringt, sodass sie das Salböl, das eigentlich für den Kopf bestimmt gewesen wäre kurzerhand über die Füße, die sie mit ihren Tränen gewaschen und den Haaren getrocknet hat, gießt. 18 Während nahezu jeder zeitgenössische Ausleger aufgrund des antiken Kontexts dem Lösen der Haare auch eine erotisch-intime Dimension zuweist, ist W. Radl, Lukas I, 496 in diesem Punkt recht pragmatisch: „So muss sie diese [die Füße S. W.] erst abwischen, und tut dies in Ermangelung eines Handtuchs mit den eigenen rasch aufgelösten Haaren.“ Bei allem erfrischenden Pragmatismus ist hier jedoch dem Gros der Exegeten zuzustimmen. 19 Siehe J. Green, Luke, 313: „All of her actions are performed on Jesus’ feet, that unseemly, unclean part of the body, thus accentuating all the more the extraordinary and humble nature of her attendance to his needs.“ 20 Die Deutung J. Kilgallens, Forgiveness of Sins, 108, der das Motiv der Füße Jesu auf Jes 52,7 bezieht, ist kreativ, aber anhand des lk. Textes nicht wirklich nachzuvollziehen. 21 Zum kulturellen Verständnis der Fußsalbung als Bestandteil eines intimen oder auch er-
6.3 Auslegung
173
senheit des Pharisäers und seiner anderen Gäste wird vollständig ausgeblendet, was sich auch in der rhetorischen Gestaltung der Erzählung widerspiegelt. Das Treffen mit Jesus und die Möglichkeit, ihre Emotionen auszudrücken, scheinen der Frau wichtiger zu sein als alle öffentliche Missbilligung, die ihr Verhalten erregen könnte. Ihre Würde, ihr Besitz, die öffentliche Meinung, all das tritt in den Hintergrund und offenbart die existentielle Bedeutung, die die Frau dieser Begegnung zumisst. Symptomatisch für seine skeptische Rolle gegenüber Jesus und für seine fast schon klischeehafte Ablehnung der Sünderin ist die Reaktion des Pharisäers auf das Geschehen. Er ignoriert die emotionale Dimension des Ereignisses ebenso wie den pekuniären Wert des Salböls,22 er denkt nicht darüber nach, was diese stadtbekannte Sünderin dazu bewogen haben könnte, sich in aller Öffentlichkeit Jesus zu Füßen zu werfen.23 Die Bearbeitung des Ereignisses vollzieht der Pharisäer in Form einer Abgrenzung gegenüber Jesus und der Sünderin, wobei die Betonung des Sünder-Seins der Frau zum Fixpunkt seiner moralischen Verurteilung wird, die auch und gerade auf Jesus angewandt wird. Eine prophetische Begabung muss diesem abgesprochen werden, da er die Frau nicht als die Sünderin erkennt, die sie ist, sonst würde er sich ihr entziehen. Für den Pharisäer genügt offensichtlich allein die Berührung der Sünderin, um den eigenen Status von Reinheit zu gefährden. An Tischgemeinschaft, Fußwaschung und -salbung ist dabei noch nicht einmal zu denken. Indem die Vermutung, Jesus sei ein Prophet, verworfen wird, lassen sich zwei Aspekte der Wirklichkeitsdeutung des Pharisäers identifizieren. Zum einen scheint die Vermutung, Jesus könne ein Prophet sein, der Grund für die Einladung zum Essen gewesen zu sein. Der Pharisäer sah sich wohl in einem inneren Zwiespalt zwischen der Ablehnung Jesu, die unter den religiösen Eliten verbreitet war, und der Begeisterung verschiedener Volksmassen für Jesus, die in ihm einen Propheten sahen, gefangen. Zum anderen wird durch die Überzeugung des Pharisäers, ein Prophet würde die Frau als Sünderin erkennen und sich daraufhin niemals von ihr berühren lassen, deutlich, wie sehr kultische und religiöse Reinheit für ihn mit einem intakten Gottesverhältnis verbunden sind. Diese Reinheit verbietet nicht nur das persönliche Begehen von (Tat-)Sünden, sondern fordert darüber hinaus auch ein SichDistanzieren von allen, die als Sünder gelten. Dadurch schränkt sich der soziale Radius des Einzelnen ein und die Zuwendung, die Jesus den Sündern angedeihen lässt, kann nicht Bestandteil eines gottgefälligen Lebens sein. Die Frage, niedrigenden Verhaltens vgl. die Kommentare zum LkEv; beispielsweise drastisch J. Green, Luke, 310. 22 Hierin äußert sich ein wichtiger Gegensatz zu den Salbungsperikopen der Seitenreferenten, in denen durchweg die durch die Salbung entstandene Geldverschwendung zum Stein des Anstoßes wird. 23 Siehe D. Neale, Non but the Sinners, 144: „Simon is seen to be completely impervious to the moving demonstration of repentance and turns the scene into an opportunity to criticize Jesus.“
174
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
wodurch den Sündern die heilsstiftende Botschaft der μετάνοια näher gebracht werden kann, wenn diejenigen, die sich in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes wähnen, die Sünder aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausschließen, stellt sich für den Pharisäer nicht. Dadurch gerät er nicht nur in Opposition zu Jesus, sondern auch zu Johannes dem Täufer und zum Gros der atl. Propheten. So steht der Pharisäer fest in seinem Urteil, das die Frau auf ihre Vergangenheit festlegt und die Eröffnung einer Zukunftsperspektive frei von vergangener Schuld nicht zulässt. Er ist nicht in der Lage, oder nicht gewillt, die Zeichen der Buße und der Umkehr zu erkennen, und schließt sich nun angesichts des Erlebten der in Lk 7,34 formulierten Kritik an der Zuwendung Jesu zu den Sündern an.24 Durch die Überzeugung, dass ein Prophet niemals Kontakt zu einer Sünderin dulden könne, verunmöglicht der Pharisäer für sich selbst seine positive Relation zu Jesus. Diese würde einhergehen mit der Akzeptanz und letztlich der Nachahmung der Zuwendung Jesu zu den Sündern, die gerade integraler Bestandteil seiner göttlichen Sendung und untrennbar mit seinem Wesen verbunden ist.25 Wird religiöse Reinheit nun im Sinne eines gottgefälligen Verhaltens verstanden, so ist diese nach der Theologie des Lukas einerseits durch die individuelle Abkehr von sündigem Verhalten, andererseits durch die Zuwendung zu den Sündern zur Eröffnung der Möglichkeit zur Umkehr erreicht. Eine innere und äußere Distanzierung, die den Sünder in seiner Sündhaftigkeit verhaftet sein lässt und ihm weder die Gelegenheit zur Umkehr noch die Anerkenntnis der geschehenen Buße angedeihen lässt, ist nach Lukas gerade kein Zeichen der Nachfolge Jesu und kann somit auch nicht als adäquates Gottesverhältnis verstanden werden. Durch das Ignorieren der öffentlichen Zeichen der Umkehr und dem Verharren in der Verurteilung der Sünderin vertauschen der Pharisäer und die Frau letztlich die Plätze: Der Pharisäer entfernt sich von Gott, während die Frau in die Gottesnähe zurückgekehrt ist. Durch die Figurenkonstellation der Perikope in ihrer individuellen Zuordnung zu Jesus wird das jeweilige Gottesverhältnis plastisch zum Ausdruck gebracht. Der Pharisäer repräsentiert in seiner Ablehnung der Sünderin einerseits das Denken und Urteilen der religiösen Eliten, die die Vergewisserung ihrer eigenen Rechtschaffenheit nicht zuletzt in Abgrenzung zur Gruppe der Sünder stiften. Andererseits ist die ablehnende, ausgrenzende und verurteilende Haltung, die der Pharisäer gegenüber der Sünderin einnimmt, kein Spezifikum pharisäischen Selbstbewusstseins, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Durch24 Dem Pharisäer ist jedoch zugute zu halten, dass er sich nicht blind der Distanzierung der religiösen Eliten gegenüber Jesus angeschlossen hat, sondern bereit war, sich selbst ein Bild zu machen. Die Pointe der weiteren lk. Darstellung liegt nun darin, dass das Fehlurteil des Pharisäers auf dessen Unwillen zur Erweiterung des theologischen Horizonts zurückgeht. Somit legt er nicht nur die Frau, sondern auch sich selbst auf die Vergangenheit fest, ohne die Chance des Neuen, die durch das Auftreten Jesu eröffnet wird, zu ergreifen. 25 Vgl. Lk 1,78; 4,16–21; 5,31–32; 15,1–2.7.10; 19,10; 24,46–49.
6.3 Auslegung
175
schnittsmoral, einer allgemeinen Überzeugung dessen, was „sich gehört“.26 Somit wird die Salbungsgeschichte zu einem konkreten exemplum der Ethik Jesu, des Freundes der Zöllner und Sünder, einer Ethik, die sich aufgrund dieser „Freundschaft“ im Widerspruch zu gesellschaftlich-moralischen Konventionen weiß, aber dennoch den Nachfolgern Jesu zur Nachahmung aufgetragen ist. Durch die in der Salbungsgeschichte zum Ausdruck kommende emotionale Tiefe, die die Relation der Sünderin zu Jesus bestimmt, wird einerseits beispielhaft das Gottesverhältnis eines umkehrenden Sünders offenbar, andererseits wirkt die demonstrativ zur Schau gestellte Selbsterniedrigung der Frau im kulturellen Kontext des LkEv befremdlich. Der Evangelist mutet seinen Lesern zu, sich entweder mit der Haltung der Sünderin und der barmherzigen Zuwendung Jesu zu ihr zu identifizieren und sich somit in Distanz zu den herrschenden gesellschaftlich-moralischen Leitlinien zu begeben. Oder sie bleiben innerlich auf Distanz zum geschilderten Geschehen und identifizieren sich somit mit dem Pharisäer, demzufolge sich der Tadel Jesu gegenüber Simon implizit auch gegen die Leserschaft richtet.
6.3.2 Das Gleichnis von den beiden Schuldnern (Lk 7,40–43) Der Tadel wird durch das Gleichnis von den beiden Schuldnern aufgebaut, welches Jesus als Antwort auf das nur in Gedanken gesprochene Urteil des Pharisäers Simon27 formuliert.28 Erst an dieser Stelle beginnt Jesus zu agieren, die Sünderin gerät aus dem Blick und der narrative Fokus der Perikope konzentriert sich auf das Verhältnis zwischen Jesus und dem Pharisäer. Die Replik des Simon auf die Redeeinleitung Jesu ist aufschlussreich. Sein enttäuschtes Urteil über Jesus verbergend, spricht er Jesus unter Einhaltung eines gewissen Maßes an Höflichkeit mit διδάσκαλε an. Doch offenbart diese Anrede im Gesamtzusammenhang des LkEv die Skepsis des Pharisäers, da sie von allen religiösen Eliten, die Jesus gegenüber kritisch eingestellt sind, geteilt wird.29 Grundsätzlich ist die gewählte Anrede jedoch passend, da Jesus damit beginnt, 26 Siehe auch J. Green, Luke, 311: „This Pharisee represents accepted social conventions in the larger Palestine world […].“ F. Bovon, Lukas 1, 390 analysiert richtig, dass die Sünde der Frau, „vor allem eine soziale [ist].“ 27 Der Name des Pharisäers wird unvermittelt eingeführt. 28 Damit verdeutlicht Lukas natürlich die übersinnliche Begabung Jesu, wodurch die Schlussfolgerung, Jesus sei kein Prophet, da er die Geheimnisse der Persönlichkeit nicht erkennen würde, ironisch widerlegt wird; vgl. W. Eckey, Lukas I, 360–361. Rhetorisch geschickt eingeleitet wird dies durch das Verb „ἀποκρίνειν“, womit der Eindruck entsteht, als ob Simon seinen Vorwurf laut formuliert hätte. 29 Vgl. Lk 10,25; 11,45; 19,39; 20,21.28.39. Positiv wird die Anrede nur von Menschen gebraucht, die nicht zu den religiösen Eliten gehören, vgl. Lk 9,38 und besonders 18,18 (διδάσκαλε ἀγαθέ). Lk 12,13 ist hinsichtlich der positiven oder negativen Einstellung gegenüber Jesus indifferent. J. Green, Luke, 311 bewertet die Titulierung Jesu als „διδάσκαλος“ positiver und identifiziert diejenigen, die Jesus dergestalt bezeichnen als „those who are out-
176
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
den Pharisäer über das Geschehen zu belehren und die Ereignisse in den Horizont der Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes einzubetten.30 Das Gleichnis, das Jesus erzählt, beginnt unvermittelt und führt zwei Schuldner an, die einem gemeinsamen Gläubiger jeweils Geld schulden; der eine 50, der andere 500 Denare (vgl. Lk 7,41).31 Das Gleichnis selbst besticht durch die Schlichtheit des Stils: Es wird nicht ausgeführt, inwiefern die Schuldner unter dem Druck der Schulden zu leiden haben, es wird nicht berichtet, dass der Gläubiger den Schuldnern zusetzt und es ist auch keine Rede davon, dass die Schuldner um den Erlass der Schulden bitten. Die beiden Schuldner eint das Unvermögen, den geschuldeten Betrag zurückzubezahlen,32 und so sehen sie sich ihrem Gläubiger ausgeliefert. Dieser nimmt die Tatsache ihrer Ausweglosigkeit zum Anlass, die jeweiligen Schulden zu erlassen (vgl. Lk 7,42). Der Verzicht auf irgendeine Form der Gegenleistung korrespondiert mit der Hilflosigkeit, in der die Schuldner dem Gläubiger gegenüberstehen. Der Gläubiger ist in dieser Konstellation der einzige, der noch über Handlungssouveränität verfügt und dessen Großzügigkeit letztlich der einzige Weg ist, den beiden Schuldnern eine Zukunft zu eröffnen, die nicht durch eine schuldhafte Abhängigkeit und damit durch den Verlust persönlicher Freiheit geprägt ist. Offensichtlich spielt die Frage, ob es sich der Gläubiger leisten kann, solche Summen einfach zu verschenken,33 keine Rolle: Die Generosität des Gläubigers spiegelt wohl die Fülle seines Vermögens wider.34 Die Intention Jesu im Horizont dieses Gleichnisses liegt in der, in ihrer Antwort recht offensichtlichen, Frage nach demjenigen, der den Gläubiger im Anschluss an den Schuldenerlass mehr lieben wird. Interessanterweise redet Jesus nicht von Dankbarkeit, sondern ausdrücklich von lieben (ἀγαπᾶν [Lk 7,42]).35 side the circle of Jesus’ followers but who are open to learning or want to recieve something from him.“ 30 Aus der Perspektive der Feldrede könnte argumentiert werden, dass sich Simon durch die Anrede Jesu mit διδάσκαλε formal richtig einordnet, da er somit die Überlegenheit Jesu anerkennen würde: „οὐκ ἔστιν μαθητὴς ὑπὲρ τὸν διδάσκαλον“. (Lk 6,40a) 31 W. Radl, Lukas I, 497 weist zu Recht auf das im Gleichnis gespiegelte dramatische Dreieck zwischen Jesus, der Sünderin und dem Pharisäer hin. W. Radl, Radl, Lukas I, 490, FN 201 macht im Vorfeld deutlich, dass der Gedanke zurückgeht auf G. Sellin, Gleichniserzähler, 180.183. Vgl. ebenso M. Wolter, Lukasevangelium, 294. 32 Vgl. W. Eckey, Lukas I, 362. 33 In der wissenschaftlichen Literatur begegnen unterschiedliche Aussagen über den Kaufwert eines Denars. Zieht man jedoch Mt 20,2 als Vergleich heran, so symbolisiert ein Denar den Tageslohn eines einfachen Arbeiters. 34 Daneben ist das Gleichnis aufgrund seiner Schlichtheit und den nicht erzählten Aspekten des Verhältnisses zwischen den Schuldnern und dem Gläubiger offen für eine Vielfalt an Interpretationsmöglichkeiten, doch fällt die Ausschöpfung dieser Möglichkeiten eher in den Bereich der Homiletik. 35 Nach J. Jeremias, Gleichnisse, 126 gibt es kein Wort für Dankbarkeit im Hebräischen, Aramäischen und Syrischen, sodass in diesem Zusammenhang auf das Wort „lieben“ zurückgegriffen werden kann. Das erklärt allerdings nicht, warum Lukas, wenn er ausschließlich die
6.3 Auslegung
177
Dankbarkeit dürfte aufgrund der beschriebenen Situation sicherlich mitgedacht sein, doch geht das Motiv des Liebens nicht allein in der Dankbarkeit auf. Die durch ἀγάπη geprägte Relation zwischen dem Gläubiger und seinen ehemaligen Schuldnern entwickelt sich in der wiedergewonnenen Freiheit, die den nun von den Schulden Befreiten die Möglichkeit zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung ohne die Einschränkungen und ohne mögliche Abhängigkeiten gegenüber dem Kreditgeber, die jeweils aus den Schulden erwachsen mögen, eröffnet. Dabei macht der Begriff der ἀγάπη deutlich, dass diese Gestaltungsfreiheit nicht in Vergessenheit des ehemaligen Gläubigers geschieht, sondern in positiver Rückbeziehung auf ihn, der durch den Schuldenerlass die Bedingung der Möglichkeit einer derartigen Gestaltungsfreiheit geschaffen hat.36 Der Frage Jesu zufolge gibt es in Bezug auf die ἀγάπη jedoch quantitative Abstufungen: Es gibt ein Mehr und ein Weniger der Liebe, das mit dem Maß der erlassenen Schuld korreliert.37 Auf Jesus antwortend beschreibt Simon das Offensichtliche und benennt jenen, dem eine größere Schuld erlassen wurde, als denjenigen, der den Gläubiger mehr lieben wird. Der weitere Gesprächsverlauf zeigt, dass Jesus den Pharisäer rhetorisch ausmanövriert hat, um sein Verhalten gegenüber der Sünderin auch nach den Maßstäben des Simon als gerechtfertigt darstellen zu können.38 Die Wendung „ὀρθῶς ἔκρινας“ (Lk 7,43), mit der Jesus zunächst einen Konsens zwischen sich und dem Pharisäer feststellt, ähnelt dem „ὀρθῶς ἀπεκρίθης“ (Lk 10,28), das Jesus gegenüber dem versucherischen Gesetzeslehrer im Zusammenhang mit der Frage nach dem Doppelgebot der Liebe formuliert. Hier wie dort ist die scheinbare Übereinstimmung ein rhetorischer Auftakt zu einer Belehrung des Gesprächspartners, mit dessen Überzeugungen Jesus mitnichten übereinstimmt. Wie sich im weiteren Verlauf der Exegese zeigen wird, ist auch die Anwendung dialektischer Logik eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Lk 7,36–50 und Lk 10,25–37. Dankbarkeit hätte hervorheben wollen, nicht das griechische Wortfeld von „ἡ εὐχαριστία“ verwendet hat. 36 J. Green, Luke, 311–312 interpretiert das Gleichnis im Lichte der antiken Patronatsverhältnisse, in die seines Erachtens auch der Gastgeber aufgrund seines Vermögens als Patron eingebunden sein dürfte. Aus dieser Perspektive symbolisiert der bedingungslose Schuldenerlass eine Infragestellung des alltäglichen sozialen Gefüges. Indem allerdings die Auflösung des Schuldverhältnisses nicht zu einem Abbruch des Kontakts zwischen dem Gläubiger und den entlasteten Schuldnern, sondern zu einer durch ἀγάπη geprägten Relation führt, beschreibt Lukas in den Terminologien des alltäglichen sozialen Gefüges eine Transzendierung desselben, die ausschließlich auf die gnadenhafte Zuwendung des Gläubigers, ergo: Gottes, zurückzuführen ist. Damit schließt sich die gesellschaftlich-soziale Stoßrichtung des Gleichnisses an die provokativen Elemente an, durch die die Feldrede die Alltagsethik des antiken Mittelmeerraumes infrage gestellt hat. 37 Stilistisch wird dies durch einen parallelismus membrorum ausgedrückt: „τίς οὖν αὐτῶν πλεῖων ἀγαπήσει αὐτόν; […] ὑπολαμβάνω ὅτι ᾧ τὸ πλεῖον ἐχαρίσατο.“ (Lk 7,42b–43a). 38 Die rhetorische Struktur erinnert deutlich an das Gespräch zwischen Nathan und David in 2Sam 12,1–15.
178
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
6.3.3 Die Liebe der Sünderin (Lk 7,44–47) Durch den Einbezug der in den Hintergrund geratenen Frau beginnt die Distanzierung Jesu gegenüber dem Pharisäer. Während er noch mit Simon spricht, wendet er sich bereits von ihm ab und der Frau zu. Die in Lk 7,44–46 begegnende Rede Jesu ist durch die Gegenüberstellung der Handlungen der Frau und der ausgebliebenen Taten des Pharisäers geprägt. So wirft Jesus Simon vor, nicht nur dem Vergleich mit der Sünderin nicht standzuhalten, sondern darüber hinaus auch die Regeln der Gastfreundschaft missachtet zu haben. Dem gegenüber wird das Verhalten der Sünderin als überaus positiv gekennzeichnet. Während der gesellschaftlich etablierte Gastgeber seinem Gast nicht einmal das zu erwartende Maß an Höflichkeitsbezeugungen39 erwiesen hat, entäußerte sich die gesellschaftlich verachtete Sünderin durch ein überschwängliches Maß an Liebesbezeugungen, die durch und durch von Demut geprägt waren. In der Auflistung der bisher nicht bekannten Versäumnisse des Pharisäers, gewinnt die Rede Jesu den Charakter einer Anklage und wird dadurch zum Pendant der in Gedanken formulierten Verurteilung, die Simon gegenüber Jesus und der Sünderin vorgenommen hat (vgl. Lk 7,39). Abstrahiert man die narrative Szenerie auf den Symbolgehalt der Protagonisten, so wird deutlich, dass es hier mitnichten um die Frage nach gesellschaftskonformem Handeln und somit um das öffentliche Ansehen Jesu oder um einen Skandal im Hause des Pharisäers geht. Vielmehr steht die existentiell grundsätzliche Haltung des einzelnen Menschen gegenüber dem Gottessohn40 zur Disposition. 39 I. e. Wasser für die Füße, einen Begrüßungskuss und (Oliven)Öl für die Salbung des Kopfes (vgl. Lk 7,44–46). Anders M. Wolter, Lukasevangelium, 295–296, der darin keinen Tadel gegenüber Simon erkennen kann, da solche Zeichen der Gastfreundschaft nicht ohne weiteres üblich waren. Demgegenüber ist jedoch in Betracht zu ziehen, dass die lk. Argumentation eben auf diese diametrale Gegenüberstellung aufbaut und das „Mehr“ der Sünderin im „Viel-zu-Wenig“ des Pharisäers sein Gegenstück findet. Somit macht Lukas implizit deutlich, dass die Gesten der Gastfreundschaft durchaus erwartbar gewesen wären, wohl nicht zuletzt gegenüber einem Gast, der möglicherweise ein Prophet hätte sein können. Auf der relationalen Ebene offenbart sich darin ein defizitäres Verhältnis des Pharisäers zu Jesus als dem Gottessohn. 40 Die Gottessohnschaft Jesu wird in dieser Perikope expressis verbis nicht thematisiert. Jedoch wird durch den Zuspruch der Sündenvergebung die Frage nach der Person Jesu aufgeworfen (vgl. Lk 7,49); eine Frage, die bereits in Lk 5,17–26 ebenfalls im Zusammenhang mit der Sündenvergebung implizit deutlich und von Jesus durch die Selbstbezeichnung „Menschensohn“ beantwortet wird. Indem nun der Begriff „ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου“ (Lk 5,24) im skizzierten Zusammenhang verwendet wird, muss hier von einer messianisch konnotierten Bezeichnung, und eben nicht von einer profanen Bedeutung im Sinne von „einer wie ihr“, ausgegangen werden. Folgt man nun der Erzähllogik des Evangelisten, so lassen sich zwei Aspekte festhalten: Auf der narrativen Ebene scheint die Frau aus Lk 7,36–50 darüber Kenntnis zu haben, dass Jesus die Sünder in liebender und vergebender Weise annimmt. Dass die Vergebung der Sünden Gott allein respektive einer messianischen Gestalt zukommt, ist für sie kein Grund, Jesus abzulehnen (vgl. im Gegensatz dazu Lk 5,21). Vielmehr scheint sie der vergebenden Annahme durch Jesus zu trauen und ihm so, zumindest implizit, die Vollmacht zur
6.3 Auslegung
179
Während die religiöse Elite in Gestalt des Pharisäers versagt, sind es die verachteten Sünder, die eine adäquate Relation zu Jesus aufgebaut haben. Dabei steht das „Mehr“ an Liebesbezeugungen, das durch die nahezu schon schmerzlich übertriebene emotionale Szenerie der öffentlichen Fußsalbung symbolisiert wird, in Äquivalenz zu dem „Mehr“ an Schuld, das die Sünderin auf sich geladen hat.41 Wie an allen anderen Stellen des LkEv, an denen eine Begegnung zwischen Jesus und den Sündern geschildert wird, äußert der Evangelist auch hier keinen Zweifel an dem Faktum der Sündhaftigkeit der Frau.42 Ebenso würde er auch das grundsätzlich Negative eines sündhaften Lebenswandels niemals infrage stellen. Wichtig ist jedoch die Offenheit Jesu gegenüber den Sündern und die Hinwendung der Sünder zu Jesus, die im Vollzug der Umkehr gestaltet wird. „Ohne das heilsgeschichtliche Werk Jesu Christi ist die Vergebung unmöglich, aber ohne die menschliche μετάνοια ist sie nicht zu verwirklichen.“43 So konstatiert Jesus am Ende seiner Rede in Lk 7,47, dass die Frau Vergebung ihrer vielen Sünden erfährt, weil sie durch ihre Taten viel Liebe gezeigt hat. Lukas bringt das Verhältnis von Liebe, hier ausgedrückt in den Taten der Umkehr, und Vergebung auf einen prägnanten Nenner: „ἀφέωνται αἱ ἁμαρτίαι αὐτῆς αἱ πολλαί, ὅτι ἠγάπησεν πολύ· ᾧ δὲ ὀλίγον ἀφίεται, ὀλίγον ἀγαπᾷ.“ (Lk 7,47) Die Vergebung der Sünden, die hier aufgrund der gezeigten Liebe grundsätzlich konstatiert ist, wird in Lk 7,48 konkret im Modus eines performativen Sprechaktes zugesagt.
6.3.4 Die Vollmacht zur Sündenvergebung (Lk 7,48–50) Der Zuspruch der Sündenvergebung in Lk 7,48 ist nicht nur eine gegenüber der Frau formulierte Bestätigung dessen, was bereits in Lk 7,47 dargelegt wurde und bezieht sich auch nicht auf ein bereits in der Vergangenheit zurückliegenVergebung und damit eine messianische Existenz zuzutrauen. Auf der Ebene der nachösterlichen Adressaten des LkEv, die natürlich auch die ersten Kapitel des Evangeliums gelesen haben, ist es selbstverständlich unzweifelhaft, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Somit ist es nur folgerichtig, dass sich die Auslegung der Perikope auf die Identifikation Jesu als Gottessohn stützt und zwar auch dann, wenn die Perspektive der narrativen Ebene eingenommen wird. Liegt doch die Pointe der Perikope nicht zuletzt in der Frage, wie sich der Einzelne zu dem in göttlicher Vollmacht handelnden Jesus verhält; sei es auf narrativer Ebene oder auf Ebene der Adressaten. J. Nolland, Luke 1, 358–359 betont in diesem Zusammenhang die eschatologische Autorität Jesu, die sich im Kontext der Perikope gerade durch die Verbindung zu Lk 7,16 ergibt. 41 M. Wolter, Lukasevangelium, 295 argumentiert, dass die Identifikation der Sünderin mit dem Schuldner des Gleichnisses, der mehr Schulden besaß, zutreffend ist. Allerdings, so M. Wolter, führt dies nicht automatisch dazu, den Pharisäer mit dem anderen Schuldner zu identifizieren. In Aufnahme von O. Hofius betont M. Wolter, dass „Simon von der Frau sich nicht dadurch [unterscheidet], dass er weniger getan hat als sie; vielmehr hat er überhaupt nichts getan.“ Anders beispielsweise U. Wilckens, Vergebung für die Sünderin, 397. 42 Vgl. Lk 15,11–32; 19,1–10; 23,33–43. 43 F. Bovon, Lukas 1, 247.
180
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
des Ereignis, das nur noch einmal in Erinnerung gerufen wird. Vielmehr findet die Sündenvergebung im Moment des Zuspruchs statt44 und bildet somit den Höhepunkt der Perikope, der durch die Erläuterungen in Lk 7,47 vorbereitet wurde. „Mit einem Federstrich wischt er [Lukas S. W.] alle Spekulationen über den ὅτι-Satz in V 47 vom Tisch. Denn erst jetzt werden der Frau im Vergebungswort Jesu, wie V 49 bestätigen wird, die Sünden nachgelassen.“45 Damit ist Lk 7,48 nicht nur sprachlich, sondern auch sachlich eine Parallele zu Lk 5,20:46 Hier wie dort ist der Glaube im Sinne eines überaus großen Vertrauens gegenüber Jesus das ausschlaggebende Kriterium, das den Einzelnen an der Sündenvergebung partizipieren lässt. Die Reaktion der im Haus des Pharisäers Anwesenden angesichts der vollzogenen Sündenvergebung offenbart einerseits, dass sie mit dem Gastgeber die Unkenntnis über das wahre Wesen Jesu teilen, und erscheint im Licht von Lk 5,21 andererseits nicht nur als verwundertes Erstaunen, sondern vielmehr als Skepsis, möglicherweise sogar als Ablehnung gegenüber Jesus.47 Dessen Reaktion auf diese vorwurfsvolle Frage ist vielschichtig: „ἡ πίστις σου σέσωκέν σε· πορεύου εἰς εἰρήνην“ (Lk 7,50). Grundsätzlich ist dies als eine Art der Ermutigung gegenüber der Frau zu verstehen und vergewissert sie der Teilhabe an einem Frieden zwischen ihr und Gott.48 Redaktionell schafft Lukas durch diesen Satz eine Verbindung zu weiteren Perikopen in seinem Evangelium, in denen Jesus stets einen Erweis seiner göttlichen Vollmacht erbringt.49 Dabei findet der Machterweis allerdings in Form von Wunderheilungen und nicht anhand einer Sündenvergebung statt. Doch ergänzt die Vergebung die Reihe der Wunderheilungen in dem Sinne, als dass sie ebenfalls auf die Göttlichkeit Jesu und sein Wesen als Offenbarung der barmherzigen Zu44 Anders
F. Bovon, Lukas 1, 395, der die Verwendung des Perfekts dahingehend versteht, dass Lukas am Faktum der Vergebung interessiert ist, aber nicht am Zeitpunkt, an dem die Vergebung konkret stattgefunden hat. Vgl. ähnlich auch J. Green, Luke, 313–314: Hier ist der Pharisäer der Adressat des Gesagten, damit auch ihm die Vergebung, die die Frau erfahren hat, deutlich wird. J. Kilgallen, Proposal, 327 verweist in diesem Zusammenhang auf den Glauben, der die notwendige Bedingung der Sündenvergebung darstellt. Indem nun die Frau in Lk 7,38 ihren Glauben gegenüber Jesus erweist, kann Jesus davon ausgehen, dass der Frau vergeben ist: „[B]ut what we know is that she expressed faith in Jesus in 7,38, so that becomes the focal point of Jesus’s knowledge that she has the faith necessary for forgiveness, and thus has been forgiven.“ In diesem Fall wäre Jesus jedoch nicht derjenige, der die Sündenvergebung zuspricht, sondern derjenige, der sie lediglich konstatiert. 45 W. Radl, Lukas I, 499. 46 W. Radl, Lukas I, 499 weist ebenfalls auf diese sachliche Parallele hin. 47 Im Gegensatz zu Lk 5,21 fehlt in Lk 7,49 der Vorwurf der βλασφημία, doch ist den Lesern des LkEv an dieser Stelle klar, dass die Szenerie eine verkürzte Wiederholung des in Lk 5,20–26 Geschilderten ist. Ähnlich M. Wolter, Lukasevangelium, 296–297. 48 Siehe F. Bovon, Lukas 1, 396: „‚In Frieden‘ gehen heißt, daß sie [die Gläubigen S. W.] in eine Gemeinschaft hineingerufen sind und daß Christus auch in seiner Abwesenheit die Seinen nicht verlässt.“ 49 Vgl. Lk 8,48; 17,19; 18,42.
6.3 Auslegung
181
wendung Gottes zu den Menschen verweist.50 Somit wird deutlich, dass nicht nur körperlich-gesundheitliche Defizite, sondern auch innerlich-seelische Problemstellungen durch die Liebe Gottes aufgefangen und geheilt werden. Darüber hinaus ist die Zusage an die Frau auch eine Antwort auf die skeptisch-zurückweisende Haltung, die die Gäste des Simon Jesus gegenüber einnehmen. Während in Lk 5,20–26 Jesus sich dem Vorwurf der Pharisäer und Schriftgelehrten stellt und den Besitz seiner göttlichen Vollmacht zur Sündenvergebung durch die Wunderheilung des Gelähmten beweist, wird in Lk 7,36–50 auf einen solchen Beweis verzichtet. Vergleicht man Lk 5,17–26 mit Lk 7,36–50, so ist in beiden Fällen der Glaube das entscheidende Moment, das zum Vollmachtserweis Jesu führt. Und in beiden Fällen wird das Motiv des Vertrauens in Jesus als wichtiges Charakteristikum des Glaubens ausgewiesen, während die Pharisäer, als Antagonisten gekennzeichnet, Jesus nur Misstrauen und Unglauben entgegenbringen. Indem der lk. Jesus den Glauben der Frau rühmt, wird diese als Vorbild stilisiert. Doch konzentriert sich die theologische Argumentation von Lk 7,36–50 nicht auf die Wunderkräfte Jesu, was andernfalls zu einer thematischen Doppelung geführt hätte, sondern der Fokus liegt auf der ἀγάπη, die der Mensch Gott gegenüber erweist und die als Ausdruck des menschlichen Glaubens zu verstehen ist. Dadurch, dass es Jesus ist, der die Sünden vergibt, dadurch, dass es Jesus ist, dem die Liebeserweise der Frau gelten, dadurch, dass die Salbung als eine Art Bekenntnis zu Jesus stilisiert wird, hebt der Evangelist die Gottessohnschaft Jesu hervor und macht unausgesprochen klar, dass der hier positiv hervorgehobene Glaube sowohl Glaube an Gott als auch Glaube an Jesus ist.51 Somit verschwimmt die Trennlinie zwischen Gott und Gottessohn und die christologische Umstrukturierung des atl. Glaubensbegriffs52 wird in der Diskussion um die Sündenvergebung fassbar. Der rettende Glaube ist durch ein grenzenloses Vertrauen in Jesus charakterisiert, das existentielle Tiefe besitzt und Jesus nicht nur die Vollmacht zur Vergebung der Sünden oder zu einem Wunderwirken zutraut, sondern darüber hinaus auch die Sendung Jesu als des Sohnes Gottes akzeptiert. Darin spiegelt sich das Ende der Feldrede wider, das durch das Hausbaugleichnis geprägt ist (Lk 6,47–50). Derjenige, der zu Jesus 50
Wiederum sei hier an Lk 5,17–26 erinnert, da dort die theologische Überzeugung zum Ausdruck kommt, dass die Vollmacht zur Sündenvergebung allein Gott zukommt. Ist Jesu Zuspruch der Sündenvergebung gegenüber dem Gelähmten (Lk 5,20) eben nicht, wie die Schriftgelehrten und Pharisäer meinen, ein Ausdruck von Blasphemie (Lk 5,21), sondern eben ein Erweis der Göttlichkeit Jesu, so reiht sich auch die in Lk 7,47–50 zugesprochene Vergebung in die Reihe der Taten Jesu, die allein in göttlicher Vollmacht vollbracht werden können, ein. Im Prinzip könnte die Sündenvergebung für den Pharisäer Simon erkenntnisleitend sein, um das wahre Wesen Jesu zu erfassen. Freilich wird dies durch die innere (wie äußere) Distanzierung des Simon gegenüber Jesus verunmöglicht. 51 Vgl. auch U. Wilckens, Vergebung für die Sünderin, 408–409. 52 Ähnlich J. Kilgallen, Forgiveness of Sins, 108.
182
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
kommt und sich seinem Willen gemäß verhält, wird eschatologische Rettung erfahren. Die Formel „ἡ πίστις σου σέσωκέν σε“ bringt die im Hausbaugleichnis beschriebene Struktur von Glaube im Sinne von Vertrauen, Gehorsam und Rettung auf einen prägnanten Nenner. Der Glaube an Jesus ist dabei stets auch der Glaube an Gott, da der Offenbarung Gottes in Jesus Christus vertraut wird. Zusammengefasst lässt sich konstatieren, dass für Lukas der Glaube an JHWH den Glauben an Jesus als den Christus impliziert. Somit kann, ja muss auch die Vergebung der Sünden, die nur Gott stiften kann, mit dem Glauben an Jesus und der Zusage der Vergebung durch Jesus einhergehen. Während die Vergebung der Sünden durch Jesus für die Anwesenden im Hause des Pharisäers einen Anstoß darstellt,53 ist die Vergebung im Namen Jesu ein Charakteristikum der lk. Gemeinde, wie der nachösterliche Auftrag des lk. Jesus an seine Jünger zeigt (vgl. Lk 24,47). Dort wird die Verbindung von Umkehr und Sündenvergebung im Namen Jesu als zentraler Bestandteil der Verkündigung über den Auferstandenen genannt; eine Beauftragung, die auch in den Acta ihre Spur hinterlässt.54 Im Blick auf die Perikope als Ganzes ergeben sich abschließend einige Fragen. So muss zunächst diskutiert werden, ob der Zuspruch der Vergebung der Sünden, der auf den Erweis der Liebe folgt, nicht im direkten Gegensatz zur Aussage des Gleichnisses von den beiden Schuldnern steht. Daneben soll das Verhalten der Frau gegenüber Jesus im Lichte der Sündenvergebung nochmals genauer analysiert werden. Inwiefern kann hier, wie bereits geschehen, von den Motiven der Umkehr (μετάνοια) und der Demut (ταπεῖνωσις) gesprochen werden, obgleich die beiden Stichworte mitsamt ihren Wortfeldern, in der gesamten Perikope nicht erwähnt werden. Welche inhaltliche Bedeutung kann im vorliegenden Zusammenhang dem Verb „ἀγαπᾶν“ zugemessen werden? Inwieweit kann das in Lk 7,36–50 geschilderte Geschehen in einen theologischen Gesamtzusammenhang des LkEv eingebettet werden? Der Rede von der vielfältig erwiesenen Liebe der Frau folgt die Aussage über den, der nur wenig liebt und dem daraufhin nur wenig vergeben werden kann. Reicht der durch parallele Vergleiche strukturierte Kontrast zwischen dem Pharisäer und der Sünderin bis Lk 7,47b und wenn ja, gegenüber wem hätte sich der Pharisäer nicht liebevoll 53
Zwei nachdenkenswerte Aspekte seien an dieser Stelle lediglich genannt. Zum einen ist es auffällig, dass in der lk. Darstellung der pharisäischen Kritik an Johannes dem Täufer niemals dessen Beauftragung zur Sündenvergebung (vgl. Lk 1,77) thematisiert wird. Wahrscheinlich suggeriert Lukas dadurch, dass einzig Jesus die Vergebung aus eigener Vollmacht heraus zugesprochen habe. Zum anderen bleibt die Frage unbeantwortet, wie die Vergebung der Sünden in der pharisäischen Theologie erlangt werden konnte. Der Tempelkult dürfte dabei, vor allem zur Zeit des Lukas, keine Rolle gespielt haben. 54 Die Rede von der Vergebung begegnet in Act 2,38; 3,19.26; 5,31; 8,22; 10,43; 13,38; 26,18 u. ö. Der Verweis auf den Namen Jesu im Sinne einer autoritativen Rückbindung der Taten der Apostel an den Auferstandenen ist ein tragendes Element der Theologie in den Acta; vgl. Act 2,21; 8,16; 9,28; 15,26; 19,5.13.17; 21,13.
6.4 Liebe und Vergebung
183
genug gezeigt? Oder ist Lk 7,47b wiederum im Sinne des Gleichnisses zu verstehen, wodurch mangelnde Liebe ein geringes Quantum an erfahrener Vergebung belegt? Letztlich soll es um die Klärung des Zusammenhangs von Liebe und Vergebung gehen.
6.4 Liebe und Vergebung 6.4.1 Die Liebe als Folge der Vergebung In Auseinandersetzung mit der Perikope von der Salbung durch die Sünderin lässt sich innerhalb der exegetischen Diskussion kein Konsens darüber finden, wie der Zusammenhang zwischen Lk 7,42–43 und Lk 7,47 plausibel zu erklären wäre.55 Auf der einen Seite findet sich die Ansicht, dass das Gleichnis von den beiden Schuldnern grundsätzlich beschreibt, wie das Miteinander, besser: das Nacheinander von Vergebung und Liebe zu strukturieren ist. Der Liebe dessen, der der Vergebung bedürftig ist, gegenüber dem, der die Macht zur Vergebung hat, geht die Vergebung selbst voraus. Je größer die zu vergebende Schuld, desto größer ist die resultierende Liebe. Daraus kann nur geschlossen werden, dass die Sünderin ein hohes Maß an Vergebung durch Jesus erfahren hat, bevor sie in das Haus des Pharisäers eintrat, da die Fußsalbung, und das ist unstrittig, als Ausdruck ihrer großen Liebe gegenüber Jesus zu verstehen ist.56 Grammatisch ließe sich diese Deutung belegen, insofern Lk 7,47a als kausales Satzgefüge mit der Struktur einer „Folgerung-Grund-Beziehung“57 verstanden wird. So würde Jesus den Pharisäer im Anschluss an das Gleichnis darüber belehren, dass die erwiesenen Liebestaten der Frau doch auch für den Pharisäer selbst als Erkenntnisgrund der bereits gestifteten Vergebung hätten dienen müssen. Schließlich wurde anhand der Deutung des Gleichnisses, die Simon vorgenommen hat (vgl. Lk 7,43a), ein Konsens zwischen Jesus und dem Pharisäer festgestellt (vgl. Lk 7,43b). Somit müsste Simon sich selbst eingestehen, dass seine Geringschätzung gegenüber Jesus einerseits und der Frau ande55 M. Wolter, Lukasevangelium, 296 erkennt einen aus redaktionellen und überlieferungsgeschichtlichen Gründen entstandenen Widerspruch, der logisch nicht geklärt werden kann; vgl. auch W. Eckey, Lukas I, 363. 56 So z. B. J. Green, Luke, 313; Radl, Lukas I, 495 (ganz im Widerspruch dazu aber S. 499); J. Kilgallen, Forgiveness of Sins, 108; etwas zurückhaltend R. Tannehill, LukeActs I, 118. J. Nolland, Luke 1, 358.361 betont, dass die Perikope nur dann verständlich sit, wenn davon ausgegangen wird, dass die Frau bereits die zu Beginn von Lk 7 thematisierte Bußtaufe des Johannes empfangen hat und nun in Jesus, die Visitation Gottes bei seinem Volk repräsentiert, das einzog adäquate Gegenüber für ihre Dankbarkeit hinsichtlich der erfahrenen Vergebung erkennt. 57 H. v. Siebenthal, Grammatik, § 333d. In diesem Sinne auch J. Jeremias, Gleichnisse, 126; D. Neale, None but the Sinners, 146; H.‑J. Eckstein, Aspekte,72–73.
184
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
rerseits (vgl. Lk 7,39) ungerechtfertigt gewesen ist; ein Eingeständnis, das im Licht von Lk 7,43 durchaus den Wertmaßstäben des Pharisäers gerecht werden würde. Im Sinne dieser Auslegung ginge es Jesus lediglich darum, Simon dazu anzuleiten, diese Wertmaßstäbe auch konsequent anzuwenden. Mit dieser Interpretation würde die Perikope einer einheitlichen Logik folgen, deren Grundsatz durch das Gleichnis von den beiden Schuldnern formuliert und in Interpreta tion der Begegnung Jesu mit der Frau fortgeführt werden würde. Doch blieben damit drei kritische Punkte offen: Zum einen müsste geklärt werden, wieso hier ein vollständiger Konsens zwischen dem jesuanischen und dem pharisäischen Standpunkt im Umgang mit den Sündern formuliert wird, während sich Jesus und die Pharisäer im gesamten restlichen LkEv in dieser Frage stets unversöhnlich gegenüberstehen. Sollte der Evangelist wirklich von einer Übereinstimmung zwischen Jesus und dem Pharisäer ausgegangen sein, dann wäre Simon entweder eine besonders wichtige Gestalt in der lk. Gemeinde und gewissermaßen der Archetyp der in in den Acta begegnenden christusgläubigen Pharisäern, oder es müsste dem Evangelisten ein Widerspruch in seiner theologisch-narrativen Struktur vorgeworfen werden. Da sich die erzählerische Komposition des Lukas ansonsten durch große Sorgfalt auszeichnet und Simon deutlich als Antagonist der Perikope hervortritt, kann hier mitnichten von einem solchen Konsens gesprochen werden. Zum anderen wird nicht deutlich, wann die Vergebung der Sünden stattgefunden haben soll. Es gälte hier, eine erzählerische Lücke zu füllen, wenn Lk 7,48 nicht im Sinne eines performativen Sprechaktes, sondern lediglich in Form einer öffentlichen Proklamation eines bereits vollzogenen Ereignisses verstanden werden soll. Am plausibelsten wäre es, die Sündenvergebung schon vor Lk 7,36 als vollzogen anzunehmen, sodass die Dankbarkeit der Frau gegenüber Jesus, die sie noch nicht zum Ausdruck bringen konnte, die Motivation für ihr Eindringen in das Haus des Pharisäers wäre. Die Aussage „ἀφέωνταί σου αἱ ἁμαρτίαι“ (Lk 7,48) würde der Frau selbst nichts Neues mitteilen, sondern wäre in erster Linie an die übrigen Anwesenden gerichtet, damit auch sie die Frau nicht mehr als Sünderin wahrnehmen würden.58 Damit käme Lk 7,48 einzig die Bedeutung einer sozialen Rehabilitation der ehemaligen Sünderin zu,59 wodurch der Relativsatz in Lk 7,37a auch dergestalt übersetzt werden könnte: „Und siehe, eine Frau, die galt in der Stadt als eine Sünderin.“ Infolge dessen ließe sich eine thematische Klammer um die Perikope schließen, die die Kritik an der sozialen Ausgrenzung der Frau zum Thema hätte.60 58
So die Position von J. Green, Luke, 313–314; D. Bock, Luke I, 705.
59 Vgl. J. Kilgallen, Forgiveness of Sins, 106.114. 60 Siehe J. Green, Luke, 314: „She does not need forgiveness
from God, but she does need recognition of her new life and forgiveness among God’s people.“ Wieso die Jesus gegenüber kritisch eingestellte Tischgemeinschaft im lk. Denken zu „God’s people“ gehören sollte, lässt J. Green leider offen. Zudem müsste gefragt werden, ob die jesuanische Kritik sich nur
6.4 Liebe und Vergebung
185
Darüber hinaus würde eine konsequent eindimensionale Anwendung der aus dem Gleichnis erwachsenen Verhältnismäßigkeit von Liebe und Vergebung spätestens in Lk 7,47b zu einem theologischen Problem führen. Die Aussage, dass demjenigen, der wenig liebt nur wenig vergeben worden ist, ist aus der Perspektive des Gleichnisses zunächst nicht negativ zu verstehen. Schließlich ist das Maß der aus der Vergebung resultierenden Liebe direkt abhängig von der Höhe bzw. Schwere der zuvor vergebenen Schuld. Betrachtet man diesen Zusammenhang aus der Perspektive dessen, der dem Gläubiger nur 50 Denare schuldig war, so ist sein geringeres Maß an Liebe gegenüber dem Gläubiger schlussendlich nur ein Erweis dafür, dass seine Schuld geringer war als die des anderen Schuldners. Auf das Motiv der Sünde übertragen folgt daraus zwangsläufig, dass derjenige, der wenig Liebe gegenüber Jesus respektive Gott zeigt, im höheren Maße rechtschaffen war, als derjenige, der mehr liebt. Das steigende Maß der Rechtschaffenheit gegenüber Gott müsste notwendig einhergehen mit einem abnehmenden Maß an Liebe, sodass letzten Endes ein Sündloser keinerlei Gottesliebe mehr empfinden würde. Damit würde eine logische Engführung der Perikope in eine contradictio in se führen. Um die Sinngehalte der Perikope adäquat erfassen zu können, muss also von einem vielschichtigen logischen Konzept ausgegangen werden, das sich nicht allein in den Strukturen des Gleichnisses erschöpft. Es bleibt zunächst festzuhalten, dass das Gleichnis von den beiden Schuldnern von einer Liebe der Schuldner gegenüber ihrem Gläubiger spricht, die einerseits in Abhängigkeit zur Größe der erlassenen Schuld steht und sich andererseits erst durch den Schuldenerlass entzündet. Die Auflösung des Schuldverhältnisses ist ein selbstbestimmter Akt des Gläubigers, dem in der vorliegenden Personenkonstellation als Einzigem noch Handlungssouveränität zu eigen ist. Die Schuldner sehen sich aufgrund ihrer Schulden in einer Lage, die ihnen gegenüber ihrem Gläubiger keinerlei Handlungsspielraum mehr erlaubt und die letztlich durch eine vollständige Abhängigkeit gegenüber dem Gläubiger gekennzeichnet ist. Dabei suggeriert die Rede von den Schulden zum einen die Eigenverantwortung der Schuldner für ihre Situation, zum anderen auch eine im juristischen Sinne unzweideutige Lage. Die Liebe, die die Schuldner angesichts der erlassenen Schulden gegenüber dem generösen Gläubiger empfinden, umfasst ein breites Spektrum von Dankbarkeit bis hin zur Freude über die wiedergewonnene Handlungsfreiheit; eine Freiheit, die natürlich nur in Abhängigkeit zum (ehemaligen) Gläubiger überhaupt erreicht werden konnte. Auch wenn die finanzielle und somit die juristische Schuld gegenüber dem Gläubiger aufgelöst daran entzündet, dass die Ausgrenzung aufgrund der bereits geschehenen Vergebung ungerechtfertigt wäre. Konsequenterweise müsste dann aber davon ausgegangen werden, dass der lk. Jesus grundsätzlich keine Bedenken gegen die soziale Diskriminierung von Sündern hätte; eine Hypothese, die ansonsten für das LkEv durchweg unhaltbar wäre; Man denke allein an den Kontext der Perikope Lk 7,24–36.
186
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
ist, bleibt doch ihm gegenüber eine moralische Verpflichtung bestehen. Das Entgegenkommen des Gläubigers ist die Bedingung der Möglichkeit einer sich neu eröffnenden Lebensperspektive.61 Dabei korrespondiert die dargestellte Vergebungsbereitschaft mit der Charakterisierung Gottes als des barmherzigen Vaters, der sich seinerseits als vergebend erweist (vgl. Lk 6,35–36). Die im Gleichnis festgestellte schuldbeladene Verantwortung der Schuldner einerseits und die Konzentration auf das vergebende, befreiende Handeln des Gläubigers andererseits, ist letztlich eine narrative Ausführung der in der Feldrede verankerten Skizze Gottes. Diese neue Perspektive, die notwendig ein Abschließen mit den alten, durch schuldhafte Verstrickung geprägten Lebensumständen beinhaltet, erfährt auch die in der Perikope beschriebene Sünderin. Im Zuge der vollmächtigen Vergebung ihrer Sünden durch Jesus eröffnet sich ihr eine neue Qualität der Selbst-, Nächsten- und Gottesbeziehung, zu der sie aus eigener Kraft keinen Zugang gefunden hätte. Sprachlich wird dies dadurch deutlich, dass Jesus sie niemals als Sünderin anredet, sondern ihre Sünden nur im Zusammenhang der Vergebung derselben anspricht. Dass dies vor der versammelten Tischgesellschaft geschieht, ist sicherlich nicht nur als öffentlicher Machterweis Jesu zu deuten, sondern auch im Hinblick auf die gesellschaftlich-soziale Reintegration der ehemaligen Sünderin hin zu lesen. Unzweifelhaft spiegelt Jesus in dieser Situation die Rolle des Gläubigers wider, wodurch nicht nur die Identifikation Jesu als des Gottessohnes vorangetrieben,62 sondern auch ein Licht auf das lk. Verständnis von Sünde als einer Schuld bei Gott geworfen wird. Während das Gleichnis der beiden Schuldner, wie bereits ausgeführt, die Auflösung der Schuld durch den Gläubiger zum Thema hat und somit der Fokus auf die Handlungsvollmacht Gottes gelegt wird, konzentriert sich in der Szenerie der Salbung Jesu durch die Sünderin der Blick auf das, was dem Sünder hinsichtlich seiner Vergebung im Gegenüber zu Gott zu tun verbleibt. Rückt man ab von einer lutherisch-dogmatischen Lesart der Perikope, wodurch die Passivität des Sünders zu einem notwendigen Bestandteil des Vergebungsereignisses stilisiert wird und somit auch das Verhalten der Frau, analog zu dem der Schuldner im Gleichnis, nur als Dankbarkeit der bereits geschehen Vergebung verstanden werden dürfte, so erscheint die Perikope Lk 7,36–50 als die Beschreibung zweier Seiten derselben Medaille, die von der Liebe des Menschen zu Gott geprägt ist.63 61 Es liegt auf der Hand, dass vor allem protestantische Exegeten nur ungern einen anderen Zusammenhang von Liebe und Vergebung in der vorliegenden Perikope erkennen wollen. Schließlich ist das, was im Gleichnis von den beiden Schuldnern geschildert wird nichts weniger als die narrative Ausgestaltung der lutherischen Rechtfertigungslehre. Vgl. z. B. H.‑J. Eckstein, Aspekte, 74. 62 Vgl. die verblüffte Frage der Tischgenossen in Lk 7,49, auf die die Leser des LkEv natürlich eine klare Antwort geben können. 63 M. Zugmann, Changing the Perspective, 206–207 plädiert ebenfalls für eine doppelte Perspektive auf die Zusammenhänge zwischen Liebe und Vergebung: „Maybe Luke wants to
6.4 Liebe und Vergebung
187
6.4.2 Die Liebe als Bedingung der Vergebung Die durch die Sündenvergebung restituierte Beziehung zwischen Gott und Mensch ist nicht nur vonseiten Gottes, sondern gerade auch vonseiten des Menschen durch das Motiv der ἀγάπη geprägt. Derjenige, der Vergebung durch Gott erfahren hat, begegnet diesem, gemäß der Aussage des Gleichnisses, mit einem Maß an ἀγάπη, das mit dem Maß der Vergebung korreliert (vgl. Lk 7,42–43). Dabei dürfte im Sinne des Gleichnisses Dankbarkeit ein wichtiger Zug dieser durch ἀγάπη geprägten Relation sein, ebenso wie das Bewusstsein der existentiellen Abhängigkeit von Gott sowie die Freude über die unverdient geschenkte Vergebung. Mit Blick auf das Verhalten der Sünderin, das der Sündenvergebung vorausgeht, formuliert Jesus gegenüber dem Pharisäer, dass der Frau ihre vielen Sünden vergeben werden, da sie viel Liebe gezeigt hat (vgl. Lk 7,47a). Demgegenüber werden jenem, der nur wenig liebt, auch nur wenige Sünden vergeben (vgl. Lk 7,47b). Wie in der Exegese bereits ausgeführt wurde, ist weder Lk 7,47a noch Lk 7,47b in dem Sinne zu verstehen, dass die gezeigte Liebe ein Erkenntnisgrund der bereits stattgefundenen Vergebung darstellt, sondern sie ist das Kennzeichen der Art und Weise, mit der sich der Sünder Gott gegenüber in Beziehung setzt. Gemeinsam ist dem von der Schuld befreiten Schuldner und der Sünderin die Einsicht, dass es allein in Gottes Vollmacht liegt, eine Existenz jenseits der einengenden Grenzen von Schuld zu eröffnen. Die ersehnte Neuausrichtung kann aufgrund der drückenden Last der Schuld nicht mehr aus eigener Kraft gestaltet werden, sodass Gottes Gnade zum einzig möglichen Ausweg wird. Im Unterschied zum Schuldner ergreift die Sünderin jedoch in Hoffnung auf die ihr möglicherweise zuteil werdende Vergebung die Initiative und wendet sich an den Gottessohn.64 point to the fact that the correlation between God’s forgiveness and human love is not so easy to understand: In a certain manner, human love is a consequence of God’s forgiveness, but it is also a reason for God’s forgiveness. The parable points to the first aspect, the structure of the narrative as a whole to the second aspect. Luke’s aim is not to clarify the correlation between God’s forgiveness and human love, but to focus on the woman’s love, which is the ‚Leitmotiv‘ of v. 47.“ Dadurch spricht sich auch M. Zugmann, Changing the Perspective, 206 für eine Übersetzung von Lk 7,47a in dem Sinne aus, dass der Frau die Sünden vergeben werden, weil sie viel geliebt hat. Einzig in der Zusammenfassung am Ende seines Aufsatzes widerspricht er sich, da M. Zugmann, Changing the Perspective, 209 die Sünderin beschreibt als eine Frau, die viel liebt, weil ihr viele Sünden vergeben wurden. 64 Eine interessante ntl. Sachparallele findet sich in Jak 4,7–10. Dort werden die Adressaten dazu aufgefordert, sich in Demut Gott zu nähern, sich von den Sünden zu reinigen und über die eigene, elende Verfasstheit zu klagen. Diejenigen, die sich in dergestalter Demut Gott nähern, werden von ihm erhöht werden: „ταπεινώθητε ἐνώπιον τοῦ κυρίου καὶ ὑψώσει ὑμᾶς.“ (Jak 4,10) Dies ist für die Perikope Lk 7,36–50 insofern bedeutsam, als dass sich zwischen dem LkEv und dem Jak einige weitere materialethische Parallelen aufzeigen lassen; vgl. z. B. die Warnungen gegenüber den Reichen in Jak 5,1–6, die eine inhaltliche Nähe zu den Weherufen der Feldrede und zu Lk 16,19–31 aufweisen. Thematisch daran anschließend sei auf die Analogie zwischen Jak 4,13–17 und Lk 12,16–21 hingewiesen. Die Mahnung zu einem karitativen Ver-
188
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
Folgt man der Interpretation Jesu, so sind die durchaus als intime Handlungen zu verstehenden Fußwaschung und -salbung das öffentliche „Liebesbekenntnis“ zu Jesus als dem Sohne Gottes, wodurch sie ihren Teil zur Vergebung ihrer Sünden beigetragen hat (vgl. Lk 7,47). Der Grund der Hoffnung, der die ἀγάπη der Frau prägt, ist das Wissen um die jesuanische Zuwendung zu den Zöllnern und Sündern. Damit dürfte das Aufsuchen Jesu durch den Wunsch motiviert sein, selbst der jesuanischen Zuwendung teilhaftig werden zu können und dadurch an der Vergebung der Sünden zu partizipieren. Entscheidend für die Erteilung der Vergebung sind einerseits die Vollmacht und die Barmherzigkeit Jesu, andererseits die Taten der Frau, die keinen Zweifel an ihrer inneren Verfasstheit und ihrer Haltung gegenüber Jesus zulassen. Somit existiert für Jesus auch kein Zweifel daran, dass die Fülle der Sünden der Frau vergeben sind, da sie gegenüber ihm die Fülle der ἀγάπη erwiesen hat, indem sie sich ihm ganz anvertraute und sich dabei von keinen äußeren Hindernissen abschrecken ließ. Weitet man von hier aus den Blick auf die anderen Perikopen des LkEv, in denen die Vergebung der Sünden thematisiert wird und konzentriert sich dabei auf das menschliche Zutun in diesem Prozess, so begegnet man stets dem Motiv der Umkehr (ἡ μετάνοια), das von einem Gefühl der Reue und häufig von Worten, Gesten und Taten der Unterordnung des Einzelnen unter Gott,65 respektive Jesus, geprägt ist.66 Im vorliegenden Fall schillert die vor aller Augen stattgefundene Fußsalbung, mitsamt der Waschung der Füße unter Einsatz von Tränen und Haaren in ihrer Bedeutung.67 So kann sie sowohl als Zeichen der Liebe68 als auch als Ausdruck einer die Bußtätigkeit verstanden werden, ist halten als Ausdruck der Nachfolge Jesu, die für das lk. Besitzethos prägend ist, wird auch in Jak 2,14–17 als Beispiel für den Erweis echten Glaubens herangezogen. Schlussendlich kann die These gewagt werden, dass der Verfasser des Jakobusbriefes und der Evangelist Lukas zwar nicht in einer literarischen Abhängigkeit stehen, aber dass sie auf ähnliches Traditionsgut zurückgreifen und vor allem eine analoge Schwerpunktsetzung in ethischen Fragen aufweisen. Dies äußert sich nicht nur in Fragen des Besitzes und der Demut, sondern auch in der grundsätzlichen Hochschätzung der menschlichen Handlungsverantwortung und der prominenten Bedeutung der göttlichen Barmherzigkeit (vgl. Jak 2,13) nicht nur für den Bereich der Eschatologie, sondern auch für die Ethik (vgl. Jak 2,13; 4,17); vgl. dazu auch M. Konradt, Jakobusbrief, 198–199. 65 Im Rahmen von Gleichnissen wird Gott freilich durch die jeweilige entsprechende Figur repräsentiert. 66 So ist beispielsweise das gesamte Kapitel 15 sowie die Perikope vom Zöllner und vom Pharisäer im Tempel (Lk 18,9–14) durch die Verbindung von Umkehr, Reue und Unterordnung geprägt. In den Acta wird ausgehend vom lk. „Missionsbefehl“ (Lk 24,46–49) die μετάνοια zum festen Bestandteil der Predigten, die die Menschen zum Glauben an Jesus als den Christus auffordern; vgl. Act 2,38; 3,19; 5,31; 8,22; 11,18; 17,30; 20,21; 26,20. 67 U. Wilckens, Vergebung, 419–421 macht hier auf die Gemeinsamkeiten zwischen der vorliegenden Perikope und JosAs aufmerksam. Der frühjüdische Roman „Joseph und Aseneth“ wird in dieser Untersuchung gesondert behandelt werden. 68 Während J. Kilgallen, Proposal, 311 FN 19 im Jahr 1991 noch unter Verweis auf Lk 18,9–14 die Fußwaschung als Konkretion des Verbums „ταπεινοῦν“ versteht und dies als
6.4 Liebe und Vergebung
189
doch das Waschen der Füße von Gästen eigentlich Sklavendienst.69 Grundsätzlich scheint der Evangelist etwaigen Bußhandlungen, im Sinne einer satisfactio operis, nur wenig theologische Bedeutung zuzumessen. Umso wichtiger ist vielmehr das reuevolle Eingeständnis der Schuld, die Abkehr von einem gottfernen Leben und die Umkehr hin zu Gott, verbunden mit der Bitte um Vergebung. Auch die durch den Täufer geforderten Früchte der Umkehr (vgl. Lk 3,8) sind eben keine Bußhandlungen, sondern die Konsequenzen eines „umgekehrten“ Verhaltens und Lebens. Den von reuevoller Selbsterkenntnis geprägten Wendepunkt menschlicher Existenz, der dem Motiv der μετάνοια notwendig innewohnt, demonstriert Lukas eindrucksvoll in der Perikope vom Pharisäer und vom Zöllner im Tempel (vgl. Lk 18,9–14). In der Gegenüberstellung der Gebete, die der selbstbewusste Pharisäer und der zutiefst beschämte Zöllner an Gott richten, illustriert Lukas die existentielle Relevanz, gegenüber Gott nicht selbstgerecht und selbstrechtfertigend, sondern demütig und ehrlich aufzutreten. Darin ist impliziert, dass sich Demut gegenüber Gott auch und gerade in Demut gegenüber dem Nächsten ausdrückt und dass ein durch religiöse Selbstgerechtigkeit bestimmtes Gebaren den Menschen weit von Gott entfernt; nicht zuletzt aufgrund dessen, dass die eigene Vergebungsbedürftigkeit vollständig verkannt wird. In diesem Punkt, im überbordenden Bewusstsein der eigenen, selbstverantworteten Rechtschaffenheit vor Gott gleichen sich der Pharisäer Simon und der anonyme Pharisäer aus dem Tempel. Beide definieren sich in Abgrenzung zu einem offensichtlichen Sünder und beide sehen ihre persönliche Relation zu Gott durch die vorgenommene Abgrenzung bestärkt (vgl. Lk 7,39 und Lk 18,11–12). Und jeweils sind es die Sünder, die sich ihrer Sündhaftigkeit bewusst sind und voller Schmerz und Reue den Weg zurück zu Gott gesucht und letztlich auch gefunden haben. Diese erlangen Rechtfertigung, während jene sich immer weiter von Gott entfernen. Lk 18,9–14 ist gewissermaßen der thematische Zwilling zu Lk 7,36–50, wobei der Evangelist in Lk 18,14 Terminologien einführt, die als Oberbegriffe zur Beschreibung des Vergebungsgeschehens dienen: ταπεινοῦν und δικαιοῦσθαι. Damit geht die eindringliche Warnung vor Selbsterhöhung einher, die dem Menschen selbst im Tempel die gesuchte Nähe zu Gott verunmöglicht, ebenso wie das Bewusstsein nicht gestifteter Vergebung.70 notwendigen Bestandteil der Buße und der damit verbundenen Sündenvergebung hervorhebt, hat er seine Meinung diesbezüglich 1998 geändert. J. Kilgallen, Forgiveness, 114 erkennt in der Fußsalbung nur noch einen Erweis der Liebe, die sich auf die bereits stattgefundene Sündenvergebung zurückführen lässt. 69 Vgl. M. Wolter, Lukasevangelium, 292. 70 Freilich lohnt es sich, eine ausführliche Exegese von Lk 18,9–14 vorzunehmen, nicht zuletzt, da diese Perikope neben den Aspekten des Hochmuts und der Demut nochmals ein neues Licht auf die lk. Soteriologie wirft. So verwendet Lukas nur an dieser Stelle den Begriff „ἱλάσκεσθαι“ (Lk 18,13), um die Bitte um Vergebung auszudrücken, und zollt damit dem kultischen Raum des Tempels und der damit verbundenen Entsühnung im Zusammenhang des
190
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
Der Entschluss zur Umkehr der Frau vollzieht sich in dem Moment, als sie beschließt, Jesus im Haus des Pharisäers aufzusuchen und sich ihm zu Füßen zu werfen. Darin gleicht sie dem verlorenen Sohn, dessen Umkehr im Miteinander von inneren Erwägungen und äußerlich sichtbarer Tat in Form des Aufbruchs stattfindet (vgl. Lk 15,18–20). Auffällig ist, dass die Frau, beispielsweise im Gegensatz zum verlorenen Sohn und zum Zöllner im Tempel (vgl. Lk 18,9– 14), keinerlei Bitte an Jesus richtet, sondern dass die körperlich wie emotional vollzogene Hinwendung und Unterordnung unter Jesus, dem Freund der Zöllner und Sünder mit der Vollmacht zur Sündenvergebung, genügt, um ihre innere Motivation, den Wunsch nach Vergebung, zum Ausdruck zu bringen. Im Gesamtaufriss der Perikope fügt sich die richtige Reaktion Jesu auf die unausgesprochene Bitte der Frau nahtlos an das Erkennen der Gedanken des Pharisäers durch Jesus an. Die in der Begegnung zwischen Jesus und der Sünderin beschriebene Korrelation von Vergebung und ἀγάπη konzentriert sich also auf die Initiative des Menschen, ohne eine Aussage darüber zu treffen, wie sich die Relation der (ehemaligen) Sünderin zu Gott nach der zugesprochenen Vergebung gestalten wird. Folgt man der Logik der Perikope, so dürfte, analog zu Lk 7,41–43, auch nach dem Vergebungshandeln Jesu die Relation der Frau zu Jesus respektive zu Gott durch ἀγάπη geprägt sein, allerdings mit dem Unterschied, dass sich die Hoffnung auf die Zuwendung Gottes nun in Gewissheit verwandelt haben dürfte. Die Bitte wird durch Dankbarkeit abgelöst. Das Miteinander von göttlicher und menschlicher Initiative im Modus des Vergebungsgeschehens ist ein Kennzeichen lk. Theologie, wobei, wie die drei Gleichnisse vom Verlorenen in Lk 15 zeigen, die Handlungsinitiative zum (Auf-)Suchen des anderen sowohl von Gott als auch vom Menschen ausgehen kann. So wird in den Gleichnissen vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen zunächst die göttliche Heilsinitiative unterstrichen. Sowohl das Schaf als auch der Groschen bleiben, ihrer Natur gemäß, passiv und hilflos angesichts ihres Verloren-Seins und damit zunächst angewiesen auf das liebevolle Suchen Gottes. In beiden Fällen bildet den Abschluss der Gleichnisse ein erklärender Satz über die Freude im Himmel, die sich angesichts eines Sünders entzündet, der den Akt der Umkehr (μετάνοια) vollzogen und somit in die Relation zu Gott zurückgefunden hat.71 Die Bild„ἱλαστήριον“ seine Aufmerksamkeit. Es müsste gefragt werden, ob diese Terminologien für Lukas noch von Bedeutung gewesen sind oder ob er lediglich eine dem Tempel möglichst adäquate Formulierung gesucht hat. Mit Blick auf die Salbungsgeschichte und auf die Heimkehr des verlorenen Sohnes könnte hinsichtlich Lk 18,13 gefragt werden, ob Lukas äußere Zeichen der inneren Demut für notwendig hält, ob er also eine Art der äußeren Buße als selbstverständlich angenommen hatte oder ob er lediglich das in Lk 6,43–45 dargestellte anthropologische Schema appliziert hat, nach dem die innere Einstellung und die äußere Haltung miteinander korrespondieren. 71 Auch W. Radl, Lukas I, 500 erinnert an die Parallelen zwischen Lk 7,36–50 und Lk 15,1–32, allerdings sieht er darin stets ein die Überlieferung veränderndes Eingreifen des
6.4 Liebe und Vergebung
191
ebene verlassend wird nun dem Suchen Gottes das aktive Zurückkehren des Menschen gegenübergestellt und die Initiative auf beiden Seiten bildet das Integral des Vergebungsgeschehens.72 Das Gleichnis vom verlorenen Sohn arbeitet nach demselben Muster, wobei hier der Wirkhorizont des aus der Gottesgemeinschaft herausgetretenen und nun reuigen Sünders im Mittelpunkt steht, ohne dass dabei die vollständige Abhängigkeit von der Vergebungsbereitschaft Gottes geleugnet werden würde. Es bleibt also festzuhalten, dass Lukas den in Jesus offenbarten Heilswillen Gottes als Bedingung der Möglichkeit der Sündenvergebung definiert, dabei aber stets auch die Eigenverantwortung des Menschen im Blick behält.73
6.4.3 Die Liebe Gottes zu den Menschen Die vollmächtige Begabung Jesu erweist sich im vorliegenden Falle nicht allein durch den Zuspruch der Vergebung, sondern auch durch die Kenntnis der Gedanken und Sehnsüchte seiner Gegenüber. Dass seine Reaktion auf diese Kenntnis in Abhängigkeit zu seiner Sendung als der Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes steht, ist dabei nur folgerichtig. So spiegelt sich Gottes Bereitschaft zur Vergebung der Sünden, die bereits im Gleichnis74 anschaulich gemacht wurde, im Verhalten Jesu wider. Und ebenso wie den beiden Schuldnern durch den Erlass eine neue Lebensperspektive eröffnet wurde, zu der sie aus eigener Kraft keinen Zugang gefunden hätten, so ermöglicht Jesus den Menschen, denen er die Sünden vergibt, einen Neubeginn jenseits aller Schuld, der Evangelisten. Dass es sich bei Lk 15,7.10 um redaktionelle Erzählerkommentare handelt, ist unstrittig. Jedoch ist in diesen Zusammenhängen die Stärke der lk. Theologie zu betonen, die sich im Miteinander von göttlichem und menschlichem Wirken ausdrückt. 72 Ch. Landmesser, Rückkehr, 252–258 hebt demgegenüber die alleinige Handlungssouveränität Gottes, der im Gleichnis durch den Vater repräsentiert wird, hervor und unterstreicht, dass der jüngere Sohn in Lk 15,17–20 lediglich das Eingeständnis seines Scheiterns hervorzubringen und auszudrücken imstande ist. Auf theologischer Ebene bringt der Evangelist durch das Gleichnis, nach der Auslegung Ch. Landmessers, gewissermaßen die Rechtfertigung des Sünders durch Gott aus Gnade, vor allem aber gänzlich ohne eigenes Zutun des Sünders zum Ausdruck. Die postulierte Passivität des Sohnes im Prozess der für die Vergebung notwendige Umkehr scheint sich zu stark an eine lutherische Rechtfertigungslehre anzulehnen und achtet den im Gleichnis beschriebenen Beitrag des Sohnes für den Prozess der Umkehr zu gering. 73 Ähnlich argumentiert auch F. Bovon, Lukas 1, 394–395, der die Auslegungsgeschichte zu Lk 7,36–50 durch „dogmatische Polemik belastet“ sieht. „Aber Lukas stellt die theologische Frage des initium fidei nicht. Für ihn sind beide, Gott und Mensch, in der Versöhnung tätig; auch wenn die Liebe Gottes das Zentrum seiner Botschaft ist, stellt er immer wieder die menschliche Verantwortung in den Vordergrund. Es gibt keine göttliche Liebe ohne Reziprozität.“ 74 H. Roose, Rollenwechsel, 534–535 macht darauf aufmerksam, dass eine Identifikation Gottes mit einem Gläubiger sozialgeschichtlich auffällig sei, da Gläubiger in der Antike einen schlechten Ruf genossen haben. Offensichtlich scheint dies weder Lukas noch Matthäus (vgl. Mt 18,23–35) bekümmert zu haben.
192
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
ihnen nach menschlichem Ermessen verwehrt geblieben wäre. Die Zuwendung Jesu zu den Zöllnern und Sündern, die im Vorfeld der Perikope als Charakteristikum Jesu dargestellt worden ist, bringt die Vergebungsbereitschaft Gottes unmittelbar zum Ausdruck. Dem entspricht auch Jesu aktive Suche nach den Verlorenen (vgl. Lk 5,32; 15,1–10) und das sich darin zeigende Ringen um die Wiederherstellung eines intakten Verhältnisses zwischen Gott und den Sündern. Überblickt man die Perikopen, in denen der heilsstiftende Vergebungswille Gottes zum Thema gemacht wird, so fällt allerdings auf, dass die gesellschaftliche Akzeptanz des göttlichen Vergebungshandelns nur schwach ausgeprägt ist.75 Diejenigen, die Vergebung erfahren haben, werden von ihren Mitmenschen nach wie vor auf ihre Vergangenheit festgelegt. Die soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung trifft dabei nicht nur die ehemaligen Sünder, sondern oft auch denjenigen, der ihnen die göttliche Vergebung zugesprochen hat.76 Darin wird deutlich, dass sich Lukas im Gespräch mit seinen Adressaten darüber im Klaren ist, dass die Zuwendung Gottes zu den Sündern einerseits immer wieder plausibilisiert werden muss, und dass andererseits diese Plausibilisierung stets nur im Blick auf die Person und die Sendung77 Jesu gelingen kann. Letztlich steht die Barmherzigkeit Gottes im Widerspruch zu gesellschaftlichen Konventionen, die einen nicht geringen Teil zur Verstetigung der Identität derer beitragen, die sich aufgrund ihrer Abgrenzung von den Sündern in Gemeinschaft mit Gott sehen. Für Lukas besteht der theologische wie anthropologische Fehler nicht in der Ablehnung der Sünde, sondern in der Identifikation des Sünders mit der Sünde. Der Mensch selbst gerät dabei aus dem Blick und rückt erst durch das Verhalten Jesu wieder in den Fokus. Eindrücklich wird dies durch das Verhalten des Pharisäers und dessen Zurechtweisung durch Jesus exemplifiziert.
6.4.4 Der Mangel an Liebe und die Verwehrung der Vergebung Dieses Phänomen wird in Lk 7,47b beschrieben und ist angesichts der in der Perikope auftretenden Protagonisten wohl auf den Pharisäer gemünzt.78 Dass Simon nicht um Vergebung gebeten hat, spielt hierbei keine Rolle, da die aus75
Hierin wird wiederum die gesellschaftlich-soziale Spitze lk. Ethik deutlich. Vgl. Lk 7,36–50; 15,1–2.11–32; 18,9–14; 19,1–10. 77 Siehe F. Bovon, Lukas 1, 386: „Die übergreifende Thematik des Kapitels 7 ist einerseits der heilende Besuch Gottes und andererseits die Identität der vermittelnden Boten (vgl. Lk 7,49).“ F. Bovon erkennt hier zu Recht eine thematische Rückbindung an Lk 1,78b. Hier wie dort ist der göttliche „Besuch“ durch seine heilsstiftende Wirkung charakterisiert. 78 Die Formulierung rein rhetorisch zu verstehen, würde der narrativen Struktur der Perikope nicht gerecht. Der Pharisäer und die Sünderin stehen sich diametral gegenüber und werden auch in ihrer Relation zu Jesus als entgegengesetzt beschrieben. Indem nun die Sünderin durch ihre großen Liebestaten qualifiziert wird, bleibt nur noch der Pharisäer, der sich Jesus gegenüber skeptisch bis ablehnend verhält, als Verkörperung dessen, der wenig liebt und dem somit auch nur wenig vergeben wird. 76
6.4 Liebe und Vergebung
193
drückliche Bitte um Vergebung weder im Gleichnis noch in der Salbungshandlung formuliert wird. Das Einzige, das ihn in diesem Zusammenhang unterscheidet, ist das fehlende Bewusstsein für die eigene Vergebungsbedürftigkeit;79 ein Faktum, dessen sich sowohl die Sünderin als auch die beiden Schuldner bewusst waren. Dadurch wird schließlich die mangelnde Liebe des Pharisäers nur noch unterstrichen. Diese Vermutung gründet sich in der Überlegung, dass das Motiv der ἀγάπη in erster Linie offen für Bedeutungsnuancen ist,80 grundsätzlich aber als eine positiv qualifizierte Relation zu verstehen ist. In der vorliegenden Perikope handelt es sich dabei um die Beziehung eines Menschen zu Gott respektive zu Jesus als demjenigen, der Gottes barmherzige und vergebende Zuwendung repräsentiert und vollmächtig zuzusprechen vermag. Ihm gegenüber hat sich der Pharisäer, dessen Bewusstsein einer persönlichen Aufrichtigkeit gegenüber Gott vorausgesetzt werden kann (vgl. Lk 7,39), zunächst freundlich neutral, dann aber ablehnend verhalten. Die Kritik, die der Pharisäer innerlich Jesus gegenüber formuliert, knüpft an den grundsätzlichen Vorwurf an, dem sich Jesus bereits im Vorfeld ausgesetzt sah und der seine Nähe zu Zöllnern und Sündern zum Inhalt hatte (vgl. Lk 7,34). Demgemäß wird für den Pharisäer der adäquate Umgang mit den Sündern zum Testfall religiöser Rechtschaffenheit und die Orientierung an seinen theologischen Überzeugungen bringt ihn notwendig dazu, sich von Jesus abzuwenden und ein negatives Urteil über ihn zu fällen, da Jesus die Nähe der Sünderin zugelassen hatte. Dies impliziert darüber hinaus natürlich auch eine Distanzierung des Pharisäers gegenüber der Sünderin und eine Verurteilung der Frau, deren Liebeswerke er nicht als Zeichen einer Umkehr, sondern nur als öffentlichen Erweis ihrer Lasterhaftigkeit ansieht. Wurde im Verlauf der Analyse bereits deutlich, dass Lukas an der Darstellung verschiedener Blickrichtungen gelegen war, so ist es auch die falsche Perspektive, die den Pharisäer scheitern lässt:81 seine Perspektive auf Gott, auf seinen Nächsten und schließlich auch auf sich selbst. Der durch Ablehnung der Sünderin geprägte Weg, Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen, zwingt den Pharisäer förmlich dazu, nicht nur das Handeln der Sünderin, sondern auch das Verhalten Jesu als skandalös, als unethisch, als dem Willen Gottes widersprechend 79
Vgl. auch M. Zugmann, Changing the Perspective, 208.
80 Vgl. die Ausführungen zur Liebe der Sünderin und zur Liebe der entlasteten Schuldner. 81 Für M. Zugmann, Changing the Perspective, 207–208 ist die Änderung der Perspekti-
ve des Pharisäers der rote Faden der Perikope und er geht davon aus, dass dieser Perspektivenwechsel auch gelungen ist. Allerdings lässt der Evangelist die Frage nach der positiven Veränderung des Pharisäers offen, wodurch die Perikope abermals in einen Zusammenhang mit Lk 15,1–32 gestellt wird. Am Ende des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, in welchem der ältere Bruder die kritisch eingestellten Pharisäer repräsentiert, beschreibt Lukas keine Freude des Älteren über die Rückkehr des Jüngeren, sondern suggeriert vielmehr, dass der Ältere außerhalb des Hauses und somit auch außerhalb der Teilhabe am Reich Gottes verbleibt (vgl. Lk 15,31–32).
194
Kapitel 6: Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36–50)
zurückzuweisen. Diese Ablehnung des sich in seinem Haus ereignenden Heilsereignisses verhindert auch den klaren, den unverstellten Blick auf sich selbst.82 So ist er im Bestreben, seine eigene religiöse Reinheit aufrechtzuerhalten, nicht in der Lage, seine persönliche Bedürftigkeit nach Vergebung zu erkennen oder gar diese in der Zuwendung zu Jesus zu erbitten bzw. in Jesu Zuwendung zu den Menschen die Vergebung Gottes zu erkennen. Der Pharisäer scheitert letzten Endes an der Akzeptanz der göttlichen Barmherzigkeit; für sich und für andere. Das Urteil, das Simon über Jesus und über die Sünderin spricht, fällt damit direkt auf ihn selbst zurück. Darin bestätigt sich die in der Feldrede formulierte Warnung der eschatologischen Verurteilung all derer, die andere verurteilen, da jeder mit dem Maß gemessen werden wird, mit dem er andere misst (vgl. Lk 6,37–38). Das Dramatische dieser Perikope liegt darin, dass Simon sich im Ringen um seine eigene Rechtschaffenheit immer weiter von Jesus und von der Sünderin als der zu liebenden Nächsten entfernt und sich somit von der Vergebung Gottes abschneidet. Die Vergebungsbereitschaft Gottes korreliert dabei mit der Liebe, die Simon gegenüber Gott und gegenüber seinen Nächsten erweist: „ᾧ δὲ ὀλίγον ἀφίεται, ὀλίγον ἀγαπᾷ.“ (Lk 7,47b) Die von Lukas vorgenommene narrative Gestaltung der Begegnung des Pharisäers mit Jesus ist gekennzeichnet durch ein ausgeprägtes Bewusstsein für Ironie.83 Nicht nur, dass der „Fresser und Weinsäufer“ von Simon ausgerechnet zum Essen eingeladen wird, nicht nur, dass Jesus diesen mit seiner eigenen Beurteilung des Gleichnisses in Bedrängnis bringt, auch die grundsätzliche theologische Überzeugung teilt der Evangelist mit dem Pharisäer: Ein äußeres Kennzeichen für religiöse Rechtschaffenheit besteht im adäquaten Umgang mit den Sündern! Allerdings wird dieser gemäß der lk. Christologie durch die liebevolle Zuwendung zu den Sündern, durch die Eröffnung der Möglichkeit zur Umkehr und durch die Akzeptanz ihrer Bußfertigkeit in Form des Vergebungszuspruches charakterisiert. Darin ist den Nachfolgern Jesu, also jenen, die ein von ἀγάπη geprägtes Verhältnis zu Jesus besitzen, der liebevolle und verzeihende Umgang mit den Sündern aufgetragen. Blickt man von dieser Warte aus auf das zwischenmenschliche Verhältnis, so kann dies nicht anders als in den Terminologien der ἀγάπη beschrieben werden. Die Liebe zu Gott, die sich in der Nachfolge Jesu und in der Befolgung seiner Worte ereignet, verweist den Einzelnen direkt auf den zu liebenden Mitmenschen. Somit bringt der Evangelist das Doppelgebot der Liebe84 in einen engen Zusammenhang mit der 82 Die Situation weckt Assoziationen an das im vorangegangenen Kapitel notierten Gleichnis vom Splitter und vom Balken (vgl. Lk 6,41–42), wobei die Frage offenbleiben muss, ob der klare Blick des Pharisäers durch den Splitter oder durch den Balken behindert wird. 83 Vgl. M. Wolter, Lukasevangelium, 290 unter Bezug auf D. Neale, None but the Sinners, 141–142. 84 Auch U. Wilckens, Vergebung, 409–410 betont die Bedeutung des Doppelgebots für die Perikope, da das Verb „ἀγαπᾶν“ im Duktus der LXX stets auf das Doppelgebot hindeute. Allerdings konzentriert sich U. Wilckens in seinen Ausführungen einzig auf die adäquate
6.4 Liebe und Vergebung
195
Frage nach der Möglichkeit der Vergebung. Dabei lässt Lukas keinen Zweifel daran aufkommen, dass jeder Mensch der Vergebung bedarf und dass der Weg zur Vergebung durch ἀγάπη bestimmt ist. Die Perikope macht deutlich, dass die vielfältigen Korrelationen von Vergebung und Liebe den Menschen in Auseinandersetzung mit Sünde und Vergebung dazu nötigen, eindimensionale Betrachtungsweisen seiner Lebenszusammenhänge aufzugeben. Dies macht Lukas anhand des multiperspektivischen Zugangs zum Themenkomplex der Vergebung deutlich. Die Quintessenz hinsichtlich der Teilhabe an der Vergebung lässt sich jedoch in einem Satz zusammenfassen: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten!
Liebe zu Gott, die die Akzeptanz Gottes gegenüber den bußfertigen Sündern zu akzeptieren habe.
Kapitel 7
Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32) 7.1 Übersetzung (11a) Er sagte aber: (11b) „Ein Mensch hatte zwei Söhne. (12a) Und es sagte der jüngere von ihnen zum Vater: (12b) ‚Vater, gib mir den [mir] zufallenden Teil des Vermögens!‘ (12c) Er aber teilte den Besitz unter ihnen auf. (13a) Und nach nicht vielen Tagen versammelte1 der jüngere Sohn alles (13b) und zog in ein weit entferntes Land. (13c) Und dort verschleuderte er sein Vermögen, indem er ausschweifend lebte. (14a) Nachdem er aber alles ausgegeben hatte, (14b) entstand eine große2 Hungersnot in jenem Land (14c) und er begann, Mangel zu leiden. (15a) Und er ging hin und schloss sich eng an einen Bürger jenes Landes an (15b) und er schickte ihn auf seine Felder, um die Schweine zu hüten, (16a) und er begehrte, sich von den Schoten des Johannisbrotbaumes satt zu essen, welche die Schweine aßen, (16b) und niemand gab ihm davon. (17a) Als er aber daraufhin3 in sich gegangen war, sprach er: (17b) ‚Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben einen Überfluss an Brot? (17c) Ich aber komme hier vor Hunger um! (18a) Ich will4 aufstehen und zu meinem Vater gehen und werde zu ihm sagen: (18b) Vater ich habe gesündigt gegenüber dem Himmel und vor dir, (19a) auch bin ich nicht länger würdig, dein Sohn genannt zu werden. 1 Das Verb „συνάγειν“ kann im übertragenen Sinne auch „verkaufen“ meinen; vgl. beispielsweise D. Bock, Luke II, 1310. Allerdings soll die deutsche Übersetzung die kontrastive Gegenüberstellung von „συνάγειν“ (V. 13a) und „διασκορπίζειν“ (V. 13c) erkennbar werden; vgl. ähnlich M. Wolter, Lukasevangelium, 532. 2 Wörtlich: „stark“. 3 Das Partizip „ἐλθών“ wird im Sinne eines kausalen Zusammenhangs an V. 16b beigefügt. 4 Das Partizip „ἀναστάς“ bildet mit der futurischen Verbform von „πορεύεσθαι“ einen Pleonasmus und wird voluntativ übersetzt. Vgl. auch M. Wolter, Lukasevangelium, 534; F. Bovon, Lukas 3, 48.
198
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
(19b) Behandle mich wie einen deiner Tagelöhner!‘ (20a) Und nachdem er aufgestanden war, ging er zu seinem Vater. (20b) Als er aber noch weit entfernt war, (20c) sah ihn sein Vater und er erbarmte sich und er lief los und fiel ihm um seinen Hals und küsste ihn. (21a) Es sprach aber der Sohn zu ihm: (21b) ‚Vater, ich habe gesündigt gegenüber dem Himmel und vor dir, (21c) auch bin ich nicht länger würdig, dein Sohn genannt zu werden.‘ (22a) Aber der Vater sprach zu seinen Sklaven: (22b) ‚Bringt schnell das beste Gewand heraus und bekleidet ihn! (22c) Und gebt einen Ring an seine Hand und Sandalen an die Füße! (23a) Und schafft das gemästete Kalb herbei, schlachtet [es] (23b) und während wir essen, wollen wir uns freuen! (24a) Denn dieser mein Sohn war tot und wurde wieder lebendig,5 (24b) er war verloren und ist [wieder] gefunden worden. (24c) Und sie begannen, sich zu freuen. (25a) Es war aber sein älterer Sohn auf dem Acker. (25b) Und als er kam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz,6 (26a) und er rief einen der Knechte herbei, (26b) und erkundigte sich, was es damit auf sich habe. (27a) Der aber sagte zu ihm: (27b) ‚Dein Bruder ist gekommen (27c) und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund zurückbekommen hat.‘ (28a) Er wurde aber zornig und wollte nicht hineingehen, (28b) aber sein Vater kam heraus und lud ihn ein. (29a) Er aber antwortete und sprach zu seinem Vater: (29b) ‚Siehe, so viele Jahre diene ich dir wie ein Sklave und habe niemals dein Gebot übertreten, (29c) und du hast mir niemals einen Ziegenbock gegeben, damit ich mich mit meinen Freunden freuen konnte! (30a) Als aber dieser, dein Sohn, der deinen Besitz mit Prostituierten verfressen hat, gekommen ist, (30b) hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet!‘ (31a) Er aber sagte zu ihm: (31b) ‚Kind, du bist allezeit bei mir und alles was mein ist, ist dein. (32a) Man hätte sich aber freuen und fröhlich sein müssen, 5 Die wörtliche Übersetzung von „ἀναζῆν“ lautet „wieder aufleben“; vgl. W. Bauer/ K. Aland, Wörterbuch, 105. 6 Die Formulierung „συμφωνία καὶ χορός“ ist eine feste Wendung für „Musik und Tanz“; vgl. W. Bauer/K . Aland, Wörterbuch, 1762.
7.2 Kontext und Struktur
199
(32b) denn dieser, dein Bruder, war tot und ist wieder lebendig geworden, (32c) und er war verloren und ist [wieder] gefunden worden.‘“
7.2 Kontext und Struktur Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist eingebunden in die Reihe der drei Gleichnisse vom Verlorenen und bildet nach dem Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,4–7) und dem Gleichnis von der verlorenen Drachme (Lk 15,8– 10) den Abschluss und den Höhepunkt der Reihe.7 Den Anlass für die Gleichnisrede bildet die Kritik der Pharisäer und Schriftgelehrten an der Zuwendung Jesu zu Zöllnern und anderen „Sündern“ („ἁμαρτωλοί“ [Lk 15,1.2]), die nicht nur in den Annahme derselben, sondern auch in der Tischgemeinschaft mit ihnen besteht (vgl. Lk 15,2). Während die Zöllner klar benannt werden, wird die Gruppe der „ἁμαρτωλοί“ nicht näher beschrieben. „Lukas lehnt eine zu strenge Trennung zwischen sozialer und religiöser Ebene ab, und umschließt mit einem symbolischen Ausdruck alle, die ihren Mitmenschen Unrecht tun und von Gott getrennt sind.“8 Die Formulierung „Zöllner und Sünder“ kann gewissermaßen als ein Hendiadyoin zur Bezeichnung der aufgrund ihrer Taten von Gott Getrennten verstanden werden. Jesus weiß um die Erklärungsbedürftigkeit seiner, nach sozial-religiösen Alltagsüberzeugungen anstößigen Gemeinschaft9 mit der pluralen Gruppe der Sünder und reagiert auf das Unverständnis und die Kritik in Form der drei Gleichnisse vom Verlorenen. Die beiden ersten Gleichnisse weisen eine klare Parallelstruktur10 auf: Eine Person verliert einen Teil ihres Besitzes und nimmt eine aufwendige Suche in Kauf, um diesen verloren gegangenen Besitz wiederzufinden. Dabei wird nicht danach gefragt, ob die Maßnahmen, die zum Zwecke der Suche ergriffen werden, überhaupt in Relation zum Gegenwert des Verlorenen stehen. Im Mittelpunkt steht das drängende Bedürfnis der Person, die Suche zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. So lässt der Hirte seine 99 verbliebenen Schafe in der Wüste11 zurück, um sich auf die Suche nach dem einen verlorenen Schaf zu machen. Offensichtlich scheint die Sorge um eine Gefährdung der unbewachten 7 Vgl.
A. Inselmann, Freude, 310. Sie macht darauf aufmerksam, dass auch unabhängig von den emotionalen Bindungen zwischen dem Vater und seinen Söhnen eine klimaktische Struktur vorliegt. So stellt das verlorene Schaf 1 % des Besitzes dar, die verlorene Drachme 10 %, während der Vater 50 % seiner Söhne verliert. 8 F. Bovon, Lukas 3, 20. 9 Vgl. ähnlich J. Green, Luke, 571. 10 Das Gleichnis vom verlorenen Schaf begegnet in Variation auch in Mt 18,12–14 und in EvThom 107. Die verlorene Drachme ist lk. Sondergut. Zur Diskussion um den Zusammenhang und die Quellenlage der beiden Gleichnisse vgl. F. Bovon, Lukas 3, 18–19. 11 Die Wüste kann im lk. Denken den Ort der Anfechtung repräsentieren (vgl. Lk 4,1–13; 8,29).
200
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
Herde kleiner zu sein als die Furcht, das verlorene Schaf nicht mehr wiederfinden zu können (vgl. Lk 15,4–5). Ebenso beginnt die Frau, nachdem sie den Verlust einer ihrer insgesamt zehn Drachmen bemerkt hat, das Haus zu beleuchten und zu fegen, bis sie schlussendlich die verlorene Münze wieder in ihren Besitz gebracht hat (vgl. Lk 15,8). Neben der Hartnäckigkeit der Suchenden ist die Freude über das Wiederfinden ein verbindendes Element der beiden Gleichnisse. Sowohl der Hirte als auch die Frau rufen ihre Nachbarn und ihre Verwandten zusammen, um die Freude über das Gefundene zu teilen (vgl. Lk 15,6.9). Als tertium comparationis wird in beiden Gleichnissen die Freude im Himmel genannt, die aufgrund eines einzigen Sünders, der Buße tut und umkehrt (μετανοεῖν [Lk 15,7.10]), aufkommt. Somit wird für beide Gleichnisse eine Rückbindung an das „Murren“ (διαγογγύζειν [Lk 15,2]) der Pharisäer und Schriftgelehrten ob der Zuwendung Jesu zu den Sündern geschaffen, da diese Zuwendung der Modus des Suchens und der Gestaltung der Möglichkeit zur Umkehr darstellt. Durch die Gleichnisse wird deutlich, dass Jesus die sozial-religiösen Vorbehalte gegen seine Gemeinschaft mit den Sündern dadurch überwindet, dass diese Gemeinschaft kein Ausdruck der Teilhabe an oder gar eines Für-gut-Befindens der als Sünde charakterisierten Taten darstellt. Vielmehr ist er in seinem Handeln an den „himmlischen“ Maßstäben, also am Willen Gottes orientiert. Dieser benennt die Sünde unzweifelhaft als Sünde, doch verharrt er nicht in der Verurteilung der Sünder, sondern drängt auf die Rückkehr der Sünder in die Gemeinschaft mit ihm.12 Aufgrund dessen ist einerseits die aufwendige Suche nach dem Verlorenen, also dem Sünder, nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten, andererseits korrespondiert die große Freude über den Wiedergefundenen mit dem großen Aufwand der Suche. Die Konzentration auf den einen, aus der Gemeinschaft mit Gott verloren gegangenen Sünder, resultiert eben aus seinem Status, dem Verloren-Sein!13 Dabei vereinen beide Gleichnisse die passiven und die aktiven Aspekte des Sünders, der den Weg zurück in die Gottesgemeinschaft findet. Während die Gleichnisse selbst die Notwendigkeit des Suchens in den Vordergrund stellen, da weder das Schaf noch die Drachme eigenständig zu dem jeweiligen Besitzer zurückkehren können, ist der Vergleich mit der himmlischen Freude durch die bewusste und aktive Umkehr des Sünders geprägt. Hier begegnet der typisch lukanische Synergismus zwischen göttlichem und menschlichem Handeln,14 an dessen Ende die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch stehen soll. 12
Diese Gemeinschaft ist natürlich durch die Herde des Hirten und den finanziellen Besitz der Frau symbolisiert. 13 M. Wolter, Lukasevangelium, 525 formuliert bezüglich des verlorenen Schafes treffend: „Es ist das Verlorensein des einen Schafes, das es wertvoller macht als die 99 nicht-verlorenen Schafe. Zur Debatte steht also die Dominanz von Wertesystemen.“ 14 Der synergistischen Interpretation ist v. a. in der protestantischen Exegese durch die Ab-
7.2 Kontext und Struktur
201
Die Perspektive auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn wird durch die beiden vorangehenden Gleichnisse vorbereitet und geprägt; ein Einfluss, der als eine bewusste hermeneutische Maßnahme des Evangelisten verstanden werden muss. Der Leser kann allein anhand des ersten Satzes erahnen, dass dem Menschen (vgl. Lk 15,11) aus irgendwelchen Gründen einer seiner beiden Söhne abhandenkommen werden und sich eine Konstellation ergeben wird, die die Rückkehr des verlorenen Sohnes zu seinem Vater deutlich erschweren wird. Offen bleibt, welche Maßnahmen der Vater ergreifen wird. Das Gleichnis kann in vier Sinnabschnitte eingeteilt werden: Der erste Sinnabschnitt (Lk 15,11–16) beginnt mit der Trennung des jüngeren Sohnes von seiner Familie, die durch die Auszahlung seines Erbteils ermöglicht wird.15 Es wird vom Fortgang des Jüngeren berichtet und von dessen Verschwendungssucht, die ihn schlussendlich im Zuge einer aufkommenden Hungersnot in existentielle Nöte führt, aus denen er sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien kann. Der zweite Sinnabschnitt (Lk 15,17–20a) schildert die Reflexionsphase des Jüngeren angesichts seiner desolaten Situation. Er bereut den Bruch mit seinem Vater und beschließt, nach Hause zurückzukehren, um dort wenigstens als Tagelöhner Wiederaufnahme in den Haushalt seines Vaters zu finden und so dem Hungertod zu entgehen. Der dritten Sinnabschnitt (Lk 15,20b–24) beschreibt die Begegnung zwischen dem jüngeren Sohn und seinem Vater, die durch das väterliche Erbarmen mit seinem Sohn und die Freude über dessen Heimkehr geprägt ist, was für den Jüngeren zu einer unverhofften Wiederaufnahme in die Familie führt. Diese wird mit größtem Aufwand gefeiert. Der vierte Sinnabschnitt (Lk 15,25–32) konzentriert sich auf den älteren Sohn, der von der Rückkehr seines Bruders unangenehm überrascht ist und die Haltung des Vaters, vor allem aber die Festlichkeiten anlässlich der Heimkehr des Jüngeren scharf kritisiert. Das Gleichnis endet mit dem Versuch des Vaters, gegenüber seinem älteren Sohn das eigene Verhalten zu plausibilisieren und ihn zum Mitfreuen über die Rückkehr des Bruders zu motivieren. Während die beiden vorangehenden Gleichnisse mit der Beschreibung einer allumfassenden Freude, sowohl unter der Freunden und Verwandten der Protagonisten als auch unter den Bewohnern des Himmels enden, bleibt am Ende des Gleichnisses vom lehnung eines soteriologisch motivierten Leistungsgedankens oft widersprochen worden. Vgl. beispielsweise L. Schottroff, Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn, 48; oder auch, wie bereits besprochen, Ch. Landmesser, Rückkehr, 252–258. 15 Die Forschung ist sich darüber einig, dass hier eine sog. Abschichtung beschrieben wird, durch die eine Auszahlung des zustehenden Erbteils vor dem Tode des Vaters ermöglicht wird und alle weiteren evtl. aufkommenden Erbansprüche aufgegeben werden. Die Kinder, die im Haus des Vaters verbleiben, haben nach dem Tode des Vaters jedoch einen zusätzlichen Anspruch auf all das, was seit dem Zeitpunkt der Abschichtung noch erwirtschaftet worden ist. Vgl. dazu eingehend W. Pöhlmann, Abschichtung, 194–213.
202
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
verlorenen Sohn die Frage zunächst ungeklärt, ob der ältere Bruder sich endgültig abwenden oder schlussendlich doch noch in die Freude einstimmen wird.
7.3 Auslegung Das Gleichnis vom verlorenen Sohn dürfte eine der bekanntesten Perikopen des LkEv sein und hat die Exegese seit Jahrhunderten beschäftigt, wodurch eine allumfassende Sichtung und Einarbeitung der Literatur an dieser Stelle weder möglich noch sinnvoll ist. Hier ist dem Votum F. Bovons vorbehaltlos zuzustimmen: „Der Exeget befindet sich in einer mißlichen, vielleicht gar ausweglosen Lage angesichts der Unmenge von Kommentaren, die sich im Verlauf der Jahrhunderte angehäuft haben und von denen er Kenntnis hat – oder auch nicht.“16 Dem Duktus der vorliegenden Analyse folgend, soll danach gefragt werden, welche Aussagen im Hinblick auf das lk. Gottesbild anhand dieses Gleichnisses getroffen werden können und inwiefern das Gleichnis für die ethische Argumentation des Evangelisten fruchtbar gemacht werden kann. Dabei soll der Schwerpunkt der Auslegung vor allem auf den Aspekten der Barmherzigkeit, die im Gleichnis begegnen, sowie auf möglichen thematischen Querverbindungen zu anderen Perikopen des LkEv liegen.
7.3.1 Der Auszug des Sohnes (Lk 15,11–16) Lukas gestaltet den Einstieg in das Gleichnis mit der für ihn typischen Formulierung „ἄνθρωπός τις“ (V. 11a).17 Dem so eingeführten Mann werden zwei Söhne zugeordnet. Näheres wird über die Familie zunächst nicht erzählt. Die Tatsache, dass der Vater einem größeren Haushalt vorsteht, in dem auch Sklaven und Tagelöhner beschäftigt sind, erfährt der Leser erst später (vgl. V. 17b.22a.26a), ebenso wie auch die Notwendigkeit der Mitarbeit der Söhne auf den Feldern (vgl. V. 25a) zu Beginn der Perikope nicht bekannt ist.18 Eine Mutter wird ebenso wenig erwähnt wie die mögliche Existenz von Schwestern; der Fokus liegt allein auf dem Verhältnis zwischen den drei Männern, das durch den Bezug auf das väterliche Erbe eine einschneidende Veränderung erfährt. Der jüngere Sohn fordert19 die Auszahlung seines Erbteils und der Vater kommt dieser Aufforderung nach und verteilt seinen Besitz unter seinen beiden 16
F. Bovon, Lukas 3, 41. Vgl. zu dieser typisch lk. Stilform auch Lk 10,30; 12,16; 14,2.16; 16,1.19; 19,12; 20,9. J. Green, Luke, 584 schließt aus dieser Tatsache auf die mittlere Größe des väterlichen Guts; vgl. ebenso F. Bovon, Lukas 3, 50. Für M. Wolter, Lukasevangelium, 537 ist die Heimkehr des Älteren vom Feld lediglich eine narrative Notwendigkeit für den weiteren Verlauf der Geschichte. 19 Man beachte die imperative Formulierung „δός μοι“ (Lk 15,12). 17 18
7.3 Auslegung
203
Söhnen. Die griechischen Begriffe für das Erbe „ἡ οὐσία“ (V. 12b) und „ὁ βίος“ (V. 12c.30a) zeigen etymologisch, dass es sich hier nicht um eine Art Abfindung handelt, sondern dass die Lebensgrundlage20 des Vaters unter den beiden Söhnen aufgeteilt und gänzlich in deren Verfügungsgewalt gestellt wird. Während der ältere Sohn im Haushalt seines Vaters verbleibt, nimmt der Jüngere sein gesamtes Erbteil und verlässt kurz darauf das Land (vgl. V. 13a). Diese kurze, aber dennoch entscheidende Episode offenbart einen bedeutsamen Charakterzug des Vaters. Es ist auffällig, dass der Vater der Aufforderung seines jüngeren Sohnes nachkommt, ohne das Ansinnen infrage zu stellen oder gar versuchsweise zu verhindern.21 Die Konsequenzen der sog. Abschichtung sind für den Vater nicht nur finanzieller Art, sondern führen schlussendlich zu einem familiären Bruch, wie im weiteren Verlauf des Gleichnisses deutlich wird: Der Jüngere gilt als verloren und ist in den Augen der Familie tot (vgl. V. 24a.32b). So mag die Forderung des jüngeren Sohnes zwar formaljuristisch gerechtfertigt sein,22 doch ist sie ein schwerer Verstoß gegen das familiäre Ethos. Der jüngere Sohn bricht unwiderruflich mit seiner Familie; seine Emigration in ein weit entferntes Land besitzt öffentlichen Symbolcharakter für die Abspaltung von der Familie. „Das Ethos des Hauses steht hier gleichermaßen gegen die vorzeitige Erbteilung und gegen die Emigration. Wenn dieses Ethos den Söhnen bei Lebzeiten des Vaters das Erbe verwehrt, stellt es sich gegen eine rechtlich durchaus mögliche Forderung. Sie widerspricht allerdings der inneren Norm des οἶκος, die auf Bewahren und Erhalten, nicht auf Teilen und Trennen gerichtet ist. Ein Gleiches gilt sinngemäß für die Emigration.“23
Die Entscheidung für einen solch drastischen Schritt liegt allein bei dem jüngeren Sohn. Auch wenn mit großer Wahrscheinlichkeit unterstellt werden kann, dass der Vater die Entscheidung nicht gutheißt, akzeptiert er den Willen seines Sohnes. Während der jüngere Sohn die Verantwortung für seine Tat trägt und ihm diese auch nicht vom Vater abgenommen wird, werden die Folgen der Entscheidung von beiden Seiten ertragen und erlitten. Eine thematische Parallele zu den existentiellen Folgen, die das Ringen um Besitz und Erbe mit sich bringen kann, ist dem Leser des LkEv bereits in Lk 12,13–15 begegnet. Die kurze Sentenz ist der Auftakt zum Gleichnis vom reichen Kornbauern und skizziert eine Szene, in der Jesus gebeten wird als Schlichter aufzutreten und Erbstreitigkeiten zwischen zwei Brüdern zu been20 Zu den beiden Begriffen und ihrer hellenistischen Herkunft vgl. auch W. Pöhlmann, Abschichtung, 208–209. 21 Ob hierbei an die besitzethischen Bestimmungen aus Lk 6,30 zu denken wäre, bleibt fraglich. 22 F. Bovon, Lukas 3, 46 betont die Rechtmäßigkeit der Abschichtung in hellenistisch geprägten Gesellschaften. „Die Forderung des jungen Mannes nach seinem Erbteil läßt vielleicht Feingefühl seinem Vater gegenüber vermissen, ist durch das Gesetz jedoch nicht verboten.“ 23 W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 186.
204
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
den. Die Replik Jesu besteht in einer Ablehnung der Bitte und in einer Warnung, dass Habgier (ἡ πλεονεξία [Lk 12,15]) und der Überfluss (περισσεύειν [Lk 12,15]) von Besitztümern (τὰ ὑπάρχοντα [Lk 12,15]) nicht lebensförderlich sind; im Gegenteil. Wenn auch dem jüngeren Sohn in Lk 15 keine Habgier unterstellt wird, so ist das Gleichnis doch vom typisch lk. cantus firmus geprägt, der die Diskrepanz zwischen Besitz und Leben beschreibt:24 Der Sohn ist in all seinem Besitz, den er zugeteilt bekommen hat, verloren; obwohl der Vater ihm sein Leben (ὁ βιός [V. 12.30]) gegeben hat, ist er tot. Die Dramatik, die sich mit dem familiären Bruch eröffnet, wird in V. 13 entfaltet. Der Sohn sammelt sein gesamtes Erbteil und zieht damit in die Ferne. Dort angekommen gründet er nicht eine eigene Existenz, die beispielsweise der seines Elternhauses ähnelt, sondern er verschleudert sein gesamtes Vermögen. Die kurze, prägnante Schilderung des finanziellen und sittlichen Verfalls des Sohnes vermittelt den Eindruck eines schnell ablaufenden Prozesses. Der Sohn verweilt nicht mehr lange in seiner Heimat, sondern bricht nach kurzer Zeit (μετ’ οὐ πολλὰς ἡμέρας [V. 13a]) auf. Die kontradiktische Verwendung der Verben „συνάγειν“ (V. 13a) und „διασκορπίζειν“ (V. 13c) zeigt, dass der Jüngere sein Erbe ebenso schnell verprasst, wie er es zuvor eingenommen hat, wodurch er sich gänzlich von seinem Vater, und schlussendlich auch von seinem Bruder unterscheidet, die beide das weisheitliche Ideal des vernünftigen, vorausschauenden Hausherrn verkörpern.25 Die Lebensweise des Jüngeren wird vielmehr als „heillos“ (ζῶν ἀσώτως [V. 13c])26 charakterisiert, wobei die fundamentale Trennung vom Vater und dem im väterlichen Haus gebräuchlichen Lebenswandel durch die lokale Bestimmung „χώρα μακρά“ (V. 13b) abgerundet wird. Der Sohn hat sich gründlich von allem getrennt, was sein Leben im Haushalt seines Vaters gekennzeichnet hat, wobei deutlich wird, dass er nicht in der Lage ist, ohne die Anbindung an seinen Vater und dessen Haus ein geordnetes Leben zu führen. Die Konsequenzen seiner heillosen Lebensführung bekommt der Sohn in dem Moment zu spüren, als er seinen gesamten Besitz verschwendet (δαπανᾶν [V. 14a]) hat und daraufhin eine große Hungersnot (λιμὸς ἰσχυρά [V. 14a])27 in jenem Land ausbricht. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Hungersnot nicht in die Lebenswelt des Vaters übergreift, sondern allein auf das Land beschränkt bleibt, in das der Jüngere gezogen ist. Die Welt des Vaters steht sinnbildlich für 24 Vgl. hierzu die Variationen dieses cantus firmus beispielsweise in Lk 6,24–26; 12,16– 21; 16,13–14.19–31; 18,18–25; Act 5,1–11. 25 Vgl. W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 184–185.187. Zudem ist das TestIss. als ein beredtes Zeugnis für die Idealisierung des Bauern als eines Gerechten zu beachten. Vgl. als thematische Parallele auch die Hochschätzung des Bauern bei Musonius Rufus, Diatriben XI. 26 F. Bovon, Lukas 3, 46 macht auf die wichtige Bedeutung dieses Begriffspaares im Bereich der antiken Ethik aufmerksam. 27 M. Wolter, Lukasevangelium, 532 betont, dass diese Formulierung sowohl in der LXX, aber häufiger noch in der profanen Gräzität begegnet.
7.3 Auslegung
205
Sicherheit, Leben und Fülle: Attribute, die immer mehr abnehmen, je weiter sich der Sohn entfernt. Die Verschwendungssucht des Jüngeren steht im schroffen Kontrast zu dem sapientialen Motiv der klugen Vorsorge28 und wirkt sich nun im doppelten Sinne negativ aus, da er nicht nur vor dem finanziellen Ruin steht, sondern sich zugleich auch existentiell bedroht sieht. Auffällig ist, dass der Reichtum des Vaters, an dem er vermittels seines Erbes Anteil gehabt hat, das einzige Mittel gewesen wäre, durch das er sich selbst vor der Hungersnot hätte schützen können, da er durch sein heilloses Leben nicht in der Lage ist, eigenen Besitz zu erwerben. Indem aber aufgrund seiner Verschwendungssucht auch die letzte Spur des väterlichen Wirkens aus seinem Leben verschwunden ist, bleibt letztlich nur das lebensbedrohende Ausgeliefert-Sein an die äußeren Umstände: Der jüngere Sohn beginnt, Mangel zu leiden (ὑστερεῖν [V. 14c]).29 Um der Gefahr des Verhungerns zu entgehen, begibt sich der Sohn in Abhängigkeit30 von einem Bürger jenes Landes (vgl. V. 15a), wodurch wiederum der eklatante Mangel an Selbstständigkeit zum Ausdruck kommt. Das erste und einzige Mal, als der Sohn Eigeninitiative gezeigt hat, war die Forderung nach der Abschichtung, die ihn schlussendlich in die Katastrophe geführt hat. Diese wird für die jüdischen Hörer des Gleichnisses durch die neue Aufgabe des Schweinehütens (vgl. V. 15b) noch weiter verschlimmert. Während die biologische Existenz durch das Abhängigkeitsverhältnis zu jenem unbekannten Bürger zunächst rudimentär gesichert scheint, wird die kultisch-religiöse Existenz des jüngeren Sohnes zutiefst gestört. Der anonyme Bürger offenbart dabei ein völliges Desinteresse an der religiösen Sozialisation seines neuen Knechts und es ist fraglich, ob die im Zusammenhang von Lk 15,1–3 zuhörenden Pharisäer das Verhalten des Bürgers wirklich als Hilfe verstanden haben. Die narrative Logik des Gleichnisses zeigt, dass durch die falsche Grundentscheidung des Sohnes und seinen heillosen Lebenswandel alle tragenden Fundamente seines Lebens gefährdet sind. Seine bürgerliche, seine religiöse und seine biologische Existenz sind in Auflösung begriffen. Das Hüten der im jüdischen Kontext als unrein geltenden Schweine ist ein narrativer Kunstgriff, der die Aufmerksamkeit darauf richtet, dass die Trennung des Sohnes vom Vater mehr und mehr auch als eine Trennung des Sohnes von Gott zu verstehen ist.31 Im Gegensatz zu den beiden vorangehenden Gleich28
Prov 10,4; 12,11; 13,25; 19,13.15.24; 20,4.13; 21,17; 23,19–21 u. ö.; Sir 18,30–33. Dieser Mangel ist natürlich rein physisch gemeint; vgl. auch Lk 22,35. Eine geistliche Dimension beschreibt Paulus in Röm 3,23; 1Kor 1,7; 8,8; 12,24; 2Kor 11,5. 30 Das Verb „κολλᾶσθαι“ hat hier sicherlich keine sexuelle Konnotation, wie beispielsweise K.‑H. Ostmeyer, Dabeisein, 626–627 behauptet. Zu Recht erwähnt F. Bovon, Lukas 3, 47 allerdings die Parallele Act 10,28, die die Unreinheit benennt, die sich ein Jude durch das Anhängen an einen „Heiden“ zuzieht. 31 Während W. Harnisch, Gleichniserzählungen, 204.229 zunächst unter Berufung auf R. Pesch die Schwierigkeiten dieser Interpretation unterstreicht, schließt er sich schlussendlich der interpretatorischen Identifikation des Vaters mit Gott an. Ansonsten herrscht in der ak29
206
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
nissen vom Verlorenen, in denen der jeweils letzte Satz eine Interpretation des Gleichnisses in Bezug auf das Wirken Gottes formuliert, werden im Gleichnis vom verlorenen Sohn die Erzähl- und die (religiöse) Deutungsebene immer stärker miteinander verschränkt. Aufgrund dieser Verschränkung begegnet auch am Ende keine Interpretationsanweisung mehr. Stattdessen wird dem Leser zugemutet, aufgrund des Kontextes und aufgrund der inneren Signale das Gleichnis in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen und zu deuten. Der Fortgang des Gleichnisses zeigt, dass sich auch durch das Hüten der Schweine, das nur aufgrund der äußersten Not übernommen worden war, keine signifikante Verbesserung der durch Hunger geprägten, lebensbedrohenden Situation ergeben hat. Die „Hilfe“ durch den Bürger war trügerisch und hat letzten Endes die Lage des Jüngeren unter religiösen Gesichtspunkten nur noch verschlimmert. Um seinen Hunger zu stillen, bittet der Sohn nicht nur darum, von den als Schweinefutter gebrauchten Schoten des Johannisbrotbaumes32 zu essen, sondern er giert förmlich danach (ἐπιθυμεῖν [V. 16a]). Doch wird seinem Begehren nicht entsprochen und er sieht sich wiederum hilflos dem Hunger ausgeliefert. Der physische Mangel hat ihn bis zur Konkurrenz mit den Schweinen getrieben, eine Konkurrenz, in der er unterliegt. „Diese Information suggeriert reichlich hyperbolisch, dass man die Schweine wichtiger nimmt als ihn und nicht zulassen will, dass er diesen etwas wegisst.“33 Im Gesamtzusammenhang des LkEv wirkt die Szenerie wie eine innerweltliche Realisierung34 des Weherufes gegen die Satten (vgl. Lk 6,25), wobei der Evangelist den Grad der Verzweiflung des Sohnes bis zum Äußersten strapaziert. Die Adressaten des Gleichnisses wissen, dass die Narration an einen Wendepunkt gelangt ist.
7.3.2 Die innere Umkehr (Lk 15,17–20a) Der Leidensdruck, dem sich der jüngere Sohn ausgesetzt fühlt, zwingt ihn schlussendlich zu einem Umdenken, und zum ersten Mal in diesem Gleichnis wird von einer kritischen Selbstreflexion des Jüngeren berichtet. Die Terminologie „εἰς ἑαυτὸν ἔρχεσθαι“ beschreibt einen kognitiven Prozess des Innetuellen ntl. Forschung ein Konsens darüber, dass der Vater auf der Metaebene des Gleichnisses Gott repräsentiert. Zum Traditionshintergrund der Vatersymbolik im vorliegenden Zusammenhang vgl. K. Erlemann, Bild Gottes, 141–145. 32 Die ntl. Forschung stellt spätestens seit P. Billerbeck übereinstimmend und zu Recht fest, dass die Schoten des Johannisbrotbaumes in der frühjüdischen Umwelt ein bekanntes Motiv für Elend und äußerste Armut ist, wobei auf ein Zitat von R. Aqiba verwiesen wird: „Wenn die Israeliten Johannisbrot nötig haben, dann tun sie Buße.“ (LevR 35,6) 33 M. Wolter, Lukasevangelium, 533. 34 Das eschatologische Pendant begegnet in Lk 16,19–31, wobei die wichtigste Differenz darin liegt, dass eschatologisch keine Umkehr mehr möglich ist, während der „verlorene“ Sohn an einem Wendepunkt steht, der ihn zur Umkehr führt.
7.3 Auslegung
207
Werdens35 und Nachdenkens, der im Zuge der geschilderten Abwärtsbewegung in der Lebensgestaltung des Sohnes den bereits genannten Wendepunkt36 markiert. Durch das Besinnen und die damit einhergehende kritische Beleuchtung der eigenen Situation ist die Möglichkeit eröffnet worden, einen Ausweg zu finden, wobei der zentrale Gedanke des Sohnes zunächst auf die Frage seines physischen Überlebens gerichtet ist (vgl. V. 17b).37 Grundlegend ist wiederum die Relation zu seinem Vater. Während bereits im vorangegangenen Text des Gleichnisses der Bruch dieser Relation den Beginn des Niedergangs und der Gefährdung des Sohnes markiert hat, und auch die Hungersnot nur weit entfernt von der Heimat des Vaters ausgebrochen war, ist nun die Nähe zum Vater der Garant für ein Leben in Fülle.38 Dabei ist dieses noch nicht einmal exklusiv auf die Familienmitglieder beschränkt, sondern auch die Tagelöhner des Vaters können sich des Überflusses an Brot sicher sein (vgl. V. 17a). Dem aus der Not geborenen Vergleich zwischen der lebensfreundlichen Situation der Tagelöhner und der eigenen lebensfeindlichen Situation folgt die Formulierung des Entschlusses zur Heimkehr. Die Trennungsbewegung, die den Jüngeren von seinem Vater weggeführt hat, ist an ihr Ende gekommen. Der Sohn will nach Hause zurückkehren, womit allein schon lokal, aber auch hinsichtlich der Relation zu seinem Vater aus seiner Heimkehr gleichermaßen eine Umkehr wird. Obwohl der griechische Begriff „μετάνοια“ bzw. dessen Derivate nirgendwo in diesem Gleichnis begegnen, ganz im Gegensatz zu den beiden vorangehenden Gleichnisse vom Verlorenen,39 ist die Beschreibung dessen, was in dem Sohn vorgeht und wozu er sich entschließt, nichts anderes als die narrative Ausgestaltung der μετάνοια. Dazu gehört aber auch, dass der Sohn die Ereignisse, die zwischen seinem Vater und ihm vorgefallen sind und die ihn schlussendlich in seine prekäre Situation geführt haben, nicht vergisst. Wieder gemessen an der Relation zu seinem Vater erkennt er, dass er sich gegen diesen versündigt (ἁμαρτάνειν [V. 18b]) und dadurch seinen Status als Sohn des Va35
M. Wolter, Lukasevangelium, 533 verweist darauf, dass der innere Monolog ein typisches lk. Stilmittel ist, „das stets einen narrativen Knotenpunkt markiert, der darüber entscheidet, wie die Erzählung weitergeht (s. auch 12,17–19; 18,4–5; 20,13 […]).“ Ähnlich argumentiert auch F. Bovon, Lukas 3, 48. Zudem macht M. Wolter, Lukasevangelium, 533–534 auf die antiken Parallelen der Formulierung „εἰς ἑαυτὸν ἔρχεσθαι“ aufmerksam: TestJos III,9; Diodorus Siculus 13,95,2; Epiktet, Diss. 3,1,15; griechBar 17,3; Seneca, de ben. VII, 20,3; Lukrez, Rer. Nat. 996.1023; ActPetr 35. 36 Vgl. auch J. Green, Luke, 581. J. Green betont, dass das In-Sich-gehen des Sohnes noch keine Umkehr darstellt; diese folgt erst später. Dieselbe Argumentation vertritt auch A. Inselmann, Freude, 248–249. 37 Vgl. dazu auch H. Klein, Lukasevangelium, 530, FN 40; ebenso M. Wolter, Lukasevangelium, 535. 38 Siehe M. Wolter, Lukasevangelium, 534: „Es wird dadurch suggeriert, dass Nähe oder Distanz im Verhältnis zum Vater über Wohl und Wehe entscheiden.“ Das ist nicht nur eine Suggestion, sondern der entscheidende Aspekt des Arguments. 39 Vgl. jeweils die beiden erläuternden Sätze in Lk 15,7.10.
208
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
ters verloren hat. Interessanterweise definiert er sein Verhalten aber nicht nur als Sünde gegen den Vater, sondern zuerst als eine Sünde gegen den Himmel.40 Darin werden zwei Aspekte sichtbar: Indem er sich gegen seinen Vater versündigt hat, hat er zunächst das vierte Gebot gebrochen, worin schließlich eine Sünde gegen den Himmel, also gegen Gott und dessen Gebot besteht. Darüber hinaus hat ihn das Verlassen des väterlichen Hauses sowohl in den Kontakt mit Prostituierten gebracht als auch, am Ende, in die Situation gezwungen, Schweine hüten zu müssen, womit er in beiden Fällen seine jüdische Identität schwer verletzt hat. Es ist an dieser Stelle aufschlussreich, danach zu fragen, worin eigentlich die Sünde gegen den Vater materialiter bestanden hat. In der Forderung der Abschichtung? In dem Verlassen des väterlichen Hauses? Oder in der Verschwendungssucht, mit der das väterliche Erbe verprasst worden ist? Es wäre unplausibel, die Bitte um Abschichtung als Sünde gegen den Vater zu definieren, da der Vater dieser Bitte ohne zu zögern nachgekommen ist und auch keinerlei kritischen Rückfragen gestellt hat. Ebenso ist auch der ältere Bruder nicht als mahnendes Korrektiv zum Verhalten des Jüngeren in Erscheinung getreten, wie er dies im weiteren Verlauf des Gleichnisses tun wird. Viel dramatischer dürfte aber, nicht zuletzt nach sapientialen Kriterien, die radikale Trennung des Jüngeren von seinem Vater und seiner Familie gewesen sein ebenso wie die Tatsache, dass er sich aufgrund der Verschwendung des väterlichen Erbes keineswegs als ein dem Vater würdiger Nachfolger gezeigt hat, sondern das väterliche Vorbild eines erfolgreich arbeitenden Mannes ignoriert hat.41 Der jüngere Sohn hat in vielfacher Hinsicht mit seinem Vater als Person und mit all dem, wofür sein Vater sinnbildlich gestanden hat, beispielsweise eine gelingende Lebensgestaltung in Verantwortung für sich und für sein ganzes Haus, gebrochen. Es wird also erkennbar, dass Sünde im vorliegenden Zusammenhang ein relationaler Begriff ist, der die Erschütterung oder gar Zerstörung einer lebensförderlichen Beziehung beschreibt, wobei das Verprassen des Erbteils lediglich als die Folge dieses Bruches anzusehen ist42 ebenso wie auch das Hüten der Schweine. Die Konsequenzen, die der jüngere Sohn aus dieser Situation zieht, sind gleichermaßen drastisch wie einleuchtend. So erkennt er zunächst die Notwendigkeit der Umkehr zu seinem Vater als einziges Mittel, sein Leben und seine Existenz zu retten, weiß dabei aber auch um den Preis, den er aus seiner Sicht für eine gelingende Rückkehr in das Haus seines Vaters zu zahlen hat: Er gibt den Sohnstatus auf, da er sich der Sohnschaft nicht mehr länger für würdig (ἄξιος 40
Zu dieser Formulierung vgl. auch ähnlich Ex 10,16; JosAs 7,4; 23,11; sowie die Ausführungen bei F. Bovon, Lukas 3, 48–49. 41 Man vergleiche an dieser Stelle die Vorwürfe, die der ältere Sohn gegen seinen jüngeren Bruder erhebt (vgl. V. 29). 42 Anders H. Klein, Lukasevangelium, 531, FN 45, der den als ἀσώτως bezeichneten Lebenswandel den Kern der Sünde nennt.
7.3 Auslegung
209
[V. 19a]) hält, und plant, um die Aufnahme in den väterlichen Haushalt als ein Tagelöhner (vgl. V. 19b) zu bitten, womit er an das Ergebnis des Vergleichs aus V. 17 anknüpft. Die vom Sohn geplante Auflösung seiner Sohnschaft wirkt wie ein Handel, den er mit seinem Vater eingehen möchte und der die Tiefe der Reue über seine Schuld gegenüber seinem Vater symbolisieren soll. Aus der Perspektive des Sohnes steht es außer Frage, dass aufgrund seines Fehlverhaltens zwischen ihm und seinem Vater nichts mehr so sein kann, wie es früher einmal war. Seine soziale Existenz als Sohn ist beendet. „Er erklärt, daß er seine Ehre, seine Identität, ja seine Sohnschaft verloren hat.“43 Am Ende dieser Überlegungen angekommen, geht er zu seinem Vater zurück (vgl. V. 20a), wobei die tatsächliche Umsetzung der Rückkehr einerseits die Realisierung der Umkehr beschreibt, andererseits als Bestätigung seines Entschlusses zur Aufgabe der Sohnschaft zu verstehen ist.
7.3.3 Die Barmherzigkeit des Vaters (Lk 15,20b–24) Auch in diesem Abschnitt des Gleichnisses spielen die räumlichen Dimensionen eine verstärkende Rolle bei der Beschreibung der relationalen Verhältnisse der Protagonisten. So kehrt der jüngere Sohn aus dem weit entfernten Land (χώρα μακρά [V. 13b]) in seine alte Heimat zurück und wird von seinem Vater gesehen, als er noch weit entfernt (μακρὰν ἀπέχειν [V. Lk 15,20b]) von dessen Haus, gewissermaßen am Horizont erscheint. An diesem Punkt lebt die Relation zwischen dem Vater und seinem Sohn wieder auf und der Vater reagiert auf die Rückkehr seines Sohnes und beginnt innerhalb des eigenen Horizonts zu handeln. Anders ausgedrückt: Sobald der Sohn wieder in die (Einfluss-)Sphäre des Vaters eingetreten ist, ist die Gestaltung der Wiederaufnahme des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn nicht nur durch die Initiative des Sohnes allein, sondern auch durch das Wirken des Vaters geprägt.44 Die Szenerie erinnert an eine Ausgestaltung von Mal 3,7. Die Reaktion des Vaters auf die Rückkehr seines Sohnes läuft in fünf Schritten ab: Der Vater sieht (ἰδεῖν [V. 20c]) seinen Sohn von Weitem, erbarmt sich über ihn (σπλαγχνίζεσθαι [V. 20c]), rennt auf ihn zu (τρέχειν [V. 20c]), fällt ihm 43
F. Bovon, Lukas 3, 49. H. Klein, Lukasevangelium, 531 betont hier einzig die väterliche Initiative: „Die durch das falsche Leben entstandene Distanz ist durch das zuvorkommende Erbarmen des Vaters überwunden.“ Ähnlich argumentiert Ch. Landmesser, Rückkehr ins Leben, 254: „Der Vater vergibt in unserem Gleichnis dem Sohn voraussetzungslos. Das Bekenntnis, gegen Gott und den Vater gesündigt zu haben, spricht der Sohn erst nach dem Akt der Vergebung aus. Sein Sündenbekenntnis dient nur noch dazu, das Handeln des Vaters hervorzuheben.“ In beiden Fällen wird die Initiative des Sohnes und die narrative Struktur des Gleichnisses nicht angemessen berücksichtigt. M. Wolter, Lukasevangelium, 535 erkennt hier richtig: „Gänzlich ‚zuvorkommend‘ […] oder ‚voraussetzungslos‘ […] ist das Handeln des Vaters freilich auch wieder nicht, denn den ersten Schritt hat der Sohn mit seiner Rückkehr getan […].“ 44
210
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
um den Hals (ἐπιπίπτειν ἐπὶ τὸν τράχηλον [V. 20c]) und küsst ihn (καταφιλεῖν [V. 20c]).45 Diese Handlungsfolge ist im innerlk. Vergleich besonders auffällig, da in allen drei Perikopen, in denen das Verb „σπλαγχνίζεσθαι“ eine zentrale Rolle einnimmt, dieselbe Abfolge von Ereignissen geschildert wird: sehen – erbarmen – hinzukommen – handeln.46 Der Evangelist beschreibt hier einen handlungsleitenden Erkenntnisprozess, in welchem das Handlungssubjekt zunächst eine bestimmte Person in einem desolaten Zustand, aus dem sie sich nicht aus eigener Kraft befreien kann, wahrnimmt, woraufhin sich der Affekt des Erbarmens über diese Person einstellt. Aus dem Affekt des Erbarmens erwachsen dann eine oder mehrere Handlungen zugunsten der bemitleidenswerten Person. Das Verhalten des barmherzigen Handlungssubjekts unterscheidet sich von dem Verhalten anderer Protagonisten dadurch, dass diese zwar auch die Person wahrnehmen, die sich in einer desolaten Lage befindet, aber aufgrund der Situation kein Erbarmen empfinden, wodurch sich auch keine Taten der Barmherzigkeit zugunsten des Einzelnen einstellen. Während die Wahrnehmung bei allen Beteiligten gleich ist, prägt der sich einstellende Affekt die Bewertung der Situation und die sich anschließenden Handlungen.47 Was bereits im Zusammenhang des Benedictus hinsichtlich der Formulierung „διὰ σπλάγχνα ἐλέους“ (Lk 1,78) und des Verortens der Barmherzigkeit im Innern des Menschen ausgeführt wurde, gilt natürlich auch für das Verb „σπλαγχνίζεσθαι“. Lukas beschreibt, wie die Barmherzigkeit gegenüber dem Heimgekehrten das ganze Wesen des Vaters bestimmt und es ihn förmlich drängt, die äußere und die innere Distanz zwischen ihm und seinem Sohn zu überwinden. Der Vater wartet nicht ab, bis der Sohn bei ihm angekommen ist, er forscht auch nicht danach, welche Einstellung sein Sohn ihm gegenüber eingenommen hat, sondern er kann aufgrund der entflammten Barmherzigkeit gar nicht anders, als reine Freude über die Wiederkunft seines Sohnes zu empfinden. Es wäre aufgrund der stilistischen Verbindung zwischen innerer und äußerer Umkehr des Sohnes, der eine innere und äußere Distanzierung vorangegangenen ist, zu vermuten, dass der Evangelist das Wissen des Vaters um die Umkehrbereitschaft seines Sohnes anhand dessen lokaler Rückkehr für die Rezeption des Lesers voraussetzt. Mit anderen Worten: Da die lokalen Beschreibungen, die im Gleichnis begegnen, stets die innere Bewegung der Protagonisten untermauern, kann vermutet werden, dass die Rückkehr des Sohnes für den Vater zugleich ein Beleg für dessen Reue ist. Es muss also nicht darüber spe45 Bereits J. Jeremias, Gleichnisse, 130 hat auf das im Kulturkreis der Levante gänzlich untypische Verhalten des Vaters aufmerksam gemacht. Hier begegnet wieder das lk. Stilmittel der Provokation. 46 Vgl. neben Lk 15,20 auch Lk 7,13–14; 10,33–34. 47 A. Inselmann, Freude, 256–257 macht auf die in der hellenistischen Antike bekannte Verbindung von Affekt und Tat aufmerksam, wobei sie nicht die Barmherzigkeit, sondern die Freude des Vaters in den Vordergrund stellt.
7.3 Auslegung
211
kuliert werden, ob der Vater bereits in V. 20 überhaupt etwas von der μετάνοια seines Jüngsten ahnt oder nicht: Er weiß Bescheid, sobald er ihn sieht. Was der Vater allerdings nicht wissen kann, sind die Details der Bedingungen, unter denen sich der Sohn seine Rückkehr in den väterlichen Haushalt vorgestellt hat. Während der Adressat des Gleichnisses schon aufgrund der Euphorie des Vaters gegenüber dem Wiedersehen mit seinem jüngeren Sohn verwundert sein kann, ist es der Sohn selbst innerhalb der narrativen Logik in jedem Falle. So reagiert er nicht auf die Umarmung und die Küsse des Vaters, sondern bleibt bei seinem Vorsatz, keine soziale Stellung innerhalb des väterlichen Hauses, die seiner Sohnschaft entsprechen würde, zu reklamieren. Er formuliert sein Sündenbekenntnis (vgl. V. 21b) und die daran anschließende formale Auflösung der Vater-Sohn-Beziehung. Er bleibt seinem Vorhaben treu und überantwortet sich gänzlich der Entscheidungsgewalt seines Vaters, ohne dass er aufgrund des väterlichen Freudenausbruches die Kategorien, unter denen die Relation zu seinem Vater wieder aufgenommen werden soll, überdenkt. Bevor der Sohn seine Bitte um die Aufnahme in den Haushalt als Tagelöhner unterbreiten kann, wird er von seinem Vater unterbrochen, der die Sklaven des Hauses anweist, seinen jüngsten Sohn mit allen „Insignien“48 der Sohnschaft auszustatten (vgl. V. 22) und ein Freudenmahl zuzubereiten (vgl. V. 23). Die Reaktion des Vaters ist ein besonderer narrativer Zug des Evangelisten: Der Vater formuliert durch seine Anweisungen an die Sklaven eine Art Antwort auf die Selbsterniedrigung seines Sohnes, der sich nicht als würdig (ἄξιος [V. 21c]) erachtet, weiterhin als Sohn des Vaters zu gelten. Indem er seinen Jüngsten mit dem besten Kleid, Ring und Sandalen ausstatten lässt, vollzieht er öffentlich die Reinvestitur49 des jungen Mannes als seinen Sohn. Die Wiedererlangung der Würde der Sohnschaft ist gerade durch die Umkehr des Sohnes grundlegend ermöglicht, durch die Barmherzigkeit des Vaters jedoch hinreichend bestätigt worden. Gleichzeitig erübrigt sich dadurch die Bitte, als Tagelöhner aufgenommen zu werden. Im relationalen Geflecht zwischen dem Vater und seinem Sohn ist aus der Perspektive des Sohnes das Schuldeingeständnis und die damit einhergehende völlige Unterordnung unter den Willen des Vaters von zentraler Bedeutung. Darin zeigt sich einerseits eine Übereinstimmung zwischen der äußerlichen Rückkehr und der inneren Umkehr des Sohnes wie auch eine Einsicht bezüglich der selbstverantworteten Schuld gegenüber dem Himmel und seinem Vater. Andererseits charakterisiert dieses Schuldeingeständnis den Sohn in seiner Demut gegenüber seinem Vater, die ein Zeichen dafür ist, dass jedwede Form des Hochmuts oder 48
Zur Bedeutung von Ring, Kleid und Schuhen vgl. die einschlägigen Kommentare, beispielsweise F. Bovon, Lukas 3, 49–50. 49 Der Begriff geht zurück auf K. Rengstorf, Die Re-Investitur des Verlorenen Sohnes, und begegnet oft in der exegetischen Literatur. W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 14–15 widerspricht der Terminologie, doch konstatiert, dass es dennoch „ein Rechtsakt [ist], der im Einklang mit der Ordnung und Gerechtigkeit des Hauses stehen müsste.“
212
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
des Stolzes, die beispielsweise im Verweis auf biologisch begründete Sohnesrechte hätte aufkommen können, dem Jüngeren fremd geworden sind. Aufschlussreich für die Position des Vaters ist jedoch die Begründung seiner Freude: Sein Sohn war tot (νεκρὸς εἶναι [V. 24a]) und ist wieder lebendig geworden (ἀναζῆν [V. 24a]), er war verloren (ἀπολωλὼς εἶναι [V. 24b]) und ist wieder gefunden worden (εὑρίσκεσθαι [V. 24b]).50 Diese, sicherlich allegorisch zu verstehende,51 Formulierung beschreibt die Perspektive, unter der der Vater den Fortgang seines Sohnes wahrgenommen hat. Für ihn war die Bitte um Abschichtung und die sich anschließende Reise in ein fernes Land kein Ausdruck eines Willens zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit. Nimmt man hier vielmehr die Relation zum Vater als Maßstab für die Bewertung der Lebenssituation der einzelnen Protagonisten des Gleichnisses, so ist der Bruch zwischen Vater und Sohn und das Sich-Entziehen des Sohnes aus der Sphäre des Vaters gleichzusetzen mit einem Verloren-Sein, einem Sterben.52 Die vom Vater empfundene Verlorenheit seines Sohnes bindet das Gleichnis thematisch eng an die beiden anderen Gleichnisse vom Verlorenen an, einerseits sprachlich,53 andererseits durch die Beschreibung der entsprechenden Trennungen. „In diesem Sinne konstituiert der Erzähler mit Hilfe dieser beiden Gleichnisse die Bildhälfte der metaphorischen Prädikationen in den Versen 24 und 32, und das Geschick des jüngeren Sohnes wird dadurch zur Sachhälfte. Die beiden ersten Gleichnisse macht Lukas damit zur hermeneutischen Rezeptionsanweisung für das dritte Gleichnis.“54
Der Unterschied, dass im Gleichnis vom verlorenen Sohn nun nicht allein der Vater aktiv wird, um das Verlorene wieder nach Hause zu bringen, sondern auch das Verlorene selbst ein gewisses Maß an Eigeninitiative entfaltet, ergibt sich sicherlich aus der kategorialen Differenz zwischen einem Schaf, respektive einer Drachme, und einem Menschen. Allerdings ist allen drei Gleichnissen gemeinsam, dass die Rückkehr des Verlorenen abhängig ist von dem Verhalten des Gegenübers (Hirte, Frau, Vater). Durch die Rückkehr des Sohnes eröffnet sich 50 Sprachlich elegant gestaltet ist die Parallelität der beiden Halbverse, in der der negative Zustand durch eine Näherbestimmung des Seins beschrieben wird: Die Existenz des Sohnes war bedroht. O. Hofius, Alttestamentliche Motive, 148 verweist auf die Parallele in Ps 30[31],13. 51 M. Wolter, Lukasevangelium, 537 betont in diesem Zusammenhang die Nähe zur frühjüdischen Bekehrungsterminologie und verweist auf JosAs 8,9; 15,5; 27,10; Philo, Migr 122 f.; Pseudo-Philo, Jona 153 und auch Kol 2,13. Ähnlich argumentiert K. Erlemann, Bild Gottes, 136, FN 308, der zudem ActPhil 117 erwähnt. Aus dem Neuen Testament wäre hier auch noch Eph 2,1–5 zu nennen: Hier ist die Barmherzigkeit (τὸ ἔλεος) Gottes (Eph 2,4) der Grund, weswegen die Christusgläubigen überhaupt vom Tod ins Leben wechseln konnten. 52 Anders H. Klein, Lukasevangelium, 532 der das Verloren-Sein des Sohnes in seiner religiös konnotierten Defizitsituation als Schweinehirte verortet sieht. 53 Vgl. die Belege für „ἀπολύειν“: Lk 15,4 (zweimal).6.8.9. 54 M. Wolter, Streitgespräch, 38.
7.3 Auslegung
213
dem Vater die Möglichkeit, den Unheilszustand seines Sohnes, den er selbst offensichtlich als bedrückend erlebt hat, zu überwinden. Angesichts der Tatsache, dass die Verlorenheit des Sohnes überwunden ist und er gleichermaßen von den Toten zurückkehren konnte, stellt sich für den Vater keine Frage nach Schuld oder Strafe. Das wäre angesichts der starken Formulierungen in V. 24 auch unangebracht. Wer die Perspektive des Vaters teilt, für den ist die Haltung des Vaters, die sich durch die Barmherzigkeit gegenüber seinem Sohn und durch die unbändige Freude über dessen Rückkehr auszeichnet, selbstverständlich. „Freude betrifft nicht nur die eigene Person, sondern hat ‚ansteckende Züge‘, d. h. sie wirkt extrapersonal und entwickelt eine dynamische Außenwirkung. Deshalb kann sie eine Gemeinschaft prägen, wenn darin ein grundsätzliches Empathievermögen vorhanden ist.“55
Wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, scheitert der ältere Sohn an der Herausforderung, sich die väterliche Perspektive zu eigen zu machen, während der restliche Haushalt längst damit begonnen hat, die Freude des Vaters über die Rückkehr seines Sohnes zu teilen.56
7.3.4 Der Zorn des älteren Sohnes (Lk 15,25–32) Das Gleichnis erfährt eine Zäsur durch das Erscheinen des älteren Sohnes, der von der täglichen Feldarbeit nach Hause zurückkehrt und von der Freudenfeier, die im Haus seines Vaters stattfindet, vollkommen überrascht ist. Durch die Arbeit des älteren Sohnes auf dem Feld wird die Diskrepanz zwischen den beiden Brüder untermauert: Beide werden im Laufe des Gleichnisses als Feldarbeiter dargestellt (vgl. V. 15b.25a), doch während der Ältere diese Arbeit im Zuge seiner bis dato intakten Relation zu seinem Vater vollbringt, musste der Jüngere seine Feldarbeit gezwungenermaßen als Schweinehirte ausführen, um sich vor dem Verhungern zu schützen. Die Arbeit des Älteren steht sinnbildlich für seine Nähe zum Vater und, wie sich in V. 29 zeigen wird, als Symbol seines Gehorsams gegenüber seinem Vater. Nun aber wird die Feldarbeit zum Ausschluss des Älteren aus dem Familienkreis, zunächst durch die räumliche Distanz zum Fest im väterlichen Haus, später durch die Identifikation mit seiner Arbeit als Zeichen der Qualität seiner Vaterbeziehung im Sinne einer Anklage gegen den Vater (vgl. V. 29–30). Es kann an dieser Stelle nicht entschieden werden, ob es eine narrative Nachlässigkeit oder ein bewusster Erzählzug des Evangelisten ist, dass zwar die Sklaven zum Fest eingeladen worden sind (vgl. V. 23–24), dass der Vater aber niemanden auf das Feld geschickt hat, um seinen älteren 55 A. Inselmann, Freude, 300. 56 Die Formulierung „ἄρχεσθαι
εὐφραίνεσθαι“ (V. 24c) ist das positive Pendant zu „ἄρχεσθαι ὑστερεῖσθαι“ (V. 14c), wodurch der Aspekt der Fülle und des Lebensförderlichen im Haushalt des Vater nochmals verdeutlicht wird.
214
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
Sohn zu benachrichtigen und ebenfalls zum Fest einzuladen.57 Doch werden aufgrund dieser Konstellation Sympathien für den älteren Sohn geweckt, während das Verhalten des Vaters immer seltsamer wirkt. „Denn auf das Entgegenkommen des Vaters ist der Sohn so wenig gefaßt wie der Rezipient des Erzählten. Was dem Ankömmling [sc. dem jüngeren Sohn, S. W.] widerfährt, markiert den Drehpunkt einer Kehre, die sowohl den Betroffenen als auch den Parabelhörer über den Horizont des wirklich Vorstellbaren hinausschwingt.“58
Der Ältere reagiert auf die überraschende Situation nicht mit einer spontanen Beifallsbekundung bzw. mit einem Teilen der Festfreude, sondern mit einer Mischung aus Verwunderung und latentem Misstrauen. Anstatt selbst in das Haus seines Vaters hineinzugehen und den Anlass der Feier herauszufinden, ruft er einen der Knechte des Hauses herbei, um sich informieren zu lassen (vgl. V. 26). Die Distanzierung des Älteren zum Verhalten seines Vaters beginnt in diesem Moment und verstärkt sich, als er den Grund für das Freudenfest erfährt (vgl. V. 27). Angesichts des Verhaltens seines Vaters gegenüber der Rückkehr des jüngeren Bruders gerät der Ältere in Wut (ὀργίζεσθαι [V. 28a]) und bildet mit diesem Affekt den direkten Kontrast zur Barmherzigkeit des Vaters.59 Strukturell wiederholt sich der Zusammenhang von Affekt und Handlung, der bereits in V. 20b–c von Bedeutung war: Der ältere Sohn nimmt die Umstände war, die die Rückkehr seines jüngeren Bruders begleiten, und gerät darüber in Zorn, woraufhin er sich weigert, das Haus auch nur zu betreten (vgl. V. 28a).60 Jetzt erst, nachdem der Ältere sich gegenüber der Situation positioniert hat, tritt der Vater auf und bittet ihn, von seiner Position abzurücken, in das Haus zu kommen und somit die Freude über die Rückkehr des Jüngeren zu teilen (vgl. V. 28b). Die Antwort des Älteren auf das Ansinnen seines Vaters ist von einer klaren Vergleichsstruktur geprägt, in welcher er sein Verhalten gegenüber seinem Vater und das darauf folgende Maß der väterlichen Zuwendung dem Verhalten des Jüngeren und der daraufhin erfolgten Reaktion des Vaters gegenüberstellt. Ob der ältere Sohn an dieser Stelle schon weiter in die Zukunft blickt und 57 A. Inselmann, Freude, 252 vermutet, dass V. 26 der Beleg dafür sei, dass die Sklaven in V. 23–24 implizit dazu aufgefordert werden, die Nachricht von der Rückkehr des Jüngeren zu verbreiten und so auch den Älteren einzuladen. Diese These deckt sich aber nicht mit dem Textbefund, sondern überbrückt lediglich die narrative Lücke. 58 W. Harnisch, Gleichniserzählungen, 219. M. Wolter, Streitgespräch, 48 bestreitet nachdrücklich, dass die Vergebungsbereitschaft des Vaters für die Adressaten des Gleichnisses überraschend sein könnte, da durch die beiden anderen Gleichnisse in Lk 15 gar keine andere Option denkbar sei. 59 Vgl. Ch. Landmesser, Rückkehr, 253; ebenso J. Green, Luke, 582–583. A. Inselmann, Freude, 254 sieht den Zorn als Gegensatz zur Freude des Vaters und nicht als Gegensatz zu dessen Barmherzigkeit. Interessanterweise ist auch der Zorn des Älteren und die sich daraus ergebende relationale Störung in der Familie ein sapientiales Motiv; vgl. Prov 18,19. 60 J. Green, Luke, 584–585 macht auf die soziologische Dimension dieser Weigerung im kulturellen Kontext des antiken Mittelmeerraumes aufmerksam, in der die Teilnahme an einem gemeinsamen Essen die wechselseitige Akzeptanz zum Ausdruck bringt.
7.3 Auslegung
215
sich insgeheim fragt, ob durch die Wiederaufnahme des jüngeren Bruders in die Hausgemeinschaft auch sein Erbe bedroht sein könnte, kann aus dem Text nicht eruiert werden. Es geht dem älteren Sohn vielmehr um die Frage, ob eigentlich jeder das Maß an Zuwendung vom Vater bekommt, das der Einzelne aufgrund des jeweiligen Verhaltens verdient hätte. So ruft der ältere Sohn seinem Vater in Erinnerung, dass er ihm all die Jahre über wie ein Sklave gedient (δουλεύειν [V. 29b]) und dabei niemals (οὐδέποτε [V. 29b]) eines der väterlichen Gebote (ἡ ἐντολή [V. 29b]) übertreten habe. Als Konsequenz dessen ist ihm niemals (οὐδέποτε [V. 29c]) auch nur ein Ziegenbock gegeben worden, damit er mit seinen Freunden ein Fest hätte feiern können, wörtlich: sich mit seinen Freunden hätte freuen können (εὐφραίνειν [V. 29c]). Die Wortwahl ist in diesem Vers besonders bedeutsam: Der ältere Sohn beschreibt seine Relation zu seinem Vater in Terminologien des Gehorsams und des Dienstes, wobei er durch die Verwendung des Verbs „δουλεύειν“ (V. 29b) bewusst auf die Differenz zwischen seinem sozialen Status, der ihm als Sohn des Patriarchen zukommt und seiner Arbeitsweise im väterlichen Haushalt hinweist. Im Zusammenhang des Gleichnisses wirkt der Kontrast zu seinem jüngeren Bruder noch schroffer: Dieser wollte, nachdem er mit seinem Vater und seiner Familie gebrochen hatte, als Tagelöhner (μίσθιος [V. 19b]) in das Haus des Vaters zurückkehren und wurde als Sohn in allen Ehren wiederaufgenommen. Der Ältere jedoch, der sich seines Wissens nach nichts zuschulden hatte kommen lassen, fühlt sich all die Jahre wie ein Sklave behandelt. Sein ganzes Leben war den Geboten des Vaters unterworfen, wobei die Terminologie „ἡ ἐντολή“ (V. 29b) eine religiöse Färbung aufweist, die in den Bereich der Gebote Gottes verweist. Wieder wird die Verschränkung zwischen der Bildebene und ihrer religiösen Deutung sichtbar, wobei die Vaterfigur, die die Macht besitzt, Gebote zu erlassen und deren Einhaltung zu verlangen, sinnbildlich für Gott steht.61 Für den älteren Sohn ist der Maßstab, an dem er seinen Bruder und sich selbst misst, der Gehorsam gegenüber dem Vater und dessen Geboten. Und obgleich er niemals eine Belohnung von seinem Vater für seine treuen Dienste erbeten hat, scheint er sie doch erhofft zu haben, wie der Vorwurf des nicht überlassenen Ziegenbocks zeigt. Auffällig ist dabei die Verwendung des Verbs „εὐφραίνειν“ (V. 29c). Der ältere Sohn hätte sich gewünscht, eine Belohnung von seinem Vater für seinen Dienst zu bekommen und diesen Beweis der väterlichen Zuwendung mit seinen Freunden zu feiern. Es wäre eine Anerkennung seiner Opferbereitschaft zugunsten seines Vaters und die Bestätigung seines Verhaltensmaßstabs gewesen; eines Maßstabs, der freilich auch eine Verurteilung seines Bruders ob dessen Verhaltens inkludiert hätte. An der Freude, die 61 M. Wolter, Streitgespräch, 38–39 vertritt die Ansicht, dass den Adressaten des Gleichnisses zu jedem Zeitpunkt einsichtig war, dass der Vater der beiden Söhne sinnbildlich für Gott steht.
216
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
sich an der Heimkehr des Jüngeren entzündet (εὐφραίνειν [V. 23b.24c.32a]), kann er nicht partizipieren, ohne die Bewertungsmaßstäbe, die seine ganze bisherige Existenz bestimmt haben, aufzulösen. So bleibt ihm nur der Zorn über das Verhalten seines Bruders und über die Reaktion seines Vaters; ein Zorn, der nicht zuletzt mit Neid gemischt ist. „Im Zorn des älteren Sohnes spiegelt sich dessen Wahrnehmung, im Vergleich zum Bruder ungerecht behandelt worden zu sein, da er selbst Freude bzw. eigene Feste entbehrt habe. Der Zorn resultiert demnach aus einem subjektiv wahrgenommenen Defizit. Diese affektive Kombination von Zorn und Eifersucht steht bereits in der älteren jüdischen Weisheitstradition im Ruf, gefährliche Konsequenzen nach sich ziehen zu können: ‚Zorn ist grausam und Wut wie überschäumendes Wasser; doch noch unerträglicher ist Eifersucht.‘“62
Diese zornige Eifersucht bricht sich in der Anklage gegen den Bruder Bahn (vgl. V. 30). Der Ältere distanziert sich vom Jüngeren,63 indem er ihn nicht als Bruder, sondern ihn lediglich als „dieser, dein Sohn“ (ὁ υἱός σου οὖτος)64 bezeichnet und die Vergehen des Jüngeren auflistet, die wie eine dunkle Kontrastfolie zur Lebensweise des Älteren wirken. Der jüngere Sohn wird beschuldigt, den Besitz des Vaters, der in Rückgriff auf V. 12c als das Leben (ὁ βίος [V. 30a]) des Vaters bezeichnet wird, mit Prostituierten verfressen (καταφαγεῖν [V. 30a]) zu haben. Für den Älteren wirkt es wie Hohn, dass der Vater ausgerechnet anlässlich der Rückkehr dieses sittlich verkommenen Sohnes auch noch das Mastkalb schlachten lässt, nachdem dieser doch bereits die Hälfte des väterlichen Besitzes verprasst hat. Da er im Vergleich dazu noch nicht einmal den besagten Ziegenbock bekommen hat, sieht er sein ganzes nomistisch orientiertes Wertesystem auseinanderbrechen. Die Freude des Vaters über die Rückkehr des Jüngeren interpretiert der Ältere als eine Zurückweisung seiner selbst. Der Vater versucht, auf den Zorn des Älteren zu reagieren, indem er ihm einerseits seine unverbrüchliche Zuwendung versichert und ihm andererseits seinen Bewertungsmaßstab zu vermitteln versucht.65 An erster Stelle steht nicht der absolute Gehorsam gegenüber seinem Willen und seinen Geboten, sondern vielmehr die Gemeinschaft des Vaters mit seinen Kindern.66 Jeder, 62 A. Inselmann,
Freude, 254. Zitiert wird hier Prov 27,4. W. Harnisch, Gleichniserzählungen, 207 spricht in Anlehnung an R. Pesch von einem „Sarkasmus“ gegenüber dem Jüngeren. 64 Man kann diese Formulierung zugleich auch als eine Distanzierung vom Vater lesen; vgl. J. Green, Luke, 585. 65 Wie A. Inselmann, Freude, 259 zeigt, agiert der Vater wieder in sapientialer Tradition, wobei sie auf Prov 15,1 (und Prov 25,15) verweist: „Eine linde Antwort stillt den Zorn, aber ein hartes Wort erregt Grimm.“ 66 Man beachte an dieser Stelle die Anrede „Kind“ (τέκνον [V. 31a]), mit der der Vater seinen Ältesten bezeichnet. Er hält nach wie vor die Möglichkeit einer gelingenden Beziehung aufrecht. J. Nolland, Luke 2, 788, macht in Bezug auf das Beziehungsgeflecht auf einen interes63
7.3 Auslegung
217
der in der Gemeinschaft mit dem Vater lebt, hat Anteil an dessen gesamten Besitz, vom Ziegenbock bis zum Mastkalb. Es geht somit nicht um die materielle Zuwendung, die der Vater seinen Kindern angedeihen lässt, sondern um die Möglichkeit einer Lebensgestaltung, die er ihnen durch die Gemeinschaft mit ihm eröffnet und die durch die Teilhabe an der Fülle des väterlichen Besitzes gekennzeichnet ist. Der Gedanke einer Belohnung für die treuen Dienste stellt sich insofern gar nicht, da der ältere Sohn jederzeit und zu seiner Freude ein Fest mit seinen Freunden hätte veranstalten können.67 Dabei wäre die intakte Relation zwischen ihm und seinem Vater die Grundlage gewesen, auf der solch ein Fest hätte aufbauen können. Doch blieb die Hochschätzung des relationalen Maßstabs, der eine Unterordnung des nomistischen Systems notwendig folgt, dem Älteren bisher verschlossen.68 Der Vater unterstreicht seine Perspektive nochmals durch den Verweis auf die Dualismen von Tod und Leben, von Verloren-Sein und Gefunden-Werden, denen der jüngere Sohn ausgesetzt war. Die Teilhabe an den jeweils positiven Seiten kann nur in Relation zum Vater geschehen. Damit ergibt sich aber für den Vater eine Selbstverständlichkeit der Freude über die Rückkehr des Sohnes vom Tod ins Leben, ja nahezu schon eine Pflicht, sich zu freuen. Doch weist die Verwendung des Imperfekts (ἔδει [V. 32a]) darauf hin, dass der ältere Sohn aufgrund seines Zornes die Chance vertan hat, an diesem Freudenfest teilzunehmen, obwohl es doch, in den Augen des Vaters, seine Pflicht gewesen wäre; jetzt ist die Feier vorbei.69 Die Dramatik, die diesem Satz des Vaters inne liegt, besteht darin, dass der Ältere aufgrund seiner falschen Maßstäbe und seines eklatanten Mangels an Barmherzigkeit, sich selbst in einem wichtigen Punkt aus der Gemeinschaft mit seinem Vater und seiner Familie ausgeschlossen hat. Die nahezu schon verbissene Konzentration auf die absolute Einhaltung der väterlichen Gebote hat seinen Blick verengt, sodass er die wirklich lebensspendenden Aspekte seiner Existenz, die sich auch aus der Relation zu seinem Vater ergeben, nicht wahrgenommen hat. Aus einer lebendigen Vater-Sohn-Beziehung santen Punkt aufmerksam: „If it is true that the younger son has been restored to his father, it is just as true that the younger son has, within the family, been restored to his brother.“ 67 Vgl. J. Nolland, Luke 2, 790–791. I. Broer, Gleichnis, 460 betont an dieser Stelle, dass der Vater seinem Ältesten prinzipiell Recht gibt und ihn darüber hinaus zur Freude über die Rückkehr des Jüngeren motivieren will. Doch gibt der Vater dem älteren Sohn bezüglich der Stichhaltigkeit seiner Vorwürfe eben nicht Recht. 68 In diesem Sinne kann tatsächlich von einer Ablehnung des soteriologisch motivierten Leistungsgedankens gesprochen werden, aber gewiss nicht bezüglich der tatkräftigen Umsetzung der μετάνοια. 69 Vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 198i. Wichtig ist, die Abgeschlossenheit der Möglichkeit zu betonen, die in den V. 25–28 noch gegeben war. Das Gleichnis hat kein offenes Ende in dem Sinne, dass der Ältere doch noch zum Fest dazukommen könnte, wie beispielsweise J. Jeremias, Gleichnisse, 130 den irrealen Gebrauch von ἔδει deutet: „Ἔδει ist nicht real (‚ich musste ein Fest veranstalten‘, entschuldigend), sondern irreal (‚Du müßtest jubeln und Dich freuen‘, vorwurfsvoll). Es ist doch Dein Bruder, der heimfand!“
218
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
ist ein starres do-ut-des-Denken geworden, durch welches der ältere Sohn nur enttäuscht wurde, da es nicht den Maßstäben seines Vaters entsprach. In der Perspektive des Vaters ist ein Geben und Nehmen längst dadurch transzendiert, dass in der Gemeinschaft mit ihm schon alles gegeben ist. Diese Gemeinschaft durch gegenseitige Barmherzigkeit aufrecht und lebendig zu erhalten, ist die eigentliche Aufgabe und, wenn sie gelingt, der Grund der Freude.
7.4 Der verlorene Sohn im lukanischen Denken: Gottesbild und Ethik Wie oben bereits erwähnt, ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn eingebettet in einen Kontext, der durch den Protest der Pharisäer und Schriftgelehrten gegen die Zuwendung Jesu zu Zöllnern und Sündern geprägt ist (vgl. Lk 15,1–3). Die Tischgemeinschaft, die Jesus mit den aus pharisäischer Perspektive Auszugrenzenden pflegt, ist dabei Ausdruck einer besonderen Verbundenheit,70 die die religiösen Eliten gegenüber Zöllner und Sündern nicht tolerieren können und wollen. Das Maß, mit dem die Menschen beurteilt werden, konzentriert sich auf die individuelle Lebensgestaltung und prüft, inwiefern sich diese mit einem bestimmten Verständnis der Tora in Einklang bringen lässt.71 Zöllner, Prostituierte und andere „Sünder“72 exkludieren sich aufgrund ihres Lebenswandels selbst aus der Reihe derer, mit denen die Pharisäer und Schriftgelehrten guten Gewissens Tischgemeinschaft hätten haben können, ohne sich selbst damit in kultischer Sicht zu verunreinigen.73 Mit anderen Worten: Eine Gemeinschaft mit den „Zöllnern und Sündern“ kam für die Pharisäer und Schriftgelehrten zur Zeit Jesu nicht infrage, da eine solche Gemeinschaft eine öffentliche Akzeptanz des aus religiös-sittlicher Sicht zu verurteilenden Lebenswandels gleichgekommen wäre. Die explizite Zuwendung, die Jesus aber eben jenen religiös wie sozial ausgegrenzten Randgruppen angedeihen ließ, dürfte ein mit großer 70 Siehe G. Hotze, Jesus als Gast, 287: „Wo Personen miteinander essen und trinken, da herrscht Friede zwischen den Teilnehmern des Mahles; Tischgemeinschaft bedeutet Eintracht, Versöhnung – zumindest die Bereitschaft dazu. Der sich zu Tisch legende Jesus antizipiert die barmherzige Liebe Gottes, der in seinem Reich das Gastmahl der Versöhnung halten wird (vgl. Lk 13,29; 14,15; 22,16.30).“ 71 Die Formulierungen sind hier bewusst vorsichtig gestaltet, da man nicht von der einen Lehre eines „orthodoxen“ Judentums zur Zeit Jesu sprechen kann, sondern sich vielmehr der Pluralität der unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen bewusst sein muss. 72 Die Frage, wer zur Gruppe der Sünder gehört, ist natürlich abhängig vom jeweiligen Verständnis dessen, was (religiös) rechtschaffen ist. Jede jüdische Gruppierung dürfte für sich in Anspruch genommen haben, den Willen Gottes und somit das, was „gerecht“ und was „sündig“ ist, allein und normativ auszulegen. Bei O. Hofius, Tischgemeinschaft, 28 findet sich eine Zusammenstellung derer, die in den Augen der Pharisäer als „Sünder“ galten, wobei die Vollständigkeit und die historische Zuverlässigkeit sicherlich nicht absolut ist. 73 Anders G. Stemberger, Pharisäer, 73–74.
7.4 Gottesbild und Ethik
219
Wahrscheinlichkeit historisches Faktum74 des Wirkens Jesu gewesen sein und kennzeichnet auch die Darstellung Jesu im LkEv.75 Die drei Gleichnisse vom Verlorenen und explizit das Gleichnis vom verlorenen Sohn, dienen ebenso wie beispielsweise Lk 5,21–32 dazu, die Übereinstimmung dieser Zuwendung mit dem Willen Gottes zu erläutern, die im Selbst- und Weltbild der Pharisäer und Schriftgelehrten keinen Platz hat. Im Gesamtzusammenhang der Gleichnisrede in Lk 15,4–31 verweisen der existentielle Ernst, die Gebote Gottes zu halten und der unwidersprochene Dienst für Gott auf das Selbstverständnis der angesprochenen Pharisäer und Schriftgelehrten. Deren Ablehnung einer (Tisch-)Gemeinschaft mit Zöllnern und Sündern entspricht der Weigerung des älteren Sohnes, am Freudenfest anlässlich der Rückkehr des Jüngeren teilzunehmen. Ebenso wie die Pharisäer die „Sünder“ anhand der Taten beurteilen, beurteilt oder besser: verurteilt der ältere Sohn seinen jüngeren Bruder aufgrund dessen lasterhaften Lebenswandels (vgl. Lk 15,30). Die Bezugsgröße ist dabei der Gehorsam gegenüber den Geboten (ἡ ἐντολή [V. 29b]) des Vaters, der auf den Kontext der Pharisäer übertragen sinnbildlich für Gott steht. Lukas vermittelt durch die Perikope ein pharisäisches Gottesbild, das zwar einen unbedingten Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten verlangt, und zwar unabhängig von persönlichen Befindlichkeiten,76 in dem aber göttliche Liebe und Vergebung keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Platz haben. Eine positive Beziehung zum Vater ist aus Sicht des älteren Bruders ausschließlich dadurch möglich, dass er wie ein Sklave seinem Vater dient und darauf hofft, eines Tages dafür belohnt zu werden. Dem geht die Überzeugung einher, dass eine Belohnung für all diejenigen, die diese Einstellung und diese Servilität gegenüber dem Vater nicht teilen, auch in keiner positiven Relation zu ihm leben können und somit auch nur Strafe, oder zumindest keine Belohnung, zu erwarten haben. Dabei darf nicht übersehen werden, dass diese Haltung gegenüber Gott eine identitätsbestimmende Bedeutung hat. Der Zorn des älteren Bruders ist Ausdruck einer Identitätskrise, die sich angesichts der väterlichen Zuwendung zum jüngeren Bruder entwickelt und die Grundlagen seiner Existenz in Relation zum Vater infrage stellt. Der Kardinalfehler, den die Pharisäer in Analogie zum älteren Bruder begehen, liegt nicht in der Hochschätzung der Gebote (vgl. Lk 11,39–42), sondern in der völligen Ignoranz gegenüber der göttlichen Barmherzigkeit, die eben nicht nur Gottes Handeln und Entscheiden prägt, sondern die in Form der imitatio misericordiae Dei auch allen Glaubenden als Handlungsmotivation im Umgang mit den (sündigen) Mit74
Die Bezeichnung Jesu als „ἄνθρωπος φάγος καὶ οἰνοπότης, φίλος τελωνῶν καὶ ἁμαρτωλων“ (Lk 7,34) ist wohl historisch. Zur Historizität vgl. beispielsweise M. Wolter, Lukasevangelium, 288. 75 Vgl. Lk 5,27–32; 7,36–50; 19,1–10. 76 Vgl. die Duldsamkeit des Älteren, auf die in Lk 15,29 angespielt wird und die erst angesichts der freudigen Wiederaufnahme des Jüngeren in Zorn umschlägt.
220
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
menschen aufgetragen ist. Die Zuwendung Jesu zu den Sündern, die dabei auch noch Ausdruck und Inhalt seiner göttlichen Sendung sein soll (vgl. Lk 5,31–32), ist in den Augen der Pharisäer eine ebenso große Provokation wie das Schlachten des Mastkalbs in den Augen des Älteren. Hierin offenbart sich die Unvereinbarkeit des Gottesbildes der Pharisäer mit dem Gottesbild des lk. Jesus. Zwei Aspekte sind es, die zur Verdeutlichung des lukanischen Gottesbildes angeführt werden sollen und die letztlich auch einen Brückenschlag zu den Pharisäern bilden können: die Barmherzigkeit und die Umkehr. Die Barmherzigkeit (σπλαγχνίζεσθαι [Lk 15,20b]), die der Vater angesichts seines zurückgekehrten Sohnes empfindet, ist, wie die Exegese gezeigt hat, der Affekt, der das ganze Wesen des Vaters beeinflusst und bestimmt.77 Die Barmherzigkeit wird als die zentrale Handlungsmotivation beschrieben, durch die alle weiteren Aktionen des Vaters angeregt werden. Hierin schließt das durch den Vater symbolisierte Gottesbild eng an die Aussagen an, die im Magnificat und im Benedictus über Gottes Wirken in der Heilsgeschichte gegenüber seinem Volk getroffen worden sind (vgl. Lk 1,50.54.72.78[!]). Doch gilt hier die Zuwendung Gottes explizit auch denen, die sich von ihm abgewandt haben und aufgrund der gebrochenen Relation zu Sündern geworden sind.78 Die durch die Barmherzigkeit motivierte und geprägte Zuwendung durchbricht den Erwartungshorizont sowohl des jüngeren als auch des älteren Sohnes. Beide haben damit gerechnet, dass ihr Gehorsam gegenüber den Geboten des Vaters nicht nur zum Maßstab der Qualität ihrer Relation zum Vater gemacht wird, sondern dass ihre Relation zum Vater im Gehorsam gegenüber seinem Willen besteht. Die Reinvestitur des Jüngeren als eines Sohnes im Haushalt des Vaters steht sinnbildlich für die analogielose Zuwendung Gottes zu den reuigen Sündern, die aus seinem barmherzigen Wesen resultiert. Das Ziel dieser Zuwendung besteht in der Wiederherstellung einer engen, liebevollen, lebensstiftenden Relation zwischen Gott und dem Einzelnen, die in der Vater-Sohn-Beziehung des Gleichnisses skizziert wird. Das Thema der Gebotsobservanz ist in erster Linie überhaupt nicht im Blick, da es grundsätzlich um eine Frage um „Leben und Tod“ (vgl. Lk 15,24.32) geht, die aufgrund der Nähe oder der Distanz zu Gott entschieden wird. Für E. Jüngel wird die Nähe zu Gott durch die Teilhabe an der Gottesherrschaft realisiert, deren Charakter im Gleichnis vom verlorenen Sohn beschrieben wird. „In dieser Parabel kommt die Gottesherrschaft als die sich ereignende Liebe zur Sprache. Diese Liebe aber braucht nicht verteidigt zu werden. Denn wo die Gottesherrschaft als 77 A. Inselmann, Freude, 255–256 versucht hier, die Freude als den handlungsmotivierenden Affekt zu beschreiben, der auch das Innere des Vaters dominiert. Allerdings wird dabei das Verb „σπλαγχνίζεσθαι“ nicht in seiner Bedeutung als „sich erbarmen“ gefasst, sondern in seiner etymologischen Herkunft, die auf die Bewegung der inneren Organe verweist. Die Freude stellt sich erst ein, als der Vater seinen Sohn wieder in den Armen halten kann und die Relation zu ihm wiederhergestellt ist. 78 Vgl. auch Dtn 30,1–6; Hos 11,8–11; Sir 17,25–18,14.
7.4 Gottesbild und Ethik
221
Liebe Ereignis wird, da lädt sie auch die Lieblosen zum Fest der Liebe, wie der Vater den verlorenen älteren Sohn in der Parabel.“79
Auffällig ist die Übereinstimmung des Verhaltens des Vaters mit signifikanten Merkmalen und Handlungsanweisungen der Feldrede. So wird dort die Barmherzigkeit zum Mittelpunkt und Maßstab allen ethischen Handelns erkoren, wodurch dieses in der Nachahmung der göttlichen Barmherzigkeit besteht (vgl. Lk 6,35–36). Wie der Vater im Gleichnis sich seines Sohnes erbarmt, der mit ihm gebrochen und sich in seiner Lebensgestaltung immer weiter von ihm entfernt hatte, so charakterisiert die Feldrede die Barmherzigkeit Gottes als wirksam auch und gerade gegenüber den Undankbaren (οἱ ἀχάριστοι [Lk 6,35]) und den Bösen (οἱ πονηροί [Lk 6,35]). Freilich sollte man den Vergleich nicht allzu sehr anstrengen, doch ist von einer Dankbarkeit seitens des Jüngeren im Gleichnis nichts zu vernehmen, sondern nur von einer Reue bezüglich seiner Taten. Eine Reue, von der der Vater zu diesem Zeitpunkt noch nichts weiß, sondern sie höchstens erahnt. „Hier ereignet sich Liebe, die allem Schuldgestammel zuvorkommt. Die Liebe des Vaters erhört den Sohn, bevor dieser mit seinem ‚pater peccavi‘ überhaupt zu Wort kommt.“80 Die Forderung der Feldrede, sich in die Not des Gegenübers einzufühlen und die Zuwendung zu ihm allein an den Bedürfnissen des Gegenübers zu bemessen, ist im Zuge der Goldenen Regel formuliert (Lk 6,31). Dabei soll die Hilfe am Nächsten unlimitiert sein, ohne Hoffnung auf eine Wiedervergeltung seitens dessen, der die Hilfe in Empfang genommen hat (vgl. Lk 6,34), ohne Rücksichtnahme auf den eigenen Besitz, die eigenen Vorbehalte (Lk 6,32–33). Diese Handlungsanweisung wird narrativ in den Befehlen des Vaters an seine Sklaven ausgestaltet (vgl. Lk 15,22– 23). Die Linderung der Not des Jüngsten, die sowohl physischer als auch psychischer Natur ist, wird zum Mittelpunkt der väterlichen Handlungen. Der ältere Sohn wiederum handelt paradigmatisch in Kontrast zu den ethischen Normen der Feldrede: Sein Verhalten ist durch Zorn anstelle von Barmherzigkeit motiviert (vgl. Lk 15,28), die Normen seines Handelns und die Erwartung einer dementsprechenden „Belohnung“, besser: Würdigung durch den Vater, sind auf Reziprozität ausgerichtet, die in den Worten der Feldrede ein Kennzeichen der Sünder ist (vgl. Lk 6,32–34). Bei allem, aus „pharisäischer“ Perspektive nachvollziehbarem, Zorn des Älteren formuliert die Feldrede eine Drohung gegen diejenigen, die nicht vergeben können oder wollen (vgl. Lk 6,37–38). Einem Messen des anderen im Zorn und einer Verurteilung des Gegenübers wird in der Logik der Feldrede mit einem zornigen GemessenWerden und einer dementsprechenden Verurteilung eschatologisch begegnet werden (vgl. Lk 6,38). 79 80
E. Jüngel, Paulus und Jesus, 162–163. E. Jüngel, Paulus und Jesus, 161.
222
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
Nach den Maßstäben jesuanischer Ethik, wie sie in der Feldrede formuliert sind, rückt der ältere Sohn, der sich aufgrund seines Gehorsams gegenüber den Geboten des Vaters und seiner sich dadurch einstellenden Überlegenheit gegenüber seinem jüngeren Bruder seiner Zugehörigkeit zum Vater sicher gewesen ist, immer mehr ins Abseits. „Das Arrangement, das den älteren Sohn außerhalb des Hauses zeigt, läßt ein Verharren im Widerstand als Selbstausschluß aus der Gemeinschaft mit Gott erscheinen.“81 Nur diejenigen, die die barmherzige Zuwendung ohne Rücksicht auf eigene Interessen gegenüber einem, durchaus als „sündig“ zu beschreibenden Nächsten aufbringen, werden Kinder Gottes genannt werden (vgl. Lk 6,35). Auf der Metaebene gesprochen heißt dies, dass die Gottessohnschaft derer, die sich mit dem Älteren identifizieren, nach den Normen der Feldrede gefährdet ist.82 Dabei ist die Distanzierung des älteren Sohnes zu seinem Vater vielschichtig ausgeführt: So bezeichnet er ihn in der Auseinandersetzung in Lk 15,28–32 kein einziges Mal als „Vater“, wobei er seinen jüngeren Bruder auch nicht als Bruder bezeichnet, sondern lediglich als „dieser, dein Sohn“ (Lk 15,30). Damit ordnet er die relationalen Strukturen dergestalt, dass er den Vater auf die Seite des Bruders, den er aufgrund seines Verhaltens verurteilt, und sich selbst in Opposition dazu stellt. Der Zorn und die Verurteilung treffen gleichermaßen den Vater als auch den jüngeren Bruder und eine verbindliche Zugehörigkeit im Sinne eines familiären Zusammenhangs o. ä. wird seitens des Älteren bestritten. Im Duktus von Lk 15,1–3 richtet sich der Blick auf all diejenigen, die aufgrund der Rechtschaffenheit, in deren Besitz sie sich wähnen, jedwede Gemeinschaft mit dem reuigen Sünder entschieden zurückweisen. Im Zuge dieser Zurückweisung entwickelt sich jedoch eine Selbstdistanzierung der vermeintlich Rechtschaffenen zu Gott; je entschiedener die Zurückweisung desto größer die Distanz. Die Feldrede argumentiert diesbezüglich anhand der Aufforderung zur Feindesliebe (vgl. Lk 6,27–30[34]). Auch und gerade den Feinden soll die fürsorgende, erbarmende Zuwendung gelten und die Kinder des Allerhöchsten stehen in der Pflicht, sich von den Feinden nicht zu distanzieren, sondern ihnen vielmehr zum Nächsten zu werden. In der Bildwelt von Lk 15 bedeutet dies, dass auch die Sünder als Brüder verstanden werden müssen. Diese Perspektive vermittelt im Gleichnis vom verlorenen Sohn der Vater, indem er seinen Ältesten einerseits als sein Kind (τέκνον [Lk 15,31]) bezeichnet, andererseits die familiäre Verbundenheit der Brüder betont (ὁ ἀδελφός σου 81
K. Erlemann, Bild Gottes, 140. argumentiert E. Rau, Reden, 197, der im Gleichnis die Selbstverständlichkeit der Partizipation des Älteren am Haushalt des Vaters und somit der sich mit dem Älteren identifizierende Hörer am Reich Gottes formuliert findet: „Ist das richtig, dann will der Erzähler dem Hörer weder seine Gerechtigkeit noch seinen Lohn bestreiten. Im Gegenteil, er erinnert ihn daran, daß er seines Lohnes gewiss sein kann, und zwar deshalb, weil er ihm so die Skrupel vor der Beteiligung an der Freude über den Sünder nehmen zu können hofft.“ 82 Anders
7.4 Gottesbild und Ethik
223
[Lk 15,31]), die der Ältere als nicht mehr gegeben sieht. Das Familienbild ist eine stabile Metapher, um die ethisch geforderte Gemeinschaft zu beschreiben: So funktioniert der Zusammenhalt der Brüder in erster Linie über die Relation zum Vater, wobei dessen Barmherzigkeit, die es zu akzeptieren und zu imitieren gilt, das Fundament der Struktur darstellt. Dabei ist es auffällig, dass der Vater sich sowohl gegenüber dem jüngeren als auch gegenüber dem älteren Sohn als barmherzig erweist und darin die jeweilige Entfremdung zu überwinden sucht. Die dauerhafte und lebensfördernde Relation des Einzelnen zum Vater und darin auch zu seinem Nächsten ist das Ziel der väterlichen barmherzigen Zuwendung. In der Abhängigkeit der Brüder von der Barmherzigkeit des Vaters werden sie, bei aller vermeintlichen moralischen Überlegenheit, einander gleich. Für die lk. Theologie bedeutet dies, dass der Einzelne stets in Abhängigkeit von der Barmherzigkeit Gottes lebt und darin zum einen die Bedingung der Möglichkeit einer dauerhaften, lebensfördernden Gottesbeziehung erfährt und dass er zum anderen seine Relation zum Gegenüber nur durch die imitatio misericordiae Dei sinnvoll gestalten kann und soll. Im Endeffekt beschreibt dieses relationale Geflecht zwischen dem Einzelnen, dem Nächsten und Gott die Grundstruktur der Königsherrschaft Gottes,83 die sowohl im vorliegenden Gleichnis als auch in anderen Perikopen des LkEv durch das Bild der Freude und des Festmahles beschrieben wird. Die Partizipation an der eschatologischen Freude und die Notwendigkeit des Eintretens in das Reich Gottes wird im LkEv breit thematisiert ebenso wie auch die Weigerung verschiedener Kreise, an der Freude zu partizipieren.84 „Mit Sicherheit lässt sich aber feststellen, dass ihm [Lukas S. W.] sehr daran gelegen war, das Moment der Mitfreude als Verhalten Gottes gegenüber Sündern konstitutiv zu definieren. Mit Nachdruck möchte er auch seine Adressaten zu einer entsprechenden Affektkompetenz erziehen. Ob er dies aus eigener Glaubenserkenntnis oder aus historischer Jesustradition erfahren hat oder möglicherweise auch andere Tendenzen in christlichen Kreisen regulieren möchte, darf dahingestellt bleiben.“85
Abschließend darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Ablehnung, die der Ältere seinem jüngeren Bruder entgegenbringt, sich auf dessen unmoralischen Lebenswandel bezieht. Dabei ignoriert er die Tatsache, dass der Jüngere in Reue zu seinem Vater zurückgekehrt ist. Ein solches Verhalten wird auch den Pharisäern und Schriftgelehrten im LkEv zugeschrieben, wenn sie die Gemeinschaft Jesu mit den Zöllnern und Sündern kritisieren. Doch darf die Notwendigkeit der μετάνοια, sei sie nun explizit benannt oder nur narrativ beschrieben, für das lk. Denken nicht ignoriert werden. Der lk. Jesus akzeptiert mitnichten den ethisch83 Hierin ist E. Jüngel, Paulus und Jesus, 162 in seiner Betrachtung des Gleichnisses als Beschreibung des Reiches Gottes Recht zu geben. 84 Lk 11,52; 13,24–30; 14,15–24; 16,14–16; 18,15–17.25; 22,30; 23,42–43; (24,26); Act 14,22. Vgl. hierzu auch Wolter, Lukasevangelium, 538. 85 A. Inselmann, Freude, 321.
224
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
moralisch verkommenen Lebenswandel der Zöllner und Sünder! Doch identifiziert er die Personen nicht mit ihren „Sünden“, sondern eröffnet die Möglichkeiten zur Umkehr und sieht darin eine seiner wichtigsten Aufgaben.86 Gerade in dieser Suche nach dem Verlorenen offenbart sich die Barmherzigkeit Gottes. Da die vermeintlich Rechtschaffenen87 nicht zuletzt durch ihre Verachtung der „Zöllner und Sünder“ der Umkehr ebenso bedürfen wie die von ihnen Verachteten, wird die μετάνοια zu einem integralen Bestandteil der Teilhabe am Königreich Gottes.88 Diese Einsicht ist eng verbunden mit dem Motiv der Demut, die der jüngere Sohn bei seiner Rückkehr gegenüber seinem Vater erweist und deren Bedeutung mehrfach im LkEv begegnet:89 Paradigmatisch soll hier die Perikope Lk 18,9–14 genannt werden, in der die Eigenwahrnehmung des Pharisäers als eines Gerechten vor Gott durch die Abgrenzung gegenüber all denen, die er als Sünder beschreibt, vor allem aber gegenüber dem Zöllner, der gemeinsam mit ihm den Tempel betreten hat, gestiftet wird. Der Pharisäer ist aufgrund seiner Selbstgewissheit, seiner Körperhaltung und seiner Wortwahl, mit der er Gott gegenüber im Gebet auftritt, nahezu schon eine Karikatur des Hochmütigen. Die Pointe der Perikope besteht darin, dass der reuige Zöllner, dessen ganze Haltung Demut ausstrahlt (vgl. Lk 18,13), Gott um die Vergebung seiner Schuld bittet und gerechtfertigt nach Hause geht, während der Pharisäer keine Rechtfertigung vor Gott erfährt (vgl. Lk 18,14). Auffallend ist dabei, dass der Pharisäer sich auch keiner Schuld bewusst ist, um deren Vergebung er bitten könnte. Sein Hochmut entzündet sich am Spiegel seiner Leistungen gegenüber Gott (vgl. Lk 18,12). Dabei verkennt er, dass seine Verachtung gegenüber seinen Mitmenschen nicht nur seine Nächsten-, sondern auch seine Gottesbeziehung nachhaltig stört; wieder gilt hier: Sünde ist die Störung der Relation zu Gott! Das Ende der Perikope benennt explizit die Umkehrung der Verhältnisse von Hochmut und Demut,90 die schlussendlich ihren Grund in dem relationalen Geflecht des Einzelnen zu Gott und zu seinem Nächsten findet. Der Mangel an Demut des Pharisäers im Tempel gegenüber Gott, die Hochschätzung der eigenen sittlich-religiösen Vollkommenheit und die mangelnde Barmherzigkeit gegenüber dem Zöllner bildet exakt dasselbe ge86 Vgl. 87 Vgl.
paradigmatisch Lk 5,31–32; 15,4–10; 19,10. L. Schottroff, Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, 35. 88 Im lk. Denken ist die Umkehr sicherlich nicht nur eine einmalig stattfindende Buße (wie beispielsweise in Hebr 6,4–6; 2Petr 2,20–22), sondern kann sich immer wieder ereignen. 89 Das Magnificat beschreibt beispielsweise eindrücklich, dass vor Gott die Hochmütigen keinen Bestand haben werden (vgl. Lk 1,51), während er sich vielmehr den Demütigen helfend zuwendet (vgl. Lk 1,52). Zudem wird die Hochschätzung der Demut und der Bescheidenheit auch im Gleichnis vom Hochzeitsmahl (vgl. Lk 14,7–11) ausgeführt, ebenso wie die implizite Verurteilung des Hochmütigen und die parallele explizite Vergebung gegenüber dem Reuevollen narrativ durch die Perikope des sog. „Schächers am Kreuz“ (Lk 23,39–43) geschildert wird. 90 „ὅτι πᾶς ὁ ὑψῶν ἑαυτὸν ταπεινωθήσεται, ὁ δὲ ταπεινῶν ἑαυτὸν ὑψωθήσεται.“ (Lk 18,14b); vgl. auch die Parallele in Lk 14,11!
7.5 Transformationen
225
störte relationale Muster ab, das sich zwischen dem älteren Sohn, seinem Vater und seinem jüngeren Bruder in Lk 15,28–30 skizzieren lässt. Die drei Gleichnisse vom Verlorenen dienen dazu, die Perspektive Gottes zu verdeutlichen, die sich in der Zuwendung Jesu zu den Sündern erkennen lässt: Der einzelne Mensch ist als Mensch im Blick und nicht als die Summe seiner Sünden. Somit erklärt sich auch die Freude im Himmel über diejenigen, die Buße tun und umkehren, um somit wieder in die lebendige Gottesbeziehung einzutreten. Dadurch ist der Mensch zu Gott zurückgekehrt. Die Umkehr ist bei Lukas also einerseits ein Geschenk Gottes, da er die Möglichkeit zur „μετάνοια“ eröffnet und das Verlorene auch aktiv sucht. Andererseits ist sie durchaus auch ein Wirken des Menschen, eine Leistung, zu der der Einzelne seinen Teil beiträgt. Dabei fordert die lk. Ethik den Einzelnen nicht nur zur eigenen Umkehr auf, sondern auch dazu, die Umkehr des Gegenübers zu fördern und vor allem zu akzeptieren. Letzteres ist insofern besonders bedeutsam, da die Sünde, wie oben beschrieben, ein Bruch im relationalen Gefüge ist; ein Bruch, der nicht nur zwischen Mensch und Gott, sondern auch zwischen Mensch und Mensch entstehen kann. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt, dass dieser Bruch nur durch Erbarmen überwunden werden kann. Das heißt, dass die μετάνοια entgegenkommende Barmherzigkeit benötigt, um überhaupt zum Ziel zu gelangen.
7.5 Das Motiv des verlorenen Sohnes in der Antike: Gemeinsamkeiten und Transformationen Auf die traditionsgeschichtlichen Gemeinsamkeiten, die das Gleichnis vom verlorenen Sohn mit anderen Texten aus dem antiken Mittelmeerraum teilt, ist in der ntl. Forschung bereits vielfach aufmerksam gemacht worden. So versteht beispielsweise R. Aus das Gleichnis als eine Analogie zur Josephsnovelle,91 und auch O. Hofius bemüht sich, in Abgrenzung zu L. Schottroff, darum, einen hebräischen traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Gleichnisses zu beweisen.92 Die wichtigste und detaillierteste Studie zur Einbettung des Gleichnisses in seinen antiken Kontext hat W. Pöhlmann verfasst,93 auf den sich die meisten neueren Kommentare ausführlich beziehen.94 W. Pöhlmann hat sich dabei nicht nur auf analoge Texte aus der Umwelt konzentriert, sondern auch 91 Siehe R. Aus, Weihnachtsgeschichte, 172: „Jesu Parabel vom verlorenen Sohn und seinem barmherzigen Vater enthält kaum ein einziges Motiv, das nicht in jüdischen Traditionen zur Josefsgeschichte eine Entsprechung hätte.“ 92 Vgl. O. Hofius, Alttestamentliche Motive, 152–153. 93 W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn. 94 Daneben sei auch die Untersuchung von E. Rau, Reden in Vollmacht, genannt, der sich nahezu zeitgleich mit W. Pöhlmann mit den antiken Traditionshintergründen des Gleichnisses vom verlorenen Sohn beschäftigt hat.
226
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
das Motiv des οἶκος als gemeinsamen Nenner unterschiedlicher antiker Traditionen, die thematisch im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn stehen, herausgearbeitet. W. Pöhlmann unterstreicht die Bedeutung der bäuerlichen Strukturen für die Stabilität der Gesellschaft und belegt deren Einfluss auf hellenistisch-philosophische Texte einerseits95 sowie auf sapientiale Traditionen im (Früh-)Judentum andererseits.96 In beiden kulturellen Kontexten trifft ein Verhalten, das durch den jüngeren Bruder repräsentiert wird, durchweg auf Ablehnung. Seine Lebensweise gefährdet den Bestand des ganzen Hauses, das als Garant eines gelingenden Lebens gilt.97 „Es ist weisheitliches und paränetisches Gemeingut, daß auf Verschwendung und Untätigkeit Hunger und Not folgen. Der Parabelerzähler bleibt in seiner Erzählung hart an der Erwartung und Erfahrung seiner Hörer. Er baut seine erzählte Welt in vollem Einklang mit ihnen auf, bis er, bei der Heimkehr des Sohnes, aus der weisheitlichen Welt und ihrer Ordnung ausbricht und seine Hörer zu einer unvermittelten Kollision mit einer neuen Erfahrung bringt.“98
Diese Erschütterung der allgemein bekannten Ordnung war nach W. Pöhlmann allen hellenistisch geprägten Adressaten des Gleichnisses gemeinsam, ebenso wie die Charakterisierung des Lebensstils des Jüngeren in der Fremde als ἀσώτως keine Verwunderung hervorgerufen haben dürfte. „Diese Ordnung des Hauses zu erhalten und in ihr zu leben, ist die Aufgabe, für die die Menschen da sind. Wer aus eigennützigen Gründen, ohne Not, aus dieser Ordnung ausscheidet, stellt sich außerhalb der πόλις oder der Dorfgemeinde. Wer keinen Herd hat, hat auch bald kein Gesetz mehr, steht im Verdacht der Gesetzlosigkeit.“99
Somit steht der ältere Sohn in den Augen der hellenistischen Adressaten exemplarisch für ein gerechtes, ein tugendgemäßes100 Verhalten, das den Erwartungen der Zeit durch und durch gerecht wird. Hierin wird bereits ersichtlich, dass das Gleichnis vom verlorenen Sohn ein vielschichtiger Kommunikationsprozess ist. Während im lk. Zusammenhang die Kritiker Jesu durch das Verhalten des älteren Sohnes gegenüber dem Vater am Ende des Gleichnisses konterkariert und in ihrem Hochmut gegenüber Zöllnern und Sündern angegriffen werden sollen, eröffnet das Gleichnis durch seinen narrativen Ort den Adressa95 W. Pöhlmann beschäftigt sich vor allem mit Hesiods „Werke und Tage“, Xenophons „Οἰκονομικός“, sowie Texten zum Wesen des Hauses und der agrarisch geprägten Welt bei Aristoteles, Pseudo-Aristoteles, Kallikratidas, Bryson, Musonius Rufus und Hierokles. 96 Neben Ps 133 untersucht W. Pöhlmann die Proverbien, Sirach sowie das TestIss. 97 In diesem Zusammenhang begegnen auch Motive wie „Schutz“, „Gerechtigkeit“, „religiös-sittliches Verhalten“. 98 W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 23. 99 W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 39. Vgl. thematisch auch S. 41. 100 Der Begriff der ἀρετή wird vor allem im Zusammenhang mit der Stoa angeführ; vgl. W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 46–47.
7.5 Transformationen
227
ten Identifikationsmöglichkeiten mit dem älteren Bruder, wodurch diese ebenso wie die Pharisäer und Schriftgelehrten schlussendlich auf provokative Weise in ihrer Selbst- und Weltsicht hinterfragt werden. Die Adressaten sollen anhand ihrer eigenen Wertmaßstäbe erfahren, wie sehr die anbrechende Gottesherrschaft, die durch die göttliche Barmherzigkeit im Innersten strukturiert ist, die gewohnte Weltwirklichkeit erschüttert. Wer in den Bahnen der hellenistischen Traditionen denkt und lebt, wird durch das Gleichnis vom verlorenen Sohn grundsätzlich herausgefordert. Diese Herausforderung stellt sich natürlich auch den Adressaten aus dem jüdischen Milieu,101 die nicht zuletzt aufgrund sapientialer Prägungen im Verhalten des jüngeren Sohnes einen groben Verstoß gegen die familiären und gesellschaftlichen Ordnungen und Wertvorstellungen erkennen. Dabei kann keine Trennung zwischen dem hellenistisch geprägten Frühjudentum der Diaspora und dem möglicherweise stärker im palästinisch-hebräischen Denken verwurzelten Judentum Israels, das im narrativen Zusammenhang auch durch die Pharisäer und Schriftgelehrten repräsentiert wird, gezogen werden. W. Pöhlmann führt in seiner Untersuchung detailliert aus, dass ein Leben nach sittlich-religiösen Kategorien im weisheitlichen Denken untrennbar mit dem Motiv des Hauses und der Bewahrung desselben verbunden ist. „Zusammenfassend lässt sich beobachten, daß in den Sprüchen Haus und Landwirtschaft Orte der Bewährung für ein Leben nach weisheitlicher Ordnung sind. Die Bewährung und die sittliche Qualität eines Mannes lassen sich ablesen an der Art seines Umgangs mit seinen Feldern und Herden, seinen Sklaven und seinem Haus.“102
Es kann mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass es sich bei der weisheitlichen Spruchtradition zum Motiv des οἶκος um Alltagsethos gehandelt hat. Dadurch gewinnt das Gleichnis vom verlorenen Sohn besondere Aufmerksamkeit, da es narrativ gewissermaßen in der Mitte der Gesellschaft verortet ist und ethisch zunächst eng an allgemeine Grundüberzeugungen anschließt, die den Erfahrungshorizont der Adressaten widerspiegeln.103 Hätte das Gleichnis an irgendeine Form eines abstrakten Ethos für eine bestimmte kleine, elitäre Schicht der Gesellschaft angeschlossen, wäre die Wirkung der im Gleichnisses, vor allem seine provokative Spitze gegen die allgemeine Überzeugung mehr oder weniger wirkungslos verpufft. Betrachtet man das Verhalten des Vaters gegenüber seinem jüngeren Sohn unter dieser Perspektive, so entsteht der Eindruck, als ob der Vater angesichts der 101 Zu den Zusammenhängen zwischen den Gleichnissen Jesu und den rabbinischen Gleichnissen vgl. D. Flusser, Die rabbinischen Gleichnisse; E. Rau, Reden, 222–243.301– 375; W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 117–127. Die rabbinischen Gleichnisse werden hier nicht behandelt, da der zeitliche Abstand zu den synoptischen Traditionen zu groß erscheint. 102 W. Pöhlmann, Der verlorenen Sohn, 61. 103 Anders ausgedrückt: Der ältere Sohn repräsentiert ein Arbeiten und ein Urteilen anhand der Maßstäbe, nach denen „man“ sich verhält. Er handelt so, „wie es sich gehört“.
228
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
Rückkehr des Jüngeren nicht nur dessen heillosen Lebenswandel übersieht, sondern selbst die Rahmenbedingungen eines verantwortungsvollen Wirtschaftens verlassen hat. Indem er seinem jüngeren Sohn die Aufnahme in das Haus nicht verweigert und ihn darüber hinaus wieder als Sohn, und nicht etwa als Tagelöhner, in den Haushalt reintegriert, gefährdet er den Bestand seines Haushalts, da er weiß, dass der Sohn zu einem heillosen Lebenswandel tendiert. Die Vorhaltungen, die der ältere Sohn seinem Vater macht, können auch als Ausdruck der Sorge um die Zukunft des väterlichen Hauses verstanden werden. „Die Barmherzigkeit des Vaters muß sich also dem Protest der Weisheit aussetzen.“104 Der in der Exegese ausgeführte Paradigmenwechsel, der durch das Gleichnis formuliert wird, knüpft an diese Konfliktsituation an: Im Gegensatz zu dem durch den älteren Bruder vertretenen Ethos, das im jüngeren Bruder nicht nur die Personifizierung eines unsittlichen Lebenswandels, sondern auch die Gefährdung der häuslichen Gemeinschaft erkennt,105 ist die durch die Barmherzigkeit motivierte Haltung des Vaters dazu imstande, die Möglichkeit einer lebens- und gemeinschaftsfördernden Versöhnung zu realisieren. Diese verweist letztlich auch wieder zurück auf die weisheitliche Prägung des älteren Bruders, indem ein Streit unter Brüdern beigelegt werden soll, da dieser das ganze Hauswesen gefährdet (vgl. Prov 6,19).106 Der Argumentationsgang des Gleichnisses nimmt also die weisheitlich geprägten Bedenken ernst und schließt sich auch der Verurteilung der Verschwendungssucht des Jüngeren an,107 doch wird die Ablehnung gegen den Jüngeren durch die Kategorie der barmherzigen Zuwendung transformiert in eine versöhnende Reinklusion. Diese Transformation, die narrativ in den Entscheidungen des Vaters begründet liegt, muss für die Adressaten eine Provokation ihres Alltagsethos gewesen sein.108 Indem das Erbarmen als Wesenszug Gottes und das Teilnehmen an der Freudenfeier als Teilhabe an der anbrechenden Gottesherrschaft dargestellt wird, wird ersichtlich, welche fundamentalen, weil alltagsbestimmenden Veränderungen durch die im LkEv beschriebene Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes angestoßen werden. Die Verkündigung wie auch die Umsetzung der Rahmenbedingungen der Gottesherrschaft ist im LkEv von Anfang an eine Provokation, der sich die Adressaten ausgesetzt sehen.109 Im vorliegenden Falle werden die Bewertungsmaßstäbe einer bäuerlichen Gesellschaft, wie sie beispielsweise in den weisheitlichen Traditionen vermit104
W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 73. W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 68–70. auch TestSeb VIII,5–9,3. 107 Man denke hierbei nur an die Formulierung, dass der jüngere Sohn tot gewesen sei. 108 Während das Gleichnis in der christlichen Kultur hinlänglich bekannt und aufgrund dessen seines provokativen Charakters beraubt ist, wird die Herausforderung aber auch in der Gegenwart immer noch aktuell, wenn es darum geht, die im Gleichnis beschriebene zwischenmenschliche Ethik auch umzusetzen. 109 Vgl. auch Lk 4,28–30. 105 Vgl. 106 Vgl.
7.5 Transformationen
229
telt werden, hinsichtlich des zwischenmenschlichen Umgangs infrage gestellt. Nicht mehr nur der Faule, der Ungehorsame, der Verschwender wird mit Mahnungen konfrontiert, sein Verhalten zu ändern, sondern auch der Fleißige, der Strebsame, der Gewissenhafte sieht sich auf der relationalen Ebene herausgefordert. Indem die Barmherzigkeit zum höchsten Maßstab erhoben wird, wird der gegenüber dem Verschwender unbarmherzige Fleißige selbst kritisiert und zur Revision seiner Wertmaßstäbe und seines Verhaltens aufgefordert. Die Kategorien, nach denen der Fleißige als ein „Gerechter“ bezeichnet wurde, haben sich verändert. Insofern er sein Verhalten gegenüber seinem Nächsten nicht an der im Gleichnis skizzierten Barmherzigkeit orientiert, partizipiert er nicht am Reich Gottes. Der „Gerechte“ wird zum „Ungerechten“. Durch die Schwerpunktsetzung auf die imitatio misericordiae Dei transformiert der Evangelist ethische Grundüberzeugungen seiner Umwelt, ohne gänzlich mit ihnen zu brechen.110 Während das Verhalten eines Sünders zweifelsfrei zu kritisieren ist, eröffnet sich durch die Barmherzigkeit eine neue Perspektive sowohl für den Sünder als auch für die Menschen in dessen sozialem Umfeld. Dem schuldig Gewordenen wird die Möglichkeit gegeben, mittels der Umkehr in die Gottesgemeinschaft und somit auch in die Gemeinschaft der Glaubenden zurückzukehren, ohne dass dabei Fehler der Vergangenheit aufgerechnet werden. An erster Stelle steht die Freude über die Rückkehr des Verlorenen. Diese barmherzige Annahme durch Gott ist zugleich Ansporn und Aufgabe für die menschliche Gemeinschaft, die sich dazu aufgefordert sieht, die eigenen Wertmaßstäbe an denen Gottes auszurichten. Nur wer die Freude über die Rückkehr des Verlorenen teilt, kann an der Gottesherrschaft partizipieren. Der Evangelist nötigt vor allem diejenigen, die sich ihrer Tugendhaftigkeit gerade in Abgrenzung zu den Sündern sicher waren, zu einem Umdenken hinsichtlich des sozialen Miteinanders im Lichte der anbrechenden βασιλεία τοῦ θεοῦ. Die lk. Ethik prägt alle Lebensbereiche durch den Grundsatz der imitatio misericordiae Dei. Angesichts der Parabel vom verlorenen Sohn wird deutlich, dass gerade die Lebensvollzüge, die bislang von weisheitlich-ökonomischen Maßstäben geprägt waren, in besonderer Weise durch die Ethik der Barmherzigkeit herausgefordert werden. Zuletzt soll noch ein kurzer Ausblick auf die Bedeutung des Motivs „verlorener Sohn“ für den antiken Kulturraum des Mittelmeers erfolgen. W. Pöhlmann konnte eindrucksvoll belegen, dass das Motiv des prodigus bzw. des filius luxuriosus weit verbreitet war.111 Es findet sich einerseits in Fabeln, wie beispiels110 Es
sei hier exemplarisch an Ps 30(31) oder auch Ps 102(103) erinnert, in denen das Erbarmen Gottes gegenüber dem Elenden und dem reuigen Sünder gelobt wird. Der größere Traditionszusammenhang wurde bereits im Exkurs „Bund und Barmherzigkeit“ ausgeführt. 111 Er nennt hierbei den sumerischen Dialog „Der Vater und der verlorene Sohn“; Aischines Or 1; Aesops Fabel „Der junge Verschwender und die Schwalbe“; „Die Adelphen des Terenz“; Seneca der Ältere Rhet. Contr. 2,4; 3,3; Calpurnius Flaccus Decl 30; Pseudo Quin-
230
Kapitel 7: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32)
weise bei Äsop, es wird in politischen Reden aufgegriffen, wie beispielsweise bei Aischines, und es wird darüber hinaus auch in Deklamationen verwendet, wie beispielsweise bei Pseudo-Quintilian oder bei Seneca dem Älteren.112 Während das Motiv des prodigus gewissermaßen den gemeinsamen Nenner der verschiedenen Texte und Traditionen darstellt, ist der Grund für die Verwendung des Motivs höchst unterschiedlich. Bei Äsop wird eine Warnung vor dem verschwenderischen Lebensstil formuliert, da der prodigus aufgrund seines Leichtsinns und seiner Genusssucht schlussendlich stirbt. Aischines wiederum wendet das Motiv des prodigus auf seinen politischen Gegner Timarchos an, um diesen politisch und gesellschaftlich zu diskreditieren. Die genannten Deklamationen basieren allesamt auf einer kurzen Geschichte, die eine Art Rechtsfall beschreibt, wobei die Realitätsnähe des Falles dabei keine übergeordnete Rolle spielte.113 Die Deklamationen fanden in der Ausbildung der Rhetoren Verwendung, indem die Schüler lernen sollten, für unterschiedliche kontroverse Standpunkte zu argumentieren. Aufgrund des prodigus-Motivs, das in verschiedenen fiktiven Situationen, die den Deklamationen zugrunde liegen, anzutreffen ist, kann eine Analogie zum Gleichnis vom verlorenen Sohn hergestellt werden, vor allem, da in diesen Fällen häufig eine Personenkonstellation aus einem Vater, einem tugendhaften und einem verschwenderischen Sohn begegnet.114 Allerdings muss vor einer vorschnellen Parallelisierung zwischen den Deklamationen und dem lk. Gleichnis gewarnt werden, da die Figuren der Deklamation in ihrer ethisch-moralischen Färbung zugunsten der didaktischen Anwendung jederzeit verändert werden können. tilian Decl 5; Philo, QGen. IV, 198; Philo, de Provid. 2,3–5 (bei Eusebius v. Caesarea, PraepEv 8,14,4). 112 Bei E. Rau, Reden, 244–246 findet sich zudem der Verweis auf den Florentiner Papyrus 99, der in Form einer öffentlichen Verlautbarung besorgter Eltern gestaltet ist, die potentielle Gläubiger davor warnen, ihrem verschwendungssüchtigen Sohn Geld zu leihen. Auch nennt E. Rau hier den ebenfalls aus dem ägyptischen Raum stammenden Brief des Antonis Longus an seine Mutter, in dem er seine Verschwendung bereut und die Mutter um die Begleichung seiner Schulden bittet. Darüber hinaus führt er auch noch einen Traumbericht des Artemidoros v. Dalis an. 113 Vgl. W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 102–103. In diesem Zusammenhang begegnet auch die Gattung der controversia, der Streitgespräche, die auch M. Wolter, Streitgespräch, 25–27.56 als formgeschichtlichen Traditionszusammenhang für das Gleichnis vermutet, ohne dabei auf die Zusammenhänge mit der römischen Rhetorenausbildung näher einzugehen. 114 Bereits L. Schottroff, Gleichnis, 44–47 hat auf die Analogie zwischen dem Gleichnis und der V. Deklamation PsQuin. hingewiesen. Dadurch wird der antike „Verstehenshorizont“ des Gleichnisses deutlich. Sie betont, dass aufgrund der analogen Verwendung des prodigus Motivs in der antiken Umwelt, das Gleichnis mitnichten nur von der göttlichen Liebe handelt, die durch den Vater repräsentiert wird, sondern dass der antike Adressat durchaus die Strukturen menschlicher Zuwendung erkennt. L. Schottroff, Gleichnis, 47 resümiert: „Die entscheidende Differenz zwischen beiden Stoffen ist die, daß es sich einmal um eine auf zwischenmenschliches Verhalten abzielende Reflexion handelt, in Lk 15 jedoch diese Reflexion auf einen soteriologischen Sachverhalt hinauswill.“
7.5 Transformationen
231
„Der Rhetorikschüler sollte lernen, für beide Parteien zu plädieren; warum nicht auch für die gleiche Gestalt unter verändertem Vorzeichen? So kennen die Deklamationen den bis zur Selbstaufopferung liebenden Vater, aber ebenso den grausamen, der den Sohn zu Tode foltert oder ihm die Hinrichtung der eigenen Mutter befiehlt. Die Gestalten der Deklamationen sind, anders als in der Fabel oder Parabel, wandelbare Scheingebilde ohne festes Ethos. […] Dieser spielerische Austausch von Personen und Motivation ist in den Parabeln Jesu ohne Beispiel.“115
Es wird deutlich, dass im Gleichnis vom verlorenen Sohn die Verwendung des Motivs des prodigus in der vorliegenden Figurenkonstellation auf ein kulturelles Gemeingut des antiken Mittelmeerraumes zurückgegriffen wird.116 Dies geschieht, um die zentrale theologische Botschaft der Barmherzigkeit Gottes und der Hochschätzung der μετάνοια zu übermitteln und zwar in einem narrativen wie stilistischen Gewand, das sowohl frühjüdischen als auch hellenistisch-römischen Adressaten nicht unbekannt war. Die theologischen Inhalte entfalten gerade in ihrer Einbettung in einen bekannten kulturellen Kontext ihren provokativen Charakter, da im Gegensatz zu den Deklamationen keine theologisch-ethische Beliebigkeit vermittelt wird. Die Gattung des Gleichnisses sowie dessen Verwendung im lk. Kontext als Apologie des jesuanischen Handelns schützen vor einer Beliebigkeit der ethischen wie theologischen Schwerpunktsetzung.117 Letztlich handelt es sich beim Gleichnis vom verlorenen Sohn um einen Übersetzungsprozess neuer, provokativer theologischer Inhalte in die Denk- und Sprachwelt der Antike.
115 116
W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 106. W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 108–109 macht auf die vielfältige Verwendung und Ausgestaltung der Begriffe „luxuria“ bzw. „ζῆν ἀσώτως“ in der hellenistisch-römischen Literatur aufmerksam. Dabei stellt er fest, dass die zwei dramatischen Topoi vom Verschwender und vom Vater mit zwei Söhnen nach und nach miteinander verschmolzen sind. 117 Siehe W. Pöhlmann, Der verlorene Sohn, 106: „In der Parabelerzählung aber ist alles eigentlich. Das gilt auch für das Ethos der handelnden Gestalten. Ihr Tun und Ergehen wird von den Hörern als wirklich erfahren, als Entwurf von Leben, der ernstzunehmen ist.“
Kapitel 8
Joseph und Aseneth 8.1 Prolegomena Die vorliegende Untersuchung soll dazu dienen, die Verortung der lk. Ethik in der antiken Umwelt durch einen Blick aus der frühjüdischen Perspektive klarer zu erfassen und das daraus resultierende Verständnis möglicher Transformationsprozesse zu vertiefen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht hierbei der frühjüdische Roman1 „Joseph und Aseneth“, der aufgrund seiner hellenistischen Prägung einen adäquaten „Gesprächspartner“ für den Evangelisten Lukas darstellt, der seinerseits als Gottesfürchtiger einen engen Kontakt zum hellenistischen Frühjudentum gepflegt hat. Selbstverständlich kann allein aufgrund der lokalen Gegebenheiten eine literarische Abhängigkeit zwischen dem LkEv und JosAs ausgeschlossen werden ebenso ist eine Kenntnis der frühjüdischen Schrift durch den Evangelisten nicht zu plausibilisieren. Leitend für die Untersuchung ist jedoch die Überlegung, dass das hellenistische Frühjudentum, unabhängig von seiner je individuellen lokalen Ausprägung, Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Gottes- und Menschenbildes aufweist, welche durch den Gebrauch der LXX als norma normans des theologischen Arbeitens und der mehr oder minder stark ausgeprägten Diasporasituation im hellenistischen Kulturkreis entstanden sind. Bei JosAs handelt es sich um eine literarische Fiktion, die auf der biblischen Notiz der Eheschließung zwischen Joseph und der ägyptischen Priestertochter Aseneth aufbaut (vgl. Gen 41,45.50). Der erste Teil der Erzählung (JosAs 1–21) beschreibt den Weg von der ersten Begegnung zwischen Joseph und Aseneth bis zu deren Hochzeit, wobei die Ablehnung Aseneths durch Joseph aufgrund seiner Frömmigkeit und die Überwindung dieser Distanzierung durch den Übertritt der Aseneth zum Judentum im Mittelpunkt steht. Der zweite Teil (JosAs 22–29) erzählt von der Gefährdung Aseneths, der sie sich durch den Angriff des 1 Siehe M. Vogel, Einführung, 6: „JosAs bildet die Schnittstelle zwischen jüdischer Novelle und griechischem Roman, namentlich dem Abenteuer- und Liebesroman.“ Zur Gattungsbestimmung als Roman vgl. auch Ch. Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ, 591; R. Bloch, Take Your Time, 93–95. Entschieden dagegen äußert sich G. Delling, Kunst, 38: „Um einen Roman handelt es sich jedenfalls nicht, und schon gar nicht um einen Liebesroman […].“ Für G. Delling, Kunst, 39 ist JosAs keiner literarischen Gattung zuzuordnen, sondern besteht aus einer Mischform verschiedener Gattungen.
234
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
Sohnes des Pharaos und seiner Verbündeten in Gestalt der Halbbrüder2 Josephs ausgesetzt sieht. Die Narration endet mit der Rettung Aseneths durch Benjamin und die Söhne Leas sowie der Verschonung der Söhne Bilhas und Zilpas. Für JosAs lässt sich eine komplexe Überlieferungsgeschichte nachweisen, die sich in (neu-)griechische, lateinische, syrische, äthiopische, armenische, rumänische und kirchenslawische Überlieferungsstränge differenzieren lässt.3 Die vorliegende Untersuchung basiert auf der mittlerweile nahezu unumstrittenen Rekonstruktion des griechischsprachigen Langtexts,4 die in ihrem Kern auf die Arbeit von Ch. Burchard zurückgeht und von U. Fink nochmals geringfügig überarbeitet worden ist.5 Als Entstehungsort kann eine jüdische Diasporagemeinde in Ägypten angenommen werden, und die Entstehungszeit lässt sich im grob im Zeitraum vom ersten vor- bis zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert einordnen.6 Die folgende Analyse soll der Diskussion um die Genese von JosAs keine neuen Argumente hinzufügen, auch steht die Fülle an Traditionen, die in JosAs verarbeitet worden sind, nicht in ihrer Gesamtheit im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es sollen im Folgenden vielmehr theologische, anthropologische und ethische Motive im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Ausgehend von den Begründungszusammenhängen lk. Ethik soll dabei einerseits ein besonderes Augenmerk auf eine mögliche Korrelation von Gottesbild und Ethik gelegt werden, andererseits sollen potentielle thematische Anknüpfungspunkte zwischen dem LkEv und JosAs aufgezeigt werden, ohne dabei die innere Logik von JosAs zu ignorieren oder zu stören. Anders ausgedrückt: Um ein Gespräch zwischen Lukas auf der einen und Joseph und Aseneth auf der anderen Seite zu
2 An diesem Angriff auf Aseneth beteiligen sich nur die Brüder Josephs, die von den Sklavinnen Bilha und Zilpa abstammen. Die Söhne Leas und Rahels treten demgegenüber zum Schutz der Aseneth auf. 3 Zur Systematik der verschiedenen Traditions- und Überlieferungsstränge vgl. das Schaubild von U. Fink, Revision, 17, das eine Überarbeitung der These Ch. Burchards zeigt. 4 M. Philonenko hat mit seinem Werk „Joseph et Aséneth“ 1968 einen griechischen Kurztext von JosAs herausgegeben und diesen als Rekonstruktion der ursprünglichsten Fassung beschrieben. Die Arbeit von Ch. Burchard und anderen konnte jedoch das Primat des Langtextes belegen. Zur Überlieferungs- und Forschungsgeschichte vgl. U. Fink, Textkritische Situation, 33–44. 5 E. Reinmuth (Hg.), Joseph und Aseneth, 56–137. 6 Vgl. Ch. Burchard, Erzählung, 74. Die zeitliche Einordnung bleibt außerordentlich vage, da es keine Textzeugen, auch keine indirekten Zeugen, aus dem genannten Zeitraum gibt. Die älteste Handschrift stammt aus dem 6. Jahrhundert. Aufgrund von inhaltlichen Erwägungen kann ein christlicher Autorenkreis ebenso ausgeschlossen werden wie eine all zu späte Datierung. Vgl. zum Ganzen neben Ch. Burchard auch A. Standhartinger, Wirkungsgeschichte, 219–220. Da sich, mit Ausnahme von R. Kraemer, When Aseneth met Joseph, 237 alle zeitgenössischen Autoren am Urteil Ch. Burchards hinsichtlich der Frage nach Entstehungsort und -zeit orientieren, ist es müßig, diese hier einzeln aufzulisten. R. Kraemer wiederum datiert JosAs frühestens ab 300 nach Christus.
8.2 Die Buße der Aseneth
235
ermöglichen, gilt es, geeignete Gesprächsthemen zu finden. Wie die Analyse zeigen wird, sind diese Themen vielfältig gegeben.
8.2 Die Buße der Aseneth 8.2.1 Idolatrie als trennendes Element Die Charakterisierung der Aseneth zu Beginn von JosAs ist zunächst durch die Beschreibung ihrer Schönheit und ihres privilegierten Status geprägt.7 Daneben ist ihre religiöse Beheimatung in der polytheistischen Götterwelt Ägyptens ein konstitutives Element ihrer Persönlichkeit, das sie mit Eifer und Bedacht pflegt. So opfert sie täglich den Göttern, deren Bilder in ihrem Schlafgemach angebracht sind (vgl. JosAs 2,3) und als sie sich ihren Eltern zuliebe besonders schön zurecht macht, wählt sie neben kostbaren Kleidern eine Fülle von Schmuckstücken aus, die sowohl die Namen als auch die Bilder der ägyptischen Götter zeigen (vgl. JosAs 3,6). In ihrer Treue gegenüber dem ägyptischen Pantheon erweist sie sich als Idealtypus einer ägyptischen Priestertochter und wird dadurch zur Antagonistin Josephs, dessen Identität grundlegend durch seine unerschütterliche Treue gegenüber JHWH definiert wird.8 Auffallend ist dabei, dass sich die religiösen Diskrepanzen im alltäglichen Lebensvollzug graduell unterschiedlich auswirken.
7 Aseneth wird als 18-jährige Jungfrau von überragender Schönheit dargestellt, wobei als besondere Qualifikation hervorgehoben wird, dass sie nicht den anderen Frauen Ägyptens, sondern vielmehr den Ahnfrauen Israels, namentlich Sarah, Rebekka und Rahel gleicht (vgl. JosAs 1,4–6). Ihre privilegierte soziale Stellung spiegelt sich in ihrem Zuhause wider. Ihre luxuriös ausgestatteten Gemächer befinden sich in einem Turm (JosAs 2,2–5.7–9) auf dem bewachten und ummauerten Grundstück ihres Vaters Pentepheres, dessen Beschreibung Assoziationen an den Garten Eden weckt (vgl. JosAs 2,10–12). Ihr zur Seite stehen sieben weitere Jungfrauen, die in derselben Nacht geboren wurden wie Aseneth und die ebenfalls in eigenen Räumlichkeiten in jenem Turm untergebracht sind (vgl. JosAs 2,6). Die meist positive Hervorhebung ihrer Jungfräulichkeit, worin ein redundantes Motiv des ersten Hauptteils besteht (vgl. JosAs 1,4.5; 2,4.9; 4,7; 7,7.8; 8,1; 11,3; 12,5.14; 14,12.14; 15,1.2.4.6.7.8.10.14; 19,9; 21,1.12.19), wird flankiert von einer ausgeprägten Verachtung gegenüber Männern im Allgemeinen (vgl. JosAs 2,1). Ironischerweise ist der Hass auf das andere Geschlecht in den Augen Josephs ein positives Charaktermerkmal, das er unter umgekehrten Vorzeichen teilt (vgl. JosAs 7,8–8,1). 8 Die Bezeichnung Josephs als „ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ“ (JosAs 6,3; 21,4; 23,10) soll diese besondere Nähe zu Gott zum Ausdruck bringen. In dieselbe Richtung zielt auch die Bezeichnung „ὁ δυνατὸς τοῦ θεοῦ“ (JosAs 3,4; 4,7). Dass das Auftreten Josephs nahezu epiphane Züge trägt (vgl. JosAs 5,4–5; 6,2 sowie die Parallelisierung der Erscheinung des Engels mit dem Auftreten Josephs [vgl. JosAs 14,9]) ist letztlich narrative Konsequenz seiner Charakterisierung. Dabei bringt JosAs aber auch zum Ausdruck, dass das exklusive Gottesverhältnis Josephs nicht allein auf menschlicher Treue, sondern auch auf göttlichem Handeln gründet (vgl. JosAs 4,7).
236
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
Während der Vater Aseneths, Pentephres, seines Zeichens Priester von Heliopolis, keinerlei Bedenken hat, den Gott Josephs zu loben (vgl. JosAs 3,3; 20,7), Joseph als geehrten Gast in sein Haus einzuladen (vgl. JosAs 3,4; 9,4), dessen Gottesbeziehung positiv hervorzuheben (vgl. JosAs 4,7) und Aseneth mit Joseph zu verheiraten (vgl. JosAs 4,8; 20,8), wirkt sich Josephs Frömmigkeit stark limitierend auf seinen sozialen Umgang aus. Der Besuch Josephs bei Pentephres ist Ausdruck seiner durch den Pharao verliehenen politischen Vollmacht in Ägypten (vgl. JosAs 3,1–2; 5,7) und sein Verhalten gegenüber Pentephres ist geprägt durch die Einhaltung, besser: durch die Durchsetzung religiös motivierter boundary markers. So geht er selbstverständlich keine Tischgemeinschaft mit dem Priester und dessen Haushalt ein (vgl. JosAs 7,1),9 verlangt aufgrund des Endogamiegebots, dass Aseneth das Haus verlassen soll, um sich so vor sexuellen Nachstellungen zu schützen (vgl. JosAs 7,3–6), und orientiert die Struktur seines Arbeitens an dem Ablauf der Schöpfungstage (vgl. JosAs 9,3–5). Es wird in der Gegenüberstellung von Joseph und Pentephres nicht deutlich, ob die Adressaten von JosAs in der Offenheit des ägyptischen Götzenpriesters gegenüber Joseph und das durch ihn verkörperte Judentum eine tadelnswerte religiöse Indifferenz erkennen, die möglicherweise auf den ägyptischen Polytheismus zurückzuführen ist, oder ob das Verhalten des Pentephres als Zeichen dafür zu werten ist, dass das Auftreten Josephs zur überzeugenden Durchsetzung jüdischer Sitten und Gebräuche führte; eine Überzeugung, der sowohl der Priester Pentephres als auch seine Tochter Aseneth nichts entgegenzusetzen haben. Unzweifelhaft ist jedoch die religiöse Standhaftigkeit Josephs, die er in allen Belangen seines alltäglichen Lebensvollzugs, vor allem aber angesichts der Begegnung mit Aseneth erweist.10 Die barsche Aufforderung, Aseneth aus dem Haus zu verbannen, wurzelt, wie bereits erwähnt, in der Einhaltung des Endogamiegebots, das Joseph durch seinen Vater Jakob vermittelt bekommen hat (vgl. JosAs 7,5). Bestärkt wird seine Ablehnung fremder, d. h. nicht-israelitischer Frauen durch die negativen Erfahrungen, die Joseph laut JosAs 7,3 mit den Ägypterinnen gemacht hat: Anstatt seine ablehnende Haltung zu akzeptieren, fühlen sich alle Frauen Ägyptens aufgrund seiner außergewöhnlichen Schönheit zu ihm hingezogen und versuchen, ihn zu verführen. Dieser äußerlichen Anziehungskraft mag auch Aseneth nichts entgegenzusetzen, auch wenn sie im Vorfeld eine Eheschließung mit Joseph strikt abgelehnt hatte, da sie ihn gesellschaftlich und moralisch verachtete (vgl. JosAs 4,9–10). Das in epiphanen Zügen geschilderte Auftreten 9
Der Text spricht davon, dass es ihm „ein Gräuel“ (τὸ βδέλυγμα [JosAs 7,1]) gewesen wäre, mit den Ägyptern zusammen zu essen. Der unbedarfte Leser mag sich an dieser Stelle fragen, wieso sich Joseph bei solch einer Antipathie selbst zum Essen bei einem Ägypter eingeladen hat. 10 Wahrscheinlich steht hier in erster Linie Josephs Souveränität gegenüber dem ägyptischen Priester im Vordergrund.
8.2 Die Buße der Aseneth
237
Josephs11 im Haus ihres Vaters genügt, dass Aseneth ihre Meinung über ihn ändert, ihr abweisendes Verhalten und ihre negative Voreingenommenheit zutiefst bereut und darauf hofft, dass sie wenigstens als Magd (ἡ παιδίσκη [JosAs 6,8]) und als Sklavin (ἡ δούλη [JosAs 6,8]) Joseph übereignet werden würde.12 Auffallend ist, dass Aseneth ebenso wie ihr Vater Pentephres angesichts des Kommens Josephs den Gott Josephs anruft und die eigenen ägyptischen Götter allein durch das Auftreten Josephs aus dem Bewusstsein der ägyptischen Priesterfamilie zu verschwinden scheinen (vgl. JosAs 6,7).13 Joseph hingegen ist sich der Idolatrie Aseneths sehr wohl bewusst. Nachdem er seine fast schon feindselige Haltung gegenüber Aseneth aufgrund der von Pentephres konstatierten Gemeinsamkeiten zwischen Joseph und Aseneth in sexualibus (vgl. JosAs 7,7–8) aufgegeben hat, hält er nach wie vor mit Bedacht körperlichen Abstand von der ägyptischen Priestertochter. Selbst ohne dass Pentephres’ Wunsch nach einer möglichen Ehe zwischen Joseph und Ase11 Zur epiphanen Färbung sollen an dieser Stelle zwei Gedanken notiert werden. Zum einen legt der Autor von JosAs besonderen Wert darauf, das Erscheinen Josephs im Hof des Pentephres mit dem späteren Erscheinen des Engels im Gemach der Aseneth zu parallelisieren (vgl. JosAs 14,9). Dadurch rückt Joseph eindeutig in einen Vergleich mit den himmlischen Wesen. Zum anderen ist die Bildersprache, die das Auftreten Josephs in JosAs 5,4–5 beschreibt, durch epiphane Züge geprägt. Diese werden noch unterstrichen, indem Aseneth aufgrund der Erscheinung Josephs zu dem Urteil gelangt, dieser sei der Sohn Gottes (vgl. JosAs 6,3). Allerdings ist daran bemerkenswert, dass der epiphane Charakter zwischen den Traditionen der LXX und denen des ägyptischen Helioskultes oszilliert. So kommt Joseph aus dem Osten zu Pentephres Haus, trägt einen Strahlenkranz, durch den auch der Sonnengott repräsentiert werden kann und wird von Aseneth auch als „Sonne aus dem Himmel“ (JosAs 6,2) bezeichnet. Vergleicht man das Auftreten Josephs darüber hinaus noch mit der Herrschernumismatik antiker Münzen, so wird ersichtlich, dass sein Auftreten durch diesen Bildercode, der göttliche und irdische Herrscherattribute vereint, geprägt ist. R. Kraemer, When Aseneth met Joseph, 164–167 weist in ihrer Untersuchung nachdrücklich auf die Analogien zwischen der Beschreibung Josephs und den antiken Darstellungen des Sonnengottes Helios hin und erkennt auch darin ein Argument für die Spätdatierung der Schrift JosAs. Auch M. Hirschberger, Brautkleid, 181.186–187 verweist auf die Anspielungen zum Sonnenkult in Heliopolis, doch sieht sie zudem Interferenzen zum jüdischen Tempel des Onias, da dort die Sonne als Symbol für JHWH zu sehen gewesen sein soll. Für M. Hirschberger steht es außer Frage, dass der Verfasser von JosAs aus dem Kreis der nach Ägypten geflohenen Oniaden stammte. 12 Der Wunsch, die Sklavin Josephs zu werden, drückt Aseneth mehrmals aus (vgl. JosAs 13,15; 19,5; 20,4). Darüber hinaus handelt sie durch die Fußwaschung Josephs (vgl. JosAs 20,5) wie eine Sklavin an Joseph. Doch darf bezweifelt werden, dass Aseneth tatsächlich den Verzicht auf ihre gesellschaftliche Stellung formuliert. Vielmehr will sie die Sklavin Josephs werden, d. h. sie gibt ihre arrogante und abweisende Haltung gegenüber Joseph zugunsten einer völligen Unterwerfung unter seinen Willen auf, insofern er sie als seine Ehefrau akzeptiert. 13 G. Delling, Kunst, 7 betont, dass damit nichts über eine mögliche Antizipation des Judentums durch den ägyptischen Priester ausgesagt wird. Vielmehr wirft diese Redeweise ein Licht auf die jüdische Provenienz des Autors; „man redet von ihm [Pentephres S. W.] in einer jüdischen Erzählung auf jüdische Weise.“
238
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
neth laut wird, ist Joseph nicht bereit, Aseneth auch nur einen geschwisterlichen Kuss zu geben, da sie sich aufgrund des von ihr praktizierten Fremdgötterkultes in einer Art und Weise unrein gemacht hat, die den engeren Kontakt zu einem „gottverehrenden Mann“ (ὁ ἀνὴρ θεοσεβής [JosAs 8,5]) verunmöglicht. Hier begegnet zum ersten Mal die in JosAs wichtige Formulierung „es geziemt sich nicht (οὐκ ἔστι προσῆκον [JosAs 8,5]) für einen gottverehrenden Mann, […] zu tun.“ Wie sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen wird, ergibt das Ensemble der Beschreibungen dessen, was sich für einen gottverehrenden Mann nicht geziemt, eine gute Skizze der in JosAs dominanten ethischen Überzeugungen. In JosAs 8 konzentriert sich das ethisch Geziemende darauf, keinen körperlichen Kontakt mit denen zu haben, die einem Fremdgötterkult anhängen und sich aufgrund dessen zumindest in kultischer, nach den Beschreibungen in JosAs aber wohl auch in ontischer14 Hinsicht verunreinigt haben. Die Effekte auf den Einzelnen, die durch die Teilhabe an einem Fremdgötterkult entstehen, werden in JosAs mit den Terminologien von Tod und Verderben beschrieben. So werden „tote und stumme Götterbilder“ (τὰ εἴδωλα νεκρὰ καὶ κωφά [JosAs 8,5]) gesegnet, es wird vom „Brot des Erwürgens“ (ὁ ἄρτος ἀγχόνης [JosAs 8,5]) gegessen, vom „Kelch der Hinterlist“ (τὸ ποτήριον ἐνέδρας [JosAs 8,5]) getrunken und mit der „Salbe des Verderbens“ (τὸ χρῖσμα ἀπωλείας [JosAs 8,5]) gesalbt. Die geschilderten Prozesse weisen dabei nicht nur auf eine reine Gebetshaltung hin, sondern identifizieren die Idolatrie zugleich mit dem Ritus des Verzehrs von Götzenopfer; ein Aspekt, der in JosAs 10,13 nochmals unterstrichen wird. Der gemeinsame Nenner ist hierbei der Mund, durch den der Mensch unrein wird (vgl. JosAs 8,5).15 Dass Joseph sich vehement weigert, Aseneth einen (brüderlichen) Kuss zu geben, ist unter diesen Umständen nur folgerichtig, da er alles dafür tut, den Status der Reinheit beizubehalten, den er durch seine strenge Gesetzesobservanz erlangt hat. Durch die duale Struktur des Satzbaus in JosAs 8,5 wird die gelebte Frömmigkeit der Aseneth der religiösen Identität Josephs antithetisch gegenübergestellt. So segnet er mit seinem Mund den „lebendigen Gott“ (ὁ θεὸς ὁ ζῶν [JosAs 8,5]), isst vom „gesegneten Brot des Lebens“ (ὁ ἄρτος εὐλογημένος ζωῆς [JosAs 8,5]), trinkt aus dem „gesegneten Kelch der Unsterblichkeit“ (τὸ 14 Diese Auffassung vertritt auch A. Lieber, Table, 77, die in der Buße der Aseneth nicht nur eine emotionale oder kognitive Dimension erkennt, sondern vielmehr „a radical transformation of her ontic condition.“ 15 Die Diskussion um die Verunreinigung des Menschen aufgrund des Verzehrs von unreinen Speisen bzw. von Götzenopferfleisch wird bekanntlich auch im NT geführt und aus unterschiedlichen Perspektiven bewertet (vgl. beispielsweise Mk 7,14–23; Röm 14,14–18; 1Kor 6,13; 8,1–11,1; demgegenüber aber auch Act 15,28–29). Einig sind sich die ntl. Autoren jedoch in dem Gedanken, dass sich der Mensch durch den Mund im Sinne des Sprechens durchaus verunreinigen kann. Hier schließt das Argument in JosAs 8,5 an, dass auch das Segnen der Götzenbilder mit dem Mund zur Verunreinigung führt.
8.2 Die Buße der Aseneth
239
ποτήριον εὐλογημένον ἀθανασίας [JosAs 8,5]) und salbt sich mit der „gesegneten Salbe der Unvergänglichkeit“ (τὸ χρῖσμα εὐλογημένον ἀφθαρσίας [JosAs 8,5]). Damit stehen sich, durch die Metaphern von Leben und Tod charakterisiert,16 JHWH-treues17 Judentum und der ägyptische Polytheismus unversöhnlich gegenüber, wobei den Beschreibungen des jüdischen Lebensvollzuges18 darüber hinaus noch die Qualifizierung durch den Segen Gottes zukommt. Offenbar scheint die Befleckung mit Tod und Verderben, die sich ein Mensch durch den Götzendienst zuzieht, einer Krankheit ähnlich übertragbar zu sein. Josephs ablehnende Haltung gegenüber einer noch so harmlosen Intimität mit Aseneth, wie etwa der eines Kusses, ist zunächst Ausdruck seiner unerschütterlichen Treue gegenüber JHWH und den Weisungen seines Vaters bezüglich eines gottgefälligen Lebenswandels. Zudem offenbart sich eine Furcht vor dem existentiellen Verlust der durch jüdischen Lebenswandel erreichten ontischen Qualifizierungen. Trotz des aufrichtigen Verlangens der Aseneth und trotz aller Hoffnungen ihres Vaters hinsichtlich einer Verbindung zu Joseph ist mit diesem aus kultisch-religiösen Gründen eine versöhnte Einheit in Verschiedenheit nicht zu erreichen. Doch bei aller Treue zu den Regeln eines gesetzesobservanten jüdischen Lebens tritt Joseph nicht als kaltherziger Verfechter seiner Lehre auf. Die Tränen, die Aseneth angesichts der erlittenen Zurückweisung vergießt, wecken in Joseph starkes Mitleid (ἐλεεῖν σφόδρα [JosAs 8,8])19 mit Aseneth. Im Duktus von JosAs wird dadurch ein weiterer Bestandteil des Charakters eines gottverehrenden Mannes skizziert. Neben der Einhaltung der Ritualgesetze, dem Endogamiegebot und der Verurteilung des Götzendienstes, ist die mitleidende und sanftmütige Zuwendung zum Nächsten von großer Relevanz. So wird das Erbarmen Josephs gegenüber Aseneth nicht allein aufgrund seines milden und mitfühlenden Charakters erklärt, sondern auch kausal mit seiner Gottesfurcht verbunden (διότι ἦν Ἰωσὴφ πραῢς καὶ ἐλεήμων καὶ φοβούμενος τὸν θεόν 16 Auch
im NT findet die Symbolik von Tod und Leben zur Unterscheidung zwischen Glaube und Götzendienst Eingang (vgl. beispielsweise Eph 2,1–10). 17 Aufgrund des griechischsprachigen Textes begegnet in JosAs natürlich niemals das Tetragramm, sondern „κύριος“ als griechisches Pendant zum hebräischen „Adonai“. Für die Auslegung spricht jedoch nichts gegen die Verwendung des Tetragramms zur klaren Benennung Gottes. 18 Ch. Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ, 604–605 definiert diese Trias zu Recht als symbolischen Ausdruck eines gesegneten Lebensvollzuges in Fülle. Dem folgt auch R. Chesnutt, Death, 130 in der Auslegung von JosAs 21,21 und versteht die genannten Elemente als „the life more judaico.“ 19 Im Vergleich zum LkEv ist die Wahl des Verbums „ἐλεεῖν“ auffällig, da das Erbarmen, das die Protagonisten des LkEv angesichts eines Nächsten in Not empfinden, durch „σπλαγχνίζεσθαι“ ausgedrückt wird. Dem gegenüber formuliert Lukas die Bitte um barmherzige Zuwendung jedoch mit dem Imperativ des Verbums „ἐλεεῖν“ (vgl. Lk 16,24; 17,13; 18,38.39). Dieser Ruf begegnet auch in JosAs (vgl. JosAs 28,2.4) und ist klassisches LXX-Vokabular (vgl. beispielsweise ψ 6,3; 9,14; 24,16; 25,11; 26,7; 50,3; 55,2; 56,2; Jes 30,19 u. ö.).
240
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
[JosAs 8,8]).20 Die Konkretisierung der barmherzigen Zuwendung Josephs gegenüber Aseneth geschieht in Form eines Fürbittengebets (vgl. JosAs 8,9), in welchem Gott um nicht weniger als um die grundsätzliche Erneuerung (ἀνακαινίζειν [JosAs 8,9]) der Aseneth und um ihre Erlösung aus dem durch Idolatrie verursachten Zustand des Todes gebeten wird. Dabei wird diese Erneuerung in den Horizont des Schöpfungshandelns Gottes gestellt, wodurch das Herauslösen aus dem Fremdgötterkult einer Neuschöpfung21 der Aseneth gleich kommt. Das Bestreben Josephs zielt darauf ab, Aseneth durch göttliche Intervention zu einem vollgültigen Mitglied des Gottesvolkes zu machen und ihr dadurch letzten Endes auch eschatologisches Heil zu verschaffen (vgl. JosAs 8,9). Damit wird die Ernsthaftigkeit verdeutlicht, mit der in JosAs die Problematik des Fremdgötterkultes thematisiert wird.22 Ein enger, persönlicher Kontakt zwischen den in der ägyptischen Diaspora lebenden Juden und der sie umgebenden ägyptischen Bevölkerung kann nach der Diktion von JosAs nur dann gelingen, wenn sich die Ägypter von ihren Götzen lösen und den Weg zur Teilhabe am erwählten Volk finden. Eine andere Möglichkeit ist für den Autor von JosAs grundsätzlich nicht denkbar, da die Alternative zwischen JHWH und den Göttern Ägyptens die existentielle Alternative schlechthin darstellt: die Wahl zwischen Leben und Tod. Aufgrund der Tatsache, dass die Adressaten des Werkes aus der Genesis wissen, dass Joseph mit Aseneth verheiratet war, muss ihnen bereits zu diesem Zeitpunkt der Narration klar geworden sein, dass hier der Initialpunkt für die Bekehrung der Aseneth erreicht ist, da alle anderen Möglichkeiten eines Zusammenkommens zuvor durch die Rede Josephs ausgeschlossen worden sind.
8.2.2 Der Weg der μετάνοια Der in JosAs 9–18 beschriebene Prozess, den Aseneth durchläuft, ist seinem Wesen nach der Vollzug einer allumfassenden Transformation der bis dato für Aseneth konstitutiven Rahmenbedingungen und Vollzüge ihres Lebens.23 Die 20 Wie sich später zeigen wird, ergibt sich eine derartige Charakterisierung eines gottesfürchtigen Menschen aus der Darstellung Gottes, die in JosAs begegnet. 21 Es ist hier sicherlich kein Zufall, dass der Terminus des Wieder-Formens (ἀναπλάσσειν [JosAs 8,9]) der Aseneth durch Gott auf derselben Verbform beruht, die in Gen 2,7 (LXX) bei der Schöpfung des Menschen verwandt worden ist (πλάσσειν). 22 Für R. Chesnutt, Death, 98–103.121 ist JosAs 8,5–7 die Formulierung der zentralen Problematik des gesamten Romans: Die Abkehr von der Idolatrie ist die notwendige Bedingung zur Eröffnung der Möglichkeit einer Eheschließung zwischen einem Juden (Joseph) und einer Proselytin (Aseneth). 23 Ch. Wetz, Eros und Bekehrung, 104–131 verweist mit Recht darauf, dass der geschilderte Prozess, in Anlehnung an A. van Gennep, als ein „rite de passage“ verstanden werden soll, wobei sich JosAs im kulturhistorischen Vergleich konsequent an der Darstellung eines allein von Frauen praktizierten Passageritus orientiert, in dem die Transformation eines jugendlichen Mädchens zu einer heiratsfähigen Frau vollzogen wird. Auffallend ist nach Ch. Wetz,
8.2 Die Buße der Aseneth
241
Transformation nimmt ihren Anfang mit einer emotionalen Erschütterung24 Aseneths, die auf der Begegnung mit Joseph gründet. Sodann wendet sie sich unter Tränen und Zorn von ihren alten Göttern ab, wobei das Verbum „μετανοεῖν“ sicherlich in bewusst ambivalenter Deutung zwischen einem sich körperlichphysisch Abwenden und einer religiösen Abkehr im Sinne einer durch Buße begleiteten Hinwendung zum Gott Josephs verstanden werden soll. D. Sänger insistiert in diesem Zusammenhang darauf, dass hier bereits die vollumfängliche Umkehr der Aseneth stattgefunden habe und dass damit der menschliche Teil der Umkehr abgeschlossen sei, während der in JosAs 14–18 erscheinende Engel die himmlische Bestätigung und Vollendung der menschlichen μετάνοια vollzieht. D. Sänger bekräftigt seine Auslegung einerseits auf lexikalischer,25 andererseits auf narrativer Ebene. Er betont, dass die Umkehr selbst im Himmel stattfindet und der Engel lediglich davon berichtet, dass diese bereits stattgefunden hat und daraufhin der Name Aseneths schon unauslöschlich in das Buch des Lebens eingeschrieben ist.26 „Ist es richtig, daß Aseneths Bekehrung zweimal konstatiert wird, einmal in 9,2 von menschlich-subjektiver Seite aus und in der Engelsvisite von himmlisch-objektiver Warte aus, dann kann man gleichwohl nicht von der Bekehrung als von einem gestreckten Vorgang ausgehen, bei dem die Heidin Aseneth sozusagen schubweise zum jüdischen Glauben konvertiert.“27
Dieser Einschätzung ist zu widersprechen. Vielmehr ist auf die bereits erwähnte Prozesshaftigkeit der μετάνοια zu verweisen, die in ihrem Facettenreichtum ausführlich dargestellt wird. Zuzustimmen ist D. Sänger dahingehend, dass die Umkehr, die hier als eine Abkehr von den Göttern Ägyptens und als eine Hinwendung zu JHWH beschrieben wird, nicht allein auf menschliche Initiative gründen kann, sondern des himmlischen Pendants im Sinne einer Vollendung und somit auch einer Vergewisserung bedarf.28 Somit beschreibt JosAs auch keinen festgelegten Ritus der Umkehr, dem sich alle Proselyten in genau derselEros und Bekehrung, 158–167 das Gottesbild, da in JosAs im Gegensatz zu vergleichbaren Texten Gott bzw. sein himmlischer Bote die Handlungsfreiheit und die körperliche Unversehrtheit der Aseneth wahren. 24 „[…] καὶ πέπτωκεν ἐπὶ τῆς κλίνης αὐτῆς ἀσθμαίνουσα, διότι ἦν ἐν αὐτῇ χαρὰ καὶ λύπη καὶ φόβος πολὺς καὶ τρόμος καὶ ἱδρὼς συνεχής, ὡς ἤκουσε πάντα τὰ ῥήματα Ἰωσήφ, ὅσα ἐλάλησεν αὐτῇ ἐν τῷ ὀνόματι τοῦ θεοῦ τοῦ ὑψίστου.“ (JosAs 9,1) 25 Nach D. Sänger, Mysterien, 156 würde ansonsten die „Gewichtigkeit des nur dort für Aseneths Konversion gebrauchten Verbs μετανοεῖν unterschätzt und […] bei einem anderen Verständnis zu gering bewertet [werden S. W.].“ 26 Vgl. D. Sänger, Mysterien, 156–157. Er bezieht sich dabei auf die Aussagen des Engels in JosAs 15. 27 D. Sänger, Mysterien, 156. 28 Dies wird durch die von D. Sänger hervorgehobene Beschreibung der personifizierten himmlischen μετάνοια als „Tochter des Höchsten“ (ἡ θυγάτηρ τοῦ ὑψίστου [JosAs 15,7]) deutlich. Blickt man über JosAs hinaus, so weckt die Darstellung der himmlischen μετάνοια einerseits Assoziationen an die personifizierte Weisheit (vgl. beispielsweise Sir 24). Andererseits
242
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
ben Weise zu unterziehen hätten,29 sondern charakterisiert vielmehr das Wesen der Umkehr und stiftet die Gewissheit, dass das Ansinnen der Aufnahme in das Gottesvolk, das mit der Umkehr verbunden ist, in jedem Fall durch himmlische Initiative der „schönen und sehr guten Tochter des Höchsten“30 positiv auf- und angenommen wird. Dem korrespondiert, dass die „Verunreinigung“ mit Tod und Verderben, die sich der Einzelne durch die Teilnahme am Fremdgötterkult zugezogen hat, nicht durch menschliche Initiative aufgehoben werden kann, sondern dass es eben des göttlichen Heilshandelns im Sinne einer Neuschöpfung bedarf. Dieser Akt der Katharsis findet dadurch statt, dass der Mensch am Ende seiner Bußzeit Anteil am Brot des Lebens, am Kelch der Unsterblichkeit und an der Salbe der Unvergänglichkeit bekommt, wobei diese drei Elemente, wie die Szenerie um das Essen der Honigwabe zeigt, nicht notwendig in dreifacher Gestalt vorliegen müssen (vgl. JosAs 16,16),31 ebenso wie sich die Teilnahme am Fremdgötterkult nicht notwendig in die drei Bestandteile „Essen“, „Trinken“ und „Salben“ aufgliedern lässt (vgl. JosAs 8,5). Von zentraler Bedeutung sind in der Darstellung von JosAs vielmehr die Dualismen von Leben und Tod, die in der Gegenüberstellung von JHWH- und Fremdgötterkult genannt werden sowie die Verunreinigung des Mundes, die durch die Idolatrie, sei es im Sinne von Segnungen und Gebeten (vgl. JosAs 8,5), sei es im Sinne vom Essen des Göterinnert das bittende Eintreten der μετάνοια für die Menschen gegenüber Gott an die pln Beschreibung des Heiligen Geistes (vgl. Röm 8,25–26). 29 Die These, dass es sich bei JosAs 10–18 um ein rituelles Formular des Übertritts zum Judentum handeln würde, wurde in der Forschung diskutiert und von den meisten Exegeten zu Recht verworfen; vgl. Ch. Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ, 609–611; R. Chesnutt, Death, 255. Schließlich ist die Intervention des Engels (vgl. JosAs 15–17) ein Ereignis, das nur im Zusammenhang der individuellen Konversion der Aseneth stattfindet und ihre Bedeutung als „Stadt der Zuflucht“ (ἡ πόλις καταφυγῆς [JosAs 15,7]) für die Menschen, die sich in ihrem Gefolge für den Übertritt zum Judentum entscheiden, unterstreicht. Anders ausgedrückt: Die sozial hervorgehobene Stellung der Priestertochter Aseneth spiegelt sich auch im Zuge ihre Konversion zum Judentum wider. Sie ist nicht nur eine beliebige Proselytin, sondern die künftige Ehefrau Josephs, des Gottessohnes (vgl. JosAs 6,3; 18,11; 21,4), wodurch sie selbst zu einer Tochter Gottes wird (vgl. JosAs 21,4) und die Schutzgarantin für alle nachfolgenden Proselyten. Die sieben Jungfrauen, die mit ihr im Turm auf dem Anwesen des Pentephres leben und ihre persönlichen Dienerinnen sind, werden demgemäß durch die Segenshandlung des Engels zu „Säulen“ (κίονες [JosAs 17,6]) der Stadt der Zuflucht. 30 Die Charakterisierung der himmlischen μετάνοια als schön und sehr gut bzw. tugendhaft (καλὴ καὶ ἀγαθὴ σφόδρα [JosAs 15,7]) reflektiert die positive Qualifizierung, die der μετάνοια inne liegt. 31 Allein durch das Essen der himmlischen Honigwabe, die, wie etwa D. Sänger, Mysterien, 192–193 ausführt, traditionsgeschichtlich wahrscheinlich in den Horizont des Mannas einzuordnen ist, ist Aseneth nach der Deutung des Engels in den Genuss von Brot, Kelch und Salbe gekommen (vgl. JosAs 16,14–16). In Aufnahme der atl. Belege, in denen Honig als Ausdruck göttlicher Gnade und Fürsorge eine wichtige Rolle spielt, formuliert A. Portier-Young, Sweet Mercy Metropolis, 155: „The honeycomb thus proves a fitting medium for imparting this mercy to Aseneth and to others through her. The sweetness of its honey originates in God’s sweetness, the source of divine mercy and compassion, nourishment and healing.“
8.2 Die Buße der Aseneth
243
zenopferfleisches (vgl. JosAs 10,13) entsteht. Die Transformation vom Status der Unreinheit in den Status der Reinheit ist im Duktus von JosAs ausschließlich auf das göttliche Heilshandeln zurückzuführen, wodurch ersichtlich wird, dass die menschliche μετάνοια ohne das göttliche Entgegenkommen notwendig defizitär bliebe. Darüber hinaus ist die Transformation aber nicht nur ein Akt der Neuschöpfung, sondern zugleich auch Ausdruck dafür, dass die Macht der (ägyptischen) Götzen durch den Gott Josephs gebrochen werden kann, während der einzelne Mensch bei aller Buße und bei aller Radikalität in der Abwendung von der Idolatrie nach wie vor im Stand der tödlichen Unreinheit verbleiben würde.
8.2.2.1 Die Bienenszenerie (JosAs 16,17–23) Die in der Forschung umstrittene Bienenszenerie32 (vgl. JosAs 16,17–23) soll als ein Bestandteil dieses reinigenden Transformationsprozesses verstanden werden. So stehen die Bienen zunächst im engen Zusammenhang mit der himmlischen Bienenwabe, von der Aseneth isst und durch die sie Anteil am Brot des Lebens, am Kelch der Unsterblichkeit und an der Salbe der Unvergänglichkeit bekommt. Der Engel erklärt, dass die Wabe ein Produkt der Bienen des Paradieses sei, die diese aus dem Tau der himmlischen Rosen herstellen (vgl. JosAs 16,14), und dass sie die Speise der Himmelsbewohner sei, wodurch diese Anteil an der Unsterblichkeit bekommen (vgl. JosAs 16,14). Insofern ist eine traditionsgeschichtliche Nähe zur Speisung der Israeliten mit Manna (vgl. Ex 16,13–35) durchaus plausibel, da das Manna grundsätzlich als himmlische Nahrung verstanden werden muss (vgl. Ex 16,15), die einerseits aus Tau entsteht (vgl. Ex 16,14) und andererseits süß wie Honig schmeckt (vgl. Ex 16,31) und die Israeliten für die Zeit ihrer Wüstenwanderung vor dem Tode bewahrt.33 Nachdem Aseneth ihren Anteil an der Honigwabe gegessen hat, wird diese durch den Engel zunächst auf wundersame Weise wiederhergestellt und an32
R. Kraemer, When Aseneth met Joseph, 167–172 bietet eine gute Übersicht über die verschiedenen Bedeutungsnuancen, die den Bienen in der Antike zukommen. Sie interpretiert die Bienenepsiode als Aufnahme neuplatonischer Mystik. So sei vor allem die Bienenepisode des Kurztexts von JosAs eine Analogie zu Texten des Prophyrios, der den Bienen ebenfalls eine besondere, mythisch aufgeladene Bedeutung zumisst. Siehe R. Kraemer, When Aseneth met Joseph, 172: „Thus, the scenes in Aseneth with the honeycomb and the bees may be read as indicators of Neoplatonic mystic sensibilities, if not of an actual Neoplatonic context. The scene in the shorter version lends itself easily to an interpretation comparable to that in Porphyry: that the bees symbolize (or may actually be) souls, which die and are reborn and whos ultimate home is that of paradies (the garden in Aseneth’s courtyard).“ Zum Forschungsüberblick in Bezug auf JosAs vgl. A. Portier-Young, Sweet Mercy Metropolis, 141–147. 33 In Anlehnung an Philo interpretiert G. Delling, Einwirkungen, 54 den Honig in JosAs als das Wort Gottes, das Aseneth in der Vollendung ihrer Umkehr durch den Engel zugesprochen bekommt. Dies wäre aufgrund des weisheitlichen Kontexts von JosAs denkbar, wird aber nirgends im Text belegt.
244
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
schließend ruft er die Bienen des Paradieses herbei, die durch die Wabe hervorkommen wie durch ein Tor, das der Engel eigens geschaffen hat.34 Das Aussehen der Bienen erinnert nicht von ungefähr an einen König, da in Ägypten die Bienen als Symbol für das Königtum standen.35 Somit wird die besondere Würde der Bienen, und der Aseneth, unterstrichen. Den Bienen, die aus der Wunde der Wabe herausströmen, kommt die Aufgabe zu, über Aseneths Mund eine Honigwabe zu bauen, von der alle Bienen im Anschluss daran essen (vgl. JosAs 16,19–20). Angesichts der Tatsache, dass Aseneths Mund im vorangegangenen Text stets im Zusammenhang mit ihrer durch Götzendienst verursachten Unreinheit thematisiert worden ist (vgl. JosAs 8,5; 11,2– 3.8–9.15–19; 12,5; [13,13]), scheinen die Bienen zur göttlich initiierten Reinigung des Mundes beizutragen. Dies ist gemäß der narrativen Logik von JosAs von zentraler Bedeutung, da die von Joseph konstatierten negativen Effekte des Fremdgötterkultes durch den Verzehr der Honigwabe noch nicht gänzlich aufgehoben worden sind. Es fehlte noch die Reinigung des Mundes. Nach dieser kryptischen Episode wird an keiner Stelle mehr die Unreinheit des Mundes der Aseneth thematisiert, auch scheut sich Joseph nicht mehr, Aseneth zu küssen; vielmehr küssen sich die beiden bei ihrer nächsten Begegnung gern und oft. Möglicherweise kann daran gedacht werden, dass nicht nur das Versiegeln des Mundes durch die Honigwabe Kennzeichen der Reinigung ist, sondern auch das Essen der Bienen von dieser Wabe. So wäre es möglich, dass die himmlischen Bienen die durch den Götzendienst verursachte Unreinheit des Mundes Stück für Stück verzehren, wodurch wiederum die himmlische Überwindung der mit den Götzen verbundenen Todesmacht unterstrichen wird. Unklar bleibt, wen die Bienen, die Aseneth vergeblich zu stechen versuchen, symbolisieren sollen. Entweder geht es allgemein um den allumfassenden Schutz vor allen Feinden, die gegen die „Stadt der Zuflucht“ vorgehen werden, oder es ist ein konkreter Verweis auf die Brüder Josephs,36 die Aseneth im zweiten Teil des Romans bedrohen. Wichtig ist dabei aber, dass die angreifenden Bienen nicht nur nichts gegen Aseneth auszurichten vermögen, sondern dass sie anschließend in den Dienst der Aseneth eintreten.37 Die Beschreibung einer durch göttliche Initiative herbeigeführten Reinigung des Mundes ist kein singuläres Motiv in JosAs, sondern begegnet auch 34 Die Beschreibung des Kreuzes, das der Engel zuvor in die Wabe einritzt, ist sicherlich keine christliche Interpolation, sondern soll eher vor dem Hintergrund der genannten Himmelsrichtungen verstanden werden. Die Wabe, aus der die Bienen des Paradieses hervorbrechen, symbolisiert den Himmel in seiner Ausrichtung von Osten nach Westen und von Norden nach Süden. 35 Vgl. Ch. Hünemörder, Art. Biene, B., 649–650. 36 So z. B. A. Portier-Young, Sweet Mercy Metropolis, 156–157. 37 Dies wird dadurch versinnbildlicht, dass die gescheiterten Angreifer nach ihrer Wiedererweckung durch den Engel nicht mehr in den Himmel zurückkehren dürfen, sondern sich in den Bäumen der Aseneth niederlassen (vgl. JosAs 16,22–23).
8.2 Die Buße der Aseneth
245
in Jes 6,5–7.38 Hier wird die Reinigung durch einen Engel mittels einer glühenden Kohle, die vom himmlischen Altar genommen wird, vollzogen. Anschließend ist der Prophet von der Unreinheit seiner Lippen und von seinen Sünden befreit und für das Amt des Propheten als Verkündiger des göttlichen Willens zugerüstet. Im Duktus von JosAs ist an der grundsätzlichen Notwendigkeit der μετάνοια Aseneths nicht zu zweifeln, ebenso wie das darin enthaltene existentiell konstitutive Element der Neuschöpfung Aseneths durch das göttliche Heilshandeln mit dem Auftreten des Engels nachdrücklich unterstrichen wird. Während Joseph die Mängel einer von Idolatrie geprägten Existenz benennt und Gott um deren Überwindung bittet, ereignet sich im Auftreten des Engels die Erfüllung der Fürbitte Josephs, was der Autor von JosAs durch die entsprechenden Stichwortverbindungen hervorhebt. Um Übereinstimmungen oder auch Diskrepanzen hinsichtlich des Verständnisses der μετάνοια zwischen JosAs und anderen Texten, im vorliegenden Falle des LkEv, feststellen zu können, bedarf es jedoch einer genaueren Analyse des Wesens der μετάνοια. Wodurch zeichnet sich diese aus? Wie lässt sie sich charakterisieren? Welche Beschreibungen sind dominant? Welche Konsequenzen müssen im Zusammenhang der μετάνοια bedacht werden?
8.2.3 Das Wesen der μετάνοια in JosAs Die μετάνοια, die Aseneth vollzieht, ist grundsätzlich durch ihre Prozesshaftigkeit charakterisiert.39 Dabei erstreckt sich die Dauer dieses Prozesses auf sieben Tage, wodurch das Motiv der Neuschöpfung, das am Ende des Prozesses steht, durch die Analogie zum 7-Tage-Schema des Schöpfungshandelns Gottes betont wird.40 Auch wenn am Ende der Bußzeit durch das Motiv der 38 Es erscheint unplausibel zu sein, einen traditionsgeschichtlichen Vergleich aus den Philosophenviten zu bemühen; so z. B. M. Hirschberger, Brautkleid, 193. So wird beispielsweise das rhetorische Talent Platos durch die Legende einer Honigsalbung seiner Lippen begründet (Aelian, Varia Historia XII,45). Allerdings geht es bei Aseneth nicht um rhetorische Raffinesse, sondern um die Überwindung kultischer Unreinheit. 39 R. Bloch, Take Your Time, 86 macht die interessante Entdeckung, dass dieser Prozess eine Umformung des Reisemotivs ist, das in antik-hellenistischen Romanen eine große Rolle spielte. Während dort der Held auf eine, meist gefahrvolle Reise geht, an dessen Ende er gereift und verändert nach Hause zurückkehrt, ist die Reise hier internalisiert: „[T]here are no adventurous voyages that need to be overcome […], but rather, particularly in the case of Aseneth, it is an inner voyage that needs to be pursued.“ 40 Der Verweis auf das Schöpfungshandeln Gottes wird durch die Reise- und Arbeitspläne Josephs bereits in JosAs 9,3–5 formuliert. Die Dauer der Abwesenheit Josephs entspricht der Dauer des Transformationsprozesses der Aseneth, wie durch die Betonung der sieben, in Buße verstrichenen Tage (vgl. JosAs 10,17) einerseits sowie der Rückkehr Josephs in das Haus des Pentephres (vgl. JosAs 18,1) nach Abschluss der Buße und der Neuschöpfung der Aseneth andererseits deutlich wird. Zur hervorgehobenen Bedeutung des 7-Tage-Schemas vgl. auch E. Reinmuth, Joseph und Aseneth, 133, EN 55.
246
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
Neuschöpfung Aseneths Aufnahme in das Gottesvolk Israel konstatiert wird, so scheint eine Parallelisierung der in JosAs 9–17 dargestellten Ereignisse mit klassisch atl. Aufnahmeriten wie beispielsweise dem Ritus der Beschneidung doch gepresst.41 Darüber hinaus lässt die Darstellung in JosAs die Frage offen, ob hier tatsächlich ein für alle „Heidinnen“ verbindlicher Ritus zum Übertritt in das Judentum dargestellt wird. Grundsätzlich beschreibt JosAs in erster Linie die Transformation der ägyptischen Priestertochter in die πόλις καταφυγῆς (JosAs 15,7), unter deren Schutz sich auch alle anderen umkehrwilligen Proselyten stellen dürfen und sollen. Die hervorgehobene Rolle der Aseneth unter den anderen Proselyten korrespondiert dabei mit ihrer sozialen Privilegierung, die sie vor ihrer Umkehr im ägyptischen Kontext genießen konnte. Infolgedessen scheint es unwahrscheinlich zu sein, dass die Transformation der Aseneth in ihrer Gesamtheit als Schablone für den Übertritt anderer Proselyten zum Judentum zu gelten hat.42 Damit bleibt die Art und Weise des erfolgten Beitritts zum Judentum im Allgemeinen unklar, ebenso wie gefragt werden kann, ob es für Frauen im Speziellen einen gesicherten Ritus gab, da die Thematik der Beschneidung hier natürlich nicht von Relevanz ist.43 Der Ablehnung eines zu verallgemeinernden rituellen Charakters, der der Umkehr der Aseneth inne wohnen könnte, steht die Interpretation der geschilderten μετάνοια als eines Passageritus entgegen ebenso wie die mehrfach erwähnte Notwendigkeit der Teilhabe an Brot, Kelch und Salbe, die auf einen „sakramentalen“ Charakter schließen lassen kann.44 Deutlich wird in den Aussagen von JosAs 8,5; 15,5; 16,16; 19,5 und 21,21, dass Brot, Kelch und Salbe45 notwendige Bestandteile jüdisch-kultischer Identitätsstiftung sind und sich somit eine Form des sakramental verstandenen Genusses der genannten Trias als Schluss- und Höhepunkt des Aufnahmeprozesses eines Proselyten in die jüdische Gemeinschaft anbietet. Darüber hinaus scheint, auch wenn die „sieben Säulen“ dem entgegenstehen, die büßende Umkehr selbst von zentraler Bedeu41 Für M. Thiessen, Transformation, 236–237.239 ist diese Parallelisierung von hoher Bedeutung. Demgegenüber ist zuallererst festzuhalten, dass das Motiv einer 7-tägigen Bußund Fastenzeit auch in anderen frühjüdischen Schriften begegnet, ohne dass eine Aufnahme in das Gottesvolk den thematischen Rahmen dazu bilden würde; vgl. beispielsweise 4Esra 5,13.19.20.21; 6,29.30.35; (9,23.27), 12,39.51. 42 So werden beispielsweise die sieben Jungfrauen, die zusammen mit Aseneth den Turm des Pentephres bewohnen, zu Säulen der Stadt der Zuflucht, indem sie durch den Engel auf Bitten der Aseneth hin gesegnet werden, ohne dass ein wie auch immer gearteter Bußritus vorangegangen wäre (vgl. JosAs 17,4–6). Gegen die Darstellung einer ritualisierten Konversion zum Judentum spricht sich auch R. Chesnutt, Death, 149–150 aus, der seinerseits aber auch die theologische Dimension der Umkehr betont. 43 Vgl. Ch. Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ, 611. 44 Nach M. Hirschberger, Brautkleid, 189 ist dies in erster Linie ein Beleg für die priesterliche Verfasserschaft von JosAs. 45 In JosAs 19,5; 21,21 wird die Salbe der Unvergänglichkeit nicht mehr erwähnt, doch dürfte dies auf eine narrative Freiheit des Autors zurückzuführen sein.
8.2 Die Buße der Aseneth
247
tung für die Abkehr von einem Fremdgötterkult und der Aufnahme einer lebendigen Relation zum Gott Israels zu sein. Dies spiegelt sich in den Aussagen des Engels über die μετάνοια als einer Tochter des Höchsten wider, die gegenüber Gott fürbittend für all diejenigen eintritt, die sich im Vollzug der Umkehr Gott zuzuwenden versuchen (vgl. JosAs 15,7). Es wird deutlich, dass in der Schilderung der μετάνοια der Aseneth zwar deren individuelles Ergehen und deren einzigartige Transformation zur „Stadt der Zuflucht“ beschrieben wird, dass jedoch anhand des Prozesses der Umkehr allgemein verbindliche Rahmenbedingungen eines Übertritts zum Judentum sichtbar werden. Damit kristallisiert sich ein Verständnis der jüdischen Konversion heraus, das zunächst eine klare Abwendung von jedweden Fremdgötterkulten voraussetzt,46 wobei der Prozess dieser Abwendung durchaus als schmerzhaft und nicht zuletzt als familiär und gesellschaftlich herausfordernd beschrieben wird. Die familiäre Problemstellung ergibt sich dadurch, dass Religion und Kult als konstitutive Elemente sozialer Identitätsstiftung verstanden werden. Der familiäre wie gesellschaftliche Zusammenhalt ist in prominenter Weise durch die gemeinsamen religiösen Überzeugungen wie auch durch die gemeinsamen religiösen Abneigungen gesichert. Indem sich Aseneth nun in radikaler und wohl nicht zu revozierender Weise von den ägyptischen Kulten lossagt und diese Lossagung durch entsprechende Taten öffentlich macht, sieht sie sich von ihrer Familie gehasst und ausgestoßen.
8.2.3.1 Umkehr und Hass Das Motiv des Hasses, in JosAs stets durch das Verbum „μισεῖν“ ausgedrückt, ist nicht notwendig ein negativ konnotierter Affekt. So begegnet der Hass zu Beginn des Romans im Zusammenhang der Beschreibung Aseneths, dass sie alle Männer hassen würde (vgl. JosAs 7,7–8). Dieser Hass wird erweitert durch die Verben „verachten“ (ἐξουθενεῖν [JosAs 2,1; 21,17.18]) und „spucken auf jdn.“ (καταπτύειν [JosAs 2,1; 21,18]). Indem dieser Hass auf die Männer aber 46 Allein aufgrund des ersten Gebots ist eine Vereinbarkeit von Judentum und Fremdgötterkulten nicht denkbar. Im Gegensatz zu manchen Strömungen im beginnenden Christentum scheint jedoch die Abqualifizierung fremder Götzen als nichtig und die damit einhergehende Unbedenklichkeit gegenüber den Opferritualen, inkl. des Verzehrs von Götzenopferfleisch, nicht im Rahmen des Möglichen zu sein. So betont Aseneth ausdrücklich, dass sie das Götzenopfer noch nicht einmal ihren Hunden zum Fraß vorwerfen möchte, sondern dass lediglich fremde Hunde die Speisen, die sie den Göttern geopfert hat, auffressen dürfen. Nach demselben Muster, das die radikale Trennung von jeder Form der Idolatrie beschreibt, ist es für Aseneth auch keine Option, die kostbaren Götterbilder zu verschenken oder zu verkaufen, sondern diese werden ebenfalls aus dem Fenster geworfen, in der Hoffnung, dass die Menschen die Bilder zertreten und Diebe die Kostbarkeiten an sich nehmen. Dass darüber hinaus alle Bestandteile des ägyptischen Fremdgötterkults, die sich im Gemach der Aseneth befunden haben, zum Nordfenster hinausgeworfen werden, kann aufgrund der in JosAs vorliegenden Lichtmetaphorik (vgl. JosAs 6,2.4; 14,1–2.9; 18,5.9; 20,6) sicherlich demgemäß verstanden werden, dass der Norden die Dunkelheit symbolisiert.
248
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
zugleich Garant ihrer Jungfräulichkeit und ihrer Keuschheit ist, wird er in den Augen Josephs als etwas Positives erachtet (vgl. JosAs 7,8), da Joseph seinerseits aus Gründen seiner Keuschheit eine ähnliche Abneigung gegen Frauen hegt (vgl. JosAs 7,2–4; 8,1). Aus sexualethischer Perspektive ist der Hass Aseneths gegenüber Männern im Duktus von JosAs also nicht tadelnswert. Problematisiert wird er nur aus zwei Gründen: Einerseits wird die Abneigung, die sich speziell gegen Joseph richtet, als Abneigung gegenüber Gott verstanden, da Joseph als Sohn Gottes auftritt (vgl. JosAs 6,1–8; 13,13–15). Andererseits offenbart sich durch den Hass gegenüber Männern ein hochmütiger Wesenszug Aseneths, welcher kritisiert wird (vgl. JosAs 11,6; 21,17–20). Erst durch ihre freiwillige Unterordnung unter Joseph verliert Aseneth ihr hochmütiges Wesen, was als wünschenswerter Effekt ihrer μετάνοια dargestellt wird (vgl. JosAs 13,15; 20,2–5; 21,21).47 Darüber hinaus geht der Hass eines Menschen einher mit seiner spirituellen bzw. religiösen Disposition. So wendet sich Aseneth nach ihrer Begegnung mit Joseph im Zorn (προσοχθίζειν [JosAs 9,2]) von ihren Götzen ab und beschreibt im Verlauf ihrer Buße das Aus-dem-Fenster-Werfen der Götterbilder und der Opfergaben (vgl. JosAs 10,12–13; 13,11) als Ausdruck ihres Hasses, den sie gegen ihre alten Götter verspürt (vgl. JosAs 11,4–5; 12,9.12). Dabei entsteht der Hass auf die Götzen im narrativen Duktus aufgrund der Zurückweisung, die Aseneth durch Joseph wegen ihrer Idolatrie erfahren hat (vgl. JosAs 9,1– 2). Im dargestellten übergeordneten theologischen Kontext ist der Hass auf die Götzen Bestandteil der μετάνοια, die sich durch die Abwendung von den Götzen und der Hinwendung zu Gott auszeichnet. Aufgrund der Charakterisierung Gottes, welche ihn als hassend gegenüber den Verehrern der Götzen beschreibt (vgl. JosAs 11,7–8), lässt sich die These formulieren, dass ein Verehren des „Gottes Josephs“ (JosAs 11,7) notwendig ein Teilen des göttlichen Hasses gegenüber den Götzen,48 eventuell auch gegenüber den Götzendienern miteinschließt.49 Dadurch ist der Hass der Aseneth gegenüber den ägyptischen Göt47 A. Standhartinger hat eine vergleichende Untersuchung der Darstellung Aseneths im Kurztext (Philonenko) und im Langtext (Burchard) vorgelegt. Ihre These besagt, dass der Langtext das Frauenbild „einer guten, sittsamen Tochter und Ehefrau der Oikonomia-Philosophie“ (A. Standhartinger, Frauenbild, 108) zeichnet, während der Kurztext eine selbstständigere Aseneth beschreibt. Dieser Unterschied sei kennzeichnend für die Differenzen zwischen dem Kurz- und dem Langtext, wodurch A. Standhartinger neben anderen sozial- und religionsgeschichtlichen Beobachtungen zu dem Schluss gelangt, dass der Kurztext der ältere sein müsse, da der Langtext bei der Beschreibung Aseneths eine Anpassung an den gesellschaftlichen, konservativen Mainstream vorgenommen habe; vgl. A. Standhartinger, Frauenbild, 219–225. 48 Der Hass Gottes gegenüber den Götzen und den Götzendienern ist durch Ex 20,5–6; Dtn 5,9–10 biblisch vorgegeben; vgl. hierzu auch E. Reinmuth, Joseph und Aseneth, 133, EN 57. 49 Der letzte Punkt ist nicht ganz eindeutig, da sich weder Aseneth noch Joseph noch dessen Brüder hassend gegenüber den Ägyptern aufgrund derer Idolatrie zeigen.
8.2 Die Buße der Aseneth
249
tern eine Form der imitatio Dei und darin Ausdruck ihrer (neu gewonnenen) Treue gegenüber JHWH. Allerdings ist Hass auch Ausdruck der Treue gegenüber den Göttern Ägyptens. So befürchtet Aseneth, ihr soziales familiäres Netz verloren zu haben, da sie durch den Hass, den sie gegenüber den Götzen zum Ausdruck gebracht hat, ihrerseits selbst zum Hassobjekt ihrer Familie wird (vgl. JosAs 11,3–5; 12,12).50 Indem die Familie den ägyptischen Göttern weiterhin treu ergeben bleibt, was wäre von einem Priester wie Pentephres auch anderes zu erwarten, kann sie, nach der Diktion Aseneths, die Taten Aseneths gegenüber den Göttern nicht ignorieren. Unabhängig von der jeweiligen religiösen Orientierung spiegelt sich in der Definition des Hassobjekts die jeweilige religiöse Treue wider. Das Problem, mit dem sich Aseneth konfrontiert sieht, ist jedoch ein doppeltes: Aufgrund ihrer Verwerfung der ägyptischen Gottheiten sieht sie sich dem Hass ihrer Familie ausgesetzt. Allerdings kann sie sich der schützenden Zuwendung Gottes nicht sicher sein, da sie sich, im Gefolge der Aussagen Josephs, durch die ehemals begangene Idolatrie als „befleckt“ (μεμιάνθαι [JosAs 11,9]) versteht. Im Bewusstsein des Zornes Gottes gegenüber den Götzendienern bleibt ihr nur noch die Hoffnung auf die vergebende Zuwendung Gottes, der sie möglicherweise durch ihre Umkehr und im Verweis auf die in Unwissenheit begangene Idolatrie (vgl. JosAs 13,11) anteilig wird. Dabei befindet sich Aseneth in einer zutiefst verunsicherten Situation, nicht zuletzt, da sie sich aufgrund ihrer durch Götzendienst verunreinigten Lippen nicht einmal der wohlwollenden Aufnahme ihres Gebets sicher sein kann (vgl. JosAs 11,17–18). Hinsichtlich des in JosAs skizzierten Gottesbildes besteht hier also ein Konflikt zwischen dem Hass und der Vergebung Gottes.
8.2.3.2 Umkehr und Familie Nach Aseneths eigener Auffassung versetzt sie die Abwendung von den Göttern ihres Vaters in den Stand einer Waise,51 da ihre Familie, wie oben ausgeführt, Aseneths Hass auf die ägyptischen Götter mit Hass gegenüber Aseneth begegnet. Dadurch ist sie förmlich gezwungen, den Weg bis hin zur Aufnahme in die jüdische Gemeinschaft weiterzugehen, um sich überhaupt wieder eines sozialen Netzes sicher sein zu können. Vor diesem sozial-gesellschaftlichen Hintergrund wird Aseneths zukünftige Rolle als „Stadt der Zuflucht“, in der andere Proselyten, die nach ihr kommen, Schutz finden werden, um so bedeutsamer.52 Sie 50 Dieses Motiv findet sich auch im Neuen Testament. So wird in den Evangelien explizit darauf hingewiesen, dass die Nachfolge Jesu familiäre Brüche nach sich ziehen kann und wird; vgl. beispielsweise Lk 12,51–53 par. 51 Dieses Motiv begegnet mehrfach im Verlauf der Bußzeit der Aseneth; vgl. JosAs 11,3– 5.13.16; 12,5.12.14; 13,1–2. 52 Für A. Portier-Young ist die „Stadt der Zuflucht“ eine Transformation der atl. Bannstädte, die denjenigen Schutz boten, die versehentlich einen Menschen getötet haben (Num 35,11– 14.22–29; Dtn 19,1–7). Nach A. Portier-Young, Sweet Mercy Metropolis, 137 besteht die
250
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
wird als Garantin dafür gesehen, dass die Proselyten, die nach ihr den Übertritt zum Judentum wagen, einen sicheren Hafen, ein soziales Netz vorfinden, das die alten familiären Bindungen ersetzt. Der Schutz der auf diese Art „Verwaisten“ erwächst aus der atl. Tradition, die JHWH als den Beschützer der Witwen und Waisen preist.53 Aseneth setzt im Vollzug ihrer Umkehr, während sie sich mit den sozial prekären Folgen ihres Handelns beschäftigt, ihre ganze Hoffnung auf die Solidarität Gottes mit den personae miserae, zu denen sie sich aufgrund ihrer existentiell folgenreichen Umkehr nun selbst zählt (vgl. JosAs 11,12–13). Bezüglich der Schilderung ihrer familiären Not fällt im weiteren Verlauf der Erzählung auf, dass an keiner Stelle eine von Hass erfüllte Reaktion ihrer Eltern, ihrer Verwandtschaft oder anderer im Haus des Pentephres wohnenden Personen beschrieben wird. Vielmehr freut sich die Familie über die Hochzeit Aseneths mit Joseph, die nur aufgrund der Aufgabe der Idolatrie erfolgen konnte. Hier werden zwei Ebenen miteinander verschränkt: Auf der einen Seite findet sich die narrative Ebene, auf der Pentephres die Hochzeit seiner Tochter mit Joseph ermöglichen will. Während ihn die anfängliche Empörung Aseneths schockiert (vgl. JosAs 4,12) und ihn die Gesetzestreue Josephs in seinem Vorhaben hindert (vgl. JosAs 7,2; 8,5–7), hält er doch weiterhin an seinem Ziel fest (JosAs 7,7; 8,1.4; 9,4). Im Duktus der Erzählung wäre es nur schwer zu erklären, wieso die Annäherung der Aseneth an Joseph, die eben nur vermittels der μετάνοια geschehen kann, den Zorn des Pentephres heraufbeschwören sollte. So ist die Freude und das Staunen der Familie über Aseneths Verwandlung und die stattfindende Hochzeit (vgl. JosAs 20,6–8) die narrativ konsequente Reaktion. Die andere Ebene ist die der Adressaten von JosAs. Da davon ausgegangen werden kann, dass die Frage des Proselytentums im Allgemeinen und der Proselytenehe im Besonderen den zeitgeschichtlich-thematischen Hintergrund von JosAs darstellen, ist die Betonung der familiären wie sozialen Brüche, die ein Übertritt eines „Heiden“ in die jüdische Gemeinschaft hervorrufen, von immenser Bedeutung. Es wird den jüdischen Adressaten deutlich vor Augen gestellt, dass sie für den Schutz der Proselyten verantwortlich sind, dass es ihre Aufgabe ist, den Proselyten eine neue Familie, eine neue Heimat zu bieten54 und dass sich diese Verantwortung letztlich aus der Solidarität Gottes mit den „Waisen“ ableiten lässt. Somit werden die Adressaten nicht nur durch die Figur des Joseph in der Aufrechterhaltung jüdischer boundary markers bestärkt, sondern auch für die Nöte und Sorgen der Proselyten sensibilisiert.55 Transformation darin, „that whether mercy is granted depends not on the nature of the sin, but on the sinner’s willingness to repent.“ 53 Vgl. z. B. Ex 22,21–23; Dtn 10,18; 24,17–22; ψ 9,39; 67,6; 145,9; Spr 23,10–11; Jes 10,1–4. 54 Ähnlich argumentiert auch Ch. Gerber, Blickwechsel, 216 unter Verweis auf Philo, Spec. leg. I,51–52; IV,177–178; Virt. 102–104. 55 Vgl. dazu auch R. Chesnutt, Death, 116. R. Chesnutt gibt jedoch zu bedenken, dass
8.2 Die Buße der Aseneth
251
Doch liegt in der Darstellung der von Aseneth durchlaufenen μετάνοια das Achtergewicht der damit verbundenen Not nicht allein auf den familiären und gesellschaftlichen Auswirkungen, sondern vielmehr auf der Darstellung des Vollzugs der μετάνοια als eines schmerzhaften Prozesses. So sind die sieben Tage der Umkehr, die Aseneth erlebt, einerseits ein schonungsloses, kritisches Sich-Auseinandersetzen mit den eigenen Lebensvollzügen, andererseits eine daraus entstehende Neukonstitution der Person, man denke hier an den bereits thematisierten Begriff der Neuschöpfung. Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass ein falscher Gottesbezug den Menschen ebenso sehr in Bedrängnis zu bringen vermag wie ein fehlender Gottesbezug. Die in JosAs 11–13 formulierten Gedanken und Gebete Aseneths schildern den Schwebezustand zwischen dem Bruch mit den ägyptischen Göttern auf der einen und der noch nicht erfolgten Aufnahme durch JHWH auf der anderen Seite. Dieser Zustand wird von Aseneth selbst als existentiell bedrohlich verstanden (vgl. JosAs 12,6–13) und kann nur durch die göttliche Bestätigung einer erfolgreich vollendeten μετάνοια überwunden werden.
8.2.3.3 Umkehr und Demut Um die μετάνοια zu charakterisieren, findet in JosAs vordringlich der Begriff „ταπείνωσις“ (JosAs 10,17; 11,2.6.12.17; 13,1; 15,3)56 Anwendung, der den Zustand Aseneths, welchen sie in der Zeit ihrer Buße erreicht hat, in klare Opposition zu ihrem vormaligen Hochmut (vgl. JosAs 2,1; 4,9–12; 12,5; 21,12.16.21) setzt. Analog zu den Begrifflichkeiten zeichnen sich auch die Handlungen durch eine klare antithetische Struktur aus. Während Aseneth vor der Zeit ihrer Umkehr dadurch beschrieben wird, dass sie jede Form des Luxus genießt, der ihr durch ihren Vater Pentephres ermöglicht wird, ist die Zeit der Umkehr auch und gerade durch äußere Zeichen der Trauer und der Erniedrigung gekennzeichnet. Den „Gütern der Erde“ (τὰ ἀγαθὰ τῆς γῆς [JosAs 2,5]), mit denen ihre Speisekammer gefüllt ist und die durch die Erträge des Erbackers ergänzt werden (vgl. JosAs 4,2), steht der 7-tägige Verzicht auf jegliche Nahrung gegenüber (vgl. JosAs 10,17). Die kostbare Kleidung (vgl. JosAs 3,6) legt Aseneth zu Behier nicht zwingend von einer konkreten sozial-gesellschaftliche Notlage der Proselyten ausgegangen werden muss, sondern dass es sich auch durchaus nur um die Forderung einer prinzipiellen Offenheit seitens der jüdischen Gemeinschaft gegenüber den Proselyten handeln kann. Anders argumentiert K.‑W. Niebuhr, Ethik und Tora, 200–201, der die Intention von JosAs in der scharfen Abgrenzung der jüdischen Gemeinde von der paganen Umwelt und der nach innen gerichteten Vergewisserung religiöser Identität erkennt. Für J. Collins, Ethik und Tora, 200–201 ist die Thematisierung der durch Konversion entstandenen sozial-gesellschaftlichen Brüche und die Verantwortung der Glaubensgemeinschaft gegenüber den Proselyten ein Beweis für das jüdische Setting von JosAs. 56 In diesen Zusammenhang gehört auch die Selbstbezeichnung Aseneths als „ἡ ταπεινή“ (JosAs 18,7), sowie die Rede davon, dass Joseph sie demütigte (ταπεινοῦν [JosAs 21,21]), indem er sie zurückwies und sie so zur Umkehr reizte.
252
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
ginn ihrer Bußzeit ab (vgl. JosAs 10,10–11) und wählt stattdessen ein schlichtes Trauerkleid (vgl. JosAs 10,8) und hüllt sich zudem in Sack und Asche (vgl. JosAs 10,14).57 Der Gesellschaft der sieben Jungfrauen, die zusammen mit ihr den Turm bewohnen und ihr dienen (vgl. JosAs 2,6), entzieht sie sich (vgl. JosAs 10,3–8).58 Die Umkehr der Aseneth steht exemplarisch für den Gedanken, dass das persönlich erbrachte Opfer ein notwendiger Bestandteil der Buße ist und dass die Aufgabe alter Lebensvollzüge, auch und gerade derjenigen, die besonderen Genuss versprachen,59 zwingend nötig ist. Dieser asketische Aspekt soll, vor allem im Vergleich zur gewohnten Lebensführung Aseneths, durchaus im Sinne einer selbst auferlegten Strafe verstanden werden und scheint eine äußere Korrespondenz der innerlich-emotionalen Trauer und Selbstanklage zu sein. Darüber hinaus darf aber das Ziel der „Bußübung“ nicht vergessen werden: Durch die Entsagung aller luxuriösen, irdischen Güter, die ihr altes Leben als Tochter des Priesters von Heliopolis gekennzeichnet haben, versucht sie, an den himmlischen Gütern Gottes Anteil zu gewinnen. Das entscheidende Argument dieses Dualismus besteht jedoch darin, dass die Güter Gottes, die Aseneth durch den Vollzug ihrer Buße bekommt, im Gegensatz zu den Gütern aus dem Hause ihres Vaters unvergänglich sind (vgl. JosAs 12,15). Somit ist der Preis, den sie zu zahlen hat, gering gegenüber dem Gewinn, den sie erreicht.60 Einschneidender als jede Form des geschilderten äußeren Verzichts sind jedoch die psychisch-emotionalen Konsequenzen der μετάνοια, durch welche das Ausmaß dessen, was Aseneth als „ἡ ταπείνωσις μου“ bezeichnet, in ihrer die Persönlichkeit betreffenden Dimension sichtbar wird. Anders ausgedrückt: Der zeitweilige Verzicht auf Luxus und Geselligkeit allein mag eine kurative Wirkung entfalten, die persönlich-ontische Qualität gewinnt die μετάνοια erst durch ihre emotionalen Aspekte, zu der natürlich auch die Kategorie des Glaubens, im vorliegenden Fall die Abwendung von der Idolatrie, gehört. Körperlich werden die emotional erschütternden Auswirkungen des Bußprozesses durch 57 58
Vgl. zum biblischen Hintergrund Jon 3,5–10; Dan 9,3; Neh 9,1. Vgl. zum Ganzen auch JosAs 13,2–11: Hier werden die einzelnen Bestandteile des luxuriösen Lebens, die Aseneth im Vollzug ihrer Buße aufgegeben hat, nochmals aufgelistet. 59 Auch die Idolatrie war für Aseneth mit Genuss verbunden: So konnte sie vom Götzenopfer essen (vgl. JosAs 8,5; 11,9), und sie konnte sich und ihr Gemach mit den Götterbildern schmücken (vgl. JosAs 2,3; 3,6). 60 Zu den genannten Gütern Gottes gehört zunächst das Brot des Lebens, der Kelch der Unsterblichkeit und die Salbe der Unvergänglichkeit (vgl. JosAs 16,16). Daneben bekommt sie durch Joseph auch noch den Geist des Lebens, den Geist der Weisheit und den Geist der Wahrheit übertragen (vgl. JosAs 19,11). Diese drei Geister bleiben seltsam unbestimmt, während Brot, Kelch und Salbe einerseits (eschatologische) Unsterblichkeit verheißen und andererseits irdische Schönheit und Kraft verleihen. Daneben sei noch erwähnt, dass Aseneth durch ihren Übertritt zum Judentum nicht zu einem Leben in Askese verpflichtet wird, sondern dass sie nach Abschluss ihrer Bußzeit wieder vollen Anteil an den irdischen Genüssen bekommt.
8.2 Die Buße der Aseneth
253
das Weinen, das Schlagen der Brust, das Seufzen, das Haare-Raufen, das mutlose Zusammenkauern und das hartnäckige Schweigen anschaulich.61 Dieses breit ausgemalte Bild des Jammers findet seinen Ursprung in der schonungslosen Reflexion ihres bisherigen Lebens, die Aseneth im Verlauf der sieben Tage vornimmt. Die daraus gewonnene Erkenntnis ihres Fehlverhaltens, vor allem gegenüber dem Gott Josephs, bricht sich Bahn im Trauern und Klagen einerseits und in der Formulierung eines Bekenntnisses andererseits. Da Aseneth in der ehemals begangenen Idolatrie nicht nur ihr SchuldigWerden vor Gott erkennt, sondern sich ihrer religiösen Unreinheit schmerzlich bewusst wird, wagt sie es zunächst nicht, das Eingeständnis ihrer Schuld gegenüber Gott im Gebet laut zu formulieren.62 Die Furcht vor Gott,63 die durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Person, dem eigenen Lebensvollzug und der damit zusammenhängenden Haltung gegenüber dem Gott Josephs erwächst, prägt zunächst den Beginn des 7-tägigen Prozesses der μετάνοια, da Aseneth aus der Erschütterung ihrer Begegnung mit Joseph heraus, sich zu einem radikalen Schritt entschlossen hat, den sie allein gehen will. Daneben spiegelt sich diese Furcht im inneren Ringen Aseneths mit sich selbst wider, ob sie es wagen (τολμᾶν [JosAs 11,(9).11.14.18]) kann, Gott direkt im Gebet anzurufen. Das Erschrecken über die eigene Sündhaftigkeit gegenüber Gott, gepaart mit dem Eindruck der Einsamkeit, die durch die sozial-familiären Folgen ihrer Abwendung von den Göttern Ägyptens erwachsen ist, führt Aseneth in eine tiefe Krise, die sie als „θλίψις“ (JosAs 11,6.10.[13]) bzw. als „ἐρήμωσις“ (JosAs 11,[3].12; [12,5.12]) bezeichnet64 und in der sie durch Furcht und Verzweiflung wie gelähmt erscheint (vgl. JosAs 11,1–9). Somit bekennt Aseneth ihre Schuld in einem ersten Schritt nicht vor Gott, sondern vielmehr vor sich selbst. Der innere Monolog, der sich in ihrem Herzen abspielt (vgl. JosAs 11,3), offenbart Aseneths schonungslosen Blick auf sich selbst, der von Selbstvorwürfen, Reue und Verzweiflung geprägt ist. Es kann an dieser Stelle nicht deutlich genug darauf insistiert werden, dass sich Aseneth in einem Zustand befindet, der sich durch das Fehlen jeglicher Sicherheit und jeglicher Hilfe auszeichnet. Durch die in vielfältiger Form vollzogene Bußleistung, die Aseneth im Verlauf einer Woche auf sich genommen hat, hat sie sich selbst physisch wie psychisch entäußert, als auch sozial und religiös isoliert. Sie ist es, die den Schmerz der Buße allein ertragen muss. Sie ist es, die allein die Verantwortung für den weiteren Weg tragen muss. Sie ist es, die allein den weiteren Weg gehen muss. Die 61 Die Belege für die äußeren Zeichen der Reue sind vielfältig, vgl. z. B. JosAs 10,3.14– 15; 11,1x–2.15; 13,6–9. 62 Hier ist das Motiv des durch Götzendienst verunreinigten Mundes von evidenter Bedeutung (vgl. JosAs 11,15–18). 63 Vgl. den Begriff „ὁ φόβος μέγας“, der zu Beginn der Buße in JosAs 10,1 genannt wird. 64 Die Nähe von ἡ θλίψις und ἡ ἐρήμωσις lässt sich beispielsweise auch im TestBen VII,2 belegen.
254
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
Szenerie in JosAs 11,1–19 markiert den Wendepunkt des in Form der μετάνοια stattfindenden Transformationsprozesses der Aseneth.65
8.2.3.4 Die Annahme durch Gott In sozialer Isolation und religiöser Indifferenz verhaftet, bleibt Aseneth am Ende nur die Hoffnung auf das barmherzige und vergebende Wesen Gottes, von dem sie durch Hörensagen66 Kenntnis bekommen hat (vgl. JosAs 11,10). Durch diese Hoffnung motiviert, geht sie das Wagnis ein und wendet sich in direktem Gebet an Gott, ohne dass sie zuvor das Hindernis der Unreinheit ihrer Lippen überwunden hätte. Ausschlaggebend ist hierbei, wie auch der weitere Verlauf des Romans zeigen wird, dass die Hoffnung auf die barmherzige Zuwendung Gottes nicht trügt, sondern dass dieser göttliche Wesenszug den Schlüssel zu einer sich neu eröffnenden Zukunft darstellt; einen Schlüssel, den Aseneth im Duktus des Romans freilich nur vermittels ihrer μετάνοια gebrauchen kann. Das in JosAs 12,1–13,15 ausformulierte Gebet Aseneths ist als (Sünden-)Bekenntnis charakterisiert.67 Darin beklagt Aseneth ihre ehemaligen Vergehen, vor allem die Idolatrie und ihren Hochmut, beschreibt nochmals die Leistungen ihrer Buße und formuliert eindringlich ihre Hoffnung auf eine rettende Annahme durch Gott. Das wichtigste Motiv, das ihre Hinwendung zu Gott beschreibt, ist die Rede ihrer Flucht68 zu Gott, die mit der Bitte um Vergebung 65
Einen analogen narrativen Aufbau verwendet auch Lukas in der Formulierung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn. Dessen Entschluss zur Rückkehr in sein väterliches Haus ist das Ergebnis eines inneren Monologs, an dessen Ende sich die reale Umsetzung der Entscheidung anschließt (vgl. Lk 15,17–20). Wie Aseneth ringt auch der prodigus mit sich selbst, analysiert seine Situation, erkennt seine Schuld gegenüber seinem Vater und ihm wird letzten Endes klar, dass es für ihn nur in seinem väterlichen Haus die Aussicht auf Rettung geben können wird. Dabei wirkt sich die Einsicht in die eigene Schuldhaftigkeit dergestalt aus, dass er nicht voller Stolz und Hochmut zu seinem Vater zurückkehrt, um dort seine ehemaligen Sohnesrechte für sich zu reklamieren, sondern dass er angesichts der Erkenntnis seiner Schuld lediglich die Rolle eines Tagelöhners einnehmen will. Ebenso argumentiert auch Aseneth, die sich angesichts ihrer durch Idolatrie und Hochmut verursachten Schuld nur auf das Erbarmen Gottes verlassen kann und darum bittet, die Sklavin Josephs zu werden, und Gottes Schutz vor den sie verfolgenden ägyptischen Fremdgöttern erfleht. 66 „Ἀλλ’ ἀκήκοα πολλῶν λεγόντων ὅτι […]“ (JosAs 11,10) Diese Formulierung ist auffällig und lässt Überlegungen hinsichtlich des öffentlichen Charakters jüdischer Unterweisung in der Diaspora zu. Ch. Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ, 608 wendet sich hier gegen die Vorstellung jüdischer Missionspredigten. Doch muss dem öffentlichen Charakter jüdischen Lebens und jüdischer Lehre nicht notwendig ein missionarisches Ansinnen zugesprochen werden. Darüber hinaus erinnert JosAs 11,10 an die einleitende Sentenz der Antithesen „Ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη τοῖς ἀρχαίοις·“ (vgl. z. B. Mt 5,21). 67 Vgl. die Formulierungen „ἐξομολογεῖσθαι τὰς ἁμαρτίας“ (JosAs 11,11; 12,3), „ἀποκα λύπτειν τὰς ἀνομίας“ (JosAs 12,3), „ἐξομολογεῖσθαι τῷ κυρίῳ“ (JosAs 14,1), „τὰ ρήματα τῆς ἐξομολογήσεώς σου“ (JosAs 15,2). 68 Es begegnet in diesem Zusammenhang das Wortfeld des Verbums „φεύγειν“ (vgl. JosAs 11,11; 12,3.6.8.13; 13,1.2.12). Ergänzend wirkt die Verwendung von „ἐπιστρέφειν“,
8.2 Die Buße der Aseneth
255
und dem Vertrauen auf sein erbarmendes Wesen verbunden ist. Zusammen mit dem Begriff des Schreiens zu Gott bekommt das Gebet das Charakteristikum eines Psalms,69 wobei sich die Struktur von JosAs 12–13 formal an den Kriterien eines Klagepsalms des Einzelnen orientiert. Aseneths Flucht zu Gott, bei dem sie sich nicht nur Vergebung, sondern auch und vor allem Schutz erhofft, versinnbildlicht das bereits angesprochene Motiv der Gefährdung der Proselyten. Wie JosAs 12,6–12 zeigt, handelt es sich dabei nicht nur um den Hass der Familie und den Ausstoß aus der sozialen Gemeinschaft, sondern auch den Göttern Ägyptens wird eine dämonische Macht zugeschrieben, mit der sie sich an den abtrünnigen Proselyten rächen können. In der Identifikation des Vaters der ägyptischen Götter mit einem reißenden Löwen70 und der anderen Götter als dessen Löwenkinder spiegelt sich strukturell die frühjüdische Vorstellung wider, dass Beliar die Menschen mit Hilfe seiner bösen Geister attackiert. Dadurch ist der Status der Aseneth, die sich im Vollzug ihrer büßenden Umkehr losgelöst von allen religiösen wie gesellschaftlichen Systemen befindet, ein Zustand höchster Gefährdung. Eine Gefährdung, der sie allein nicht Herr zu werden vermag, sondern die sie nur durch den Schutz Gottes,71 um den sie flehentlich bittet, überwinden kann. Die Zusicherung dieses Schutzes geschieht durch das Auftreten des Engels (vgl. JosAs 14–16), welcher nicht nur die himmlische Antwort auf Aseneths irdisches Flehen darstellt, sondern den Adressaten des Romans Grundsätzliches über die himmlische Korrespondenz zur menschlich begangenen μετάνοια offenbart.
8.2.4 Das Motiv der μετάνοια bei Lukas und JosAs Ein vergleichender Blick in das LkEv zeigt, dass der Evangelist zur Thematisierung der μετάνοια die Vorstellungen und Motive weitestgehend teilt, die diesbezüglich in JosAs begegnen. Einzig der Gedanke einer personifizierten, himmdurch die der Charakter dessen, was Aseneth vollzieht, als Umkehr herausgestellt wird (vgl. JosAs 11,11). 69 Vgl. z. B. ψ 21,3; 29,9; 56,3; 85,3. 70 Vgl. auch 1Petr 5,8. Der 1. Petrusbrief zitiert hier ψ 21,14, allerdings ist es fraglich, ob der Psalm hier wirklich den Teufel umschreibt oder ob die Gefährdung durch wilde Tiere (ψ 21,13–14.17) ganz unmythologisch als Ausdruck höchster Lebensgefahr verstanden werden kann; vgl. ebenso 2Tim 4,17; Ez 22,25. 71 Es ist auffällig, dass das schützende Eingreifen Gottes, um das Aseneth bittet, zumeist mit dem Verbum „ῥύεσθαι“ ausgedrückt wird. Damit wird ein Bild skizziert, das die betende Aseneth in einer unheilvollen Situation verhaftet zeigt, aus der sie nur durch das äußere Eingreifen Gottes herausgerissen werden kann. Dieselbe Wortwahl und inhaltliche Struktur begegnet bei Lukas in Lk 1,74. Dort wird in der Sprache atl. Psalmen die göttliche Rettung vor Feinden durch „ῥυεσθαι“ beschrieben. In den Psalmen selbst ist der Imperativ „ῥῦσαι“ ein weit verbreiteter terminus technicus für die Bitte um Rettung durch Gott (vgl. ψ 6,5; 7,2; 16,13; 21,21; 24,20; 30,2.16; 38,9; 42,1; 50,16; 58,3; 68,19; 70,2.4; 78,9; 108,22; 114,4; 118,170; 119,2; 139,2; 141,7; 143,7.11).
256
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
lischen μετάνοια ist dem Evangelisten Lukas fremd. Im Gegensatz zu JosAs begegnen im LkEv mehrere Personen, die die Umkehr je individuell vollziehen, sodass der Evangelist den Facettenreichtum der μετάνοια auf die Fülle der Perikopen seines Doppelwerks verteilen kann.
8.2.4.1 Umkehr als konstitutives Element der neuen Gottesbeziehung So ist zunächst die Überzeugung, dass die μετάνοια notwendig zur Konstitution eines neuen, auf Vertrauen und Hingabe aufbauenden Gottesverhältnisses ist, eine Grundkonstante lk. Theologie und, wie sich im Verlauf der Acta zeigt, auch seines Missionsverständnisses. Der Auftrag, den der Auferstandene seinen Jüngern erteilt, definiert die weltweite Mission, zu deren Kern die Verkündigung der Auferstehung Jesu und der Umkehr zum Zwecke der Sündenvergebung in seinem Namen gehören (vgl. Lk 24,46–48). Durch den Vollzug der μετάνοια wird auf Seiten des Menschen das Notwendige dazu getan, die Vergebung der Sünden, die ihn von Gott trennen, zu ermöglichen. Die Vergebung derselben wird dem Einzelnen zugesprochen, wobei sich die Bevollmächtigung zu einer solchen Zusage in ihrem Ursprung stets in Gott findet.72 Somit findet sich in der lk. Argumentation das duale Denkmuster wieder, das auch für die Umkehr der Aseneth von grundlegender Bedeutung ist: Zum einen ist das menschliche Wirken im Rahmen der μετάνοια einerseits Erkennen und Benennen der eigenen Verfehlungen, die gegenüber Gott begangen worden sind, andererseits eignet der μετάνοια stets auch die Bitte um Vergebung derselben. Im Falle Aseneths ist der Verweis auf die geleistete Buße eine Art verstärkendes „Argument“, durch das Gott bewogen werden soll, ihr die Vergebung zuzusprechen. Zum anderen gelangt der Prozess der μετάνοια nur dadurch an ein erfolgreiches Ende, dass die göttliche Anerkenntnis der geleisteten Umkehr ausgedrückt und letztlich die vergebende Zuwendung Gottes formuliert wird, die der Bitte des Menschen korrespondiert. Sowohl bei Lukas als auch bei JosAs geschieht dieser Zuspruch durch einen von Gott Beauftragten. In diesem Zusammenhang bleibt noch eine Frage offen: Wodurch wird die Möglichkeit zur μετάνοια gestiftet? Auf Seiten des Evangelisten kann konstatiert werden, dass der Ruf zur Umkehr untrennbar mit der Sendung und dem Wirken Jesu verbunden ist und somit das Erscheinen des Messias als Bedingung der Möglichkeit zur Umkehr verstanden wird, ebenso wie die in ihm offenbarte Barmherzigkeit der hinreichende Grund zur göttlichen Akzeptanz der menschlichen Buße darstellt. Im Falle der Aseneth 72 Vgl. hierzu die Skizze des Täuferwirkens, die im Benedictus begegnet. Dort wird dem Täufer die Vollmacht zur Sündenvergebung zugesprochen, durch welche den Menschen überhaupt erst die Erkenntnis des Heils ermöglicht wird (vgl. Lk 1,77). Dem folgt analog, dass die Formulierungen des Zuspruchs der Sündenvergebung, die in den Acta begegnen, allesamt im Namen Jesu geschehen. Dadurch unterstreicht Lukas die göttliche Legitimation, ohne die kein wirkmächtiger Zuspruch der Vergebung erteilt werden kann. Jesus selbst erweist sich in der Vergebung der Sünden als Messias und Gottessohn.
8.2 Die Buße der Aseneth
257
ist es das Auftreten Josephs, durch welches Aseneth sich zuerst ihrer Defizienz gegenüber Gott bewusst wird, sodann, im Gefolge des Fürbittegebets Josephs für Aseneth, die Hoffnung auf eine heilvolle Beziehung zum „Gott Josephs“ gestiftet wird. Im Auftreten Josephs offenbart sich für Aseneth die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer Hinwendung zu Gott.
8.2.4.2 Umkehr und Demut Der Prozess der μετάνοια ist in JosAs jedoch ein schmerzhafter, von Entäußerung und Trauer geprägter Weg. Diese Näherbestimmung der Umkehr als ἡ ταπείνωσις μου findet sich in dieser konkreten Explikation bei Lukas nicht, doch ist ihm der Gedanke durchaus nicht fremd.73 Durch das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner im Tempel (vgl. Lk 18,9–14) führt der Evangelist exemplarisch aus, dass nur derjenige, der sich in Demut an Gott wendet, durch diesen Gnade erfahren und erhöht (ὑψοῦσθαι [Lk 18,14]) werden wird. Das Verhalten des Zöllners, der sich seiner Schuld gegenüber Gott durchaus bewusst ist und sich angesichts dieser Schuld nur vorsichtig Gott nähert, wird als ταπεινοῦν (Lk 18,14) beschrieben und ähnelt dem Verhalten Aseneths in struktureller Hinsicht. So ist er auf Abstand bedacht, schlägt sich zum Zeichen seiner Reue und des Eingeständnisses seiner Schuld auf die Brust und wagt es nicht, Gott anzusehen, also die Augen zum Himmel zu richten, sondern verbleibt in seiner bittenden, demütigen Haltung. Sein ganzes Verhalten gegenüber Gott ist eine einzige Antithese zum Auftreten des selbstbewussten Pharisäers, und während dieser nur seine (vermeintliche) Rechtschaffenheit reflektiert und Gott für diese dankt, kann der Zöllner in Anerkenntnis seiner Schuld Gott nur noch kleinmütig um Vergebung bitten (ἱλάσκεσθαι [Lk 18,13]),74 ohne dass er sich in irgendeiner Art und Weise gegenüber Gott hervorzutun vermag. Die Pointe des Gleichnisses besteht darin, dass der Zöllner, im Gegensatz zum Pharisäer, gerecht gesprochen wird und dass dieser Akt der Annahme und der Vergebung durch Gott gerade aufgrund der bußfertigen und demütigen Haltung des Zöllners vollzogen wird (vgl. Lk 18,14). Wie im Falle der Aseneth führt auch für den Zöllner der Weg zu Gott durch die Umkehr und wie bei Aseneth erfährt auch der Zöllner am Ende des Weges eine Veränderung, die seine ganze Persönlichkeit ergreift. In deutlich kräftigeren Zügen wird die ταπείνωσις als integraler Bestandteil der Umkehr im Zusammenhang der Perikope von der Salbung Jesu durch die Sünderin (vgl. Lk 7,36–50) dargestellt.75 Ohne dass das Wortfeld „ταπεινοῦν“ 73
Vgl. die Ausführungen zu Lk 7,36–50 und Lk 18,9–14. Es ist bei Lukas sicherlich kein Zufall, dass er nur in dieser Szene das Verbum „ἱλάσκεσθαι“ verwendet. Dadurch spielt er auf das ἱλαστήριον als den im Tempel befindlichen Ort der sühnenden Anwesenheit Gottes an. In Lk 18,14, dem explikativen Vers in Bezug auf das Gleichnis, spricht Lukas dann von „δικαιοῦσθαι“. 75 Vgl. hierzu die ausführliche Exegese zu Lk 7,36–50 im Rahmen dieser Arbeit. 74
258
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
seine Anwendung findet, vermittelt die Beschreibung der Fußwaschung und -salbung, die Jesus durch die anonyme Sünderin erfährt, das Bild einer Demut der Frau von selbstentäußerndem Ausmaß. Anhand des Dialogs zwischen Jesus und dem Pharisäer Simon wird deutlich, dass die Fußsalbung nicht nur Ausdruck der Demut, sondern auch der Liebe ist, die die Frau gegenüber Jesus empfindet und die ihren Glauben an Jesus und dessen Vollmacht zur Vergebung prägt. Im Duktus dieser Perikope macht der Evangelist deutlich, dass die μετάνοια nicht allein durch Furcht und daraus resultierender Selbsterniedrigung gegenüber Gott respektive gegenüber dem Messias getragen ist, sondern dass auch Liebe und Glauben im Sinne eines allumfassenden Vertrauens konstitutive Elemente der Umkehr sein können. Interessanterweise begegnet auch in JosAs das Motiv der Liebe im Zusammenhang mit dem Akt der Fußwaschung. Nachdem Aseneth ihre Umkehr vollzogen hat und dadurch die Möglichkeit bekommt, Joseph körperlich nahe zu kommen, drückt sie ihre Liebe und ihre Ergebenheit zu Joseph nicht nur durch Küsse aus,76 sondern auch durch das Waschen seiner Füße. Die Einwände Josephs, die Fußwaschung möge doch eine der Jungfrauen, die Aseneth dienen, übernehmen, weist Aseneth mit dem Einwand ab, dass sie nun die Sklavin Josephs sein wird (vgl. JosAs 20,3–4). Durch die Fußwaschung Josephs wird ein Bogen zurück zu JosAs 6,8 und zu JosAs 13,15 geschlagen. An beiden Stellen formuliert Aseneth den Wunsch, Joseph wie eine Sklavin dienen zu können. Dabei entspringt dieser Wunsch aus der Erkenntnis, Joseph aufgrund ihres Hochmuts verurteilt zu haben, bevor sie ihm überhaupt begegnet war (vgl. JosAs 6,2–4).77 Während die Fußwaschung im engeren Zusammenhang Ausdruck ihrer Reue hinsichtlich ihres Fehlurteils über Joseph ist, symbolisiert die Waschung im weiteren Kontext die grundlegende Umkehr der Aseneth, zu der diese nur durch die Begegnung mit Joseph und die Unterwerfung unter sein Urteil über Fremdgötterkulte gelangen konnte. Damit ist die Fußwaschung ein Zeichen für die definitive Abkehr Aseneths von den Göttern Ägyptens und ihre Zugehörigkeit zum JHWH Glauben,78 der durch Joseph prominent repräsentiert wird.79 76
Zur Bedeutung des Kussmotivs in JosAs vgl. Ch. Burchard, Küssen, 316–323. Die Verachtung Aseneths gegenüber Joseph findet sich in JosAs 4,9–10. 78 R. Kraemer, When Aseneth met Joseph, 196 versteht die Unterordnung Aseneths unter Joseph einerseits als Ausdruck der zeitgeschichtlichen Geschlechterkonstellation, andererseits aber auch als Erweis für die religiöse Unterordnung Aseneths unter Gott, da die menschliche Anerkenntnis der Hoheit Gottes oft in Terminologien der gesellschaftlichen Unterordnung von Frauen oder auch von Sklaven beschrieben wird: „Before the masculine God, or angel, or other powerful divine emanation, petitioners are as women and as slaves, whose status itself incorporates an element of gender differentiation, for in relation to their owners, slaves, too, assumed the role of women in relation to men.“ 79 In diesen Zusammenhang kann auch die Bezeichnung Josephs als Sohn Gottes gestellt werden. 77
8.2 Die Buße der Aseneth
259
8.2.4.3 Umkehr und Verzicht Die Fußsalbung richtet den Blick auf den Zusammenhang von Buße und Akten der Selbstkasteiung, wie sie in JosAs durch die Aufgabe von Luxus, das Fasten und das Sich-Hüllen in Sack und Asche repräsentiert werden. Das bereits im AT bekannte Phänomen, Bußhandlungen vermittels „Sack und Asche“ zu beschreiben, findet auch im LkEv seinen Widerhall (vgl. Lk 10,13). Prominenter ist jedoch der Gedanke vertreten, dass die Umkehr eines Menschen durch eine Verzichtshaltung geprägt sein kann und soll. So fordert der Täufer sein Auditorium grundsätzlich dazu auf, die Umkehr in Form von sozial-karitativem Verhalten äußerlich sichtbar werden zu lassen, das die Bedürfnisse des Nächsten zum Handlungsmaßstab macht (vgl. Lk 3,10). Dem schließen sich thematisch die Konsequenzen an, die aus der Begegnung zwischen Jesus und Zachäus für den Zöllner erwachsen. Zachäus verpflichtet sich zur Armenfürsorge und zur vierfachen Rückzahlung des durch Betrug Erwirtschafteten, ohne dass er dabei auf seine eigene wirtschaftliche Lage Rücksicht nimmt. Der Verzicht auf Wohlstand und Luxus ist bei Lukas aufgrund seiner Sozialethik allerdings anders gelagert als bei Aseneth. Während Lukas darauf bedacht ist, dass die „Früchte der Buße“ (Lk 3,8) im Sinne eines materiellen Verzichts dem bedürftigen Nächsten zu Gute kommen, ist der Verzicht, den Aseneth auf sich nimmt, eine rein individuelle Bußleistung, ohne dass dabei das Wohl des Nächsten oder gar des bedürftigen Nächsten im Blick wäre. Vielmehr ist Aseneth darauf bedacht, dass ihre Hunde nicht von den aus dem Fenster geworfenen Götzenopfern essen, sondern dass nur die fremden Hunde daran Anteil bekommen sollen (vgl. JosAs 10,13).80 Ebenso schenkt sie die kostbaren Götterbilder und ihren wertvollen Schmuck nicht aus Gründen der Fürsorge den Armen, sondern sie wirft sie in die Dunkelheit,81 damit die Diebe die Kostbarkeiten an sich nehmen. Somit wird in JosAs die Minderwertigkeit des Götterkultes und die Vernichtung der damit zusammenhängenden Devotionalien unterstrichen. Im Gegensatz zum LkEv spielen die ökonomischen Bedürfnisse der Armen bei JosAs keine Rolle; der Text konzentriert sich allein auf eine wohlhabende Oberschicht und deren Belange.82 80 Inwiefern hier auch die Unreinheit der Hunde im jüdischen Kontext eine Rolle spielt, kann nicht sicher festgestellt werden; vor allem, da Aseneth eben selbst auch Hunde besitzt, ohne dass dies als tadelnswert empfunden wird. Wichtig ist jedoch die Unterscheidung zwischen ihren eigenen und den fremden Hunden. Dadurch werden auch die Hunde der Priestertochter in die Distanzierung Aseneths von den Götzenopfern einbezogen. 81 Einerseits ist es zu diesem Zeitpunkt bereits Nacht geworden, andererseits repräsentiert, wie bereits erwähnt, das Nordfenster, durch das Aseneth ihren Besitz hinauswirft, die (Gott abgewandte) Dunkelheit. 82 So auch Ch. Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ, 612: „JosAs spielt unter Angehörigen der Oberschicht […], die in einer geteilten Gesellschaft ein angenehmes Leben unter sich führen und Oberschichtenabenteuer erleben. Die Kritik an den Reichen und Mächtigen, die Zuwendung zu den Entrechteten, die Hoffnung auf Gerechtigkeit hier oder in Zukunft, die
260
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
8.2.4.4 Umkehr als Abkehr von der Idolatrie Unabhängig von der Frage des materiellen Wertes der Götterbilder ist die Abkehr von der Idolatrie als Bestandteil der μετάνοια auch bei Lukas ein virulenter Gedanke, der vor allem in den Acta ausformuliert wird. So zielt die Areopagrede des Paulus direkt darauf, die Athener von der Aufgabe des Fremdgötterkultes und der Annahme der Verehrung des einen Gottes zu überzeugen (vgl. Act 17,22–32). Aber auch der Aufstand des Demetrius (vgl. Act 19,23–40) belegt die durch die Hinwendung zum Christentum notwendige Abkehr von der Idolatrie und das darin inhärente Konfliktpotential. Dieser Konflikt ist in JosAs vor allem ein innerfamiliärer, der aber für Aseneth als ebenso bedrohlich erscheint wie die Szenerie in Act 19. Doch sind die innerfamiliären Problemstellungen, die einen religiösen Übertritt begleiten können, auch dem Evangelisten nicht fremd. Dies markiert er einerseits durch die allgemein gehaltenen Formulierungen des Hasses, den die Jünger um Jesu willen auf sich nehmen müssen (vgl. Lk 6,22–23), andererseits benennt er in Form eines Jesuslogions konkret die familiären Konflikte, die sich durch die Christusnachfolge einzelner Familienmitglieder ergeben werden (vgl. Lk 12,49–53; 14,26). In jedem Fall sind die Christusgläubigen aber eingebunden in die familia Dei, sofern sie die Worte Gottes hören und danach handeln (vgl. Lk 8,21).83 Im Falle der Aseneth wird die Konfliktsituation, in die sie sich vermittels der Umkehr zu Gott hineinbegeben hat, als so dramatisch beschrieben, dass sie sich existentiell bedroht fühlt – sowohl durch ihre Familie als auch durch die Götter Ägyptens. Diese Bedrohung wird gemäß der Argumentation in JosAs nicht nur durch die μετάνοια der Aseneth heraufbeschworen, sondern kann auch nur durch deren endgültigen Vollzug überwunden werden. Wie oben ausgeführt wird die Umkehr Aseneths mehr und mehr zu einer Flucht zu Gott, bei dem sie sich Rettung erhofft. Dieser rettende Aspekt haftet der μετάνοια auch bei Lukas an, wobei, analog zu JosAs, ebenso an diesseitige wie an eschatologische Rettung zu denken ist.
8.2.4.5 Umkehr und Rettung Durch das Bekenntnis der Sünden und die im Anschluss daran gestiftete Vergebung wird die μετάνοια also sowohl im lk. Doppelwerk84 als auch bei JosAs andere Überlieferungsstränge des antiken Judentums und einen großen Teil des Urchristentums kennzeichnen, fehlen in JosAs ganz. Sozialer Wandel ist das letzte, was der Verfasser wünscht.“ 83 Im synoptischen Vergleich fällt auf, dass Lukas allerdings bei den Jüngerberufungen die Beschreibungen eines möglichen familiären Konfliktes vermeidet. So spielt beispielsweise der Vater der Zebedaiden bei deren Berufung keine Rolle. Lukas erwähnt gerade nicht, dass die Brüder ihren Vater verlassen (vgl. Lk 5,1–11 im Gegensatz zu Mt 4,21–22; Mk 1,19–20). 84 Vgl. hierzu Lk 3,3–14; 5,27–32; 15,1–32; 16,30; 17,1–4; 24,47; Act 2,37–41; 3,19; 5,31; 11,18; 13,24; (19,4); 20,21; 26,20.
8.2 Die Buße der Aseneth
261
als Initiation einer neuen, heilvollen Gottesbeziehung des einzelnen Menschen verstanden, die zugleich eschatologische Konsequenzen mit sich bringt. So eröffnet sich für den Einzelnen die Teilhabe an der Gottesherrschaft, wodurch das gesamte soteriologische Panoptikum in den Blick gerät. Sowohl bei JosAs als auch im LkEv ist die Zusicherung des eschatologischen Heils eine der bedeutsamsten jenseitigen Folgen, die eine durch die Umkehr neu eröffnete Gottesbeziehung mit sich bringt. Dem korrespondiert freilich auch die Vorstellung, dass der Mensch angesichts eines drohenden eschatologischen Gerichts vor die Entscheidung für oder wider Gott gestellt ist und dass gerade im Vollzug der büßenden Umkehr dieses Gericht abgewandt werden kann.85 Daneben führt Lukas aber auch Perikopen an, in denen der Mensch durch die μετάνοια Anteil am rettenden Handeln Gottes bekommt, ohne dass der Horizont des drohenden eschatologischen Strafgerichts explizit ausformuliert wird. Die Stärke dieser Perikopen liegt darin, dass der Fokus allein auf dem Heilshandeln Gottes liegt und somit, im Ensemble mit der Bußfertigkeit des Menschen, die Barmherzigkeit als charakteristischer Wesenszug Gottes unterstrichen wird. Die drei Gleichnisse vom Verlorenen (vgl. Lk 15,1–32) haben in dieser Hinsicht als paradigmatisch zu gelten. Durch sie formuliert Lukas einerseits die Heilsinitiative Gottes, indem die Suche nach dem Verlorenen in den Vordergrund rückt (vgl. Lk 15,3–10), andererseits betont er die durch die göttliche Barmherzigkeit garantierte Sicherheit der Annahme des bußfertigen Sünders, unabhängig von der Schwere seiner einstmaligen Vergehen (vgl. Lk 15,11–32). Die Parabel vom verlorenen Sohn beschreibt eine existentielle Verlorenheit und konkrete Gefährdung des Menschen, die durch die Distanz zu Gott hervorgerufen wird. Im Anschluss an einen inneren Monolog, in welchem der Sohn seine Schuld gegenüber seinem Vater erwägt und sich letztlich in vorsichtiger Hoffnung auf Rettung durch seinen Vater auf den Rückweg nach Hause macht, erwartet ihn nicht nur eine überschwängliche Freude seitens des Vaters und die Restitution in die alten Sohnesrechte, sondern darüber hinaus auch noch eine Verteidigung durch seinen Vater gegen die Angriffe seines Bruders. Obwohl die Gefährdung der Aseneth, vor allem in Bezug auf den familiären Bereich, etwas anders gelagert ist, als in der Parabel beschrieben, ähneln sich die Problemstellungen, aber auch die Lösungen. Sowohl der verlorene Sohn als auch Aseneth finden sich an einem Punkt wieder, an dem sie auf sich allein gestellt sind und infolgedessen schutzlos den Bedrohungen ihrer Existenz ausgesetzt sind. Beide Protagonisten zweifeln zunächst an der Möglichkeit und vor allem an ihrer eigenen Würdigkeit, sich bittend an Gott respektive an die Vaterfigur, die Gott repräsentiert,86 zu wenden. Und beide wagen es nach einem inneren Ringen mit sich selbst, die Umkehr bis zu deren Ziel, also bis hin zur Begegnung mit 85 86
Vgl. z. B. Lk 11,29–32; 13,1–5; 16,19–31; Act 4,12; 8,22; 17,30–31 u. ö. Natürlich begegnet auch in JosAs die symbolische Identifikation Gottes mit einem gütigen und vor allem beschützenden Vater (vgl. JosAs 12,8).
262
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
Gott/dem Vater zu vollziehen.87 Sowohl Aseneth als auch der verlorene Sohn werden angesichts der überschäumenden barmherzigen Zuwendung, die sie erfahren, vollkommen überrascht, da ihnen beiden weit mehr zugestanden wird, als sie sich erhofft haben.88 In beiden Fällen ist die Korrelation von menschlicher μετάνοια und göttlicher Barmherzigkeit das Fundament für die Stiftung eines neuen Gottesverhältnisses, dessen heilsstiftende Konsequenzen nicht in diesem Ausmaß zu erwarten waren.89 Der gemeinsame theologische Nenner ist das Bild eines barmherzigen, beschützenden und verzeihenden Gottes, das sowohl bei Lukas als auch in JosAs alle anderen Gottesvorstellungen letztlich dominiert.
8.3 Das Gottesbild in JosAs 8.3.1 Strukturen und Titel Für den Autor von JosAs ist die Thematisierung von Gottesbildern und -vorstellungen untrennbar mit den jeweiligen kulturellen Kontexten verbunden, und es wird deutlich, dass Glaube im Sinne von religiösem kultischem Vollzug und Treue gegenüber einer oder mehreren Gottheiten nicht nur eine Frage der individuellen Konstitution des Subjekts, sondern vielmehr auch ein bestimmendes Element gesellschaftlichen und familiären Zusammenhalts ist.90 Damit reprä87 Während der Sohn ein vages Vertrauen darauf setzt, dass der fürsorgliche Umgang des Vaters mit den Knechten sich auch auf ihn, den reuigen Zurückgekehrten, erstrecken könnte, klammert sich Aseneth am Strohhalm des Hörensagens hinsichtlich der Barmherzigkeit Gottes fest. 88 Es wäre durchaus möglich, den Vergleich zwischen JosAs und der Parabel vom verlorenen Sohn bis hin zu einzelnen erzählerischen Motiven durchzuführen. So könnte gefragt werden, ob das Fasten der Aseneth motivgeschichtlich dem Hungern des Sohnes entspräche oder ob die Einkleidung der Aseneth auf Geheiß des Engels mit dem neuen Gewand des Sohnes korrespondiert, das dieser von seinem Vater, neben Schuhen und Ring, zum Zeichen seiner Wiederaufnahme in den väterlichen Haushalt zugesprochen bekommt. Allerdings ist die These derartiger motivgeschichtlicher Parallelen nur schwer zu plausibilisieren. D. Sänger, Mysterien, 154–174 hat eindrucksvoll gezeigt, dass Parallelen zu Initiationsriten des Isismythos augenscheinlich vorhanden zu sein scheinen, letztlich aber nicht zu beweisen sind. Daneben sei erwähnt, dass der Wechsel der Kleidung, den der Engel von Aseneth verlangt und der als Zeichen ihrer Vergebung verstanden werden kann, in Sach 3,4–5 eine Sachparallele findet, die aufgrund des Engels eine enge Analogie bildet. 89 Ch. Gerber, Blickwechsel, 210–211 verweist in diesem Zusammenhang auf die Sachparallelen zwischen JosAs und den Acta. So sieht sie in der Bekehrung des Paulus eine Analogie zur μετάνοια der Aseneth: „Diese Analogien trotz religionsphänomenologischer Differenz beruhen auf gemeinsam geteilten Überzeugungen und Erzählstrategien. Joseph und Aseneth wie die Apostelgeschichte zeigen, dass Umkehr eine durch göttlich gefügte Begegnung ausgelöste radikale Wende ist, die alles bestimmt, sich nicht in einer individuellen Erkenntnis erschöpft, sondern in eine Gemeinschaft führt und auf andere ausstrahlt.“ 90 Vgl. oben die Ausführung zum Motiv des Hasses.
8.3 Das Gottesbild in JosAs
263
sentiert der einzelne Gläubige seine Religion und zugleich die Verfasstheit seiner gesellschaftlichen Gruppe,91 wobei im Aufeinandertreffen von Ägyptern und Hebräern die hebräische Kultur der ägyptischen als überlegen geschildert wird; eine Wertung, die die ägyptischen Protagonisten im Umgang mit Joseph durchaus respektieren.92 Dieser strukturellen Logik folgen auch die theologischen Erwägungen in JosAs: Einerseits werden Joseph und Aseneth zu Beginn des Romans als unverbrüchlich treue Repräsentanten ihrer jeweiligen Religion dargestellt, andererseits wird zugleich auch das Konkurrenzverhältnis zwischen den Göttern Ägyptens und dem Gott Josephs ausformuliert. Dabei wird die Überlegenheit Gottes, also JHWHs, gegenüber den Göttern Ägyptens niemals infrage gestellt. Ein Beispiel für dieses Konkurrenzverhältnis lässt sich gleich zu Beginn des Romans finden: Während sich Aseneth mit Schmuckstücken schmückt, die die Götterbilder Ägyptens zeigen und sie aufgrund ihres Schmuckes letztlich wie eine Braut Gottes (νύμφη θεοῦ [JosAs 4,1]) aussieht, wird das Erscheinen Josephs in geradezu epiphanen Zügen beschrieben (vgl. JosAs 5,4–7). Als Repräsentant seines Gottes überstrahlt er Aseneth bei Weitem und als Repräsentant des Pharaos stellt er die Macht des Satrapen Pentephres in den Schatten. Allein der Anblick Josephs genügt, dass Aseneth ihre Vorbehalte gegen ihn aufgibt und ihn als „Sohn Gottes“ (ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ [JosAs 6,3]) tituliert, da seine Schönheit unmöglich von einem Menschen gezeugt werden könne (vgl. JosAs 6,1–4). In der Begegnung zwischen Joseph und Aseneth wird zugleich die Begegnung zwischen dem Gott Israels und den Göttern Ägyptens dargestellt, wobei durch die Unterordnung Aseneths (und des Pentephres) unter Joseph die Dominanz des höchsten Gottes unterstrichen wird. Anders ausgedrückt: Durch den Besuch Josephs im Haus des Pentephres wird Aseneth zum ersten Mal auch mit dem Gott Israels konfrontiert, der zu Beginn des Romans explizit als Gott Josephs tituliert wird (JosAs 3,3). Durch die enge Verbindung zwischen Joseph und Gott93 wird das Wirken Josephs in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes dargestellt. Seine Ablehnung der den ägyptischen Göttern treu ergebenen Aseneth wie auch seine Fürbitte für eine Neuschöpfung Aseneths entspricht einerseits den Geboten Gottes (vgl. JosAs 8,5–7) und symbolisiert andererseits 91
Der Bruch mit dem religiösen System hat dann, wie bereits ausgeführt, auch sozialgesellschaftliche Konsequenzen. Wie sich später zeigen wird, gilt dies nicht nur für Aseneth, sondern auch für die Söhne Bilhas und Zilpas. 92 Man bedenke hier die Beschreibung der Schönheit Aseneths, die darauf gründet, dass sie den Ahnfrauen Israels und gerade nicht den Ägypterinnen gleicht (vgl. JosAs 1,5). Ebenso sei an das selbstbewusste Auftreten Josephs in religiös geprägten Alltagsvollzügen erinnert, denen sich der Priester Pentephres widerspruchslos unterordnet (vgl. JosAs 7,1; 8,5–7; 9,5). Dass diese Anerkennung und Hochschätzung des jüdischen Glaubens durch die Elite Ägyptens eine Umdeutung der historischen Verhältnisse darstellt und in die Vorstellungswelt frühjüdischer Apologetik gehört, muss nicht eigens diskutiert werden. 93 Vgl. hierzu JosAs 3,3.4; 4,7; 5,5; 6,2–3–4.5; 8,2; 13,13–14; 18,2.11; 21,4.21.
264
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
die Handlungssouveränität Gottes in einer durch Fremdgötterkulte bestimmten Umwelt. Die unterschiedlichen Titulierungen Gottes,94 die in JosAs ihre Anwendung finden, spiegeln die inhaltlich wichtigsten Punkte des ersten Hauptteils wider: Das Konkurrenzverhältnis zwischen JHWH und den Göttern Ägyptens, das zu Gunsten JHWHs entschieden wird, drückt der am häufigsten auftretende Titel „ὁ (θεὸς) ὕψιστος“ aus. Die Neuschöpfung, die Aseneth nach dem Vollzug ihrer μετάνοια durch den Genuss der himmlischen Bienenwabe erfährt und durch die sie von der Seite des Todes und der Vergänglichkeit hinübergewechselt ist auf die Seite des Lebens und der Unvergänglichkeit, findet ihr Pendant in den Gottesprädikationen, die das schöpferische und lebensstiftende Handeln Gottes hervorheben. So sind die wohl mit Bedacht gewählten Bezeichnungen Gottes Ausdruck für die Theologie95 von JosAs, in der das Überwinden der Idolatrie von zentraler Bedeutung ist.
8.3.2 Charakterisierungen Gottes Doch lassen sich die in JosAs beschrieben Gottesbilder nicht allein auf Bezeichnungen Gottes oder auf das Auftreten seiner Repräsentanten beschränken. Vielmehr wird Gott als ein lebendiges Gegenüber dargestellt, dem verschiedene, nahezu anthropomorphe Wesenszüge zugeeignet sind. Im Kontext von JosAs dient das Wissen um diese Charakteristika dazu, eine lebendige Beziehung zu Gott gestalten zu können, wobei im ersten Hauptteil von JosAs das bereits thematisierte Konkurrenzverhältnis zwischen Gott und den Fremdgöttern die notwendige Negativfolie für die Skizze des Gottesbildes bietet. So dient die vergangene Idolatrie Aseneths als Katalysator für die vielschichtigen Auseinandersetzungen mit dem Gott Josephs.
8.3.2.1 Der zornige Gott Im Duktus von JosAs entzündet sich der Zorn Gottes vor allem angesichts der Idolatrie und wendet sich gegen diejenigen, die den Fremdgötterkult betreiben (vgl. JosAs 11,7.8.15–17.18). Auffällig ist dabei einerseits, dass Aseneth das Bild des zornigen Gottes im Zuge ihrer Buße heraufbeschwört und dadurch ihre 94 Zu den im Roman begegnenden Titulierungen Gottes gehören: ὁ θεὸς τοῦ Ἰωσήφ (JosAs 3,3), ὀ δυνατὸς τοῦ Ἰωσήφ (JosAs 11,7), ὁ (θεὸς) ὕψιστος (JosAs 8,2; 9,1; 11,9.17; 14,8; 15,7[4 ×].12.12x[2 ×]; 16,14; 18,9; 22,8.13; 23,10), κύριος, ὁ θεὸς ὁ ζωοποιῶν τὰ πάντα (JosAs 8,3), ὁ θεὸς ὁ ζῶν (JosAs 8,5.6), κύριος, ὁ θεὸς Ἰσραήλ (JosAs 8,9), ὀ δυνατὸς τοῦ Ἰακώβ (JosAs 8,9), κύριος, ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ (JosAs 11,9; 21,14), ὁ παντοδύναμος τοῦ Ἰωσήφ (JosAs 11,9), ὁ θεὸς τῶν αἰώνων (JosAs 12,1), ὁ κτίσας (JosAs 12,1), κύριος, ὁ θεὸς (JosAs 14,1), ὁ βασιλεὺς τῶν αἰώνων (JosAs 16,14), ὁ (θεὸς) ὕψιστος τῆς ζωῆς (JosAs 21,15). 95 Freilich wurzeln die theologischen Ausführungen des Autors sämtlich in der LXX, was nicht zuletzt im Gottesbild deutlich wird. Zur Herkunft der Titulierungen Gottes aus dem Sprachgebrauch der LXX vgl. Delling, Einwirkung, 45–47.
8.3 Das Gottesbild in JosAs
265
Furcht vor Gott Schritt für Schritt steigert. Es kann als Merkmal der μετάνοια als eines (Erkenntnis-)Prozesses verstanden werden, dass Aseneth vor ihrer Begegnung mit Joseph keinen Gedanken an den Zorn Gottes verschwendet, um dann, nachdem sie durch die Begegnung mit Joseph in ihrer Idolatrie erschüttert und somit zur Abkehr von den Göttern Ägyptens angeleitet worden ist, zunächst der Erkenntnis des Zornes Gottes ausgeliefert zu sein. Der Hinwendung zu Gott geht ein Ernst-Nehmen seines Willens einher, welchen Aseneth für ihren persönlichen Lebensvollzug in erster Linie im Hinblick auf die Bewertung der Idolatrie wahrnimmt. Somit sieht sie sich dem Zorn und dem Hass Gottes ausgesetzt, da sie zu diesem Zeitpunkt ihrer Umkehr (vgl. JosAs 11) den Punkt der Erkenntnis der Gnade Gottes noch nicht erreicht hat. Damit findet sich Aseneth in dem oben bereits beschriebenen Zustand des Ausgeliefert-Seins wieder, da ihr Bruch mit den ägyptischen Göttern noch nicht in der Annahme durch den Gott Josephs einen positiven Widerpart gefunden hat. Seltsamerweise findet sich aber im gesamten Roman JosAs kein einziger Beleg dafür, dass Gott tatsächlich seinen Zorn gegenüber den ägyptischen Götzendienern in die Tat umsetzt. Die Familie Aseneths wird ebenso wenig durch den Zorn Gottes gestraft wie andere Mitglieder des Haushalts. Der einzige Unterschied zwischen Aseneth und den anderen Menschen auf dem Anwesen des Pentephres bestand vor der Umkehr Aseneths allein darin, dass nur sie sich in solch abfälliger und hochmütiger Weise gegenüber Joseph verhalten hat; ein Auftreten, das sie im Vollzug ihrer Umkehr zutiefst bereut. Der von Aseneth gefürchtete Zorn Gottes findet seinen Ursprung also nicht innerhalb des Romans, sondern vielmehr in den Traditionen der LXX. Die argumentative Struktur von JosAs, die in der praktizierten Idolatrie den Anlass für den Zorn und für die Eifersucht Gottes erkennt, ist eine Analogie zu den LXXBelegen, die die zornige Eifersucht Gottes thematisieren.96 Für Aseneth bildet das Wissen um diesen Charakterzug Gottes und die Furcht davor einen veritablen Hinderungsgrund, sich Gott vertrauensvoll und vor allem Schutz suchend zu nähern (vgl. JosAs 11,7–9.15). Auch wenn diese Furcht letztlich durch die Konzentration auf die Barmherzigkeit Gottes überwunden wird, insistiert der Autor von JosAs darauf, dass die Idolatrie mit der Verehrung Gottes grundsätzlich unvereinbar ist und der göttliche Zorn fraglos auf diejenigen zielt, die weiterhin Fremdgötterkulte praktizieren. Den Proselyten unter den Adressaten dient diese Beschreibung der Furcht Aseneths zur „Motivation“, sich vollgültig von ihren alten Götterkulten abzuwenden. Die jüdische Adressatenschaft wird einerseits in ihrem religiösen Selbstbewusstsein angesichts der Diaspora-Situation gestärkt, andererseits aber auch ermahnt, in Bezug auf das Proselytentum in Fragen der Idolatrie unnachgiebig zu bleiben. 96 Vgl. Ex 20,5; 34,14; Dtn 4,24; 5,9; 6,15. Eine Ausnahme bildet die Rede von Gottes Eifersucht in Nah 1,2. Dort wird der Zorn und der Eifer Gottes gegenüber seinen Feinden beschrieben und im Gegensatz zu seiner Barmherzigkeit genannt.
266
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
Neben diesem wichtigen Themenkomplex wird der Zorn Gottes in JosAs nur noch anhand weniger anderer Beispiele kurz angesprochen. So ist im zweiten Hauptteil die Rache Gottes an den Feinden seines Volkes ein Gedanke, der mit der Charakterisierung Levis und Simeons verbunden wird. Gegenüber dem Sohn des Pharaos wird die latente Bedrohung, die von den beiden Jakobssöhnen ausgeht, dadurch unterstrichen, dass sie als Werkzeuge der Rache Gottes die Sichemiten, in Konsequenz der Vergewaltigung der Dina durch den Prinzen Sichem (vgl. Gen 34,1–31), ausgelöscht haben (vgl. JosAs 23,14). Dieser Verweis auf Gen 34 soll als thematische Analogie zum Ansinnen des ägyptischen Prinzen verstanden werden, da dieser, ebenso wie Sichem, eine Frau einfordert, die zum Volk Israel gehört und die er aber nur durch die Anwendung von Gewalt zu bekommen glaubt. In Gen 34 wie auch in JosAs spielen zudem die Väter der Prinzen in Bezug auf eine mögliche Ehevermittlung eine Rolle. Der Unterschied zwischen JosAs und Gen 34 besteht freilich darin, dass der Pharao sich den Wünschen seines Sohnes widersetzt und somit selbst in Gefahr gerät und dass darüber hinaus der ägyptische Prinz trotz Aufbietung all seiner militärischen Gewalt und Tücke Aseneth nicht bekommen wird. In diesem Zusammenhang begegnet auch der zweite Verweis auf die Rache Gottes, die die Söhne Bilhas und Zilpas fürchten, nachdem ihr Anschlag auf Aseneth missglückt ist (vgl. JosAs 25,5–6). Während auch dieses Strafhandeln Gottes durch die übrigen Söhne Jakobs hätte vollstreckt werden können, wendet Aseneth die Bedrohung für ihre geschlagenen Feinde ab, indem sie sie vor deren Brüdern beschützt und das Richten über ihre Angreifer allein in Gottes (eschatologische) Verantwortung stellt. Durch dieses Verhalten zeichnet sich Aseneth als ethisch vorbildlich aus, da sie einerseits das menschliche Streben nach Rache unterbindet und sich andererseits gegenüber ihren geschlagenen Feinden als barmherzig erweist. Nach JosAs ist es denen, die Gott verehren, aufgetragen, sich barmherzig gegenüber den Mitmenschen, auch gegenüber den geschlagenen Feinden zu zeigen, und dieses erbarmende Verhalten findet seinen Ursprung in der Barmherzigkeit Gottes.
8.3.2.2 Der barmherzige Gott Die Barmherzigkeit und die damit verbundene Vergebungsbereitschaft Gottes ist das Fundament und zugleich der Fluchtpunkt der μετάνοια Aseneths. In der Anerkenntnis ihrer Idolatrie als eines gottfeindlichen Verhaltens und dem daraus resultierenden Bewusst-Werden des Hasses Gottes, bleibt Aseneth nur noch die Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit, um dem göttlichen Zorn entrinnen zu können. Diese Hoffnung wird genährt aus den Beschreibungen Gottes, die sie aus dritter Hand erhalten hat97 und die in nahezu wörtlicher Auf97
„Ἀλλ’ ἀκήκοα πολλῶν λεγόντων“ (JosAs 11,10).
8.3 Das Gottesbild in JosAs
267
nahme von Ex 34,698 Gott als „ἀληθινός“, „ζῶν“, „ἐλεήμων“, „οἰκτίρμων“, „μακρόθυμος“, „πολυέλεος“ und „ἐπιεικής“ (JosAs 11,10) charakterisieren. Diese Charakterisierung entspringt im Zusammenhang von Ex 34 einer Selbstoffenbarung Gottes, welche zugleich mit einer Selbstverpflichtung gegenüber seinem Volk verbunden ist; eine Selbstverpflichtung, an die beispielsweise Mose in Num 14,17–19 erfolgreich appelliert. In der narrativen Logik von JosAs können die genannten Charakterisierungen Gottes natürlich nicht im Zusammenhang mit Ex 34 par. stehen, da das Exodusereignis vom narrativen Zeitpunkt des Romans aus gesehen noch in weiter Ferne liegt. Daher nimmt es auch nicht Wunder, dass Aseneth nicht die Schrift o. ä. zitiert, sondern sich nur auf ein Hörensagen beruft. Eine besondere Konzentration liegt in JosAs 11,10 auf der Überzeugung, dass Gott sich gerade gegenüber den Menschen erbarmt, die in bußfertiger Auseinandersetzung mit sich selbst und ihren Übertretungen zutiefst erschüttert sind (τεθλιμμένος [JosAs 11,10.13]). Damit wird die thematische Klammer zwischen barmherziger Zuwendung einerseits und menschlicher Umkehr andererseits geschlossen und die Umkehr als Akt der Niedrigkeit vor Gott in ihrer Bedeutung für das Vergebungsgeschehen hervorgehoben. Aseneth ist nicht nur der Vergebung Gottes bedürftig, sondern kann aufgrund ihrer θλῖψις in besonderem Maße auf die Zusicherung göttlicher Vergebung hoffen. Der innere Monolog Aseneths erinnert dabei an Inhalt und Struktur der Bußpsalmen, in denen der Beter den Weg von der Reflexion seiner Sünden, über die Beschreibung der körperlichen Entbehrungen der Umkehr, bis hin zum hoffenden Vertrauen auf eine barmherzige Wiederannahme durch Gott durchläuft.99 Doch setzt sich im Duktus von JosAs 11 das Primat der auf Barmherzigkeit gründenden Hoffnung nur langsam gegen die Furcht vor dem Zorn und der Strafe Gottes durch, weswegen eine Hinwendung zu Gott nicht nur erschwert, sondern anfangs geradezu verunmöglicht wird. Die Entscheidung Aseneths, sich trotz aller Bedenken hinsichtlich des göttlichen Zornes vertrauensvoll an Gott zu wenden und bei ihm Schutz zu suchen, gründet zum einen auf der Überzeugung, dass der Zorn Gottes nur temporär ist und letztlich durch sein eigenes Erbarmen überwunden wird. Zum anderen ist das Bild Gottes als eines nachsichtigen und beschützenden Vaters von zentraler Bedeutung, wodurch auch die Betonung seiner Heiligkeit im Sinne einer 98 Diese Charakterisierung Gottes findet sich in verschiedenen Variationen noch öfter in der LXX; vgl. beispielsweise Num 14,18; 2Esr 19,17; ψ 85,15; 102,8; 144,8; Od 12,7; Joel 2,13; Jon 4,2. 99 Vgl. vor allem ψ 6; 31; 37; 129. ψ 101 und ψ 142 bieten sich nur in Maßen als Analogien zu den Worten Aseneths an, ψ 50 passt thematisch nicht. Neben dem inneren Monolog in JosAs 11 und dem Gebet der Aseneth in JosAs 12–13 ist noch der den ersten Hauptteil abschließende Psalm in JosAs 21,10–21 zu nennen. Darin fasst Aseneth ihre Wandlung von der hochmütigen, ägyptischen Priestertochter zur gottverehrenden Ehefrau Josephs zusammen. Der sich stets wiederholende Ruf „ἥμαρτον, κύριε, ἥμαρτον ἐνώπιόν σου πολλὰ ἥμαρτον“ wirkt dabei wie ein Refrain, der die einzelnen Strophen des Psalms rahmt.
268
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
Unnahbarkeit in den Hintergrund gedrängt wird. Leitend für die Theologie von JosAs ist die Überzeugung, dass die göttliche Barmherzigkeit als unlimitiert zu denken ist; sowohl in zeitlicher als auch in quantitativer Hinsicht. Bei allem Zorn, bei allen Strafen, mit denen Gott die Sünden der Menschen beantwortet, ist doch sein Erbarmen das dominierende Moment seines Wesens, wodurch der Zuspruch der Vergebung gewissermaßen das letzte Wort Gottes ist (vgl. JosAs 11,18). Diese Gottesvorstellung knüpft an eine theologische Tradition des Alten Testaments an,100 die auch für den Evangelisten Lukas von größter Bedeutung war. Im Gegensatz zu Lukas diskutiert JosAs aber nicht die Unterschiede zwischen diesseitigen und eschatologischen Rahmenbedingungen, die sich in der lk. Theologie vor allem dadurch unterscheiden, dass im Eschaton die Durchsetzung des göttlichen Gerichts als Gegenentwurf zur diesseitigen grenzenlosen Barmherzigkeit im Vordergrund steht. Lediglich in JosAs 28,7.14 gerät das (eschatologische) Richten Gottes in den Blick, durch welches der Mensch dazu angehalten wird, selbst auf verurteilendes Richten und auf Rache zu verzichten; eine Argumentation, die auch unter Rückgriff auf Dtn 32,35 in Röm 12,19 vertreten wird. Die Kumulation der Vorstellungen eines barmherzigen und eines väterlichen Gottes begegnet in JosAs 12–13, also im Vollzug des Gebetes der Aseneth, in vielfacher Art und Weise und mündet in die Bitte der Aseneth, sowohl Erbarmen als auch Schutz durch Gott erfahren zu dürfen. Zu Beginn ihrer Anrufung Gottes hebt Aseneth zunächst die Vollmacht Gottes durch die Erwähnung seines Schöpferhandelns und ihre Einsicht in ihre Verfehlungen gegenüber Gott hervor, um dann ihr Flehen um Hilfe zu artikulieren. Dies geschieht in Form eines Bildwortes, in dem sie sich mit einem verängstigten Kind und Gott mit einem gütigen Vater vergleicht, bei dem das Kind, schwer atmend vor Furcht, Schutz sucht (vgl. JosAs 12,8). Die im Bildwort beschriebene Nähe zwischen dem Kind und seinem Vater soll die Nähe zwischen Gott und seinen Gläubigen symbolisieren, eine Nähe, die aufgrund des höheren Maßes an Souveränität, das dem Vater gegenüber seinem Kind zu eigen ist, zugleich auch Schutz vor allen Gefahren, denen sich das Kind ausgesetzt sieht, darstellen soll.101 Im Falle der Aseneth besteht die Bedrohung in der Anfeindung durch die ägyptischen Göt100 An erster Stelle ist hier wiederum Ex 34,6–7 zu nennen, aber auch Joel 2,13; Jon 4,2. Ebenso sind die prophetischen Heilsorakel eindrucksvolle Zeugnisse für die Durchsetzung der göttlichen Barmherzigkeit und der durch das Erbarmen motivierten Selbstüberwindung Gottes; vgl. beispielsweise Jes 54,7–10; Jer 3,12; Thren 3,31–33; Mi 7,18. Für die endzeitlichen Heilsvisionen (z. B. Hos 2,20–25; Jes 60,1–10; Sach 1,12–17; 10,6) ist das Beenden des göttlichen Zornes durch die göttliche Barmherzigkeit eine Grundkonstante, doch scheint nichts in JosAs darauf hinzuweisen, dass es sich hier um den Anbruch einer eschatologischen Heilszeit handelt. In diesen Zusammenhang wäre eher noch die ntl. Christologie zu stellen, die im Wirken Jesu den Anbruch des Gottesreiches erkennt. 101 Das Gefälle zwischen der Einschätzung der Gefahr durch das Kind und durch den Vater wird plastisch durch das Lächeln des Vaters über die kindliche Verwirrung (ἡ ταραχὴ τῆς νηπιότητος [JosAs 12,8]) ausgedrückt.
8.4 Gottesbild und Ethik
269
ter, die jedoch, die Struktur des Bildwortes aufnehmend, Gott nur ein mildes Lächeln und gewiss kein Gefühl der Bedrohung entlocken können. Die Bitte um Rettung stellt im Gebet der Aseneth ein sich wiederholendes Moment dar102 und ist dabei eng mit der Bitte um Vergebung und um Erbarmen103 verbunden. Dabei ist nicht nur der mehrfach ausgesprochene Verweis auf die vollzogenen äußeren und inneren Taten der Buße von Relevanz, sondern auch die Gewissheit, dass Gott ein Vater ist, der freundlich (γλυκύς [JosAs 12,14]), gut (ἀγαθός [JosAs 12,14]) und milde (ἐπιεικής [JosAs 12,14]), sowie schnell im Erbarmen (ταχὺς ἐν ἐλέει [JosAs 12,15]) und langmütig gegenüber Sünden (μακρόθυμος ἐπἱ ταῖς ἁμαρτίαις [JosAs 12,15]) ist. Im Zuge dieses Appells an die Güte Gottes und an sein damit verbundenes väterliches Wesen, betont Aseneth mehrfach ihren durch die μετάνοια hervorgerufenen Waisenstand und drängt förmlich auf Annahme durch den väterlichen Gott. Die Logik der Bitte besagt also, dass auf Seiten Gottes aufgrund seines Wesens nichts gegen eine Akzeptanz und eine Rettung der umgekehrten, verwaisten Aseneth spräche. Dieser Bitte wird, wie JosAs 15,2–4 belegt, von Seiten Gottes schlussendlich auch entsprochen, wodurch die in JosAs 11,10 auf Hörensagen basierende Charakterisierung Gottes durch den Verlauf der Ereignisse um Aseneth bestätigt wird. Die Konkretion der Barmherzigkeit Gottes, die in der Aufnahme Aseneths in das Gottesvolk und in der Vermählung Aseneths mit Joseph besteht, entspricht mitsamt aller damit verbundenen soteriologischen und sozialen Implikationen den Leiden, denen sich Aseneth im Zeitraum ihrer Buße ausgesetzt sah. Analog zur theologischethischen Argumentation des Lukas besteht auch in JosAs das Umsetzen barmherziger Zuwendung in der Linderung konkreter, individuell verfasster Leiden und Nöte. Wie sich im zweiten Hauptteil von JosAs zeigen wird, ist die Barmherzigkeit, die Aseneth gegenüber den Söhnen Bilhas und Zilpas walten lässt, und die Barmherzigkeit, die Levi gegenüber dem Sohn des Pharaos erweist, nach exakt demselben Muster gestaltet: die Wahrnehmung und anschließende Linderung einer individuellen Not.
8.4 Gottesbild und Ethik in JosAs Die in JosAs formulierten Leitlinien hinsichtlich eines moralisch guten Verhaltens decken einerseits ein breites thematisches Spektrum von Fragen der Tischgemeinschaft über die Sexualmoral bis hin zum Umgang mit den Feinden ab und heben andererseits in jedem Aspekt des moralischen Diskurses die ethische Überlegenheit des Gottesvolkes hervor. Dabei kommt den ethisch-moralischen Aussagen in JosAs, je nach Adressatenorientierung, eine unterschiedliche In102 103
Vgl. JosAs 12,3.6–8.11–12.14; 13,1.12. ἐλέησόν με (JosAs 12,14; 13,1), οἴκτειρόν με (JosAs 13,1).
270
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
tention zu. Der jüdischen Leserschaft gelten sie als Vergewisserung der eigenen Lebensvollzüge und als Mahnung zum Festhalten an den ethischen Konventionen, während sie für die Proselyten als Unterweisung und Plausibilisierung des jüdischen Ethos dienen.104 Als Auftaktformulierung ethischer Unterweisungen begegnet in JosAs häufig die Floskel „οὐκ ἔστι προσῆκον ἀνδρὶ θεοσεβεῖ / οὐ προσῆκόν ἐστιν ἀνδρὶ θεοσεβεῖ“105 bzw. „οὐ προσήκει ἀνδρὶ θεοσεβεῖ“.106 Dabei wird die Zielgruppe der ex negativo formulierten ethischen Unterweisung klar auf die Personen eingegrenzt, die als „gottverehrend“ (θεοσεβής) gelten. Es würde dabei zu kurz greifen, die gottverehrenden Menschen mit den Mitgliedern des Gottesvolkes gleichzusetzen. Wie der zweite Hauptteil von JosAs deutlich zeigt, sind auch einige Mitglieder der Familie Jakobs der ethischen Unterweisung bedürftig (vgl. JosAs 23,9; 28,10–14; 29,3–4), während andere aufgrund ihres gewaltsamen Verhaltens gegenüber Joseph und Aseneth jenseits aller Gottesfurcht und somit auch jenseits aller Ethik stehen.107 Die Beziehung des Individuums zu Gott, die sich durch Verehrung, Ehrfurcht108 und Treue gegenüber seinen Geboten positiv qualifizieren lässt, ist der konstitutive Bestandteil eines ethisch guten Lebensvollzugs. Eine rein genealogische Zugehörigkeit zum Gottesvolk respektive zum Haus Jakobs sagt demgegenüber noch gar nichts über die Qualität der Gottesbeziehung aus. Hierin ähneln sich JosAs und die Darstellung des Täufers in Lk 3,7–9 in struktureller Hinsicht stark. Bevor sich die Untersuchung den Inhalten dessen, was sich (nicht) geziemt109 zuwendet, sei die Auswirkung der Gottesbeziehung auf das Verhalten des Einzelnen anhand der Person Josephs näher beleuchtet. In JosAs 7–8 tritt Joseph im Haus des Pentephres als unnachgiebiger Verfechter jüdischer Moralvorstellungen auf. Er lehnt selbstverständlich die Tischgemeinschaft mit Pentephres und dessen Familie ab, da ihm eine solche Gemeinschaft ein „Gräuel“ (τὸ βδέλυγμα [JosAs 7,1])110 wäre. Die oben bereits 104 Für R. Chesnutt, Death, 97–100 stehen vor allem die jüdischen Adressaten im Fokus
von JosAs, wodurch hier die Motivation zur Beibehaltung der jüdischen Sitten und Gebräuche in den Vordergrund rückt. Siehe vor allem R. Chesnutt, Death, 100: „The milieu of Joseph and Aseneth evidently was one in which Jews lived in dynamic tensions with Gentiles and struggled to maintain a distinctive Jewish identity. The polluting effect of intermarriage and of table fellowship with Gentiles was of grave concern to the author.“ 105 JosAs 8,5; 21,1; 23,12. In JosAs 8,7 begegnet die Formulierung „οὐκ ἔστι προσῆκον“ in Bezug auf eine gottverehrende Frau. 106 JosAs 23,9.12; 29,3. 107 Demgegenüber betont R. Chesnutt, Death, 256, dass alle Söhne Jakobs, ungeachtet ihrer Taten, als „ἄνδρες θεοσεβεῖς“ zu gelten haben. 108 Vgl. hierzu exemplarisch die Darstellung Benjamins in JosAs 27,1. 109 Für K.‑W. Niebuhr, Ethik und Tora, 193 ist die in JosAs begegnende Rede vom Geziemenden ein Beweis für die Nähe der Schrift zur stoischen Philosophie, obwohl „sich für die zitierte Wendung keine exakten Parallelen [finden]“ lassen. 110 Diese Formulierung soll hier die Treue Josephs gegenüber den Speisegeboten demons-
8.4 Gottesbild und Ethik
271
erwähnte Vollmacht Josephs, die in seinem Auftreten gegenüber Pentephres zu Tage tritt, gerät an dieser Stelle besonders für die jüdische Adressatenschaft aufgrund einer Umdeutung von Gen 43,32 (LXX) in den Fokus. In Gen 43,32 (LXX) findet sich die Notiz, dass die Ägypter keine Tischgemeinschaft mit den Hebräern eingehen, da es für die Ägypter ein Gräuel (τὸ βδέλυγμα) ist, mit den Hebräern gemeinsam essen zu müssen. Im gesamten Duktus von JosAs wird jedoch eine überlegene Souveränität der Hebräer gegenüber der ägyptischen Umwelt behauptet, die angesichts der Diasporasituation unplausibel ist und gerade in Umdeutung der alltäglich sozialen Situation wie auch der biblischen Erinnerungen zur besonderen Vergewisserung jüdischer Identität beitragen soll. Es sind die Hebräer, die darüber entscheiden können, wann, mit wem und auf welche Art sie sozialen Kontakt aufnehmen wollen und die Ägypter haben sich den Entscheidungen wie selbstverständlich zu fügen.111 Auch Aseneth sieht sich dieser Distanzierung in der Erfahrung ihrer Ablehnung durch Joseph ausgesetzt (vgl. JosAs 8,5–7). Mit Verweis auf das für einen gottverehrenden Mann nicht Geziemende lehnt es Joseph ab, eine Frau zu küssen, die Götzendienst betreibt, und betont die Notwendigkeit der Einhaltung des Endogamiegebots. In seiner Zurückweisung der Aseneth ist zugleich die Furcht vor einer Verunreinigung durch Götzendienst formuliert, womit Joseph auf seine unerschütterliche Treue gegenüber Gott insistiert.112 Doch geht der Erweis seines gottverehrenden Wesens nicht allein in der schroffen Abweisung Aseneths und der Hochschätzung der Endogamie auf. Mit den Tränen Aseneths konfrontiert, regt sich in Joseph starkes Mitleid (ἐλεεῖν σφόδρα [JosAs 8,8]) für die Zurückgewiesene, und er formuliert ein eindrucksvolles Fürbittengebet für Aseneth, in dessen Verlauf er um die Erneuerung Aseneths durch Gott und um die Aufnahme Aseneths in das Gottesvolk unter Einbezug aller soteriologischen Konsequenzen bittet. Der Grund für sein Mitleid mit Aseneth wird durch das Wesen Josephs erklärt: Er ist sanftmütig (πραΰς [JosAs 8,8]), barmherzig (ἐλεήμων [JosAs 8,8]) und gottesfürchtig (φοβούμενος τὸν θεόν [JosAs 8,8]). Während die Gottesfurcht als Synonym zu seinem gottverehrenden Leben verstanden werden kann, das den Respekt vor dem Willen Gottes natürlich impliziert, sind die beiden anderen Charakterzüge anschlussfähig an die Beschreibungen Gottes in JosAs 11,10; 12,14–15. In Analogie zu Gottes Erbarmen über trieren, könnte aber hinsichtlich der Gastfreundschaft des Pentephres auch als Beleidigung des Gastgebers gelesen werden. 111 Dieses Muster begegnet wieder in der Abweisung des Ansinnens des ägyptischen Prinzen durch Levi und Simeon (vgl. JosAs 23,10–17). 112 Nach D. Sänger, Mysterien, 199–204 kommt diese Treue Josephs auch in dessen Bezeichnung als „ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ“ zum Ausdruck, worin er ein Kennzeichen der weisheitlichen Traditionen erkennt, die den geistesgeschichtlichen Hintergrund von JosAs bilden. Siehe Sänger, Mysterien, 203: „Ethischer Rigorismus vereint mit einem hellenistisch-stoisch beeinflußten weisheitstheologischen Ideal des gottgefälligen Weisen sind in der υἱὸς θεοῦ-Vorstellung von JosAs zusammengeflossen.“
272
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
Aseneth angesichts ihrer Tränen der Reue (vgl. JosAs 15,2–6), erbarmt sich auch Joseph über Aseneth. In der Nachahmung der göttlichen Barmherzigkeit fühlt Joseph den Schmerz Aseneths mit und vollbringt alles in seiner Macht Stehende, um diesen zu lindern. Wie sich im weiteren Verlauf von JosAs zeigt, bilden die Zurückweisung durch Joseph, die auf der Idolatrie Aseneths gründet, und die Fürbitte für Aseneth, die er als Ausdruck seines Mitleids formuliert, die initiale Erschütterung, die Aseneth letztlich zu ihrer rettenden Buße bewegt. Somit kann festgehalten werden, dass es dem Wesen eines gottverehrenden Menschen in vorzüglicher Weise entspricht, die barmherzigen Charakterzüge Gottes zu verinnerlichen und die vergebende und mitleidende Zuwendung Gottes zu den betrübten und leidenden Menschen zu imitieren. Der Stolz Josephs, der in seinem Auftreten im Haus des Pentephres anfangs zum Vorschein kommt, wird durch seine Barmherzigkeit überwunden, ohne dass er in der Observanz der boundary markers Kompromisse eingehen würde.113 An Joseph, dem Paradebeispiel eines gottesfürchtigen und gebotsobservanten114 Menschen, wird deutlich, wie sich Prinzipientreue und Empathie vereinbaren lassen und wie es unter Einbezug göttlichen Beistands den gottverehrenden Menschen möglich wird, aufgrund von barmherziger Zuwendung kulturelle und religiöse Differenzen zu überbrücken. Selbstverständlich ist der Autor von JosAs streng darauf bedacht, dass auch Emotionen wie Mitleid die Handlungssouveränität und die Entscheidungsgewalt nicht beeinflussen dürfen. Joseph ist in allem, was er tut, stets Herr der Lage und über sich selbst. Im zweiten Hauptteil von JosAs wird deutlich, wie sehr Emotionen wie Zorn, Furcht und Neid nicht nur das Handeln des Einzelnen bestimmen können, sondern auch in welchem Maße diese Emotionen Handlungen hervorrufen können, die als durch und durch unethisch bzw. für gottverehrende Männer als unziemlich zu gelten haben. Der Autor von JosAs nimmt unter den Brüdern Josephs eine Unterscheidung vor zwischen denen, die von Lea und Rahel geboren wurden, und denen, die von den Mägden Zilpa und Bilha abstammen. Während die Söhne Zilpas und Bilhas von Beginn an als neidisch und feindlich gegenüber Joseph und Aseneth beschrieben werden, stehen Benjamin und die Söhne Leas in einem positiven Verhältnis zu Joseph und Aseneth (vgl. JosAs 22,11). Levi kommt dabei eine 113 Es liegt auf der Hand, dass das als „Segen“ bezeichnete Gebet Josephs das Äußerste ist, was angesichts der Problematik der Idolatrie in seiner Macht steht. Es ist ihm als gottverehrendem und gottesfürchtigem Mann unmöglich, eine Ausnahme hinsichtlich des Endogamiegebots zuzulassen. Die Überwindung der kultischen Unreinheit Aseneths kann Joseph auch nicht bewerkstelligen, sondern eben nur in klarer Erkenntnis der Problemlage um eine Neuschöpfung der Aseneth bitten. 114 K.‑W. Niebuhr, Ethik und Tora, 195 betont sicherlich zu Recht, dass die ethische Unterweisung in JosAs Ausdruck einer hellenistisch-frühjüdischen Toraparänese darstellt, wobei vor allem die traditionsgeschichtliche Einordnung der ethisch bewerteten Motive als Beleg dient.
8.4 Gottesbild und Ethik
273
Sonderrolle zu: In Aufnahme seiner Eigenschaft als Stammvater der Leviten und der Priester, wird er als besonders besonnen und vor allem als prophetisch begabt charakterisiert. Darüber hinaus steht er in einem engen, geschwisterlichen Verhältnis zu Aseneth. Allein diese Differenzierung unter den Söhnen Jakobs in JosAs 22,11–13 lässt das Konfliktpotential erahnen, das den weiteren Verlauf maßgeblich bestimmen wird. Der Dramaturgie folgend führt der Autor in JosAs 23,1 noch den ältesten Sohn des Pharaos in die Szenerie ein, der angesichts der Ehe von Joseph und Aseneth neidisch und böswillig reagiert.115 Nimmt man die Relation der einzelnen Protagonisten zu Joseph und Aseneth zum Maßstab, so stehen die Söhne der Mägde, durch ihren Neid und ihre Missgunst mit dem ägyptischen Prinzen vereint, Benjamin und den Söhnen Leas gegenüber. Die Eskalation dieses Konfliktes wird zur ethischen Bewährungsprobe der Beteiligten. Der Sohn des Pharaos ruft als Erstes Simeon und Levi zu sich, um mit ihnen ein Komplott gegen Joseph und Aseneth zu schmieden, in dessen Verlauf Joseph getötet und Aseneth zur Frau des Prinzen gemacht werden soll (vgl. JosAs 23,4). Er wendet sich dabei zunächst explizit an diese beiden Brüder Josephs, da deren kriegerische Qualitäten116 durch die Vernichtung der Sichemiten hinreichend belegt sind und sich der Sohn des Pharaos in erster Linie militärische Unterstützung erhofft. Das Werben des Prinzen um Unterstützung geschieht in dreifacher Form: durch Schmeichelei (vgl. JosAs 23,2), durch die Aussicht auf Belohnung bei zugestandener Hilfe (vgl. JosAs 23,3) und durch die Androhung von Strafe bei Ablehnung des prinzlichen Ansinnens (vgl. JosAs 23,5). Der dominierende Charakterzug des Prinzen ist jedoch seine aus der Begierde nach Aseneth erwachsende Verschlagenheit, aufgrund derer ihm jedes Mittel zur Durchsetzung seines Zieles adäquat zu sein scheint. Dies wird vor allem in der Pervertierung des Begriffes „ποιεῖν τὸ ἔλεος“ (JosAs 23,3) deutlich. In JosAs 23,3 begründet der Sohn des Pharaos seine Feindschaft gegenüber Joseph damit, dass dieser ihm Aseneth weggenommen habe, obwohl sie ihm, 115 Eine Erklärung für die Reaktion des Prinzen ist nicht vonnöten, da der Sohn des Pharaos bereits zu Beginn des Buches in seinem Werben um Aseneth, das vom Pharao zurückgewiesen wird, Erwähnung findet. 116 An dieser Stelle begegnet zum ersten Mal das Motiv des Schwertes, das sinnbildlich für militärische Gewalt und Dominanz steht und das im Verlauf des zweiten Hauptteils von JosAs immer wieder begegnet. So versucht der Sohn des Pharaos Levi und Simeon durch das Vorzeigen seines Schwertes einzuschüchtern (vgl. JosAs 23,6); ein Versuch, der misslingt und dem seitens der Jakobsöhne durch das Vorzeigen ihrer Schwerter begegnet wird, vor denen sich der Prinz fürchtet (vgl. JosAs 23,14–15). Auch wird die Niederlage, die die Söhne Bilhas und Zilpas aufgrund des göttlichen Beistands für Aseneth erleiden, dadurch plastisch beschrieben, dass Gott die Schwerter der Angreifer schmelzen lässt (vgl. JosAs 27,11) und die geschmolzenen Schwerter auch später als Erweis ihrer Machtlosigkeit dienen (vgl. JosAs 28,10). Wer in JosAs die letztentscheidende Macht über die Schwerter hat, ist der Herr der Lage. Das gilt auch und gerade für die Szenen, in denen Levi seine Brüder davon abhält, von den Schwertern Gebrauch zu machen (vgl. JosAs 23,8–9; 29,3–4).
274
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
dem Prinzen, „von Beginn an“ (ἀπ᾽ἀρχῆς [JosAs 23,3]) als Braut versprochen gewesen sei. Nun leide er unter der Demütigung, die ihm durch die Hochzeit zwischen Joseph und Aseneth zugefügt worden sei, und bezeichnet sein Ansinnen um Unterstützung dementsprechend als eine Bitte um Barmherzigkeit. Er fordert also die Brüder Josephs dazu auf, sich in seinen Schmerz hineinzuversetzen, sich seines Leidens ob der zugefügten Demütigung zu erbarmen und sich emotional mit ihm zu solidarisieren. Die Barmherzigkeit soll die Handlungsmotivation der Brüder für die Unterstützung des ägyptischen Prinzen und für die handfeste Parteinahme gegen ihren Bruder Joseph werden. Die Perfidie des Ägypters liegt nicht allein in der Lüge, schließlich weiß der Leser von JosAs, dass der Pharao strikt gegen eine Verbindung zwischen seinem Sohn und Aseneth war,117 sondern sie tritt vor allem in dem Versuch der Manipulation seiner Gesprächspartner auf. Es hat sich bereits in JosAs 8,8–9 gezeigt, dass derjenige, der in besonderer Verehrung Gottes lebt, die barmherzigen und mitleidigen Wesenszüge Gottes imitiert und sie zur Grundlage seines eigenen Wesens und Handelns macht. Der Sohn des Pharaos versucht diese Offenheit zur barmherzigen Zuwendung, die zumindest für Levi aufgrund seiner besonders intensiven Gottesbeziehung angenommen werden kann, für seine Zwecke zu missbrauchen und die grundsätzliche positive Haltung für moralisch verwerfliche Zwecke einzusetzen. Es wird im Duktus von JosAs nicht klar, ob die beiden Brüder auch die Falschheit des Prinzen in Bezug auf seine Relation zu Aseneth erkennen. Eindeutig ist jedoch, dass das bedrohliche Gebaren am Ende der Rede bei Levi und Simeon eine ablehnende Haltung erzeugt. In dieser Ablehnung des Sohnes des Pharaos zeigt sich abermals die Souveränität, die in JosAs den Hebräern im Gegenüber zu den Ägyptern zu eigen ist. Die Brüder Josephs widersetzen sich nicht nur dem ägyptischen Prinzen, sondern drohen ihm letzten Endes auch noch, sodass es schließlich Levi ist, der den vor Furcht zitternden Prinzen beruhigt, bevor die beiden Brüder unbehelligt den Palast wieder verlassen (vgl. JosAs 23,14–17). In Zuge der Opposition gegen den Sohn des Pharaos werden wichtige ethische Maximen eines ἀνὴρ θεοσεβής anschaulich gemacht. In der Rede Levis rückt durch diese (Selbst-)Bezeichnung der ethischen Handlungssubjekte wiederum die Gottesbeziehung als Grundlage allen geziemenden Handelns in den Vordergrund. Damit wird einerseits wieder auf Gott und Gottes Willen als Fundament aller Ethik verwiesen, ebenso wie dies auch schon bezüglich des Handelns von Joseph geschehen ist, andererseits wird die Qualifizierung als ἀνὴρ θεοσεβής in Abhängigkeit zum konkreten Verhalten des Einzelnen gestellt. Die Handlungsrichtlinien, die Levi formuliert, sind sicherlich allgemeinverbind117 Vgl. JosAs 1,7–9. Zudem stellt die Rede des Prinzen eine Verdrehung der Worte seines Vaters dar, der in JosAs 21,3 die Meinung vertritt, dass Aseneth seit Ewigkeiten mit Joseph verlobt sei.
8.4 Gottesbild und Ethik
275
lichen Charakters, doch erschließt sich ihr inhärentes verpflichtendes Potential nur denjenigen, die über eine derartige Gottesbeziehung verfügen, dass sie sich selbst zu den ἄνδρες θεοσεβεῖς zählen können. Gerade der gottverehrende Mensch muss um das ethisch gute Verhalten wissen und sich aufgrund seiner Gottesbeziehung auch dementsprechend verhalten; zum Nutzen und zum Vorbild seiner Mitmenschen.118 Geleitet von dem wiederkehrenden Motiv des für den gottverehrenden Mann Geziemenden lassen sich verschiedene Aspekte der in JosAs erhobenen ethischen Forderungen nachzeichnen, wobei aufgrund des Konflikts zwischen Levi und Simeon auf der einen und dem Sohn des Pharaos auf der anderen Seite die Thematik des zwischenmenschlichen Umgangs, auch in Konfliktfällen, als Hintergrundfolie der skizzierten Ethik dient. Der erste ethische Leitsatz verbietet das Vergelten des Bösen mit Bösem („οὐ προσήκει […] ἀποδοῦναι κακὸν ἀντὶ κακοῦ.“ [JosAs 23,9]).119 Mit dieser Mahnung interveniert Levi120 gegen seinen Bruder Simeon, der angesichts der Drohung, die der Sohn des Pharaos ausgesprochen hat, im Begriff ist, diesen mit dem Schwert zu attackieren. In ethischer Hinsicht fällt auf, dass die von Simeon beabsichtigte gewaltsame Reaktion als κακός beschrieben wird, während in JosAs 27 das durch Levi initiierte militärische Eingreifen der Söhne Leas zugunsten Aseneths als angemessene Hilfe dargestellt wird. Somit lässt sich schlussfolgern, dass es in JosAs nicht um eine prinzipielle Verurteilung von Gewalt geht, sondern um die Angemessenheit der Handlungen und der Mittel in einer bestimmten Situation. Das richtige Maß entscheidet somit über die ethisch-moralische Bewertung einer Handlung.121 In der vorliegenden Szene wird zudem darauf insistiert, dass die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Handlung bzw. einer Reaktion durch den Zorn des Menschen grundsätzlich ver118
Dieser Gedanke findet sich beispielsweise in Mt 5,14–16; 1Petr 2,11–12. Leitsatz begegnet auch im Neuen Testament, vgl. Röm 12,17; 1Thess 5,15; 1Petr 3,9; interessanterweise aber nicht in der LXX. Demgegenüber unternimmt J. Bolyki, Never repay, 48–52 den Versuch, diesen ethischen Grundsatz aus Prov 20,22 herzuleiten und sieht sowohl für das NT als auch für JosAs dieselben atl. Wurzeln für den Vergeltungsverzicht gegeben. Daneben macht J. Bolyki aber auch auf den kulturübergreifenden Horizont des Vergeltungsverzichts aufmerksam, indem er die mittlere Stoa, vor allem Seneca und Epiktet, als Beispiele anführt und vermutet, dass die mittlere Stoa sowohl die ntl. Autoren als auch den Autor von JosAs beeinflusst hat. Allerdings nimmt er diese These zugunsten der gemeinsamen atl. Wurzeln von JosAs und den ntl. Schriften zurück; vgl. J. Bloyki, Never repay, 46–47. Letztlich sollte konstatiert werden, dass Einflüsse aus der LXX und aus der Stoa zugleich denkbar sind. 120 Der Roman beschreibt detailliert, wie Levi aufgrund seiner prophetischen Hellsicht den Plan seines Bruders durchschaut und diesen diskret zur Ordnung bringt, ohne dass der Sohn des Pharaos bemerkt, was vor sich geht. 121 Das richtige Maß als gemeinsamer Nenner ethisch guten Verhaltens ist bereits seit Aristoteles bekannt. Im Gegensatz zur aristotelischen Ethik wird in JosAs aber kein konkretes Augenmerk auf das Einhalten der ausgewogenen Mitte gelegt. Vielmehr erschließt sich einem gottverehrenden Menschen, was sich geziemt und was nicht, wobei die Wahl der Mittel dem korrespondiert. 119 Dieser
276
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
unmöglicht wird. Levis beschwichtigendes Einwirken auf seinen Bruder zielt in erster Linie auf dessen aufgeflammten Zorn, der dessen Entscheiden und Planen negativ zu beeinflussen scheint.122 Aufgrund des Zorns ist Simeon einerseits nicht mehr in der Lage, sich seines Status als gottverehrender Mann angemessen zu verhalten, und andererseits reizt ihn der Zorn zu einer gewalttätigen, zu einer bösen Reaktion, die durch und durch von übermäßiger Vergeltung geprägt ist. Die Problematisierung des Zorns als eines Affektes, der die Entscheidungen und Handlungen eines Menschen negativ beeinflusst und den Einzelnen somit aus dem Bereich des ethisch guten Handelns verdrängt, begegnet nochmals in JosAs 28,9–17. Dort bittet Aseneth die Söhne Leas um das Leben ihrer Halbbrüder und beschwört sie, von ihrem Zorn und ihrer Rachsucht abzulassen. Wieder ist es Simeon, der als Wortführer der zornigen Brüder unbedingt die Vergeltung durchsetzen will und in seinem Zorn keinen Sinn für Milde oder barmherzige Schonung der Feinde empfindet. Dass es sich bei den Feinden um seine Brüder handelt, kümmert ihn ebensowenig wie die Tatsache, dass diese bereits durch das Eingreifen Gottes besiegt worden sind. Aseneth begegnet dem Wüten des Simeon mit demselben Argument, das auch Levi in JosAs 23,9 vorgebracht hat: Böses soll nicht mit Bösem vergolten werden (vgl. JosAs 28,14). Darüber hinaus ist Aseneth stark darauf bedacht, den Verzicht auf Rache, den sie bereits gegenüber den Söhnen der Mägde bekräftigt hat, als handlungsleitenden Maßstab aufrecht zu erhalten. Dies gilt nicht nur für ihre eigenen Handlungen gegenüber Dan, Gad, Asser und Naphtali, sondern auch für den Einfluss, den sie auf andere geltend machen kann.123 Dabei vertraut sie darauf, dass sich gottverehrende Männer grundsätzlich durch Respekt gegenüber allen Menschen auszeichnen und ihre ablehnende Haltung gegenüber der Rache teilen sollten (vgl. JosAs 28,7.10–11.14). Aseneths Verzicht auf Satisfaktion bedeutet nicht die Auflösung der Kategorien von „Recht“ und „Unrecht“, sondern verweist vielmehr auf Gott als den höchsten Richter (vgl. JosAs 28,7), unter dessen richterliche Gewalt sich Aseneth unterordnet, auch wenn dies bedeutet, dass die Wiedereinsetzung Aseneths in das Recht möglicherweise erst eschatologisch geschieht. Doch indem sie sich jeglicher verurteilenden Maßnahme versagt, was letztlich als Rechtsverzicht gewertet werden könnte, schützt sie sich gleichermaßen davor, in die Mechanismen von Rache und Vergeltung zu geraten. Im Gegensatz zu Simeon ist Aseneth in der Lage, das vom Zorn geprägte affektive Verlangen nach Vergeltung zu beherrschen. Stattdessen zeigt Aseneth eine große Bereitschaft, der Bitte um Vergebung und Barmherzigkeit nachzukommen (vgl. JosAs 28,2–7). Dabei ahmt sie die barmherzige Annahme nach, die sie im Zuge ihrer μετάνοια durch Gott selbst erfahren hat.124 Über122 Das Einwirken Levis auf den Zorn Simeons wird zweimal erwähnt (vgl. JosAs 23,8.9). 123 Auch gegenüber Simeon drängt sie darauf, das Urteil über die Söhne der Mägde Gott
anheim zu stellen (vgl. JosAs 28,14). 124 Vgl. ebenso A. Portier-Young, Sweet Mercy Metropolis, 138. Für sie ist diese Nach-
8.4 Gottesbild und Ethik
277
blickt man die verschiedenen Facetten des Verhaltens der Aseneth in der Szenerie von JosAs 28, so kann die Orientierung am Willen Gottes als Fundament ihres Handelns bezeichnet werden. In ihrem Verzicht auf Rache, in ihrem Anerkennen der richterlichen Gewalt Gottes, in ihrer Nachahmung der göttlichen Barmherzigkeit und ihrem Einsatz für das Leben der geschlagenen Angreifer erweist sich Aseneth als ethischer Idealtyp, als eine γυνὴ θεοσεβής. Levi ist der Einzige unter den Brüdern, der nicht durch den Zorn übermannt wurde, sondern der sich auf die Seite Aseneths stellt und im Zorn der anderen Söhne Leas die größte Gefahr sieht, die es zu bändigen gilt. Damit zeichnet sich Levi in besonderem Maße durch die Tugend aus, das zerstörerische Potential des Zorns erkennen und sich selbst beherrschen zu können.125 Das ist vor allem unter dem Gesichtspunkt interessant, dass er derjenige war, der die anderen Brüder zu den Waffen gerufen hat, um Aseneth verteidigen zu können, wobei 2000 ägyptische Soldaten ihr Leben ließen. Doch kann geschlussfolgert werden, dass nach der Logik von JosAs die ägyptischen Soldaten nicht der blinden Raserei der Söhne Leas zum Opfer fielen, sondern ebenso wie die in JosAs 23,2.14 erwähnten Sichemiten durch Gott besiegt worden waren. Dadurch wird der Kampf gegen die Feinde Israels zu einem ethisch vertretbaren Akt, während die Rache an einem unterlegenen Feind ethisch defizitär, vulgo κακός wäre.126 Die Schonung des geschlagenen Feindes rückt im letzten Kapitel von JosAs nochmals in das Zentrum der Aufmerksamkeit, doch ist es hier Levi, der sich seinem Bruder Benjamin in den Weg stellt. Benjamin verteidigte Aseneth gegen den Prinzen und seine 50 Bogenschützen mithilfe geschleuderter Steine (vgl. JosAs 27,1–5). Die mit Sicherheit durch den Autor gewollte Assoziation an den Kampf zwischen David und Goliath findet ihre Fortführung in JosAs 29,2, als Benjamin den schwer verwundeten ägyptischen Prinzen mit dessen eigenem Schwert töten will. Levi verhindert dies durch die Mahnung, dass sie beide gottverehrende Männer seien und es sich für sie nicht gezieme, Böses mit Bösem ahmung der Barmherzigkeit in erster Linie ein Kennzeichen der „Stadt der Zuflucht“, in der, analog zum kultisch verstandenen Jerusalem, Gottes Vergebung und Barmherzigkeit erfahren werden kann. 125 Auch andere antike Texte, die sich mit ethischen Fragestellungen beschäftigen, thematisieren die Gefahr, die vom Zorn ausgeht, und drängen auf die Notwendigkeit, diesen zu beherrschen. Im frühjüdischen Kontext sei hier nur auf das TestDan verwiesen. Dort wird der Zorn im Zusammenspiel mit der Lüge thematisiert und es wird ausgeführt, welche zerstörerische Gewalt der vom Zorn „beseelte“ (vgl. TestDan III,1) Mensch anrichten kann. TestDan II,2–5 benennt explizit die Gefahr, dass der Zorn den Menschen blendet, sodass er sich auch gegen die eigenen Familienmitglieder wenden kann, da er den Bruder nicht mehr als solchen erkennt. Eben dieses Phänomen wird auch in JosAs 28,9–17 beschrieben. Würde man das TestDan dem Roman JosAs gegenüberstellen, so wäre Levi derjenige, der die in TestDan formulierten Mahnungen beherzigt und umzusetzen weiß. 126 Vgl. hierzu das Verbot menschlicher Rache in Lev 19,18, das im Zusammenhang mit dem Nächstenliebegebot im Kontext des Heiligkeitsgesetztes formuliert wird.
278
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
zu vergelten („οὐ προσήκει […] ἀποδοῦναι κακὸν ἀντὶ κακοῦ.“ [JosAs 29,3]). Nach der Darstellung von JosAs 29,3–4 impliziert dies nicht nur, den geschlagenen Feind zu schonen,127 sondern vielmehr auch ihn zu versorgen und seine Wunden zu verbinden. Doch geschieht dies nicht aus rein altruistischen Motiven oder einzig in der Nachahmung göttlicher Barmherzigkeit, sondern in Erwartung eines handfesten Vorteils. Der Autor von JosAs führt durch den Mund Levis aus, dass der Pharao den Brüdern Josephs immerwährende Freundschaft entgegenbringen wird, wenn sie sich um seinen ältesten Sohn kümmern, auch wenn sie diesen zuvor bekämpft haben; eine Erwartung, die sich durch und durch erfüllen wird (vgl. JosAs 29,6–9). Losgelöst von dem engen narrativen Kontext beschreibt die Szene in JosAs 29 die Früchte eines auf Versöhnung abzielenden Handelns, für dessen Erfolg der Sieger eines Kampfes verantwortlich ist. Unter Verzicht auf Rache bzw. auf endgültige Zerschlagung des Gegners ist es vielmehr durch den Erweis von menschenfreundlicher Fürsorge möglich, die Gegnerschaft zu überwinden; zumindest mit dem weiteren Kreis derer, die mit dem persönlichen Feind enger verbunden sind. Die unausgesprochene Alternative hätte in JosAs 29 darin bestanden, den ägyptischen Prinzen zu töten und sich damit die Feindschaft des Pharaos für die ganze Familie Jakobs zuzuziehen. Wiederum wird hier zwischen dem Töten im Tumult des Kampfes und dem Ermorden der verwundeten Besiegten unterschieden. Die ethische Beleuchtung des Krieges, die in JosAs vorgenommen wird, akzeptiert uneingeschränkt, dass die Notwendigkeit zum bewaffneten Verteidigungskampf besteht, doch liegt das Achtergewicht auf der Gestaltung des Friedens, die dem Sieger aufgetragen ist und im Vollzug vergebenden Handelns gelingen soll. Da Levi unter allen Brüdern Josephs über eine herausragende Gottesbeziehung verfügt, nimmt es nicht wunder, dass er auch als besonderes Vorbild ethisch guten Verhaltens und ethischer Einsicht dient. Auffällig ist jedoch im Duktus von JosAs, dass die Proselytin Aseneth ihm in diesen Dingen in nichts nachsteht. Zwar verfügt sie nicht über seine prophetische Begabung, doch ist sie den anderen gebürtigen Hebräern hinsichtlich der Lebensgestaltung, die einem gottverehrenden Menschen geziemt, überlegen. Durch die Ermahnungen Levis bzw. Aseneths kann der Zorn, der in ihren jeweiligen Gegenübern herrscht, gezähmt werden. Auf Seiten der Ethik bedeutet dies, dass gerade diejenigen, die über ein besonders qualifiziertes moralisches Bewusstsein verfügen, nicht nur in Bezug auf ihre eigenen Handlungen verantwortlich sind, sondern auch Verantwortung für diejenigen übernehmen müssen, deren moralische Integrität nicht derart ausgeprägt ist. Levi und Aseneth erscheinen wie philosophische Tugendlehrer, die ihre Schüler zu einem ethisch guten Verhalten anleiten und den Widerstand, der ihnen diesbezüglich entgegengebracht wird, überwinden müssen. Unter dieser Perspektive sei noch auf JosAs 25,5–6 verwiesen: Naph127
Wörtlich: „οὐδὲ πεπτωκότα καταπατῆσαι οὐδὲ ἐκθλίψαι τὸν ἐχθρὸν ἕως θανάτου.“
8.4 Gottesbild und Ethik
279
tali und Asser unternehmen den Versuch, ihre älteren Brüder von dem Anschlag auf Joseph und Aseneth abzubringen, doch scheitern sie an deren Zorn. Dan und Gad sind aufgrund ihres Zürnens nicht mehr zu einer sittlich guten Entscheidung in der Lage, während Naphtali und Asser dem Zorn ihrer Brüder nachgeben und diese weiterhin tatkräftig unterstützen.128 Zum Abschluss der Analyse des für die Gottverehrenden geziemenden Verhaltens soll noch das Gespräch zwischen Levi und dem Sohn des Pharaos in JosAs 23,10–17 in den Blick genommen werden. Nachdem Levi seinen Bruder Simeon unter Verweis auf das ethische korrekte Verhalten davon abgebracht hat, den Prinzen mit dem Schwert zu attackieren, wendet er sich mit einer Rede an den Sohn des Pharaos. Dabei wird explizit darauf hingewiesen, dass Levi, ganz im Gegensatz zu seinem Bruder, nicht im geringsten Maße von Zorn beeinflusst ist, sondern vielmehr von Unerschrockenheit (ἡ παρρησία [JosAs 23,10]) und von Sanftmut (ἡ πραΰτης [JosAs 23,10]) beseelt ist. Damit rückt sowohl seine ethische Qualifikation als auch seine Überlegenheit gegenüber dem Prinzen in den Vordergrund. Levis Verhalten im Allgemeinen und seine Antwort im Besonderen werden zum Paradebeispiel ethisch korrekten Verhaltens, das einem gottverehrenden Mann geziemt. Die Antwort, die Levi gegenüber dem Ägypter formuliert, ist dreigeteilt: Zunächst benennt und begründet er seine Einschätzung des Vorhabens des Pharaos als eine „sittliche verkommene Angelegenheit“ (τὸ ῥῆμα τὸ πονηρόν [JosAs 23,11]).129 Sodann unterstreicht er die grundsätzliche Ablehnung solcher Taten (vgl. JosAs 23,10–12) und droht zuletzt dem Prinzen mit kriegerischer Gewalt, sollte dieser nicht von seinen Plänen abrücken (vgl. JosAs 23,13– 14). Der Ausgangspunkt für die ethisch-argumentative Struktur seiner Antwort ist die Hervorhebung der Gottesbeziehung der einzelnen Individuen.130 Diese ist es, die einerseits die Identität des Einzelnen, andererseits das Verhalten des Einzelnen bestimmt; ein Verhalten sowohl innerhalb der Gruppe der Gottverehrenden als auch, in einem zweiten Schritt, gegenüber Außenstehenden. 128 Auffällig an der genannten Personenkonstellation ist einerseits die durch den Autor vorgenommene Abwertung der Söhne Jakobs, deren Mütter die Mägde Leas und Rahels waren. Andererseits gibt es erstaunliche Übereinstimmungen zwischen den TestXII und JosAs in der Charakterisierung von Dan, Gad und Simeon. Es bliebe zu untersuchen, inwiefern sich die Assoziationen, die mit den Stammvätern in der frühjüdischen Literatur verbunden werden, noch an anderen Stellen ähneln. 129 Die Übersetzung von „τὸ ῥῆμα“ ist im Zusammenhang von JosAs uneindeutig. Ch. Burchard betont unter Verweis auf JosAs 17,1, dass es sich bei „τὸ ῥῆμα“ im Sprachgebrauch von JosAs häufig um eine Art performativen Sprechakt handelt; vgl. Ch. Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ, 685, FN a) zu JosAs 17,1). Da in JosAs 23,11 jedoch nur die Absicht des Prinzen und nicht die Umsetzung der Pläne im Fokus steht, scheint eine performative Interpretation, im Gegensatz zu JosAs 17,1, zu weit zu gehen. 130 Levi und Simeon sind gottverehrende Männer, ihr Vater Jakob ist ein Freund des höchsten Gottes (φίλος τοῦ θεοῦ τοῦ ὑψίστου [JosAs 23,10]) und Joseph ist wie der erstgeborene Sohn Gottes (ὡς υἱὸς τοῦ θεοῦ πρωτότοκος [JosAs 23,10]).
280
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
Deutlich wird zweierlei: Zwar ist die familiäre Bindung wichtig und ihr wird durchaus ein ethisches Implikat im zwischenmenschlichen Umgang zugesprochen,131 wodurch es sich allein aufgrund der engen Verwandtschaft verbietet, an einem Anschlag auf Joseph und seine Frau teilzunehmen.132 Doch ist die Verehrung Gottes als verbindendes und gemeinschaftsstiftendes Element von größerer Bedeutung. Darüber hinaus prägt die Relation zu Gott nicht nur das Verhalten des Einzelnen, sondern anhand des Handelns kann auf die Qualität der Gottesbeziehung rückgeschlossen werden. Dieser Gedanke ist auch im beginnenden Christentum lebendig und so findet sich beispielsweise bei Lukas das Bildwort vom guten Baum, der an seinen guten Früchten erkannt werden kann, während schlechte Früchte auf einen schlechten Baum schließen lassen (vgl. Lk 6,43–44). Dieses Bildwort wird in der lk. Diktion sofort auf den Menschen übertragen, dessen innere Verfasstheit anhand seiner Taten festzustellen ist (vgl. Lk 6,45). Im weiteren Verlauf von JosAs wird sich durch das Auftreten der Söhne Bilhas und Zilpas bestätigen, dass familiäre Verpflichtungen nicht von ausschlaggebender Relevanz für das Handeln und Unterlassen sind und dass eine mangelnde Qualität in der Beziehung zu Gott sich in einem mangelnden ethischen Bewusstsein widerspiegelt. Demgegenüber erweist sich Levi gerade als der ethisch souveräne Widerpart des Prinzen und betont die Sündhaftigkeit, die der Beihilfe zur Tötung Josephs inne liegen würde (ἁμαρτᾶν [JosAs 23,11]). Der in Kollaboration mit dem Prinzen zu tätigende Angriff auf Joseph käme einem Bruch der familiären Bindungen, der Solidarität der Gottverehrenden untereinander und der individuellen Relation Levis und Simeons zu Gott gleich. Damit würde letzten Endes nicht nur Joseph zu Tode kommen, sondern es würden auch alle konstitutiven Elemente der Person Levis (bzw. Simeons) erschüttert werden. Folgerichtig insistiert Levi, gewissermaßen in ethischer Unterweisung des ägyptischen Prinzen, auf das, was sich für einen gottverehrenden Mann gerade nicht geziemt. So geziemt es sich nicht, irgendeinem Menschen ein wie auch immer geartetes Unrecht zuzufügen (vgl. JosAs 23,12). Hierin wird deutlich, dass es sich bei der Ethik, die Levi vertritt, nicht nur um ein gruppeninternes Ethos der Gottverehrenden handelt, sondern dass die Gruppe der Gottverehrenden in ihrem 131 Vgl.
hierzu die wiederholte Betonung der Verwandtschaftsverhältnisse im zweiten Hauptteil von JosAs sowie Aseneths Klage ob ihres Waisenstands im ersten Hauptteil. 132 Das ist insofern ironisch, als dass diese Bedenken in Gen 37 unter den Brüdern Josephs keine Rolle gespielt haben. Denkbar wäre, dass der Autor von JosAs seinen Adressaten eine Lesart der Josephsgeschichte vermitteln möchte, in der allein den Söhnen Bilhas und Zilpas die Schuld an dem Anschlag auf Joseph in Gen 37 zugewiesen wird. Diese Überlegung ließe sich dadurch stützen, dass die Brüder Josephs in Gen 37,11 zunächst eifersüchtig (ζηλοῦν) auf ihn wurden und sich aus dieser Eifersucht heraus zum Anschlag auf Joseph entschlossen. Diese Abfolge der Emotionen gegenüber Joseph findet sich in JosAs 22,11 bei den Söhnen Bilhas und Zilpas: Sie werden zunächst neidisch (φθονεῖν) auf ihn und dann feindlich gesinnt (ἐχθραίνειν).
8.4 Gottesbild und Ethik
281
Wirken gegenüber anderen Menschen keine unterschiedlichen Kategorien bemühen, sondern alle Menschen gleich behandeln.133 Das Vermeiden jeglichen Unrechts gegenüber Jedermann ist natürlich eine sehr offene ethische Forderung, die nach einer Erläuterung dessen, was mit „ἀδικεῖν“ benannt wird, ruft. Doch spielt diese Näherbestimmung im vorliegenden Falle keine Rolle, da der Anschlag, den der Prinz auf Joseph verüben will, von Beginn an jedem Leser als unmoralisch und ungerecht erscheint; nicht zuletzt, da der Sohn des Pharaos hinsichtlich der Gründe, die er gegenüber Levi und Simeon nennt, als Lügner entlarvt und vielmehr als Getriebener seiner Begierden dargestellt ist. Während nun keine Definition des Ungerechten erfolgt, konzentriert sich die ethische Unterweisung Levis vielmehr auf die Verantwortung, die den Gottverehrenden angesichts drohender Ungerechtigkeiten aufgetragen ist. Da die Übersetzung von JosAs 23,12b in der Forschung umstritten ist, sei JosAs 23,12 an dieser Stelle in vollem Umfang zitiert, um den vorliegenden Übersetzungsvorschlag in Rückbezug auf den griechischen Text plausibilisieren zu können: „οὐ προσήκει ἀνδρὶ θεοσεβεῖ ἀδικεῖν πάντα ἄνθρωπον κατ᾽οὐδένα τρόπον· ἐὰν δέ τις ἀδικῆσαι βούληται ἄνδρα θεοσεβῆ, οὐκ ἀμύνεται αὐτῷ ὁ ἀνὴρ ἐκεῖνος ὁ θεοσεβής, διότι ῥομφαία οὐκ ἔστιν ἐν τῇ χειρὶ αὐτοῦ.“ Die exegetische Diskussion konzentriert sich auf das adäquate Verständnis von „ἀμύνεσθαι“, um den ethischen Gehalt der Passage richtig bestimmen zu können. Insgesamt begegnen drei Übersetzungsvarianten: (1) „sich verteidigen“ (2) „sich rächen“ (3) „zur Hilfe kommen“. Die erste Variante würde einen generellen Gewaltverzicht beschreiben, der den gottverehrenden Männern als Grundsatz aufgetragen ist.134 In diesem Falle würde die Aufforderung zum Vergeltungsverzichts, die beispielsweise in Lk 6,27–34 par. formuliert ist und als charakteristischer Zug jesuanischer Ethik zu gelten hat, ein Gegenüber in JosAs finden. Allerdings scheidet diese Variante aus zwei Gründen aus: Zum einen ist der nähere und der weitere Kontext von JosAs 23,12 gerade nicht durch ein Ethos des generellen Gewaltverzichts der gottverehrenden Männer geprägt,135 zum anderen würde die Bedeutung „sich verteidigen“ notwendig ein Akkusativobjekt erfordern, gegen welches 133 Dieser Gedanke findet sich beispielsweise auch in Dtn 10,10–22. Dort wird das Volk Israel dazu aufgefordert, die Treue, die Gott dem Volk gegenüber erwiesen hat, seinerseits in Treue gegenüber Gott zu erweisen. Dies impliziert die Liebe zu Gott und die Observanz seiner Gebote, welche explizit auch das Verbot des Unterdrückens des Fremden, also des nicht zu Israel Gehörenden einschließen (vgl. Dtn 10,19). Die Formel, auf die das egalitäre Sozialethos in Dtn 10,16–22 zurückzuführen ist, besteht in der Überzeugung, dass Gott die Person nicht ansieht. Ebenso wie in JosAs wird auch in Dtn 10 von der überlegenen Handlungssouveränität des Volkes Israel ausgegangen. 134 So übersetzt beispielsweise G. Delling, Kunst, 33 und verweist zudem auf die Bereitschaft Levis zur gewaltsamen Verteidigung Josephs, ohne dass er den Widerspruch auflöst. Die von U. Fink, Revision, 321 überarbeitete lateinische Fassung von JosAs liest an dieser Stelle auch „non defendit se fidelis“. 135 Vgl. die Charakterisierung Simeons und Levis als die Bezwinger der Sichemiten (vgl.
282
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
sich der Angegriffene (nicht) verteidigt. Diese Satzkonstruktion begegnet in JosAs 24,7. Die zweite Bedeutung „sich rächen“136 wäre im Kontext der ethischen Konzeption von JosAs durchaus plausibel, da der Racheverzicht ein notwendiger Bestandteil des zwischenmenschlichen Umgangs darstellt; auch und gerade gegenüber besiegten Feinden. So verzichtet Aseneth auf die Rache an ihren Angreifern und bittet die Brüder Josephs, die ihr zur Hilfe geeilt sind, ebenfalls auf Rache zu verzichten. Darüber hinaus tritt auch Levi für einen Racheverzicht ein und hindert seinen Bruder Benjamin daran, den verwundeten Sohn des Pharaos zu töten. Stattdessen versorgt er die Wunden des Prinzen und bringt diesen nach Hause zu seinem Vater. Aus dieser Perspektive betrachtet würde JosAs 23,12 grundsätzlich feststellen, dass ein gottverehrender Mann sich einerseits an keiner Ungerechtigkeit beteiligt, andererseits aber begangenes Unrecht nicht rächt, sondern, wie JosAs 28,7 zeigt, Gott die Durchsetzung der Gerechtigkeit überlässt. Dabei ist zu beachten, dass der Verzicht auf Rache nicht gleichzusetzen ist mit einem grundsätzlichen Verzicht auf Gewalt. Diese darf zum Schutz eines bedrohten Menschen durchaus angewandt werden. Allerdings verlangt auch die Übersetzung „sich rächen“ normalerweise ein Akkusativobjekt. Die dritte Variante „zur Hilfe kommen“ ist demgegenüber mit einem Dativobjekt verbunden und scheint im vorliegenden Falle die adäquate Übersetzung zu sein.137 Dies entspricht im Wesentlichen auch dem LXX-Sprachgebrauch, der für JosAs als sprachhistorischer Hintergrund angenommen werden kann, wobei die LXX für die Bedeutung „zur Hilfe kommen“ Derivate von ἀμύνειν anführt.138 Die Schwierigkeit dieser Übersetzung liegt in der Unterscheidung der in JosAs 23,12 genannten Personen. Die erste Person wird als ἀνὴρ θεοσεβής gekennzeichnet, dem es nicht geziemt, einem anderen Menschen irgendein Unrecht anzutun. In der vorliegenden Personenkonstellation repräsentiert Levi diesen ἀνὴρ θεοσεβής. Die zweite Person ist lediglich indifferent mit „τίς“ umschrieben und tritt als Antagonist auf, dessen Sinn auf das Tun des Unrechten (ἀδικεῖν) gerichtet ist. Das Opfer, das unter diesem Unrecht zu leiden hätte, ist wiederum ein ἀνὴρ θεοσεβής, der jedoch mit dem ersten ἀνὴρ θεοσεβής nicht JosAs 23,2.14), die Bedrohung des ägyptischen Prinzen mit dem Schwert (vgl. JosAs 23,13– 15) und die Verteidigung der Aseneth gegen die Angreifer (vgl. JosAs 26–28). 136 Diese Variante wird von E. Reinmuth, Joseph und Aseneth, 113 vertreten. 137 Vgl hierzu auch W. Bauer/K . Aland, Wörterbuch, 91. Dort wird für die Bedeutung „zu Hilfe kommen“ explizit auf JosAs 23,11 verwiesen. Lediglich die Verszählung stimmt nicht mit der 2009 erschienen überabeiteten Textversion überein. 138 So findet sich in der LXX das Verbum „ἐπαμύνειν“ mit nachfolgendem Dativobjekt. Dass in JosAs die mediale und nicht die aktive Verbform verwendet wird, spielt keine hervorgehobene Bedeutung; vgl. f. Blass et.al., Grammatik, §210, FN 2. Folgt in der LXX dem Verbum „ἀμύνειν“ und seinen Derivaten ein Akkusativobjekt, bedeutet es „jdn. angreifen“ oder „jdn. abwehren“; vgl. J. Lust et.al., Greek–English Lexicon of the Septuagint, 34.60.220; T. Muraoka, A Greek–English Lexicon of the Septuagint, 33.64.256.258.
8.4 Gottesbild und Ethik
283
identisch ist. So spricht JosAs 23,12b davon, dass ein ἀνὴρ θεοσεβής einem Gewalttäter keine Hilfe zukommen lassen wird, wenn dieser ein Unrecht an einem anderen ἀνὴρ θεοσεβής plant. Als Kennzeichen dafür, dass zwischen den beiden ἄνδρες θεοσεβεῖς ein Unterschied besteht, wird das Demonstrativpronomen „ἐκεῖνος“ eingeführt. Auf dem Hintergrund von JosAs ist die ungenannte, auf das Unrecht fokussierte Person der Sohn des Pharaos, während sein Opfer Joseph ist, der zweite ἀνὴρ θεοσεβής. Nur indem die allgemein gehaltene Aussage in JosAs 23,12 in Korrelation mit dem Kontext gesetzt wird, erschließt sich der Sinngehalt von JosAs 23,12b unter korrekter Übersetzung des Verbums „ἀμύνεσθαι“ mit folgendem Dativobjekt: Es geziemt einem gottverehrenden Mann wie Levi nicht, jedwedem Menschen auf irgendeine Art und Weise ein Unrecht zuzufügen. Wenn aber eine Person, wie beispielsweise der ägyptische Prinz, einem gottverehrenden Mann wie Joseph ein Unrecht antun will, so wird jener gottverehrende Mann, also Levi, diesem, dem frevelhaften Prinzen, nicht zur Hilfe kommen, da kein Schwert in seiner Hand ist.139 Die Verantwortung des Gottverehrenden besteht also nicht nur darin, den Mitmenschen kein Unrecht zuzufügen, sondern sich auch nicht mit Gewalttätern zu verbünden. Darüber hinaus formuliert JosAs 23,13–15 eine Fürsorgepflicht gegenüber demjenigen, der Unrecht erdulden muss. Zu dessen Schutz ist es durchaus legitim, auf Gewalt zurückzugreifen oder dies auch nur anzudrohen.140 Gegenüber dem Sohn des Pharaos wendet Levi zunächst eine Drohung an, von der dieser sich anfangs beeindrucken lässt. Nachdem sich der ägyptische Prinz jedoch in Allianz mit den Söhnen Bilhas und Zilpas zu einem Angriff auf Joseph und Aseneth entschlossen hat, lassen Levi und seine Brüder der Drohung Taten folgen, wie oben bereits ausgeführt wurde. Auffällig ist, dass die Begegnung zwischen Levi und dem Prinzen in JosAs 23 in versöhnlichen Tönen endet. Levi weidet sich nicht an der Furcht des Ägypters, sondern reicht dem Verängstigten die Hand und beschwichtigt ihn, freilich ohne dabei von seiner Forderung, Joseph keinen Schaden zuzufügen, abzulassen (vgl. JosAs 23,16– 17).141 Damit wird nicht nur die Überordnung Levis über den Sohn des Pharaos anschaulich, sondern auch der Friedenswille, der einem gottverehrenden Mann wie Levi zu eigen ist. Levis Absichten sind nicht auf eine Bestrafung des Pharaosohnes gerichtet, sondern vielmehr auf ein zivilisiertes Miteinander. 139 140
Vgl. zu dieser Übersetzung auch Ch. Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ, 706. Siehe Ch. Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ, 706, FN b) zu V. 12: „Der Satz besagt also nicht völlige Abrüstung.“ Ch. Burchard verweist an dieser Stelle auch zu Recht auf PsPhok 32–34 als Parallele. Dort wird die Verwendung des Schwertes ebenfalls zum Zwecke des gewalttätigen Blutvergießens (μὴ πρὸς φόνον) verboten, zum Zwecke der Verteidigung (ἐς ἄμυναν) aber erlaubt. 141 Im Miteinander von Überlegenheit und Zurückhaltung erkennt R. Chesnutt, Death, 107 ein wiederkehrendes Muster der Darstellung des Judentums in JosAs: „While giving unmistakable expression to a sense of Jewish supremacy, the author is careful to avoid leaving the impression that the Jews are vegeful people who take undue advantage of their superiority.“
284
Kapitel 8: Joseph und Aseneth
Demgegenüber erweisen sich die Söhne Bilhas und Zilpas als ethisch unqualifizierte Vertreter des Volkes Israel. Im Gegensatz zu Levi und Simeon lassen sie sich für das Vollbringen eines Unrechts als Mittäter anwerben, wobei sie sich in ihrer Entscheidung sowohl von ihrer Furcht vor Joseph als auch von der Hoffnung auf ein langfristiges Bündnis mit dem Sohn des Pharaos leiten lassen (vgl. JosAs 24,1–19). Ethische Bedenken, dass ihr Verhalten nicht dem Status eines gottverehrenden Mannes geziemen könnte, kommen ihnen dabei ebenso wenig in den Sinn wie der Vorbehalt aufgrund familiärer Bindungen142 zwischen ihnen und Joseph. Dabei wird nicht allein die Differenzierung zwischen den Söhnen Jakobs unterstrichen, sondern auf ethischer Seite auch darauf verwiesen, dass Furcht und Leichtgläubigkeit ebenso schlechte Ratgeber für eine ethisch qualifizierte Entscheidung sind wie der Zorn. Am Beispiel der Söhne Jakobs macht der Autor von JosAs deutlich, dass ein als ethisch gut zu bewertendes Verhalten in erster Linie auf einer lebendigen Relation zu Gott beruht. Aus dieser Beziehung heraus erwächst die Fähigkeit zur Beurteilung der eigenen Handlungen und der Handlungen anderer, wobei der ethische Maßstab meist in Form des sich für einen gottverehrenden Menschen Geziemenden formuliert wird. Analog zur steigenden Qualität der Gottesbeziehung ist das einzelne Handlungssubjekt dazu in der Lage, sich selbst zu beherrschen, indem es sich dem ethisch Geziemenden mehr und mehr unterwirft. Dazu gehört vornehmlich die Bewältigung des Zorns, aber auch die Begabung zum Verzicht auf Rache und zur Suche nach Versöhnung mit dem Feind. Bei aller Hochschätzung des Friedens gleitet die Ethik in JosAs aber niemals in eine Flucht vor ethischer Verantwortung ab, sondern drängt auf den, mitunter auch gewaltsamen Schutz der Bedrohten und Bedrängten. Eine generelle Leidensübernahme, wie sie in der jesuanischen Ethik prominent im Zusammenhang mit dem Gewaltverzicht und der praktizierten Feindesliebe gefordert wird, kennt JosAs nicht. Für den Autor steht es außer Zweifel, dass diejenigen, die Gott verehren, seinen besonderen Schutz genießen und sich dadurch auch und gerade in kritischen Situationen als die Souveränen und Überlegenen auszeichnen. Lediglich diejenigen, deren Gottesbeziehung defizitär oder gar inexistent ist, müssen sich letztlich der Dominanz anderer unterwerfen und auf die Gnade der Gottverehrenden hoffen.
142 Auch darin gleichen sie dem Sohn des Pharaos, dessen Plan nicht nur die Tötung Josephs, sondern auch die Ermordung des Pharaos vorsieht (vgl. JosAs 24,14), welcher sich gegen eine Verbindung zwischen Aseneth und dem Prinzen ausgesprochen hatte (vgl. JosAs 1,8–9).
Kapitel 9
Die Testamente der XII Patriarchen 9.1 Prolegomena Die TestXII1 sind ein hervorragendes Zeugnis hellenistisch-frühjüdischen Denkens und geben einen tiefen Einblick in den ethisch adäquaten Umgang mit Tugenden und Lastern. Die Forschungsgeschichte zu den TestXII ist maßgeblich durch die Frage bestimmt, in welchem Umfang die Testamente frühjüdisch bzw. frühchristlich sind. Diese exegetische Debatte kann und soll hier nicht weitergeführt werden. Meines Erachtens ist davon auszugehen, dass die TestXII eine frühjüdische Schrift darstellen, die in moderatem Umfang christliche Interpolationen aufweist.2 Die Analyse möglicher Transformationsprozesse zwischen dem Evangelisten Lukas und dem durch die Testamente repräsentierten ethischen Denken des hellenistischen Frühjudentums wird von den Fragen geleitet sein, welche strukturellen Gemeinsamkeiten sich zwischen der lk. Ethik und der Ethik der TestXII feststellen lassen, ob sich Analogien in der Schwerpunktsetzung und der Plausibilisierung ethischer Argumentationen skizzieren lassen und worin gegebenenfalls die Unterschiede in der Darstellung eines ethisch guten Lebensstils zwischen dem Evangelisten Lukas und den TestXII bestehen.3 Im Mittelpunkt 1 Als Textgrundlage dient die textkritische Ausgabe von M. de Jonge „The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Critical Edition of the Greek Text.“ 2 Vgl. hierzu ausführlich den Aufsatz von D. DeSilva „The Testaments of the Twelve Patriarchs as Witnesses to Pre-Christian Judaism: A Re-Assessment“. 3 M. de Jonge, Paränese, 285 widerspricht diesem Ansatz gänzlich, da er von einer umfassenden christlichen Bearbeitung der TestXII ausgeht: „Wenigstens in Bezug auf die Paränese über εὐσπλαγχνία und ἔλεος und die Niedrigkeit kann man die diesbezüglichen Texte der TestXII nicht ohne weiteres als Zeugnisse hellenistisch-jüdischer Ethik werten.“ M. de Jonge vertrat diese Position bereits 1953 in seiner Dissertation „The Testaments of the Twelve Patriarchs“. Hier beschrieb er die Intention des christlichen Autors der TestXII, anhand der Söhne Jakobs christliches Ethos allgemein verständlich und narrativ zu erläutern. Dass die Ethik der TestXII nicht eindeutig christlich konnotiert ist, spielt nach Ansicht de Jonges keine größere Rolle, da dies auch für frühchristliche Texte wie beispielsweise die Didache, den Barnabasbrief, den Hirten des Hermas oder auch den Jakobusbrief gelte; vgl. M. de Jonge, Twelve Patriarchs, 118–120. Die gestaltende christliche Überarbeitung und Tradierung der TestXII ist ein Thema, das von M. de Jonge immer wieder aufgegriffen wurde. 2002 betonte er schließlich im Zusammenhang mit der Analyse der Bedeutung des Doppelgebots der Liebe in den TestXII, dass die Kumulation frühjüdischer und frühchristlicher Ethik in den TestXII unauflösbar ist, dass jedoch unabweisbar deutlich wird, welch hohe Relevanz frühjüdische
286
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
der Untersuchung steht das Testament Sebulon, das sich ausführlich mit der Bedeutung der Barmherzigkeit für die Ethik beschäftigt. Darüber hinaus sollen das Testament Joseph und das Testament Benjamin hinsichtlich ihrer Aussagen zur Ethik analysiert werden, wobei vor allem die Frage zu beantworten sein wird, wodurch sich ein tugendhaftes, also ein ethisch qualifiziertes Leben auszeichnet.4
9.2 Das Testament Sebulon Am Beginn der Untersuchung soll das Testament Sebulon stehen, da sich dieses innerhalb des ethischen Kompendiums der Testamente dadurch auszeichnet, dass die Barmherzigkeit in das Zentrum der ethischen Reflexion gestellt wird.5 Die grundsätzliche Strukturanalogie zur lk. Ethik ist offenkundig,6 doch stellt sich fernerhin die Frage, inwieweit das TestSeb und das LkEv in Traditionen für christliche Theologen der ersten Jahrhunderte hatte; vgl. M. de Jonge, Great commandments, 390–392. Dem Urteil hinsichtlich der Relevanz frühjüdischer Traditionen für das beginnende Christentum ist sicherlich zuzustimmen. Davon ausgehend ist es jedoch fraglich, ob die TestXII tatsächlich eine derart gravierende christliche Überarbeitung erfahren haben, dass die frühjüdische „Handschrift“ nicht mehr zu erkennen ist. Vielmehr dürften die TestXII gerade wegen ihrer theologischen wie ethischen Bedeutung, die ihnen durch frühe christliche Theologen zugemessen wurde, in erster Linie tradiert worden sein, während christliche Interpolation doch nur an den Stellen angebracht gewesen sein dürfte, an denen ein christologischer Begründungszusammenhang herausgestellt werden sollte. Dies ist beispielsweise bei manchen eschatologisch relevanten Passagen klar erkennbar. Hätten die christlichen Theologen eine Fort- oder Umschreibung mancher Passagen vorgenommen, die keine expliziten christologischen Bezüge aufweisen und sich stattdessen bruchlos in den Textbestand einfügen ließen, so könnten diese Fortschreibungen heute nur schwer zu erkennen sein, da sie der ursprünglichen „Handschrift“ zum Verwechseln ähnlich sehen dürften. Wäre eine solche Bearbeitung aber im Stil der ursprünglichen „Handschrift“, also im selben theologischen Duktus des frühjüdischen Textbestands erfolgt, könnte man dann überhaupt von einer christlichen Bearbeitung sprechen? 4 Das TestJos ist hierbei von besonderer Bedeutung, da Joseph in den TestXII als Tugendheld dargestellt wird; lediglich TestGad I,6–7 bildet hierbei eine Ausnahme, da an dieser Stelle leise Kritik an Joseph laut wird. Das TestBen kann als Summarium der TestXII verstanden werden, wodurch es plausibel scheint, dass das TestBen für die Definition eines nach den ethischen Maßstäben der TestXII tugendhaften Lebens fruchtbar gemacht werden kann. 5 Die textkritischen Bedenken J. Beckers, Entstehungsgeschichte, 205, der davon ausgeht, dass im TestSeb über manche Strecken „ein recht verwilderter Text vorliegt“, und der darüber hinaus einige Teile des TestSeb (wie z. B. TestSeb III,1–8; 5,1–4) als sekundär ausscheidet, können durch die Arbeiten von M. de Jonge, Studies, 144–157 als überwunden betrachtet werden. Somit ist dem Ergebnis J. Beckers, Entstehungsgeschichte, 208 zu widersprechen, der aufgrund seiner Textkritik folgerte, dass das ursprüngliche „TSeb keine Paränese mehr zum Thema ‚Erbarmen‘ enthält.“ 6 Auf den Zusammenhang zwischen dem TestSeb und ntl. Ethik, der vor allem durch das Motiv der Barmherzigkeit entsteht, weisen auch H. Hollander/M. de Jonge, Commentary, 255 hin. Sie rekurrieren dabei auf K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu.
9.2 Das Testament Sebulon
287
der Formulierung einer Ethik der Barmherzigkeit übereinstimmen und wodurch sich demgegenüber auch die beiden Schriften in ihrer je spezifischen ethischen Argumentation voneinander abgrenzen lassen. Das TestSeb lässt sich inhaltlich in drei Abschnitte einteilen: TestSeb I–IV beschreibt das Verhalten des Patriarchen im Zusammenhang mit dem Verkauf von Joseph an die Sichemiten, TestSeb V–VII schildert die von Barmherzigkeit geprägten Lebensvollzüge Sebulons in seinem Alltag als Fischer und TestSeb VIII–X konzentriert sich auf die Mahnungen an die Kinder, die in Übereinstimmung mit dem Vorbild ihres Vaters auch ihren Lebenswandel durch eine mitleidvolle und erbarmende Grundhaltung prägen sollen. Dabei erscheint Sebulon, neben Joseph (vgl. TestSeb VIII,4–IX,3), als ethisches Vorbild, als eine Art Tugendheld, dessen einzige Sünde darin bestanden haben soll, dass er seinen Vater Jakob über das Schicksal Josephs im Ungewissen gelassen hat (vgl. TestSeb I,5). Da diese Tat allerdings zum Schutz der Brüder, die den Verkauf Josephs an die Sichemiten und die Täuschung Jakobs zu verantworten hatten, geschah, ist es im Gesamtüberblick über die TestXII durchaus denkbar, dass diese Sünde als eine Tat der Barmherzigkeit zu verstehen ist. So würde es sich hierbei, formaljuristisch geurteilt, um ein Vergehen gegenüber dem Vater handeln, doch wäre dieses Vergehen als moralisch gut einzustufen, da es zum Schutz der Brüder diente.7 Das von Barmherzigkeit geprägte Verhalten Sebulons wird einerseits in unterschiedlichen zwischenmenschlichen Kontexten seiner Lebensvollzüge besprochen und andererseits aber auch in sein Gottesverhältnis eingeordnet. Darin spiegelt sich die für die TestXII typische argumentative Struktur wider, die das Entscheiden und das Handeln des Einzelnen sowohl in dessen Verantwortung gegenüber seinem Nächsten als auch gegenüber Gott diskutiert, wodurch zugleich das Doppelgebot der Liebe in den Blick gerät. Dieses bildet in den TestXII einen wichtigen Baustein des Fundaments allen ethischen Nachdenkens,8 und somit soll die Einbettung des Doppelgebots in die ethischen Ausführungen des TestSeb am Beginn der Analyse stehen.
7 Vgl. hierzu beispielsweise die Lügen, die Joseph in der ägyptischen Gefangenschaft formuliert, um andere Menschen, wie etwa seine Brüder, zu schützen (vgl. TestJos XI,1–3; XIII,5–9; XV,3; XVI,6; XVII,1–3). Darüber hinaus beschäftigt sich auch das TestAss mit der Frage, wann ein Verhalten als moralisch gut einzustufen ist, auch wenn es formaljuristisch falsch ist, bzw. wann ein augenscheinlich korrektes Verhalten moralisch verwerflich ist. Die Stärke der dort formulierten Argumentationen liegt darin, dass die Komplexität menschlicher Handlungen und deren ethischer Bewertung erkannt und bedacht wird. 8 Vgl. exemplarisch: TestSim V,2; TestIss V,1–2; VII,5–6; TestDan V,3; TestGad IV,2; V,2–4; VII,7; TestJos V,6; XI,1; TestBen III,3–5; X,3. Eine Analyse der textimmanenten Systematik bezüglich der Bedeutung des Doppelgebots bietet M. de Jonge, Two commandments, 378–390.
288
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
9.2.1 Das Doppelgebot der Liebe im TestSeb Wie oben bereits erwähnt, findet in TestSeb V,1 eine inhaltliche Zäsur statt: Die Perspektive wechselt von den konkreten Umständen und Taten im Zusammenhang mit dem Verkauf Josephs hin zu einer allgemeineren Schilderung des gottgefälligen Lebens Sebulons. Zu Beginn dieser Schilderung wird in TestSeb V,1 gegenüber den Adressaten die Aufforderung formuliert, die Gebote Gottes zu befolgen,9 Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten zu üben und Erbarmen gegenüber allen, nicht allein gegenüber Menschen, sondern auch gegenüber Tieren zu haben.10 Versteht man das Befolgen der göttlichen Gebote als Ausdruck der Gottesliebe, so begegnet in TestSeb V,1 eine Variation des Doppelgebots, welches sich durch eine starke Betonung der Barmherzigkeit auszeichnet. Diese wird zweimal eingefordert und derart formuliert, dass ihr ein universeller Geltungsbereich zugeordnet wird. So betont TestSeb V,1, dass unter den Begriff „ὀ πλησίον“ explizit alle Menschen zu subsumieren sind, wodurch eine eventuelle Einengung der Reichweite des durch Barmherzigkeit geprägten Nächstenliebegebots auf Mitglieder der eigenen Volks- oder Religionszugehörigkeit von Beginn an verunmöglicht wird.11 Darüber hinaus ist es dem Verfasser des TestSeb wichtig zu betonen, dass zu den Adressaten menschlicher Barmherzigkeit auch die unvernünftigen Lebewesen (τὰ ἄλογα), also die Tiere gehören. Das Einbeziehen der Tierwelt in einen von Barmherzigkeit geprägten ethischen Diskurs ist außergewöhnlich12 und vertieft nochmals den universellen Anspruch, den das TestSeb hinsichtlich eines barmherzigen Verhaltens erhebt. So ist der Einzelne dazu aufgerufen, allen Lebewesen der Schöpfung mit Barmherzigkeit 9 Die Formulierung „φυλάσσειν τὰς ἐντολὰς κυρίου“ (TestSeb V,1) ist eine Adaption des LXX Sprachgebrauchs, vgl. beispielsweise Lev 26,3. 10 „Καὶ νῦν, τέκνα μου, ἀναγγελῶ ὑμῖν τοῦ φυλάσσειν τὰς ἐντολὰς κυρίου, καὶ ποιεῖν ἔλεος ἐπὶ τὸν πλησίον, καὶ εὐσπλαγχνίαν πρὸς πάντας ἔχειν, οὐ μόνον πρὸς ἀνθρώπους, ἀλλὰ καὶ εἰς ἄλογα.“ 11 Es wird in der Forschung immer wieder zu Recht auf die Parallele zwischen dem TestSeb und dem TestIss bezüglich der unlimitierten Nächstenliebe hingewiesen (vgl. TestIss III,8; 5,1–2; 7,6); vgl. beispielsweise Th. Söding, Solidarität, 6. Sebulon und Issachar erscheinen als zwei Seiten einer Medaille: Issachar ist Bauer, Sebulon Fischer und Hirte. Beide arbeiten hart in ihren landwirtschaftlichen Betrieben, beide lassen sich im Umgang mit Joseph nichts zu Schulden kommen und beide werden als ethische Vorbilder dargestellt. Die Tugend Issachars gründet in seiner Lauterkeit (ἁπλότης [TestIss III,2.4.6.7.8 u. ö.]). Auf das Motiv der Lauterkeit soll hier nicht näher eingegangen werden, doch ist die Bedeutung von ἁπλότης für die Affektenkontrolle und die daraus resultierende Tugendhaftigkeit wenigstens zu betonen; vgl. auch M. de Jonge, Studies, 303–305; H. Hollander/M. de Jonge, Commentary, 233–234; H. Kee, Ethical dimensions, 265, H. Slingerland, Nomos, 47–48. 12 Natürlich kennt die LXX, die als theologischer Hintergrund der TestXII dient, den Gedanken eines achtsamen Umgangs mit Tieren (vgl. z. B. Ex 20,10; 23,12; Dtn 5,14; 25,4), doch ist die Aufforderung zu einem explizit erbarmenden Verhalten gegenüber Tieren sehr selten. Meines Wissens findet sich ein solcher Aufruf nur in Spr 12,10. Dort wird der Gerechte dadurch charakterisiert, dass er sich gegenüber seinem Vieh erbarmend (οἰκτίρειν) verhält, während das Innere (τὰ σπλάγχνα) des Ungerechten grundsätzlich unbarmherzig (ἀνελεήμων) ist.
9.2 Das Testament Sebulon
289
und Erbarmen zu begegnen, auch wenn die Tiere im TestSeb keine Rolle mehr im Sinne eines Objekts ethisch qualifizierten Verhaltens spielen. Vielmehr soll TestSeb V,1 in seinem umfassenden Anspruch als Beschreibung eines grundsätzlichen Habitus verstanden werden. Die in TestSeb V,1 formulierte Variante des Nächstenliebegebots weist eine deutliche Schwerpunktsetzung durch das Motiv der Barmherzigkeit auf, die, wie die weitere Analyse zeigen wird, charakteristisch für das zwischenmenschliche Verhalten ist, das im TestSeb als ethisch vorbildlich beschrieben wird.13 Allerdings ist nicht nur das Verhältnis des Einzelnen zu seinen Mitmenschen, sondern auch das Gottesbild im TestSeb durch die Barmherzigkeit geprägt. So betont TestSeb V,2–4, dass sich das Handeln Gottes gegenüber einem Menschen daran orientiert, welches Maß an Erbarmen der einzelne Mensch seinem Nächsten erwiesen hat. Während der Barmherzige bereits innerweltlich göttliches Wohlwollen und göttlichen Schutz genießt, wird der Unbarmherzige mitsamt seinen Kindern durch Gott bestraft. Dieser Zusammenhang prägt auch die eschatologischen Aussagen in TestSeb VIII,1–3: Mit Worten, die an Sir 24 erinnern, ist davon die Rede, dass Gott in den letzten Tagen sein Erbarmen auf die Erde senden und dort Wohnung nehmen wird (κατοικεῖν [TestSeb VIII,2]), wo er tief empfundene Barmherzigkeit (τὰ σπλάγχνα ἐλέους [TestSeb VIII,2]) antrifft. Ohne dass hier eine Form der Schechina-Theologie behauptet werden kann, formuliert das TestSeb dennoch eine besonders qualifizierte Gottesbeziehung für all jene, die die Barmherzigkeit zum Maßstab und zur Motivation ihres persönlichen Handelns genommen haben. Die Hochschätzung der Barmherzigkeit durch Gott und die von Erbarmen geprägte Ausdifferenzierung des den göttlichen Willen zum Ausdruck bringenden Nächstenliebegebots findet in der Darstellung des TestSeb seine Begründung im Wesen Gottes selbst. So betont TestSeb IX,7 die Vergebung Gottes gegenüber den in die Irre gegangenen Menschen und verweist dabei auf Gottes mitleidvolle Charakterzüge („ὅτι ἐλεήμων ἐστὶ καὶ εὔσπλαγχνος“ [TestSeb IX,7]). Die Verbindung von menschlicher Umkehr und göttlicher Heilsinitiative in Form des Zurückbringens der abgeirrten Menschen erinnert stark an die Zusammenhänge in Lk 15,3–9. Insofern TestSeb IX,7 keine christliche Glosse darstellt, zeigt sich an dieser Stelle, dass der Dualismus von menschlichen und göttlichen Anstrengungen im Hinblick auf die soteriologische Überwindung der Gottferne des Menschen ein hellenistisch-frühjüdisches Theologumenon darstellt, das auf dem erbarmenden Charakter Gottes fußt. Ergänzt wird die Darstellung des barmherzigen Wesens Gottes durch die sich anschließende eschatologische Vision, die die sichtbare Ankunft Gottes 13 Siehe H. Hollander/M . de Jonge, Commentary, 264: „This attitude amounts to a kind of imitatio Dei; cf. WisSol 11,23 f.; cf. also 15,1 f.; Rom 11,32.“ Das Motiv der imitatio Dei mag durch die Textverweise erkenntlich sein, doch spielt es in der vorliegenden Argumentation in TestSeb V,1 keine Rolle. Vielmehr steht die Verantwortung des Einzelnen gegenüber den Geboten Gottes im Vordergrund.
290
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
unter seinem Volk zum Thema hat (vgl. TestSeb IX,8). Auch wenn das abschließende Motiv von der Erscheinung Gottes in menschlicher Gestalt (ἐν σχήματι ἀνθρώπου [TestSeb IX,8]) christlicher Provenienz ist, so sollte dennoch nicht der gesamte Vers als Interpolation verworfen werden. Interessant ist hier vielmehr die Aufnahme und Verarbeitung von Mal 3,20; einer Vision, die die Ankunft Gottes mit dem Aufscheinen der Sonne der Gerechtigkeit poetisch beschreibt. Auffällig ist in TestSeb IX,8 jedoch die Veränderung, die der Autor gegenüber der LXX-Vorlage vorgenommen hat: Während die LXX, ebenso wie der hebräische Text, nur davon spricht, dass Gott Heilung, respektive Sündenvergebung (ἡ ἴασις), unter seinen Flügeln mit sich bringen wird, ergänzt das TestSeb das Maleachizitat an dieser Stelle um den Begriff „Erbarmen“ (ἡ εὐσπλαγχνία [TestSeb IX,8]).14 Somit wird deutlich, dass die Barmherzigkeit ebenso wie die Bereitschaft zur Vergebung untrennbar mit der eschatologischen Ankunft Gottes verbunden ist, und dass das Erbarmen einen essentiellen Wesenszug Gottes darstellt, das im TestSeb vermittels des Doppelgebots großen Einfluss auf die Ethik ausübt.
9.2.2 Die emotionale Dimension der barmherzigen Zuwendung Zu Beginn des TestSeb wird die durch Mitleid und Barmherzigkeit geprägte Solidarität Sebulons mit Joseph beschrieben, aufgrund derer er sich in Opposition zu seinen gewaltbereiten Brüdern stellte, welche im Begriff standen, Joseph zu töten. Die Szenerie baut grundsätzlich auf die Narration in Gen 37 auf, in deren Verlauf die Brüder Josephs diesen zunächst töten wollen, sich dann aber dazu entschließen, ihn an die Sichemiten zu verkaufen. In der atl. Vorlage begegnet Sebulon nicht als handelnder Akteur, weder im hebräischen Text noch in der LXX, und wird somit im engen Sinne auch nicht an seinem Bruder Joseph schuldig, da ihm der biblische Text expressis verbis keine Partizipation am Verkauf Josephs zuschreibt. Diese Gegebenheit der biblischen Erzählung nutzt das TestSeb, um Sebulon als einen tugendhaften, von Barmherzigkeit geleiteten Mann zu skizzieren. Sebulon wird als Antagonist zu Simeon und Gad beschrieben, deren Verhalten gegenüber Joseph durch Zorn (ἡ ὀργή [TestSeb II,1]) bestimmt ist; einen Affekt, dessen zerstörerische Wirkung im TestDan ausführlich diskutiert wird. Angesichts der mörderischen Absicht der Brüder bittet Joseph zunächst selbst um Barmherzigkeit (ἐλεήσατέ με [TestSeb II,2]) und richtet dann die Aufmerksamkeit auf die Gefühle des Vaters Jakob: Indem die Brüder ihn, Joseph, am Leben ließen, würden sie sich mitleidsvoll (οἰκτίρειν [TestSeb II,2]) gegenüber ihrem Vater zeigen, der den Tod seines Sohnes nicht ertragen könnte. Während die an14 Die Veränderung von „ἥλιος“ in „φῶς“ ist vernachlässigbar. Denkbar wäre, dass dem Autor des TestSeb eine Version des Maleachizitats vorlag, das „φῶς“ anstelle von „ἥλιος“ aufwies.
9.2 Das Testament Sebulon
291
gesprochenen Brüder sich durch das Flehen Josephs nicht von ihrem Zorn abbringen lassen, was auf die Verblendung als Kennzeichen des Zorns schließen lässt (vgl. TestDan II,1–5]), wird Sebulon aufgrund der Worte Josephs vollständig von Mitleid ergriffen: Er bricht in Tränen aus (κλαίειν [TestSeb II,4) und seiner emotionalen Reaktion korrespondiert ein körperliches Empfinden, das seine gesamte Physis erschüttert. Seine Leber gießt sich (ἐκχεῖν [TestSeb II,4]) gegen ihn aus, die Gesamtheit seiner Eingeweide (ἡ ὑπόστασις τῶν σπλάγχνων [TestSeb II,4]) gerät derart in Aufruhr, dass seine Seele geschwächt wird (χαυνοῦν [TestSeb II,4]), sein Herz pocht (βομβεῖν [TestSeb II,5]) und er gleitet, vom Mitleid erschüttert, zu Boden (οὐκ ἠδυνάμην τοῦ στῆναι [TestSeb II,5]). „The physical reactions alluded to […] suggest that Zebulun is experiencing the physical symptoms of the terror affecting his brother Joseph, as if he himself were threatened. Compassion is thus pictured as the physical experience of an emotion felt by another person.“15
Zwei Aspekte sind an dieser, recht dramatisch ausgestalteten Szenerie bemerkenswert. Zum einen fällt die bereits genannte Differenz zwischen Sebulon auf der einen und Simeon und Gad auf der anderen Seite ins Auge. Sebulon ist aufgrund seines von Barmherzigkeit bestimmten Habitus in der Lage, sich in die Not Josephs hineinzuversetzen, sich emotional auf dessen Leiden einzulassen und dessen Schmerz zu teilen. Während die beiden anderen Brüder von Zorn motiviert sind und somit über keinerlei Empathie mehr verfügen, ist Sebulon grundsätzlich offen für eine empathische Anteilnahme, und angesichts einer konkreten Notsituation entflammt sein Mitleid.16 Zum anderen wird dieses Mitleid als eine, den Menschen in seiner gesamten leib-seelischen Verfasstheit umgreifende Emotion beschrieben. Unter dem Einfluss einer bereits im Alten Testament begegnenden Anthropologie, verortet das TestSeb Emotionen in physischen Bereichen des Menschen, konkret wird der Sitz der Barmherzigkeit in den Eingeweiden und in der Leber angenommen;17 eine Überzeugung, die wahrscheinlich auf eine sensible Wahrnehmung innerer Ergriffenheit im Moment des Mitleids zurückzuführen ist.18 Sprachlich spiegelt sich diese Verbindung von Emotion und Physis in den Begriffen wider, mit denen barmherziges Empfinden beschrieben wird und die auf τὰ σπλάγχνα zurückzuführen sind.19 Ähnlich wie der Zorn (vgl. TestDan III,1), der Hass (vgl. TestGad II,1) 15
F. Mirguet, Emotional responses, 852. In TestSeb II,4 wird dieser Prozess durch die Formulierung „in das Mitleid hineinkommen“ (εἰς οἶκτον ἔρχεσθαι) beschrieben. 17 Vgl. TestSeb II,4; V,3; VII,4. 18 Das sog. „Bauchgefühl“ ist auch in der Gegenwart bekannt ebenso die Wahrnehmung, dass ein schlechtes Gewissen, Nervosität oder auch das Verliebt-Sein körperlich spürbare Reaktionen hervorruft. Klassisch ist in diesem Zusammenhang die Rede von den Schmetterlingen im Bauch. Dieses treffende Beispiel verdanke ich S. Opferkuch. 19 σπλαγχνίζεσθαι: TestSeb IV,2; VI,4; VII,1.2; VIII,1.3.4; εὐσπλαγχνία: TestSeb V,1; 16
292
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
oder auch der Neid (vgl. TestSim III,2) dominiert das Mitleid respektive die Barmherzigkeit, alle Empfindungen und alle handlungsweisenden Entscheidungen des Menschen und es ist dabei gewiss kein Zufall, dass Zorn, Hass und Neid ebenfalls in den Bereichen der Eingeweide, oft in der Leber angesiedelt sind. Im Denkmuster der TestXII ergibt sich dadurch die Situation, dass der Mensch entweder von negativen Affekten oder aber von positiven Emotionen in seinem Handeln und Denken beeinflusst wird, da auch die Organe entweder von Mitleid bewegt oder von Neid (vgl. TestSim II,4.7) und Hass (vgl. TestGad II,1; V,9) verhärtet werden. Dabei liegt es jedoch in der grundsätzlichen Verantwortung des Menschen, welchen Affekten und Emotionen er sich öffnet und ob er, durch eine positive Gottesbeziehung geschützt, den Anfeindungen durch die Geister Beliars, die den Menschen mit Begierden und negativen Affekten angreifen, widerstehen kann.20 Die emotionale Dimension der Barmherzigkeit, die ein Mit-Leiden des Barmherzigen mit seinem Gegenüber impliziert, ist der cantus firmus der im TestSeb begegnenden Ausführungen. Dieses Mitleiden äußert sich zuallererst im Weinen21 des Protagonisten. Daneben finden sich jedoch auch Formulierungen wie „θρηνεῖν“ (TestSeb IV,5) oder „συμπάσχειν“ (TestSeb VI,4; VII,3), die ebenfalls eine innere Anteilnahme beschreiben, der zumeist ein konkretes, helfendes Handeln korrespondiert. Allerdings gilt es, diese Konkretionen barmherziger Anteilnahme nochmals differenziert zu betrachten.
9.2.2.1 Die Barmherzigkeit mit den Verfolgten Im ersten Hauptteil des TestSeb lässt sich, wie oben ausgeführt, eine starke emotionale Reaktion Sebulons angesichts der lebensbedrohlichen Gefahr, in der sich Joseph befindet, feststellen. Jedoch scheint Sebulon nicht in der Lage zu sein, konkrete Hilfeleistungen für Joseph umzusetzen. Er drückt lediglich seine Solidarität mit ihm aus, lässt es zu, dass Joseph hinter ihm Schutz sucht (vgl. TestSeb II,6), doch die Rettung Josephs vor dem Zorn seiner Brüder geschieht schlussendlich durch die Intervention Rubens (vgl. TestSeb II,7) und Levis (vgl. TestSeb IV,2) sowie durch das vorausschauende, heilsstiftende Handeln Gottes (vgl. TestSeb II,8–9).22 Muss in diesem Zusammenhang davon ausgegangen VIII,1; IX,8; εὔσπλαγχνος: TestSeb IX,7. σπλάγχνα: TestSeb II,2.3; V,3.4; VII,2.3; VIII,2 (2 ×).6. Auffallend ist hierbei, dass das Wortfeld „ἔλεος“ im TestSeb deutlich weniger häufig Verwendung findet, um eine barmherzige Zuwendung auszudrücken. ἐλεεῖν: TestSeb II,2; VII,2; VIII,1(2 ×); ποιεῖν ἔλεος: TestSeb V,1; ἐλεήμων: TestSeb IX,7; τὸ ἔλεος: TestSeb V,1 und τὸ ἔλεος in Verbindung mit τὰ σπλάγχνα: TestSeb V,3.4; VII,3; VIII,2.6. 20 Dieser Themenkomplex findet sich häufig in den TestXII. Vgl. dazu exemplarisch: TestRub II,1–9; IV,1.11; TestSim II,7; III,1–6; TestGad I,9; IV,7; V,2; TestDan II,1; V,1. 21 Vgl. TestSeb I,6; II,4.6; IV,8; VII,4. 22 Auf dem Hintergrund der atl. Vorlage, die den trockenen Brunnen als Gefängnis für Jo-
9.2 Das Testament Sebulon
293
werden, dass das TestSeb im Zuge der Reflexion über ein von Barmherzigkeit motiviertes Verhalten auch die Grenzen der Möglichkeiten bespricht, die dem Barmherzigen beispielsweise gegenüber dem Zornigen gesetzt sind? So scheint sich der Handlungsspielraum Sebulons darin zu erschöpfen, dass er sich dezidiert von seinen Brüdern abwendet, wofür die Verweigerung der Tischgemeinschaft (vgl. TestSeb IV,1–2) ein deutliches Symbol ist. Auch die Betonung darauf, dass Sebulon keinen Anteil an dem Erlös hatte (vgl. TestSeb III,1), der durch den Verkauf Josephs entstanden war, soll als Zeichen der Distanzierung von und der Kritik an den übrigen Brüdern verstanden werden. Sebulon konzentriert seine Energien darauf, Joseph seines Beistandes zu versichern (vgl. TestSeb II,4–6), für ihn fürbittend einzutreten (vgl. TestSeb I,7) und ihn in den Tagen seiner Gefangenschaft im Brunnen, die durch die Tötungsabsichten Simeons überschattet waren (vgl. TestSeb II,1; IV,11), nicht allein zu lassen (vgl. TestSeb IV,2–4). Allerdings erwägt Sebulon zu keinem Zeitpunkt, Gewalt anzuwenden, um Joseph zu retten. Während in den TestXII Gewalt nicht einer grundsätzlichen ethischen Abqualifizierung unterworfen ist, man denke hierbei vor allem an das TestJud, scheint die Gewalt gegen die eigenen Brüder ethisch verwerflich zu sein. So werden die Söhne Jakobs, die ihren Anteil an dem Verkaufserlös für Joseph bekommen haben, von Gott gestraft (vgl. TestSeb III,1–8)23 und Uneinigkeit und Streit unter Brüdern wird als Ursache für die Zersplitterung Israels markiert (vgl. TestSeb VIII,5–IX,6). Ist es allein schon aufgrund der biblischen Vorlage ausgeschlossen, dass einer der Brüder sich gewaltsam gegen die anderen wenden könnte, um Joseph zu helfen, so entwickelt sich auch innertextuelle Logik des TestSeb dahingehend, dass Gewalt gegen Brüder auch dann nicht im Horizont eines ethisch korrekten Verhaltens wäre, wenn diese zum Schutz eines Bruders angewandt werden könnte. So setzen sich auch Levi und Ruben nur mit Worten für Joseph ein und unterstützten Sebulon in der Bewachung des Brunnens, damit die übrigen Brüder in ihren Mordabsichten gehindert werden. Barmherzigkeit, wie sie Sebulon übt, ist gegenüber dem bedrohten Joseph also durch Anteilnahme, durch Solidarität, durch öffentliches Eintreten und durch klare Distanzierung zu den Missetätern charakterisiert, verzichtet jedoch auf Gewalt als letztes Mittel. Dabei markiert TestSeb I,6 eindeutig die Furcht, die Sebulon gegenüber seinen Brüdern und deren Gewaltbereitschaft empfindet. Sein Vorbildcharakter als Täter der Barmherzigkeit impliziert keine Unantastseph beschreibt (vgl. Gen 37,24), wirkt die Interpretation in TestSeb II,8, die in der Trockenheit des Brunnens den Erweis göttlicher Bewahrung zu erkennen vermag, etwas konstruiert. Allerdings schließt diese Interpretation einer vorgegebenen narrativen Szenerie nahtlos an die Überzeugung an, dass Gott die Seinen in jederlei Gefahr zu schützen und zu bewahren weiß (vgl. TestJos XVIII,2). 23 Die hier beschriebene Szenerie ähnelt formal stark einer prophetischen Zeichenhandlung.
294
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
barkeit. Vielmehr ist er sich der Gefahr, in die er sich aufgrund seines mit Joseph solidarischen Verhaltens bringt, durchaus bewusst.24 Die Vorbildfunktion, die Sebulon hinsichtlich seines barmherzigen Lebenswandels innehat, wird bereits zu Beginn des Testaments expressis verbis hervorgehoben (vgl. TestSeb I,2) und dient im weiteren Verlauf des TestSeb gegenüber den Adressaten als Anschauung und Begründung eines von Mitleid geprägten Verhaltens. Allerdings ist der Aspekt der Vorbildlichkeit und der damit verbundenen motivierenden Kraft gelebter Barmherzigkeit auch in die Narration von TestSeb II–IV eingeflossen. Aufgrund der atl. Vorlage (vgl. Gen 37,21–28) ist das rettende Eingreifen Rubens und Judas, die die Tötung Josephs erfolgreich zu verhindern wissen, natürlich auch für die Erzähllogik des TestSeb vorgegeben. Doch im Gegensatz zu Gen 37 wird im TestSeb das Eingreifen der älteren Patriarchen als Reaktion auf die von Mitleid geprägte Solidarisierung Sebulons gestaltet. Angesichts der Szenerie, in der sich Sebulon und Joseph gegen die restlichen Brüder stellen, tritt Ruben für das Leben Josephs ein (vgl. TestSeb II,7), und analog zur Bereitschaft Sebulons, Tag und Nacht bei dem im Brunnen gefangenen Joseph auszuharren, entschließt sich auch Juda dazu, die Tischgemeinschaft mit den Übrigen zu verweigern und Joseph vor etwaigen Angriffen zu schützen (vgl. TestSeb IV,2). Dadurch vermittelt das TestSeb implizit die Botschaft, dass ein mitleidvolles und barmherziges Verhalten, obgleich es auf den Einsatz von Gewalt verzichtet, dennoch einen machtvollen Schutz für andere generieren kann, da es zur Nachahmung einlädt und andere Menschen sich angesichts einer öffentlichen Solidarisierung mit den Schwachen und Verfolgten selbst in die Verantwortung gestellt sehen. Die Veränderung, der die biblische Vorlage an dieser Stelle unterworfen wird, ist bei aller Subtilität ein deutliches Votum für die verändernde Kraft der Barmherzigkeit.
9.2.2.2 Die Barmherzigkeit mit den Notleidenden In TestSeb V–VII richtet sich der Fokus auf die Taten der Barmherzigkeit gegenüber denen, die sich in wirtschaftlichen Nöten befinden. Anhand der Figur Sebulons wird deutlich gemacht, dass sowohl Besitz (vgl. TestSeb VI,6) als auch die zur Erwirtschaftung des Besitzes notwendigen Fähigkeiten (vgl. TestSeb VI,1–2) als Erweis göttlichen Gnadenhandelns zu verstehen sind. Dadurch 24 Es ist nicht ganz klar, wen Sebulon schützen möchte, indem er seinem Vater verschweigt, was mit Joseph geschehen ist (vgl. TestSeb I,5). Entweder will Sebulon seine Brüder vor dem Zorn des Vaters schützen. In diesem Falle müsste aber grammatisch geklärt werden, wieso die Brüder in Verbindung mit der Präposition ἐπί im Dativ genannt werden und nicht als zu beschützende Objekte im Akkusativ angeführt werden; vgl. W. Bauer/K . Aland, Art. σκεπάζω, 1506. Oder Sebulon möchte sich selbst vor den Brüdern schützen. Diese Bedeutung würde durch TestSeb I,6 gestützt werden und kann die Konstruktion mit ἐπί mit nachfolgendem Dativ als Angabe eines Grundes erklären; vgl. H. v. Siebenthal, Grammatik, § 187m. Hier müsste allerdings das Fehlen des zu beschützenden Objekts plausibilisiert werden.
9.2 Das Testament Sebulon
295
sieht sich der Mensch, der in Gehorsam gegenüber Gott und dessen Geboten lebt (vgl. TestSeb V,1), in der Verpflichtung, seinen Besitz nicht allein für sich selbst, sondern auch und vor allem unterschiedslos zugunsten seiner Mitmenschen aufzuwenden (vgl. TestSeb VII,2). Das Leitmotiv besteht auch hierbei wieder in der Barmherzigkeit, die zu üben einem jeden Menschen von Gott aufgetragen ist. Die narrativ gestalteten Ausführungen des Lebens Sebulons dienen der Konkretion des Habitus der universellen Barmherzigkeit. In seiner Eigenschaft als Fischer (vgl. TestSeb VI,1–3) erbarmt er sich (σπλαγχνίζεσθαι [TestSeb VI,4]) unterschiedslos25 allen bedürftigen Menschen und versorgt sie mit Fischen, die er gefangen hat (vgl. TestSeb VI,4–5.7). Die Bedürftigkeit derer, die in den Genuss der Fürsorge Sebulons kommen, wird explizit festgestellt: So sind es an erster Stelle die Fremden, derer sich Sebulon annimmt. Dadurch wird die universelle Reichweite des Nächstenliebegebots unterstrichen und die Durchbrechung einer möglichen, auf die eigenen Glaubensbrüder ausgelegten Limitierung betont.26 Daneben kümmert sich Sebulon um die Kranken (ὁ νοσῶν [TestSeb VI,5]), um die Alten (ὁ γηράσας [TestSeb VI,5]) und grundsätzlich um alle Bedürftigen (ὁ χρῄζων [TestSeb VII,3]). Die barmherzige Zuwendung Sebulons zu den Notleiden ist dadurch charakterisiert, dass er zum einen unter Aufwendung der eigenen Mittel und Möglichkeiten der je individuellen Bedürftigkeit des Gegenübers gerecht wird (κατὰ τὴν ἑκαστου χρείαν [TestSeb VI,5]). Im TestSeb findet im Zusammenhang der karitativen Tätigkeiten des Patriarchen die Überzeugung ihren Ausdruck, dass nicht nur die oben genannte Verantwortung gegenüber Gott als dem Urheber des irdischen Besitzes, sondern auch das Vertrauen in die göttliche Fürsorge zu einer solch umfassenden Versorgung der Armen und Notleidenden motiviert, da Gott diejenigen vielfältig mit Gütern belohnt, die ihren Besitz mit den Armen teilen (vgl. TestSeb V,6). Kennzeichnend ist dabei auch, dass die Motivation der barmherzigen Zuwendung frei von jeder Eitelkeit und jedem Streben nach öffentlicher Anerkennung ist.27 25 Dieser Aspekt wird in TestSeb VII,2 nochmals in der direkten ethischen Ermahnung gegenüber den Kindern Sebulons, also gegenüber den Adressaten der Schrift, aufgegriffen. Es wird explizit gefordert, dass sich die Adressaten ohne Unterschied (ἀδιακρίτως) allen gegenüber barmherzig erweisen sollen. 26 Denkbar wäre auch, dass hier atl. Schutzklauseln für die Fremden im Hintergrund standen. Allerdings wird in der LXX in diesen Zusammenhängen nicht wie im TestSeb vom ξένος, sondern vom πορσήλυτος gesprochen (vgl. Ex 22,20; 23,9.12; Lev 16,29; 19,34; 25,23; Dtn 5,14; 24,14; 31,12 u. ö.). Daneben verwendet das Dtn. auch den Begriff „ὁ ἀλλότριος“ (Dtn 14,21; 15,1–3; 17,15; 23,20–21), wobei es sich hier explizit nicht um Schutzbestimmungen für den Fremden handelt. 27 Die in TestSeb VII,1 geschilderte Szenerie betont den Charakter der Heimlichkeit der Unterstützung eines Notleidenden: Sebulon stiehlt (κλέπτειν) im Winter Kleidung aus seinem eigenen Haus und schenkt sie heimlich (κρυφαίως) einem Bedürftigen. Ob dadurch ein Schutz des Beschenkten intendiert ist, indem dieser in seiner Not nicht in aller Öffentlichkeit vorgeführt wird, oder ob es um die Ablehnung des Rühmens auf Kosten des Beschenkten geht,
296
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
Zum anderen ist die innerliche Anteilnahme an der jeweiligen Not des Anderen (συμπάσχειν [TestSeb VI,5]) charakteristisch für das paradigmatische Erbarmen Sebulons. Dieses Mit-Leiden des Barmherzigen ist nicht nur notwendiger Bestandteil jedweder Form der Anteilnahme, sondern auch ein Ausdruck nächstenliebender Zuwendung, die unabhängig von den Möglichkeiten materieller Unterstützung ist. TestSeb VII,3–4 thematisiert die Konkretion von Barmherzigkeit angesichts nicht vorhandener finanzieller Mittel und insistiert auf die Möglichkeiten der emotionalen Unterstützung des Leidenden. Diese Betonung der emotionalen Dimension ist aus zwei Gründen von besonderer Relevanz. Auf der einen Seite wird die von Barmherzigkeit geprägte Unterstützung des Gegenübers als ein zutiefst zwischenmenschliches Geschehen beschrieben. Die Wahrnehmung des bedürftigen Nächsten ist nicht allein durch die reine Feststellung seines Mangels geprägt, sondern durch das Ernst-Nehmen des Anderen als Mensch. Damit eröffnet sich die Möglichkeit eines Hineinversetzens in die Notsituation des Gegenübers und ein damit einhergehendes vertiefendes Verstehen dessen, woran der Mitmensch leidet. In der lk. Argumentation wird dieses Verhalten durch die positive Formulierung der Goldenen Regel ausgedrückt. Indem sich die barmherzige Hilfestellung durch jene emotionale Dimension auszeichnet, ist die Tendenz einer rein „technokratischen“ Auffassung von Hilfsleistungen abgewiesen. Das leidende Gegenüber wird nicht als die Summe seiner materiellen Bedürftigkeiten wahrgenommen, sondern als Mensch, dessen Schmerz nachvollzogen und somit geteilt wird. Überträgt man diese Betonung der emotionalen Seite barmherziger Zuwendung auf moderne ethische Diskurse, so würde hier der Aspekt der Würde des Menschen seinen Platz finden. Auf der anderen Seite liegt der Betonung der emotionalen Anteilnahme eine ethische Verpflichtung inne, die weit über die Aufforderung zum mildtätigen Teilen des Besitzstandes hinausgeht. Unabhängig von der wirtschaftlichen Lage, so die Intention des TestSeb, verfügt jeder über die Möglichkeit zum emotional geprägten Mitleiden. Dadurch wird eine Distanzierung zum Leiden des Nächsten und ein Sich-Entziehen aus der ethischen Pflicht zur Linderung des Leids aus Gründen mangelnder wirtschaftlicher Selbstständigkeit verunmöglicht. Jeder ist somit nicht nur aufgerufen, sondern auch grundsätzlich in der Lage, sich gegenüber dem Nächsten in barmherziger Anteilnahme zu verhalten. Dass dabei das handelnde Subjekt nicht nur pragmatisch-distanziert, sondern persönlich-emotional in den Prozess des erbarmenden Handelns involviert wird, unterstreicht die Bedeutung, die dieser ethischen Struktur zugemessen wird und bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass auch in der offen forwird nicht näher erläutert. Plausibel wäre jedoch, dass eine analoge Logik zu Mt 6,1–4 vorliegt, die der Mildtätigkeit nur dann eine ethische Qualität zumisst, wenn sie nicht aus Gründen des öffentlichen Gerühmt-Werdens geschieht, sondern allein aufgrund echten Mitleids mit dem Leidenden.
9.2 Das Testament Sebulon
297
mulierten Anteilnahme eine Linderung der Not enthalten ist. An diesem Punkt schließen die Ausführungen über die Formen barmherziger Zuwendung wieder an den Beginn des TestSeb an, als Sebulon sich lediglich in der Lage sah, seiner Solidarität mit Joseph Ausdruck zu verleihen und dessen Schmerz zu teilen, dabei aber nicht über die Kapazitäten verfügte, dem feindlichen Ansinnen der anderen Brüder wirksam und tatkräftig entgegenzutreten.28 Ebenso wie Lukas ist es dem Autor des TestSeb daran gelegen, Nächstenliebe im Lichte der Barmherzigkeit darzustellen und auszulegen. Das Nächstenliebegebot wird in beiden Schriften nur dann ethisch adäquat umgesetzt, wenn das Handlungssubjekt sich von einer den Menschen in seiner leib-seelischen Verfasstheit gänzlich beanspruchenden Barmherzigkeit leiten lässt. Dies spiegelt sich im Verbum „σπλαγχνίζεσθαι“ wider. Im Erkennen der Bedürftigkeit, dem inneren Bewegt-Werden und Mitleiden angesichts der konstatierten Not sowie in der Linderung dieser je konkreten Notsituation unter Aufwendung der eigenen Mittel findet σπλαγχνίζεσθαι seine vollumfängliche Definition. Die semantische wie argumentative Nähe des TestSeb zu den Sprach- und Denkmustern des Evangelisten Lukas kommt hierin klar zum Vorschein.29
9.2.2.3 Barmherzigkeit und Vergebung Das TestSeb führt neben der Solidarität für den Bedrängten und der Unterstützung des Notleidenden auch die Vergebung des Schuldiggewordenen als Erweis barmherziger Zuwendung an (vgl. TestSeb VIII,1–IX,3). Unter Rückgriff auf Gen 50,15–2130 wird die Vergebungsbereitschaft Josephs gegenüber seinen Brüdern als ethisch vorbildlich charakterisiert (vgl. TestSeb VIII,3), wobei das TestSeb die Vergebung in den Horizont des sich erbarmenden Handelns einordnet. Die Rede von der Vergebung bildet den letzten Abschnitt der Reflexion über die Barmherzigkeit und ist durch eine vielschichtige Plausibilisierung unterfüttert. So wird einerseits, in konsequenter Fortführung der ethischen Argumentationslinie des TestSeb, auch bezüglich der Konfliktbearbeitung das Motiv der Barmherzigkeit als Grundlage menschlichen Handelns definiert. Die Aufforderung zur Vergebung stellt dabei die Interpretation dessen dar, was Barmherzigkeit angesichts von Konflikten konkret bedeutet und es ist dem ethisch verantwortlich handelnden Subjekt aufgetragen, zur Vergebung nicht nur grundsätzlich bereit zu sein, sondern diese auch zu realisieren. Dies geht nicht nur mit dem 28 Für F. Mirguet, Emotional responses, 853–854 ist die Machtlosigkeit ein Charakteristikum barmherziger Anteilnahme im TestSeb Diese Interpretation ist jedoch etwas einseitig. 29 Vgl. paradigmatisch die Parabel vom barmherzigen Samariter. 30 Die Verklammerung mit den atl. Erzählzusammenhängen geschieht nicht nur durch den thematischen Aufgriff des Sachverhalts der Vergebung Josephs gegenüber seinen Brüdern, sondern auch durch die Verwendung des Verbums „μνησικακεῖν“ (TestSeb VIII,4), das in der LXX nur selten gebraucht wird (vgl. Gen 50,15; Joel 4,4; Prov 21,24; Sach 7,10; Ez 25,12).
298
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
bewussten Verzicht auf Rache, sondern auch auf juristisch gerechtfertigte Satisfaktion einher (vgl. TestSeb VIII,5) und stellt demgegenüber die verzeihende Kraft der Agape in den Vordergrund. Es wird dezidiert darauf verwiesen, dass ein nachtragendes Beharren auf der Schuld des Nächsten der Bereitschaft zur barmherzigen Zuwendung diametral entgegensteht31 und dass darüber hinaus die Verweigerung der gegenseitigen Vergebung gemeinschaftsschädigenden Charakter hat, in dessen Konsequenz letztlich alle Beteiligten Schaden nehmen werden.32 Somit ist das ethisch qualifizierte Handlungssubjekt aufgrund seiner Bearbeitung von Konflikten gegenüber dem Gemeinwesen verpflichtet und gerade in dieser Verpflichtung zu individuellen Anstrengungen und zu Rechtsverzicht angehalten. Anders ausgedrückt wird dem Handlungssubjekt eine charakterliche Größe zugemutet, vermittels derer es die Niedrigkeiten eines juristisch tadellosen quid pro quo zu überwinden vermag und der Versöhnung einen höheren Stellenwert zumisst als dem persönlichen Rechtsanspruch. Hierin spiegelt sich die Verantwortung wider, die der Patriarch Sebulon in der Realisierung seines mitleidvollen Habitus gegenüber den Hungernden wahrgenommen hat: Die Überwindung der Not des Nächsten stand an erster Stelle und demgegenüber rückten die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund. Die mit der Barmherzigkeit grundgelegte Verantwortung gegenüber einem Einzelnen unter Rückstellung der individuellen Bedürfnisse gilt also, a minore ad maius, in struktureller Analogie auch für die Verantwortung gegenüber der sozialen Gemeinschaft, die durch ungelöste Konflikte und andauernde innere Spannungen in Gefahr gerät. Somit ist letztlich auch die Überwindung von Konflikten durch Vergebung Kennzeichen und Ausdruck der Handlungssouveränität und der Verzicht auf Vergeltung oder Satisfaktion darf mitnichten als Schwäche oder Passivität missverstanden werden. Vielmehr wird derjenige, der in Aufrechterhaltung der gegenseitigen Feindschaft verharrt, zum passiven Objekt einer Eskalation. Das von Vergebung und Barmherzigkeit geprägte Verhalten, das Joseph gegenüber seinen Brüdern erwiesen hat, als diese nach Ägypten kamen, dient im argumentativen Duktus des TestSeb als anschauliches Beispiel für die Überwindung von Feindschaft unter Verzicht auf Wiedergutmachung. Das TestSeb erinnert daran, dass Joseph seinen Brüdern das Böse nicht nachtrug (οὐ μνησικακεῖν [TestSeb VIII,4])33 und sich speziell gegenüber Sebulon erbarmte (σπλαγχνίζεσθαι [TestSeb VIII,4]). Joseph, dessen Tugend in den TestXII über nahezu jeden Zweifel erhaben ist, wird in der Frage einer durch Barmherzigkeit 31
Vgl. TestSeb VIII,6: „ὁ γὰρ μνησίκακος σπλάγχνα ἐλέους οὐκ ἔχει.“ TestSeb IX,1–3 verwendet zur Beschreibung dieses Sachverhalts das treffende Bild fließenden Wassers, das vereint alle Hindernisse hinwegreißen kann, aber in der Zerteilung in viele kleine Wasserläufe durch die Erde aufgesogen wird. 33 Diese Tugend Josephs wird auch von Philo, Jos 166 betont. Auch außerhalb des Frühjudentums gilt der Verzicht auf nachtragendes Verhalten hellenistischen Autoren als lobenswert; vgl. beispielsweise Plutarch, Aristeides 25,7; Aristoteles, Athenaios Politeia 40,2. 32
9.2 Das Testament Sebulon
299
motivierten Vergebung34 zum ethischen Vorbild stilisiert. Im Vollzug der Nachahmung Josephs sind die Adressaten der TestXII zur gegenseitigen Vergebung aufgerufen und können gerade dadurch das Nächstenliebegebot realisieren.35 Der hervorgehobene Verweis auf das Erbarmen, das Joseph gegenüber Sebulon empfand, hat in der atl. Tradition keinen Anhaltspunkt, sondern erwächst aus der Erzähllogik des TestSeb: Die Barmherzigkeit, die Sebulon Joseph gegenüber erwiesen hat, als dieser von den anderen Brüdern angefeindet und verkauft worden war, wird nun durch Joseph erwidert. Ob und inwiefern sich dies auf eine Vorzugsbehandlung Sebulons in Ägypten ausgewirkt hat, wird im TestSeb nicht ausgeführt. Eine Spannung ergibt sich jedoch zwischen TestSeb VIII,4 und TestSim IV,4. Während das TestSeb eine positive Vergeltung der erwiesenen Barmherzigkeit postuliert, insistiert das TestSim darauf, dass sich Joseph auch und gerade gegenüber dem Bruder als barmherzig erweist, der durch seinen Neid und seine Unbarmherzigkeit sogar bereit gewesen wäre, Joseph zu töten (vgl. TestSim II,6–11). Die Spannung lässt sich insofern auflösen, als dass von einer unterschiedlichen argumentativen Schwerpunktsetzung in Bezug auf die Barmherzigkeit Josephs ausgegangen wird. Während das TestSim die aus der Barmherzigkeit erwachsende Kraft der verzeihenden Liebe in den Vordergrund stellt, die vor allem auf die Missetäter zielt, spricht das TestSeb aus der Perspektive eines Gerechten, dessen auch in Anfeindung bewährte Barmherzigkeit eines Tages vergolten werden wird.36 Für die in TestSeb VIII,1–IX,3 formulierten Gedanken zur Versöhnung ist die Korrelation von Barmherzigkeit und Vergebung von zentraler Bedeutung. Aufgrund dieser Korrelation wird das Thema der Versöhnung eingebunden in die größeren theologischen wie ethischen Zusammenhänge des TestSeb So ist die Ethik des TestSeb maßgeblich durch die grundsätzliche Überzeugung bestimmt, dass nur der Barmherzige ein ethisch tugendhafter Mensch sein kann. In TestSeb VIII,6 wird das Beharren auf in der Vergangenheit zugefügtes Unrecht dadurch charakterisiert, dass es die Fähigkeit zu einer von Empathie und 34 H. Hollander, Ethical model, 53–54 macht auf die im TestSeb besondere Verbindung von „οὐ μνησικακεῖν“ und dem Motiv der Barmherzigkeit aufmerksam, die ansonsten in den TestXII nicht mehr begegnet und zudem eine durch Barmherzigkeit geprägte Interpretation von Gen 50,15 darstellt. 35 Vgl. TestSeb VIII,5: „εἰς ὃν ἐμβλέποντες καὶ ὑμεῖς ἀμνησίκακοι γίνεσθε, τέκνα μου, καὶ ἀγαπᾶτε ἀλλήλους, καὶ μὴ λογίζεσθε ἕκαστος τὴν κακίαν τοῦ ἀδελφοῦ αὐτοῦ.“ 36 Man könnte auch argumentieren, dass TestSeb VIII,4 Joseph als einen Menschen beschreibt, der innerlich mit seinem Groll gegenüber den Brüdern abgeschlossen hatte, lange bevor diese nach Ägypten kamen und auch unabhängig von der Frage, ob er seine Brüder jemals wiedersehen wird. Als sie dann in Ägypten ankamen und er seinen Bruder Sebulon erkennt, wandelt sich die Neutralität gegenüber den Brüdern in barmherzige Anteilnahme, die durch die Wiederbegegnung mit dem einst ihm gegenüber barmherzigen Sebulon entfacht wird. In diesem Falle wäre aber allein Sebulon der Grund für die mit Barmherzigkeit verbundene Vergebung Josephs, die im Anschluss an TestSeb VIII,4 betont wird, und Josephs Glanz als Tugendheld würde merklich verblassen.
300
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
Erbarmen geprägten Haltung (τὰ σπλάγχνα ἐλέους) verunmöglicht. Dadurch werden nicht nur die oben ausgeführten gemeinschaftsschädigenden Aspekte einer unversöhnlichen Persönlichkeit betont, sondern ein ethisch qualifiziertes Handeln schlechthin infrage gestellt. Wer sich in Konfliktsituationen selbst nicht zu überwinden vermag und den Schritt zur Versöhnung aufgrund einer lebendig gehaltenen Erinnerung an erfahrene Verletzungen nicht zu gehen weiß, kann die im TestSeb formulierte ethische Haltung niemals erreichen und scheitert damit letztlich an der Forderung des Nächstenliebegebots (vgl. TestSeb VIII,5). Doch verweisen die Reflexionen über die Versöhnung im TestSeb nicht allein auf das Vorbild Josephs oder auf die Notwendigkeit menschlicher Barmherzigkeit. Vielmehr finden sie ihren Ausgangspunkt in der Beschreibung Gottes und dessen Bereitschaft zur barmherzigen Vergebung (vgl. TestSeb VIII,1–3). „It is also part of the exercise of piety and addresses human beings in their relation to the divine. In the background lies the belief that humans need divine compassion and have to behave with their fellow human beings in a way that will win them divine favor. The human being is thus seen as fundamentally vulnerable when facing the divine, and ethical behavior finds its justification as a way to deal with that vulnerability“37
Dadurch wird die Mahnung zur Vergebung gewissermaßen zu einem Aspekt der imitatio Dei und neben der in TestSeb VIII,5 formulierten Nächstenliebe gewinnt durch den Gottesbezug auch das Gottesliebegebot im Horizont der Versöhnung Gestalt. Somit kann die Korrelation von Barmherzigkeit und Vergebung als Interpretation des Doppelgebots der Liebe gelesen werden und ist dadurch fester Bestandteil des ethischen Fundaments der TestXII.
9.3 Das Testament Joseph Das TestJos setzt mit dem Verkauf des Patriarchen an die Sichemiten ein und legt den Fokus auf die Tugendhaftigkeit Josephs, die sich vor allem in der Zeit seiner Gefangenschaft als Sklave in Ägypten bewähren musste. Dabei spielt die Bereitschaft zur Leidensübernahme eine wichtige Rolle, welche Joseph in erster Linie ausübte, um seine Brüder und seine Sklavenhalter in ihren Verfehlungen ihm gegenüber nach außen hin zu schützen. Zu Beginn des TestJos begegnet eine summarische Auflistung der Bedrängnisse, denen sich Joseph fortwährend ausgesetzt sieht (vgl. TestJos I,3–II,7) und die im weiteren Verlauf des Testaments detaillierter ausgeführt werden.38 Dominant ist in diesem Zusammenhang die Betonung des göttlichen Schutzes und der göttlichen Solidarität, 37
F. Mirguet, Emotional Response, 854. H. Hollander/M. de Jonge, Commentary, 368 verweisen hier auf die Semantik des TestJos: „[M]any terms and expressions used here recur elsewhere in the testament, some of them in the context of the story about Joseph and the Egyptian woman, others in the context of the second story, others in both stories.“ 38
9.3 Das Testament Joseph
301
derer sich Joseph zu jeder Zeit gewiss sein konnte und die in der summarischen Darstellung seiner Zeit als Sklave stets als Kontrapunkt gegen die Anfeindungen gesetzt werden. TestJos III,1–IX,5 beschreibt die sexuell motivierten Nachstellungen durch die Frau des Pentephres (ἡ γυνὴ τοῦ Πεντεφρῆ [TestJos XII,1]),39 denen sich Joseph durch seine Frömmigkeit standhaft widersetzt.40 Eben darin erweist er sich für die Adressaten als ein nachahmenswertes ethisches Vorbild. TestJos X,1–4 wirkt als Scharnier zum nächsten Sinnabschnitt des Testaments, welcher innerhalb der narrativen Logik eine zeitliche Rückblende darstellt und die Begebenheiten beschreibt, die der Ankunft Josephs im Haus des Pentephres vorausgingen (vgl. TestJos X,5–XVI,6). TestJos XVII,1–XVIII,4 beleuchtet das Verhalten Josephs gegenüber seinen Brüdern, als diese nach Ägypten kamen. Der Patriarch wird dadurch positiv ausgezeichnet, dass er sowohl in den Phasen seiner Sklaverei als auch in den Zeiten seiner Freiheit niemals an seinen Brüdern Rache üben wollte, ein Aspekt, der bereits im TestSeb betont worden war. Der Verzicht auf Rache und Vergeltung wird letztlich durch Gott belohnt, indem er den Einzelnen, in diesem Falle Joseph, aus allem Bösen befreit (vgl. TestJos XVIII,2). Den Abschluss des Testaments (vgl. TestJos XIX,1– XX,6) bildet eine Zukunftsvision, die messianische Züge trägt, welche durchaus christliche Interpolationen aufweisen können.41 Wie alle Patriarchentestamente endet auch das TestJos mit dem Tod des Patriarchen (vgl. TestJos XX,4), wobei die damit einhergehende Trauer der Ägypter eine spezielle Erwähnung findet. Vermittels der bestürzten Reaktion der Ägypter wird grundsätzlich auf die biblische Vorlage der besonderen Ehrenstellung Josephs in Ägypten (vgl. Gen 41,37–46) rekurriert. Doch liegt der Fokus des TestJos vor allem auf der Betonung des vorbildlichen Charakters Josephs, welcher sich trotz seiner Erfahrungen in ägyptischer Gefangenschaft empathisch und wohlwollend gegenüber den Ägyptern gezeigt hat (vgl. TestJos XX,6). Dieses abschließende Summarium der Tugend Joseph bezeugt dessen universale Nächstenliebe wie auch den damit einhergehenden Racheverzicht,42 den er sowohl gegenüber seinen Brüdern als auch gegenüber seinen Sklavenhaltern geübt hat, wodurch ihm die Ägypter, auf der Basis seines Handelns und Entscheidens, wie Familienmitglieder (ὡς ἴδιοι [TestJos XX,6]) wurden. 39 Sie wird wahlweise auch nur als „ἡ Αἰγυπτία“ (TestJos III,1 u. ö.) oder als „ἡ Μεμφία“ (TestJos III,6 u. ö.) bezeichnet. Dieser Abschnitt des TestJos knüpft an die atl. Vorlage aus Gen 39,7–18 an. 40 Vgl. TestJos X,1: „Ὁρᾶτε οὖν, τέκνα μου, πόσα κατεργάζεται ἡ ὑπομονὴ καὶ προσευχὴ μετὰ νηστείας.“ 41 Hier ist vor allem an die Metapher des Lammes gedacht, das einen eschatologischen Sieg erringen wird (vgl. TestJos XIX,3.6); vgl. H. Hollander/M. de Jonge, Commentary, 407–408. 42 Vgl. besonders die Verben „συμπάσχειν“ und „εὐεργετεῖν“.
302
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
9.3.1 Nächstenliebe im TestJos Der Patriarch Joseph zeichnet sich grundsätzlich durch ein hohes Maß an Leidensbereitschaft aus, welche er zugunsten seiner Mitmenschen auf sich nimmt. Dies äußert sich exemplarisch darin, dass Joseph vor den Sklavenhändlern seine wahre Abstammung verschweigt, um seine Brüder nicht zu diskreditieren (vgl. TestJos XI,2). Diese Form des Schutzes der Brüder bedeutet nicht nur die willige Übernahme einer Sklavenexistenz, sondern führt im Hause des Pentephres auch zu Misshandlungen und Gefangenschaft (vgl. TestJos XIII,9; XIV,1–3). Es zeigt sich in diesen Szenen, dass der Schutz der Brüder und der Sklavenhändler als Ausdruck der Liebe ein moralisches Gut darstellt, das einerseits die Lüge rechtfertigt, das andererseits aber auch die Leidensübernahme erforderlich macht. Solche Formen der moralischen Abwägung, in denen der sittlich guten Tat eine moralisch tadelnswerte Handlung wie etwa eine Lüge zugeordnet wird, werden im TestAss breit diskutiert. Leitend ist hierbei die Überzeugung, dass die grundsätzliche moralische Haltung eines Menschen darüber entscheidet, ob seine Einzeltaten ethisch gut oder ethisch schlecht sind. Beispielsweise argumentiert das TestAss, dass eine barmherzige Zuwendung zu den Armen, die durch einen Menschen ausgeübt wird, der sich ansonsten weder der Gottesnoch der Nächstenliebe verpflichtet sieht, aufgrund der ethischen Defizienz des Handelnden nicht als ethisch gut einzuschätzen ist, obgleich Barmherzigkeit als solche moralisch geboten ist (vgl. TestAss II,5–7). Demgegenüber wird aber beispielsweise das Töten eines bösen Menschen als moralisch gut definiert, da zwar einerseits gegen das 6. Gebot verstoßen wird, aber andererseits die Welt von einem Übel befreit wurde, was bedeutender ist als eine Gebotsübertretung (vgl. TestAss IV,2). Aufbauend auf diese Dialektik gelingt es dem TestAss, ein ethisches System zu formulieren, das vom Grundsätzlichen zum Einzelfall hin organisiert ist. Die Schwäche dieses Systems besteht in der Gefahr, die Mittel durch den Zweck zu heiligen. Die Stärke der im TestAss vermittelten ethischen Abwägung liegt in der Konzentration auf die Gesamtzusammenhänge menschlichen Handelns, wodurch eine oberflächliche Einschätzung ethischer Qualität vermieden wird. Interessant ist hierbei die Frage, ob der Mensch hinsichtlich seines ethischmoralischen Status die Summe seiner Taten ist oder ob nicht vielmehr eine einzelne Handlung in sich weder gut noch schlecht ist, sondern vielmehr in untrennbarer Abhängigkeit zur ontischen Qualität des Handelnden steht. Das TestAss basiert auf dem aus der Weisheit bekannten (vgl. Sir 15,11–20) Prinzip der fundamentalen Wahl zwischen Gut und Böse, die in die Verantwortung des Menschen gegeben ist (vgl. TestAss I,3–5). Entscheidet sich der Mensch für den Weg des Guten, der durch Observanz gegenüber dem Willen Gottes definiert ist (vgl. TestAss V,4; VI,1.3), so sind alle seine Handlungen prinzipiell
9.3 Das Testament Joseph
303
ethisch gut. Sollte er dennoch eine Sünde begehen, so erkennt er diese und kehrt sofort um (εὐθὺς μετανοεῖν [TestAss I,6]). Derjenige, der sich wiederum für den Weg des Bösen entschieden hat und damit dem Willen Beliars folgt (vgl. TestAss I,8), kann keine tugendhaften Taten vollbringen. Nach dem Verständnis des TestAss gilt er im Vollzug einer augenscheinlich guten Handlung als heuchlerisch (wörtlich „zweigesichtig“/„διπρόσωπος“ [TestAss III,1]) und verkehrt das Gute schlussendlich in das Schlechte (vgl. TestAss I,8–9). Die Struktur der Szenerie in TestJos XIII,1–9 ist so ausgestaltet, dass sie die Adressaten des Textes zu einem inneren Widerspruch gegen das Erzählte nötigt. Allein vermittels der Wahrheit hätte Joseph den Misshandlungen entgehen und sich selbst aus der Sklaverei befreien können. Darüber hinaus schuldete er seinen Brüdern im Sinne eines quid pro quo keinerlei Loyalität, sondern er hätte vielmehr jedes Recht besessen, Vergeltung einzufordern, anstatt jede erdenkliche Anstrengung auf sich zu nehmen, um die Brüder nur nicht zu beschämen (vgl. TestJos XVII,1). So führt der Text zu einer bewussten Provokation der Leser und illustriert gerade durch diese Anstößigkeit die ethisch vollkommene Tugend des Patriarchen: Indem er sich dem Gesetz Gottes verpflichtet sieht, das gerade auch die Liebe zu den Brüdern besonders hervorhebt,43 nimmt Joseph die Widrigkeiten seiner Situation als Ausdruck seiner Observanz gegenüber dem Gebot Gottes auf sich44 und erweist sich gerade dadurch allen anderen Protagonisten gegenüber als überlegen. Je schroffer die Ungerechtigkeiten werden, die Joseph willentlich erduldet, desto stärker gewinnt er Konturen als „Tugendheld“.45 Zieht man neben der Sorge Josephs um den Schutz der Brüder auch noch die Szenerie in TestJos XVI,4–6 in Betracht, in deren Verlauf Joseph den finanziellen Betrug des Eunuchen gegenüber der Ehefrau des Pentephres durch absichtliches Schweigen deckt, so kann die Ausweitung der in TestJos XI,1 geforderten Bruderliebe zu einer universal verstandenen Nächstenliebe konstatiert werden. Der Schutz, den Joseph seinen Mitmenschen angedeihen lässt, gilt den Brüdern ebenso wie auch dem ägyptischen Eunuchen. Diese Parallelisierung gewinnt unter Verweis auf Dtn 23,2 eine besondere Konnotation und dient dazu, einer Einengung der Nächstenliebe auf eine im wörtlichen wie sozialen Sinne verstandene Bruderliebe zu wehren. Die moralische Qualität Josephs äußert sich eben darin, dass sein Wirken durch eine universal verstandene Nächstenliebe geprägt ist; eine Haltung, für die ihn nach TestJos XX,5–6 ganz Ägypten bewundert hatte.46 43 So wird als paradigmatischer Auftakt diesem Themenkomplex in TestJos XI,1 eine Variation des Doppelgebots der Liebe vorangestellt. 44 Vgl. dazu auch H. Hollander, Ethical model, 46. 45 Für W. Harrelson, Patient Love, 32–34 liegt der Skopus der Idealisierung der von Joseph gelebten Nächstenliebe in einem Werben für ein toratreues Leben, das vor allem den jüdischen Gemeinden in der Diaspora galt. 46 Diese abschließende Notiz in TestJos XX,5–6 ist entweder eine Reminiszenz daran, dass Joseph die Ägypter vor den schlimmsten Auswirkungen der Hungersnot in den sieben
304
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
Die mit der Nächstenliebe einhergehende Verpflichtung, Verfehlungen des Gegenübers nicht anzuzeigen, sondern zu verschweigen und die daraus entstehenden Konsequenzen nicht dem Anderen anzulasten, sondern selbst zu tragen, sind Bestandteil der in TestJos XVII,2 formulierten Definition des Liebesgebotes: „καὶ ὑμεῖς οὖν ἀγαπᾶτε ἀλλήλους καὶ ἐν μακροθυμίᾳ συγκρύπτετε ἀλλήλων τὰ ἐλαττώματα.“ Die dem Handlungssubjekt aufgetragene Langmut (ἡ μακροθυμία)47 ist sowohl eine menschliche Tugend48 als auch eine Eigenschaft Gottes.49 Die genannten Belege für die Langmut Gottes sind, mit Ausnahme von Sir 5,4, allesamt mit einem Verweis auf Gottes Barmherzigkeit kombiniert und rekurrieren häufig auf die Selbstoffenbarung Gottes in Ex 34,6. Setzt man nun die Langmut Gottes in Korrelation mit dem durch Langmut gegenüber den Verfehlungen der Brüder geprägten Verhalten Josephs, so erscheint die durch den Patriarchen geübte Nächstenliebe als Abschattung der Barmherzigkeit und der Vergebungsbereitschaft Gottes. Hierin knüpft das TestJos an die Aussagen zur Vergebung im TestSeb an, und beide Testamente drängen in diesem Zusammenhang auf die Einheit der Brüder, die durch Vergebung erreicht werden kann (vgl. TestSeb VIII,5–IX,3; TestJos XVII,3). „Das Wesen der Nächstenliebe, das sich am Verhalten Josephs ablesen läßt, ist selbstloser Dienst an den Brüdern, der sich gerade dort bewährt, wo diese die Gemeinschaft schuldhaft zerstört haben.“50 Anhand des Vorbilds Josephs wird anschaulich, dass ein gelingendes soziales Miteinander unter den Bedingungen der gelebten Nächstenliebe zum einen die Grenzen und die Erwartungshaltungen einer strikt auf Gegenseitigkeit aufbauenden Moral durchbricht,51 zum anderen aber auch notwendig auf die Bereitschaft zur Vergebung und zum Rechtsverzicht angewiesen ist, welche durch die Betonung der Demut dessen, mageren Jahren bewahrt hatte (vgl. Gen 41,47–57), oder sie kann als Ausdruck dafür gelesen werden, dass die mitleidsvolle Haltung Josephs gegenüber den Ägyptern keine Selbstverständlichkeit war und die Ägypter keinen Anspruch darauf gehabt hätten, da sie nicht zum Haus Jakobs gehörten. In diesem Fall wäre das Verständnis der Nächstenliebe als Bruderliebe Ausdruck einer allgemeinen ethischen Überzeugung, wobei diese Überzeugung durch die Universalisierung der Nächstenliebe vermittels des vorbildlichen Verhaltens Josephs überboten worden wäre. 47 H. Hollander/M . de Jonge, Commentary, 363 erkennen darin die wichtigste Tugend, die im TestJos behandelt wird und der alle anderen tugendhaften Verhaltensweisen unterbzw. beigeordnet werden. R. Kugler, Testaments, 81 ergänzt an dieser Stelle: „Not to be forgotten is the fact that the virtue promoted in this testament is a core value of the Cynic-Stoic ethic. Endurance, ὑπομονή/μακροθυμία, is the key to controlling the passions and avoiding the other vices in the Testamentes. So Joseph is also the model Graeco-Roman citizen.“ 48 Vgl. beispielsweise Prov 14,29; 15,18; 16,32; 17,27; 25,15; Koh 7,8; Sir 5,11; 1Makk 8,4. Zudem beschreibt Jes 57,15 die Langmut des Menschen als eine göttliche Gabe. 49 Vgl. beispielsweise Ex 34,6; Num 14,18; 2Esr 19,17; Ps 7,12; 85,15; 102,8; 144,8; Od 12,7; SapSal 15,1; Sir 1,23; 5,4; Joel 2,13; Jon 4,2; Nah 1,3. 50 Th. Söding, Solidarität, 4. 51 Man vgl. hierzu das Erstaunen der Brüder angesichts der zuvorkommenden Behandlung durch Joseph (vgl. TestJos XVII,4–7).
9.3 Das Testament Joseph
305
der Vergebung und Rechtsverzicht übt, nochmals zugespitzt wird.52 Eine rein auf juristischen Ausgleich bedachte Gesellschaftsstruktur vermag nach dem Duktus des TestJos keine Umsetzung der universal gültigen Nächstenliebe zu ermöglichen, die die Bedingung der Möglichkeit einer ethisch guten Lebensgestaltung darstellt. Allerdings ist die mit der Nächstenliebe verbundene Mahnung, die Fehler (τὰ ἐλαττώματα [TestJos XVII,2]) der Mitmenschen zu verbergen (συγκρύπτειν [TestJos XVII,2]) nicht als eine Aufforderung zur kritiklosen Akzeptanz jedweden Fehlverhaltens misszuverstehen. Dies wird anhand der Auseinandersetzungen zwischen Joseph und der Frau des Pentephres illustriert. So ist den Handlungen und Plänen, die dem Gesetz Gottes (vgl. TestJos IV,6) respektive den Unterweisungen der Väter (vgl. TestJos III,3) widerstreben nicht zuzustimmen, sondern Widerstand zu leisten. Dabei ist nicht an einen Akt der Gewalt gegen die Frevler gedacht, sondern vielmehr an ein Beharren in der eigenen Tugendhaftigkeit, das einhergeht mit dem Bestreben, das Gegenüber von der Verwerflichkeit seiner Pläne und Taten zu überzeugen und dementsprechend zur Umkehr zu bewegen.53 Darüber hinaus muss sich die ethische Integrität des Einzelnen im Widerstand gegen amoralisches Ansinnen des Nächsten besonders dann beweisen, wenn dieses verführerischen Charakter besitzt und gerade im Durchbrechen des göttlichen Gesetzes mögliche Vorteile verspricht. Der Logik der mit ethisch korrektem Verhalten einhergehenden Bereitschaft zur Leidensübernahme entsprechend kann auch der Widerstand gegen amoralische Verlockungen mit dem Erdulden von Entbehrungen und Ungerechtigkeiten verbunden sein (vgl. TestJos VIII,4). In der Darstellung des TestJos vereint der Patriarch in sich das Diptychon von Widerstandskraft gegen Versuchungen und Bereitschaft zum Erdulden von Leiden und integriert dies in den Horizont des Doppelgebots der Liebe, wodurch er zum unübertroffenen und nachahmenswerten „Tugendhelden“ stilisiert wird.54 „Joseph is the example par excellence 52
„καὶ οὐχ ὕψωσα ἐμαυτὸν ἐν αὐτοῖς ἐν ἀλαζονείᾳ διὰ τὴν κοσμικὴν δόξαν μου, ἀλλ’ ἤμην ἐν αὐτοῖς ὡς εἷς τῶν ἐλαχίστων.“ (TestJos XVII,8) 53 Hierin wird wiederum ein Aspekt der Nächstenliebe erkennbar, da der Widerstand zur Besserung des Anderen dienen soll. 54 Ph. Kurowski, Der menschliche Gott, 19–20 erkennt in der Endgestalt der TestXII eine judenchristliche Schrift, wobei er in seiner Analyse sowohl die jüdischen als auch die christlichen Einflüsse gleichberechtigt hervorheben und wechselseitig interpretieren möchte; ein exegetischer Ansatz, den er als „Doppelt-Synchrones Lesen“ bezeichnet. Bezüglich der Ethik der TestXII konzentriert er sich stark auf die Figur des Joseph und analysiert, welche Wirkung die Figur auf die christlichen Autoren der TestXII ausgeübt hat. Siehe dazu Ph. Kurowski, Der menschliche Gott, 167 „In der [sic. Wirkung S. W.] wird Joseph nicht nur Vorbild für jeden Christen, sondern auch zu einem Typos Christi, der alles erleidet, in allem versucht wird und doch selbst ohne Schuld bleibt.“ Die mögliche Identifikation Josephs mit Jesus, ist ein Gedanke, der in Ph. Kurowskis Untersuchungen zu den ethischen Inhalten der TestXII immer wieder begegnet; siehe etwa Ph. Kurowski, Der menschliche Gott, 164: „Imitatio Dei ist imitatio Christi – ist imitatio Iose-
306
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
of someone who remained faithful to God in a time of distress and was afterwards saved from his oppression and exalted and honoured; he became ‚king‘ of Egypt.“55
9.3.2 Das Gottesbild im TestJos Die Tugend Josephs ist in all ihren Facetten eng mit der positiven Relation des Patriarchen zu Gott verbunden, wodurch die ethische Relevanz der Gottesliebe deutlich wird. Die Gottesbeziehung des Patriarchen impliziert einerseits das Vertrauen auf den stärkenden Schutz Gottes56, andererseits die Akzeptanz des Gedankens, dass Gott die moralische Integrität des Menschen erprobt, indem er diesen für kurze Zeit (ἐν βραχεῖ [TestJos II,6]) verlässt und verschiedenen Versuchungen anheim gibt (vgl. TestJos II,6–7). Grundsätzlich wird im TestJos jedoch die Überzeugung vermittelt, dass Gott die Seinen in jedweder Gefahr zu bewahren weiß; entweder durch direktes göttliches Eingreifen (vgl. exemplarisch TestJos VI,2.6) oder durch die Indienstnahme anderer Menschen (vgl. TestJos II,3). Das bewahrende Eingreifen Gottes zugunsten des Patriarchen wird zu Beginn des TestJos in einem, sprachlich an die Poesie der Psalmen angelehnten, Summarium skizziert (vgl. TestJos I,3–7). Doch bleibt bei aller göttlichen Solidarität die Handlungsverantwortung des Einzelnen im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes uneingeschränkt bestehen. Der Mensch wird als ein Geschöpf beschrieben, das in seiner Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung von Gott in die Pflicht gerufen wird. Das TestJos suggeriert, dass die Unterstützung Gottes umso größer wird, desto weniger sich der Mensch ethisch herausfordernden Situationen und Entscheidungen entzieht. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Formulierung, dass Gott bei denen Wohnung nimmt, die sich durch Besonnenheit, Reinheit/ phi, so stellen es die TestXII dar.“ Im weiteren Verlauf wird dies noch deutlicher. So formuliert Ph. Kurowski, Der menschliche Gott, 169: „Joseph gilt als moralisches Vorbild in der Bereitschaft, zu leiden, zu vergeben und das Böse mit Gutem zu vergelten. Er ist ein Vorbild an Selbstbeherrschung und Keuschheit. Er ist damit auch ein Bild Christi, der unschuldig und ohne Sünde leidet, ohne seine Peiniger zu verklagen, der seinen wahren Status, die Sohnschaft von seinem mächtigen Vater, verschweigt und so dessen Rache abwendet. Und der in allem Leid bereit ist zur Vergebung, dessen Liebe zu seinen Brüdern unerschütterlich ist.“ Es muss an dieser Stelle offenbleiben, ob die doppelt synchrone Lesart in der Untersuchung von Ph. Kurowski nicht doch eine stark christliche Hermeneutik aufweist und somit die wechselseitige jüdisch-christliche Auslegung nicht vollständig zum Ziel kommt. Eine ähnliche Hermeneutik findet auch bei R. Kugler, Testaments ihre Anwendung, allerdings nur in sehr knappen Zügen. Darüber hinaus weist auch M. de Jonge, Paränese, 283 auf die Plausibilität eines solchen Forschungsansatzes hin. 55 H. Hollander, Ethical model, 41. Er betont jedoch, dass Joseph mitnichten ein „Tugendheld“ sei, sondern vielmehr ein Beispiel für einen Menschen, der sich in der Not an Gott wendet; vgl. H. Hollander, Ethical model, 42. Damit schränkt er jedoch die Bedeutung zu sehr ein, die Joseph in den TestXII zukommt. 56 Vgl. beispielsweise TestJos III,6.7; IV,3.8; VI,1–7; VII,4; VIII,5; IX,2–5.
9.3 Das Testament Joseph
307
Keuschheit, Geduld und Demut des Herzens auszeichnen.57 In diesem Aspekt des Gottesbildes ähnelt das TestJos dem TestSeb, und analog zu der Argumentation in TestSeb VIII,2 soll auch hier weniger von einer Form der Schechina ausgegangen werden als vielmehr von der Formulierung einer solidarischen Nähe Gottes zu denen, die sich durch tugendhafte Lebensvollzüge auszeichnen. Die göttliche Zuwendung äußert sich dabei nicht nur in der Bewahrung, sondern auch in der Belohnung derer, die sich als ethisch verantwortungsbewusst und gegenüber den Geboten Gottes als treu erwiesen haben. Die Erscheinungsformen positiver innerweltlicher Vergeltung, mit denen Gott die Tugendhaften belohnt, kontrastieren die Erniedrigungen und Ungerechtigkeiten, die der Einzelne zu erdulden hatte.58 So kann die Erfüllung der göttlichen Gebote durch den Menschen also als Ausdruck der Liebe des Menschen zu Gott verstanden werden, in dessen Vollzug der Mensch durch die Vorrangstellung, die das Nächstenliebegebot unter allen Geboten und Satzungen einnimmt, stets auf seinen Mitmenschen verwiesen wird. Während das TestSeb hierbei auf die unterschiedlichen Varianten und Möglichkeiten barmherziger Zuwendung verweist, schärft das TestJos neben der Leidensbereitschaft zugunsten des Nächsten die Überwindung des Bösen durch das Tun des Guten (ἀγαθοποιεῖν [TestJos XVIII,2]) ein. Dieser ethische Leitgedanke, der auch in der lk. Feldrede eine prominente Rolle spielt (vgl. Lk 6,35), wird im TestJos einerseits durch das Verhalten Josephs angesichts unterschiedlicher Anfeindung narrativ ausgeführt, und leitet andererseits über zu der Solidarität Gottes gegenüber denen, die sich seinen Geboten verpflichtet wissen: „καὶ ἀπὸ παντὸς κακοῦ λυτρωθήσεσθε διὰ κυρίου“ (TestJos XVIII,2). Im Gegenzug zur lk. Theologie, die nicht nur Wohltaten für die Feinde, sondern auch Fürbitte einfordert, ist das bittende Eintreten vor Gott für die feindlich Gesinnten im TestJos nur schwach ausgeprägt. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Frau des Pentephres betet Joseph fast ausschließlich nur für sich selbst, und die Bitte, die Ägypterin von der Macht des Geistes Beliars zu erlösen, geht einher mit einer Zurechtweisung der Frau (vgl. TestJos VII,4–5). Im Kontrast zur lk. Ethik spielt der Gedanke der Empathie im Sinne eines Sich-Einfühlens in die Not des Nächsten und ein daraus resultierendes zuvorkommendes Verhalten, auch und gerade gegenüber dem Feind, im TestJos so gut wie keine Rolle. 57 Vgl. TestJos X,2: „καὶ ὑμεῖς οὖν ἐὰν τὴν σωφροσύνην καὶ τὴν ἁγνείαν μετέλθητε ἐν ὑπομονῇ καὶ ταπεινώσει καρδίας, κύριος κατοικήσει ἐν ὑμῖν, ὅτι ἠγάπησε τὴν σωφροσύνην.“ 58 Vgl. TestJos XVIII,1.3–4. Eventuell wird in TestJos XVIII,1 ein eschatologischer Horizont skizziert, doch kann die Rede von dem Segen Gottes durch Güter bis in Ewigkeit auch innerweltlichen Lohn meinen, in dessen Genuss alle nachfolgenden Generationen kommen können, insofern sie sich an die Gebote Gottes halten. Interessant ist die Einschränkung in TestJos IX,3: Der Ruhm, nach dem der Besonnene strebt, wird durch Gott nur dann verliehen, wenn er nützlich ist. Darin offenbart sich zugleich die Gefahr, die von Ruhmsucht ausgehen kann.
308
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
Dementsprechend endet die Szenerie in TestJos VII,1–7 mit der schlichten Feststellung: „καὶ οὐκ ἔγνω ὅτι διὰ τὸν θεόν μου εἶπον οὕτως, καὶ οὐ δι᾿αὐτήν.“ (TestJos VII,7). Daran schließt sich im TestJos auch die Überzeugung an, dass Gott nicht nur den Gerechten von allem Bösen erlösen, sondern dass er auch Rache an jenen üben wird, die das Volk Gottes in Zukunft bedrängen werden (vgl. TestJos XX,1).
9.4 Das Testament Benjamin Das TestBen ist gemäß der genealogischen Reihenfolge der Söhne Jakobs das letzte der zwölf Patriarchentestamente und ihm kommt dabei eine summarische Funktion der zuvor ausformulierten ethischen Paränese zu.59 Dabei zeichnet sich das TestBen nicht durch eine Auflistung aller positiven und negativen Aspekte menschlichen Handelns aus, die in den vorangegangenen elf Testamenten diskutiert wurden, sondern es findet vielmehr eine Konzentration auf die Vorzüge eines ethisch vorbildlichen, durch Gottesfurcht und Nächstenliebe geprägten Lebens statt. Den Adressaten des TestBen wird, nicht zuletzt unter Verweis auf die Tugend Josephs, die Formung und Aufrechterhaltung einer reinen bzw. einer guten Gesinnung (ἡ καθαρὰ/ἀγαθὴ διάνοια)60 anempfohlen. Die Rede von der reinen Gesinnung kann als ein Synonym zu einem ethisch guten Lebenswandel verstanden werden, der im TestBen durch eine Fülle von Charakteristika nahezu stichwortartig umrissen wird,61 worin den Adressaten der Schrift ein Kompendium recht allgemein gehaltener ethischer Anweisungen begegnet, die durch konkrete Lebensvollzüge je individuell umgesetzt werden sollen. Ihre Plausibilität gewinnen die ethischen Forderungen im TestBen sowohl durch ihre Bezugnahme auf den Willen Gottes als auch durch die positiven, lebensförderlichen und -schützenden Konsequenzen, die aus ihnen zugunsten des ethisch Tugendhaften erwachsen. Anhand der Figur Josephs wird dieser Zusammenhang von Tugend und Bewahrung exemplarisch deutlich gemacht, womit das Motiv der Nachahmung Josephs zum Bestandteil ethischer Unterweisung wird.62 Interessant für die Analyse der Ethik im TestBen sind zudem die dort begegnende Ausdifferenzierung des Doppelgebots der Liebe sowie die intertextuellen Verbindungen zu den anderen elf Patriarchentestamenten.
59 Vgl. H. Hollander/M . 60 TestBen III,2; IV,1; V,1;
de Jonge, Commentary, 411. VI,5; VIII,2. In diesen Sachzusammenhang gehört auch die Rede bezüglich eines guten Sinnes „τὸ ἀγαθὸν διαβούλιον“ (TestBen VI,4), sowie die Beschreibung eines tugendhaften Menschen mit dem Begriff „ψυχὴ δικαία“ (TestBen V,5). 61 Vgl. exemplarisch TestBen V,1–VI,7. 62 Vgl. TestBen III,1–VI,1.
9.4 Das Testament Benjamin
309
9.4.1 Das Doppelgebot der Liebe im TestBen Die Aufforderung zur Gottes- und zur Nächstenliebe prägt die ethischen Ausführungen des TestBen, wobei eine Kumulation der Belege in TestBen III festzustellen ist.63 Dadurch wird der Auftakt64 der Paränese stark durch das Doppelgebot der Liebe bestimmt und es kann die Frage gestellt werden, ob die Ethik des TestBen eine Auslegung des Doppelgebots darstellt,65 oder ob lediglich die beiden Bezugspunkte menschlichen Handelns memoriert werden, sodass deutlich wird, dass es kein Verhalten gegenüber dem Nächsten ohne Verantwortung vor Gott und keine Gottesbeziehung ohne Auswirkungen auf den Nächsten geben kann. Die Liebe zu Gott äußert sich zuallererst im Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten (vgl. TestBen III,1; X,3.5), sodann auch in dem atl. Motiv der Gottesfurcht (vgl. TestBen III,3.4; IV,5), wobei beide Aspekte recht allgemeinen Charakter aufweisen und der näheren Definition bedürfen. Aufgrund des narrativen historischen Hintergrunds ist es natürlich nicht möglich, dass aus dem Munde eines Patriarchen beispielsweise der Dekalog oder andere Toragebote aus der Zeit der Wüstenwanderung zitiert werden, doch gelingt die Skizze des Gott Gefälligen durch die Verwendung von Tugendkatalogen, die das Wirken und Entscheiden eines Gott liebenden Menschen beschreiben (vgl. TestBen IV,1–5; VI,2–7).66 Für das TestBen ist es evident, dass der Einzelne in seinen Handlungen, die aus der Liebe zu Gott resultieren, stets auf seinen Mitmenschen verwiesen wird, wobei ein untrennbares Amalgam von Gottesund Nächstenliebe entsteht.67 Dessen eingedenk lässt sich für den Bereich der Ethik im TestBen keine scharfe Unterscheidung zwischen den beiden Liebesgeboten vornehmen,68 vor allem, da eine rein auf Gott bezogene Handlung, wie etwa das Gebet oder die Darbringung von Opfern, nahezu keine Erwähnung findet.69 Vielmehr ist die Rede von der Gottesliebe dadurch gekennzeichnet, 63
Vgl. TestBen III,1.3.4.5; IV,5; VIII,1; X,3.5. Die ersten beiden Kapitel tragen wenig zur ethischen Reflexion bei. Lediglich das Schicksal des ismaelitischen Sklavenhändlers (vgl. TestBen II,4) kann als Vorverweis auf den Schutz Gottes, den die Gerechten genießen, gelesen werden. 65 Für T. de Bruin, Controversy, 51 ist die Ethik der TestXII in ihrer Gesamtheit eine große Interpretation des Doppelgebots der Liebe. Vgl. ähnlich auch Th. Söding, Solidarität, 7. 66 Die enge Verbindung, die der tugendhafte Mensch zu Gott besitzt, wird in TestBen VI,2– 3 dadurch anschaulich gemacht, dass der Mensch, gerade weil er in Gott seinen Lohn erkennt, keine irdischen Vergnügungen wie eigennützigen Reichtum oder üppiges Essen erstrebt. Wiederum wird hier der Einfluss hellenistischer Philosophie deutlich; vgl. H. Hollander/M. de Jonge, Commentary, 427. 67 Vgl. dazu auch Th. Söding, Solidarität, 8. 68 Siehe dazu H. Hollander/M . de Jonge, Commentary, 418 „The love or fear of God can only be realized in living one’s neighbour; both commandments are very closely related.“ 69 Hier gilt es zu präzisieren: In TestBen I,4; III,6 und V,5 finden sich Belege für das Gebet. Allerdings sind diese Gebete mit konkreten Bitten bezüglich des menschlichen Wohlergehens 64
310
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
dass Gott selbst nicht nur als der zu Liebende in Erscheinung tritt, sondern dass Gott sich den Menschen aktiv zuwendet, die Seinen beschützt70 und Wohnung bei denen nimmt, die seine Gebote halten (vgl. TestBen VI,4; VIII,2).71 Die damit einhergehende und bereits für das TestSeb und das TestJos thematisierte Solidarität Gottes mit dem Menschen gewinnt im TestBen eine klare Schutzfunktion gegen die Anfeindungen Beliars.72 Vermittels des Motivs des Teufels wird eine Klammer zum Beginn der TestXII geschaffen, wobei die argumentative Analogie zum TestRub nicht allein in der Verwendung Beliars als des Widersachers Gottes besteht, sondern auch in der Überzeugung, dass die unethischen, den Geboten Gottes widersprechenden Verhaltensweisen einerseits Ausdruck der Beherrschung durch Beliar und seine Mächte darstellt (vgl. TestRub III,2– 8), und andererseits ihr zerstörerisches Potential gerade in deren teuflischer Verortung (vgl. TestRub IV,6–11) begründet liegt. Der göttliche Schutz für diejenigen, die ihr Entscheiden und Handeln an den Geboten Gottes und somit in erster Linie an dem Gebot der Nächstenliebe orientieren, gewinnt im TestBen eine besondere Konnotation. Anhand der Figur Josephs, die im TestBen als zu imitierendes Vorbild eines tugendhaften Lebens dargestellt wird (vgl. TestBen III,1), macht der Autor des TestBen die helfende und beschützende Zuwendung Gottes exemplarisch deutlich (vgl. TestBen III,3–5). So wird zunächst der göttliche Beistand gegen die Anfeindungen verbunden. In TestBen I,4 wird das Bitten Rahels um ein Kind beschrieben, in TestBen III,6 soll Fürbitte für die Brüder Josephs gehalten werden und in TestBen V,5 ist von der Bitte des Gerechten um Bewahrung vor Erniedrigung die Rede. Eine absolute Ausnahme stellt TestBen IV,4 dar: „[…] τὸν θεὸν ἀμυνεῖ“. Hier begegnet der einzige Beleg für eine ausschließlich an Gott gerichtete Handlung, die die Gottesliebe des Einzelnen zum Ausdruck bringt. 70 Vgl. TestBen III,3.4–5; IV,3; V,(1.)2; VI,1. 71 Hinsichtlich der Rede von dem Ruhen des Geistes Gottes auf dem tugendhaften Menschen (vgl. TestBen VIII,2) kann auch an eine Analogie zu Jes 11,2 (LXX) gedacht werden; vgl. H. Hollander/M. de Jonge, Testaments, 433. Neben den positiven Eigenschaften Gottes, die in der göttlichen Zuwendung gegenüber denen, die ihn lieben und fürchten ansichtig werden, kennt das TestBen aber auch das Strafhandeln Gottes, das er gegenüber denen durchsetzt, die sich an den Gott liebenden Menschen vergehen, die die Gebote Gottes nicht befolgen oder die gar von Beliar beherrscht werden (vgl. TestBen II,4; III,6; VII,3–5; IX,1; X,8–10). Dadurch wird, neben allen positiven Motivationen zur Treue und Liebe gegenüber Gott, das Strafhandeln Gottes als negative Handlungsmotiva tion für ein ethisch tugendhaftes Leben in die Argumentation des TestBen eingefügt, doch kann festgestellt werden, dass dieser Aspekt keinen großen Raum einnimmt. 72 Die Einwohnung Gottes begegnet in TestBen VI,4; VIII,2. Beide Belegstellen sind kontextuell eingebunden in die Gefahren, die von Beliar ausgehen und durch die der Mensch zu einem unethischen Verhalten verlockt werden soll, welches ihm schlussendlich nur Tod und Verderben einbringen wird (vgl. TestBen VI,1–VIII,3). Der göttliche Schutz, den der Mensch genießt, wird durch Gott (vgl. TestBen VI,4), den Geist Gottes (vgl. TestBen VIII,2) oder einen Engel (vgl. TestBen VI,1) ausgeübt und dabei findet eine argumentative Kontrastierung der teuflischen Anfeindungen statt, die eben durch Beliar selbst (vgl. TestBen VII,1), durch seinen Geist (vgl. TestBen III,4; VI,1) oder durch ihm dienstbare Geister (vgl. TestBen III,3) ausgeführt werden.
9.4 Das Testament Benjamin
311
der Menschen und auch gegen die Anfeindungen Beliars als direkte Konsequenz der Gottesfurcht formuliert.73 Interessant ist hierbei die Verwendung der Terminologie „ὁ φοβὸς τοῦ θεοῦ“ (TestBen III,4). In TestBen III,374 ist die Mahnung zur Gottesfurcht in das Doppelgebot der Liebe inkludiert und dient darin als Synonym zur geforderten Gottesliebe. TestBen III,4 führt infolgedessen den Schutz aus, den der Mensch aufgrund75 seiner Gottesfurcht genießt, wobei unausgesprochen deutlich wird, dass es Gott selbst ist, der den ihn Fürchtenden gegen alle Angriffe beschützt. Damit wird ersichtlich, dass die Gottesbeziehung des Einzelnen unmittelbare diesseitige Auswirkungen nach sich zieht und der „Lohn“76 für die Treue gegenüber Gott nicht erst im Jenseits zu erwarten ist. Vielmehr erinnert die hier dargestellte gegenseitige Treue und Verbindlichkeit an ein klassisches Dienstverhältnis zwischen einem (königlichen) Herrscher und seinem Vasallen oder auch zwischen einem Patron und seinem Klienten. Die schützende Verbindlichkeit, die Gott den Glaubenden gegenüber erweist, wiederholt sich nochmals in in TestBen III,5, indem die Unüberwindbarkeit des Gott Liebenden gegenüber Menschen und wilden Tieren betont wird. Dabei gelangt die in TestBen ausformulierte Reflexion über das Doppelgebot der Liebe zu einem außergewöhnlichen Spitzensatz: „βοηθούμενος ὑπὸ τῆς τοῦ κυρίου ἀγάπης ἧς ἔχει πρὸς τὸν πλησίον“ (TestBen III,5). Die oben bereits erwähnte gegenseitige Verwiesenheit von Gottes- und Nächstenliebe gipfelt hier in der Interpretation, dass die Realisierung der Gottesliebe grundsätzlich in der liebevollen Zuwendung zum Nächsten besteht. Dadurch rückt das TestBen den Nächsten als Objekt eines ethisch wie religiös vorbildlichen Handelns in den Mittelpunkt und identifiziert den Nächsten und dessen Wohlergehen auch und gerade als Skopus der Gottesliebe. Somit wird im TestBen die Behauptung aufgestellt, dass Gott selbst in seiner Forderung nach Gehorsam und nach Liebe ihm gegenüber letztendlich den Mitmenschen des angesprochenen ethischen Subjekts im Sinn hat. Darin offenbart sich ein Gottesbild, das Gott einerseits als fürsorglich gegenüber den Menschen skizziert und das Gott andererseits als den menschlichen Zuwendungen gegenüber vollständig souverän und enthoben darstellt. Gott bedarf der Liebe der Menschen nicht, aber die Menschen bedürfen der wechselseitigen liebevollen Zuwendung umso mehr. 73
Vgl. TestBen III,4: „[…] σκεπαζόμενος ὑπὸ τοῦ φόβοῦ τοῦ θεοῦ.“ Vgl. TestBen III,3: „φοβεῖσθε κύριον καὶ ἀγαπᾶτε τὸν πλησίον […].“ Prima vista könnte aufgrund der Präposition „ὑπό“ zunächst davon ausgegangen werden, dass die Gottesfurcht das nomens regens des Partizips „σκεπαζόμενος“ darstellt, während der von Beliar Αngefeindete das nomens rectum darstellt. Doch wird bereits zu Beginn von TestBen III,4 Gott explizit als der Beschützende genannt, wodurch die Rede vom Schutz durch die Gottesfurcht auf den Begründungshorizont verweist. 76 Der Begriff „ὁ μισθός“ findet in diesem Zusammenhang im TestBen keine Verwendung, doch soll unter Rekurs auf die lk. Rede vom Lohn dessen, der sich gegenüber den Weisungen Jesu als gehorsam erwiesen hat, auch hier das Lohnmotiv aufgenommen werden, um die Konsequenzen eines gottgefälligen Lebens zu markieren. 74 75
312
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
9.4.2 Das Motiv der Barmherzigkeit im TestBen Die Verquickung von Gottes- und Nächstenliebe wird natürlich anhand der Figur Josephs77 exemplifiziert, indem das Eintreten Josephs zugunsten seiner Brüder gegenüber dem Vater Jakob dargestellt wird (vgl. TestBen III,6– 7). Die Aufforderung Josephs, Jakob möge sich an der Fürbitte für die Brüder beteiligen, damit diese nicht der göttlichen Strafe anheimfallen, unterstreicht zum einen den vergebenden Wesenszug der Nächstenliebe, der auch als Ausdrucksform der Feindesliebe verstanden werden kann. Zum anderen wird die richterliche Souveränität Gottes betont, der zwar grundsätzlich die Feinde der Gerechten bestrafen wird, der aber im Einzelfall offen für die Fürbitte des geplagten Gerechten ist. Darüber hinaus verweist die Szenerie zwischen Joseph und Jakob auf die friedensstiftende Kraft der Vergebung, indem Jakobs Inneres (τὰ σπλάγχνα [TestBen III,7]) durch das Ansinnen Josephs besiegt (νικᾶν [TestBen III,7]) wird, wobei die Milde Josephs (ὦ τέκνον χρηστόν [TestBen III,7]), die sich in seiner Bitte um Vergebung gegenüber den Brüdern zeigt, besondere Betonung erfährt. Die Tugendhaftigkeit Josephs, die sich in Wort und Tat erweist, besitzt also auch gegenüber seinen Mitmenschen ein hohes Maß an Überzeugungskraft, worin auch die Verantwortung gründet, eben jene Überzeugungskraft zum Wohle der zu liebenden Nächsten einzusetzen. Der ethisch Tugendhafte darf sich nach der Darstellung des TestBen nicht in einen Bereich reiner Innerlichkeit zurückziehen, sondern ist dazu angehalten, sich zwischenmenschlicher bzw. gesellschaftlicher Verantwortung zu stellen. Gerade in diesen Bezügen erweist er sich als der Tugendhafte, da auch die Liebe zu Gott, neben der Nächstenliebe die andere Säule der Sittlichkeit, den Einzelnen wiederum seinen Mitmenschen gegenüber verpflichtet. Die Hervorhebung der vollkommenen Tugend Josephs und des damit verbundenen Ruhmes dient im TestBen als Anknüpfungspunkt der von den Adressaten geforderten Nachahmung: „μιμήσασθε οὖν ἐν ἀγαθῇ διανοίᾳ τὴν εὐσπλαγχνίαν αὐτοῦ, ἵνα καὶ ὑμεῖς στεφάνους δόξης φορέσητε.“ (TestBen IV,1) Die Charakteristika eines Menschen, der über eine „gute Gesinnung“ verfügt, werden in TestBen IV,1–VI,7 aufgelistet und dabei findet die Barmherzigkeit mehrfache Erwähnung. So wird die grundlegende Haltung eines sittlich guten Mannes (ὁ ἀγαθὸς ἀνήρ [TestBen IV,1]) durch die Barmherzigkeit (ἡ εὐσπλαγχνία [TestBen IV,1]) definiert, welche einerseits sein mitleidvolles Verhalten gegenüber Armen und Kranken prägt (vgl. TestBen IV,4) und welche sich andererseits durch ihre Universalität, also auch explizit in Bezug auf die Sünder, besonders 77 H. Hollander/M . de Jonge, Commentary, 43 notieren, dass im TestBen der Patriarch selbst als Handlungssubjekt hinter Joseph zurücktritt: „Joseph is the good man par excellence, Benjamin’s ethical conduct is hardly referred to.“ Ähnlich auch R. Kugler, Testaments, 83.
9.4 Das Testament Benjamin
313
auszeichnet.78 Der Gerechte lebt in dem Bewusstsein, dass er aufgrund seiner barmherzigen Einstellung gegenüber den Sündern diese zu besiegen weiß, auch wenn sie ihm gegenüber Böses planen (vgl. TestBen IV,3). Dieses Bewusstsein der eigenen Überlegenheit speist sich aus der Gewissheit der Solidarität Gottes, welcher sich den Seinen gegenüber beschützend und loyal verhält. Auffällig ist, dass das TestBen im Werben um ein von Barmherzigkeit bestimmtes ethisch gutes Verhalten, das durch den Tugendhelden Joseph in besonderer Weise repräsentiert wird, die negativen Erfahrungen Josephs weitestgehend verschweigt. Die Betonung der Rettung durch Gott, die Gewissheit der Überwindung der Feinde durch das Aufrechterhalten barmherziger Zuwendung ist nur durch die Fokussierung auf das Ende der atl. Vorlage der Josephsnovelle möglich. Die Bereitschaft zur Leidensübernahme, die mit der Orientierung an der Barmherzigkeit durchaus auch einhergeht und die im TestJos unter Aufnahme der Josephsgeschichte einen breiten Raum einnimmt, wird an dieser Stelle des TestBen nahezu vollständig außen vor gelassen. Lediglich in TestBen V,5 findet die Möglichkeit einer Leidenszeit des Gerechten eine kurze Erwähnung, wird dort aber als Petitesse abgehandelt. Darüber hinaus basiert die Argumentation des TestBen auf der Überzeugung, dass der tugendhafte Mensch gerade aufgrund seines hohen Ethos die Handlungssouveränität in jedweder Herausforderung seines Lebens und auch gegenüber jedweden Anfeindungen behält und schließlich, nicht zuletzt mit göttlichem Beistand, als Sieger aus allen Konflikten hervorgeht. Die Bewahrung des Tugendhaften und die damit einhergehende Souveränität gegenüber allen, die sich aufgrund ihrer sittlich-moralischen Defizienz in Opposition zu diesem befinden, wird in TestBen V,1–5 breit entfaltet. Das Bild, das hier entworfen wird, skizziert die Überlegenheit des Guten nahezu als eine Art Automatismus: Allein angesichts des tugendhaften Menschen gelangen die Lasterhaften zur Umkehr, da die bloße Existenz des Guten das Böse vertreibt, wie es die Lichtmetaphorik79 in TestBen V,3 grundlegend beschreibt.80 Die unumstößliche Souveränität der ethisch guten Menschen gegenüber den moralisch Verkommenen bildet eine Überzeugung ab, die das TestBen mit anderen frühjüdischen Schriften teilt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, für ein wie auch immer geartetes jüdisches Ethos zu werben.81 78
Vgl. TestBen IV,2: „ἐλεᾷ γὰρ πάντας, κἂν ὦσιν ἁμαρτωλοί.“ Vgl. TestBen V,4: „ἐλεεῖ γὰρ ὁ ὅσιος τὸν λοίδορον καὶ σιωπᾷ.“ 79 Vgl. TestBen V,3: „ὅπου γὰρ ἔνι φῶς ἀγαθῶν ἔργων εἰς διάνοιαν, τὸ σκότος ἀπο διδράσκει αὐτοῦ.“ Vgl. zudem TestBen IV,2: „ὁ ἀγαθὸς ἄνθρωπος οὐκ ἔχει σκοτεινὸν ὀφθαλ μόν.“ Der Dualismus von Licht und Finsternis zur Beschreibung der fundamentalen Opposition zwischen Gut und Böse ist in der antiken, frühjüdischen wie hellenistischen, Literatur weit verbreitet und hat dadurch natürlich auch Eingang in die christlichen Schriften gewonnen. 80 Dem schließt sich auch die Aussage in TestBen VIII,3 an: Ebenso wenig wie die Sonne durch den Mist und den Schmutz, den sie bescheint verunreinigt werden kann, kann auch der reine Verstand nicht durch den Schmutz der Laster verunreinigt werden, selbst wenn er allerorten von diesen umgeben ist. 81 Vgl. beispielsweise die Souveränität der tugendhaften Protagonisten in JosAs.
314
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
Im Gegensatz zur lk. Ethik, die aufgrund ihres christologischen Horizonts die Erfahrung des diesseitigen Leidens und Dienens besonders hervorhebt und erst eine eschatologische Überwindung des Leidens garantiert, ist der Gewinn, der den Adressaten des TestBen aufgrund eines tugendhaften Lebenswandels verheißen wird, in erster Linie ein innerweltlicher. Die Barmherzigkeit stellt eines der wesentlichen Merkmale gelebter Nächstenliebe im TestBen dar und gilt als äußeres Zeichen einer inneren Haltung, die durch die gute Gesinnung („ἡ ἀγαθὴ διάνοια“) maßgeblich geprägt ist. Obschon sich im TestBen neben der barmherzigen Zuwendung zu den Armen, den Kranken und den Feinden eine ganze Reihe anderer äußerer Kennzeichen finden, die auf eine ethisch gute Ausrichtung des Menschen schließen lassen, ist ein ethisch guter Lebensvollzug ohne gelebte Barmherzigkeit nach der Darstellung des TestBen undenkbar. Im Vergleich zum TestSeb, dass die Barmherzigkeit in den Mittelpunkt der ethischen Ausführungen gestellt hat, lässt sich festhalten, dass das TestBen der Thematisierung der barmherzigen Zuwendung zum Nächsten zwar bedeutend weniger Raum zugemessen hat, dass sich jedoch die beiden Patriarchentestamente in den grundlegenden Aussagen zur Barmherzigkeit gleichen: Die Barmherzigkeit eines Menschen äußert sich einerseits in Form der mitleidvollen Zuwendung zu den personae miserae und ist andererseits universell geprägt, sodass sie auch Formen der Feindesliebe miteinschließt. Dabei wird die Barmherzigkeit als eine Emotion verstanden, die das Innere eines Menschen bewegt und den Einzelnen in seiner leiblichen Verfasstheit berührt, wobei sie andere Emotionen, wie beispielsweise Zorn, zu überwinden vermag.82 Letztendlich stellt die Barmherzigkeit einen festen Bestandteil der Nächstenliebe dar und wird damit zum Ausdruck des menschlichen Gehorsams gegenüber dem göttlichen Gebot. Demgegenüber steht der Bruderhass als Ausdruck schwerwiegendster Gebotsverletzung und als Antipode der auf Versöhnung sinnenden barmherzigen Zuwendung. TestBen VII,1–VIII,1 beschreibt den Bruderhass als Konsequenz der Beeinflussung durch Beliar und stellt Kain als Paradigma des Hassenden und des von Gott Bestraften dar. Dabei wird der Neid (ὁ φθόνος [TestBen VII,5; VIII,1]) als wesentlicher Bestandteil des Bruderhasses identifiziert. Damit schließt das TestBen an die Reflexionen über den Neid aus dem TestSim an. Dort wird der Neid als ein Affekt beschrieben, der das Innere des Menschen, namentlich die Leber, verhärtet und den menschlichen Geist blendet (vgl. TestSim I,7), sodass der Einzelne sich sogar gegen die eigene Familie wendet. Der Neid und die Barmherzigkeit berühren beide das Innere des Menschen und schließen einander diametral aus (vgl. TestSim III,6). Entweder ist der Mensch fähig zu Mitleid und Barmherzigkeit oder er ist dem Neid verfallen. Diese fundamentale Differenz wird in TestSim IV,4–6 narrativ unterstrichen, indem die 82
Vgl. TestBen III,7.
9.4 Das Testament Benjamin
315
Barmherzigkeit Josephs gegenüber seinen Brüdern im Allgemeinen und gegenüber Simeon im Besonderen unterstrichen wird. Das TestSim insistiert darauf, dass ausschließlich die Umkehr hin zu Gott den Menschen von der Macht des Neides zu befreien vermag (vgl. TestSim III,4–5).83 Somit wird ersichtlich, dass der Neid nur in Distanz zu Gott und seinen Geboten erstarken kann, wodurch die in TestBen angesprochene Gebotsverletzung durch den Neid eine Rückbindung im TestSim findet.
9.4.3 Die reine Gesinnung im TestBen Das TestBen legt in den Kapiteln IV–VI sein Hauptaugenmerk vor allem auf die Darstellung der Verhaltensweisen, die als Konsequenzen einer guten Gesinnung verstanden werden sollen (vgl. TestBen V,1). Die ethische Unterweisung des TestBen ist konzeptionell dergestalt aufgebaut, dass der einzelne Mensch zunächst in seinem Selbst-, sodann in seinem Gottesbezug wahrgenommen wird, wobei dem Einzelnen ein hohes Maß an ethischer Verantwortung und Selbstbestimmung zugemutet wird. Insofern der Mensch seine Gesinnung (ἡ διάνοια) auf das Gute, auf das ethisch Tugendhafte lenkt und sich somit selbst dem Guten verpflichtet, öffnet er sich für ein sittlich positives Verhalten und grenzt sich zudem gleichermaßen von ethisch verwerflichen Handlungen ab. Die ethisch korrekte Gesinnung ist also von Seiten des Menschen in einem ersten Schritt eine Frage des Willens und der Vernunft, wobei sich aus der festen Anbindung (προσκολλᾶσθαι [TestBen VIII,1]) an die ethisch guten Werke auch eine sittliche Stärkung des Menschen ergibt, da er sich in die Lage versetzt sieht, die Welt mit unverstelltem Blick zu erkennen und Böses von Gutem zu unterscheiden weiß.84 Bezüglich der Anthropologie ist diese Überzeugung bemerkenswert: Grundsätzlich bewegt sich das TestBen mit seiner Hochschätzung der menschlichen Vernunft und der damit verbundenen Erkenntnisfähigkeit im Horizont der hellenistisch-paganen Philosophie der Antike.85 Das Wesen des Guten ist ebenso wie das Wesen des Bösen dem Erkenntnisvermögen des menschlichen Verstandes nicht entzogen, und die Tatsache, dass sich Menschen trotz ihrer Geisteskraft für sittlich disqualifizierte Taten entscheiden, wird auf eine Verwirrung des Geistes, auf ein Geblendet-Sein des Verstandes zurückgeführt. Ist nun die Korrumpierung des Verstandes, sei es durch Begierden (vgl. beispielsweise TestBen VI,2–3), sei es durch die Einflüsse Beliars (vgl. beispielsweise TestBen VI,1), Grund für das moralisch tadelnswerte Verhalten eines Menschen, so kann demgegenüber geschlossen werden, dass ein 83
In TestSim III,4 wird die Gottesfurcht als einziges Heilmittel gegen den Neid benannt. Vgl. hierzu paradigmatisch TestBen III,2: „καὶ ἔστω ἡ διάνοια ὑμῶν εἰς τὸ ἀγαθόν, ὡς κἀμὲ οἴδατε. ὁ ἔχων τὴν διάνοιαν ἀγαθὴν πάντα βλέβει ὀρθῶς.“ Vgl. zudem TestBen IV,2. 85 Vgl. auch H. Kee, Ethical dimensions, 266. Dort wird bezüglich der Formulierung „τὸ ἀγαθὸν διαβούλιον“ (TestBen VI,4) auf die geistesgeschichtliche Nähe zur Stoa hingewiesen. 84
316
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
moralisch guter Lebenswandel letztendlich der Natur des Menschen entspricht. Darüber hinaus befindet sich der Mensch, der seine Entscheidungen und sein Handeln am ethisch Guten orientiert, in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes (vgl. beispielsweise TestBen III,1), während derjenige, der sich dem Bösen zuwendet, unter den Einfluss Beliars gerät (vgl. TestBen VII,1). Dadurch wird natürlich Gott selbst als Garant des Guten und ethisch Vollkommenen markiert, womit Ausgangs- und Zielpunkt eines der Natur des Menschen entsprechenden, guten Verhaltens in Gott selbst liegen.86 Daraus resultiert die zweite Dimension der Bildung und Schärfung einer guten respektive einer reinen Gesinnung: die Gottesbeziehung des Individuums. In Anknüpfung an die oben bereits diskutierte göttliche Bewahrung gegen die Anfeindungen Beliars lässt sich für das TestBen auch eine Unterstützung des Einzelnen in seinem ethischen Bemühen durch Gott feststellen. So baut das ethische System im TestBen nicht nur auf einer Observanz des Menschen gegenüber Gott und seinen Geboten auf, sondern es beschreibt auch die Verpflichtung Gottes gegenüber dem einzelnen Glaubenden.87 Da ein ethisch guter Lebensvollzug untrennbar mit einer fruchtbaren Gottesbeziehung verbunden ist, findet sich in TestBen V,4 sicherlich nicht zufällig die Bezeichnung des ethisch Tugendhaften als eines „ἀνὴρ ὅσιος“. Der Zusammenhang von Frömmigkeit und ethischer Tugend wird anhand eines Summariums von Handlungsbeschreibungen ersichtlich, die das ethisch gute Handeln exemplarisch anschaulich machen. Auffällig ist hierbei die wiederholte Betonung der besonderen Verantwortung des Handelnden gegenüber Gott und infolge dessen auch gegenüber denen, die zu Gott gehören, während jene, die sich von Gott entfernen, durch den Tugendhaften beständig ermahnt und zur Umkehr aufgefordert oder angeleitet werden.88 Zudem zeichnet sich der Fromme durch das Loben Gottes 86 Hier ließe sich systematisch-theologisch ein Exkurs zur Schöpfungstheologie anschließen, doch findet der Begriff der Schöpfung im TestBen ebenso wenig Erwähnung, wie die Bezeichnung Gottes als des Schöpfers. Im Lichte der christlichen Auslegungsgeschichte von Gen 3 ist an dieser Stelle jedoch bemerkenswert, dass die menschliche Unterscheidungsfähigkeit zwischen „Gut“ und „Böse“, die als Resultat des Ungehorsams gegen Gottes Gebot erworben wurde, im TestBen ausschließlich positiv konnotiert ist. Offensichtlich spielt die gesamte Schöpfungstheologie, vor allem aber Gen 2–3 in der Ausformulierung der Anthropologie des TestBen keine Rolle. 87 Eine der interessantesten Formulierungen findet sich hierzu in TestBen IV,3. Dort wird die Bewahrung des Tugendhaften in einem synergistischen Prozess beschrieben, der den Zusammenhang von menschlichem Tun und göttlichem Schutz skizziert: „κἂν βουλεύωνται περὶ αὐτοῦ εἰς κακά, οὗτος ἀγαθοποιῶν νικᾷ τὸ κακόν, σκεπαζόμενος ὑπό τοῦ ἀγαθοῦ.“ 88 Vgl. TestBen IV,5: „τὸν ἔχοντα φόβον θεοῦ ὑπερασπίζει αὐτοῦ, τῷ ἀγαπῶντι τὸν θεὸν συνεργεῖ, τὸν ἀθεντοῦντα τὸν ὕψιστον νουθετῶν ἐπιστρέφει, καὶ τὸν ἔχοντα χάριν πνεύματος ἀγαθοῦ ἀγαπᾷ κατὰ τὴν ψυχὴν αὐτοῦ.“ In diesen Sachzusammenhang gehört beispielsweise auch TestBen V,1–4. Unter der Perspektive auf das LkEv ist nicht zuletzt TestBen V,1 von besonderer Bedeutung. Dort findet sich die Überzeugung, dass die Habsüchtigen sich angesichts eines tugendhaften Menschen nicht nur von ihrer Habsucht distanzieren, sondern dass sie darüber hinaus auch noch ihren unrechtmäßig erwirtschafteten Gewinn den Erniedrigten und
9.4 Das Testament Benjamin
317
aus (vgl. TestBen IV,4) und durch die in Überwindung der Versuchungen Beliars gegründete Unempfänglichkeit für jedweden triebhaften Affekt und auch für menschliche Ehrerbietung (vgl. TestBen VI,1–4).89 Die Widerstandskraft gegen die teuflischen und gegen die allzu menschlichen Versuchungen schöpft der Fromme nicht zuletzt aus der Gewissheit, dass die Teilhabe an der Gottesgemeinschaft sein wichtigster Besitz ist, sodass alle anderen Aspekte menschlichen Strebens dem untergeordnet werden.90 Die gottgefällige und somit tugendhafte Haltung mündet in eine geradlinige Lebensführung, deren Bestreben es ist, jedwede Form der Heuchelei und der Doppelzüngigkeit zurückzuweisen, da dies Merkmale der Werke Beliars sind (vgl. TestBen VI,5–7).91 Dabei soll jedoch mitnichten von einer ethischen Perfektion ausgegangen werden, die der Einzelne in allen seinen Lebensvollzügen stets zu erlangen weiß. Vielmehr ist sich der Fromme der Verfasstheit seines Geistes und der Anfälligkeit seines Inneren bewusst, sodass er bewusst die Nähe Gottes sucht und sich dabei mit allen Kräften von Beliar und seinen Verlockungen distanziert bzw. seine Gesinnung von den Anfeindungen Beliars reinigt, sodass er nicht für schuldig befunden wird (vgl. TestBen VI,7). Das Schuldig-Werden bzw. das Verurteilt-Werden, das an dieser Stelle im Verbund mit einem unethischen und damit dem Willen Gottes widerstrebenden Verhalten verbunden ist, muss nicht notwendig als ein eschatologischer Richterspruch verstanden werden. So formuliert das TestBen zum einen die potentielle Verurteilung dessen, der sich den Werken Beliars hingegeben hat, durch Gott und durch die Menschen (vgl. TestBen VI,7), womit wiederum auf die Erkennbarkeit des sittlich Guten und auf die der menschlichen Natur eigentlich inne liegende Neigung zu einem moralischen Lebenswandel angespielt wird. Zum anderen ist der prophetische Ausblick am Ende des TestBen derart formuliert, dass Gott die Nachfahren Benjamins aufgrund ihres lasterhaften Verhaltens innerweltlich strafen wird (vgl. TestBen IX,1).92 Der Verweis auf Leidenden geben werden. Von einer Aufforderung, dies zu tun, ist gerade nicht die Rede, da die Lebensgestaltung des Tugendhaften genügend Überzeugungskraft beinhalten solle, um ein derartiges Umdenken anzustoßen. Genau jenes Muster findet sich auch in Lk 19,1–10 im Zusammenhang mit der Zachäus-Perikope. 89 In diesem Abschnitt des TestBen zeigen sich Übereinstimmungen oder gar Zusammenhänge mit der stoischen Ethik, in der Genuss- wie Ruhmsucht ebenfalls in dem Wissen abgelehnt werden, dass der Mensch für diese Aspekte höchst anfällig ist; vgl. H. Hollander, Ethical model, 79. 90 In TestBen VI,3 wird dies durch die Formulierung „κύριος γάρ ἐστι μερὶς αὐτοῦ“ knapp auf den Punkt gebracht. Im lk. Denken findet sich hierzu eine sachliche Analogie in Lk 10,42. 91 Eine ähnliche Argumentation weist der Jakobusbrief auf, der die Doppelzüngigkeit des Menschen ebenfalls als unvereinbar mit einem gottgefälligen Lebenswandel definiert (vgl. Jak 3,8–12). 92 Selbstverständlich findet sich auch im TestBen ein Ausblick auf das eschatologische Richterhandeln Gottes (vgl. TestBen X,5–11). Doch wird unabhängig davon auch von einem innerweltlichen Strafhandeln Gottes ausgegangen, ebenso wie auch das bewahrende Heilshandeln Gottes nicht nur eschatologisch, sondern in erster Linie innerweltlich gedacht wird.
318
Kapitel 9: Die Testamente der XII Patriarchen
das drohende Richterhandeln Gottes bildet den negativen Horizont der Handlungsmotivation für eine Lebensgestaltung in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes ab. Angesichts des existentiellen Ernstes, welcher das TestBen einem ethisch guten Lebensvollzug zumisst, wird den Adressaten des Testaments das Streben nach einer reinen Gesinnung dringend anempfohlen, wobei die Bedeutung und der Wert der sittlichen Unterweisung dadurch hervorgehoben wird, dass die Unterweisung selbst als der einzige Besitz Benjamins, den er zu vererben hat, definiert wird (vgl. TestBen X,3–4). Durch das Beispiel Josephs wird das Streben nach einer reinen Gesinnung und der sich daran anschließenden sittlich-moralisch guten Lebensführung in positiver Weise motiviert. Sowohl TestBen III,1 als auch TestBen IV,1 fordern explizit zu einer Nachahmung Josephs auf („μιμεῖσθαι“), wobei das Wissen um den letztlich positiven Verlauf des Lebens Josephs unausgesprochen vorausgesetzt wird. Durch den Rekurs auf Joseph verweist das TestBen innerhalb des Kanons der Patriarchentestamente nochmals zurück auf das TestJos sowie auf alle anderen Testamente, die die ethische Perfektion Josephs als vorbildlich darstellen, und greift zudem das Motiv der imitatio als Form ethischer Unterweisung auf.93 Blickt man von diesem Punkt zurück auf das TestJos, so fügt sich auch der Aspekt der Leidensübernahme, der im TestBen keine Rolle spielt, zu den positiven Ausformungen eines gottesfürchtigen Verhaltens hinzu. Für das TestBen ist es offensichtlich, dass die aufgeführten Verhaltensweisen, die charakteristisch für den Lebensvollzug eines ethisch guten Menschen sind, sich in ihrer Konkretion je unterschiedlich ausgestalten lassen. Von höchster Bedeutung ist jedoch die Beibehaltung einer reinen Gesinnung, die den Menschen zur Umsetzung des Doppelgebots befähigt, auch und gerade unter den Anfeindungen Beliars und angesichts unterschiedlichster Versuchungen. Der Patriarch Joseph gilt diesbezüglich als leuchtendes Beispiel, da er, wie das TestJos und ebenso auch die anderen Patriarchentestamente beschreiben, sowohl mannigfaltigen Versuchungen widerstand94 als auch ein hohes Maß an Leidensbereitschaft zugunsten seiner Mitmenschen bewies. Analog zu den ethischen Ausführungen im TestBen können die Entscheidungen und Handlungen, die Joseph im TestJos zugeschrieben werden, grundsätzlich als Umsetzungen des Doppelgebots der Liebe verstanden werden. Mit den Worten des TestBen gesprochen ist nun also Joseph derjenige,95 der das Doppelgebot der Liebe zum Maßstab seines Handelns gemacht hat und dadurch über eine reine Gesinnung96 verfügt. Aus der 93 H. Hollander, Ethical model, 71.74 geht hierbei noch einen Schritt weiter und betont, dass die Beschreibung eines tugendhaften Mannes in TestBen IV,1–5 eine Projektion göttlicher Charakteristika sei, welche ihrerseits auf das ethische Argument der imitatio Dei verweise. 94 Dazu gehören nicht nur die sexuellen Verlockungen durch die Frau des Pentephres, sondern auch die Möglichkeiten, Rache an seinen Brüdern zu nehmen. 95 Es ist einigermaßen seltsam, dass das TestBen so gut wie nichts über den Patriarchen Benjamin berichtet, sondern Joseph in den Mittelpunkt stellt. 96 Während die Terminologie der reinen Gesinnung in der LXX überhaupt nicht begegnet,
9.4 Das Testament Benjamin
319
atl. Perspektive betrachtet scheint die Darstellung Josephs bzw. die Darstellung eines ethisch vorbildlichen Menschen, wie sie im TestBen begegnet, die Ausformulierung von Jos 22,5 (LXX)97 zu sein, vor allem da dort die Fokussierung auf die Gesinnung des Menschen im Zusammenhang mit der Gottesliebe und der Einhaltung der göttlichen Gebote eine wichtige Rolle spielt. Abschließend soll nochmals betont werden, dass die Darstellung der Tugendhaftigkeit Josephs eine literarische Form der Idealisierung des Patriarchen darstellt, deren paränetischer Sinn gerade in der Aufforderung zur imitatio liegt. Die Nachahmung Josephs soll in Form der Adaption seines Habitus stattfinden, sodass der einzelne Adressat des TestBen in seinen je individuellen Lebensvollzügen eine konkrete Umsetzung eines sittlich guten Lebenswandels in Übereinstimmung mit seiner guten Gesinnung erreichen soll, wobei die Orientierung am Doppelgebot der Liebe von größter Wichtigkeit ist. Im Gegensatz zum lk. Modell der imitatio misericordiae Dei ist die Nachahmung Josephs, obgleich auch Aspekte der Leidensbereitschaft zugunsten der Mitmenschen darin enthalten sind, von der grundsätzlichen Überzeugung geprägt, dass ein ethisch vorbildliches Leben in den diesseitigen Lebensvollzügen unter göttlichem Schutz steht und belohnt werden wird. Die im Alten Testament bezeugte Bewahrung des Patriarchen Joseph durch Gott und sein Aufstieg vom Sklaven zum zweitmächtigsten Mann in Ägypten dient hierfür als Referenz.
ist die im Zusammenhang der Observanz gegenüber den göttlichen Geboten genannte gute Gesinnung in Prov 9,10a (LXX) belegt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Rede von einem „guten Herzen“, vgl. beispielsweise 1Chr 29,19. Offensichtlich scheint es sich bei der guten/reinen Gesinnung um ein Motiv der hellenistischen Philosophie zu handeln, wodurch das TestBen anschlussfähig an die philosophischen Auseinandersetzungen um die Fragen der Sittlichkeit bzw. des sittlich Guten wird. 97 Vgl. Jos 22,5: „ἀλλὰ φυλάξασθε ποιεῖν σφόδρα τὰς ἐντολὰς καὶ τὸν νόμον, ὃν ἐνε τείλατο ἡμῖν ποιεῖν Μωυσῆς ὁ παῖς κυρίου, ἀγαπᾶν κύριον τὸν θεὸν ὑμῶν, πορεύεσθαι πάσαις ταῖς ὁδοῖς αὐτοῦ, φυλάξασθαι τὰς ἐντολὰς αὐτοῦ καὶ προσκεῖσθαι αὐτῷ καὶ λατρεύειν αὐτῷ ἐξ ὅλης τῆς διανοίας ὑμῶν καὶ ἐξ ὅλης τῆς ψυχῆς ὑμῶν.“
Kapitel 10
Der Aristeasbrief – Herrscherethos im Lichte des hellenistischen Frühjudentums 10.1 Prolegomena Der Aristeasbrief schildert in legendarischer Form die Entstehung der LXX in Ägypten unter der Herrschaft des Pharaos Ptolemaios II. (285–247 v. Chr.).1 Der Brief2 ist von Aristeas3 an Philokrates adressiert und beschreibt ausgehend von der Entscheidung, die Bibliothek von Alexandria durch eine qualitativ hochwertige, griechische Übersetzung der Tora zu bereichern,4 die damit zusam1 In der Forschung ist die genaue Datierung der EpArist umstritten. Alle Exegeten stimmen darin überein, dass die EpArist mit Sicherheit nicht in die Regierungszeit Ptolemaios II. zu datieren ist, sondern erst danach entstanden ist. Einige Exegten datieren den Brief auf das Ende des 2. Jhdt. v. Chr.; vgl. K. Brodersen, König, 10; S. Honigman, Septuagint, 11; U. Rappaport, Aristeas, 291; W. Schmidt, Fälschung, 122. Andere datieren auf die zweite Hälfte des 1. Jhdt. v. Chr.; vgl. M. Mulzer, Hebräische Tora, 32 FN 1. 2 Aristeas verwendet den Begriff „διήγησις“, um sein Schreiben zu charakterisieren. Darin gleicht er dem Evangelisten Lukas, der sein Doppelwerk ebenfalls, im Zusammenhang des an Theophilus gerichteten Prologs, als „διήγησις“ beschreibt (Lk 1,1). Offenbar scheinen beide Autoren auf dasselbe literarische Genre zu verweisen. S. Honigman, Septuagint, 30 ordnet die EpArist aufgrund dieser Begrifflichkeit und der daraufhin folgenden narrativen Struktur dem Genre der hellenistischen Historiographie zu, womit wiederum die Nähe zu Lukas deutlich wird. 3 In der älteren Forschung wird oft von Pseudo-Aristeas gesprochen, allerdings hat S. Honigman, Septuagint,1–2 überzeugend dargelegt, dass die Rede von Pseudo-Aristeas nur dann sinnvoll wäre, wenn eine historische Person mit dem Namen Aristeas am Hofe Ptolemaios II. bekannt wäre, sodass ein pseudepigraphes Schreiben eine Referenzperson besäße. Da dies für die Person des Aristeas allerdings nicht der Fall ist, erübrigt sich die Bezeichnung Pseudo-Aristeas. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass Aristeas ein Jude war und nicht, wie der Brief suggeriert, ein nicht-jüdisches Mitglied des ägyptischen Königshofes. In diesem Sinne bemüht der Autor tatsächlich ein Pseudonym und, so K. Müller, Art. Aristeasbrief, 720, „liegt […] ganz auf der Linie literarischer Konventionen jener Zeit […].“ 4 Vgl. EpArist 11.30–32. K. Müller, Art. Aristeasbrief, 722 interpretiert den Aristeasbrief als eine Apologie für „die längst zurückliegende alexandrinische Pentateuchversion“. In diesem Zusammenhang geht K. Müller davon aus, dass die Abqualifizierung der hebräischen Toraabschriften (vgl. EpArist 30) eine für die Apologie notwendige Polemik darstellt. Dem Autor der EpArist sei daran gelegen, einerseits die universelle Gültigkeit der Tora auch und gerade für die griechischsprachigen Völker zu plausibilisieren und andererseits dem Diasporajudentum vermittels einer griechischen Tora „den Weg in die Welt der hellenistischen Kultur zu eröffnen“ so K. Müller, Art. Aristeasbrief, 722. Auch S. Honigman, Septuagint, 53–59 betont die Anstrengungen, die die EpArist unternimmt, um die qualitative und theologische Güte der LXX im Gegenüber zur hebräischen Tora herauszustellen.
322
Kapitel 10: Der Aristeasbrief
menhängenden Ereignisse. Während die Übersetzung der Tora durch die 72 aus Israel gesandten Ältesten5 und die öffentliche Anerkennung des griechischen Textes nur eine sehr randständige Rolle spielen,6 konzentriert sich der Brief vielmehr auf die Ereignisse, die der Übersetzung vorausgehen und in einen diplomatischen Austausch zwischen Ptolemaios II. und dem jüdischen Hohepriester Eleazar eingebettet sind. Dazu gehört einerseits die Bereitschaft des Pharaos, 100.000 jüdische Kriegsgefangene unter hohem monetären Aufwand in die Freiheit zu entlassen,7 andererseits die ägyptische Gesandtschaft nach Jerusalem, an der auch Aristeas teilnimmt8 sowie das siebentägige Symposion, das der Pharao zusammen mit den 72 Ältesten abhält und in dessen Verlauf er die Bildung der Ältesten prüft.9 Der Aristeasbrief kann mit Sicherheit als Produkt eines jüdischen Autors gelten, der in der ägyptischen Diaspora zu verorten ist. Damit rückt der Brief lokal in die Nähe des Romans „Joseph und Aseneth“ und es ist nicht überraschend, dass beide literarischen Werke hinsichtlich der Betonung jüdischer Überlegenheit in Fragen der Religion und der Moral ebenso übereinstimmen wie auch in der Beschreibung der Hochachtung des Judentums und der jüdischen Gebräuche durch die ägyptischen Protagonisten.10 Für die Analyse der ethischen Aussagen des Briefes ist vor allem das siebentägige Symposion von Relevanz, daneben aber auch der Dialog zwischen Eleazar und Aristeas über den tieferen Sinn des jüdischen Gesetzes, der sich vor allem vermittels einer allegorischen Auslegung der Tora erschließt.11 Die 5
Vgl. EpArist 46–50. Vgl. EpArist 301–311. Vgl. EpArist 12–27. E. Matusova, Meaning, 28 interpretiert die Freilassung der Gefangenen als Reminiszenz an Dtn 30,1–3: „Thus, the historically unexplainable event of a simultaneous liberation of one hundred thousands of Jewish slaves […] can be explained as a literary elaboration on the book of Deuteronomy, which promises this event as a sign of God’s benevolence to those who abandon pagan gods and return to the Law among the gentiles.“ 8 Vgl. EpArist 28–171. 9 Vgl. EpArist 187–300. Unabhängig von den Inhalten des Symposions ist die Bildung der 72 nach Meinung von I. Scott, Revelation, 28 von höchster Relevanz für das Verständnis der LXX: „The implication seems to be, again, that God ‚gives‘ laws to humanity, not by supernatural revelation, but less directly through the insights of great minds.“ 10 Vgl. EpArist 182–186. Die kulturelle Sensibilität des ägyptischen Königs, die dieser im Zuge der Vorbereitung des Symposions an den Tag legt, ist natürlich stark idealisiert, was nicht zuletzt an der Notiz, der König habe für jeden Kulturkreis einen zuständigen Beamten, um die Gäste nach deren gewohnten Sitten bewirten und beherbergen zu können, abzulesen ist. Doch liegt in der Beauftragung des Dorotheos, der für die jüdischen Sitten und Gebräuche zuständig ist, eine apologetische Funktion für den weiteren Verlauf der Narration inne: Nur durch die Vergewisserung, dass die jüdischen Gäste nicht mit unreinen Speisen oder mit den für einen solchen Festakt üblichen Götzenopfern in Berührung kommen (vgl. EpArist 184), kann für jüdische Adressaten plausibilisiert werden, dass die 72 Ältesten Tischgemeinschaft mit den Ägyptern eingehen. Dass sich dabei der Pharao den jüdischen Sitten und Gebräuchen anpasst, ist ein erneuter Hinweis auf die sittliche Überlegenheit der Israeliten und auf die Intelligenz der hellenistischen Oberschicht, durch welche diese überhaupt in die Lage versetzt wird, sich mit den Bedingungen eines gottesfürchtigen Lebens auseinanderzusetzen. 11 Vgl. EpArist 142–169. Für E. Matusova, Meaning, 36 liegt die tiefere Bedeutung der 6 7
10.2 Grundsätzliches: Tugend und Tora
323
Untersuchung der EpArist soll nicht nur die ethischen Weisungen beschreiben, sondern auch die Begründungsmuster der Ethik beleuchten. Dabei ist in erster Linie darauf zu achten, ob ggf. eine Korrelation von Gottesbild und Ethik vorliegt und welche Adressaten als ethisch verantwortliche Subjekte angesprochen werden. Im Hinblick auf die Relevanz des Briefes für die Untersuchung der lk. Ethik ist natürlich eine besondere Aufmerksamkeit in Bezug auf die Bedeutung der Barmherzigkeit für das zwischenmenschliche Handeln aufzubringen. Wurde im Zuge der Analysen zum LkEv deutlich, dass barmherziges Handeln nicht nur dem Stärkeren, demjenigen mit der größeren Handlungssouveränität, sondern allen Menschen auferlegt ist, so ist bei der Analyse des Aristeasbriefes darauf zu achten, ob soziale, gesellschaftliche, machtpolitische oder sonstige zwischenmenschliche Bedingungen sich auf ethisch qualifizierte Entscheidungen auswirken, oder ob, analog zum LkEv, ein egalitäres Ethos formuliert wird, das keine Rücksichten auf soziale Stellungen etc. nimmt.
10.2 Grundsätzliches: Tugend und Tora Zum Auftakt der EpArist werden zwei bedenkenswerte Aspekte menschlicher Existenz beschrieben, die nicht zuletzt als maßgeblich für die Abfassung des Briefes angegeben sind: Einerseits wird das Streben des Philokrates nach Wissen zur schriftstellerischen Motivation des Aristeas,12 andererseits ist die damit verbundene Frömmigkeit (εὐσέβεια [EpArist 2]) Anlass für die Schilderung der Begebenheiten im Zusammenhang mit der Übersetzung des göttlichen Gesetzes (ὁ θεῖος νόμος [EpArist 3]). Die Hochschätzung der Frömmigkeit zu Beginn des Briefes wird eingebettet in einen anthropologischen Anspruch, der dem Streben nach Tugend in der Stoa strukturell ähnelt. So wird die Frömmigkeit als „τὸ πάντων κυριώτατον“ (EpArist 2) bezeichnet, was gewissermaßen äquivalent zum Begriff des höchsten Gutes verstanden werden kann.13 „Influenced by the Greek (Hellenistic) combination of εὐσέβεια καὶ δικαιοσύνη, Jewish Hellenism looked for a similar general rule and found it in the combination of εὐσέβεια καὶ φιλανθρωπία, being the summing up of the law. Philo and Aristeas tried to bring the entire law under this conception […].“14
Durch die Frömmigkeit ist der Seele ein Ziel vorgegeben, bei dessen Erreichen sie rein („καθαρός“ [EpArist 2]) wird. Dabei soll der Aristeasbrief als Wegbereiter, als Unterstützer auf dem Weg zur Reinheit der Seele verstanden werdort geschilderten allegorischen Gesetzesauslegung in der Präsentation der Juden als eines philosophisch hoch gebildeten Volkes. 12 Vgl. EpArist 1–2. 13 Die exakte sprachliche Übereinstimmung zum lateinischen „virtus“ wäre „ἀρετή“, allerdings entspricht die Formulierung „τὸ πάντων κυριώτατον“ dem, was „virtus“ auszeichnet. 14 H. Hollander, Ethical Model, 8.
324
Kapitel 10: Der Aristeasbrief
den. So sind sämtliche Reflexionen, die sich mit dem Verhalten und der Lebensführung des Menschen beschäftigen, untrennbar mit Gott oder mit dem göttlichen Gesetz verbunden, sodass Ethik und Frömmigkeit zu einer Einheit verschmelzen.15 Diese wird beispielsweise eindrücklich deutlich anhand der Ausführungen über die Speisegebote, die Eleazar gegenüber Aristeas formuliert. Sie sind das Ergebnis einer allegorischen Auslegung der Tora und werden dadurch zu essentiellen anthropologischen Weisungen. So erfahren die Speisegebote ihren tieferen Sinn nicht im Verbot des Verzehrs unreiner Tiere aufgrund deren axiomatisch festgestellten Unreinheit, sondern sie verweisen vielmehr auf die Erkenntnismöglichkeiten moralischer Defizienz des Menschen.16 In diesem Zusammenhang gelingt es Aristeas, eine Verbindung zwischen der hellenistischen Überzeugung des auf den einen Schöpfer zurückzuführenden einheitlichen GutSeins der Schöpfung und der jüdischen Reinheitsgebote, die notwendigerweise eine Separation zwischen reinen und unreinen Bestandteilen der Schöpfung vornehmen, zu schaffen. Letztlich, so der Tenor des Aristeasbriefs, ist der Wille Gottes in seiner Gesamtheit auf den Menschen und dessen Wohlergehen ausgerichtet. Die menschliche Verantwortung liegt nun darin, den göttlichen Willen zu erforschen und zu erkennen und sich demgemäß auch zu verhalten. Somit erwächst aus einer verständigen Observanz gegenüber dem in der Tora formulierten Willen Gottes die Tugendhaftigkeit des Menschen, wobei die Tugend selbst zum einen als vorzügliche Qualifizierung des Menschen, zum anderen als eine Gabe Gottes verstanden wird.17 Letztlich kann konstatiert werden, dass das in den antiken Diskursen wichtige Motiv der ἀρετή im Sinne des Aristeasbriefes durch eine umfänglich gelebte Frömmigkeit gemäß der Tora erreicht werden kann und sie den Menschen nicht nur qualifiziert und auszeichnet, sondern auch die Werke des Tugendhaften vollendet und ihn vor Anfeindungen des Bösen beschützt. Demzufolge muss Kenntnis und Observanz der Tora ein völkerübergreifendes, universelles menschliches Interesse sein, dem die Entstehung der LXX und deren Verortung in der Bibliothek von Alexandria unmittelbar dient. Anders ausgedrückt: Die in der EpArist beschriebene Zustimmung des Hohe15 Für N. Meisner, Aristeasbrief, 72–76 ist dieser Gedanke Ausdruck starker hellenistisch-philosophischer Einflüsse. 16 Beispielsweise verweist die Unreinheit der Raubvögel darauf, dass es dem Menschen untersagt ist, andere gewaltsam zu unterdrücken (vgl. EpArist 146–147). Anhand der Unreinheit des Wiesels soll der Mensch vor Denunzianten gewarnt werden: Ebenso, wie das Wiesel durch die Ohren empfängt und durch die Schnauze gebiert, handeln auch die Denunzianten, die das, was sie hören in Form von verleumderischen Worten weitergeben und dadurch anderen Menschen Böses zufügen (vgl. EpArist 165–166). Diese seltsame Ansicht über das Wiesel ist, so K. Brodersen, König, 25 „zwar gelegentlich in der Antiken Wunderliteratur zu lesen – der große Philosoph Aristoteles (284–322 v. Chr.) etwa zitiert und kritisiert die Auffassung in seinem Werk Über die Entstehung der Tiere (3,6,5 p.756b) –, aber sicher auch schon manchen Zeitgenossen als sachlich falsch erkennbar gewesen.“ 17 Vgl. EpArist 272.
10.3 Gottesbild und Ethik
325
priesters Eleazar hinsichtlich einer Übersetzung der Tora in das Griechische, der lingua franca des antiken Mittelmeerraumes, ist Ausdruck eines humanitären Aktes größter Sittlichkeit, da die dem Volk Israel gestiftete Offenbarung des Willens Gottes der gesamten hellenistischen Welt zugänglich gemacht wird.
10.3 Gottesbild und Ethik im Aristeasbrief 10.3.1 Die Vorrangstellung des jüdischen Monotheismus Bereits zu Beginn der EpArist wird betont, dass der jüdische Monotheismus durchaus mit der hellenistisch geprägten Verehrung des Zeus vereinbar ist, da es sich letztlich um denselben einen Gott handelt, der lediglich unter verschiedenen Namen bekannt ist.18 Die hier postulierte Uniformität zwischen der hellenistisch geprägten Religionsausübung in Ägypten und der JHWH-Verehrung Israels ist zum einen, wie der Verfasser des Briefes sehr wohl weiß, nur unter Absehung struktureller und theologischer Differenzen aufrechtzuerhalten. So ist beispielsweise die Betonung der Einheit Gottes, die nach EpArist 132 die erste und grundsätzliche Erkenntnis der Theo-Logie Israels darstellt, im hellenistischen Polytheismus nicht anerkannt. Nur im Gespräch mit entsprechenden philosophischen Schulen, wie etwa der Stoa, dem Platonismus oder auch dem Aristotelismus kann eine auf die Einheit Gottes abzielende Übereinstimmung formuliert werden. Allerdings grenzen solche „Gesprächspartner“ den Adressatenkreis des Aristeasbriefs deutlich ein. Durch die Kritik an der Idolatrie,19 die gegenüber den Ägyptern explizit zugespitzt wird,20 scheint eine Reduktion der Adressaten auf die philosophisch gebildeten Mitglieder der hellenistischen Oberschicht21 in Ägypten immer wahrscheinlicher zu werden. 18 19
Vgl. EpArist 16. Vgl. EpArist 135–138. Dieser Abschnitt erinnert stark an die Fremdgötterpolemik in Jes 44,6–20. 20 Vgl. EpArist 138. 21 A. Tcherikover, Ideology, 59–63 verweist demgegenüber auf eine jüdische Adressatenschaft des Briefes und schließt eine Adressierung an nicht jüdische Hellenisten, beispielsweise im Sinne einer Apologie des Judentums, kategorisch aus. Siehe auch A. Tcherikover, Ideology, 69 „To bring the Jews nearer to the Greeks and their culture – this was the aim of Aristeas.“ S. Honigman, Septuagint, 147 betont, dass die EpArist kein Fremdkörper in der ägyptischen Kultur des 1. Jhdts. v. Chr. darstellt, sondern dass sie ein Ausdruck Alexandrinischen Denkens ist und somit, wiewohl von einem jüdischen Autor verfasst, in der ägyptischen Geisteshaltung des 1. Jhdts. v. Chr. inkorporiert ist: „The originality of a work such as B.Ar. [sic. EpArist S. W.], as far as Jewish matters are concerned, relates to secondary aspects. In the light of this, is it really necessary to maintain a category of texts labelled ‚Judaeo-Hellenistic literature‘? It seems much more desirable to define a work such as B.Ar. simply as ‚Alexandrian literature.‘“ Allerdings insistiert S. Honigman darauf, dass die Adressaten der EpArist Alexandrinische
326
Kapitel 10: Der Aristeasbrief
„As far as Pseudo-Aristeas is concerned, the translators have worked almost exclusively in the norms of the target language and culture, and he portrays the LXX as a Greek literary work, highly acceptable to what he presents as the LXX’s target culture – the cultural elite of Hellenistic Alexandria.“22
Dies verleiht letztlich der im Brief formulierten Ethik den ausschließlichen Charakter eines Oberschichtenethos.23 Nur die Mitglieder der gebildeten Oberschicht können nach der Lesart der EpArist gegen die durchschnittliche Volksfrömmigkeit der Einheit Gottes zustimmend in der Art und Weise begegnen, wie sie zu Beginn in EpArist 17 formuliert ist.24 Durch die Betonung des Monotheismus in Israel wird aber zugleich das israelitische Volk von der breiten Masse anderer Völker in der Levante abgehoben: Während diese ihren vielfältigen Formen der Idolatrie anhängen, besitzen jene die Erkenntnis der Einheit Gottes; eine Erkenntnis, die in den Nachbarvölkern nur die Gebildeten und die Mitglieder der Oberschicht auszeichnet.25 Zum anderen gerät die behauptete Äquivalenz durch die Hochschätzung des jüdischen Gesetzes als des göttlichen Willens und vor allem aufgrund der Auslegung des Gesetzes durch Eleazar und die 72 Ältesten in eine deutliche Schieflage.26 So sind es die jüdischen Ältesten, die den Pharao über eine dem Willen Gottes gemäße Lebensführung unterweisen; so ist es der Gott Israels,27 auf den die Darlegungen der Gesandtschaft zurückzuführen sind; und so ist es das jüdische Gesetz, um dessen Übersetzung willen ein unfassbar großer Aufwand getrieben wird. Alles in allem erinnert diese Konstellation der jüdischen Überlegenheit über die restliche hellenistische Welt bei gleichzeitiger Betonung der religiösen wie ethischen Gemeinsamkeiten an die Denk- und ArgumentationsJuden seien und mitnichten die ägyptische Bevölkerung Alexandrias. S. Honigman, Septuagint, 29 entwickelt diesen Standpunkt vor allem aufgrund des Vergleichs von Alexandria und Jerusalem, der in der EpArist angestellt wird und, ihrer Meinung nach, zuungunsten Alexandrias ausfällt: „In such conditions, it is hard to imagine, that Greek Alexandrians would have readily accepted B.Ar.’s comparison between Alexandria and Jerusalem. Imagining a Greek readership for B.Ar. therefore implies a level of polemic going far beyond that displayed elsewhere in the work. […] In short, B.Ar.’s readers were highly educated Alexandrian Jews.“ E. Matusova, Meaning, 41–42 beschreibt die Adressaten des Briefes als in Ägypten lebende Diasporajuden, die philosophisch-hellenistisch gebildet sind und sich Fremdgötterkulten angeschlossen haben. Die Intention der EpArist liege somit in der Rückgewinnung dieser Menschen für das Judentum. 22 B. Wright III, Praise, 288. 23 Siehe X.2.2.1 Das Herrscherethos in der EpArist. 24 Vgl. hierzu auch N. Meisner, Aristeasbrief, 189. 25 Dieser Wissensvorsprung der Oberschicht wird in EpArist 140 explizit erwähnt: Nur die Priester Ägyptens erkennen die herausragende Gotteserkenntnis Israels. 26 Vgl. B. Wright III, Praise, 283: „Pseudo-Aristeas descriptions of the qualities that these men possess and of the symposia in which they participate help support the claim that the LXX […] is an outstanding example of philosophical literature, indeed even better than Greek philosophy.“ Ähnlich argumentiert auch G. Zuntz, Aristeas Studies I, 22.32–33. 27 Eleazar schreibt in seinem Brief an Ptolemaios II. konsequent auch von des Pharaos Frömmigkeit gegenüber „unserem“ Gott, ergo: gegenüber dem Gott Israels (vgl. EpArist 42).
10.3 Gottesbild und Ethik
327
muster Philos, der sich seinerseits darum bemüht hat, die großen Errungenschaften hellenistischer Geistesgeschichte auf jüdisch-atl. Wurzeln zurückzuführen.28
10.3.2 Das Symposion (EpArist 184–294) 10.3.2.1 Das Herrscherethos in der EpArist Hinsichtlich des im Aristeasbrief beschriebenen Symposions, auf dem das Hauptaugenmerk der Analyse liegt, lassen sich zu Beginn zwei strukturelle Besonderheiten feststellen. Die Tätigkeiten, die die 72 Ältesten in Ägypten verrichten,29 bestehen cum grano salis in der Unterweisung des Pharaos im Zuge des Symposions und in der Übersetzung der LXX. Beide Tätigkeiten können als zwei Seiten derselben Medaille verstanden werden und schließen an die in EpArist 127 formulierte Überzeugung an, dass die Erkenntnis des in der Tora niedergeschriebenen göttlichen Willens nicht allein durch das Lesen der Tora, sondern vielmehr auch durch das Hören von Toraunterweisungen zustande kommt.30 Dadurch kann zunächst konstatiert werden, dass das Symposion als eine in 72 Lehrsätze aufgefächerte Unterweisung zu verstehen ist, der nach der Überzeugung von EpArist 127 höchste ethische Relevanz zuzumessen ist. Es kann im Anschluss daran auch die These formuliert werden, dass die Intention der EpArist weniger in der Formulierung bzw. in der Tradierung des Entstehungsmythos der LXX zu suchen ist, als vielmehr in der Formulierung eines Kommentars zu ethischen Inhalten der Tora. Dazu würde nicht nur das Symposion, sondern auch das Gespräch zwischen Aristeas und Eleazar gehören.31 Zum anderen fällt auf, dass die Ausführungen über Gott, über sein Wesen und seinen Willen zum allergrößten Teil auf Fragen und Aspekte des Königtums 28 Vgl. M. Mach, Art. Philo von Alexandrien, 527: „Der von Mose, dem Korybanten, verfaßte Pentateuch […] ist in seiner griechischen Gestalt als Septuaginta die höchste Philosophie. Von Mose lernten die wirklich führenden griechischen Philosophen.“ Ähnlich A. Tcherikover, Ideology, 71.73. 29 B. Wright III, Praise, 283 weist zu Recht darauf hin, dass die (Lehr-)Autorität der 72 nicht zuletzt aufgrund ihrer engen Verbindung zu Gott zustande kommt, da sie in all ihren Antworten Gott zum Mittelpunkt der Argumentation machen: „They draw their superior answers to the king’s questions from their divine legislation – God is at the center of all their responses.“ 30 Vgl. dazu auch D. de Crom, Authority, 152–154. Er sieht darin eine Parallele zum Prolog des Buches Sirach und ordnet die diesbezüglichen Darstellungen in der EpArist der Bemühung unter, die Autorität der LXX zu untermauern. 31 A. Tcherikover, Ideology, 73 versteht die Aussagen, die Eleazar bezüglich der Speisegebote vornimmt, als Beginn der allegorischen Kommentierung der Tora, die mit Philo ihren Höhepunkt erreichen soll. Es wäre auch durchaus plausibel, den Verfasser selbst in den Kreisen der Toralehrer zu verorten. Diesen Lehrern kommt nach EpArist 130 besondere Würde zu, da das Zusammenleben mit einem Weisen die Menschen zu einem tugendhaften Leben motiviert, während die Gesellschaft mit einem Unsittlichen die Menschen verdirbt.
328
Kapitel 10: Der Aristeasbrief
bzw. der Herrschaft des Pharaos zugeschnitten sind. Die ethischen Entfaltungen des Aristeasbriefs sind somit zum größten Teil Darstellungen einer Herrscherethik,32 wodurch auch die Korrelation von Gottesbild und Ethik in erster Linie auf den Pharao als Amtsperson ausgerichtet ist. Die Aspekthaftigkeit, die der Herrscherethik inne liegt, wirkt sich natürlich limitierend auf den Adressatenkreis der Ethik aus: Es kann einerseits daran gedacht werden, dass die Ep Arist tatsächlich nur als ein Fürstenspiegel verstanden werden kann,33 der die ethische Qualifizierung der breiten Masse eo ipso nicht im Blick hat.34 Oder es wäre analog zu den Schriften Senecas, die nicht zuletzt auch Nero als Adressaten der Lehre im Fokus hatten, daran zu denken, dass der Aristeasbrief sich zumindest auch an diejenigen wendet, die im Ringen um τὸ πάντων κυριώτατον voranschreiten und dadurch zu einer elitären Schicht im philosophischen Sinne tugendhafter Menschen gehören.
10.3.2.2 Ein Blick zurück: Die Relation zwischen Gott und König zu Beginn der EpArist Die erste Verbindung zwischen Gott und dem König wird in EpArist 16–17 beschrieben, indem Aristeas den König darauf aufmerksam macht, dass es Gott ist, der das Reich des Pharaos erhält35 und diesem die Macht zu herrschen verliehen hat. Da der Pharao nun gegenüber Gott in einer besonderen Dankesschuld steht, so die Argumentation des Aristeas weiter, könne er diesem Dank dadurch erweisen, dass er die 100.000 israelitischen Kriegsgefangenen in die 32 Vgl. hierzu auch die Kontextualisierung der ethischen Ausführungen. Exemplarisch seien erwähnt: die Fürsorgepflicht des Pharaos für die ihm untergebenen Völker (vgl. Ep Arist 190), das richtige Verhalten gegenüber Bittstellern im Zuge einer Audienz (vgl. Ep Arist 191), die Frage, wie ein Krieg zu gewinnen sei (vgl. EpArist 193), die Frage nach dem Erhalt des Reichtums, die mit einer untadeligen Herrschaft beantwortet wird (vgl. Ep Arist 204–205), die Hervorhebung, dass sich das Lügen ganz besonders für einen König nicht geziemt (vgl. EpArist 206), der richtige Umgang mit Untertanen als Beispiel ethisch guten Verhaltens (vgl. EpArist 207.208), die Frage nach der Ermöglichung einer guten Regentschaft (vgl. EpArist 209) etc. 33 G. Zuntz, Aristeas Studies I, 30 vertritt den Standpunkt, dass die thematische Gliederung des Symposions ausschließlich der Vorlage eines griechischen Fürstenspiegels folgt: „[T]he conclusion seems unavoidable that the author was indeed following a Greek manual on kingship.“ Ähnlich argumentiert auch A. Kovelman, Between Alexandria and Jerusalem, 128, der eine enge Verbundenheit des Briefes zu „Hellenistic treatises of kingship“ erkennt; vgl. ebenso A. Tcherikover, Ideology, 66. 34 Vgl. EpArist 288–290. Dem fügt sich auch die Beschreibung des Symposions in Ep Arist 184–300 ein, da die Gespräche während des Symposions nahezu ausschließlich zwischen dem Pharao und den 72 Ältesten stattfinden und somit vordergründig nur die Interessen des Königs beleuchten. 35 In EpArist 37 teilt der Pharao diese Auffassung und auch Eleazar betont die das Reich des Pharaos schützende und erhaltende Macht Gottes (EpArist 45). In EpArist 195 wird der Gedanke der alles beherrschenden Macht Gottes dahingehend weiter ausgebaut, dass der Mensch schließlich in all seinem Wirken immer dem Walten Gottes unterworfen ist, der die menschlichen Taten und Pläne vollendet (vgl. ebenso EpArist 199).
10.3 Gottesbild und Ethik
329
Freiheit entlässt. Die Konzentration auf die Freilassung der israelitischen Gefangen ergibt sich durch die besondere Verbindung zwischen Gott und dem Volk Israel, da er nur diesem seine Gesetze gegeben habe.36 Die Großzügigkeit, mit der der Pharao schließlich auf die Bitte des Aristeas reagiert, ist nach dem Verständnis des Verfassers nicht allein der Tugendhaftigkeit37 des ägyptischen Königs geschuldet, sondern vielmehr ein Beweis für das Wirken Gottes in der Geschichte.38 Damit beschreibt der Aristeasbrief einen doppelten Zusammenhang zwischen dem Menschen, der sich ethisch gut verhält, auf der einen und Gott auf der anderen Seite: So sind die Richtlinien ethisch korrekter Lebensweise durch die im jüdischen Gesetz begegnenden Formulierungen des göttlichen Willens dargelegt. Das jüdische Gesetz wird demgemäß auch aufgrund seiner göttlichen Urheberschaft als „sehr philosophisch“ (φιλοσοφώτερος [Ep Arist 31])39 und „rein“ (ἀκέραιος [EpArist 31]) charakterisiert, wodurch es in den Status eines allgemeinverbindlichen Handlungskanons erhoben wird, der jedem Menschen auf dem Weg zur tugendhaften Vervollkommnung aufgetragen ist. Doch bedarf der Mensch zur Umsetzung dieser Richtlinien stets der göttlichen Hilfe und Intervention. Letztlich ist es Gott, der im Menschen das Gute wirkt.40 Der Aristeasbrief insinuiert also, dass ein nach ethischen Maßstäben gelingendes Leben ausschließlich in einer guten Gottesbeziehung des Menschen wurzelt,41 was letztlich auch durch die Definition der Frömmigkeit als der alles beherrschenden Kraft veranschaulicht wird. „Mit einem Wort: Gott gibt Willen und Fähigkeit zum Guten wie auch dessen Vollendung.“42 Bereits zu Beginn der Zusammenkünfte zwischen dem Pharao und der israelitischen Gesandtschaft wird die ethische Bedeutung einer intakten Gottesbeziehung markiert. Zunächst findet die Korrelation von Gottesbeziehung und Ethik eine nur beiläufige Erwähnung, indem die 72 Ältesten als „θεοσεβεῖς ἄνδρες“ bezeichnet werden. Analog zum Sprachgebrauch in JosAs ist die Definition eines Menschen als „θεοσεβής“ mit der Erwartung eines Verhaltens ver36 Darüber
hinaus spielt die recht realpolitische Überlegung eine wichtige Rolle, dass Eleazar ein deutliches Zeichen ägyptischer Freundschaft erhalten müsse, bevor er einer Gesandtschaft nach Ägypten zustimmen wird (vgl. EpArist 15; 37). 37 In EpArist 37 wird die Freilassung der Gefangenen, die für den Pharao mit einem nicht unerheblichen Aufwand an finanziellen Mitteln verbunden ist, als „fromm“ (εὐσεβής) definiert, wodurch wiederum das höchste Ziel des menschlichen Strebens in den Vordergrund rückt. 38 Vgl. EpArist 17–18. 39 Die Verwendung dieses Komparativs ist in seiner Merkwürdigkeit zunächst auffällig. Allerdings schließt sich hier sachlich die Szenerie in EpArist 200–201 an, in der die beim Festmahl anwesenden Philosophen durch den Pharao zu einem Lob der 72 Ältesten gedrängt werden und somit deren geistige Überlegenheit anerkennen. Dadurch wird wiederum die Schieflage der Äquivalenz zwischen der hellenistischen und der frühjüdischen Kultur ersichtlich; vgl. auch EpArist 235. 40 Vgl. EpArist 18. 41 Vgl. EpArist 168. 42 N. Meisner, Aristeasbrief, 82.
330
Kapitel 10: Der Aristeasbrief
bunden, das sich am Willen Gottes orientiert und das in Verantwortung vor Gott praktiziert wird. Die sittliche und theologische Qualifikation der 72 Männer steht allein aufgrund der Auswahl durch Eleazar außer Zweifel und wird im Verlauf des siebentägigen Symposions noch bekräftigt.
10.3.2.3 Die Milde Gottes als ethisches Prinzip Schon in der Antwort auf die erste Frage des Pharaos, wie er seine Herrschaft bis zum Ende seines Lebens erhalten könne, wird die Korrelation von Gottesbild und Ethik deutlich: Die Milde (ἐπιείκεια [EpArist 188]) Gottes43 wird zum Maßstab menschlichen Handelns erkoren und vermittels des Modus der Nachahmung (μιμεῖσθαι [EpArist 188]) soll das Denken und Handeln des Pharaos durch die göttliche Milde nachhaltig bestimmt und geprägt werden. Durch Imitation der göttlichen Milde ist es zudem möglich, die Schuldigen nachsichtig zu behandeln, wodurch diese, weniger bestraft als sie es verdient hätten, zur Umkehr (μετάνοια [EpArist 188]) gereizt werden. In der Argumentation von Ep Arist 188 werden ganz konkrete, diesseitige Konsequenzen göttlicher Milde beschrieben, die sich auf all diejenigen positiv auswirken, die im Einflussbereich einer imitatio clementiae Dei44 stehen: Nicht nur der Nachahmer, also der Pharao, hat einen Gewinn, sondern auch diejenigen, die eigentlich keine Milde verdient hätten. Dabei ist weniger die schwache Bestrafung, sondern vielmehr die Eröffnung des Weges zur Umkehr die positive Konsequenz, die die Straftäter für ihr Leben gewinnen können. Deutlich wird aber auch, dass hier ein klares Herrscherethos45 formuliert wird, da es außer Diskussion steht, ob die Nachahmung der Milde Gottes Aufgabe eines jeden Menschen sein könnte. Vielmehr dient die Milde des himmlischen Herrschers dazu, den in der Nachahmung stehenden irdischen Herrscher in dessen Herrschaft zu schützen und ihm eine lebenslange Herrschaft zu sichern.46 43 Die Belege für die ἐπιείκεια Gottes in der LXX sind überschaubar: 2Makk 2,22; (3,15); 10,4; Od 7,42; SapSal 2,15; 12,18; 1Bar 2,27; Dan 3.42. Allen Schriften ist gemeinsam, dass sie nur in der LXX begegnen, wodurch die Schärfung des Gottesbildes im EpArist vermittels der „ἐπιείκεια“ Gottes charakteristisch für ein genuines LXX-Denken ist. Zudem wird der Begriff meistens mit der herrschenden Vollmacht Gottes in Beziehung gebracht, wobei entweder auf die Milde gehofft oder die Milde gepriesen wird. 3Makk 7,6 bezeichnet Ptolemaios I. als milde, da er den besiegten Juden das Leben schenkte. Somit zeichnet sich der Vater des in der EpArist angesprochenen Pharao durch das zentrale Herrschaftsmotiv aus, für das die EpArist wirbt. 44 Mit einem Seitenblick auf die Stoa sei hier der begriffliche Unterschied zwischen Milde (ἐπιείκεια/clementia) und Barmherzigkeit (ἔλεος/misericordia) wahrgenommen und aufgegriffen. Vgl. zum Ganzen die Analyse der beiden Motive im Kapitel zu Seneca. Auch G. Zuntz, Aristeas Studies, 26–27 beleuchtet die hellenistische Tradition der Hochschätzung der Milde als wichtiges Charakteristikum eines Königs. 45 Vgl. W. Schmidt, Fälschung, 115. 46 N. Meisner, Aristeasbrief, 110–128 diskutiert den historischen Hintergrund eines Herrscherethos in Form der imitatio Dei und legt die Verwurzelung dieses Ethos in der (pseu-
10.3 Gottesbild und Ethik
331
Interessant ist jenseits all dieser Herrscherattribute jedoch der Gedanke, dass die göttliche Milde sowie die damit wesenhaft zusammenhängende Barmherzigkeit Gottes47 erkenn- und somit auch imitierbar ist. Darüber hinaus verweist der Brief darauf, dass die Barmherzigkeit Gottes, einmal in menschliches Verhalten eingeflossen, durchweg positiv und lebensfördernd wirkt.48 Die Parallelen zur lk. Argumentation sind dabei unübersehbar, vor allem hinsichtlich des Umgangs mit den Schuldiggewordenen und des damit verbundenen Motivs der letztlich durch göttliche Barmherzigkeit eröffneten Möglichkeit zur Umkehr. Doch ist bei all dem auch die Spannung zum Denken des Evangelisten erkennbar: Weder würde Lukas seine Ethik als Herrscherethik kennzeichnen noch wäre er bereit, die Forderung der Nachahmung der Barmherzigkeit Gottes allein aus Gründen innerweltlichen Machterhalts zu postulieren. Wie die Analyse zu Lukas gezeigt hat, ist dem Evangelisten der Gedanke der innerweltlichen Vergeltung durch und durch fern, da er die Belohnung für ethisch korrektes Handeln in der Nachfolge Jesu und somit in der imitatio misericordiae Dei im Reich Gottes realisiert sieht. Während nun bei Lukas an der Person Jesu das Wesen der göttlichen Barmherzigkeit sichtbar wird, lässt der Aristeasbrief die Frage zunächst offen, wo und wie der Mensch erkennen kann, worin die göttliche Barmherzigkeit respektive die göttliche Milde besteht. Diese Differenz zwischen Lukas und der EpArist zeigt sich auch in der Verwendung der Goldenen Regel. Während der Evangelist unter dem Eindruck der in Jesus offenbarten göttlichen Barmherzigkeit ein verzeihendes, vorauseilendes, liebevolles Verhalten durch seine Variante der positiv formulierten Goldedo-)pythagoreischen Philosophie bzw. in der (pseudo-)pythagoreischen Interpretation Platos dar. Vor allem die Fragmente des Stobaios dienen ihm als Quelle. Siehe N. Meisner, Aristeasbrief, 114: „Der platonisch-pythagoreische Kern dieser Fragmente dürfte deutlich sein. […] Die irdische Sphäre ist der göttlichen nachgestaltet; höchstes Wesen ist (der erste) Gott, dessen ideales Abbild ist der König. Per imitationem Dei kann der historische König seinem Ideal entsprechen, und dieses Ideal ist gedanklich schon gefüllt mit allerlei Königstugenden, wie sie schon sei Isokrates und in der gesamten öffentlichen Meinung des Hellenismus gefordert werden.“ Zudem verweist D. Meisner, Aristeasbrief, 128–135 auch auf die Rezeption der platonischen Imitatio-Vorstellung durch Philo, wodurch, neben der EpArist, ein weiterer Beweis für die Anschlussfähigkeit dieses Herrscherethos im hellenistischen Judentum erbracht werden kann; vgl. N. Meisner, Aristeasbrief, 137. 47 Vgl. EpArist 208. Die Zusammengehörigkeit von Milde und Barmherzigkeit beschreiben auch Od 7,42; 1Bar 2,27 und Dan 3,42. N. Meisner, Aristeasbrief, 48 betont, dass die singuläre Nennung der Barmherzigkeit Gottes ein Hinweis auf die Handschrift des Endredaktors war, der diesen göttlichen Wesenszug ergänzte: „Wir gehen also nicht fehl, wenn wir annehmen, daß der Verfasser selbst den Begriff ‚Erbarmen‘ in den Gottesschluß eingefügt hat. Die Aussagen vom erbarmungsvollen Gott gehören demnach nicht zum israelitischen Weisheitsgut, sondern zum Gottesbild des frommen Diasporajuden.“ 48 Vgl. hierzu auch EpArist 281 sowie in Bezug auf die Milde des Pharaos EpArist 288– 290. Darin zeigt sich auch die Tendenz des Aristeasbriefes, königliche bzw. aristokratische Abstammung grundsätzlich eher zu tugendhaftem Verhalten und somit zu einer entsprechenden Herrschaft befähigt zu sehen als Menschen aus einfachen Verhältnissen.
332
Kapitel 10: Der Aristeasbrief
nen Regel einfordert, bleibt der Verfasser der EpArist weit hinter einer solchen Ethik zurück und verharrt bei einer vagen Formulierung der klassischen Version im Sinne von „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu!“49 Dadurch wird die zu imitierende göttliche Güte zwar nicht vollständig auf der Basis menschlicher Befindlichkeiten charakterisiert, da sie vielfach Bestandteil ethischer Reflexionen in der EpArist ist, aber sie ermangelt des revolutionären Charakters, der ihr durch eine Fokussierung auf das Göttliche zukommen könnte.50 Der Erweis der göttlichen Milde lässt sich, so die in EpArist 192 formulierte Überzeugung, auch anhand des göttlichen Wirkens an und mit den Menschen ablesen. Jeder, der sich mit Bitten und Wünschen an Gott wendet, erfährt die göttliche Zuwendung: sei es durch Erfüllung der Bitten, insofern sie es wert sind, also den göttlichen Ordnungen bzw. dem göttlichen Willen entsprechen, sei es durch Zurechtweisung derer, deren Bitten schädlich sind. Dabei, so der Aristeasbrief, finden die Zurückweisungen, die der Einzelne durch Gott erfährt, ihren Maßstab nicht in der menschlichen Sündhaftigkeit und auch nicht in der göttlichen Machtfülle, sondern allein in der Milde Gottes. Gott wird dadurch als ein selbstbeherrschter, durch den Wunsch nach Erziehung des schlechten Menschen bewegter Souverän dargestellt, der sich auch angesichts klarer menschlicher Bosheit nicht zu (drakonischen) Strafen verleiten lässt, wiewohl diese formaljuristisch gerechtfertigt werden könnten und vor allem auch im Vermögen Gottes liegen würden. Eingebettet ist die so gestaltete Betonung der Milde Gottes in den Horizont der Frage des Pharaos, wie er bei Audienzen als gerechter Herrscher agieren könne. Neben der erneuten Betonung der Egalität im Umgang mit den Untertanen wird dem Pharao also wieder Gott als zu imitierendes Vorbild angepriesen, wodurch sich eine neue Facette der im Aristeasbrief diskutierten Herrscherethik51 erkennen lässt. In Analogie zu den Herrschaftsvollzügen Gottes soll der Pharao sein Wirken als König in seinem Reich gestalten. In der hier verhandelten Frage prägt die Bedeutung der imitierenden Milde so49
Vgl. EpArist 207. N. Meisner, Aristeasbrief, 92–95 diskutiert hier die Goldene Regel im Gegenüber zu deren Verwendung in der griechischen Philosophie und markiert als Problemanzeige, dass die Goldene Regel, die im vorliegenden Zusammenhang auf einen als nahezu unübertroffen dargestellten Herrscher angewandt wird, ihren Sinn verliert, da niemand diesem König etwas anhaben kann. Gott wird gerade nicht als richtende und strafende Größe gegenüber dem Pharao eingeführt. Letztendlich soll der Pharao durch die Goldene Regel vor Machtmissbrauch gewarnt werden, ohne dass den logischen Brüchen der vorliegenden Argumentation Beachtung geschenkt wird. 51 Gemäß der Darlegung von N. Meisner, Aristeasbrief, 144 ist ein solches Herrscherethos aufgrund der in der EpArist angewandten Argumentationsstruktur sowohl für das jüdische als auch für das hellenistische Denken anschlussfähig. G. Zuntz, Aristeas Studies I, 27–28 identifiziert die Antworten auf die ersten drei Fragen des Symposions als Ausdruck hellenistischen Herrscherethos, das im Duktus der EpArist eben auch von jüdischen Gelehrten rezipiert wird. 50
10.3 Gottesbild und Ethik
333
wohl die Selbstwahrnehmung des Herrschers als auch seinen Blick auf die zu beherrschenden Untertanen: Ebenso wie Gott soll der Pharao als verantwortungsbewusster Herrscher agieren, der schädliche Wünsche konsequent zurückweisen, den Zurückgewiesenen aber nicht beschämen oder bestrafen, sondern vielmehr erziehen soll, in der Hoffnung, dass dieser zu einer Besserung findet. Damit verbunden ist auch die Ermahnung, die Menschen nicht zu foltern und sie auch nicht leichtfertig zu strafen (vgl. EpArist 208), sondern stattdessen Barmherzigkeit (ἔλεος [EpArist 208]) zu üben. Im Bewusstsein der Fragilität menschlicher Existenz ist es gerade dem Herrscher aufgetragen, sich in Orientierung am barmherzigen Wesen Gottes („καὶ γὰρ ὁ θεὸς ἐλεήμων ἐστίν“ [EpArist 208]) selbst in Barmherzigkeit zu üben, um seiner Menschenliebe Ausdruck zu verleihen. Dass dabei ein hohes Maß an Selbstbeherrschung vorauszusetzen ist, welches gerade bei unumschränkt herrschenden Menschen nur selten vorhanden ist, prägt nochmals den Duktus des Briefes als einer Unterweisung, einer Erziehung des Herrschenden, welche diesem die Bereitschaft zur Arbeit an sich selbst und zur Verbesserung seiner ethischen Qualität abverlangt.52
10.3.2.4 Genügsamkeit als königliche Tugend Der Aufforderung zur Selbstbeherrschung geht auch die Mahnung zur Selbstbegrenzung und zur Genügsamkeit einher, die nicht nur der Aristeasbrief, sondern auch andere hellenistisch geprägte Denker, wie beispielsweise Seneca, als Kennzeichen eines tugendhaften Menschen anführen. Im Aufblick auf Gott und der Imitation desselben wird in EpArist 211 die Warnung vor Gier formuliert, die zu einem unrechtmäßigen Streben nach Besitz und Gewinn führen kann. So gesteht der Autor dem Herrscher zwar zu, dass er aufgrund seiner menschlichen Verfasstheit mit der Perfektion Gottes nicht mitzuhalten vermag, doch mahnt er den Pharao, sich nach Möglichkeit ebenso bedürfnislos (ἀπροσδεής [Ep 52
Im Hinblick auf die später folgende Analyse von Senecas Schrift de clementia muss an dieser Stelle gefragt werden, ob der Verfasser des Aristeasbriefes einen signifikanten Unterschied zwischen ἐπιείκεια und ἔλεος markiert. Es kann grundsätzlich festgehalten werden, dass die zu imitierende Herrschertugend in erster Linie als ἐπιείκεια beschrieben wird, die ihre Konkretion vorwiegend im Bereich der Rechtsprechung findet (vgl. EpArist 188; 192; 207; [215]; 253–254). Dabei kann analog zu Seneca die Milde als Ausdruck der Tugend verstanden werden, da den König die Tugend grundsätzlich auszeichnet (vgl. EpArist 272). Doch während Seneca eine explizite begriffliche Differenzierung zwischen Barmherzigkeit und Milde vornimmt und sich dabei, nach eigenen Aussagen, gegen eine weit verbreitete Meinung stellt (vgl. Sen.cl. II 4,4), nimmt die EpArist eine solche Trennung nicht vor, sondern benennt die Barmherzigkeit als Bestandteil der Milde Gottes (EpArist 208). Doch bleibt dabei dennoch festzuhalten, dass in der EpArist das Augenmerk auf die Milde Gottes und deren Nachahmung durch den Pharao gerichtet ist, während die imitatio misericordiae Dei darunter subsumiert wird. Darin kommt zum einen wieder einmal die Terminologie eines hellenistischen Herrscherethos zum Vorschein und wird zum anderen im Vergleich mit dem LkEv eine Verschiebung des Fokus von Barmherzigkeit zu Milde Gottes deutlich.
334
Kapitel 10: Der Aristeasbrief
Arist 211])53 und milde (ἐπιεικής [EpArist 211]) zu zeigen wie Gott. Dadurch sollte es dem Pharao gelingen, zur Selbstbeherrschung vorzustoßen und sich damit die Grundlagen guter Herrschaft zu erarbeiten. Ohne Selbstbeherrschung und Mäßigung ist ein tugendhafter Lebenswandel freilich unmöglich, sodass es dem Menschen geboten ist, die Disposition der menschlichen Natur nach Gier und Maßlosigkeit zu überwinden und in dieser Überwindung den Weg zur Tugend einzuschlagen.54 Fraglich ist, ob der Aristeasbrief in der Aussage, der Pharao habe alles, was er benötige, und müsse daher nicht nach Reichtum streben, auf die schlichte Tatsache der reichen Besitztümer eines Königs verweist oder ob hier eine philosophisch-theologische Argumentation im Hintergrund steht, die davon ausgeht, dass der Mensch aufgrund göttlicher Fürsorge sich um seinen Lebensunterhalt nicht sorgen muss. So wird zumindest in EpArist 212 die Überzeugung formuliert, dass Gott den Gerechten mit den größten Gütern versorge; ein Hinweis auf innerweltliche Vergeltung gerechten Tuns einerseits und auf die göttliche Fürsorge für den Menschen andererseits. Die Antwort auf die Frage des Pharaos, wie er alles richtig vollbringen könne,55 betont nochmals die Bedeutung der Relation zu Gott für ein ethisch qualifiziertes Verhalten: Dem Pharao wird eine egalitäre Rechtsauffassung anempfohlen, welche letztlich auf die Gottesfurcht (ὁ θεῖου φόβος [EpArist 189]) zurückzuführen sei. Dem korrespondiert das Motiv der Demut gegenüber Gott, das als Charakteristikum einer intakten Gottesbeziehung beschrieben wird.56 Im Bewusstsein der göttlichen Allwissenheit, in der Verantwortung und der Demut des Einzelnen gegenüber Gott, ist die Grundlage für ein alle Menschen gleich behandelndes Verhalten geschaffen.57 Während also die Nachahmung der göttlichen Milde den Auftakt zu einer guten Herrscherethik bildet, leitet die Gottesfurcht über in eine ethische Konzeption, die durch und durch auf Gott bezogen ist und den Einzelnen als verantwortlich handelndes Gegenüber zu Gott versteht und wahrnimmt. Analog zum LkEv ist der Aristeasbrief davon überzeugt, dass dem Menschen durchaus die Fülle seiner Entscheidungsgewalt zu eigen ist und dass er in all seinem Denken und Handeln dazu aufgefordert ist, sich seiner Verantwortung bewusst zu sein und seine Fähigkeiten zu ethisch guten Entscheidungen auszunutzen. Der Gedanke einer Fremdbestimmung des Men53 Der Terminus scheint ein Spezifikum für die Charakterisierung Gottes zu sein, vgl. W. Bauer/K . Aland, Art. ἀπροσδεής, 205; inkl. eines Querverweises auf 2Makk 14,35; 3Makk 2,9. 54 Zur Mäßigung vgl. EpArist 196; 205; 211; 222–223; 237. 55 Vgl. EpArist 189. 56 Vgl. EpArist 257; 262–263. Siehe dazu auch N. Meisner, Aristeasbrief, 60: „[D]ie Verknüpfung von ταπείνος mit der Kardinaltugend des Königs im Aristeasbrief, der ἐπιείκεια, beweist, daß hier nicht bloß eine Aussage über eine Eigenschaft Gottes gemacht wird, sondern ein paränetischer Zweck erreicht werden soll: Gottes Vorliebe für die ἐπιεικεῖς und ταπεινοί soll dem König diese Eigenschaften empfehlen; das ταπεινός rät dem König nicht, seinen Rang aufzugeben, sondern demütig zu sein.“ 57 Vgl. zum Ganzen EpArist 189; 262–263.
10.4 Summarium
335
schen, beispielsweise durch dämonische Kräfte, durch die Sünde als solcher etc., die es dem Einzelnen unmöglich macht, aus eigener Kraft heraus seiner sittlichen Verantwortung nachzukommen, ist der hellenistischen Anthropologie fremd.58
10.4 Summarium: Ethik als Nachahmung und Observanz Gottes Der Aristeasbrief verfolgt im Laufe des Symposions konsequent die logische Linie, dass der Mensch einerseits zur Nachahmung verschiedener Charakterzüge Gottes, darunter in erster Linie dessen Milde, aufgefordert wird und dass es dem Menschen andererseits recht allgemein aufgetragen ist, sich in seinem Entscheiden und Handeln an Gott als einem ethischen Fixpunkt zu orientieren. In diesem Zusammenhang findet sich auch die Rede von der Nachfolge (κατακολουθεῖν [EpArist 205]) Gottes, worin sich wiederum die grundsätzliche Erkenntnismöglichkeit des göttlichen Willens ausdrückt, ohne dabei näher auf den Modus dieser Nachfolge einzugehen. Um diese Fragestellung zu lösen, wären zwei Antworten plausibel: Einerseits kann davon ausgegangen werden, dass sich in dem zu übersetzenden hebräischen Gesetz der Wille Gottes wiederfinden lässt und dass die Anfertigung der LXX ein notwendiger Bestandteil für den Weg der griechischsprachigen Menschen hin zur Tugend darstellt. Andererseits dürfte die Frage nach dem Modus der Nachfolge und der Nachahmung Gottes gerade in den Ausführungen der 72 Ältesten im Zuge des einwöchigen Symposions beantwortet werden, da sie gewissermaßen auf dem Boden der Tora ein Gebäude ethischer Unterweisung aufbauen und somit eine an die Tradition der Weisheit erinnernde Erziehung des Pharaos erreichen. Letztendlich dient die ethische Unterweisung aber nicht nur dem Herrscher, sondern allen Adressaten des Briefes, die der Oberschicht angehören. Die Nachfolge Gottes wird zudem auch in Verbindung mit der Warnung vor dem Zorn formuliert:59 Die Auffassung, Gott verwalte die Welt mit Nachsicht/Wohlwollen und ohne Zorn,60 dient in der Nachfolge Gottes dem Pharao dazu, sich selbst von Zorn zu befreien. Doch Gott ist nicht nur das Vorbild eines sich mäßigenden, zur Milde und Barmherzigkeit neigenden Herrschers, sondern darüber hinaus auch noch Ga58 Die teuflische Inbesitznahme des Judas scheint die einzige Perikope im lk. Doppelwerk zu sein, die von einer unüberwindbaren Fremdbestimmung des Menschen ausgeht. Doch ist Judas trotz seiner Besessenheit nicht von der Verantwortung für seine Taten entbunden, sondern muss sich den Konsequenzen seines Verrats stellen, was letztlich in seinen gewaltsamen Tod mündet (vgl. Act 1,16–20). 59 Vgl. EpArist 253. 60 Vgl. EpArist 254.
336
Kapitel 10: Der Aristeasbrief
rant der Gerechtigkeit, welche er liebt (ὁ θεὸς φιλοδίκαιός ἐστιν [EpArist 209]). Blickt man auf die vorangegangenen Ausführungen zurück, so wirkt die Mahnung in Bezug auf die Gerechtigkeit in erster Linie als eine Ermahnung des Herrschers. Während die Sünder und Ungerechten trotz ihres offenkundigen Verstoßens gegen die Gerechtigkeit mit Milde und Nachsicht zu behandeln sind, ist der Herrscher dazu verpflichtet, die Liebe Gottes gegenüber der Gerechtigkeit zu teilen: Es entsteht hier der Verdacht, dass diese Verpflichtung nicht nur aus der Überzeugung erwächst, dass der irdische Herrscher den himmlischen Herrscher aufgrund vorhandener Strukturanalogien zu imitieren hat, sondern dass es eben auch nur den Menschen, die zur Gruppe der Gebildeten und der Herrschenden gehören, möglich ist, Gottes Wesen und Gottes Willen zu erkennen, um diesen dann anschließend auch imitieren zu können. Die genannte Imitation (μιμεῖσθαι [EpArist 210]) Gottes findet ihren Niederschlag auch in der Aufforderung an den Pharao, der Welt als Ganzer Gutes zu tun. Darin, so der Aristeasbrief, bestünde das Wesen der Frömmigkeit (εὐσέβεια [EpArist 210]), deren Kraft die Liebe (ἀγαπή [EpArist 229]) ist.61 Diese prägnante Definition der Frömmigkeit ist insoweit von großer Relevanz, als dass sie eine besondere Form der Relation zu Gott in den Vordergrund des religiösen Denkens stellt. Es geht weniger um die strenge Observanz der göttlichen Gebote aufgrund einer Furcht vor der göttlichen Vergeltung, auch ist keine rituelle Disziplin im Mittelpunkt, die beispielsweise Gottesdienste oder die Einhaltung von boundary markers propagieren würde. Vielmehr erschöpft sich die Frömmigkeit weitestgehend in einem ethisch korrekten Lebenswandel, der durch die Nachahmung Gottes entsteht. Hier schließen sich natürlich die Ausführungen zu Gerechtigkeit, Milde, Nachsicht, Barmherzigkeit etc. an, doch scheint der König einerseits auf einer gewissen Form der „Augenhöhe“ mit Gott zu stehen und andererseits kultisch-rituellen Vorschriften entbunden zu sein. Denkbar wäre, dass gegenüber dem Pharao eine Herrscherethik formuliert wird, an die sich auch die heidnischen Herrscher halten können, ohne dass sie sich ri61 Die Liebe wird als eine Gabe Gottes näher bestimmt, durch welche der einzelne Mensch in den Besitz aller Güter kommt (πάντα τὰ ἀγαθά [EpArist 229]). Es bleibt offen, ob es sich bei den Gütern um Besitz oder um moralische Güter handelt. In EpArist 197 werden die Güter den schlechten Dingen gegenübergestellt; wobei alle Menschen sowohl an den einen als auch an den anderen Anteil haben und sich dadurch der Weg in den Gleichmut finden lasse. In diesem Zusammenhang scheinen τὰ ἀγαθά irdische Güter zu sein. Wie man die Güter in EpArist 229 auch definieren mag, findet doch an dieser Stelle des Briefes eine Hochätzung der Agape statt, wie sie auch aus dem Neuen Testament bekannt ist. Es wäre interessant herauszufinden, wieso die Agape in der EpArist nur hier eine dementsprechende Würdigung erfährt, während sie im Neuen Testament, sicherlich auch als Erbe des Judentums, breit entfaltet wird. Nach der ntl. Logik wäre die Agape eben jene Kraft, vermittels derer der einzelne Mensch Anteil an einer Relation zu Gott bekommt, auch wenn er gerade nicht zum Volk Israel gehört. Eine solche Argumentation könnte auch der EpArist zugutekommen, doch scheint die Konzentration viel eher auf der ethischen Verantwortung und auf den kognitiven wie moralischen Fähigkeiten des Herrschers zu liegen.
10.4 Summarium
337
tuell zum Judentum bekennen müssen. Allein aus Gründen der Vernunft und der Gottesfurcht scheint eine derartige Form der Frömmigkeit möglich zu sein, wie sie im Verlauf des Symposions skizziert wird. Die Schwerpunktsetzung auf den Kult ist demgegenüber eine Aufgabe, die allein den Priestern Israels aufgetragen ist und wodurch sich Israel im Bewusstsein seines Erwählt-Seins aber auch vom Rest der Welt abhebt.62
62 Innerhalb Jerusalems ist die Ausübung des Kultes nicht nur beheimatet, sondern wird förmlich als Herzschlag der Stadt Gottes dargestellt; eine Ausübung religiöser Riten, die niemals ruht und mit größtmöglichem Ernst praktiziert wird (vgl. EpArist 92–95).
Kapitel 11
Seneca – Eine Ethik der Vernunft 11.1 Prolegomena In der Vielfalt hellenistisch-römischer Ethikkonzeptionen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts stellt vor allem die von Seneca1 vertretene Variante der stoischen Ethik ein aufschlussreiches Gegenüber zur ethischen Konzeption des LkEv dar. Die Auseinandersetzung mit der Stoa und die Adaption stoischer Denkstrukturen finden im Neuen Testament zwar prominent in den paulinischen Briefen statt,2 doch lassen sich auch in den ethischen Ausführungen des Evangelisten Lukas Argumentationsstrukturen und Wertvorstellungen identifizieren, die, wenn nicht eine differenzierte Kenntnis, so zumindest eine intellektuelle Nähe zur römischen Stoa des ersten nachchristlichen Jahrhunderts aufweisen. Ebenso wie auch die Analyse der frühjüdischen Texte in die Frage nach möglichen Transformationsprozessen mündete, so soll auch die Auseinandersetzung mit der römischen Stoa grundsätzlich unter der Fragestellung erfolgen, inwieweit Lukas durch seine Darstellung der jesuanisch-christlichen Ethik in einen Dialog mit den Einwohnern des Imperium Romanum treten konnte, die in ihrem Denken und Handeln durch die Stoa geprägt waren,3 ohne dass die ethischen Inhalte des LkEv von den durch die Stoa geprägten Menschen als das gänzlich Fremde wahrgenommen wurden. Dabei ist natürlich festzuhalten, dass keinerlei belastbare Hinweise dahingehend vorhanden sind, in welchem Ausmaß die ethischen Ausführungen Senecas die Alltagswelt eines römischen Bürgers überhaupt beeinflusst haben. Doch kann eine solche Aussage auch nicht für die konkreten, alltäglichen Auswirkungen der lk. Ethik getroffen werden. Damit 1 Gemeint ist hier natürlich Lucius Annaeus Seneca der Jüngere (ca. 1–65 n. Chr.), auch Seneca Philosophus genannt. 2 Bereits in der Antike entstand ein apokrypher Briefwechsel, der zwischen Seneca und Paulus stattgefunden haben soll. Dieser Briefwechsel lässt erahnen, wie sehr Denker in der Alten Kirche von manchen argumentativen Analogien zwischen Paulus und Seneca beeindruckt waren; vgl. A. Fürst, Briefwechsel. Tertullian kam in Bezug auf Seneca zu der Aussage, Seneca sei „einer von uns“. Auch die moderne Forschung analysiert die Transformationen zwischen Paulus und der Stoa; vgl. beispielsweise J. Sevenster, Paul and Seneca; T. Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics; M. Pohlenz, Paulus und die Stoa. Dem gegenüber positionierte sich Th. Schreiner, Gegensatz, der entgegen der Forschungsmeinung zu Beginn des 20. Jhdts. die Differenzen zwischen Paulus und Seneca betonte. 3 Vgl. K. Bormann/C h. Strohm, Art. Stoa, 179: „Im 1. Jh. n. Chr. scheint die Stoa zur ‚Modephilosophie‘ in Rom und auch in Teilen Griechenlands geworden zu sein.“
340
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
bleibt letztlich die vergleichende Analyse der literarischen Zeugnisse zweier hochgebildeter Denker aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, die aus einem vergleichbaren4 Kulturkreis stammten, und die beide durch ihr schriftstellerisches Wirken innerhalb ihrer jeweiligen weltanschaulichen Gruppierung einen großen Einfluss besaßen. Die vorliegende Analyse der Ethik Senecas soll im Gegenüber zur lk. Ethik durchgeführt werden. So soll danach gefragt werden, welchen Maximen die Ethik Senecas unterworfen ist und welche Rolle Gott bzw. das Göttliche für einen im Sinne Senecas ethisch korrekten Lebensvollzug spielt. Darüber hinaus soll die Bedeutung der Emotionen in der ethischen Argumentation Senecas, im besonderen Maße die Bedeutung der Barmherzigkeit untersucht werden. Zudem wird auf mögliche materialethische Übereinstimmungen, oder wenigstens Analogien, zu achten sein, die sich im Vergleich zwischen dem Evangelisten und dem Philosophen möglicherweise ergeben. Die Untersuchung soll einen Blick auf die lk. Ethik aus der Perspektive der jüngeren Stoa ermöglichen und sowohl plausible Transformationen als auch eindeutige Abgrenzungen sichtbar machen. Dabei werden die epistulae morales5 als Grundlage der Untersuchung herangezogen, da in ihnen die Ethik Senecas breit entfaltet wird.6 Andere Schriften Senecas finden bei Bedarf Anwendung zur Verdeutlichung der Position des Philosophen.
11.2 Die Bedeutung Gottes in der Ethik Senecas 11.2.1 Grundsätzliche Erwägungen Grundlage aller ethischen Ausführungen Senecas ist das Motiv der sittlichen Vervollkommnung (virtus) des Menschen. Seneca ist davon überzeugt, dass 4 Seneca und Lukas ähneln sich in ihrem Bildungsniveau und in ihrer kulturellen Prägung durch die westliche Hemisphäre des hellenistisch-römischen Kulturkreises. Auch wenn Lukas mit Sicherheit nicht denselben Reichtum oder gar denselben politischen Einfluss wie Seneca aufzuweisen hatte, ist ihm Wohlstand nicht fremd. Seneca und Lukas verfügten beide über ein umfangreiches philosophisches, geographisches und historisches Wissen, das ihre Schriften beeinflusste. Die frühjüdische Prägung des Evangelisten ist dem Stoiker jedoch fremd. 5 Die Edition des lateinischen Textes wurde von F. Prechac besorgt, die deutsche Übersetzung wurde von M. Rosenbach angefertigt und herausgegeben. Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die genannte Übersetzung der lateinischen Zitate in den Fußnoten wiedergegeben. 6 Vgl. hierzu etwa Einschätzung von G. Maurach, Seneca, 173–177, der die epistulae morales als motivierendes, belehrendes und unterweisendes Werk begreift, durch das Seneca seinen Lesern auf dem Weg zur Sittlichkeit behilflich sein will. Ob die Sammlung der epistulae morales nun tatsächlich einen konkreten Briefwechsel zwischen Seneca und seinem Freund Lucilius darstellt (vgl. P. Grimal, Seneca, 155–158) oder ob die Form des Briefes möglicherweise eine literarische ist, mit der ein breites Publikum angesprochen werden könnte (vgl. G. Maurach, Seneca, 174), sei hier dahingestellt.
11.2 Die Bedeutung Gottes
341
sich die Qualität eines menschlichen Lebens ausschließlich am Grad der gelebten Sittlichkeit bemessen lässt.7 Dabei ist nicht nur jeder Mensch notwendig auf die Verbesserung seiner Sittlichkeit angewiesen, da niemand als sittlich vollkommener Mensch geboren wird,8 sondern es steht darüber hinaus auch jedem Menschen offen, das eigene Leben nach den Maßstäben der Sittlichkeit zu gestalten. Diese Fähigkeit ist dem Menschen aufgrund seiner natürlichen Anlagen gegeben und wurzelt in seiner Vernunft.9 Die Vernunft wohnt der Seele des Menschen inne10 und ist nicht nur das entscheidende Differenzkriterium zwischen dem Menschen und allen übrigen Lebewesen,11 sondern darüber hinaus auch das Einzige, wodurch der Mensch den anderen Lebewesen überlegen ist.12 Somit ist es dem Menschen aufgetragen, seine Vernunft zu gebrauchen, seinen Verstand zu schulen und sich dadurch selbst zu einem tugendhaften Lebewesen zu entwickeln, dessen sittliche Qualität in dem Maße ansteigt, in dem sich der Einzelne in seinem Denken und Handeln den Geboten der Vernunft unterwirft und sich nicht von niederen Affekten, von Instinkten und Begierden leiten lässt.13 Letztlich kann sich der Mensch seines Mensch-Seins nur vermittels eines vernunftgemäßen Lebens versichern.14 Die Konzentration des handelnden Subjekts auf sich selbst, auf die je eigenen Fortschritte im Bereich des Sittlichen, ist charakteristisch für Senecas Ethik. Das Wohlergehen der Mitmenschen, der Gesellschaft oder, prominent, des Staates, das durch eine tugendhafte Haltung des Einzelnen gefördert wird, beschreibt mitnichten den Zweck des ethischen Modells. Vielmehr sind dies lediglich positive Effekte eines sittlichen Handelns, in deren Genuss die Umwelt kommt, während das Ziel allen ethisch korrekten Verhaltens im Erreichen der sittlichen Vollkommenheit (virtus) besteht, die gleichzusetzen ist mit 7
Vgl. Sen.ep. 101,15. Vgl. Sen.ep. 76,9; 124,7–8. 9 E. Schirok, altera quaestio, 232 formuliert pointiert: „Damit ist die Gleichheit aller Menschen von ihrem Ursprung und ihrem Ziel her definiert, die Verwirklichung und Umsetzung aber in die Hand eines jeden einzelnen gelegt.“ 10 Vgl. Sen.ep. 41,8. 11 Vgl. Sen.ep. 76,10: „Quid est in homine proprium? Ratio: haec recta et consummata felicitatem hominis implevit.“ – „Was bestimmt am Menschen die Wesenseigenart? Die Vernunft: sie, wenn richtig und vollkommen, erfüllt das Glück des Menschen.“ 12 Seneca führt zu diesem Gedanken aus, dass alle äußerlichen Qualitäten, die ein Mensch erreichen können mag und die er durch Anstrengung zu verbessern sucht, wie etwa Schnelligkeit, Stärke, Schönheit etc., stets durch irgendein Tier übertroffen werden. Es bleibt dem Menschen allein die Vernunft. Darin kann er nicht von einem anderen Lebewesen übertroffen werden (Sen.ep. 124,22–23). Ähnlich argumentiert Seneca auch bezüglich der Dinge, die dem Menschen angenehm erscheinen, wie etwa Essen und Sexualität, aber keine Güter sind, da auch hier der Mensch von den Tieren übertroffen wird (vgl. Sen.ep. 74,15). 13 Vgl. beispielsweise Sen.ep. 39,5–6. 14 Worin diese Lebensführung besteht und inwiefern sie sich von dem abgrenzt, was zur Zeit Senecas als Ausdruck eines guten Lebens verstanden worden ist, soll im Folgenden im Zuge der materialethischen Konkretionen ausschnittweise beleuchtet werden. 8
342
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
Glück15 und Freiheit.16 Das Streben nach Glück und die Suche des Menschen nach vollkommener Freiheit kulminieren zur bestimmenden Handlungsmotivation, die der Ethik Senecas zugrunde liegt. Wahrhaft frei kann nur derjenige sein, der sich uneingeschränkt tugendhaft verhält, und dabei spielen die äußeren Gegebenheiten seiner Existenz keine Rolle: So kann beispielsweise ein Sklave die vollkommene Freiheit erreichen, wenn er sich ganz der Sittlichkeit verschrieben hat, und dabei doch nach wie vor physisch in der Sklaverei verharren.17 Im Diskurs der philosophischen Schulen der Antike, die allesamt die Frage nach dem Glück traktierten, positioniert sich der Stoiker Seneca also dahingehend, dass Glück beispielsweise nicht im Vermeiden körperlicher Schmerzen und der völligen Ruhe der Seele zu finden sei,18 sondern in der sittlichen Vervollkommnung des Menschen. Indem diese Vervollkommnung einerseits durch die Unterwerfung unter die Vernunft erreicht wird, andererseits die Vernunft ein exklusiver Bestandteil der menschlichen Natur ist, ist ein sittliches Verhalten sowohl vernünftig als auch naturgemäß,19 wodurch letzten Endes innerhalb der stoischen Logik niemand ernsthafte Einwände gegen das Streben nach Sittlichkeit vorzubringen vermag.
11.2.2 Gott in der Philosophie Senecas Die Existenz Gottes ist für die Stoiker unbestreitbar,20 während sie jedoch den von Mythen und Fabeln geprägten, allzu menschlichen Polytheismus ablehnen. Vielmehr wird die vollkommene Tugend Gottes betont, die sich nicht zuletzt 15 16
Vgl. Sen.ep. 74,29. Vgl. Sen.ep. 51,9: „Libertas proposita est; ad hoc praemium laboratur.“ – „Freiheit ist das Ziel; um diesen Preis wird gerungen.“ 17 Vgl. Sen.ep. 47,15–17. 18 Die beiden genannten Aspekte, Freiheit von Schmerzen und Seelenruhe, durch die das Glück erreicht werden soll, entstammen der Schule Epikurs. Interessanterweise steht Seneca, im Gegensatz zu anderen Stoikern, nicht in einer fundamentalen Opposition zu Epikur, sondern integriert manche Aspekte des epikureischen Denkens in seine eigenen Schriften; vgl. hierzu vor allem die ersten sieben Bücher der epistulae morales (Sen.ep. 1–69). Dort wird sogar mit Hochachtung von Epikur gesprochen (vgl. etwa Sen.ep. 7,11). Allerdings grenzt sich Seneca stets von einem vulgären Verständnis Epikurs ab, das ausschließlich luxuriöse Sinnesund Gaumenfreuden zum Inhalt des epikureischen Leitmotivs der ἡδονή erkor (vgl. Sen.ep. 18,9–10). 19 Vgl. Sen.ep. 66,41. 20 Vgl. Sen.ep. 117,5: Hier wird der Glaube an die Götter als opinio communis dargestellt, wobei der Plural „Götter“ auffällig ist. Grundsätzlich stimmt Seneca hier mit einem Diktum Ciceros überein, dass die grundsätzliche Existenz der Götter unzweifelhaft ist, während es über die Erscheinungsformen unterschiedliche Meinungen gibt (vgl. Cicero, n. d. II,12). Doch spielt bei Seneca der Polytheismus ansonsten in der Argumentation keine prominente Rolle. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr, dass Gott existiert und dass seine Existenzweise in Übereinstimmung mit der sittlichen Vollkommenheit steht (vgl. Sen.ep. 124,14). Rhetorisch wechselt Seneca in den epistulae morales zwischen „deus“ und „dii“ ohne erkennbare Systematik hin und her.
11.2 Die Bedeutung Gottes
343
durch eine Projektion stoischer Ideale auf das Wesen Gottes ergibt. Nach der Überzeugung Senecas zeichnet sich Gott etwa durch eine vollständige Bedürfnislosigkeit aus,21 und anhand der göttlichen Verhaltensweisen wird ersichtlich, dass es sich bei sensorischen Genüssen mitnichten um echte Güter handeln kann, da auch Gott sich nicht nach Reichtum oder nach Festmählern sehnt. Die theologischen Ausführungen Senecas lassen sich einbetten in seine Reflexionen über die Begierden, die das Individuum stets gefangen nehmen und dadurch am Erreichen seiner Freiheit hindern.22 Gott, dessen ist sich Seneca sicher, existiert in sittlicher Vollkommenheit23 und kann in seiner Freiheit und seinem Glück durch nichts erschüttert werden. Zwar bedarf Gott gerade wegen seiner vollendeten Freiheit auch des menschlichen Dienstes nicht,24 doch existieren einige wichtige Verbindungen zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur. So wird zunächst die Schöpfermacht Gottes betont, durch die die Welt nicht nur entsteht,25 sondern auch bewahrt wird.26 Aufgrund seiner vollendeten Sittlichkeit will Gott den Menschen dienen und ihnen Gutes zukommen lassen. Während er als pädagogische Maßnahme den Einzelnen auch straft, richtet er unter der Menschheit grundsätzlich keinen Schaden an, da ein solches Verhalten seinem tugendhaften Wesen fremd ist.27 Die wichtigste Verbindung zwischen Gott und dem Menschen findet sich jedoch im Bereich der Sittlichkeit und erschöpft sich nicht allein in der Anschauung Gottes und der daraus erwachsenen göttlichen Vorbildlichkeit. Vielmehr spricht Seneca davon, dass die Vernunft 21 Vgl. Sen.ep. 9,16: „Qualis est Iovis, cum resoluto mundo et diis in unum confusis paulisper cessante natura adquiescit sibi cogitationibus suis traditus. Tale quiddam sapiens facit: in se reconditur, secum est.“ – „Wie es mit Juppiters [Existenz] steht, wenn er – da sich auflöst die Welt und die Götter in eins verschmelzen, während die Natur ein wenig stehen bleibt – in sich selbst zur Ruhe kommt, seinen Gedanken hingegeben. Etwas Derartiges tut der Weise: er birgt sich in sich selbst, ist mich sich selbst [allein].“ Zur Bedürfnislosigkeit Gottes als Vorbild für einen sittlichen Lebenswandel vgl. auch Sen. ep. 25,4; 111,20; 119,7. 22 Vgl. hierzu exemplarisch Sen.ep. 18; ebenso Sen.ep. 66,16. 23 Vgl. beispielsweise Sen.ep. 18,13; 31,8. 24 Vgl. Sen.ep. 95,47. 25 Sen.ep. 65,12.23 definiert Gott als die Grundlage allen Seins. 26 Vgl. Sen.ep. 58,28; 71,12.14; 107,9–10. Neben der Bewahrung der Schöpfung kennt Seneca auch die Zerstörung derselben durch den Weltenbrand, doch wird dieses Motiv in den epistulae morales zuallererst zur Beschreibung der Sittlichkeit und der Bedürfnislosigkeit Gottes verwendet (vgl. Sen.ep. 9,16). G. Maurach, Epistulae morales, 135 entwickelt aus Senecas Beschreibung Gottes als des Schöpfers die Interpretation, dass der Geist, der den Menschen leitet und steuert, eine Parallele zu Gott darstellt, der den Kosmos leitet und steuert. Somit ist der Geist des Menschen, im Gegensatz zu seinem Körper, wesensmäßig an Gott orientiert: „Das also ist der Sinn der Ursachenlehre: Gott allein ist der Herr, alles ist ihm untertan. In Analogie hierzu gibt es nur eines im Menschen, das Wert hat und wertvoll genug ist, daß man es pflege: den Geist.“ Der Zusammenhang von Gott und menschlichem Geist wird im Folgenden näher erörtert. 27 Vgl. Sen.ep. 95,49–50.
344
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
des Menschen, die in dessen Seele wohnt, ein in den Menschen gepflanzter Teil des göttlichen Wesens sei. „Ratio autem nihil aliud est quam in corpus humanum pars divini spiritus mersa.“ (Sen.ep. 66,12)28 Die Vergöttlichung der Vernunft stellt einen entscheidenden Aspekt der Ethik Senecas dar und ermöglicht es dem Philosophen, seine Anschauungen über die Tugendhaftigkeit und die daraus erwachsenden ethischen Konkretionen zu einem geschlossenen Ganzen zusammenzufügen.29 Um einen tugendhaften Lebenswandel gestalten zu können, bedarf es der Fähigkeit, allen Aspekten, die das menschliche Leben betreffen, einen sittlichen Wert beimessen zu können. So drängt Seneca in den epistulae morales darauf, dass nur diese Dinge erstrebenswert seien, denen zu Recht der Charakter eines Gutes zukommt. Die Argumentation Senecas nimmt in der sittlichen Vollkommenheit (virtus) ihren Ausgangspunkt, da die virtus natürlich mit dem höchsten Gut (summum bonum) gleichzusetzen ist bzw. das höchste Gut darstellt. All den Dingen, die dem Erreichen der virtus dienlich sind oder in denen das Wesen der virtus anschaulich wird, kommt ein sittlicher Wert zu; sie sind als ein Gut zu bezeichnen.30 Gemeinsam ist allen Gütern, dass sie, in Ableitung vom höchsten Gut, göttlichen Charakter tragen,31 der vom Menschen, natürlich vermittels der Vernunft, erkannt wird. Die Fähigkeit, Güter zu identifizieren und sie von den Dingen zu unterscheiden, die zwar augenscheinlich eine gewisse Annehmlichkeit versprechen mögen, aber gewiss nicht zur Tugend des Menschen beitragen, ist bereits Ausdruck einer von Vernunft geprägten Seele.32 Die Wesensgleichheit menschlicher und göttlicher Vernunft eröffnet dem Menschen die Möglichkeit zur sittlichen Ent- und Unterscheidung, doch ist der Einzelne darauf angewiesen, seine Vernunft mit Hilfe der Philosophie zu schulen, da bei aller 28 „Die Vernunft ist aber nichts anderes als ein in den menschlichen Körper gesenkter Teil des göttlichen Geistes.“ 29 Die Konzentration auf die Vernunft als göttlicher Teil der Seele ist von größter Relevanz. Demgemäß betont auch P. Grimal, Seneca, 282–283, dass Seneca nicht die gesamte menschliche Seele als wesensgleich mit Gott charakterisiert, sondern nur das „Tätige, Tatkräftige, dem Handeln Zugewandte an ihr. Dieser Teil steht im Gegensatz zu den lastenhaften, hemmenden Elementen […]. Diese Last ist die unseres Körpers; es ist die unserer Tierheit.“ 30 In Bezug auf die Frage, wie der Weg zum summum bonum gestaltet werden kann, formuliert Seneca in Sen.ep. 23,7 zusammenfassend: „Quod sit istud interrogas, aut unde sub eat? Dicam: ex bona conscientia, ex honestis consiliis, ex rectis actionibus, ex contemptu fortuitorum, ex placido vitae et continuo tenore unam prementis viam.“ – „Was das ist, fragst du, und woher es kommt? Ich will es sagen: aus einem guten Gewissen, aus anständigen Plänen und richtigen Handlungen, aus der Verachtung der Glücksgüter, aus einem Leben ohne Erregungen und einem stetigen Fortgang des Lebens, das einen einzigen Weg verfolgt.“ 31 Vgl. Sen.ep. 74,16. 32 Vgl. Sen.ep. 71,32: „Quid erit haec virtus? iudicium verum et inmotum: ab hoc enim impetus venient mentis, ab hoc omnis monis species, quae impetum movet, redigetur ad liquidum.“ – „Was kann diese sittliche Vollkommenheit sein? Urteilskraft, echte und unbeeinflussbare: von ihr rühren nämlich alle Regungen der Seele, von ihr wird jede Vorstellung, die eine Regung auslöst, zu Klarheit gebracht.“
11.2 Die Bedeutung Gottes
345
„Verwandtschaft“ zwischen menschlicher und göttlicher Vernunft die menschliche der Vervollkommnung bedarf.33 „Die Vernunftbegabung, d. h. im tiefsten Grunde genommen, das Vermögen, mit dem Göttlichen in Verbindung zu treten, wird dem Menschen nicht ohne jegliche Anstrengung gleichsam in den Schoß geworfen. Es muß heiß erkämpft werden.“34
Ist der Mensch aber durch die Philosophie35 zu entsprechenden Fortschritten gelangt, so nähert er sich mehr und mehr dem Göttlichen an, bis er schließlich sogar in der Lage sein soll, die göttlichen Ratschlüsse nicht nur zu akzeptieren, sondern mit ihnen aus Vernunftgründen übereinzustimmen.36
11.2.3 Imitatio Dei als sittliches Motiv Vonseiten Gottes wird dieser Prozess durch die Gabe der Vernunft, die jedem Menschen zukommt, initiiert und dadurch unterstützt, dass sich Gott den Menschen annähert, die sich in der Schärfung ihrer Vernunft üben, um ihre Tugendhaftigkeit zu verbessern. Jeder Geist, der der Tugend nacheifert, der sich um den Besitz des höchsten Gutes bemüht, benötigt diese Verbindung zu Gott.37 Für Seneca ist diese Gottesbeziehung von großer Relevanz. So ist er davon überzeugt, dass durch Einwohnung Gottes in den Menschen zum einen die Kontaktaufnahme ohne Priester und Tempelkult möglich ist, da sie ein rein innerliches Geschehen darstellt,38 und dass zum anderen der göttliche Geist das Entscheiden und Handeln des Menschen prägt und kontrolliert.39 Die um die Sittlichkeit bemühten Menschen erfahren dabei die uneingeschränkte Unterstützung Gottes und werden durch den in ihnen wohnenden göttlichen Geist auch stets mit Gott selbst in Beziehung gebracht.40 Demgegenüber verhindert aber die Ablehnung 33 Vgl. Sen.ep. 92,27: „Ratio vero dis hominibusque communis est: haec in illis consumma ta est, in nobis consummabilis.“ – „Die Vernunft aber ist Göttern und Menschen gemeinsam: sie ist bei ihnen vollkommen, bei uns der Vervollkommnung fähig.“ Th. Baier, Erzieher, 51 zieht zu diesem Motiv Sen.ep. 90,44.46 heran und verweist auf Senecas Betonung der sittlichen Erziehung, der jeder Mensch bedarf. 34 P. Grimal, Seneca, 280. 35 Vgl. beispielsweise Sen.ep. 50,8–9. 36 Vgl. Sen.ep. 96,2: „Non pareo deo, sed adsentior; ex animo illum, non quia necesse est, sequor.“ – „Nicht gehorche ich dem Gott, sondern ich stimme ihm zu; aus Überzeugung folge ich ihm, nicht weil es unausweichlich ist.“ Diesen Gedanken formuliert Seneca angesichts der Frage, wie mit Krankheiten und anderen Widrigkeiten umzugehen ist. 37 Vgl. Sen.ep. 73,16. Interessant ist hierbei die Verwendung des Begriffes „mens“: „nulla sine deo mens bona est.“ Dadurch soll wohl die Verbindung zwischen ratio und animus angesprochen werden. 38 Vgl. Sen.ep. 41,1: „[P]rope est a te deus, tecum est, intus est.“ – „Nahe ist dir der Gott, mit dir ist er, in dir ist er.“ 39 Vgl. Sen.ep. 41,2. 40 Vgl. Sen.ep. 41,5.
346
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
des Sittlichen eine Relation zur Gottheit. „Quis sit summi boni locus, quaeris? Animus. Hic nisi purus ac sanctus est, deum non capit.“ (Sen.ep. 87,21)41 Um Fortschritte in der Vervollkommnung der eigenen Tugend zu erreichen, ist es also dringend geboten, die Seele für das Göttliche zu öffnen und das eigene Entscheiden und Handeln vollständig der Vernunft zu unterwerfen. Damit sich jedoch das göttliche Potential der Vernunft entfalten kann und der Mensch nicht in einem unterentwickelten Status verharrt, empfiehlt Seneca nicht nur, sich durch philosophische Diskurse fortzubilden, sondern er ermuntert seine Leser, Gott selbst zu imitieren. Darin, so Seneca, liege der wahre Gottesdienst begründet und vermittels der imitatio Dei, die einzig und allein im Bereich des Sittlichen anzusiedeln ist, wird die Gottheit wohlwollend gestimmt. „Vis deos propitiare? Bonus esto. Satis illos coluit, quisquis imitatus est.“ (Sen. ep. 95,50)42 Seneca wäre wohl missverstanden, wenn dieses göttliche Wohlwollen im Sinne einer Gebetserhörung oder einer Bewahrung vor Schaden definiert werden würde. Es dürfte ihm vielmehr darum gehen, dass Gott respektive die Götter aufgrund ihrer wohlwollenden Haltung den nach Tugend Strebenden auf diesem Weg unterstützen und befördern, indem sie der sittlichen Vervollkommnung Vorschub leisten. Die „Theologie“43 Senecas arbeitet jedoch auch in diesem Bereich göttlicher Wohltaten mitnichten mit Begriffen wie „Gnade“ oder „Erwählung“ oder sonstigen Termini, die im Bereich der Soteriologie, und als eine solche kann die Lehre von der Vollendung des Menschen durch die Vernunft durchaus bezeichnet werden, gemeinhin begegnen. Für Seneca ist die von Gott wohlwollend betrachtete Perfektionierung der Vernunft keine Gnade, sondern eine Art naturrechtlicher Anspruch, den der Mensch geltend machen kann. Kommt doch der Vernunft, und somit auch der Seele als Wohnort der Vernunft, göttliche Qualität zu, ja stammt sie selbst vom Göttlichen ab und kehrt im Zuge ihrer durch Philosophie erreichten Vollkommenheit wieder in die Sphäre Gottes zurück, wohin sie naturgemäß gehört: „[I]ta animus, cui, in quantum vult, licet porrigi, in hoc a natura rerum formatus est, ut paria dis vellet; et si utatur suis viribus ac se in spatium suum extendat, non aliena via ad summa nititur.“ (Sen. ep. 92,30)44 Im Zusammenhang dieses Zitats aus Sen.ep. 92 geht Seneca so weit, dass er den Menschen nicht nur in die allumfassende Wirklichkeit Gottes, 41 „Was des höchsten Gutes Ort ist, fragst du? Die Seele: wenn sie nicht rein und ehr-würdig ist, nimmt sie den Gott nicht auf.“ 42 „Willst du die Götter gnädig stimmen? Gut sollst du sein. Genug verehrt sie, wer ihnen nacheifert.“ 43 G. Maurach, Seneca, 144 verweist darauf, dass Seneca über keine ausgearbeitete Theologie verfügte, sondern die stoische Lehre von Gott, die diesen als reine Vernunft definierte, durch Bilder anreicherte, die das göttliche Wirken beschreiben. 44 „[S]o ist unsere Seele, die sich so weite Ziele setzen kann, wie sie will, von der Natur dazu geschaffen, Göttergleiches zu wollen: wenn sie ihre Kräfte nutzt und den ihr eingeräumten Bereich ausfüllt, erreicht sie auf eigenem Wege das höchste Ziel.“
11.2 Die Bedeutung Gottes
347
die den ganzen Kosmos umspannt,45 eingebettet sieht. Aufgrund der durch die Vernunft konstituierten wesensmäßigen Verbindung der Menschen zu Gott sind die Menschen vielmehr Gefährten (socii [Sen.ep. 92,30]) und Glieder (membra [Sen.ep. 92,30]) Gottes.46 Mit diesen Ausführungen stellt Seneca Grundlegendes hinsichtlich der menschlichen Natur fest, doch sind all seine Verweise47 auf die im Menschen wohnende Göttlichkeit dem argumentativen Ziel unterworfen, den einzelnen Menschen zur Verbesserung seiner Tugend und zur Pflege seiner Vernunft anzuhalten.48 Darin und nur darin liegt der Schlüssel zu einem vollkommenen Leben, das den Menschen letztlich glücklich und frei zu machen vermag und das zudem auch der Natur des Menschen entspricht. Die Lebensaufgabe des Menschen liegt in seiner sittlichen Vervollkommnung: „Quod est hoc? Animus scilicet emendatus ac purus, aemulator dei, super humana se extollens, nihil extra se sui ponens. Rationale animal es. Quod ergo in te bonum est? Perfecta ratio.“ (Sen.ep. 124,23)49 Die Definition der Vernunft als eines göttlichen Funkens dient prima vista dazu, dem philosophischen Unterfangen eine unantastbare Würde und Qualität zu verleihen. Indem Seneca der menschlichen Vernunft göttliche Züge zumisst, ist er in der Lage, eine Angleichung des Menschen an Gott zu postulieren, insofern sich der Mensch der Unterweisung und der Vervollkommnung durch die Philosophie unterwirft. „Hoc enim est quod mihi philosophia promittit, ut parem deo faciat; ad hoc invitatus sum, ad hoc veni: fidem praesta.“ (Sen.ep. 48,11)50 Doch bei all dem vermeidet es der Philosoph, in seinen epistulae morales eine facettenreiche Darstellung Gottes zu zeichnen; das Göttliche wird nicht offenbar. Somit verliert die Aufforderung zur imitatio Dei an inhaltlicher Klarheit, da das zu Imitierende nicht deutlich 45 Vgl. Sen.ep. 92,30: „Totum hoc, quo continemur, et unum est et deus.“ – „Dieses All, von dem wir umfangen werden, ist das Eine und der Gott.“ 46 Für E. Schirok, Altera quaestio, 229 wird mit dieser Beschreibung der Relation zwischen Gott und Mensch der Begründungszusammenhang der Ethik Senecas erst abgerundet: „Erst auf Basis dieser Gottesauffassung sind die Hinweise Senecas zum Umgang des Menschen mit seinem Mitmenschen verständlich.“ 47 Vgl. hierzu auch: Sen.ep. 31,8–11; 65,12; 76,13–16; 92,1.30; 95,52; 102,21. 48 P. Grimal, Seneca, 152–153 weist darauf hin, dass Seneca diese Argumentation auch in de brevitate vitae anwendet und sie wahrscheinlich bereits bei Cicero, de finibus 4. Buch, vorgefunden hat. 49 „Was ist das? Eine Seele, von Fehlern frei und lauter, die dem Gotte nacheifern will, über das dem Menschen Eigentümliche hinausstrebend, nichts außerhalb seines Selbst setzend. Du bist ein mit Vernunft begabtes Wesen. Welches Gut also ist in dir? Die vollkommene Vernunft.“ P. Grimal, Seneca, 281 schreibt dazu: „Die wahre Frömmigkeit ist eine Bekundung der höchsten Weisheit. Sie ist, wie die Weisheit selbst, aemulatio dei. Nicht Seneca hat diese Lehre ersonnen; sie ist Gemeingut der Stoa. Aber allem Anschein nach hat er sie mit großer Vorliebe entfaltet.“ 50 „Das ist es nämlich, was mir die Philosophie verspricht, mich dem Gotte gleich zu machen: dazu bin ich eingeladen worden, dazu bin ich gekommen: Treue beweise.“
348
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
hervortritt. Um dem Motiv der Nachahmung Gottes nicht nur ein motivierendes, sondern auch ein konkret orientierendes Gepräge zu verleihen, wäre eine Art „Gotteslehre“ als zusätzliche Schrift Senecas vonnöten.51 Die handlungsmotivierende Kraft, die der imitatio Dei bei Seneca innewohnt, entsteht aus der Überzeugung, dass ein Mensch, der sich der Vernunft im Sinne der stoischen Philosophie verschrieben hat, über sich selbst hinauswächst und somit letztlich das allzu Menschliche hinter sich zurückzulassen imstande ist. Durch den Verweis auf die in der Vernunft und in der daraus erwachsenden Tugend wurzelnde Verwandtschaft des Menschen mit Gott unterstreicht Seneca seine materialethischen Konkretionen, die allesamt davon geprägt sind, dass „weltliche“ Genüsse, wie Reichtum, Macht, Sexualität, Ansehen etc. keine Güter und somit nicht erstrebenswert sind. Ebenso wie Gott über diesen irdischen Dingen schwebt, fordert Seneca seine Leser dazu auf, sich selbst von dem Verlangen danach zu reinigen. Vermittels der Vernunft durchbricht der Mensch die Begrenztheit seiner irdisch-menschlichen Perspektive und kommt in den Kontakt mit dem Göttlichen, worin er seine wahre Bestimmung und somit auch seine wahre Natur wiederfindet. Seneca benötigt in seiner ethischen Argumentation das Göttliche, um seinem hohen Begriff der virtus, die frei von aller menschlichen Begierde zu sein hat, einen außermenschlichen Ankerpunkt zu verleihen. Man muss also davon ausgehen, dass Seneca nicht seine Ethik in erster Linie deduktiv vom Göttlichen zum Menschlichen entwickelt hat, sondern dass er vielmehr die aus der Stoa gewonnenen Einsichten in ein sittliches Verhalten vom Menschlichen in das Göttliche hineinprojiziert hat. Indem er, eine philosophische opinio communis aufnehmend, von der Perfektion, von der sittlichen Vollendung Gottes ausgeht, schließt sich damit ein logischer Gedankengang. Dadurch, dass er die sittliche Vollkommenheit mit dem Göttlichen in eins setzt und in der menschlichen Vernunft eine Facette des göttlichen Wesens entdeckt, gelingt es ihm schlussendlich, seine Ethik mit einer überaus positiven Anthropologie zu verbinden, die dem Handlungssubjekt im Horizont der Vervollkommnung nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, aber auch eine dementsprechend hohe Verantwortung zumisst. Der Souveränität des sittlich handelnden Menschen ist im Prinzip keine Grenze gesetzt. Diese Idealisierung der (Handlungs-)Freiheit des Tugendhaften gelingt aber nur im Verbund mit anthropologischen Grundüberzeugungen der Stoa, die zum einen die Unerschütterlichkeit der Seele eines tugendhaften Menschen postulieren,52 die zum anderen aber auch den Selbstmord als Ausdruck höchster Freiheit und Selbstbestimmung loben.53 Somit wird der Mensch letztlich nur durch sich selbst und sein indivi51 Solche Schriften existieren im Kontext der antiken Philosophie durchaus, man denke nur an Ciceros de natura deorum. 52 Vgl. hierzu neben Seneca vor allem die Lehre Epiktets (Ench. 10; 11; 12; 20; 22; 28), sowie Sentenzen des Musonius Rufus (Diat. 9; 10). 53 Das Motiv des Suizids findet sich in den epistulae morales häufig. Dabei wird meist
11.3 Die sittliche Lebensgestaltung
349
duelles Unvermögen, der Vernunft Folge zu leisten, begrenzt, wodurch er auch nur sich selbst für sein eigenes Scheitern zur Verantwortung ziehen kann.54 Offen bleibt jedoch die Frage, ob es im Denken Senecas tatsächlich möglich ist, dass ein Mensch zu Lebzeiten die Vollendung seiner Sittlichkeit erreichen kann, da er in diesem Moment konsequenterweise den ontischen Status des Göttlichen einnehmen würde. Da Seneca dies nicht einmal Cato zubilligt, der doch stets als größtes Vorbild eines tugendhaften Mannes gilt, kann die begründete Vermutung geäußert werden, dass der sittlich vollkommene Mensch eine Idealvorstellung ist, der es nachzueifern gilt, die jedoch zu Lebzeiten eines Menschen nicht zu erfüllen ist. Die Figur des Tugendhaften skizziert Seneca in einem nahezu sakralen Licht,55 was der Idealisierung Vorschub leistet. Erst für die Zeit nach dem Tod kann Seneca, in Aufnahme der platonischen Seelenlehre, eine Vollendung des Menschen wirklich denken oder zumindest erhoffen. Auch wenn sich Seneca nicht in aller Konsequenz sicher ist, ob es eine postmortale Existenz gibt,56 so möchte er gerne an eine solche glauben57 und spricht darüber hinaus von der Rückkehr der Seele an den Ort ihres göttlichen Ursprungs.58 Freilich ist dies nur denjenigen Seelen vorbehalten, die schon während ihrer irdischen Zeit an ihrer Vervollkommnung gearbeitet haben.
11.3 Die sittliche Lebensgestaltung nach der Ethik Senecas Die Strukturanalyse der Ethik Senecas offenbarte einen nach sittlicher Perfektion strebenden Ansatz, der sich vollkommene Freiheit und höchstes Glück durch die Vollendung der Tugend zum Ziel gesetzt hatte. Während der Mensch diese Perfektion zu erreichen suchen muss, ist sie in Gott bereits vollendet. „Deum sequere!“ (Sen.vit.beat. 15,5)59 wird zu einem motivierenden, kämpferischen Cato als hervorragendes Beispiel stoischer Tugend gepriesen. Der Legende nach entschloss sich dieser nach seiner Niederlage im Bürgerkrieg gegen Caesar zum Suizid und fügte sich selbst eine tödliche Wunde bei. Als die Ärzte versuchten, sein Leben zu retten und die Wunde zu heilen, soll er die ärztlichen Bemühungen noch mit eigenen Händen durchkreuzt haben (vgl. Sen.ep. 24,6–8; 67,7.13 et.al.). 54 Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, sei nochmals auf Cato hingewiesen: In der Darstellung Senecas besiegelte die Niederlage gegen Caesar zwar den Untergang der Republik, für die Cato nicht zuletzt aus philosophisch-stoischer Überzeugung gekämpft hatte, doch war Cato selbst als Person unbesiegt, da Caesar keine Gewalt über die Seele und die in ihr wohnenden Vernunft Catos gewinnen konnte. Bei allen äußerlichen Niederlagen, auch angesichts des durch die Situation aufgezwungenen Selbstmords, blieb Cato nur sich selbst, d. h. seiner Vernunft unterworfen und war damit vollständig souverän und frei (vgl. Sen.ep. 71,8–11). 55 Vgl. Sen.ep. 41,4–5. 56 Vgl. Sen.ep. 65,24: „Mors quid est? Aut finis aut transitus.“ – „Der Tod – was ist er? Entweder das Ende oder ein Übergang.“ 57 Vgl. Sen.ep. 102,1–2. 58 Vgl. Sen.ep. 76,25. 59 „Folge dem Gott!“
350
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
Leitsatz Senecas, der zur Perfektionierung der Tugend die Nachahmung Gottes empfiehlt, freilich ohne die nachzuahmenden Charakteristika Gottes detailliert auszuführen. In jedem Falle ist der Mensch in seiner sittlichen Vervollkommnung stets besser beraten, der eigenen Vernunft und der durch sie ermöglichten Erkenntnis Gottes zu folgen, als irgendein anderes Lebewesen zum Vorbild zu nehmen oder gar zu imitieren.60 Doch verharrt Seneca nicht in ethischen Abstrakta, sondern räumt konkreten, materialethischen Aussagen breiten Raum ein. Durch diese werden die Grundprinzipien eines tugendhaften Lebens anschaulich und es ist nicht verwunderlich, dass Seneca in erster Linie solche Beispiele wählt, die seiner Lebenswelt entsprechen. Es geht um Reichtum, Macht, Einfluss, Genuss, Luxus, den Umgang mit Sklaven und die Verpflichtungen gegenüber dem Staat.61 Obwohl der Evangelist Lukas im Kontrast dazu kein exklusives Herrscher- bzw. Oberschichtenethos formuliert, lassen sich dennoch verschiedene strukturelle und inhaltliche Analogien zwischen den beiden Autoren feststellen. Die Darstellung der ethisch analogen Themengebiete soll einerseits den Blick für eine kommunikative Offenheit des Evangelisten gegenüber der kaiserzeitlichen Stoa schärfen, andererseits die Möglichkeit ethischer Wechselwirkungen thematisieren.
11.3.1 Näherbestimmung der virtus Ist bereits vielfach von der sittlichen Vollkommenheit als Ziel menschlichen Strebens und von der virtus die Rede gewesen, so bedarf es einer inhaltlichen Annäherung an diese Begrifflichkeiten. Auch wenn Seneca den epistulae morales keine systematische Begriffsdefinition voranstellt, lassen sich seine ethischen Grundbegriffe in gewissem Maße konkretisieren. Im Blick auf das summum bonum formuliert er summarisch: „Quod sit istud interrogas, aut unde subeat? Dicam: ex bona conscientia, ex honestis consiliis, ex rectis actionibus, ex contemptu fortuitorum, ex placido vitae et continuo tenore unam prementis viam.“ (Sen.ep. 23,7)62 Das von Seneca propagierte „gute Gewissen“ (bona conscientia [Sen.ep. 23,7]) erwächst aus einer Lebensführung, die sich nicht der Befriedigung von Begierden zugewandt hat, sondern eben in der Überwindung dieser Begierden ihr Charakteristikum findet. Gegenüber Lucilius formuliert 60 61
Vgl. Sen.ira II 16,2. Seneca warnt vor der Wirkung, die derartige Verlockungen auf den Einzelnen haben. Hierin, in der Perspektive der (Aus-)Wirkung von Luxus, Reichtum und Ruhm offenbart sich deren ethische Problematik. Sen.ep. 74 behandelt diesen Argumentationsgang ausführlich und dabei findet sich natürlich die Definition eines Gutes unter Bezugnahme auf die Vernunft und auf das Göttliche. 62 „Was das ist, fragst du, und woher es kommt? Ich will es sagen: aus einem guten Gewissen, aus anständigen Plänen und richtigen Handlungen, aus der Verachtung der Glücksgüter, aus einem Leben ohne Erregungen und einem stetigen Fortgang des Lebens, das einen einzigen Weg verfolgt.“
11.3 Die sittliche Lebensgestaltung
351
Seneca die Überzeugung, dass ganz grundsätzlich all diese Taten mit einem guten Gewissen zu vereinbaren sind, die man ohne Furcht in der Öffentlichkeit vollbringen würde.63 Dem korrespondiert die Überlegung, dass auch die Gebete, die ein Mensch an die Götter richtet, der Sittlichkeit entsprechen müssen, was sich wiederum dadurch überprüfen lässt, ob der Einzelne willens wäre, seine in den Gebeten geäußerten Wünsche auch laut im Beisein seiner Mitmenschen zu wiederholen.64 Nur dann, wenn die eigenen Taten das Gewissen nicht belasten, entsprechen sie den Geboten der Sittlichkeit.65 Doch dürfen diese Ausführungen nicht in dem Sinne verstanden werden, als ob die Öffentlichkeit für Seneca eine Instanz zur Kontrolle oder gar zur Definition der Sittlichkeit wäre; ganz im Gegenteil. Seneca ist zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch, sobald er sich in einer Menschenmasse befindet, in seinem tugendhaften Verhalten enorm gefährdet ist, da die Massen per se nicht sittlich handeln. Somit ist es dem Weisen geboten, sich, insofern es seine Verpflichtungen gegenüber dem Staat und der Gesellschaft erlauben, von den Menschenansammlungen fernzuhalten und sich vor allem nicht bei Unterhaltungen jedweder Art dem Sog der Masse auszuliefern.66 Wendet sich Seneca den Beschreibungen einer Menschenmasse zu, so vermittelt er stets den Eindruck, dass diese lediglich von ihren Trieben und Begierden motiviert und bar jeglicher Selbstkontrolle und Disziplin ist – eine summarische Beschreibung für ein Verhalten jenseits aller Sittlichkeit. In Anlehnung an die schulübergreifende philosophische Lehrmeinung der Antike weist Seneca darauf hin, dass sich die virtus eines Menschen zunächst in vier Charaktereigenschaften offenbart: Selbstbeherrschung (temperamentia), Tapferkeit (fortitudo); Klugheit ( prudentia) und Gerechtigkeit (iustitia).67 Diese Reihe ergänzt Seneca zudem durch Gewissenhaftigkeit (religio) und Pflichtgefühl ( pietas) gegenüber Gott und Mensch68 sowie, ex negativo, durch die Überwindung von Habgier (avaritia), Ruhmsucht (ambitio) und Todesfurcht (metus mortis).69 Damit beschreibt Seneca das Glück, respektive den Zustand des Glücklichseins, und ebenso die Freiheit ausschließlich auf der Basis der Vernunft, die die Menschen zu einem pflichtgemäßen Leben in Übereinstimmung mit den oben genannten Charakterzügen anleitet. Im Hinblick auf 63
Vgl. Sen.ep. 43,4–5. Vgl. Sen.ep. 10,5: „Vide ergo ne hoc praecipi salubriter possit: sic vive cum hominibus tamquam deus videat, sic loquere cum deo tamquam homines audiant.“ – „Vielleicht kann folgendes mit heilsamer Wirkung gelehrt werden: so lebe mit dem Menschen, als ob der Gott es sähe; so sprich mit dem Gott, als ob die Menschen es hörten.“ 65 G. Maurach, Seneca, 177 erwähnt hierbei auch die Bedeutung der Scham für ein sittliches Verhalten: „Die tiefste und darum stärkste Motivation im Menschen ist Liebe, Bewunderung und Scham. Scham vor sich selber und vor den Vorbildern, ja vor dem Kosmos; Liebe zu den großen Männern der Geschichte und zur Schönheit des Kosmos und des Guten.“ 66 Vgl. Sen.ep. 29,10–12; 44,6. 67 Vgl. Sen.ep. 120,11. 68 Vgl. Sen.ep. 90,3. 69 Vgl. Sen.ep. 71,37. 64
352
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
seine Adressatenschaft, die sich wohl zu großen Teilen aus der römischen Oberschicht zusammensetzt, erläutert Seneca die Konsequenzen eines tugendhaften Verhaltens für den alltäglichen Lebensvollzug, wobei er sich in erster Linie mit dem Streben nach Genuss70 und nach Reichtum71 auseinandersetzt.
11.3.2 Wider den Luxus Seneca diagnostiziert in seiner Umwelt eine Gewinn- und Genusssucht, die in diesem Ausmaß in der Geschichte noch nicht vorgekommen ist.72 Auch wenn Seneca faktisch zu den wohlhabendsten Menschen seiner Zeit gehört hat,73 hält ihn das nicht davon ab, das Streben nach Luxus kritisch zu analysieren und als unsittlich zu verwerfen. Das grundlegende Argument seiner Verurteilung des Gewinnstrebens ergibt sich aus der Einsicht, dass es widernatürlich ist, mehr als das vernünftige, zum Leben ausreichende Maß an Nahrung, Geld und Kleidern für sich in Anspruch zu nehmen.74 Die menschlichen Bedürfnisse sind schnell gestillt: ein Becher Wasser, eine Schale Suppe,75 saubere Kleidung und Reinlichkeit.76 Da ein tugendhaftes Leben jedoch grundsätzlich der Natur des Menschen entspricht,77 ist jede Form widernatürlichen Verhaltens78 ein Kennzeichen dafür, dass sich der Mensch weniger von der Tugend als vielmehr von seinen Begierden bestimmen lässt. Der Natur des Menschen entsprechen neben einer großen Bescheidenheit in kulinarischen Fragen79 das körperliche Arbei70
Vgl. Sen.ep. 23,6; 39,5–6; 51,8–13; 59,14–15; 71,21–23; 74,20–21, 92,4–11; 123,16. Vgl. Sen.ep. 2,6; 5,1–7; 18,13; 92,31; 104,37. Paradigmatisch ist Sen.ep. 86. In diesem Brief beschreibt er die Villa des Scipio, die zu dessen Lebzeiten Ausdruck eines luxuriösen Anwesens war und nun, zur Zeit Senecas, von keinem Mitglied der Oberschicht mehr als eine adäquate Behausung eingestuft werden würde. In diesem Zusammenhang reflektiert Seneca über die Sittlichkeit eines von Arbeit und Askese geprägten Lebens, wobei sich der Eindruck einer starken Romantisierung der Vergangenheit ergibt. Dem kommt in Sen.ep. 89,19–22 eine flammende Anklage gegen die unersättliche Gier der Reichen hinzu, die an Schärfe schwer zu überbieten ist. 73 Vgl. M. Giebel, Seneca, 71–73. 74 Vgl. beispielsweise Sen.ep. 23,6; 39,5–6. 75 Vgl. Sen.ep. 18,10; 21,10. Hier orientiert sich Seneca an Epikur, wodurch er zugleich das zeitgenössische Verständnis der epikureischen Schule zurückweist, das das Glück in größtmöglichen Ausschweifungen suchte. 76 Vgl. Sen.ep. 92,12–13. 77 Daran schließt sich auch die Überzeugung an, dass jedes Gut natürlich ist (vgl. Sen. ep. 66,41). 78 In Sen.ep. 122 findet sich eine, in zynischem Tonfall formulierte Auflistung mancher „Widernatürlichkeiten“. 79 Sen.ep. 60 beschäftigt sich ausschließlich mit diesem Thema, verwiesen sei auszugsweise auf Sen.ep. 60,3: „Quid ergo? Tam insatiabilem nobis natura alvum dedit, cum tam modica corpora dedisset, ut vastissimorum edacissimorumque animalium aviditatem vinceremus? Minime; quantulum est enim quod naturae datur! Parvo illa dimittitur: non fames nobis ventris nostri magno constat sed ambitio.“ – „Was also? Einen derart unersättlichen Bauch hat uns die Natur gegeben, obwohl sie so bescheiden an Größe die Körper geschaffen hat, dass wir der wildesten und gefräßigsten Tiere an Gier übertreffen? Keineswegs: wie wenig ist es näm71 72
11.3 Die sittliche Lebensgestaltung
353
ten,80 das frühe Aufstehen,81 ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein gegenüber sich selbst und gegenüber dem Staate,82 sowie natürlich die Beschäftigung mit der Philosophie, die allein die Fähigkeit besitzt, einen Menschen zu adeln.83 Doch beschränkt sich die Argumentation Senecas nicht nur auf die Forderung nach einer Übereinstimmung der menschlichen Existenz mit den Rahmenbedingungen der Natur. In einem weiteren Schritt analysiert er die Auswirkungen der Gewinnsucht auf das menschliche Wesen und kommt zu dem Urteil, dass die Gier nach Reichtum und Luxus den Menschen gänzlich in Beschlag zu nehmen vermag, da der Einzelne aufgrund seiner Gier den begehrten Objekten den Wert eines Guts (bonum) beimisst. Dadurch ergibt sich eine doppelte Problemstellung: Zum einen ist ein Gut grundsätzlich sittlich konnotiert und dadurch erstrebenswert. Indem nun aber das Streben des Menschen Objekten gilt, denen qua Vernunft kein sittlicher Wert zukommt,84 verfehlt der Einzelne den Weg der Tugend, da er anstelle der Vernunft seinen Begierden folgt. Damit wird nicht nur sein Mangel an sittlicher Urteilskraft offenbar,85 sondern er belastet seine Seele mit den Wünschen seines untugendhaften Verhaltens, wodurch er seiner eigenen Vervollkommnung im Wege steht.86 Der Mensch ist demgegenüber vielmehr angehalten, sich von allen menschlichen Eitelkeiten zu befreien87 und die Seele mit Reichtümern zu füllen, die aus der Sittlichkeit erwachsen. „Scit, inquam, aliubi positas esse divitias, quam quo congeruntur; animum impleri debere, non arcam.“ (Sen.ep. 92,31)88 Zum anderen erkennt Seneca die Macht, die diesen falschen Gütern innewohnt, da sie in der Lage sind, den Menschen voll und ganz in Beschlag zu nehmen, gewissermaßen süchtig zu machen. Infolgedessen ist der Mensch aufgrund seiner Gier nach Besitz und Luxus nicht mehr in der Lage, auf die Stimme seiner Vernunft zu hören, wodurch es ihm unmöglich wird, zur sittlichen Vollkommenheit und damit zur wahren Freiheit zu gelangen. Die Gewinnsucht nimmt den Menschen gefangen, weswegen Seneca den Reichtum pointiert als „Handgeld der Sklaverei“ (auctoramentum servitum [Sen.ep. 104,37]) bezeichnen kann. „In this sense, the homo delicatus is a slave and a clown, ever in need of public applause. […] For wealth is external and lich, was man dem natürlichen Bedürfnis gibt? Mit Geringerem wird es befriedigt: nicht der Hunger unseres Leibes kommt uns teuer zu stehen, sondern der Ehrgeiz.“ 80 Hier sei nochmals exemplarisch auf Sen.ep. 86 verwiesen. 81 Vgl. Sen.ep. 122,1–5. 82 Als leuchtendes Beispiel wird oft Cato angeführt, aber auch Cincinnatus. 83 Vgl. Sen.ep. 44,5. 84 Zur Argumentation, die dem Reichtum den Wert eines Gutes abspricht, vgl. beispielsweise Sen.ep. 87,30–42. 85 Vgl. zu diesem Motiv Sen.ep. 71,32–33. 86 Vgl. Sen.ep. 92,30. 87 Vgl. Sen.ep. 31,8–11. 88 „Der Mensch weiß, sage ich, dass Reichtum an anderer Stelle liegt, als wo er zusammen gescharrt wird: seine Seele muss er füllen, nicht seine Truhe.“
354
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
materialistic, whereas the ideal, the wise man is happy internally – within himself.“89 Die Glücksverheißung, die die Menschen in Ruhm, Luxus und Reichtum zu erkennen glauben, ist letztendlich ein Selbstbetrug, der nur durch die Rückbesinnung auf die wahren Güter durchbrochen werden kann.90 Allerdings ist Seneca in diesem Punkt nur bedingt optimistisch, da er sich der Härte eines asketischen, durch Vernunft bestimmten Lebens bewusst ist, welche aufgrund der luxuriösen Verweichlichung fast keiner der Reichen mehr auf sich zu nehmen wagt.91
11.3.3 Affekte als Bedrohung der Sittlichkeit Das Streben nach Luxus und Reichtum ist ein beredtes Beispiel dafür, dass die Seele eines Menschen so sehr von Begierden getrieben werden kann, dass kaum noch eine Möglichkeit zur sittlichen Vervollkommnung besteht. Seneca insistiert darauf, dass eine derartige Blockade tugendhaften Verhaltens aber nicht nur durch die Sucht nach Gewinn und Geld entsteht, sondern durch jedwede Erschütterung der Seele. Dieser Gedanke wurzelt in den Grundüberzeugungen der Stoa und lässt sich in verschiedene ethische Konkretionen weiterentwickeln. Zum einen ist der Mensch nach der Überzeugung Senecas dazu angehalten, sich nicht von seinen Affekten beeinflussen zu lassen und sich so weit wie möglich von diesen zu befreien. Hinsichtlich der „Affektenlehre“ ist Seneca in all seinen Schriften systematisch absolut kohärent: Die Bezeichnung „Affekt“ (affectus/ adfectus) wird ausschließlich auf negative Emotionen wie beispielsweise Zorn, Habgier, Neid, Hass etc. angewandt, sodass im Hinblick auf die Ethik Senecas grundsätzlich die dringende Notwendigkeit einer Affektkontrolle hervorgehoben werden muss.92 Affekte stören die Seele des Menschen, sie hindern die Seele an einer Orientierung an der Vernunft und entfremden den Menschen mit sich selbst.93 Seneca ist der Ansicht, dass jedweder Affekt, der in einem Menschen aufkommen könnte, aus der Seele des Menschen entfernt werden müsse, dass es einfacher sei, Affekte vollständig zu entfernen, als zu versuchen, sie zu kontrollieren. Seiner Ansicht nach besitzen die Affekte ungeahnte Kräfte, die 89 A. Motto,
Essays, 36. Vgl. zum Ganzen G. Maurach, Epistulae morales, 95–96. Vgl. Sen.ep. 51,5–10. 92 Wichtig ist die genaue Begriffsdefinition vor allem im Vergleich zu anderen ethischen Konzeptionen, bei denen auch positive Emotionen unter den Begriff des Affektes subsumiert werden können. 93 Unter den Affekten kommt dem Zorn nach Ansicht Senecas das größte Gefahrenpotential für den Menschen zu. Seneca hat mit de ira eine mindestens drei Bücher umfassende Schrift über den Zorn vorgelegt, in der er die Unsittlichkeit des Zornes und die Gefahren des Zorns für die Tugend diskutiert. Bereits zu Beginn seiner Analyse kommt Seneca zu dem Schluss, dass der Zorn die Natur des Menschen gefährde (Sen.ira I 5,1–3), da der Zorn die Stelle der Vernunft einnimmt (Sen.ira I 3,4). Vgl. ebenso Sen.ep. 18,14–15. 90 91
11.3 Die sittliche Lebensgestaltung
355
dann stärker werden, wenn das Objekt, auf das sich der jeweilige Affekt richtet, in Reichweite des Menschen gelangt ist. Ist die Seele erst einmal durch einen oder mehrere Affekte in Erregung versetzt, dann scheint es unmöglich zu sein, diese Affekte zu dämpfen.94 Zudem wachsen sich Affekte, insofern man ihnen nicht energisch entgegentritt, nach und nach zu Fehlhaltungen (vitia) der Seele aus, die diese vollständig von der virtus abzubringen vermögen.95 Daher geht die sittliche Schulung des Menschen einher mit einer Bekämpfung der Affekte, damit der Vernunft Raum gegeben werden kann, die Seele zu erfüllen und den Menschen zu leiten.96 „Das Wesen des Weisen bekundet sich also in der Fähigkeit, jederzeit im Denken und Handeln der Vernunft, d. h. dem zutreffenden Urteil, unmittelbar Geltung zu verschaffen. […] Eine solche Haltung, die den Weisen hoch über alle menschlichen Schwächen hinaushebt, befreit ihn von dem Zwange der Gefühlserregung und erst recht von der Tyrannei der Leidenschaften.“97
Doch darf bei der Verurteilung der Affekte durch Seneca nicht der Fehler begangen werden, demgegenüber alle positiven Emotionen, die einen Menschen erfüllen können, als Ausdruck der Sittlichkeit zu verstehen. So insistiert der Philosoph darauf, dass beispielsweise die Hoffnung, die einen Menschen beeinflussen könnte, die Seele lediglich in Unruhe versetzt, sodass sie mitnichten zu den erstrebenswerten Haltungen eines tugendhaften Menschen gehören kann.98 Darüber hinaus darf auch die Trauer um einen geliebten Menschen den Einzelnen nicht über Gebühr hinaus in Beschlag nehmen. Ist Seneca im Umgang mit Trauernden gewillt, diesen zunächst einige Tage der Schonung zu gewähren, so formuliert er doch das Idealbild eines tugendhaften Menschen, der sich durch den Verlust von Freunden, von Kindern oder selbst der eigenen Frau nicht aus der Fassung bringen lässt und sogleich nach der abgeschlossenen Ein94
Vgl. auch A. Motto, Essays, 130; P. Grimal, Seneca, 235–238. Vgl. Sen.ep. 85,10: „Numquid dubium est, quin vitia mentis humanae inveterata et dura, quae morbos vocamus, inmoderata sint, ut avaritia, ut crudelitas, ut inpotentia [impietas]? Ergo inmoderati sunt et adfectus; ab his enim ad ilia transitur.“ – „Besteht vielleicht Zweifel, dass die Fehlhaltungen der menschlichen Seele, eingewurzelt und verhärtet, die wir Krankheiten nennen, ohne Maß sind, wie Habsucht, wie Grausamkeit, wie Herrschsucht? Also sind ohne Maß auch die Leidenschaften: von ihnen führt der Weg zu den Fehalhaltungen.“ Ähnlich argumentiert Seneca auch in Sen.ira I 8,1. Sen.ep. 75,11–12 führt mit „morbus“ nochmals eine neue Begrifflichkeit ein. Ein morbus der Seele entsteht, wenn die Affekte nicht gedämpft werden und die Seele dadurch einen dauerhaften Schaden davonträgt. 96 Vgl. hierzu ausführlich Sen.ep. 85,2–16. 97 P. Grimal, Seneca, 268. 98 Vgl. Sen.ep. 5,7–9; 10,2–4. Sen.ep. 5 disqualifiziert die Hoffnung gemeinsam mit der Furcht als zwei Seiten derselben Medaille, der etwas zutiefst Irrationales anhaftet, da sowohl die Furcht als auch die Hoffnung die Konzentration des Menschen auf etwas nicht Existentes richten und ihn damit in der Gegenwartsbewältigung behindern. In Sen.ep. 10 fordert der Philosoph seinen Adressaten Lucilius auf, von Gott Gesundheit an Körper und Geist zu erbitten, aber keine Hoffnung. 95
356
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
äscherung der Verstorbenen wieder seine Pflichten in Staat und Gesellschaft aufnimmt, die ihm die Gebote der Sittlichkeit auferlegen.99 Für Seneca ist die Unerschütterlichkeit der Seele selbst beim Verlust der eigenen Kinder ein Zeichen von Tugend, und diese Tugend ist es, die den Hinterbliebenen zu trösten vermag, da schließlich ihr und nicht den Verstorbenen ein sittlicher Wert zuzumessen ist. „Quamdiu virtus salva fuerit, non senties quidquid abscesserit.“ (Sen.ep. 74,25)100 Mit dieser Haltung befindet sich Seneca in guter philosophischer Gesellschaft. Beispielhaft sei hier auf Epiktet verwiesen, der ebenfalls im ersten nachchristlichen Jahrhundert lebte und als Vertreter der kaiserzeitlichen Stoa gilt. Epiktet fordert in seinem „Handbuch der Moral“ den tugendhaften Menschen angesichts des Verlustes von nahen Angehörigen dazu auf, sich nicht der Trauer hinzugeben, sondern sich vielmehr bewusst zu machen, dass Kinder oder auch die Ehefrau gewissermaßen nur eine Leihgabe gewesen sind, die zurückgegeben wurden.101 Diese Unerschütterlichkeit des Weisen ist auch dann aufrechtzuerhalten, wenn er selbst mit Krankheit, Armut oder Tod bedroht ist.102 Der Leitgedanke Epiktets ist dabei ein doppelter: Zum einen sind alle äußerlichen Dinge, über die ein Mensch verfügt, keine Güter und somit frei von (sittlichem) Wert. Somit ist deren Verlust nichts, was den Menschen erschüttern müsste. Zum anderen werden dem Menschen die äußeren Dinge wie Familie, Gesundheit, Reichtum etc. von außen, wahrscheinlich von Gott, gegeben. Damit kann der Mensch aber keine Verfügungsgewalt beanspruchen und muss konsequenterweise jederzeit dazu bereit sein, diese Dinge wieder zurückzugeben.103 Wahrer Wert kommt nur der Tugend zu; nur sie kann als Besitz des Menschen definiert werden und nur die Tugend ist wirklich erstrebenswert.104 99
Vgl. hierzu Sen.ep. 63,1–16; 74,24–30. „Solange die sittliche Vollkommenheit unversehrt bleibt, wirst du dich nicht fühlen, was immer verschwunden ist.“ Etwas differenzierter äußert er sich in Sen.ep. 99,15–16, da er dort das Beweinen der Verstorbenen in einem privaten, abgeschiedenen Rahmen erlaubt, um so den Schmerz „auswaschen“ zu können. Keinesfalls darf dies aber in der Öffentlichkeit geschehen, da so die Trauer und der Schmerz um ihrer Darstellung willen zelebriert werden. 101 Vgl. Epiktet, Ench. 11: „τὸ παιδίον ἀπέθανεν; ἀπεδόθη. ἡ γυνὴ ἀπέθανεν; ἀπεδόθη.“ – „Das Kindlein ist gestorben? Es wurde zurückgegeben. Die Frau ist gestorben? Sie wurde zurückgegeben.“ 102 Vgl. Epiktet, Ench. 2. 103 Vgl. beispielsweise Epiktet, Ench. 2, 3, 5, 7; Diatriben 4,1. 104 Vgl. beispielsweise Epiktet, Ench. 2; Diatriben 4,3. Demgegenüber argumentiert beispielsweise Philo Abr 257, für einen Mittelweg: „μήτε πλέον τοῦ μετρίου σφαδᾴζειν ὡς ἐπὶ καινοτάτῃ καὶ ἀγενήτῳ συμφορᾷ μήτε ἀπαθείᾳ καθάπερ μηδενὸς ὀδυνηροῦ συμβεβηκότος χρῆσθαι, τὸ δὲ μέσον πρὸ τῶν ἄκρων ἑλόμενον μετριοπαθεῖν πειρᾶσθαι“ – „Weder übermäßig zu jammern, wie über ein gänzlich neues und noch nie dagewesenes Unglück, auch nicht ungerührt [zu bleiben], als ob sich nichts Schmerzliches ereignet hätte, sondern den Mittelweg statt der Extreme zu wählen und zu versuchen, den Schmerz zu mäßigen.“ 100
11.3 Die sittliche Lebensgestaltung
357
Die Warnung vor den Affekten hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Sittlichkeit und die an Verachtung grenzende Ermahnung gegenüber denen, die um einen geliebten Menschen trauern, lassen die Frage entstehen, welche sittlichen Eigenschaften Seneca den positiven Emotionen zuschreibt. Muss konsequenterweise davon ausgegangen werden, dass jedwede Art von Emotion der tugendhaften Vervollkommnung entgegensteht, da die positiven ebenso wie die negativen Emotionen die Seele in Erregung versetzen und somit von einem vernünftigen Handeln abhalten? Oder kann vielmehr geschlossen werden, dass positive Emotionen Ausdruck einer sittlichen Seele sind, da sie als Konsequenz eines tugendhaften Verhaltens den Menschen erfüllen, in dem Sinne, dass der Mensch Freude ob seiner Tugend empfindet. Anders gefragt: Ist es denkbar, dass Seneca das Aufflammen positiver Emotionen in der menschlichen Seele dahingehend deutet, dass sie den Einzelnen letztlich zu sittlich guten Taten motivieren, da sie eine Art innermenschliches „Belohnungssystem“ für eine tugendhafte Haltung darstellen?
11.3.4 Positive Emotionen als vitia In Bezug auf diese Fragen lässt sich grundsätzlich festhalten, dass diejenigen, die Seneca in seinen Schriften als herausragende Beispiele eines tugendhaften Menschen beschreibt, ihre tugendhafte Haltung einerseits gegenüber sich selbst zur Geltung bringen,105 sich andererseits aber auch stets durch die Übernahme von Verantwortung auszeichnen, meist im Dienste des Staates.106 Dabei dienen diese Menschen der Öffentlichkeit nicht nur unvermittelt durch ihre sittlichen Taten, sondern auch mittelbar, indem sie andere Menschen durch ihr Vorbild beeindrucken und zur Nachahmung anspornen.107 Interessanterweise definiert er dabei nicht nur aktive, rastlose Tätigkeit zum Wohle des Staates als tugendhaftes Verhalten, sondern auch die Muße, obwohl ihr, dem äußeren Anschein nach, der Charakter der Trägheit anzuhaften scheint.108 Für Seneca ist es unumstritBei der Durchsicht der epistulae morales fällt auf, dass Seneca dann, wenn er nicht von philosophischen Prinzipien spricht, sondern versucht, auf mitmenschliche Weise zu trösten, ebenso den Mittelweg zwischen Trauer und Gelassenheit propagiert; vgl. Sen.ep. 63,1.12–14. 105 Es ist natürlich auch denkbar, dass sich ein Mensch gegenüber sich selbst tugendhaft verhält, beispielsweise indem er beim Essen und Trinken Maß hält (vgl. z. B. Sen.ep. 98,13– 27; 113,20), oder indem er seine Ängste und Begierden bekämpft. 106 Zu dieser Thematik und der Gegenüberstellung von vita activa und vita contemplativa vgl. E. Schirok, altera quaestio, 248. 107 Vgl. Sen.ep. 92,40. 108 In seiner Schrift de otio diskutiert Seneca den Wert der Muße, die er mitnichten als eine Art fauler Trägheit definiert, sondern vielmehr als Möglichkeit, sich betrachtend und denkend den Zusammenhängen der Natur, dem Wesen der Götter und dem Charakter der Sittlichkeit zu widmen. Er führt aus, dass eine solche Form der Muße sittlich ist und zudem auch dem Staate dienlich, da die Ergebnisse der Betrachtung dem Leben der Menschen eine höhere Qualität ermöglichen können (vgl. vor allem Sen.ot. 6,1–5). Sind die äußeren Gegebenheiten für eine
358
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
ten, dass tugendhafte Menschen sittliche Handlungen vollbringen, dass also die innere Disposition eines Menschen sich unmittelbar auf seine äußeren Vollzüge auswirkt und dass die ethische Reife des menschlichen Geistes an den Taten des Einzelnen erkennbar wird. So zeichnen sich die Handlungen eines tugendhaften Menschen durch verschiedene Charakteristika aus, die Seneca grundsätzlich bei der Beschreibung der Sittlichkeit anführt. Dazu gehören die oben bereits genannten Aspekte wie Tapferkeit,109 Gerechtigkeit, Klugheit, Selbstbeherrschung, Pflichtbewusstsein, Bescheidenheit, aber auch Milde (clementia)110 und Empathie im Sinne der Mitmenschlichkeit (humanitas).111 Seneca betont, dass es die Pflicht eines von Vernunft geleiteten Menschen ist, seinen Mitmenschen zu helfen und diesen beizustehen.112 Jedwede Handlung eines Menschen ist kognitiv durch einen Dreischritt geprägt: Wahrnehmung – innerer Antrieb zur Handlung – Zustimmung zur Handlung.113 Die Zustimmung erfolgt bei einem Tugendhaften natürlich in Übereinstimmung mit der Vernunft, die sich durch die genannten Charaktereigenschaften auszeichnet und die darüber hinaus auch noch eine Variante der Goldenen Regel beherzigt: „Ab alio exspectes alteri quod feceris!“ (Sen. ep. 94,43)114 Interessant ist, dass diese Version sowohl eine negative als auch eine positive Konnotation beinhalten kann, je nachdem, in welchem Kontext sie verwendet wird. So ist es denkbar, dass hiermit eine Warnung ausgesprochen derartige Form der Muße gewährleistet, dann müssen sie auch dementsprechend genutzt werden. Für Seneca befindet sich eine solche Haltung durchaus auch in Übereinstimmung mit der stoischen Lehrmeinung, die, nach seinen eigenen Aussagen, die Übernahme politischer Verantwortung fordert (vgl. Sen.ot. 1,4–2,1). Unzweifelhaft bleibt jedoch stets, dass sich die innere Überzeugung durch eine äußere Handlung beweisen muss, sodass gerade der Weise sich auch in seinem Handeln zu bewähren hat; ein Handeln, das freilich in der Unterweisung seiner Umwelt stattfinden kann (vgl. Sen.ot. 6,3–5). 109 In Sen.vit.beat. 3,3 begegnet anstelle von „fortitudo“ die Beschreibung „fortis ac vehemens“. 110 Sen.ep. 47,13. 111 Sen.ep. 88,30. Auf diesen Begriff kommt Seneca auch andernorts zu sprechen. So spricht er in Sen.ira II 28,2 davon, dass die humanitas mitsamt den anderen Charakteristika der Sittlichkeit selbstverständlich von einem Menschen gefordert werden kann, auch wenn diese Forderungen nicht explizit in Gesetzestexten niedergelegt sind: „Quam multa pietas, humanitas, liberalitas, iustitia, fides exigunt, quae omnia extra publicas tabulas sunt“ – „Wie viel verlangen Pflichtbewusstsein, Menschenliebe, Großzügigkeit, Gerechtigkeit, Treue, die alle außerhalb der Gesetzestexte stehen!“ In Sen.vit.beat. 4,2 wird die humanitas als fester Bestandteil des stoischen Ideals zitiert, doch in der genaueren Beschreibung des Ideals verweist Seneca stärker auf die Sittlichkeit des Einzelnen und dessen Konzentration auf eine sittlich gute Seele als auf die Fürsorge für den Mitmenschen. 112 Vgl. Sen.ira I 5,2–3: Die gegenseitige Hilfe und Unterstützung werden als naturgemäßes und somit vernünftiges Verhalten definiert. 113 Seneca folgt in seiner Beschreibung des Erkenntnisprozesses einem klassischen stoischen Modell; vgl. R. Nickel, Seneca. Epistulae morales Bd.II, 658, EN 260. 114 „Von anderen erwarte, was du dem anderen getan hast!“ Seneca zitiert hier den Dichter Publilius Syrus, sententiae 2.
11.3 Die sittliche Lebensgestaltung
359
wird, in dem Sinne, dass sich der andere dafür rächen wird, wenn er schlecht behandelt worden ist und dass eine Vergeltung aufgrund des eigenen schlechten Verhaltens zu erwarten ist. Positiv gewendet kann darin allerdings auch eine Ermutigung zu einem freundlichen und vor allem zuvorkommenden Verhalten enthalten sein. Auf der Basis einer do-ut-des-Logik, liegt hier ein Verhalten vor, dass der Evangelist Lukas im Rahmen der Feldrede zu durchbrechen sucht. Fände die von Seneca geforderte Verhaltensweise aber eine Anwendung unter der Prämisse des Fortschrittes innerhalb der sittlichen Vervollkommnung, so wäre hier ein Anknüpfungspunkt für die Vermittlung der Goldenen Regel (vgl. Lk 6,31). Doch welche Rolle kommt in einem sittlichen Verhalten nun den positiven Emotionen zu? Blickt man aus der lk. Perspektive auf die Ausführungen Senecas, so liegt der Verdacht nahe, dass der innere Antrieb einer Handlung, der in dem oben genannten Erkenntnisprozess wurzelt, durch positive Emotionen gesteuert ist, die beispielsweise unter die Begriffe wie „clementia“, „humanitas“ oder auch „pietas“ subsumiert werden können. Fordert doch die natura hominis ein Verhalten, das von Hilfe und Liebe geprägt ist,115 wodurch diesen Aspekten ein Charakter des Sittlichen zugeeignet wird. Auch wäre es durchaus denkbar, dass die von Seneca zitierte Variante der Goldenen Regel gerade gegenüber positiven Emotionen offen ist, da dem Einzelnen nur so eine positiv zugewandte Behandlung durch andere Menschen ermöglicht werden wird. Dem stellt sich zudem das Phänomen der Freundschaft zur Seite, das Seneca einem tugendhaften Menschen als angemessen beschreibt.116 Es zeigt sich jedoch, dass Seneca all die Charakteristika der Tugend niemals mit einer Emotion in Verbindung bringt oder gar gleichsetzt. Vielmehr sind die Kennzeichen sittlichen Verhaltens allesamt Ausdrücke der Vernunft, die dem Menschen innewohnt, und keineswegs mit einer wie auch immer gearteten Emotion verbunden. Auch wenn Seneca in seiner Begriffssystematik einen Unterschied zwischen den Affekten und den positiven Emotionen aufrecht erhält und dabei den Affekten einen deutlich gravierenderen, negativen Einfluss auf die Seele und somit auf die sittliche Qualität eines Menschen zuschreibt,117 so sind dennoch auch die positiven Emotionen in seinem philosophisch-ethischen Modell nicht im sittlichen Sinne positiv belegt. Seneca fasst emotionale Haltungen wie Liebe (amor), Scham (verecundia), Barmherzigkeit (misericordia) und Hoffnung (spes)118 unter dem Begriff „vitium“ zusammen; eine Terminologie, mit der er Charakterfehler zu 115 Vgl. Sen.ira III 5,6. Hier wird die menschliche Natur als Widerpart des Zorns charakterisiert: „[N]aturam hominis eiurat: illa in amorem hortatur, haec in odium; illa prodesse iubet, haec nocere.“ – „Der Natur des Menschen schwört er ab: sie mahnt zur Liebe, er zum Hass; sie heißt nützen, er schaden.“ 116 Vgl. Sen.ep. 3. 117 Besonders deutlich wird dies anhand des Zorns, den Seneca als den schädlichsten und gefährlichsten Affekt einstuft (vgl. beispielsweise Sen.ira III 1,1). 118 Vgl. dazu Sen.ira II 15,3; Sen.ep. 13,12.
360
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
definieren pflegt.119 Offensichtlich ist Seneca der Überzeugung, dass auch positive Emotionen eine menschliche Seele zu erschüttern vermögen und sie dadurch, analog zu den Affekten, von einer von Vernunft geprägten Handlungsweise bzw. Entscheidung abbringen. Es muss daher festgehalten werden, dass auch Begriffe wie beispielsweise „humanitas“ oder „clementia“ stets unter dem Aspekt der Ratio zu verstehen sind, da sie ansonsten, unter emotionalen Gesichtspunkten, ihren sittlichen Wert verlieren würden: „Ita bonum in nullo est nisi in quo ratio.“ (Sen.ep. 124,20)120 Diese Differenzierung lässt am Begriff der „clementia“ gut veranschaulichen.
11.3.5 Zwischen clementia und misericordia Seneca widmete sein Werk de clementia dem jungen Kaiser Nero121 und formulierte darin einen „Fürstenspiegel“122, ein Herrscherethos, in dessen Zentrum die Milde steht.123 Seneca versuchte, mit diesem Werk charakterformenden Einfluss auf seinen Schüler zu nehmen und ihn angesichts der umfassenden Vollmachten,124 die dem römischen Kaiser zustanden, zu einem bedachtsamen Herrschen anzuleiten, das ganz von den Prämissen der Tugend geprägt sein sollte.125 So warnt der Philosoph den jungen Kaiser davor, im Zorn über seine Untertanen zu herrschen und sich den Verlockungen der Gewalt hinzugeben, da diese Affekte, gepaart mit der nahezu unbegrenzten Macht des Kaisers, schnell zu Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten ungeahnten Ausmaßes auswachsen können. Seneca schmeichelt Nero darin, dass er sich als einziger der römischen Kaiser um Unschuld bemüht; ein Unterfangen, das eben durch die Milde realisiert werden könne.126 119 Je nach Kontext ist das, was Seneca als vitium bezeichnet, in höherem oder geringerem Sinne moralisch verwerflich. Im Grad der Unsittlichkeit weichen verschiedene vitia voneinander ab. 120 „[S]o kann es das Gute bei niemandem geben, außer dem, wo auch Vernunft.“ 121 Vgl. Sen.cl. Proöm I,1 [Sen.cl. I.1]. Die von F. Prechac besorgte Ausgabe des lateinischen Textes von de clementia, die dieser Arbeit zugrunde liegt, folgt einer anderen Gliederung als andere Textausgaben, sodass die herkömmliche Stellenangabe jeweils in eckigen Klammern wiedergegeben wird. 122 Siehe G. Maurach, Seneca, 95: „Seneca will dem jungen Kaiser einen ‚Spiegel‘ vorhalten, aber nicht um ihm zu zeigen, wie er ist, sondern wie er sein wird, wenn er erst seine natura erreicht haben wird, und die ist bonitas.“ 123 Siehe M. Giebel, Seneca, 56: „Für Seneca ist clementia eine umfassende Tugend: die Gesinnung und das Handeln aus sozialer Verantwortlichkeit, gebunden an Selbstbeherrschung, Maß und Gerechtigkeit.“ 124 Vgl. Sen.cl. Proöm I,1–2 [Sen.cl. I 1,1–2]. 125 Siehe G. Maurach, Seneca, 99: „Da dieses Vorbild [sic. der tugendhafte Mensch S. W.] aber nichts anderes ist als die höchste Vollendung des Menschseins, dieses aber in Menschen guter Anlage als Möglichkeit angelegt ist, muß es Aufgabe des Wissenden sein, den Menschen zu dieser seiner natura hinzuführen.“ 126 Vgl. Sen.cl. Proöm I,5 [Sen.cl. I 1,5].
11.3 Die sittliche Lebensgestaltung
361
Grundsätzlich wird die Milde von allen Menschen bewundert, sie dient der Tugend und leitet die Menschen, denen mit Milde begegnet wird, zu einer Umkehr zu einem sittlichen Verhalten an. Dabei gilt es jedoch, besonders für einen Herrscher, nicht maßlos milde zu sein, sondern mit Bedacht milde im Handeln und Urteilen zu agieren: „Nec promiscuam habere ac vulgarem clementiam oportet nec abscisam; nam tam omnibus ignoscere crudelitas quam nulli. Modum tenere debemus“ (Sen.cl. Proöm II,2 [Sen.cl. I 2,2])127 Der Philosoph führt aus, dass Nero bereits bewiesen habe, dass er über die besten Anlagen zu einem von clementia bestimmten Herrschen verfügt, indem er sich die Unterzeichnung eines Todesurteils sehr zu Herzen genommen hatte.128 Infolgedessen kommt Seneca auf das Wesen der clementia im Kontext des Herrscherethos zu sprechen und ordnet sie in erster Linie dem Raum der Rechtsprechung zu. Es ist für Seneca von höchster Bedeutung, dass sich Nero gerade in seiner richterlichen Vollmacht als tugendhaft erweist, da es ihm insbesondere diese Vollmacht ermöglicht, sowohl als Tyrann als auch als sittlich vollkommener Herrscher aufzutreten. „Wichtigster Teil dieser humanitas des Herrschers ist nun aber auch das rechte Herrschen, und da zu diesem auch das milde Ahnden wie auch die rechte Strenge gehört, führt Seneca zur Einsicht in Notwendigkeit und Wesen der Milde als Herrscher-Tugend.“129
Es wäre denkbar, dass Seneca diesen Aspekt nicht zuletzt aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen mit Kaiser Claudius so stark in den Vordergrund stellt, da dieser ihn für mehrere Jahre nach Korsika in die Verbannung schickte. Ein Urteil, das in den Augen Senecas ungerechtfertigt war. Auf Basis der Erläuterungen zur sittlichen Vollkommenheit verwundert es nicht, dass auch die clementia als ein Ausdruck der Vernunft verstanden wird, wodurch sie mitnichten in den Bereich der Emotionen einzuordnen ist. Ein Urteilsspruch, der durch die clementia geprägt ist, muss somit als Erweis eines tugendhaften und damit vernünftigen, überlegten Handelns angesehen werden. Indem nun die Milde ihren Platz in der vernünftigen Seele eines Menschen findet, stehen ihr die Affekte widerstreitend gegenüber. So wird in erster Linie die Grausamkeit (crudelitas) als Antipode der Milde gekennzeichnet, und selbstverständlich wurzelt auch diese Gegenüberstellung im argumentativen Horizont des Strafvollzugs und der Jurisdiktion.130 Darüber hinaus differenziert Seneca allerdings auch zwischen clementia und misericordia, die er durchaus nicht als wesensähnlich anzusehen vermag. Während die Milde der von Vernunft ge127 „Man darf Milde nicht unterschiedslos und allgemein gewähren noch gänzlich entziehen, denn allen zu verzeihen ist so grausam, wie niemandem. Wir müssen Maß halten.“ 128 Vgl. Sen.cl. 1 I,2 [Sen.cl. II 1,2]. 129 G. Maurach, Seneca, 99. 130 Vgl. Sen.cl. 2 II,1 [Sen.cl. II 4,1]: „Quid ergo opponitur clementiae? Crudelitas, quae nihil aliud est quam atrocitas animi in exigendis poenis.“ – „Was also wird der Milde entgegengestellt? Die Grausamkeit, die nichts anderes ist als seelische Rohheit beim Strafvollzug.“
362
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
prägten Seele eines Menschen entspringt, ist die Barmherzigkeit in den Augen Senecas eine Fehlhaltung der Seele: „Et haec [sc. misericordia] vitium animi est.“ (Sen.cl. 2 II,4 [Sen.cl. II 4,4])131 Die Abqualifizierung der Barmherzigkeit ergibt sich aus der Beobachtung, dass sich diese angesichts fremden Elends in der Seele des handelnden Subjekts rührt und die Seele dadurch in Erschütterung versetzt und in die Niederungen fremden Leids hinabzieht.132 Da die Seele eines Tugendhaften jedoch frei von jedweder Erregung ist, kann die Barmherzigkeit unmöglich Bestandteil der sittlichen Vollkommenheit sein, auch wenn viele Menschen der Barmherzigkeit einen sittlichen Wert zuschreiben.133 Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, parallelisiert Seneca die Barmherzigkeit mit der Grausamkeit: Ebenso wie die Grausamkeit unter dem Deckmantel der als sittlich gut zu bewertenden Strenge erwacht, so leuchtet die Barmherzigkeit unter dem Vorwand der Milde auf. Beiden jedoch, Barmherzigkeit und Grausamkeit, kann kein sittlicher Wert zukommen, da sie der Vernunft widerstreben und die tugendhafte Seelenruhe erschüttern.134 Hinsichtlich der Barmherzigkeit führt Seneca als Beweis ihrer unvernünftigen Natur an, dass sie, im Gegensatz zur Milde, bei einem fremden Leid nur das leidvolle Ergehen anblickt, aber den Dingen nicht auf den Grund zu gehen vermag.135 Die misericordia ist also durch Oberflächlichkeit gekennzeichnet und drängt die schwache Seele eines nicht sittlich Handelnden dazu, aufgrund oberflächlicher Betrachtungen zu barmherzigen Taten zu schreiten, ohne dass die Frage von Schuld oder Unschuld auch nur thematisiert wird. Die Barmherzigkeit verdrängt eine derartige Bewertung aus dem Bewusstsein des Handelnden, versetzt die Seele in einen leidenden Zustand und offenbart darin ihre Unvernunft: „Misericordia est aegritudo animi ob alienarum miseriarum speciem aut tristitia ex alienis malis contracta, quae accidere immerentibus credit“ (Sen.cl. 2 III,4 [Sen. cl. II 5,4])136 Ein sittlicher Herrscher kann und darf sich nicht von derartigen Emotionen bestimmen lassen. Vielmehr schließt seine Tugend jedwede, der Vernunft widerstreitende Regung aus, die seine Seele in Erschütterung oder gar in einen (mit-)leidenden Zustand versetzen könnte: „[E]rgo nun miseretur, quia id sine miseria animi non fit.“ (Sen.cl. 2 IV,1 [Sen.cl. II 6,1])137 Sollte der Weise auf131
„Auch ist Mitleid eine Fehlhaltung der Seele.“ Vgl. Sen.cl. 2 III,1 [Sen.cl. II 5,1]: „[E]st enim vitium pusilli animi ad speciem alienorum malorum succidentis.“ – „[E]s ist nämlich eine Fehlhaltung einer schwächlichen Seele, die beim Anblick fremden Elends niedersinkt.“ 133 Vgl. Sen.cl. 2, II,4 [Sen.cl. II 4,4]. 134 Vgl. Sen.cl. 2, II,4 [Sen.cl. II 4,4]; Sen.cl. 2 III,4–5 [Sen.cl. II 5,4–5]. 135 Ähnlich argumentiert auch Epiktet, Ench. 16. 136 „Mitleid ist ein seelisches Leiden wegen des Anblicks fremden Elends oder Trauer aufgrund fremden Unglücks, das – glaubt sie – Menschen widerfährt, die es nicht verdient haben.“ Vgl. auch Sen.cl. 2 IV,2 [Sen.cl. II 6,4]. 137 „[A]lso fühlt er kein Mitleid, weil dies ohne Leiden der Seele nicht geschehen kann.“ 132
11.3 Die sittliche Lebensgestaltung
363
grund seiner Vernunft und vermittels seiner Milde zu einer Entscheidung kommen, die eine Handlung nach sich zieht, welche äußerlich dem Handeln des Barmherzigen gleicht, so ist dennoch nicht die Handlung, sondern die innere Haltung von sittlichem Gewicht. Eine helfende, unterstützende oder gar verzeihende Zuwendung muss immer in vollkommener Unabhängigkeit gegenüber dem offensichtlichen Leid und unerschütterlicher Überlegtheit geschehen.138 Nur dann, wenn die Milde die Handlungsmotivation von Vergebung (bzw. von Straferlass) ist, kann die Vergebung sittlich sein. Andernfalls wäre der Vergebende nicht mehr durch seine Vernunft gelenkt und würde seine Souveränität gegenüber demjenigen, dem er Vergebung gewährt hat, einbüßen. Der Herrscher wäre dann, von Mitleid motiviert, seiner Freiheit verlustig gegangen.
11.3.6 Suizid und Freiheit Die Unerschütterlichkeit ist ein Wesensmerkmal des Weisen, das einzuüben ist. Neben der Abwehr der Affekte, der Bekämpfung der Begierden und der inneren Distanzierung gegenüber dem Verlust von Freunden und Familie soll sich der Weise darüber hinaus auch mit dem Gedanken von Schicksalsschlägen vertraut machen, die in Form von Krieg, Naturkatastrophen, Krankheiten, Verbannung und dergleichen über ihn hereinbrechen könnten. Nur derjenige, der innerlich auf derartiges vorbereitet ist, kann auch angesichts solcher Katastrophen eine tugendhafte Ruhe und Souveränität beibehalten.139 Seneca spannt den Bogen so weit, dass er auch angesichts von zu erleidender Folterung eine der Vernunft angemessene ruhige und überlegene Haltung fordert140 – und natürlich auch angesichts des eigenen Todes. Seneca räumt den Betrachtungen über den Tod in seinen Schriften einen breiten Raum ein, indem er sich in erster Linie mit der Frage auseinandersetzt, wie der Mensch der Todesfurcht begegnen kann. Diese stellt für Seneca eine schwerwiegende Beeinträchtigung sittlichen Verhaltens dar, da sie nahezu jede menschliche Seele zu erschüttern vermag. Da die Todesfurcht offensichtlich allen Lebewesen angeboren zu sein scheint, ist es die Pflicht eines tugendhaft Handelnden, sie vermittels der Vernunft zu überwinden. Um dies zu erreichen, verweist Seneca oft und mit Nachdruck darauf, dass jeder Mensch dem Tod entgegengeht, sodass eine Bedrohung durch den Tod, die etwa ein Sieger gegenüber einem Besiegten auszusprechen vermag, letzten Endes keine Drohung ist, da jeder Mensch sowieso eines Tages sterben wird.141 138 139
Vgl. Sen.cl. 2 IV,2–3 [Sen.cl. II 6,2–3]. Vgl. Sen.ep. 91,4–12. 140 Vgl. Sen.ep. 71,18. Dass der Mensch grundsätzlich dem Schmerz zu entfliehen versucht, ist naturgemäß, doch darf ein solches Verhalten nur in Übereinstimmung mit der Tugend geschehen (vgl. Sen.ep. 66,19). 141 Vgl. zu dieser Standardargumentation Senecas paradigmatisch Sen.ep. 4,8–9.
364
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
Ist die recht augenscheinliche Tatsache, dass jeder Mensch sterben wird, erst einmal als Faktum akzeptiert, so kann in einem nächsten Schritt über die sittliche Gestaltung des Sterbens nachgedacht werden. Für Seneca ist es ein Ausweis von Tugend, dass sich der Mensch in seinen Entscheidungen und Handlungen nicht die Souveränität durch irgendwelche äußeren Einflüsse rauben lässt. Zu diesen Einflüssen gehören natürlich auch Emotionen und Affekte sowie die Abhängigkeit von Objekten, Begierden oder auch von anderen Menschen. Demgemäß muss es das oberste Ziel eines Tugendhaften sein, auch im Sterben die Handlungssouveränität beizubehalten, um so auch im Sterben Sittlichkeit zu beweisen, worin, wie bereits ausgeführt, vollkommenes Glück und vollkommene Freiheit liegt. Anders ausgedrückt kann die lähmende Furcht vor dem Tode als Preisgabe der Freiheit verstanden werden, insofern der Mensch vor dieser Furcht kapituliert und keine Haltung zu bewahren weiß. In den Ausführungen Senecas über den Tod begegnet zumeist der Suizid als Ausdruck tugendhaften Umgangs mit dem Tod.142 Wer bereit und fähig ist, über sein Sterben selbst zu bestimmen und dieses auch eigenhändig herbeizuführen, der beweist, dass er die Kontrolle über sein Schicksal nicht verloren hat und zudem dem Leben nur dann einen Wert bzw. einen Sinn zumisst, wenn dieses unter tugendhaften Aspekten möglich ist. Sind die Lebensumstände erst einmal aufgrund äußerer Umstände dahin gelangt, dass der Einzelne nicht mehr in der Lage ist, der Tugend zu folgen, dann gebietet die Vernunft den freiwilligen Gang in den Tod. Somit ist der Suizid für Seneca meist Ausdruck größter individueller Freiheit und eben darin tugendhaft: „Non sumus in ullius potestate, cum mors in nostra potestate sit.“ (Sen.ep. 91,21)143 In den epistulae morales führt Seneca verschiedene Personen an, die diese Art der Tugend verkörperten, wobei die Leuchtgestalt seiner Ausführungen stets Marcus Porcius Cato der Jüngere (Uticensis) ist.144 An der Figur des Cato will Seneca deutlich machen, was unter einem tugendhaften Sterben zu verstehen ist, da Cato, in den Augen Senecas ein bewundernswerter Stoiker, der sich stets an der Vernunft orientierte und seine Kraft in sittlicher Weise in den Dienst des Staates stellte, sich selbst das Leben 142 Vgl. dazu auch W. Mann, Learning how to die, 112–122; G. Maurach, Epistulae morales, 166–167. 143 „Nicht sind wir in irgendjemandes Gewalt, wenn der Tod in unserer Gewalt ist.“ 144 Vgl. ausführlich zu Cato Sen.ep. 24,6–8. Der Legende nach soll Cato versucht haben, sich mit dem eigenen Schwert selbst zu töten, was aber misslang, da er schnell von Ärzten gefunden wurde, die ihn versorgten. Daraufhin soll Cato die Wunde mit eigenen Händen so weit vergrößert haben, bis er schließlich daran starb. Für Seneca zeigt sich darin, wie sehr ein tugendhafter Mensch sich selbst dem eigenen Willen unterwerfen kann, dass selbst ein schmerzhafter Tod keine abschwächende Wirkung auf die Willensentscheidung, die durch die Vernunft bestimmt war, haben kann. Neben Cato verweist er auf andere Gestalten der römischen und griechischen Geschichte, wie beispielsweise Sokrates (vgl. Sen.ep. 14,14 et.al.), Scipio (Sen. ep. 24,9–10), Leonidas (Sen.ep. 82,20–21) sowie auf einzelne Gladiatoren, die sich auf recht unappetitliche Weise das Leben genommen haben (vgl. Sen.ep. 70,20–23). Vgl. zur gesamten Thematik des Suizids vor allem Sen.ep. 24; 30; 70.
11.3 Die sittliche Lebensgestaltung
365
nahm, als es in seinen Augen nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen Caesar keine Möglichkeit mehr gab, ein sittliches Leben fortzuführen. In seinem Suizid bewies er bis zuletzt, dass er seinen Körper dem Willen seines Geistes unterworfen hatte und er sich selbst niemals den Befehlen eines Tyrannen wie Caesar beugen würde. Letzten Endes bewies Cato zum Zeitpunkt seines Suizids in den Augen Senecas das höchste Maß an Freiheit: „Catoni gladium adsertorem libertatis extorque: magnam partem detraxeris gloriae.“ (Sen.ep. 13,14)145 Die Sittlichkeit, die dem Suizid im Denken Senecas zukommt, gründet also einerseits in der Überwindung der Todesfurcht, die die Seele beeinzuträchtigen und somit von der Tugend abzubringen vermag, und andererseits in der Demonstration eines freien Willens, der eine schonungslose Analyse der Lebensqualität vornimmt und im Ernstfall den frühen Tod einem verlängerten Leben unter den Bedingungen der Unsittlichkeit vorzieht. Seneca bringt es auf den Punkt, indem er die Qualität des Lebens nicht an dessen Dauer, sondern an dessen Sittlichkeit bemisst: „Excutienda vitae cupido est discendumque nihil interesse quando patiaris, quod quandoque patiendum est; quam bene vivas referre, non quamdiu; saepe autem in hoc esse bene, ne diu.“ (Sen.ep. 101,15)146 Der Tod ist ebenso wie körperlicher Schmerz bar jeglichen sittlichen Werts, sodass bei diesen Motiven als auch bei allen anderen Aspekten des menschlichen Lebens, vor allem aber bei jenen, die dem Menschen von außen zukommen, ein tugendhafter Umgang mit ihnen von höchster Relevanz ist.147 Während nun der Gedanke entstehen kann, dass Seneca in jedem Fall zu einem Suizid rät, da dieser grundsätzlich die Freiheit und die Sittlichkeit eines Menschen garantiert, so muss darauf verwiesen werden, dass auch der Umgang mit dem Freitod den Prämissen der Tugend unterworfen ist. Tötet sich ein Mensch aus Gründen, die der Tugend nicht entsprechen, so kann in diesem letzten Willensakt auch keine Sittlichkeit gefunden werden.148 Im Überblick über die Gedanken Senecas zu Tod und Sterben kann festgehalten werden, dass diese Motive eine wichtige Rolle in der Entwicklung seiner Ethik spielen, da er die in jedem Menschen wurzelnde Furcht vor dem Tod und das Verlangen nach einem möglichst langen Leben als unsittlich verwirft und so den Umgang mit Tod und Sterben zu einem Prüfstein der Ethik macht.149 Das memento mori weiß Seneca dahingehend für seine Argumentation zu nutzen, dass er die Frage stellt, ob sich der Mensch angesichts seines sicheren und even145 „Dem Cato entwinde das Schwert, den Verteidiger seiner Freiheit: einen großen Teil seines Ruhmes nimmst du ihm!“ 146 „Verbannt werden muss aus dem Leben die Gier, lernen muss man, nicht kommt es darauf an, wann du erduldest, was du irgendwann einmal erdulden musst. Wie sittlich du lebst, ist wichtig, nicht wie lange; oft aber besteht sittlich zu leben darin, nicht lange zu leben.“ Der ganze Brief 101 widmet sich diesem Gedankengang; vgl. ebenso Sen.ep. 22,15–17. 147 Vgl. Sen.ep. 82,12–13. 148 Vgl. Sen.ep. 70,8–10. 149 Pointiert dazu Sen.ep. 82,4–5.
366
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
tuell auch nahe bevorstehenden Sterbens in ausreichendem Maß um seine eigene Tugend bemüht hat. Auch wenn, wie oben ausgeführt, die Vervollkommnung des Menschen jenseitige Konsequenzen nach sich zieht, indem die tugendhafte Seele wieder zu ihrem göttlichen Ursprung zurückkehren kann, ist die Frage Senecas meist nicht vor einem „eschatologischen“ Hintergrund gestellt, sondern vielmehr angesichts der Kürze des Lebens.150 Seneca fordert seine Adressaten auf zu bedenken, ob sie ihrem Leben durch ihr Handeln und Entscheiden eine sittliche Qualität verliehen haben und dadurch ihrer seelischen Disposition gerecht geworden sind oder nicht. Also anders gefragt: Hat der Einzelne seine Lebenszeit damit zugebracht, Philosophie zu treiben und der Vernunft zu folgen, oder nicht. Seneca kommt in vielfältiger Ausdrucksweise auf diesen Problemkomplex zu sprechen, da für ihn der Sinn des Lebens in der Tugend besteht. An dieser Stelle soll ein narratives Motiv genannt werden, das sich sowohl in den epistulae morales als auch in de brevitate vitae findet und das den Standpunkt Senecas unterstreicht, dass nur die Philosophie dem menschlichen Leben Sinn und Erfüllung bieten kann.
11.3.7 Streben nach Tugend angesichts des Todes In Sen.brev.vit. 18–19 wendet sich Seneca an den Adressaten der Schrift, Paulinus, und führt ihm vor Augen, dass er seine Lebenszeit verschwendet, da er sich nicht mit der Philosophie beschäftigt, sondern seine ganze Energie darauf verwendet, die staatliche Getreideversorgung zu organisieren und aufrechtzuerhalten. Seneca rügt ihn ob seines Eifers für diese Aufgabe, da Paulinus doch von Natur aus die besten Anlagen für ein tugendhaftes Leben besitzen würde und die philosophischen Studien seiner Jugend mitnichten auf dieses entsagungsvolle Amt abzielten.151 Indem sich Paulinus aufopferungsvoll um die Getreideversorgung kümmert, sich um Transport, Lagerung und Verteilung Gedanken macht, stürzt er sich selbst und seine Seele in einen Zustand ständiger erregter Besorgnis, die dadurch noch gesteigert wird, dass er, so Seneca, mit dem unvernünftigsten und unberechenbarsten Gegenüber konfrontiert ist: dem Hunger der Menschen.152 Seneca fordert Paulinus auf, sich von diesen Tätigkeiten zurückzuziehen und sich nicht etwa einer faulen Ruhe oder den Vergnügungen des Pöbels zu 150 Seneca hat eine gleichlautende Schrift verfasst, die sich mit der Gestaltung des Lebens angesichts dessen Vergänglichkeit beschäftigt: de brevitate vitae. 151 Vgl. Sen.brev.vit. 18,4. 152 Vgl. Sen.brev.vit. 18,5: „Cogita praeterea, quantum sollicitudinis sit ad tantam te molem obicere: cum ventre tibi humano negotium est; nec rationem patitur nec aequitate mitigatur nec ulla prece flectitur populus esuriens.“ – „Bedenke außerdem, wie viel Beunruhigung es bedeuten dürfte, so großer Belastung dich auszusetzen: mit dem menschlichen Magen hast du Beschäftigung; weder Vernunft erträgt er, noch durch Gerechtigkeit wird er besänftigt noch durch irgendeine Bitte gelenkt, wenn das Volk hungert.“
11.4 Lukas und Seneca im Gespräch
367
widmen,153 sondern sich mit dem zu beschäftigen, was der Seele dienlich ist: mit dem Göttlichen.154 Somit fordert Seneca den Adressaten seines Schreibens dazu auf, die politischen Verpflichtungen zugunsten der Vervollkommnung seiner Seele aufzugeben, da er ansonsten aufgrund der Belastungen seines Amtes und der Sorgen, die seine Seele belasten, niemals zu wahrer Tugend kommen wird. Diese Aufforderung ist insofern erstaunlich, als dass Seneca einerseits selbst hohe politische Verantwortung übernommen hat und andererseits in der Übernahme von Verpflichtungen gegenüber Staat und Gesellschaft durchaus einen Ausdruck von Tugend sieht. Allerdings dürfen diese beiden Aspekte, die Aufforderung an Paulinus einerseits und die Verantwortung gegenüber Staat und Gesellschaft andererseits nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es muss vielmehr die Schwerpunktsetzung der Argumentation in den Mittelpunkt gestellt werden. So drückt sich in Sen.brev.vit. 18–19 die Sorge darüber aus, dass auch ein Mensch, der von Hause aus mit allen Voraussetzungen eines tugendhaften Lebens ausgestattet ist, dennoch aufgrund falscher Prioritätensetzungen den Sinn und das Ziel seines Lebens zu verfehlen vermag; und seien die gesetzten Prioritäten auch von noch so hoher Bedeutung für Staat und Gesellschaft, seien sie noch so anerkannt. Seneca insistiert darauf, dass derjenige, der sich in seiner Betriebsamkeit davon abbringen lässt, sich um die Vervollkommnung seiner Seele zu sorgen, seine Tugend auszubilden, sich durch die Anschauung des Göttlichen inspirieren zu lassen, niemals das höchste Gut erreichen wird und damit nicht nur die Qualität seines Lebens verringert, sondern den Sinn des menschlichen Lebens schlicht verfehlt. Diese Überzeugung findet sich natürlich auch in den epistulae morales, doch entwickelt Seneca diesen Gedanken dahingehend weiter, dass eine Sucht nach Anerkennung durch öffentliche Ämter, nach geschäftlichen Unternehmungen und dergleichen mit der Gefahr behaftet ist, das wahre Leben, also ein Leben im Sinne der Philosophie, immer weiter hinauszuschieben, bis der Tod dem schließlich ein Ende setzt. Dadurch erwächst einerseits die Notwendigkeit, sich umgehend der Vervollkommnung seiner Tugend zu widmen und andererseits jeden Tag so zu gestalten, dass er sich durch ein qualitatives, d. h. tugendhaftes Leben auszeichnet.155
11.4 Lukas und Seneca im Gespräch Die Analyse der Ethik Senecas hat deutlich gemacht, dass die lk. Ethik der imitatio misericordiae Dei bedingt anschlussfähig an die ethischen Überzeugungen des Stoikers ist. Es herrscht zwischen Lukas und Seneca eine große Einigkeit darüber, dass der Mensch nicht nur grundsätzlich zu einem ethisch qualifizier153
Vgl. Sen.brev.vit. 18,2. Vgl. Sen.brev.vit. 19,1. 155 Vgl. beispielsweise Sen.ep. 101. 154
368
Kapitel 11: Seneca – Eine Ethik der Vernunft
ten Handeln in der Lage ist, sondern dass es darüber hinaus auch seine Pflicht ist, sich sittlich zu entscheiden und zu verhalten. Dabei spielt das Motiv der imitatio Dei eine herausragende Rolle in der Begründungsstruktur ethischen Handelns. Sowohl im LkEv als auch bei Seneca verkörpert Gott eine sittliche Perfektion, die dem Menschen nachzuahmen aufgetragen ist und beide Autoren muten ihren Adressaten die imitatio Dei ohne qualitative Abstriche zu. Für Lukas bedeutet Nachfolge Jesu ein Leben, das sich am Willen Gottes orientiert, wodurch schlussendlich die vollständige Teilhabe an der Gottesherrschaft ermöglicht wird. Dort hat der Mensch als Geschöpf Gottes wieder vollständige, unverbrüchliche Gemeinschaft mit seinem Schöpfer. Transformiert man diese Begrifflichkeiten in die Sprache Senecas, so würde der Stoiker dem lk. Konzept durchaus zustimmen. Schließlich erwartet er von seinen Adressaten, dass sie ihr Leben nach den Maßstäben der Vernunft gestalten, wobei die Vernunft als göttlicher Funke im Menschen verstanden wird, und Gott selbst als die vollkommene Vernunft anzusehen ist. Indem sich der Mensch nun der Vernunft, also dem Willen Gottes, gemäß verhält, erreicht er sittliche Vollkommenheit und steigt in die Sphäre Gottes empor, wo die menschliche Seele von Natur aus zu Hause ist. Beide Autoren verdeutlichen zudem in klaren Worten, dass der Mensch nicht unbegrenzt Zeit zur Verfügung hat, sein Leben in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes zu gestalten. Die strukturellen Parallelen zwischen Sen.brev.vit. 18–19 und Lk 12,16–21 sind nicht zu übersehen. Darüber hinaus eint die beiden die Überzeugung, dass Reichtum, Luxus und Gewinnsucht den Menschen auf dem Weg zur Erfüllung des göttlichen Willens nachhaltig behindern, ja dass das Streben nach Reichtum die Seele des Menschen wie eine Sucht befällt und ein tugendhaftes Leben dadurch unmöglich wird. Es zeigt bis hierher, dass der Evangelist durchaus sprach- und anschlussfähig an Grundlagen der stoischen Philosophie gewesen wäre. Allerdings wird das lk. Proprium im Gottes- und Menschenbild deutlich, dass der Ethik des Evangelisten zugrunde liegt. So offenbart sich Gott nicht als die reine Vernunft, er ist nicht frei von allen Emotionen auch definiert sich seine Freiheit nicht durch die völlige Unberührtheit von irdischen Geschicken. Wie in der Analyse der lk. Ethik deutlich geworden ist, offenbart sich Gott in Jesus als der Barmherzige, dessen Fokus auf den personae miserae liegt und der selbst durch seine eigene Barmherzigkeit zur Fortschreibung der Heilsgeschichte in Jesus motiviert ist. Während Seneca ein Verständnis der imitatio Dei entwickelt, dessen Charakteristikum darin besteht, dass Emotionen die sittliche Vervollkommnung verhindern, kann im lk. Denken die Nachahmung Gottes nur vermittels der barmherzigen Zuwendung zu den leidenden Mitmenschen ermöglicht werden. Der bei Seneca vorgenommenen expliziten Abqualifizierung der Barmherzigkeit als Fehlhaltung der Seele steht das lk. Modell diametral entgegen, das die Barmherzigkeit als dominanten Wesenszug Gottes beschreibt. Es spielt dabei keine Rolle, dass Seneca ein Herrscherethos formuliert. Die Er-
11.4 Lukas und Seneca im Gespräch
369
schütterung der Seele durch Emotionen wird grundsätzlich für alle Menschen als unsittlich beschrieben. Es ist interessant, dass beide Autoren trotz ihrer Differenz über den ethischen Wert der Barmherzigkeit zu einer ähnlichen Beschreibung derselben gelangen: Ein von Barmherzigkeit motivierter Mensch blickt auf die Leiden des Nächsten und lässt sich in seinen Taten und in seiner Zuwendung zum Mitmenschen durch das Mit-Leiden bestimmen. Die lk. Ethik zielt darauf ab, dass der Mensch die Vervollkommnung seiner Sittlichkeit gerade in der mitleidvollen Konzentration auf den Mitmenschen erreicht; eine Konzentration, die bis zur Selbstentäußerung des Handelnden gehen kann. Demgegenüber hat Seneca den Einzelnen im Fokus, und in seiner ethischen Reflexion scheint der einzelne Mensch häufig Handlungssubjekt und Handlungsobjekt seiner sittlichen Vervollkommnung zu werden. Die positiven Effekte, die ein sittliches Verhalten in Staat und Gesellschaft nach sich ziehen, sind häufig sekundär, auch wenn sich Seneca in de otio bemüht, eben diesen Vorwurf zu entkräften. Diese fundamentale Differenz offenbart sich auch im Zusammenhang mit Tod und Sterben. Während Seneca den Suizid als Akt größter Freiheit und Unabhängigkeit, aber auch vollendeter individueller Sittlichkeit definieren kann, ist die Lebenshingabe im LkEv gerade aufgrund der Nachfolge oder besser: der Nachahmung Jesu eine Lebenshingabe für andere und niemals als Demonstration unantastbarer Autonomie zu denken. Es kann also abschließend festgehalten werden, dass der Evangelist Lukas durchaus in der geistig-intellektuellen Welt des Imperium Romanum verwurzelt war und einzelne Argumentationsstrukturen für seine Ethik übernommen hat. Er tritt mit seinem Evangelium in einen Dialog mit seiner hellenistisch-römischen Umwelt und transformiert die bekannten ethischen Argumentationsgänge und Grundüberzeugungen durch deren christliche Spezifizierung. Die provokative Botschaft der Ethik der imitatio misericordiae Dei wird gerade durch diesen Transformationsprozess für seine hellenistisch-römischen Leser besonders deutlich.
Kapitel 12
Abschließendes Summarium 12.1 Der Evangelist Lukas In der vorliegenden Untersuchung ist deutlich geworden, dass der Evangelist Lukas ein Theologe von Rang war, der sein literarisches Werk strukturell wie inhaltlich zu gestalten wusste. Die Ethik, die im LkEv begegnet, ist im besten Sinne christliche und lk. Ethik zugleich, wobei die Bearbeitung urchristlicher Traditionen und Überlieferungen (vgl. Lk 1,1–4) weit über eine rein redaktionelle Arbeit hinausgeht. Es ist Lukas vielmehr gelungen, seine Ethik auf einen argumentativen Gesamtzusammenhang aufzubauen und alle ethisch relevanten Perikopen in diesen Zusammenhang einzubetten. Dadurch gewinnt die lk. Ethik an Struktur und Stringenz und es ließ sich im Verlauf der Untersuchung zeigen, dass materialethische Konkretionen und Beispiele ethisch korrekten Verhaltens jeweils Ausformulierungen dieser ethischen Grundstrukturen sind. Diese sind maßgeblich durch das in der Antike bekannte Motiv der Nachahmung Gottes geprägt, wobei der Evangelist eine explizite Zuspitzung auf die Barmherzigkeit Gottes vornimmt und andere Aspekte, wie etwa die göttliche Richtergewalt, ausdrücklich aus dem Prinzip der Nachahmung Gottes ausschließt. So kann die lk. Ethik in ihrem Grundsatz als eine imitatio misericordiae Dei verstanden werden (vgl. Lk 6,35–36). Konsequenterweise ist die Barmherzigkeit der Wesenszug Gottes, der für die lk. Theo-Logie von größter Relevanz ist. Bereits zu Beginn des LkEv, in den Hymnen Magnificat (vgl. Lk 1,46–55) und Benedictus (vgl. Lk 1,68–79), bringt der Evangelist die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Barmherzigkeit die Handlungsmotivation Gottes für die Initiierung der Bundesschlüsse zwischen Gott und den „Vätern“ und auch für die weitere Fortschreibung der Heilsgeschichte darstellt. Die in den sozialethischen Texten des Alten Testaments häufig beschriebene Solidarität Gottes mit den personae miserae versteht Lukas als Erweis dieser barmherzigen Zuwendung, und er stellt die eigenen sozialethischen Reflexionen in den genannten atl. Traditionszusammenhang. Das lk. Besitzethos ist ein Beispiel dafür, wie der Evangelist auf ethischer Basis die heilsgeschichtliche Linie weiterentwickelt. Durch die Geburt Jesu wird in der Geschichte Gottes mit seinem Volk eine bedeutsame Zäsur gesetzt, die den innerweltlichen Anbruch der βασιλεία τοῦ θεοῦ markiert. Den Menschen wird durch den Vollzug der μετάνοια und der
372
Kapitel 12: Abschließendes Summarium
sich daran anschließenden Jesusnachfolge die Partizipation an der Gottesherrschaft ermöglicht und diese Teilhabe gilt nicht nur den genealogischen Mitgliedern des Volkes Israel, sondern auch den „Heiden“. Lukas macht deutlich, dass das Jesusereignis als Ausdruck der Bundestreue Gottes zu verstehen ist und dass gerade in der Person Jesu, in seinem Reden und Wirken, die Barmherzigkeit Gottes in herausragender Weise zur Anschauung kommt. So ist Jesus nicht nur ein Beleg dafür, wie sehr Gott in seinen Handlungen gegenüber den Menschen von Mitleid und Erbarmen motiviert ist, sondern Jesus selbst ist die vor aller Welt sichtbare Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes. Damit gewinnt die lk. Ethik der imitatio misericordiae Dei einen christologischen Charakter, der nicht zuletzt für die Plausibilisierung ethischer Inhalte von Bedeutung ist. Den Adressaten des LkEv wird aufgetragen, die Nachahmung der göttlichen Barmherzigkeit zum Mittelpunkt des eigenen Entscheidens und Handelns zu machen, wobei die Definition dessen, was Barmherzigkeit bedeutet, gerade in der Lehre und im Handeln Jesu anschaulich wird. Lukas beschreibt, dass die Handlungen eines von Barmherzigkeit motivierten Menschen grundsätzlich durch ein Mit-Leiden mit den Nöten und Bedürfnissen des Gegenübers geprägt sind. Durch das in diesem Zusammenhang begegnende Verb „σπλαγχνίζεσθαι“ wird deutlich, dass eine erbarmende Zuwendung zum Nächsten den Handelnden in seinem Inneren berührt, dass er gewissermaßen mit „Leib und Seele“ an der Not des Anderen Anteil nimmt (vgl. Lk 10,30–37). Eine nüchterne Distanzierung ist ebenso wenig ethisch korrekt wie ein schlichtes Ignorieren der Notsituation. Dabei weist eine empathische Zuwendung im Sinne der lk. Ethik zwei besondere Spezifika auf. Zum einen wird im Zusammenhang mit der Goldenen Regel (vgl. Lk 6,31) das Mitleid bei Lukas durch ein Sich-Hineinversetzen in die Situation des Nächsten bestimmt, aufgrund dessen der Handelnde besser in der Lage ist, die Bedürftigkeit des Anderen zu erfassen und anschließend zu lindern. Zum anderen verlangt die im LkEv geschilderte barmherzige Zuwendung eine Zurückstellung der eigenen Bedürfnisse zugunsten des Nächsten. Durch die Nachahmung der göttlichen Barmherzigkeit soll der ethisch korrekt Handelnde das Wohlergehen des Gegenübers zur wichtigsten Priorität erheben. Dabei sind als Empfänger der barmherzigen Zuwendung auch die Feinde miteingeschlossen. Die im LkEv postulierte Feindesliebe (vgl. Lk 6,27–30) ist durch die Mahnung zum Gewaltverzicht geprägt, die nicht nur den Verzicht auf eine aktive Verteidigung miteinschließt, sondern auch eine zuvorkommende Behandlung des Gegners. Lukas ist dabei von der Überzeugung geleitet, dass die Feindesliebe ein Ausdruck der Nächstenliebe ist und es den Jesusnachfolgern gerade in Analogie zum Verhalten Jesu aufgetragen ist, im feindlich gesinnten Gegenüber nicht den Gegner zu sehen, sondern den zu liebenden Nächsten. Ob ein solches Verhalten die Durchbrechung der Feindschaft auf beiden Seiten mit
12.1 Der Evangelist Lukas
373
sich bringt, ob also der Feind angesichts der ihm begegnenden Liebe von der Feindschaft ablässt, spielt für Lukas keine Rolle. Eine positive, reziproke Vergeltung erwiesener Wohltaten zwischen den menschlichen Akteuren ist nicht Teil der ethischen Argumentation des Evangelisten (vgl. Lk 6,32–35). Die Adressaten des LkEv sind vielmehr dazu angehalten, die Belohnung für ihre Taten eschatologisch durch Gott zu erwarten. Die lk. Ethik ist somit nicht nur unter Absehung der in der Antike gebräuchlichen zwischenmenschlichen Reziprozität formuliert, sondern findet ihr Proprium gerade in der Durchbrechung dieser reziproken Strukturen. Durch die Verortung aller Aspekte der Handlungsmotivation in den Bereich Gottes, sei es in Bezug auf die Nachahmung der göttlichen Barmherzigkeit, sei es im Vertrauen auf die eschatologische Vergeltung der erwiesenen Wohltaten, gewinnt der Mensch einerseits größtmögliche Freiheit, da seine Taten nicht vom Wohlwollen anderer Menschen abhängig sind, andererseits jedoch wird innerweltlich auch die Bereitschaft zur Leidensübernahme erwartet (vgl. beispielsweise Lk 9,23–26). Der Evangelist ist in diesem Punkt so radikal wie nüchtern, da er nicht davon ausgeht, dass die durch Unterdrückung und Gewalt geprägten gesellschaftlichen Strukturen innerweltlich aufgelöst werden. Eine Umkehrung der irdischen Verhältnisse findet in Vollendung erst in der Königsherrschaft Gottes statt. Dass in der Gemeinschaft der Christusgläubigen ein durch Barmherzigkeit geprägter Gegenentwurf zu den gesellschaftlichen Strukturen gelebt wird, kann als Zeichen der bereits angebrochenen Gottesherrschaft verstanden werden. Dieser Gegenentwurf ist nicht zuletzt durch eine von Vergebung geprägte Nächstenliebe gekennzeichnet, die konstitutiv für ein gelingendes Miteinander in der Nachfolge Jesu ist. Dabei setzt der Evangelist voraus, dass jeder Mensch der Vergebung bedürftig ist und dass diese grundsätzlich durch Gott ermöglicht wird. Vermittels der imitatio misericordiae Dei soll die vergebende Nächstenliebe aber auch das zwischenmenschliche Verhalten bestimmen (vgl. Lk 7,36– 50), wodurch die Annahme der Sünder nicht nur eine Aufgabe Gottes, sondern auch der Menschen ist. Indem Gott vergibt und den Reuevollen in das Reich Gottes aufnimmt, ist es auch dem Einzelnen aufgetragen, seinem Nächsten zu vergeben und ihn wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Wer sich der Aufforderung zur gegenseitigen Vergebung verschließt, so die Logik des Evangelisten, verschließt sich auch dem Willen Gottes und kann somit nicht an der Gottesherrschaft partizipieren (vgl. Lk 15,11–32). Indem die Observanz gegenüber dem Willen Gottes mit der erbarmenden Zuwendung zum Nächten verschränkt wird, macht Lukas deutlich, dass seine Auslegung des Doppelgebots der Liebe grundsätzlich von einer Hermeneutik der Barmherzigkeit geprägt ist (vgl. Lk 10,25–37). Derjenige, der Gott liebt, erbarmt sich seines Nächsten und vollzieht somit die ethischen Anforderungen der Nachfolge Jesu.
374
Kapitel 12: Abschließendes Summarium
12.2 Das hellenistische Frühjudentum Innerhalb des hellenistischen Frühjudentums lassen sich zahlreiche Strukturanalogien zur lk. Ethik aufweisen. Besondere Beachtung verdient dabei der Roman „Joseph und Aseneth“: Im ersten Hauptteil des Romans (vgl. JosAs 1–21) wird die μετάνοια der ägyptischen Priestertochter Aseneth geschildert, in deren Verlauf sie sich von den ägyptischen Gottheiten ab- und dem Gott Israels zuwendet. Die büßende Umkehr der Aseneth wird in existentiell dramatischen Zügen als siebentägiger Prozess beschrieben, in dessen Verlauf die Priestertochter gänzlich mit allen Sicherheiten ihres alten Lebens bricht und ihre ganze Hoffnung auf das Angenommen-Werden durch Gott setzt, das schlussendlich auch gewährt wird. Im Hinblick auf das LkEv ist einerseits die Notwendigkeit einer vollzogenen μετάνοια zur Partizipation an der Gemeinschaft der Glaubenden von Relevanz und andererseits die Betonung der Barmherzigkeit Gottes, von der sich Aseneth vollständig abhängig macht (vgl. JosAs 11,10). Der Roman formuliert die Überzeugung, dass gerade durch die Barmherzigkeit Gottes die Möglichkeit für alle Menschen gegeben ist, den Fremdgöttern abzusagen und sich zu Gott zu bekennen, um somit aus der Gewalt des Todes in das Reich des Lebens zu fliehen (vgl. JosAs 8,5). Die Darstellung der Umkehr ist in JosAs letztlich mit der Gewissheit verbunden, dass die μετάνοια durch die barmherzige Aufnahme Gottes beantwortet wird. Der zweite Hauptteil des Romans (JosAs 22–29) widmet sich dem ethisch guten Umgang mit den Mitmenschen, wobei aus der Barmherzigkeit Gottes eine von Barmherzigkeit geprägte Nächstenliebe abgeleitet wird, die sogar die verzeihende Feindesliebe miteinschließt (vgl. JosAs 28,2–7). Eine solche Ethik geziemt sich für all diejenigen, die Gott verehren (ἄνδρες θεοσεβεῖς), wodurch eine deutliche Differenzierung zwischen denjenigen, die Gott die Treue halten, und denen, die seine Gebote nicht befolgen, vorgenommen wird. Die sittliche Qualität eines Menschen erwächst nach dem Duktus von JosAs in erster Linie aus seiner Relation zu Gott. Die in JosAs formulierten ethischen Leitsätze fordern die Adressaten dazu auf, Böses nicht mit Bösem zu vergelten (vgl. JosAs 23,9), auf Rache zu verzichten (vgl. JosAs 28,9–17) und sich sogar fürsorgend um den geschlagenen Feind zu kümmern (vgl. JosAs 28,14). Parallel zu Lukas (vgl. Lk 15,28) wird betont, dass der Zorn des Menschen ein durch Mitleid und Erbarmen geprägtes Verhalten verunmöglicht (vgl. JosAs 28,9– 17) und der Einzelne somit dazu angehalten ist, seine Affekte zu kontrollieren (vgl. JosAs 23,10). Allerdings ist die Anwendung von Gewalt zum Schutz gegen Feinde, im Gegensatz zur lk. Ethik, ein durchaus legitimes Mittel und widerspricht in der Logik von JosAs nicht dem Gebot zur Nächsten- und Feindesliebe. Die Interpretation des Nächstenliebegebots durch ein Ethos der Barmherzigkeit ist auch in der frühjüdischen Umwelt des Evangelisten bekannt und findet breite Anwendung in den Testamenten der XII Patriarchen. So werden im Test-
12.2 Das hellenistische Frühjudentum
375
Seb verschiedene Facetten der barmherzigen Zuwendung zum Nächsten diskutiert, die sowohl die Unterstützung von Notleidenden (vgl. TestSeb VI,4–5.7; VII,3) als auch die Solidarität mit Unterdrückten (vgl. TestSeb II,4–6) sowie die durch Barmherzigkeit motivierte Vergebung (vgl. TestSeb VIII,1–IX,3) beschreiben. Analog zu den lk. Ausführungen weist auch das TestSeb auf die empathische Dimension der Barmherzigkeit hin, die ein Mit-Leiden mit dem Nächsten notwendig impliziert (vgl. TestSeb IV,5; VI,4; VII,3). Ebenso wie der Evangelist Lukas geht das TestSeb davon aus, dass die Nächstenliebe universale Gültigkeit besitzt und nicht auf eine bestimmte Gruppe wie etwa die Mitglieder des Volkes Israel eingeschränkt werden kann (vgl. TestSeb V,1). Ihren Begründungszusammenhang findet die durch Barmherzigkeit geprägte Nächstenliebe in Gott, der seinerseits barmherzig und mitleidsvoll ist (vgl. TestSeb IX,7). Neben dem TestSeb bieten auch das TestJos und das TestBen einige Sachparallelen zur lk. Ethik. So wird durch die Darstellung Josephs anschaulich gemacht, dass sich ein sittlich gutes Verhalten auch in Zeiten äußerer Bedrängnis durch die Aufrechterhaltung barmherziger Zuwendung zum Nächsten erweisen muss. Dabei kommt das Motiv der Feindesliebe mit in den Blick, da Joseph einerseits seine Brüder, die ihn verkauft haben, im Vollzug der Leidensübernahme schützt (vgl. beispielsweise TestJos XI,2; XIII,9; XIV,1–3), und er diesen andererseits auch vergibt (vgl. beispielsweise TestBen III,7). Die positive Relation zu Gott ergibt sich im Duktus der Testamente gerade durch einen sittlich guten Lebenswandel, der sich an der Barmherzigkeit orientiert (vgl. beispielsweise TestSeb VIII,2; TestJos X,2; TestBen III,3–5). Die Testamente formulieren analog zu Lukas eine Ethik, die die Verantwortung des einzelnen Menschen und dessen Fähigkeit zu einem sittlich guten Leben betont. Allerdings werden, ganz im Gegensatz zum LkEv, immer wieder Hoffnungen laut, dass eine positive Vergeltung der ethisch guten Taten bereits im Diesseits geschieht. Dazu dient Joseph als Paradebeispiel und wird den Adressaten der Testamente als ethisches Vorbild zur Nachahmung anempfohlen (vgl. beispielsweise TestBen III,1; IV,1). Das für Lukas so wichtige Motiv der Nachahmung der göttlichen Barmherzigkeit wird auch im Aristeasbrief aufgegriffen. In der EpArist wird nicht nur die Entstehungslegende der LXX, sondern auch ein hellenistisch-frühjüdisches Herrscherethos beschrieben, das konsequent in Rückbezug auf das Wesen und Wirken Gottes formuliert ist (vgl. EpArist 187–294). Das Ethos beginnt mit der Mahnung zur Nachahmung der göttlichen Milde (vgl. EpArist 188) und rekurriert im weiteren Verlauf in verschiedenen Variationen darauf. Die Milde Gottes wird in der LXX stets der göttlichen Barmherzigkeit zugeordnet, sodass auch die EpArist die Imitation der Barmherzigkeit Gottes empfiehlt (vgl. Ep Arist 208). Dem schließt sich die Aufforderung zu einem gerechten und freundlichen Umgang mit den Untertanen an (vgl. EpArist 209–210), der von Frömmigkeit und Liebe geprägt (vgl. EpArist 210.229) und grundsätzlich frei von Zorn sein soll (vgl. EpArist 254). Ein Herrscher wird gemäß der EpArist nur
376
Kapitel 12: Abschließendes Summarium
dann eine lange und erfolgreiche Herrschaft ausüben können, wenn er sich als Nachfolger Gottes erweist und diesen in den genannten Punkten als zu imitierendes Vorbild ansieht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die lk. Ethik der imitatio misericordiae Dei durchaus anschlussfähig an ethische Konzeptionen des hellenistischen Frühjudentums ist und der Evangelist bei der Gestaltung seiner Ethik sicherlich auch aus dem breiten Strom hellenistisch-frühjüdischer Theologie geschöpft hat. Die Überzeugung, dass Gott selbst barmherzig ist und dass dadurch die Glaubenden selbst zu einer empathischen, von Erbarmen und Mitleid geprägten Zuwendung zum Nächsten verpflichtet sind, teilt der Evangelist mit seiner frühjüdischen Umwelt. Somit dürfte auch die Plausibilisierung der grundsätzlichen ethischen Strukturen des LkEv im Gegenüber zu frühjüdischen Adressaten unproblematisch gewesen sein. Auch die Idee, dass eine solche Form der Ethik anhand einer tugendhaften Idealfigur anschaulich gemacht wird, war den frühjüdischen Adressaten vertraut. Allerdings transformiert Lukas die gemeinsamen Überzeugungen dadurch, dass er zunächst seine gesamte Ethik unter die Barmherzigkeitsforderung subsumiert und somit die Barmherzigkeit zum Leitmotiv aller sittlichen Forderungen erhebt. Was nicht mit der empathischen und mitleidsvollen Zuwendung zum Nächsten in Übereinstimmung zu bringen ist, kann nicht von ethischer Qualität sein. Daraus erwachsen die Anforderungen an das Handlungssubjekt nach einer sich selbst entäußernden Liebe gegenüber dem Nächsten, die die eigenen Bedürfnisse zurückstellt; ein Motiv, das so nur noch im TestSeb begegnet. Darüber hinaus bricht Lukas, unter Verweis auf Jesus selbst, mit der Vorstellung, dass ein ethisch gutes Verhalten einen innerweltlichen Verdienst nach sich ziehen wird. Im Überblick über die frühjüdischen Texte fällt auf, dass die ethisch korrekt handelnden Personen allesamt die Früchte ihrer Tugend genießen bzw. aufgrund ihrer Sittlichkeit eines Tages zu bestimmenden Handlungssouveränen werden. Gerade die Feindesliebe wird unter der Prämisse formuliert, dass die Feinde überwunden werden können; ein Gedanke, der in der lk. Ethik mit Absicht keine Relevanz hat. Es lässt sich also konstatieren, dass Lukas die Ethik der Barmherzigkeit im Lichte der Jesusnachfolge radikalisiert und Barmherzigkeit stets mit Dienst und Demut verbindet. Dieser Bruch wird natürlich im besonderen Maße gegenüber der EpArist deutlich, deren Herrscherethos auf der Überzeugung basiert, dass dem Herrscher die Handlungssouveränität per se gegeben ist und sein Dienst am Nächsten gewissermaßen von der Höhe des Throns herab erfolgt. Lukas hat, wie auch der Vergleich mit Seneca zeigt, Merkmale des hellenistischen Herrscherethos aufgegriffen und diese durch die Einbettung derselben in den Horizont der Gottesherrschaft dahingehend transformiert, dass sie Bestandteil einer „Jedermann-Ethik“ wurden, die allen gilt, die sich der Nachfolge Jesu angeschlossen haben und somit an der Herrschaft Gottes partizipieren.
12.3 Seneca: Stoische Ethik der Kaiserzeit
377
12.3 Seneca: Stoische Ethik der Kaiserzeit Die Untersuchung hat sich in der Analyse der Umwelttexte nicht nur mit hellenistisch-frühjüdischen Quellen beschäftigt, sondern aufgrund der kulturellen Verortung des Evangelisten auch die Ethik des Stoikers Seneca als Vergleich herangezogen. Es konnte gezeigt werden, dass Seneca und Lukas große Gemeinsamkeiten in der Struktur der ethischen Argumentation aufweisen, auch wenn die jeweiligen Schlüsselbegriffe unterschiedlich sind. So spricht Seneca davon, dass sich ein sittliches Leben durch die Orientierung des Menschen an der Vernunft auszeichnet. Die Vernunft ist ein Funke des göttlichen Geistes, der jedem Menschen eingegeben ist (vgl. Sen.ep. 66,12). Indem der Einzelne sein Entscheiden und Handeln den Maßstäben der Vernunft unterwirft, ahmt er Gott nach und wird diesem immer ähnlicher (vgl. Sen.ep. 124,23). Eine Partizipation am Göttlichen ist dann erreicht, wenn der Mensch die sittliche Vervollkommnung erlangt hat; ein Zustand, der bei Seneca als Ideal beschrieben wird. Lediglich in seinen Ausführungen zu einer Existenz nach dem Tode deutet Seneca an, dass sich die Seele des Menschen, insofern sie rein und sittlich ist, nach dem Tod wieder zu ihrem göttlichen Ursprung zurückkehren wird (vgl. Sen.ep. 92,30). Aber auch solange der Zustand sittlicher Vollkommenheit nicht erreicht ist, sind doch diejenigen, die sich an der Vernunft orientieren, Gefährten und Glieder Gottes (vgl. Sen.ep. 92,30). Im Vergleich mit dem Evangelisten Lukas lässt sich bis hierher festhalten, dass beide Denker davon ausgehen, dass ein ethisch guter Lebenswandel durch die Nachahmung Gottes und in der Observanz seines Willens geschieht. Am Ende eines solchen, ethisch guten, Lebens erwartet den Einzelnen die Partizipation an der göttlichen Welt. Zudem warnen beide vor den Gefahren des Reichtums und mahnen ihre Adressaten, dass die Lebenszeit nicht mit einem Streben nach Macht und Gewinn verschwendet werden darf. Die Sachparallele zwischen Sen. brev. vit.18–19 und Lk 12,16–21 ist auffallend, da in beiden Fällen das Sammeln und Verwalten von Kornbeständen als Beispiel für ein vergeudetes Leben angeführt wird. Der deutliche Bruch zwischen Seneca und Lukas entsteht jedoch in der Konzentration des Evangelisten auf die Barmherzigkeit und die damit verbundene Zuwendung zum Nächsten. Es lässt sich zunächst konstatieren, dass Seneca den Zweck der sittlichen Lebensgestaltung in der Vervollkommnung des Menschen sieht und alle positiven Effekte, die diese sittlichen Handlungen auf die Mitmenschen oder auf die Gesellschaft haben, lediglich Nebenprodukte der sittlichen Vervollkommnung darstellen. Darüber hinaus warnt Seneca vor jeder Form der Emotion, da diese die Vernunft und somit die Fähigkeit zu einem ethisch guten Handeln beeinträchtigen. Während Senecas Warnung vor dem Zorn auch bei Lukas zu finden ist, steht Senecas Ablehnung der Barmherzigkeit der lk. Ethik diametral gegenüber. So formuliert der Philosoph in seiner Schrift de clementia, die ein an Nero adressiertes Herrscherethos beinhaltet, dass der Herrscher zwar
378
Kapitel 12: Abschließendes Summarium
Milde üben solle, aber dass die Milde nicht mit Barmherzigkeit zu verwechseln sei. Milde ist einem Herrscher angemessen, Barmherzigkeit ist eine Störung der Seele (vgl. Sen.cl. 2 III,4; IV,4 [Sen.cl. II 5,4; 6,4]). Die lk. Argumentationslinien sind für Anhänger der Stoa auf struktureller Ebene nachvollziehbar, doch enden diese Linien in ethischen Schlussfolgerungen, die nur schwer in die stoische Ethik zu integrieren gewesen sein dürften. Für die mit der kaiserzeitlichen Stoa vertrauten Adressaten des LkEv stellt die Ethik der imitatio misericordiae Dei eine gewaltige Herausforderung dar, da den Emotionen ein Vorrang vor der Vernunft eingeräumt wird. Indem Jesus als die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes präsentiert wird, macht Lukas im Gegenüber zur Stoa deutlich, dass Gott mitnichten reine, von irdischen Begebenheiten unberührte Vernunft ist, sondern ein mitleidender, empathischer Gott, dessen Barmherzigkeit zur herausfordernden Maxime menschlichen Handelns wird. Die lk. Ethik der imitatio misericordiae Dei stellt eine Provokation der gesellschaftlichen Strukturen und der ethischen Konzepte dar – von der Antike bis zur Gegenwart.
12.4 Ausblick Eine Ethik, die die Barmherzigkeit zum Fundament hat, kann bei leichtfertiger Betrachtung schnell in den Verdacht geraten, eine „laissez faire“-Haltung zu vermitteln, da sich das sittlich handelnde Subjekt doch in all seinen Taten, auch und gerade in den unsittlichen, auf die vergebende Barmherzigkeit Gottes und der Menschen berufen kann. Somit scheint die Ausbildung eines ethisch qualitativen Habitus nahezu unmöglich zu sein. Demgegenüber zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass die von Lukas propagierte imitatio misericordiae Dei mitnichten eine Ethik der Beliebigkeit darstellt, sondern vielmehr eine bleibende und vor allem drängende Herausforderung für die Nachfolger Jesu. Der Fokus des Handelns liegt gerade nicht auf der Apologie des eigenen Verhaltens, sondern richtet sich vollständig auf den Mitmenschen. Dessen Wohlergehen steht an erster Stelle und hinter diesem Ziel des Handelns müssen alle persönlichen Befindlichkeiten des Handelnden zurücktreten. Die universelle Ausweitung der Nächstenliebe, die einher geht mit der Entschränkung der Barmherzigkeit und somit wie selbstverständlich auch die Feindesliebe miteinschließt, ist ebenso provokativ wie die Überzeugung, dass die Erwartung einer innerweltlichen, reziproken Vergeltung guter Taten unethisch ist. Die Plausibilität dieser Radikalisierung der Barmherzigkeit leitet der Evangelist aus dem Leben und Wirken Jesu ab, den er als Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes begreift. Für eine christliche Ethik ist es freilich nicht möglich, den christologischen Bezug zu negieren, und so ist es Lukas gelungen, ein in sich geschlossenes ethisches System zu formulieren, das den Einzelnen immer wieder auf die Notwendigkeit
12.4 Ausblick
379
der imitatio misericordiae Dei verweist. Die Konkretion dieser Ethik ist jedem Einzelnen in seinen je individuellen Lebensvollzügen aufgetragen und verliert nie an Intensität und Spannung. Da die Linderung menschlichen Leids Ziel und Zweck einer christlichen Ethik ist, ist die Nachahmung der Barmherzigkeit Gottes eine bleibende Aufgabe bis zur Vollendung der βασιλεία τοῦ θεοῦ.
Literaturverzeichnis Quellen und sprachliche Hilfsmittel Bauer, Walter/A land, Barbara und Kurt: Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin u. a. 61988. Blass, Friedrich/Debrunner, Albert/R ehkopf, Friedrich: Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 182001. Brodersen, Kai (Hg.): Aristeas. Der König und die Bibel, griechische und deutsche Ausgabe, Reclams Universalbibliothek 18576, Stuttgart 2008. Elliger, Karl/Rudolph, Wilhelm (Hgg.): Biblia Hebraica Stuttgartensia, Stuttgart 51997. Epiktet: Encheiridion, in: Nickel, Rainer (Hg. und Übers.), Epiktet, Teles, Musonius: Ausgewählte Schriften, Sammlung Tusculum, Zürich 1994. Fürst, Alfons/Fuhrer, Therese/Siegert, Folker/Walter, Peter (Hgg.): Der apokryphe Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca. Zusammen mit dem Brief des Mordechai an Alexander und dem Brief des Annaeus Seneca über Hochmut und Götterbilder. Text Lateinisch–Deutsch, SAPERE 11, Tübingen 2006. Gesenius, Wilhelm: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Berlin u. a. 181987–2012. Iamblichos Chalcidensis: Pythagoras. Legende – Lehre – Lebensgestaltung, griechisch und deutsch, hg. und übers. von Michael von Albrecht, Darmstadt 21985. Jonge, Marinus de: The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Critical Edition of the Greek Text, PVTG 1,2; Leiden 1978. Josephus: Der Jüdische Krieg und kleinere Schriften, übers. von H. Clementz, Wiesbaden 62018. Kraus, Wolfgang/K arrer, Martin: Septuaginta Deutsch, Stuttgart 2009. Lust, Johan/Eynikel, Erik/H auspie, Katrin: Greek–English Lexicon of the Septuagint, Stuttgart 2003. Muraoka, Takamitsu: A Greek–English Lexicon of the Septuagint, Louvain u. a. 2009. Musonius Rufus: Diatriben, in: Nickel, R. (Hg. und Übers.), Epiktet, Teles, Musonius. Ausgewählte Schriften, Sammlung Tusculum, Zürich 1994. Nestle, Erwin/A land, Barbara und Kurt (Hgg.): Novum Testamentum Graece, Stuttgart 282014. Rahlfs, Alfred (Hg.): Septuaginta, Stuttgart 1982. Seneca: de brevitate vitae, hg. und übers. von Manfred Rosenbach, Philosophische Schriften Bd. 2, Sonderausgabe der WBG, Darmstadt 22011.
382
Literaturverzeichnis
–: de clementia, hg. und übers. von Manfred Rosenbach, Philosophische Schriften Bd. 5, Sonderausgabe der WBG, Darmstadt 22011. –: de ira, in: Fink, Gerhard (Hg. und Übers.): Schriften zur Ethik. Die kleinen Dialoge, Sammlung Tusculum, Düsseldorf 2008, 96–309. –: de otio, in: Fink, Gerhard (Hg. und Übers.): Schriften zur Ethik. Die kleinen Dialoge, Sammlung Tusculum, Düsseldorf 2008, 458–477. –: de vita beata, in: Fink, Gerhard (Hg. und Übers.): Schriften zur Ethik. Die kleinen Dialoge, Sammlung Tusculum, Düsseldorf 2008, 388–457. –: epistulae morales, hg. und übers. von Manfred Rosenbach, Philosophische Schriften Bd. 3–4, Sonderausgabe der WBG, Darmstadt 22011. Siebenthal, Heinrich von: Griechische Grammatik zum Neuen Testament, Gießen 2011. Wright, Robert (Hg.): The Psalms of Solomon. A Critical Edition of the Greek Text, London 2007.
Monographien und Kommentare Aus, Roger: Weihnachtsgeschichte – Barmherziger Samariter – Verlorener Sohn. Studien zu ihrem jüdischen Hintergrund, Berlin 1988. Becker, Jürgen: Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte der Testamente der zwölf Patriarchen, AGJU 8, Leiden 1970. Bergmeier, Roland: Die Essener-Berichte des Flavius Josephus. Quellenstudien zu den Essenertexten im Werk des jüdischen Historiographen, Kampen 1993. Betz, Hans-Dieter: The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount Including the Sermon on the Plain, Hermeneia Series, Minneapolis (MN) 1995. Bock, Darrell: Luke, 2 Bde., Baker Exegetical Commentary on the New Testament 3b, Grand Rapids (MI) 1994.1998. Böhm, Martina: Samarien und die Samaritai bei Lukas. Eine Studie zum religionshistorischen Hintergrund der lukanischen Samarientexte und zu deren topographischer Verhaftung, WUNT 111, Tübingen 1999. Borg, Marcus: Conflict, Holiness, and Politics in the Teaching of Jesus, Harrisburg (PA) 1998. Börschlein, Wolfgang: Häsäd – der Erweis von Solidarität – als eine ethische Grundhaltung im Alten Testament. Ein Modell für die christliche Ethik heute?, EHS 23, Frankfurt a. M. 2000. Bovon, François: Das Evangelium nach Lukas, 4 Bde., EKK 3, NeukirchenVluyn 1989–2009. Broer, Ingo: Die Seligpreisungen der Bergpredigt. Studien zu ihrer Überlieferung und Interpretation, BBB 61, Königstein 1986. Bruin, Tom de: The Great Controversy: The Individual’s Struggle Between Good and Evil in the Testaments of the Twelve Patriarchs and in their Jewish and Christian Contexts, NTOA/StUNT 106, Göttingen 2015. Burchard, Christoph: Joseph und Aseneth, JSHRZ 2,4, Gütersloh 1983. Burridge, Richard: Imitating Jesus. An Inclusive Approach to New Testament Ethics, Grand Rapids (MI) 2008.
Monographien und Kommentare
383
Chesnutt, Randall: From Death to Life: Conversion in Joseph and Aseneth, JSPE.S 16, Sheffield 1995. Conzelmann, Hans: Die Apostelgeschichte, HNT 7, Tübingen 21972. –: Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, Tübingen 71993. Dihle, Albrecht: Die Goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik, Studienhefte zur Altertumswissenschaft 7, Göttingen 1962. Dohmen, Christoph (Hg.): Für immer verbündet. Studien zur Bundestheologie der Bibel, FS F.‑L. Hossfeld, SBS 211, Stuttgart 2007. Dohmen, Christoph: Exodus 19.40, HThKAT, Freiburg i. Br. 2004. Ebersohn, Michael: Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition, MThSt 37, Marburg 1993. Ebner, Martin: Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen, GNT 3, Göttingen 51987. Eckey, Wilfried: Das Lukasevangelium. Unter Berücksichtigung seiner Parallelen, 2 Bde., Neukirchen-Vluyn 2004. Engberg-Pedersen, Troels: Paul and the Stoics, Edinburgh 2000. Erlemann, Kurt: Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, BWANT 126, Stuttgart 1988. Fink, Uta: Joseph und Aseneth: Revision des griechischen Textes und Edition der zweiten lateinischen Übersetzung, FoSub 5, Berlin u. a. 2008. Fitzmyer, Joseph: The Gospel According to Luke, 2 Bde., AnchBib 28, 1981.1985. Flusser, David: Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus, Bd. 1: Das Wesen der Gleichnisse, Judaica et Christiana 4, Bern, Frankfurt a. M. 1981. Franz, Matthias: Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34,6–7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt, BWANT 160, Stuttgart 2003. Gertz, Jan: Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 42010. Giebel, Marion: Seneca, Hamburg 1997. Glueck, Nelson: Das Wort hesed im alttestamentlichen Sprachgebrauche als menschliche und göttliche gemeinschaftgemäße Verhaltungsweise, Gießen 1927. Gollwitzer, Helmut: Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, BSt 34, Neukirchen-Vluyn 1962. Gradl, Hans-Georg: Zwischen Arm und Reich. Das lukanische Doppelwerk in leseorientierter und textpragmatischer Perspektive, fzb 107, Würzburg 2005. Green, Joel: The Gospel of Luke, NIC.NT Grand Rapids (MI) 2009. Grimal, Pierre: Seneca. Macht und Ohnmacht des Geistes, Impulse der Forschung 24, Darmstadt 1978. Harnisch, Wolfgang: Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 42001. Hays, Christopher: Luke’s Wealth Ethics. A Study in their Coherence and Character, WUNT II 275, Tübingen 2010. Hays, Richard: The Moral Vision of the New Testament. Community, Cross, New Creation. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, San Francisco 1996. Hollander, Harm/Jonge, Marinus de: The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Commentary, Studia in Veteris Testamenti Pseudepigrapha VIII, Leiden 1985. –: Joseph as an Ethical Model in the Testaments of the Twelve Patriarchs, Leiden 1981.
384
Literaturverzeichnis
Honigman, Sylvie: The Septuagint and Homeric Scholarship in Alexandria: a Study in the Narrative of the Letter of Aristeas, London 2003. Hotze, Gerhard: Jesus als Gast. Studien zu einem christologischen Leitmotiv im Lukasevangelium, fzb 111, Würzburg 2007. Howell, Thimothy: The Matthean Beatitudes in their Jewish Origins. A Literary and Speech Act Analysis, Studies in Biblical Literature 144, New York u. a. 2011. Inselmann, Anke: Die Freude im Lukasevangelium. Ein Beitrag zur psychologischen Exegese, WUNT II 322, Tübingen 2012. Janowski, Bernd: Die rettende Gerechtigkeit, BThAT 2, Neukirchen-Vluyn 1999. –: Ecce homo. Stellvertretung und Lebenshingabe als Themen Biblischer Theologie, BThSt 84, Neukirchen-Vluyn 22009. Jeremias, Joachim: Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 111998. Jonge, Marinus de: Studies on the Testaments of the Twelve Patriarchs. Text and Interpretation, Studia in veteris Testamentis pseudepigrapha 3, Leiden 1975. –: The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Study of their Text, Composition and Origin, Assen 1953. Jüngel, Eberhard: Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie, HUTh 2, Tübingen 1962. Kaut, Thomas: Befreier und befreites Volk. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Untersuchung zu Magnifikat und Benediktus im Kontext der vorlukanischen Kindheitsgeschichte, BBB 77, Frankfurt a. M. 1990. Kellenberger, Edgar: häsäd wä‘äämät als Ausdruck einer Glaubenserfahrung: Gottes Offen-Werden und -Bleiben als Voraussetzung des Lebens, AThANT 69, Zürich 1982. Kiilunen, Jarmo: Das Doppelgebot der Liebe in synoptischer Sicht. Ein redaktionskritischer Versuch über Mk 12,28–34 und die Parallelen, Helsinki 1989. Klein, Hans: Barmherzigkeit gegenüber den Elenden und Geächteten. Studien zur Botschaft des lukanischen Sonderguts, BThSt 10, Neukirchen-Vluyn 1987. –: Das Lukasevangelium, KEK 1,3, Stuttgart 102006. Klemm, Hans: Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Grundzüge der Auslegung im 16./17. Jahrhundert, BWANT 103, Stuttgart u. a. 1973. Koch, Christoph: Vertrag, Treueid und Bund. Studien zur Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im Deuteronomium und zur Ausbildung der Bundestheologie im Alten Testament, BZNW 383, Berlin u. a. 2008. Konradt, Matthias: Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief. Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, StUNT 22, Göttingen 1998. –: Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015. Kovelman, Arkadij: Between Alexandria and Jerusalem. The Dynamic of Jewish and Hellenistic Culture, The Brill Reference of Judaism 21, Leiden 2005. Kraemer, Ross: When Aseneth met Joseph: Late Antique Tale of the Biblical Patriarch and his Egyptian Wife, Reconsidered, Oxford 1998. Kramer, Helga: Lukas als Ordner des frühchristlichen Diskurses um „Armut und Reichtum“ und den „Umgang mit materiellen Gütern“. Eine überlieferungsgeschichtliche und diskurskritische Untersuchung zur Besitzethik des Lukasevangeliums unter besonderer Berücksichtigung des lukanischen Sonderguts, Tübingen 2015. Kugler, Robert: The Testaments of the Twelve Patriarchs, Guides to Apocrypha and Pseudepigrapha 10, Sheffield 2001. Kuhn, Karl Allen: The Kingdom According to Luke and Acts. A Social, Literary, and Theological Introduction, Grand Rapids 2015.
Monographien und Kommentare
385
Kurowski, Philipp: Der menschliche Gott aus Levi und Juda. Die „Testamente der zwölf Patriarchen“ als Quelle judenchristlicher Theologie, TANZ 52, Tübingen 2010. Lohse, Eduard: Theologische Ethik des Neuen Testaments, ThW 5,2, Stuttgart 1988. Luz, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus, 4 Bde., EKK 1, Neukirchen-Vluyn 1985– 2002. Marguerat, Daniel: Lukas, der erste christliche Historiker. Eine Studie zur Apostelgeschichte, AThANT 92, Zürich 2011. Marshall, Jonathan: Jesus, Patrons, and Benefactors. Roman Palestine and the Gospel of Luke, WUNT II 259, Tübingen 2009. Matera, Frank: New Testament Ethics. The Legacies of Jesus and Paul, Louisville (KY) 1996. Mathys, Hans-Peter: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18), OBO 71, Freiburg 1986. Matusova, Ekaterina: The Meaning of the Letter of Aristeas. In Light of Biblical Interpretation and Grammatical Tradition, and with Reference to its Historical Context, FRLANT 260, Göttingen 2015. Maurach, Gregor: Der Bau von Senecas epistulae morales, Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften N. F. 2,30, Heidelberg 1970. –: Seneca. Leben und Werk, Darmstadt 1991. Mayes, Andrew/Nicholson, Ernest/Salters, Robert (Hgg.): Covenant as Context. Essays in Honour of E. W. Nicholson, Oxford 2003. Meeks, Wayne: The Moral World of the First Christians, Philadelphia 1986. –: The Origins of Christian Morality. The First Two Centuries, London 1993. Meiser, Martin: Die Reaktion des Volkes auf Jesus. Eine redaktionskritische Untersuchung zu den synpotischen Evangelien, BZNW 96, Berlin u. a. 1998. Meisner, Norbert: Untersuchungen zum Aristeasbrief, Masch.Diss., Berlin 1970. Merklein, Helmut: Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchung zur Ethik Jesu, fzb 34, Würzburg 1981. Mineshige, Kiyoshi: Besitzverzicht und Almosen bei Lukas. Wesen und Forderung des lukanischen Vermögensethos, WUNT II 163, Tübingen 2003. Mittmann-Richert, Ulrike: Magnifikat und Benediktus. Die ältesten Zeugnisse der judenchristlichen Tradition von der Geburt des Messias, WUNT II 90, Tübingen 1996. Monselewski, Werner: Der barmherzige Samariter. Eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung zu Lukas 10,25–37, BGBE 5, Tübingen 1967. Motto, Anna: Further Essays on Seneca, Studien zur klassischen Philosophie 122, Frankfurt a. M. 2001. Neale, David: Non but the Sinners. Religious Categories in the Gospel of Luke, JNT.S 58, Sheffield 1991. Neumann, Nils: Armut und Reichtum im Lukasevangelium und in der kynischen Philosophie, SBS 220, Stuttgart 2010. Nolland, John: Luke, 3 Bde., World Biblical Commentary Vol. 35a–c, Dallas 1989.1993.1993. Otto, Eckart: Theologische Ethik des Alten Testaments, ThW 3,2, Stuttgart u. a. 1994. Owczarek, Krzysztof: Sons of the Most High. Love of Enemies in Luke-Acts. Teaching and Practice, Nairobi 2002. Pesch, Rudolf: Die Apostelgeschichte, EKK 5, Neukirchen-Vluyn 1986.
386
Literaturverzeichnis
Petracca, Vincenzo: Gott oder das Geld. Die Besitzethik des Lukas, TANZ 39, Tübingen 2003. Phillips, Thomas (Hg.): Acts and Ethics, SNTSMS 9, Sheffield (TX) 2005. –: Reading Issues of Wealth and Poverty in Luke-Acts, SBEC 48, Lewiston (NY) 2001. Philonenko, Marc: Joseph et Aséneth, StPB 13, Leiden 1968. Pilgrim, Walter: Good News to the Poor. Wealth and Poverty in Luke-Acts, Minneapolis (MN) 1981. Pohlenz, Max: Paulus und die Stoa, Darmstadt, 1964. Pöhlmann, Wolfgang: Der verlorene Sohn und das Haus. Studien zu Lk 15,11–32 im Horizont der antiken Lehre von Haus, Erziehung und Ackerbau, WUNT 68, Tübingen 1993 Radl, Walter: Das Lukasevangelium, Bd.1, Freiburg i. Br. 2003. Rau, Eckhard: Reden in Vollmacht. Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu, FRLANT 149, Göttingen 1990. Rengstorf, Karl: Die Re-Investitur des Verlorenen Sohnes in der Gleichniserzählung Jesu Luk. 15,11–32, Köln 1967. Roloff, Jürgen: Die Apostelgeschichte, NTD 5, neue Fassung, Göttingen 1981. Rusam, Dietrich: Das Alte Testament bei Lukas, BZNW 112, Berlin u. a. 2003. Sänger, Dieter: Antikes Judentum und die Mysterien. Religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Joseph und Aseneth, WUNT II 5, Tübingen 1980. Schmidt, Werner: Untersuchungen zur Fälschung Historischer Dokumente bei Pseudo-Aristeas, Bonn 1986. Schnackenburg, Rudolf: Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, 2 Bde., völlige Neubearbeitung, Freiburg i. Br. 1986.1989. Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007. Schrage, Wolfgang: Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, 5. neubearbeitete Auflage, Göttingen 21989. Schreiber, Stefan: Gesalbter und König. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung in frühjüdischen und christlichen Schriften, BZNW 105, Berlin u. a. 2000. –: Weihnachtspolitik. Lukas 1–2 und das Goldene Zeitalter, NTOA/StUNT 82, Göttingen 2009. Schreiner, Thomas: Seneca im Gegensatz zu Paulus. Ein Vergleich ihrer Welt- und Lebensanschauung, Basel 1936. Schulz, Siegfried: Neutestamentliche Ethik, Zürich 1987. Schüpphaus, Joachim: Die Psalmen Salomos, Ein Zeugnis Jerusalemer Theologie und Frömmigkeit in der Mitte des vorchristlichen Jahrhunderts, ALGHJ 7, Leiden 1977. Schürmann, Heinz: Das Lukasevangelium, 2 Bde., Freiburg i. Br. 21982.1994. Schweitzer, Albert: Geschichte der Leben Jesu Forschung, Tübingen 91984, Nachdruck der 7. Auflage. Seccombe, David: Possessions and the Poor in Luke-Acts, SNTU.B 6, Linz 1982. Sevenster, Jan: Paul and Seneca, NT.S 4, Leiden 1961. Standhartinger, Angela: Das Frauenbild im Judentum der hellenistischen Zeit. Ein Beitrag zu Joseph und Aseneth, AGJU 26, Leiden u. a. 1995. Stemberger, Günter: Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991. Stettberger, Herbert: Nichts haben – alles geben? Eine kognitiv-linguistisch orientierte Studie zur Besitzethik im lukanischen Doppelwerk, HBS 45, Freiburg i. Br. u. a. 2005.
Aufsätze und Artikel
387
Tannehill, Robert: The Narrative Unity of Luke-Acts, 2 Bde., Philadelphia 1991.1994. Thei ẞen, Gerd/M erz, Annette: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001. Thei ẞen, Gerd: Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2004. Topel, John: Children of a Compassionate God. A Theological Exegesis of Luke 6:20– 49, Collegeville (MI) 2001. Verhey, Allen: The Great Reversal. Ethics and the New Testament, Grand Rapids (MI) 1984. Wasserberg, Günter: Aus Israels Mitte – Heil für die Welt. Eine narrativ-exegetische Studie zur Theologie des Lukas, BZNW 92, Berlin u. a. 1998. Wetz, Christian: Eros und Bekehrung: anthropologische und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu „Joseph und Aseneth“, NTOA/StUNT 87, Göttingen 2010. Wikenhauser, Alfred: Die Apostelgeschichte, RNT 5, Regensburg 41961. Winninge, Mikael: Sinners and the Righteous. A Comparative Study of the Psalms of Solomon and Paul’s Letters, CB.NT 26, Stockholm 1995. Wolter, Michael: Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008. Wright, Benjamin: Praise Israel for Wisdom and Instruction. Essays on Ben Sira and Wisdom, the Letter of Aristeas and the Septuagint, JSJ.S 131, London 2008.
Aufsätze und Artikel Backhaus, Knut: Lukas der Maler: Die Apostelgeschichte als intentionale Geschichte der christlichen Erstepoche, in: ders./Häfner, Gerd: Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese, 30–66. Baier, Thomas: Seneca als Erzieher, in: ders./Manuwald, Gesine/Zimmermann, Bernhard (Hgg.): Seneca: Philosophus et Magister, FS für E. Lefèvre, Freiburg i. Br. 2005, 49–62. Bammel, Ernst/H auck, Friedrich: Art. πτωχός κτλ., ThWNT VI, 897–914. Bauckham, Richard: Scrupulous Priest and the Good Samaritan: Jesus’ Parabolic Interpretation of the Law of Moses, in: NTS 44/4 (1998), 475–489. Bauernfeind, Otto: Art. σαπρός, ThWNT VII, 94–9. Becker, Jürgen: Feindesliebe – Nächstenliebe – Bruderliebe. Exegetische Beobachtungen als Anfrage an ein ethisches Problemfeld, in: ZEE 25/1 (1985), 5–18. Bertram, Georg: Art. ὕψιστος, ThWNT VIII, 613–619. Betz, Hans-Dieter: Die Makarismen der Bergpredigt (Matthäus 5,3–12). Beobachtungen zur literarischen Form und theologischen Bedeutung, in: ZThK 75/1 (1978), 3–19. Bloch, René: Take Your Time. Conversion, Confidence and Tranquility in Joseph and Aseneth, in: Konradt, Matthias/Schläpfer, Esther (Hgg.): Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament, WUNT 322, Tübingen 2014, 77–96. Bolyki, János: „Never repay evil with evil“: Ethical Interaction Between the Joseph Story, the Novel „Joseph and Aseneth“, the New Testament and the Apocryphal Acts, in: García Martínez, Florention (Hg.): Jerusalem, Alexandria, Rome: Studies in Ancient Cultural Interaction in Honour of A. Hilhorst, JSJS 82, Leiden 2003, 41–53.
388
Literaturverzeichnis
Bormann, Karl/Strohm, Christoph: Art. Stoa/Stoizismus/Neustoizismus, TRE 32, 179–193. Böttrich, Christfried: Das lukanische Doppelwerk im Kontext frühjüdischer Literatur, in: ZNW 106/2 (2015), 151–183. Broer, Ingo: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn und die Theologie des Lukas, in: NTS 20/4 (1974), 453–462. Burchard, Christoph: Das doppelte Liebesgebot in der frühen christlichen Überlieferung, in: ders.: Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, WUNT 107, Tübingen 1998, 3–26. –: Joseph und Aseneth. Eine jüdisch-hellenistische Erzählung von Liebe, Bekehrung und vereitelter Entführung, in: ThZ 61/1 (2005), 65–77. –: Küssen in „Joseph und Aseneth“, in: JSJ 36/3 (2005), 316–323. Cardellini, Innocenzo: Art. Erlaßjahr/Jobeljahr, RGG4 II, 1423–1424. Collins, John: „Joseph and Aseneth“: Jewish or Christian?, in: JSPE 14/2 (2005), 97– 112. Crom, Dries de: The Letter of Aristeas and the Authority of the Septuagint, in: JSPE 17/2 (2008), 141–160. Delling, Gerhard: Die Kunst des Gestaltens in „Joseph und Aseneth“, in: NT 26/1 (1984), 1–42 –: Einwirkungen der Sprache der Septuaginta in „Joseph und Aseneth“, in: JSJ 9/1 (1978), 29–56. DeSilva, David: The Testaments of the Twelve Patriarchs as Witnesses to Pre-Christian Judaism: A Re-Assessment, in: JSP 31/1 (2013), 21–68. Eckstein, Hans-Joachim: Aspekte einer lukanischen Anthropologie, in: Bauks, Michaela (Hg.): Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Aspekte einer theologischen Anthropologie, FS B. Janowski, Neukrichen-Vluyn 2008, 63–75. Esler, Philip: Jesus and the Reduction of Intergroup Conflict. The Parable of the Good Samaritan in the Light of Social Identity Theory, in: BibInt 8/4 (2000), 325–357. Fink, Uta: Textkritische Situation, in: Reinmuth, Eckart (Hg.): Joseph und Aseneth, SAPERE 15, Tübingen 2009, 33–44. Foerster, Werner: Art. ἔχθρος κτλ., ThWNT II, 810–814. Gerber, Christine: Blickwechsel. Joseph und Aseneth und das Neue Testament, in: Reinmuth, Eckart (Hg.): Joseph und Aseneth, SAPERE 15, Tübingen 2009, 203–218. Gertz, Jan: Art. Bund, II. Altes Testament, RGG4 I, 1862–1865. Grä ẞer, Erich: Noch einmal: „Interimsethik“ Jesu?, in: ZNW 91/1–2 (2000), 136–142. Grundmann, Walter: Art. ἀγαθοποιέω κτλ., ThWNT I, 10–18. –: Art. καλός, ThWNT III, 547–550. Harrelson, Walter: Patient Love in the Testament of Joseph, in: Perspectives in religious studies 4/1 (1977), 4–13. Hauck, Friedrich/Bertram, Georg: Art. μακάριος κτλ., ThWNT IV, 365–372. Hirschberger, Martina: Aseneths erstes Brautkleid: Symbolik von Kleidung und Zeit in der Bekehrung Aseneths (JosAs 1–21), in: Apocrypha 21 (2010), 179–201. Hofius, Otfried: Alttestamentliche Motive im Gleichnis vom verlorenen Sohn, in: ders.: Neutestamentliche Studien, 145–153. –: Jesu Tischgemeinschaft mit den Sündern, in: ders.: Neutestamentliche Studien, 19– 37. Hünemörder, Christian: Art. Biene, B. Metaphorische Bedeutung, in: Der Neue Pauly 2, 649–650.
Aufsätze und Artikel
389
Janowski, Bernd: Der barmherzige Richter. Zur Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Gottesbild des Alten Orients und des Alten Testaments, in Scoralick, Ruth: Studien zur biblischen Gottesrede und ihrer Wirkungsgeschichte in Judentum und Christentum, SBS 183, Stuttgart 2000, 33–91. Johnson, Bo: Art. מּ ְשׁ ׇפּט,ִ ThWAT V, 93–107. Johnson, Bo: Art. צדקIV. und V., ThWAT VI, 908–922. Jonge, Marinus de: Die Paränese in den Schriften des Neuen Testaments und in den Testamenten der Zwölf Patriarchen, in: ders.: Jewish Eschatology, Early Christian Christology and the Testaments of the Twelve Patriarchs. Collected Essays, Leiden u. a. 1991, 277–289. –: The Two Great Commandments in the Testaments of the Twelve Patriarchs, in: NT 44/4 (2002), 371–392. Kee, Howard: The Ethical Dimensions of the Testaments of the XII as a Clue to Provenance, in: NTS 24/2 (1998), 259–270. Kilgallen, John: A Proposal for Interpreting Luke 7,36–50, in: Bib. 72/1–3 (1991), 305–330. –: Forgiveness of Sins, in: NovTest 40/2 (1998), 105–116. Klein, Hans: Das Magnifikat als jüdisches Frauengebet, in: KuD 43/3 (1997), 258–267. Koch, Klaus: Art. Propheten/Prophetie II, TRE 27, 488. Konradt, Matthias: „Macht euch Freunde aus dem ungerechten Mammon“ (Lk 16,9.). Ein interpretationsversuch zum Gleichnis vom Verwalter und seiner besitzethischen Auslegung in Lk 16,1–13, in: Flebbe, Jochen/ders.: Ethos und Theologie im Neuen Testament, FS für Michael Wolter, Neukirchen-Vluyn 2016, 101–130. –: Menschen- oder Bruderliebe? Beobachtungen zum Liebesgebot in den Testamenten der Zwölf Patriarchen, in: ZNW 88/3–4 (1997), 296–310. –: Neutestamentliche Wissenschaft und Theologische Ethik, in ZEE 55/4 (2011), 274– 286. Krüger, Thomas: Das „Herz“ in der alttestamentlichen Anthropologie, in: Wagner, Andreas (Hg.): Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie, FRLANT 232, Göttingen 2009, 103–118. Landmesser, Christof: Rückkehr ins Leben, in: ZThK 99/3 (2002), 239–261. Lieber, Andrea: I set a table before you: the Jewish eschatological character of Aseneth’s conversion meal, in: JSPE 14/1 (2004), 63–77. Liu, Qingping: On a Paradox of Christian Love, in: JRE 35/4 (2007), 681–694. Lohfink, Norbert: Von der „Anawim-Partei“ zur „Kirche der Armen“: Die bibelwissenschaftliche Ahnentafel eines Hauptbegriffs der „Theologie der Befreiung, in: Bib. 67/2 (1986), 153–176. Löning, Karl: Gottes Barmherzigkeit und die pharisäische Sabbat-Observanz. Zu den Sabbat-Therapien im lukanischen Reisebericht, in: Scoralick, Ruth: Das Drama der Barmherzigkeit Gottes, 218–239. Mach, Michael: Art. Philo von Alexandrien, TRE 26, 523–531. Mann, Wolfgang: Learning how to die. Seneca’s use of Aeneid 4.653 and Epistulae morales 12.9, in: Volk, Katharina/Williams, Gareth (Hgg.): Seeing Seneca as Whole: Perspectives on Philosophy, Poetry and Politics, Leiden 2006, 103–122. Meinhold, Arndt: Art. Jubeljahr I, TRE 17, 281. Merklin, Harald: Fragwürdige Freundschaft: Epikurs Lehre von der Freundschaft im Urteil Ciceros (fin. 2,78–85) und Senecas (epist. 9,1–12), in: Baier, Thomas/Manu-
390
Literaturverzeichnis
wald, Gesine/Zimmermann, Bernhard (Hgg.): Seneca: Philosophus et Magister, FS für E. Lefèvre, Freiburg i. Br. 2005, 187–194. Michel, Diethelm: Art. Armut II, TRE 4, 72–73. Mineshige, Kiyoshi: Die Aufforderung zur Feindesliebe bei Lukas. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung zu Lk 6,27–38; in: Kwansei Gakuin University humanities review, 10 (2005), 1–12. Mirguet, Françoise: Emotional Responses to the Pain of the Others in Josephus’s Rewritten Scriptures and the „Testament of Zebulun“: Between Power and Vulnerability, in: JBL 133/4 (2014), 838–857. Müller, Karlheinz: Art. Aristeasbrief, TRE 3, 719–725. Mulzer, Martin: Hebräische Tora in aramäischer Schrift? Zu § 11 des Aristeasbriefes, in: BN 77 (1995), 32–33. Niebuhr, Karl-Wilhelm: Ethik und Tora. Zum Toraverständnis in Joseph und Aseneth, in: Reinmuth, Eckart (Hg.): Joseph und Aseneth, SAPERE 15, Tübingen 2009, 187–202. Oberlinner, Lorenz: Begegnungen mit Jesus. der Pharisäer und die Sünderin nach Luk 7,36–50, in: Gielen, Marlies/Kügler, Joachim (Hgg.): Liebe, Macht und Religion. interdisziplinäre Studien zu Grunddimensionen menschlicher Existenz, Gedenkschrift für Helmut Merklein, Stuttgart 2003, 253–278. Ostmeyer, Karl-Heinrich: Dabeisein ist alles (Der verlorene Sohn) – Lk 15,11–32, in: Zimmermann, Ruben (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 618–633. Pilhofer, Peter: Lukas als ἀνὴρ Μακεδών. Zur Herkunft des Evangelisten aus Makedonien, in: ders.: Die frühen Christen und ihre Welt. Greifswalder Aufsätze 1996– 2001. Mit Beiträgen von Jens Börstinghaus und Eva Ebel, WUNT 145, Tübingen 2002, 106–112. Pöhlmann, Wolfgang: Die Abschichtung des Verlorenen Sohnes (Lk 15,12 f.) und die erzählte Welt der Parabel, in: ZNW 70/3–4 (1979), 194–213. Portier-Young, Anathea: Sweet Mercy Metropolis: Interpreting Aseneth’s honeycomb, JSPE 14/2 (2005), 133–157. Preuẞ, Horst: Art. Demut, I. AT, TRE 8, 459–461. Quell, Gottfried/Stauffer, Ethelbert: Art. ἀγαπάω κτλ., ThWNT I, 20–55. Rappaport, Uriel: The Letter of Aristeas Again, in: JSP 21/3 (2012), 285–303. Ricœur, Paul: The Golden Rule in exegetical and theological perplexities, in: NTS 36/3 (1990), 392–397. Roose, Hanna: Vom Rollenwechsel des Gläubigers (Von den zwei ungleichen Schuldnern) – Lk 7,41–42a, in: Zimmermann, Ruben (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 532–537. Sauer, Jürgen: Traditionsgeschichtliche Erwägungen zu den synoptischen und paulinischen Aussagen über Feindesliebe und Wiedervergeltungsverzicht, in: ZNW 76/1–2 (1985), 1–28. Scheffler, Eben: Compassionate action: living according to Luke’s Gospel, in: Watt, Jan van der (Hg.): Identity, Ethics, and Ethos in the New Testament, BZNW 141, Berlin u. a. 2006, 77–106. Schenker, Adrian: Das Gebot der Nächstenliebe in seinem Kontext (Lev. 19,17–18): Lieben ohne Falschheit, in: ZAW 124/2 (2012), 244–248. Schirok, Edith: Ecce altera quaestio, quomodo hominibus sit utendum. Seneca über den Umgang mit Menschen, in: Baier, Thomas/Manuwald, Gesine/Zimmer-
Aufsätze und Artikel
391
mann, Bernhard (Hgg.): Seneca: Philosophus et Magister, FS für E. Lefèvre, Freiburg i. Br. 2005, 225–254. Schneider, Gerhard: Imitatio Dei als Motiv der Ethik Jesu, in: ders.: Jesusüberlieferung und Christologie. Gesammelte Aufsätze 1970–1990, Leiden u. a. 1992, 155– 167. Schottroff, Luise: Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn, in: ZThK 68/1 (1979), 26–52. Schrage, Wolfgang: Art. Ethik IV. NT, TRE 10, 435–462. Schröter, Jens: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Das Gottesbild der Psalmen Salomos in seinem Verhältnis zu Qumran und Paulus, in: NTS 44/4 (1998), 557–577. Scott, Ian: Revelation and Human Artefact: The Inspiration of the Pentateuch in the Book of Aristeas, in: JSJ 41/1 (2010), 1–28. Sellin, Gerhard: Lukas als Gleichniserzähler I, in: ZNW 65/3–4 (1974), 166–189. –: Lukas als Gleichniserzähler II, in: ZNW 66/1 (1974), 16–60. Slingerland, Howard: The Nature of „Nomos“ (Law) Within the „The Testaments of the Twelve Patriarchs“, in: JBL 105/1 (1986), 39–48. Söding, Thomas: Solidarität in der Diaspora. Das Liebesgebot nach den Testamenten der Zwölf Patriarchen im Vergleich mit dem Neuen Testament, in: Kairos 36/37 (1994/1995), 1–19. Standhartinger, Angela: Zur Wirkungsgeschichte von Joseph und Aseneth, in: Reinmuth, Eckart (Hg.): Joseph und Aseneth, SAPERE 15, Tübingen 2009, 219–234. Stenger, Hermann: Jesu Aufforderung zum paradoxen Handeln, in: Lebendige Seelsorge 5/1 (1984), 30–33. Tcherikover, Avigdor: The Ideology of the Letter of Aristeas, in: HThR 51/2 (1958), 59–85. Thei ẞen, Gerd: Das Doppelgebot der Liebe. Jüdische Ethik bei Jesus, in: ders./Merz, Annette: Jesus als historische Gestalt, 57–72. –: Die Goldene Regel (Matthäus 7:12/Lukas 6:31). Über den Sitz im Leben ihrer positiven und negativen Form, in: Bib.Interpr 11/3–4 (2003), 386–399. –: Gesetz und Goldene Regel, in: Lampe, Peter (Hg.): Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik, Wirkungsgeschichte, Matthäusevangelium, FS U. Luz, Neukirchen-Vluyn 2008, 237–254. Thiessen, Matthew: Aseneth’s Eight-Day Transformation as Scriptural Justification for Conversion, in: JSJ 45/2 (2014), 220–249. Topel, John: The Tarnished Golden Rule (Luke 6:31). The Inescapable Radicalness of Christian Ethics, in: TS 59/3 (1998), 475–485. Vogel, Manuel: Einführung, in: Reinmuth, Eckart (Hg.): Joseph und Aseneth, SAPERE 15, Tübingen 2009, 3–32. Wacker, Marie-Theres: Gottes Groll, Gottes Güte und Gottes Gerechtigkeit nach dem Joel-Buch, in: Scoralick, Ruth: Das Drama der Barmherzigkeit Gottes, 107–124. Wagner, Andreas: Anthropopathismen, in: Wagner, Andreas: Emotionen, Gefühle und Sprache im Alten Testament, Waltrop 2006, 101–111. Wei ẞ, Konrad: Art. χρηστός, ThWNT IX, 472–481. Wilckens, Ulrich: Vergebung für die Sünderin, in: Hoffmann, Paul (Hg.): Orientierung an Jesus. Zur Theologie der Synoptiker, FS J. Schmid, Freiburg i. Br. 1973, 394– 424. Wolter, Michael: Lk 15 als Streitgespräch, in: EthL 78/1 (2002), 25–56. –: Reich Gottes bei Lukas, in: NTS 41 (1995), 541–563.
392
Literaturverzeichnis
–: Wie aus dem Reich Gottes die Kirche wurde. Eine Rezeption der Selbstauslegung Jesu bei Lukas, Johannes und Paulus, in: Pastoraltheologie 105/6 (2016), 234–245. Zimmermann, Mirjam und Ruben: Der barmherzige Wirt. Das „Samariter-Gleichnis“ (Lk 10,25–37) und die Diakonie, in: Götzelmann, Arnd (Hg.): Diakonische Kirche, Heidelberg 2003, 44–58. Zimmermann, Ruben: Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) – Lk 10,30–35, in: ders.: Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 538–555. –: Parabeln – sonst nichts! Gattungsbestimmungen jenseits der Klassifikation in „Bildwort“, „Gleichnis“, „Parabel“ und „Beispielerzählung“, in: ders.: Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT 231, Tübingen 2008, 383–419. Zobel, Hans-Jürgen: Art. ח ֶסד,ֶ ThWAT III, 48–73. Zugmann, Michael: Changing the Perspective, Jesus and a „Sinful“/„Loving“ Woman (Lk 7, 36–50), in: SNTU A 38 (2013), 189–209. Zuntz, Günther: Aristeas Studies I: „The Seven Banquets“, in: JSSt (1959), 21–36.
Stellenregister Biblische Bücher Altes Testament Genesis 2–3 2,7 9,15–16 13,10 15,1–21 15,5–6 17–18 17,1–27 20,13 21,23 24,49 26,3 34,1–31 37 37,11 37,21–28 37,24 39,7–18 40,14 41,37–46 41,45.50 41,47–57 43,32 47,29 50,15–21 50,15
316 240 46 67 44 111 46 44 42 42 42 46 266 280, 290 280 294 293 301 42 301 233 304 271 42 297 297
Exodus 1,21 2,20 2,24 10,3–4 10,16 15,13
37 155 46 34 208 42
16,13–35 243 16,14 243 16,15 243 16,31 243 19–20 70 19,5–8 161 20,2–17 49 20,5–6 37, 42, 248 20,5 265 20,10 288 21–23 49 21,1 40 21,23–25 99 22,20 155, 295 22,21–23 79, 250 22,25–26 99 23,4–5 94 23,9.12 295 23,9 155 23,10–11 80 23,12 288 23,22 95 24,3 161 30,25 172 32,1–35 40 34 40 34,4–6 34 34,6–7 40, 42, 43, 46, 268 34,6 42, 267, 304 34,7 42 34,14 265
Leviticus 16,29
295
394
Stellenregister
17–26 155 18,5 146 19 146 19,2 25 19,14.32 37 19,18 144, 277 19,18b 148 19,33–34 155 19,34 295 21,1–3 149, 150 25 80 25,1–55 80 25,23 295 25,27.36.43 37 26,3–13 134 26,3 288 26,42.45 46
Numeri 6,6–7 14,17–19 14,18 19,11–22 21,29 35,11–14.22–29
149 267 267, 304 149 73 249
Deuteronomium 4,24 5,9–10 5,9 5,14 5,27–33 5,31.33 6,1.18 6,2.13.24 6,5 6,15 7,1–26 7,9 7,12 7,25 8,6 10,10–22 10,12.20 10,16–22 10,18 10,19 11,26–28
265 42, 248 265 288, 295 161 144 144 37 144, 145 265 155 42 46 170 37 281 37 281 250 155, 281 134
13,6 14,21 14,23 15,1–11 15,1–3 15,4–5 17,1 17,15 17,19 18,1 18,20 19,1–7 22,5 23,2 23,20–21 24,4 24,12–15.17–21 24,14 24,17–22 25,4 25,16 26,16–19 27,9–10 27,9 27,19 30,1–6 30,1–3 31,12.13 31,12 32,35 33,29
91 295 37 80 295 8, 85 170 295 37 152 91 249 170 303 295 170 79 295 38, 250 288 170 161 161 152 38, 79 220 322 37 295 268 73
Josua 2,12 3,3 22,5
42 152 319
1. Samuel 1–2 1,11 2,1–11 4,7.8.21 7,2–6 15,6 16,7 16,12–13 20,8
46 34 34 73 49 42 136 58 42
395
Biblische Bücher
2. Samuel 2,5–6 7,15 7,16 9,1 12,1–15 16,17 18,24 19,22 22,9 22,51 23,1
42 42 57 42 177 42 67 58 51 58 58
1. Könige 3,6 8,4–5 10,8 12,24 13,30
42 152 73 73 73
2. Könige 22,19
34
1. Chronik 9,30 21,16 29,19
172 67 319
2. Chronik 6,42 7,14 9,7 12,6 16,14 30,11 32,26 33,12.19.23 34,27 36,12
58 34 73 34 172 34 34 34 34 34
Esra 2,70 7,7
152 152
Nehemia 9,1 9,17 9,29
252 42 146
Hiob 5,17 22,29 32,19 42,10–17
73 38 51 111
Psalmen 1 3–14 7 7,12 9,10.13–14.19 9,10.19 9,10 10 10,14.18 11,5–7 12,1–9 12,6 12 14,5–7 14,6 15,1–4 17,7 18,28 22 22,24 22,25.27 22,25 24,3–5 25,6 25,12 30(31) 34,8.10 34,16–23 34,20–23 35 35,10 37 37,1–40 37,14 40,18 44 44,27 50.73–83 52,8–11 54 56
134 41 41 304 38 41 78 41 41 41 41 38, 78 41 41 38 41 42 38 41 37 38 41, 78 41 42 37 229 37 38 41 41 41 41 38 41 77 41 42 41 41 41 41
396 57 57,4 61,6 64 66,16 67,8 68,6–7 69 69,34 70 70,6 72,4.12.13 73 75,11 80 82,3.4 85,8 85,10 85,15 86 86,1 86,11 86,15 89,11.14–15 91 94 98,3 102(103) 102,8 103,8 103,11.17–18 103,11 103(104),10–28 106,7.45 107,9 107,41 109 109,16–17 109,22 109,31 112,9 113,7 118,4 119,63 120 128,1.4 132,15 133
Stellenregister
41 42 37 41 37 37 79 41 41 41 77 41 41 41 41 41 42 37 304 41 77 37 42 38 41 41 42 229 304 42 37 42 54 42 38 41 41 42 77 41 41 41 37 37 41 37 41 226
135,20 140 140,13 142 144,8 145,8 146 146,5–10 146,7–9 147,6
37 41 41 41 304 42 44 41 79 41
Proverbien 3,3–4 3,13 3,34 6,19 8,34 9,10a 10,4 10,17 11,1.20 11,17 12,1 12,10 12,11 12,22 13,1.8.24 13,25 14,22 14,29 15,1 15,8–9.26 15,18 16,32 17,27 18,19 19,13.15.24 20,4.13 20,22 20,28 21,17 21,21 21,24 23,10–11 23,19–21 24,17 24,21 25,15
42 73 38 228 73 319 205 53 170 42 53 288 205 170 53 205 42 304 216 170 304 304 304 214 205 205 275 42 205 42 297 250 205 94, 108 37 216, 304
397
Biblische Bücher
25,21 27,4 27,9 28,14
94 216 172 73
Kohelet (Ecclesiastes) 3,14 4,10 7,8 7,18 8,12 10,16 12,13
37 73 304 37 37 73 37
Hohelied 1,3.4 5,4 4,14
172 51 172
Jesaja 1,4.24 73 1,16–17.21–23 79 1,17 79 3,9.11 73 3,14–23 79 5,8.11.18.20.21.22 73 5,8–24.28–31 79 5,8–24 79 5,8 83 6,5–7 245 9,1–6 57 9,1 46, 50 10,1–4 250 10,1–2 79 10,1.5 73 11,1–9 57 11,2–5 58 11,2–3 59 11,2 310 16,5 42 17,12 73 18,1 73 24,16 73 25,6 172 28,1 73 29,1.15 73 29,23 37 30,1 73
30,18 30,19 31,9 32,20 33,1 39,2 40,3 40,31 41,47 42,7 44,6–20 49,1–6 49,2 49,13 50,6 52,13–53,12 54,7–10 54,8.10 56,2 57,1 57,15 58,1–12 58,7–9 58,7–10 60,1–10 61,1–3 61,2–3 61,1 63,7 65 65,13–14 65,18–19 66,2 66,5
73 239 73 73 73 172 46 111 78 46 325 58 58 78 99 102 268 42 73 42 38, 304 42 38 86 268 38 87 78 42 89 89 87 38 89
Jeremia 2,34–35 3,12 4,13 5,28–29 6,4 7,6 8,4–13 10,19 11,5 11,20 13,27 16,5
38 268 73 79 73 79 91 73 46 51 73 42
398
Stellenregister
17,10 21,14 22,18 23,5–6 23,5 25,10 26,19 27,27 28,1–17 28,2 28,17 29,24–32 29,32 31,1 31,3 32,19 33,14–26 36,7 39,39 44,10
51, 128 128 73 57 46, 50 172 73 73 91 73 91 91 91 73 42 128 57 34 37 34
Ezechiel 2,10 7,26 13,3.18 16,60 18,6 20,21 21,31 22,25 25,12 27,7 34,23–30 44,15
73 73 73 46 67 146 38 255 297 172 57 152
Threni (Klagelieder) 3,22 3,28–30 3,31–33 4,20 5,16
42 99 268 58 73
Daniel 3,17 3.42 3,42 5,22 9,3
37 330 331 34 252
12,12
73
Hosea 2,20–25 2,21 4,1 6,4–6 6,6 7,13 9,12 10,12 11,1–9 11,8–11 12,7 12,8
268 42 42 42 42 73 73 42 40 40, 220 42 118
Joel 2,13 4,4
42, 267, 268, 304 297
Amos 2,6–8 3,9–11.15 4,1–3 5,1–2.18 5,11–12 5,16–18 5,16.18 5,21–27 6,1 6,3–14 6,6 7,10–17 7,17 8,4–10 8,4–8 9,11–15
79 79 79 79 79, 83 82 73 42 73 79 172 91 91 79 118 57
Jona 3,5–10 4,2
252 42, 267, 268, 304
Micha 2,1–12 2,6–11 5,1–5 6,8 6,9
79 91 57 42 37
399
Biblische Bücher
7,4 7,18.20 7,18 7,20
73 42 268 46
Nahum 1,2 1,3 3,17
265 304 73
Habakuk 2,6–20 2,6.12.19 2,6.20 3,13
79 73 82 58
Zephania 2,3
34, 77
2,5 3,12 3,18
73 77, 78 73
Sacharja 1,12–17 3,4–5 3,8 6,12 7,10 10,6 12,7–12
268 262 46, 50 46, 50 42, 79, 297 268 57
Maleachi 3,1 3,7 3,16 3,20
46 209 37 290
Septuaginta 2. Esra 17,2 19,17
37 267, 304
Judit 10,3 16,17
172 73
Tobias 4,16 10,5 13,15.17
104 73 73
1. Buch der Makkabäer 4,10 46, 56 8,4 304 2. Buch der Makkabäer 1,2–4 46 2,22 330 3,15 330 6,28–30 89 10,4 330 3. Buch der Makkabäer 7,6 330
4. Buch der Makkabäer 10,20 89 18,9 73 Psalmen 1,1 2,2 2,12 5,10 6 6,3 6,5 7,2 9,14 9,39 16,7 16,13 20,7 21,3 21,13–14.17 21,14 21,21 24,16 24,20 25,11 26,2
73 58 73 51 267 239 255 255 239 250 51 255 58 255 255 255 255 239 255 239 51
400 26,7 28,8 29,9 30,2.16 31 31,1.2 32,21 33,9 37 38,9 39,5 40,2 42,1 50 50,3 50,16 55,2 56,2 56,3 58,3 64,5 67,6 68,19 70,2.4 73,21 78,9 83,5.6.13 85,3 85,15 88,16 89,39.52 93,12 97,3 98,3 101 102,8 102,11.17 104,3 104,5 104,8–9 105,3 105,45–46 105,47 106,10.14 106,40 108,22 110,5 111,1
Stellenregister
239 58 255 255 267 73 36 73 267 255 73 73 255 267 239 255 239 239 255 255 73 250 255 255 51 255 73 255 267 73 58 73 38 36 267 267 36 36 36 46 73 46 36 46, 50 51 255 46 73
114,4 118,1.2 118,170 119,2 124,3 126,5 127,2 128,1 129 132,2 132,10.17 136,8.9 139,2 141,7 142 143,7.11 143,15 144,8 145,5 145,9
255 73 255 255 51 73 73 73 267 172 58 73 255 255 267 255 73 267 73 250
Oden 7,42 12,7
330, 331 267, 304
Psalmen Salomos 2,8.33.36 2,19–27 2,32–37 2,32 2,33 2,35 2,36–37 2,36 53, 3,4.12 3,4 3,11–12 4,14–25 4,19–22 4,23 4,25 5,2.11.12 5,2.12.14.15 5,2.12 5,2 5,8–12.14 5,12.15 5,14.15.18
53 52 53, 54 54 37, 54 53, 54 56 54 56 53 53 53 52 37, 56, 73 53 54 54 53 53, 54 54 53 53
5,16–17 5,16 5 54, 6,1 6,5 6,6 7 7,3.9 7,3 7,5 7,6.10 7,8 7,10 8,11–19 8,14–15.23–43 8,26.30 8,27.28 8,27 8,28 8,32 9,1–3 9,6–7 9,6 9,7 9,8 9,10–11 9,11 10,1–3 10,1 10,2 10,3.4 10,4 10,6–8 10,6 10,7–8 10,7 11,1 11,7.9 11,9 12,1 12,4–6 12,4 13,4 13,5–10 13,7 13,11 13,12 14,1–2
Biblische Bücher
54 55, 73 55 55, 73 54 53 55 53, 55 55 53 53 53, 55 55 52 53 53 53 53 53 53 53 53 53 53 53 56 53 53 55, 73 53 53 55 55 53 56 53, 54, 55 53 56 53 56 53 52 56 53 53 53, 56 53, 54 53
14,3–4.9–10 14,4 14,9 15 15,1 15,3 15,4–5.7–12 15,4–5.8–13 5 15,13 16,1–4.11 16,3.6 16,3 16,6 16,15 17 17,1.3.4.46 17,3.45 17,3 17,4–20 17,4 17,7–10.22–24 17,9 17,21 17,22–24 17,22–23 17,23–25 17,23 17,26–27.29 17,26 17,27 17,28 17,30–31 17,32–41 17,32 17,33–34 17,34 17,34b 17,35 17,36 17,37–40 17,37 17,40–41 17,40 17,43 17,44 17,45–46 17,45 18
401 53 56 53 56 55 56 52 3 37, 53, 54, 56 53 53 56 55 53 52, 56, 58, 59, 60 56 53 56 56 57 53 53 57 52 57 57 57 57 57 57 57 57 58 56, 58 58 58 58 58 58, 60 58 58 59 59 59 55, 59, 60, 73 59 56 56, 60, 61
402
Stellenregister
18,1.3 18,1.11 18,1 18,2 18,3 18,4–5 18,4 18,5.9 18,6 18,7–9 18,7 18,8.9.11 18,10–12
53 56 53, 61 55, 61 61 61 61 53 55, 60, 73 61 53, 56, 59, 60 54 61
Weisheit Salomos 2,7 2,15 2,18 3,5 5,5 11,9 11,23–24 12,18 12,22 15,1–2 15,1
172 330 113 53 113 55 289 330 55 289 304
Sirach 1,23
304
2,12.13.14 3,31 4,10 5,4 5,11 10,14–18 12,1 14,1.2.20 15,11–20 17,25–18,14 18,30–33 21,26 23,2–3 24 241, 25,8.9 26,1 27,7–8 28,19 30,6 31,8 35,2 41,8 48,11 50,28
73 108 113 304 304 38 108 73 302 220 205 130 55 289 73 73 128 73 108 73 108 73 73 73
Baruch 2,27 4,4
330, 331 73
Neues Testament Matthäusevangelium 4,21–22 5–7 5–9 5,5 5,14–16 5,21 5,40 5,43–48 5,44 5,48 25, 6,1–4 7,1–5 7,17 9,13
260 115 68 144 275 254 99 101 94 120 296 126 130 149
12,3 12,5 12,7 12,33 12,36 13,38 18,12–14 18,21–35 18,23–35 19,4 19,29 20,2 21,16.42 22,31 22,36
145 145 149 130 150 130 199 115 191 145 144 176 145 145 141
Biblische Bücher
22,37 24,15 25,34 26,6–13
145 145 144 167
Markusevangelium 1,19–20 3,7–13 3,13 7,14–23 7,20–23 7,24–8,9 10,17 12,28 12,32–33 12,33 12,34 14,3 14,3–9 14,4–5
260 68 68 238 131 17 144 141, 150 141 149 146 167 165, 167 167
Lukasevangelium 1–2 1 1,1–4 1,1 1,5–6 1,6 1,9 1,11–17 1,13–17 1,15–17.76–78 1,16.17 1,16 1,17 1,26–38 1,26–56 1,28.30.45.48 1,30–33.35 1,31–33 1,32–33 1,32 1,35 1,43 1,45 1,46–52 1,46–55 1,47b
30, 33 35 4, 11, 371 321 62 46 46 47 48 61 49 49 46, 49, 129 35 15 62 35 62 57 44, 62 59 35, 59 35, 74 84 33, 371 34
403
1,48 55, 74 1,48a 34, 37 1,48b 35, 36 1,49 36 1,49b–55 36 1,49a 34, 35 1,49b 34 1,50 34, 37, 38, 39, 56 1,50–53 38, 56 1,50–54 36 1,50.54.72.78 220 1,50.55.70 56 1,50b 37 1,51–53 38 1,51 56, 57, 129, 224 1,51a–54a 33, 35 1,51a 36 1,51b 38 1,52–53 21 1,52 57, 224 1,52a 36, 38 1,52b 36 1,53 54, 87 1,53a 36 1,53b 36, 38 1,54–55 36 1,54 34, 38 1,54.72 55 1,54.73–75 55 1,54a 38 1,54b 38, 46 1,55 34 1,55b 39 1,55.73 44 1,66 129 1,67–79 45 1,68–69 47 1,68a–69b 47 1,68–79 34, 371 1,68 45 1,69–75 49 1,69 45, 57 1,68b 49, 50 1,70.76 45 1,71–74 57 1,72 45 1,72a 46, 47 1,72b 46
404 1,73 1,73a 1,74 1,74a 1,74b 1,75 1,75a 1,75b 1,76–77 1,76–78 1,76 1,76b 1,77 1,77b 1,78–79 1,78 1,78a 1,78b 1,78b–79 1,79 1,79a 1,79b 2,1 2,7 2,10–11 2,11.26 2,19.35.51 2,29–32 2,36–38 2,37 2,46–47 3,1–22 3,3–17 3,3–14 3,3–6.15–17 3,3.8 3,7–14 3,7–8 3,7–9 3,7.9.14 3,8.9 3,8 3,9 3,10–14 3,10 3,15
Stellenregister
45, 46 46 56 47 47 57 47 48 48, 51 52 46 48 182, 256 48 48 46, 49, 50, 62, 174, 210 51 49, 50, 192 51 46, 49 50 50 16 154 16 59 129 34 15 48 143 48 61 260 61 20 83, 142 49 71, 129, 162, 270 49 49 39, 44, 49, 128, 189, 259 128 21, 49 259 59, 129
3,21–22 163 3,22 59 4,1–13 199 4,1.14.18–21 59 4,15 144 4,16–30 62, 67, 80 4,16–21 21, 174 4,16–20 80 4,16 145 4,18 117 4,28–30 228 4,41 59 4,43 14 5,1–11 260 5,8 59 5,11 79 5,16 163 5,17–26.27–32 169 5,17–26 178, 181 5,20–26 180, 181 5,20 180, 181 5,21–32 219 5,21 178, 180, 181 5,22 129 5,24 178 5,27–32 60, 219, 260 5,29 171 5,31–32 174, 220, 224 5,32 20, 172, 192 6,1–11 169 6,11 70, 169 6,12 68, 163 6,12–19 68 6,13–16 68 6,17–19 92, 133 6,17 68 6,20–49 24, 63 6,20–26.29–35 21 6,20–26 38, 66 6,20–23 55 6,20 14, 66, 69 6,20a 67, 68, 69 6,20b–26 66, 67, 69 6,20b–23 71 6,20b 87 6,20c 80, 82, 85 6,21–26 66 6,21 54
6,21a–b 6,21a 6,21b 6,21c–d 6,22–23 6,22a–23b 6,23 6,23a 6,23c 6,24–26 6,24a 6,24a–b 6,24b 6,25 6,25a–b 6,25a 6,25b 6,25c–d 6,25c 6,26a–b 6,27 ff. 6,27–49 6,27–45 6,27–38 6,27–36 6,27–35 6,27–34 6,27–30.34 6,27–30 6,27–28 6,27 6,27a 6,27b–30b 6,27b 6,27c 6,28a 6,28b 6,29a–30b 6,29a 6,29b 6,30a 6,30 6,31 6,31a–34b 6,31a 6,31b 6,32–38
Biblische Bücher
84 72 72 87 74, 95, 260 88 111 88, 89 90 71, 204 82, 87 75 82 206 84 86, 87 86 87 87, 88 88 93 66, 69 66 66, 67, 92 18, 66, 121 66 281 222 106, 372 98 107 68, 69, 92 92, 93 93, 94, 95, 96 95, 109 95 95 98, 103 99 100 100 109, 203 145, 163, 221, 359, 372 92, 103 105 105 163
6,32–35 6,32–34 6,32–33 6,32 6,32c 6,33 6,33a.35b 6,34 6,34c 6,35–38.46–49 6,35–36 6,35 6,35a–36b 6,35a–b 6,35a 6,35b 6,35c 6,36–46 6,36 6,37–42 6,37–38 6,37 6,37a–38d 6,37b 6,37d 6,37e–f 6,38 6,38d 6,39–49 6,39–42 6,39 6,39a 6,39b–40 6,39b–c 6,39c 6,40 6,40a 6,41–42 6,41a–42e 6,42–49 6,42e 6,43–49
405 156, 159, 373 106, 110, 111, 114, 221 221 106, 107 107 108 97 108, 109, 221 109 142 58, 113, 119, 120, 163, 186, 221, 371 90, 111, 113, 114, 221, 222, 307 92, 110 111 110 111 114 66 24, 25, 114 66, 122 119, 126, 194, 221 116, 118 92, 116 117 117 118 111, 116, 118, 221 119 66, 67, 122 136 135 122 122 122, 124, 126 123 124, 135 176 117, 126, 130, 131, 194 125 14 126 66
406 6,43–45 6,43–45a 6,43–44
Stellenregister
56, 122, 131, 190 130 127, 131, 151, 163, 280 6,43a–45c 127 6,43b 128 6,44 130 6,45 127, 129, 130, 280 6,45b 130 6,45c 130 6,46–49 66, 113, 122 6,46.47–49 115 6,46a–49c 131 6,46 14, 59, 131, 134, 163 6,47–50 181 6,47–49 66, 163 6,47 132, 133 6,48 134 6,49 132, 133, 163 6,49c 123 7,1–10 16, 18 7,1 69 7,11–17 152 7,13–14 210 7,13 59 7,13a 153 7,16 179 7,18–23 49 7,23 74 7,24–36 185 7,24–35 168 7,28 14 7,29–30 141, 168 7,34 168, 171, 174, 193, 219 7,36–50 15, 30, 60, 103, 115, 165, 169, 177, 178, 181, 182, 186, 187, 189, 190, 192, 219, 257, 373 7,36–39 167, 168 7,36–37 171 7,36 184 7,36b 165 7,37–38 165
7,37a 7,37b 7,38 7,38b 7,39 7,39b 7,40–43 7,40 7,41–43 7,41 7,42–43 7,42 7,42b–43a 7,43 7,43a 7,43b 7,44–46 7,44–47 7,46 7,47–50 7,47 7,47a 7,47b 7,48–50 7,49 7,50 8,1–3.10 8,1–3 8,3 8,12 8,15 8,19–21 8,21 8,29 8,48 9,2.11 9,18.28 9,20 9,23–27 9,23–26 9,23 9,26–27 9,27.60.62
171, 184 165 180 165 178, 184, 189, 193 169 167, 175 170, 171 190 176 183, 187 176 177 177, 184 183 183 178 167, 178 172 181 142, 179, 180, 183, 188 183, 187 182, 183, 185, 187, 192, 1947,48 179, 180, 184 167, 179 178, 180, 186, 192 180 14 15 21 129 129, 142 113 260 199 180 14 163 59 90, 134 373 137 90 14
9,28–29 9,38 9,44 9,54.59.61 9,57–58 10,1–24 10,1 10,9.11 10,13 10,17–19 10,20 10,21 10,23–24 10,23 10,25–37 10,25–29 10,25–28 10,25–27 10,25 10,25a–29b 10,25a 10,25b 10,25b.29b 10,25b.37a–d 10,26 10,26b 10,27 10,27c 10,28 10,28b 10,29–37 10,29a 10,29b 10,29b.36a–37b 10,30–37 10,30–35 10,30 10,30a–35b 10,30c 10,31–32 10,31a 10,31b.32b 10,33b
Biblische Bücher
68 175 129 59 10 140 59 14 20, 74, 259 60 140 59, 140 60, 140 74 14, 28, 30, 101, 139, 141, 142, 177, 373 142 28, 151 161 1, 81, 140, 141, 169, 175 141 141, 143 142, 143, 144, 146, 156 155 142 144 143, 145, 156 129 145 1, 177 146, 157 21 141, 147 141, 152, 154, 156, 158, 159 142 372 148 202 141 149 149 149 151 152, 153, 157
10,33–34 10,35a–b 10,35b 10,36–37 10,36a–37b 10,36a–b 10,37 10,37b
407
210 154 154 156 154 156, 158, 159 156 156, 157, 158, 162 10,37b.d 146 10,37d 156, 157 10,38–42 15 10,42 317 10,57–62 90 11,1–4 163 11,2–4 114 11,2 36 11,5–13 115 11,20 14 11,27–28 15 11,27.28 74 11,28 142 11,29–32 261 11,32 20 11,37–54 38 11,37–52 151 11,37–42 169 11,37 169 11,39–52 169 11,39–42 219 11,42.43.44.46.47.52 74 11,45 143, 175 11,46–52 141 11,47 90 11,52 223 12,1–10 134 12,2–9 90 12,8–9.16–21.33–34 142 12,10 8, 22 12,13–15.16–21.22–34 21 12,13–15 203 12,13 175 12,15 204 12,16–21.33–34 38 12,16–21 22, 78, 187, 204, 368, 377 12,16 202 12,17–19 207
408 12,21.33–34 12,22–34 12,32 12,34 12,35–48 12,37.38.43 12,41–46 12,45 12,47–48 12,48b 12,49–53 12,51–53 13,1–5 13,3 13,5–9.23–30 13,6–9 13,10–17 13,16 13,18–19 13,18 13,22–30 13,22–27.28–30 13,24–30 13,29 14,1–6 14,1 14,2.16 14,7–24 14,7–11 14,11 14,12–24.33 14,12–14.15–24 14,12–14 14,14.15 14,15–24 14,15 14,25–35 14,25–33 14,26 14,33 15 15,1–32 15,1–10 15,1–3 15,1–2.3–32 15,1–2.7.10
Stellenregister
90 54, 115 60 78, 129 60 74 134 129 53, 115 123 260 249 261 20 142 128 15, 127 44 85 13 134 14 223 218 141, 169 168, 169 202 85 224 224 21 142 78 74 223 14, 218 18, 90 135 260 78 188, 190, 204, 214, 222, 230 115, 190, 193, 260, 261 192 205, 218, 222 169 174
15,1–2.11–32 15,1.2 15,2 15,3–31 15,3–10 15,3–9 15,3–7 15,4–31 15,4–10 15,4–7 15,4–5 15,4.6.8.9 15,6.9 15,7.10 15,7 15,8–10 15,8 15,10 15,11–32 15,11–19 15,11–16 15,11 15,11a 15,12.30 15,12 15,12b 15,12c 15,12c.30a 15,13 15,13a 15,13b 15,13c 15,14a 15,14c 15,15a 15,15b 15,15b.25a 15,16a 15,16b 15,17–20 15,17–20a 15,17 15,17a 15,17b 15,17b.22a.26a 15,18–20 15,18b
192 199 199, 200 60 261 289 60 219 224 199 200 212 200 191, 200, 207 20 199 200 20 30, 142, 179, 197, 261, 373 54 201, 202 201 202 204 202 203 216 203 204 197, 203, 204 204, 209 197, 204 204 205, 213 205 205 213 206 197 191, 254 201, 206 209 207 207 202 190 207
15,19a 15,19b 15,20 15,20a 15,20b 15,20b–24 15,20b–c 15,20c 15,21b 15,21c 15,22–23 15,22 15,23–24 15,23 15,23b.24c.32a 15,24.32 15,24 15,24a 15,24a.32b 15,24b 15,24c 15,25–32 15,25–28 15,25a 15,26 15,27 15,28–32 15,28–30 15,28 15,28a 15,28b 15,29–30 15,29 15,29b 15,29c 15,30 15,30a 15,31–32 15,31 15,31a 15,32 15,32a 16,1–13 16,1.19 16,9 16,10–13 16,13.19–31
Biblische Bücher
209 209, 215 210, 211 209 153, 209, 220 152, 201, 209 214 209, 210 211 211 221 211 213, 214 211 216 220 212, 213 212 203 212 213 201, 213 217 202 214 214 222 225 221, 374 214 214 213 208, 213, 219 215, 219 215 171, 216, 219, 222 216 193 222, 223 216 212 217 21, 23 202 118 78 142
16,13–14.19–31 16,14–16 16,14–15 16,14 16,15 16,16 16,16.29 16,16–17 16,19–31
16,19–22 16,20 16,24.25.27.30 16,24 16,29 16,30 17,1–4 17,1 17,3.4 17,7–10 17,13 17,19 17,20–21 17,37 18,1–18 18,1–8 18,4–5 18,9–14 18,11–12 18,12 18,13 18,14 18,14b 18,15–17.25 18,15–17 18,18–30 18,18–27 18,18–25 18,18–23.24–30 18,18–23 18,18
409 204 223 170 78 129, 147 27 161 14 14, 22, 23, 38, 54, 76, 78, 83, 134, 170, 187, 206, 261 83 79 44 239 28 20, 260 260 74 20 60, 115 239 180 13, 14, 81 59 15 38 207 142, 169, 188, 189, 190, 192, 224, 257 189 224 189, 190, 224, 257 189, 224, 257 224 223 14 14, 142 18, 21, 38, 78, 134 204 14 90 81, 142, 144, 157, 175
410 18,18b 18,19 18,20 18,22–27 18,26–27 18,28–30 18,28–29 18,38.39 18,42 19,1–10 19,10 174, 19,11–27 19,12 19,39 20,9 20,13 20,21.28.39 20,36 20,45–47 21,1–4 21,2 21,14 21,17 21,23 21,29–36 21,34 22,11 22,16–18 22,16.30 22,22 22,24–30 22,24–27 22,24–26 22,25–27 22,28–30 22,30 22,33 22,35 22,39–42 22,41–44 23,1–5.13–25.47 23,2 23,29 23,33–43 23,34 23,35
Stellenregister
142 28 161 78 76 119 10, 79 239 180 21, 60, 78, 83, 115, 179, 192, 219, 317 224 14, 115, 134, 142 202 175 202 207 175 113 91 21, 77 79 129 72 74 142 129 154 14 218 74 142 127 15 60 60 223 59 205 68 163 16 59 74 179 98 59
23,39–43 23,42–43 23,46 24,26.46 24,26 24,28 24,32 24,38 24,44 24,46–49 24,46–48 24,46–47 24,47 24,49–50
224 223 163 59 223 129 129 129 161 17, 174, 188 256 60 16, 20, 182, 260 97
Johannesevangelium 12,1–8
167
Apostelgeschichte 1,2 1,6–8 1,6.10 1,8 1,16–20 1,24 2,1–4 2,14–36 2,21 2,26.37.46 2,31 2,36 2,37–41 2,38 2,41.47 2,42–47 2,42 2,44–47 3,12–26 3,18.20 3,19 3,19.26 4,12 4,24–31 4,26 4,32–37 4,32–35 4,32
59 17 59 16, 97 335 163 97 3 182 129 59 59 260 7, 20, 60, 182, 188 7 6, 21, 22 163 85 3 59 20, 188, 260 182 261 163 59 6, 21, 22 85 7, 129
4,33 4,34–35 5,1–11 5,3.4 5,3 5,4 5,9 5,29 5,31 5,42 6 6,1–7 6,1–6 6,6 7,1–60 7,23 7,39.51.54 7,51 7,59 7,60 8,5 8,15 8,16 8,21 8,22 8,28.30.32 9,11.40 9,22.34 9,28 10 10,1–41 10,1–2 10,9.30 10,28 10,36 10,43 11,5 11,17 11,18 11,20 11,23 12,1–4.20–23 12,5.12 13,3 13,22 13,24–25 13,24
411
Biblische Bücher
59 10 21, 22, 78, 204 129 7 10 22 16 20, 60, 182, 188, 260 59 85 85 21 163 16 129 129 90 59 98 59 163 182 129 20, 182, 188, 261 145 163 59 182 17 16 21 163 205 59 60, 182 163 59 20, 188, 260 59 129 95 163 163 129 49 20, 260
13,38 13,43 14,17 14,22 14,23 15,1–29 15,5 15,7–11 15,7 15,9 15,26 15,28–29 16,14 16,25 16,31 17,22–32 17,22–31 17,30–31 17,30 18,24–28 19,1–7 19,4 19,5.13.17 19,14 19,23–40 20,21 20,33–35 20,36 21,5 21,13 21,31–36 22,17 23,23–35 24,14 24,17 26,7 26,18 26,20 27,23 27,42–44 28,8 28,27 28,31
60, 182 155 129 223 163 27 170 4 4 129 182 8, 238 129 163 59 260 3 261 20, 188 49 49 260 182 20 260 20, 188, 260 21 163 163 129, 182 16 163 16 48 21 48 182 20, 188, 260 48 16 163 129 16
Römerbrief 2,17–24 123 3,23 205 8,25–26 242
412
Stellenregister
11,32 12,9–21 12,14 12,17 12,19 14,14–18
289 93 98 275 268 238
3,12 51
1. Korintherbrief 1,7 6,9.10 6,13 8,1–11,1 8,8 12,24 13 15,50
2. Timotheusbrief 4,17
255
205 144 238 238 205 205 121 144
1. Petrusbrief 2,11–12 3,9 4,14a 5,8
275 144, 275 89 255
2. Petrusbrief 2,20–22
224
2. Korintherbrief 9,9 11,5
75 205
Galaterbrief 2,7–8 4,30 5,13–14 5,21 6,2
4 144 160 144 160
Hebräerbrief 1,4.14 6,4–6 6,12 7,26–28
144 224 144 60
Epheserbrief 2,1–5 2,4 4,20–32 4,29 4,30–5,2
212 212 130, 131 130 121
Philipperbrief 2,1–4
160
Jakobusbrief 1,22 2,13 2,14–26 2,14–17 3,8–12 4,7–10 4,10 4,13–17 4,17 5,1–10 5,1–6 88, 5,2 5,11
133 188 132 188 317 187 187 187 188 114 187 130 114
Kolosserbrief 2,13
212
Offenbarung des Johannes 21,7 144
1. Thessalonicherbrief 5,15 275
Frühjudentum 2. Baruch (Syrische Baruchapokalypse) 52,5–7 89
3. Baruch (griechische Baruchapokalypse) 17,3 207
413
Frühjudentum
4. Esra 5,13.19.20.21 6,29.30.35 9,23.27 12,39.51
246 246 246 246
1. Henoch (äthiopisches Henochbuch) 96,4 170 2. Henoch (slavisches Henochbuch) 42,6–12 73 50,3 94 52,11 73 Aristeasbrief 1–2 2 3 11.30–32 12–27 15 16–17 16 17–18 17 18 28–171 30 31 37 42 45 46–50 92–95 127 130 132 135–138 138 140 142–169 146–147 165–166 168 182–186 184 184–294 184–300
323 323 323 321 322 329 328 325 329 326 329 322 321 329 328, 329 326 328 322 337 327 327 325 325 325 326 322 324 324 329 322 322 327 328
187 187–294 187–300 188 189 190 191 192 193 196 197 199 200–201 204–205 205 334, 206 207.208 207 208 209 209–210 210.229 210 211 212 215 222–223 227 229 235 237 253 253–254 254 335, 257 262–263 272 324, 281 288–290 301–311
106 375 322 330, 333, 375 334 328 328 332, 333 328 334 336 328 329 328 335 328 328 332, 333 331, 333, 375 328, 336 375 375 336 333, 334 334 333 334 94 336 329 334 335 333 375 334 334 333 331 328, 331 322
Joseph und Aseneth 1–21 1,4–6 1,4.5 1,5 1,7–9 1,8–9
233, 374 235 235 263 274 284
414 2,1 2,2–5.7–9 2,3 2,4.9 2,5 2,6 2,10–12 3,1–2 3,3.4 3,3 3,4 3,6 4,1 4,2 4,7 4,8 4,9–12 4,9–10 4,12 5,4–7 5,4–5 5,5 5,7 6,1–8 6,1–4 6,2.4 6,2 6,2–3–4.5 6,2–4 6,3 6,7 6,8 7–8 7,1 7,2–4 7,2 7,3–6 7,3 7,4 7,5 7,7–8 7,7 7,8 – 8,1 7,8 8 8,1.4 8,1
Stellenregister
235, 247, 251 235 235, 252 235 251 235, 252 235 236 263 236, 263, 264 235, 236 235, 251, 252 263 251 235, 236, 263 236 251 236, 258 250 263 235, 237 263 236 248 263 247 235, 237 263 258 235, 237, 242, 263 237 237, 258 270 236, 263, 270 248 250 236 236 208 236 235, 237, 247 250 235 248 238 250 235, 248
8,2 8,3 8,5–7 8,5.6 8,5 8,7 8,8–9 8,8 8,9 9–18 9–17 9,1–2 9,1 9,2 9,3–5 9,4 9,5 10–18 10,1 10,3.14–15 10,3–8 10,8 10,10–11 10,12–13 10,13 10,14 10,17 11–13 11 11,1–19 11,1–9 11,1x–2.15 11,2.6.12.17 11,2–3.8–9.15–19 11,3–5.13.16 11,3–5 11,3.12 11,3 11,4–5 11,6.10.13 11,6 11,7–9.15 11,7–8 11,7.8.15–17.18 11,7
263, 264 264 240, 250, 263, 271 264 238, 239, 242, 244, 246, 252, 270, 374 170, 270 274 239, 240, 271 212, 240, 264 240 246 248 241, 264 248 236, 245 236, 250 263 242 253 253 252 252 252 248 238, 243, 259 252 245, 251 251 265, 267 254 253 253 251 244 249 249 253 235, 253 248 253 248 265 248 264 248, 264
Frühjudentum
11,9.11.14.18 11,9.17 11,9 11,10.13 11,10 11,11 11,12–13 11,15–18 11,17–18 11,18 12–13 12,1–13,15 12,1 12,3.6.8.13 12,3.6–8.11–12.14 12,3 12,5.12.14 12,5.12 12,5.14 12,5 12,6–13 12,6–12 12,8 12,9.12 12,12 12,14–15 12,14 12,15 13,1–2 13,1.2.12 13,1.12 13,1 13,2–11 13,6–9 13,11 13,13–15 13,13–14 13,13 13,15 14–18 14–16 14,1–2.9 14,1 14,8 14,9 14,12.14 15–17
253 264 249, 252, 264 267 254, 266, 267, 269, 271, 374 254, 255 250 253 249 268 255, 267, 268 254 264 254 269 254 249 253 235 244, 251 251 255 261, 268 248 249 271 269 252, 269 249 254 269 251, 269 252 253 248, 249 248 263 244 237, 248, 258 241 255 247 254, 264 264 235, 237 235 242
15 15,1.2.4.6.7.8.10.14 15,2–6 15,2–4 15,2 15,3 15,5 15,7.12.12x 15,7 16,14–16 16,14 16,16 16,17–23 16,19–20 16,22–23 17,1 17,4–6 17,6 18,1 18,2.11 18,5.9 18,7 18,9 18,11 19,5 19,9 19,11 20,2–5 20,3–4 20,4 20,5 20,6–8 20,6 20,7 20,8 21,1.12.19 21,1 21,3 21,4.21 21,4 21,10–21 21,12.16.21 21,14 21,15 21,17–20 21,17.18 21,18
415 241 235 272 269 254 251 212, 246 264 241, 242, 246, 247 242 243, 264 242, 246, 252 243 244 244 279 246 242 245 263 247 251 264 242 237, 246 235 252 248 258 237 237 250 247 236 236 235 270 274 263 235, 242 267 251 264 264 248 247 247
416 21,21 22–29 22,8.13 22,11–13 22,11 23,1 23,2.14 23,2 23,3 23,4 23,5 23,6 23,8.9 23,9.12 23,9 23,10–17 23,10–12 23,10 23,11 23,12 23,12b 23,13–15 23,13–14 23,14 23,14–17 23,14–15 23,16–17 24,1–19 24,7 25,5–6 26–28 27
Stellenregister
239, 246, 248, 251 233, 374 264 273 272, 280 273 277, 282 273 273, 274 273 273 273 273, 276 270 94, 270, 275, 276, 374 271, 279 279 235, 264, 279, 374 208, 279, 280, 282 270, 280, 281, 282, 283 281, 283 282, 283 279 266 274 273 283 284 282 266, 278 282 275
27,1–5 27,1 27,10 27,11 28,2–7 28,2.4 28,7.10–11.14 28,7.14 28,7 28,9–17 28,10–14 28,10 28,14 29,2 29,3–4 29,3 29,6–9
277 270 212 273 276, 374 239 276 268 276, 282 276, 277, 374 270 273 94, 276, 374 277 270, 273, 278 94, 270, 278 278
Pseudo-Philo Jona 153
212
Pseudo-Phokylides 32–34
283
Qumran 1Q28 2,11.19–21 1QS 1,22 1QS 2,1 1QSb V 25 4Q403 1 I,23 4Q405 3 II,15 4Q525
152 51 51 59 51 51 73
Testament Hiob XV,8
170
Testamente der XII Patriarchen Testament Rubens II,1–9 III,2–8 III,4 IV,1.11 IV,6–11
292 310 51 292 310
Testament Simeons I,7 II,4 II,4.7 II,6–11 II,7 III,1–6
314 51 292 299 51, 292 292
417
Frühjudentum
III,2 III,4–5 III,4 III,6 IV,4–6 IV,4 V,2
292 315 315 314 314 299 287
Testament Issachars III,2.4.6.7.8 III,8 V,1–2 VII,5–6 VII,6
288 288 287, 288 287 288
Testament Sebulons I–IV 287 I,2 294 I,5 287, 294 I,6 292, 294 I,7 293 II–IV 294 II,1 290, 293 II,2.3 292 II,2 290, 292 II,4–6 293, 375 II,4.6 292 II,4 291 II,5 291 II,6 292 II,7 292, 294 II,8–9 292 II,8 293 III,1–8 286, 293 III,1 293 III,5,1–4 286 IV,1–2 293 IV,2–4 293 IV,2 291, 292, 294 IV,5 292, 375 IV,8 292 IV,11 293 V–VII 287 V,1 288, 289, 291, 292, 295, 375 V,2–4 289 V,3.4 292 V,3 291
V,6 VI,1–3 VI,1–2 VI,4–5.7 VI,4 VI,5 VI,6 VII,1.2 VII,1 VII,2.3 VII,2 VII,3–4 VII,3 VII,4 VIII–X VIII,1–IX,3 VIII,1–3 VIII,1.3.4 VIII,1 VIII,2.6 VIII,2 VIII,3 VIII,4–IX,3 287 VIII,4 VIII,5–IX,6 VIII,5–IX,3 VIII,5 VIII,6 IX,1–3 IX,7 IX,8
295 295 294 295, 375 291, 292, 295, 375 295, 296 294 291 295 292 292, 295 296 51, 292, 295, 375 291, 292 287 297, 299, 375 289, 300 291 292 51, 292 289, 307, 375 25, 297 297, 298, 299 293 228, 304 298, 299, 300 298, 299 298 289, 292, 375 290, 292
Testament Dans II,1–5 II,1 II,2–5 III,1 V,1 V,3
291 292 277 277, 291 292 287
Testament Naftalis II,8
51
Testament Gads I,6–7 I,9 II,1
286 292 291, 292
418
Stellenregister
IV,2 IV,7 V,2–4 V,2 V,9–11 V,9 VI,4–7 VII,7
287 292 287 292 51 292 94 287
Testament Assers I,3–5 I,6 I,8 I,8–9 II,5–7 III,1 IV,2 V,4 VI,1.3
302 303 303 303 302 303 302 302 302
Testament Josefs I,1 I,3–II,7 I,3–7 II,3 II,6–7 II,6 II,9 III III,1–IX,5 III,1 III,3 III,6.7 IV,3.8 IV,6 V,6 VI,1–7 VI,2.6 VII,1–7 VII,4–5 VII,4 VII,7 VIII,4 VIII,5 IX,2–5 IX,3 X,1–4 X,1
303 300 306 306 306 306 207 301 301 301 305 306 306 305 287 306 306 308 307 306 308 305 306 306 307 301 301
X,2 X,5–XVI,6 XI,1–3 XI,1 XI,2 XII,1 XIII,1–9 XIII,5–9 XIII,9 XIV,1–3 XV,3 XVI,4–6 XVI,6 XVII,1–XVIII,4 XVII,1–3 XVII,1 XVII,2 XVII,3 XVII,4–7 XVII,8 XVIII,1.3–4 XVIII,1 XVIII,2 XIX,1–XX,6 XIX,3.6 XX,1 XX,4 XX,5–6 XX,6
Testament Benjamins I,4 II,4 III,1–VI,1 III,1.3.4.5 III,1 III,3–5 III,3.4–5 III,3.4 III,3 III,4 III,6–7 III,5 III,6 III,7 IV,1–VI,7 IV,1–5
307, 375 301 287 287, 303 302, 375 301 303 287 302, 375 302, 375 287 303 287 301 287 303 304, 305 304 304 305 307 307 94, 293, 301, 307 301 301 308 301 303 301 309 309, 310 308 309 309, 310, 316, 318, 375 287, 310, 375 310 309 310, 311 310, 311 312 311 309, 310 312, 314, 375 312 309, 318
419
Frühjudentum
IV,1 IV,2–3 IV,2 IV,3 IV,4 IV,5 V,1–VI,7 V,1–4 V,1.2 V,1 V,3 V,4 V,5 V,11–5 VI,1–VIII,3 VI,1–4 VI,1 VI,2–7
308, 312, 318, 375 94 313, 315 310, 313, 316 310, 317 309, 316 308 316 310 308, 315, 316 313 312, 313, 316 308, 309, 310, 313 313 310 317 310, 315 309
VI,2–3 VI,3 VI,4 VI,5–7 VI,5 VI,7 VII,1–VIII,1 VII,1 VII,2 VII,3–5 VII,5 VIII,1 VIII,2 VIII,3 IX,1 X,3–4 X,3.5 X,5–11 X,8–10
309, 315 317 308, 310, 315 317 308 317 314 310, 316 253 310 314 309, 314, 315 308, 310 313 310, 317 318 309 317 310
Josephus und Philo Josephus de Bello Judaico II, 120–121 II, 122–127 II, 123.126 II, 127 II, 128–131 II, 134 II, 137
7 7 7 7 7 7 7
Antiquitates Judaicae IV,222 VII,363 XIV,212 XVIII,30
152 152 108 151
Contra Apionem II, 28 II, 28 § 209–210
94 94
298
de virtutibus 102–104 112–118
250 94
de providentia 2,3–5
230
de specialibus legibus I,51–52 250 IV,177–178 250 de migratione Abrahami 122–123 212 Quaestiones in Genesim IV 230 Legatio ad Gaium 269,4
Philo de Abrahamo 257
de Josepho 166
356
67
420
Stellenregister
Frühchristliche Schriften Acta Petri 35
207
Acta Philippi 117
212
Didache 1,5
101
Eusebius v. Caesarea praeparatio evangelica 8,14,4 230 Thomasevangelium 107
199
Philosophie Griechische Philosophen Aischines orationes 1
229
Aristoteles Athenaion Politeia 40,2
298
ars rhetorica 1384b
125
Nikomachische Ethik 1164b.26 1168b
108 3
7 10 11 12 16 20 22 28 42
356 348 348, 356 348 362 348 348 348 94
Hesiod opera et dies 349
108
Iamblichos de vita Pythagorica 29–30 29–30.81.167–168 167
7 7 7
Diodorus Siculus bibliotheca historica 13,95,2
207
Epiktet Diatriben 2 14,18 3 1,15 3 13,11.13 3 22,54.81.82 41 43
108 207 94 94 356 356
Plato leges 774c
108
Enchiridium 2 3 5
Plutarch Aristeides 25,7
298
356 356 356
moralia 515d
125
421
Philosophie
Pseudo-Aristoteles rhetorica ad Alexandrum 1421b38–39 108 Thucydides historia 3,67,6
Xenophon memorabilia 2,6,28
108
108
Römische Philosophen Cicero de finibus bonorum et malorum 2,23 54 de natura deorum II,12
342
Lukrez de rerum natura 996.1023
207
Musonius Rufus Diatriben 9 10
348 348
Pseudo-Quintilian declamationes minores 5 230 Seneca der Ältere controversiae 2,4 3,3
229 229
Seneca der Jüngere de beneficiis IV,26 VII, 20,3
94 207
de brevitate vitae 18–19 18,2 18,4 18,5 19,1
366, 367, 368, 377 367 366 366 367
de clementia I.1 I 1,1–2 I 1,5 I 2,2 II 1,2 II 4,1 II 4,4 II 5,1 II 5,4–5 II 5,4 II 6,1 II 6,2–3 II 6,4 II 6,4
360 360 360 361 361 361 333, 362 362 362 362, 378 362 363 362 378
de ira I 3,4 I 5,1–3 I 5,2–3 I 8,1 II 15,3 II 16,2 II 28, II, 32,1–34,7 III 1,1 III 5,6
354 354 358 355 359 350 358 94 359 359
de otio 1,4 1,4–2,1 6,1–5 6,3–5
94 358 357 358
de vita beata 1,24 3,3 4,2 15,5
75 358 358 349
422 epistulae morales 2,6 3 4,8–9 5 5,1–7 5,7–9 7,11 9,16 10 10,2–4 10,5 13 13,12 13,14 14,14 18 18,9–10 18,10 18,13 18,14–15 21,10 22,15–17 23,6 23,7 24 24,6–8 24,9–10 25,4 29,10–12 30 31,8 31,8–11 39,5–6 41,1 41,2 41,4–5 41,5 41,8 43,4–5 44,5 44,6 47,13 47,15–17 48,11 50,8–9 51,5–10 51,8–13
Stellenregister
352 359 363 355 352 355 342 343 355 355 351 349 359 365 364 343 342 352 343, 352 354 352 365 352 344, 350 364 349, 364 364 343 351 364 343 347, 353 341, 352 345 345 349 345 341 351 353 351 358 342 347 345 354 352
51,9 58,28 59,14–15 60 60,3 63,1.12–14 63,12–16 65,12.23 65,12 65,24 66,12 66,16 66,19 66,41 67,7 70 70,8–10 70,20–23 71,8–11 71,12.14 71,18 71,21–23 71,32 71,32–33 71,37 73,16 74 74,15 74,16 74,20–21 74,24–30 74,25 74,29 75,11–12 76,9 76,10 76,13–16 76,25 82,4–5 82,20–21 85,2–16 86 87,21 87,30–42 88,30 89,19–22 90,3 90,3–4
342 343 352 352 352 357 356 343 347 349 344, 377 343 363 342, 352 349 364 365 364 349 343 363 352 344 353 351 345 350 341 344 352 356 356 342 355 341 341 347 349 365 364 355 352, 353 346 353 358 352 351 3
423
Philosophie
90,44.46 91,4–12 91,21 92 92,1.30 92,4–11 92,12–13 92,27 92,30 92,31 92,40 94,43 95,47 95,49–50 95,50 95,52 98,13–27 99,15–16
345 363 364 346 347 352 352 345 346, 347, 353, 377 352, 353 357 358 343 343 346 347 357 356
101 101,15 102,1–2 102,21 104,37 107,9–10 111,20 113,20 117,5 119,7 122 120,11 122,1–5 123,16 124,7–8 124,14 124,20 124,22–23 124,23
367 341, 365 349 347 352, 353 343 343 357 342 343 352 351 353 352 341 342 360 341 347, 377
Personen- und Sachregister Abschichtung 201, 203, 205, 208, 212 Affekt 41, 101 f., 152–154, 157, 210, 214, 216, 220, 223, 247, 276, 288, 290–292, 314, 317, 341, 354–361, 363 f., 374 Aischines 230 Armut 11, 21–23, 38, 41, 54 f., 69, 75– 85, 87 f., 91, 94, 118, 170, 206, 259, 295, 302, 312, 314, 356 Äsop 230 Barmherzigkeit – σπλαγχνίζεσθαι 152 f., 157, 209 f., 220, 239, 291, 295, 297 f., 372 – σπλάγχνα (ἐλέους) 50–52, 210, 288 f., 291 f., 298, 300, 312 – εὐσπλαγχνία/εὔσπλαγχνος 285, 288– 292, 312 – ἔλεος/ἐλεεῖν 43 f., 46, 50 f., 53–56, 58, 61, 157, 160, 162, 210, 212, 239, 267, 269, 271, 273, 285, 288–290, 292, 298, 300, 313, 330, 333 boundary marker 6, 147, 236, 250, 272, 336 Bovon, François 96, 108, 202 Bundestreue 36, 43–48, 53, 62, 80, 111, 150, 372 Burchard, Christoph 234 Burridge, Richard 26 Cato, Marcus Porcius, der Jüngere 349, 353, 364 f. clementia 330, 358–363 Demut 34, 98, 102, 106, 108, 111, 123, 126 f., 136, 178, 182, 187–190, 211, 224, 251–254, 257 f., 304, 307, 334, 376 Diaspora 227, 233 f., 240, 254, 265, 271, 303, 321 f., 326, 331
do ut des 108, 119, 218, 359 Doppelgebot der Liebe 1, 28–30, 79, 96, 101, 140–151, 155, 157, 160–164, 177, 194, 285, 287–290, 300, 303, 305, 308–311, 318 f., 373 Elite 67, 147, 150, 154–156, 161, 163, 168, 173–175, 179, 218, 227, 263, 326, 328 Endogamie(-Gebot) 236, 239, 271 f. Epiktet 356 familia Dei 260 Feindesliebe 92–103, 105–114, 117–122, 284, 312, 314, 372, 374–376, 378 Fink, Uta 234 Freundschaft 42, 96, 102, 104, 106, 110, 121, 148, 172, 175, 178, 278, 359 Frömmigkeit 26, 37, 42, 233, 236, 238, 301, 316 f., 323 f., 326, 329, 336 f., 347, 375 Fürsorge 15, 21, 38, 54 f., 60, 78, 85–87, 107, 115, 125, 222, 242, 259, 262, 278, 283, 295, 311, 328, 324, 358, 374 Gerechtigkeit 26, 38–44, 47, 49, 52 f., 56–58, 60–62, 75, 77, 79, 51, 85, 96, 110, 147, 150, 155, 161 f., 193, 204, 211, 218, 222, 224, 226, 229, 257, 259, 281 f., 288, 290, 299, 308–310, 312 f., 332, 334, 336, 351, 358, 360, 366, 375 Gesetz 1, 4, 25, 27, 40, 43, 53, 80, 101, 107, 123, 139, 143–146, 149–151, 155 f., 160 f., 203, 226, 238 f., 250, 277, 303, 305, 322–324, 326, 329, 335, 358 Gewalt 16, 40, 52, 58 f., 84, 90–95, 98 f., 102 f., 106, 266, 270, 273, 275–277,
426
Personen- und Sachregister
279, 281–284, 290, 293 f., 305, 324, 335, 360, 371–374 Gewissen 51, 229, 291, 344, 350 f. Gier/Habgier 84, 87, 204, 333 f., 351– 354, 365 Glaube 14, 26, 31, 35, 37, 60, 77 f., 113, 115, 119, 121, 129, 132, 135–137, 143, 163, 180–182, 188, 219, 223, 229, 239, 241, 251 f., 258, 262 f., 311, 316, 342, 374, 376 Goldene Regel 103–110, 116, 119 f., 145 f., 163, 221, 296, 331 f., 358 f., 372 Gottesbeziehung 24, 34, 48, 58 f., 78, 98, 113, 140, 163, 186 f., 193, 223–225, 236, 256 f., 261, 264, 270, 274 f., 278– 280, 284, 289, 292, 306, 309, 311, 316, 329, 334, 345 Gottesherrschaft/Reich Gottes/βασιλεία τοῦ θεοῦ 11, 13–20, 22–24, 30, 34– 36, 38, 43 f., 46, 54, 56–61, 71, 74–78, 80–87, 91 f., 96, 102, 111–113, 116, 121 f., 129, 132, 134, 137, 140, 143 f., 147, 163, 193, 218, 220–224, 227–229, 261, 264, 268, 331 f., 368, 371–373, 376, 379 Gotteskindschaft 110–117, 121, 137, 222, 268 Gradl, Hans-Georg 21 Green, Joel 100 Gütergemeinschaft 3, 6 f., 10, 29, 85 Hass 88–91, 95–97, 102, 108 f., 235, 247–250, 255, 260, 265 f., 291 f., 314, 354, 359 Hays, Christopher 21 f. Heilsgeschichte 17, 35 f., 39, 44, 46– 48, 50, 61 f., 70, 170, 179, 220, 368, 371 Heilsgewissheit 61, 82 f., 86, 89, 92, 111– 113, 118, 261 Herrscherethik/Herrscherethos 327 f., 330–336, 350, 360–363, 368, 375– 378 Herz 51 f., 56 f., 78, 128–131, 136, 307, 319 Hochmut 41, 57, 126 f., 189, 211, 224, 226, 248, 251, 254, 258, 265, 267 Hofius, Otfried 225
Idolatrie 235–245, 247–255, 258–260, 263–266, 271 f., 325 f., 374 imitatio clementiae Dei 330 imitatio misericordiae Dei 120–122, 128, 131, 137, 153, 163, 219, 223, 229, 319, 331, 333, 367, 369, 371–373, 375 f., 378 f. Imperium Romanum 11, 15 f., 31, 95, 112, 339, 360, 369 Jamblichos 7 Josephus, Flavius 5, 7 Jüngel, Eberhard 220 Jüngerschaft 10, 17, 23, 59 f., 67–70, 78, 84, 88–90, 92, 102, 107, 119, 122–137, 140, 182, 260 Konradt, Matthias VIII, 6, 23, 68, 72, 146, 188 Kuhn, Karl 17 Leidensübernahme 99, 102, 106, 111, 284, 300, 302, 305, 313, 318, 373, 375 Milde/Mildtätigkeit 54, 61, 94, 113, 120, 239, 269, 279, 296, 312, 330–336, 358, 360–363, 375, 378 misericordia 120–122, 128, 131, 137, 153, 163, 219, 223, 229, 319, 330 f., 333, 367, 369, 371–373, 375 f., 378 f. Mitleid 40 f., 116, 151, 157, 210, 239, 271 f., 274, 287, 289–292, 294, 296– 298, 304, 312, 314, 362 f., 369, 372, 374–376, 378 Nachahmung/imitatio 25–27, 43, 98, 113 f., 116, 119–122, 131, 137, 153, 163, 174 f., 219, 221, 223, 229, 249, 272, 276–278, 289, 294, 299–301, 305, 308, 312, 318 f., 330 f., 333–337, 345– 350, 357, 359–363, 367–369, 371–373, 375–379 Nachfolge 8, 10 f., 14, 16–19, 21 f., 26 f., 60, 69 f., 78, 88–92, 97, 100, 102 f., 107, 111–115, 117, 119, 122, 124, 126 f., 132–137, 140, 147, 162, 170, 174 f., 188, 194, 208, 249, 260, 331, 335, 368 f., 372 f., 376, 378
Personen- und Sachregister
Neid 216, 272 f., 280, 292, 299, 314 f., 354 Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus 328, 360 f., 377 Paulinus 366 f. Perfektion/sittliche Vollkommenheit 8, 114, 135, 224, 303, 312, 316–318, 333, 341–350, 353, 356, 360–362, 368 f., 377 personae miserae 15, 42, 250, 314, 368, 371 Pöhlmann, Wolfgang 225–227, 229 Pompeius, Gnaeus 52, 57 prodigus 229–231, 254 Proselyt 155, 240–242, 246, 249–251, 255, 265, 270, 278 Ptolemaios II. 321 f. Rache 95, 266, 268, 276–278, 281 f., 284, 298, 301, 306, 308, 318, 359, 374 Reichtum 11, 20–23, 36, 38, 43, 69, 72 f., 75–84, 87 f., 90, 92, 94, 130, 142, 170, 187, 203, 205, 259, 309, 328, 334, 343, 348, 350, 352–354, 356, 368, 377 Reziprozität 23, 66, 105, 107–112, 116, 121 f., 156, 191, 221, 373, 378 Sänger, Dieter 241 Schnackenburg, Rudolf 26 Schrage, Wolfgang 15, 19, 26 Schulz, Siegfried 26 Solidarität 15, 38, 41–43, 53, 56, 79–81, 83 f., 90 f., 105, 155, 250, 274, 280, 290, 292–294, 297, 300, 306 f., 310, 313, 371, 375 Stettberger, Herbert 21 summum bonum 8, 344, 350
427
ταπεινοῦν/ταπείνωσις 34, 182, 187–189, 224, 251 f., 257, 307, 334 θεοσεβής 238, 270, 274 f., 277, 281–283, 329, 374 f., 377 Topel, John 66 Tora 4, 11, 15, 27 f., 73, 143, 145–149, 155, 161, 169, 218, 272, 303, 309, 321–325, 327, 335 Transformation/Transformationsprozess 5–10, 13, 18, 23, 28–31, 35, 59 f., 74, 104–106, 113, 144, 147, 161 f., 225– 331, 233, 240 f., 243, 245–247, 249 f., 254, 285, 339 f., 368 f., 376 Tun-Ergehen-Zusammenhang 117, 133 f., 146, 162, 231, 334 Umkehr/μετάνοια 14, 19–24, 30, 48 f., 60 f., 83, 92, 126–129, 131, 136, 162, 168, 171, 174 f., 179, 182, 188–194, 200, 206–211, 217, 220, 223–225, 229, 231, 240–262, 264–267, 269, 276, 289, 303, 305, 313, 315 f., 330 f., 361, 371, 374 Versöhnung 191, 218, 228, 239, 278, 284, 298–300, 314 Vertrauen 8, 14, 35, 58 f., 78, 112, 123, 129, 180–182, 255 f., 258, 262, 265, 267, 276, 295, 306, 373 Wolter, Michael 17, 69 Zorn 34, 37, 39 f., 49, 51, 213–219, 221 f., 241, 248–250, 264–268, 272, 275–279, 284, 290–294, 314, 335, 354, 359 f., 374