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German Pages [217] Year 2018
Friedenstheorien
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Gertrud Brücher
Ethik im Drohnenzeitalter Band 1: Tötung und Tabu
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813300
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Gertrud Brücher Ethik im Drohnenzeitalter
ALBER FRIEDENSTHEORIEN
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David Gelernter, der in den achtziger Jahren die Grundlagen des World Wide Web geschaffen und damit das digitale Zeitalter eingeläutet hat, warnt seit vielen Jahren davor, politisch-gesellschaftliche Entscheidungen zunehmend auf Softwaremodelle und selbststeuernde Systeme zu übertragen. Im militärischen Bereich führt dies zur Roboterisierung des Krieges, in letzter Konsequenz zum Delegieren von Entscheidungen über Leben und Tod an die Software der unbemannten Kriegsmaschinen. Dem Ruf nach einer Ethik für das Atomzeitalter folgt heute der Ruf nach einer Ethik für das Drohnenzeitalter. Denn die Einbindung neuer Waffensysteme in eine kybernetische Eskalationsautomatik droht den im Homozid gipfelnden atomaren Schlagabtausch den Händen verantwortlicher Entscheidungsträger zu entreißen. Damit würden Handlungsautonomie und Entscheidungsfreiheit preisgegeben, mithin die zentralen Bedingungen für eine Kontrolle über den Mitteleinsatz und damit jeder Rechtfertigung von Militäreinsätzen. Dies würde die Abdankung des autonomen selbstverantwortlichen Subjekts bedeuten – und eine moralphilosophische Bankrotterklärung. Unter besonderer Bezugnahme auf Kants praktische Philosophie und Niklas Luhmanns Systemtheorie entwirft Gertrud Brücher eine Ethik des Drohnenzeitalters, die an Selbstzwecklichkeit und Würde des Menschen festhält, ohne technologisch-gesellschaftsstrukturelle Tatsachen der modernen Weltgesellschaft ignorieren zu müssen.
Die Autorin: Gertrud Brücher, Privatdozentin für Philosophie in Marburg. Ihre Hauptforschungsgebiete sind Sozialtheorie und Friedenswissenschaften innerhalb der Philosophie. Monographien: »Frieden als Form. Zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus«, »Menschenmaterial. Zur Neubegründung der Menschenwürde aus systemtheoretischer Perspektive«, »Postmoderner Terrorismus. Zur Neubegründung der Menschenrechte aus systemtheoretischer Perspektive«, »Pazifismus als Diskurs«, »Gewaltspiralen. Zur Theorie der Eskalation«.
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Verlag Karl Alber Freiburg / München Alber-Reihe Friedenstheorien Band 3
Herausgegeben von: Pascal Delhom, Alfred Hirsch, Christina Schües Wissenschaftlicher Beirat: Robert Bernasconi, Claudia von Braunmühl, Gertrud Brücher, Hauke Brunkhorst, Monique Castillo, Hajo Schmidt, Eva Senghaas, Christoph Weller
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Gertrud Brücher
Ethik im Drohnenzeitalter Band 1: Tötung und Tabu
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48861-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81330-0
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Inhalt
I.
Einführung: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II.
Systemtheorie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ethische Semantik und Gesellschaftsstruktur . . . . 2. Politische oder »zivilisierte Ethik« . . . . . . . . .
22 22 35
III.
Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Moral und Religion in der Systemtheorie . . . . . . 2. Selbstreferenz, Kontingenzformel, Autopoiesis . . .
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IV.
V.
Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Institutionen erster und zweiter Ordnung . . . . . 2. Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente des kategorischen Imperativs . . . . . Schluss: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einführung: Mensch-MaschineVerschmelzung und Instrumentalisierung
Albert Einstein, der in den vierziger Jahren mit seinen atomphysikalischen Forschungen entscheidend zur Erfindung der Atombombe beigetragen hat, setzt sich den Rest seines Lebens für pazifistische politische Ziele ein. 1 David Gelernter, der in den achtziger Jahren mit seinen Forschungen im Bereich der Informatik die Grundlagen des World Wide Web geschaffen und damit das digitale Zeitalter eingeläutet hat, warnt in seinem Buch Mirror Worlds von 1991 und zahlreichen Beiträgen in den Massenmedien vor den Konsequenzen zunehmend auf Softwaremodelle und selbststeuernde Systeme übertragener politisch-gesellschaftlicher Entscheidungen. Ebenso wie bei Einstein gibt es bei Gelernter jenes leidenschaftliche Plädoyer für die humanistische und gegen die technologische Modelllogik und Praxis. Das von ihm beschworene Zeitalter digitaler Knechtschaft treibt die von Einstein gezeichneten Gefahren ins Extrem, weil es einen Begriff für die Automatik zur Verfügung stellt, mit der sich die Gesamtgesellschaft selbststeuernden Systemen unterwirft. Dazu gehört die Roboterisierung des Krieges, in letzter Konsequenz das Delegieren von Entscheidungen über Leben und Tod an die Software der unbemannten Kriegsmaschinen. Dem Ruf nach einer Ethik für das Atomzeitalter folgt heute der Ruf nach einer Ethik für das Drohnenzeitalter. Bereits bei der von Einstein angemahnten neuen Ethik war es nicht einfach die große Zerstörungskraft der neuen Waffensysteme gewesen, die die Arbeit an global verbindlichen moralisch-rechtlichen Regeln motiviert hatte. Denn gegen ein solches Ethikverständnis ließ sich stets der moralphilosophische Grundsatz ins Feld führen, von Sein ließe sich nicht auf Sollen schließen, ohne einen Kategorienfehler zu begehen.
Die wichtigsten gegen die Institution Krieg gerichteten Schriften und Aktivitäten sind in Frieden. Weltordnung oder Weltuntergang im Jahr 2004 dokumentiert.
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Einführung: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierung
Was die Forderung nach einer neuen Ethik hingegen gerechtfertigt erscheinen ließ, war die Einbindung dieser neuen Waffensysteme in eine kybernetische Eskalationsautomatik, die den im Homozid gipfelnden atomaren Schlagabtausch den Händen verantwortlicher Entscheidungsträger zu entreißen drohte. Damit schienen Handlungsautonomie und Entscheidungsfreiheit preisgegeben, mithin die zentralen Bedingungen für eine Kontrolle über den Mitteleinsatz und damit jeder Rechtfertigung von Militäreinsätzen. Die neue Technologie und eine darauf reagierende politisch-gesellschaftliche Legitimationssemantik provozierte gewissermaßen das moralphilosophische Skandalon der Abdankung des autonomen selbstverantwortlichen Subjekts, der kontinuierlichen Übertragung von immer mehr Entscheidungen auf selbstregelnde computerisierte Systeme. In diesem Punkt laufen zwei theoretisch-praktisch-weltanschauliche Richtungen auseinander. Eine erklärt humanistische Richtung meint in Fortsetzung der Aufklärungstradition mit den klassischen Methoden von Ideologiekritik und sozialen Bewegungen auch dieser Form der Entmündigung Herr werden zu können. Diametral entgegengesetzt argumentiert eine erklärt antihumanistische Richtung, hier würden die klassischen Methoden in ihrer Wirksamkeit auf Übergangsgesellschaften beschränkt. Dies sind Gesellschaften, in denen noch hierarchische Reststrukturen anzutreffen sind und folglich die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen noch nicht abgeschlossen ist. Der Begriff des Humanen, der Humanität oder des Humanismus sieht sich im human-, geistes-, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Bereich offensichtlich mit einem anderen Sinn versehen als im naturund technikwissenschaftlichen Bereich. Was geht hier vor? Handelt es sich um ein absurdes terminologisches Verwirrspiel oder wird die Warnung der Pioniere nur durch eine der beiden Richtungen ernst genommen? Oder sollte diese Konfusion geradezu ein Zeichen dafür sein, dass der technischen die kategoriale Verschmelzung von Mensch und Maschine auf den Fuß gefolgt ist? Folglich wird die Grenzmarkierung zwischen dem, was alltagssprachlich mit Begriffen wie dem Menschlichen, Humanen, Ethischen als Gegensatz zum TechnischMaschinellen gemeint ist, zu einem Grundanliegen. Bei den beiden diametralen Richtungen des Humanismus und Posthumanismus, die den alten ideologischen Streit um individualistische oder kollektivistische, um liberalistische oder sozialistische 10 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Einführung: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierung
Deutungen, um den Primat der Freiheit oder Gleichheit abgelöst haben, geben bis heute Diskurs- und Systemtheorie den Ton an. Diskurstheorie steht dabei für die Logik oder Argumentationstypik aller neokantianischen Denkrichtungen, die sich die Rettung und zeitgemäße Reformulierung aufklärerischen Gedankenguts zur Aufgabe machen. Soweit Systemtheorie auf Gebiete der Ethik und Moralphilosophie vorstößt, steht sie für Positionen, denen nicht Fortentwicklung und Erneuerung bewährter Paradigmen der klassischen Moderne am Herzen liegt. Vielmehr geht es darum, sachliche, soziale und zeitliche Hindernisse für semantische Traditionspflege herauszuarbeiten. Es geht Jürgen Habermas (1978, 97) als Repräsentant der humanistischen Position darum, zu verhindern, dass Normen durch »selbstregulierte Sub-Systeme des Mensch-Maschine-Typus« dergestalt in den Menschen und die Gesellschaft integriert werden, dass jede Eigenverantwortlichkeit hintertrieben wird. Die antihumanistische Richtung, die bezüglich dieser besonderen Problematik vorwiegend durch den Systemtheoretiker Niklas Luhmann repräsentiert wird, sieht die Tragik dieser Entwicklung in der Chancenlosigkeit der schlichten Ablehnung, welche Mittel und Strategien auch immer gewählt werden mögen. Da Techniken eine tiefere phänomenologische Grundlage in allen Operationen des Abschneidens von Sinnhorizonten aufweisen und weder eine Reduktion von Komplexität noch das Kappen von verweisenden Sinnbezügen an lebensweltlich-normativen Bereichen Halt machen, sind Systemkritik, Protest und soziale Bewegungen Teil einer Gesellschaft, die den Menschen durch Maschinen verdrängt. Sozialtechniken werden durch Psychotechniken, schließlich durch Neuro- und Nanotechniken ergänzt, die die Idee des autonomen Subjekts auch dort aushöhlen, wo es um erklärt emanzipatorische Ziele geht. Man könnte meinen, die gesellschaftliche Entwicklung habe nicht der humanistischen, sondern der antihumanistischen Theorie Recht gegeben und wir sehen uns heute inmitten einer Weltgesellschaft, in der die Automatisierung immer weitere Bereiche erfasst. Beim Thema Verschmelzung von Mensch und Maschine geht es nicht länger um strukturelle Defizite und somit um die adäquate Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Es geht vielmehr um die Stellung des Menschen in dieser Gesellschaft. In welchem Maße die Diskussion über das Verhältnis von Mensch und Technik heute eine neue Qualität gewinnt, zeigt der historische Vergleich. Der Altertumswissen11 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Einführung: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierung
schaftler Martin Devecka (2013) rückt in einer Studie über die Vorstellung ferngesteuerter Maschinenmenschen bei den Griechen nicht nur allgemeinen Vorurteilen über die vermeintliche technische Stagnation bei Griechen und Römern im Gegensatz zum Nahen und Mittleren Osten oder sogar dem Mittelalter zu Leibe. Er zeigt auch über die Darstellung der Motive für ein letztlich geringes Interesse an der Verwirklichung von technischen Phantasien das ganze Ausmaß der kulturellen Neuorientierung der Moderne. Im Falle der griechisch-römischen Antike sind es zweierlei Beweggründe, die der technischen Perfektionierung Zügel anlegen. Neben den Prometheus-Mythos, der die Angst vor entfesselten, nicht mehr zu bändigenden Naturkräften symbolisiert, tritt in einer Sklavenhaltergesellschaft die Entbehrlichkeit mechanischer Arbeitskraft. Die christliche Kultur des Mittelalters verwirft mit dem Postulat der Gottebenbildlichkeit zwar die Versklavung von Menschen und erklärt die Arbeit zum Zeichen der gefallenen, der sündigen menschlichen Natur, die bei den Reichen nicht Halt macht. Aber die im hierarchischen Gesellschaftsaufbau zementierte de facto Ungleichheit der Menschen lässt wieder die ungleiche Lastenverteilung rechtfertigen. Für das neue, nie da gewesene Technikinteresse der Neuzeit geben dreierlei Faktoren den Ausschlag. Zunächst ist die Erfahrung mit den bislang vergeblichen Versuchen zu nennen, dem deklarierten Verzicht auf Vernutzung von Leib und Leben der Mitmenschen für eigene Zwecke den tatsächlichen Verzicht folgen zu lassen. Hinzu treten Säkularisierung und fortschreitende Entchristlichung, die zur Abwertung der Arbeit als Kraft der Läuterung einer sündigen Natur bei gleichzeitiger Aufwertung der Arbeit als Mittel des historischen Fortschritts führen. Schließlich beginnt seit dem sechzehnten Jahrhundert das Vertrauen der Menschen in die Orientierungskraft der Kirche nach und nach auf die Wissenschaften überzugehen. Als Sklavenersatz ließen sich seither alle Formen der Maschinisierung rechtfertigen. Verglichen mit dieser Geistesverfassung macht sich die eigentliche Zäsur der heutigen technisch-wissenschaftlichen Entwicklung in einer gravierenden Tendenzwende bemerkbar, die von der Abschaffung des Sklaven zur Abschaffung des menschlichen Arbeiters fortschreitet. Die Aufwertung der Maschine geht nicht mehr bloß mit der Abwertung der Arbeit, sondern auch des dahinterstehenden Menschen einher. Dieser sieht sich als defizitäre Maschine erst durch Verschmelzung mit derselben wieder aufgewertet. Dem folgt die an12 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Einführung: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierung
dere Verschmelzung auf dem Fuß, nämlich die Verschmelzung mit dem Sklaven, den Aristoteles im ersten Buch der Politik (1973, 51) als »beseeltes Werkzeug« betrachtet hatte. Damit gerät das Instrumentalisierungsverbot als Kern jeder Ethik und Friedensethik in den Fokus allgemeiner Aufmerksamkeit. Bisher mochte es immer nur um die Fixierung der Grenze legitimer Eingriffe in die leibseelische Integrität des Menschen gehen und zwar in der weiten, nur schwer zu spezifizierenden Bedeutung dieses Begriffs. Nunmehr steht der Umgang des zur Identität verschmolzenen instrumentalisierenden Instruments, genannt Mensch, mit seinesgleichen an. Entdifferenzierungsprozesse erreichen irgendwann einen Zenit, der den Paradigmenwechsel zwangsläufig macht. Dieser Wechsel betrifft heute das Bild, das sich der Mensch von sich selbst macht. Als Instrument der Selbsthervorbringung verliert der Mensch seinen Unterschied zur Maschine, welche Zwecke diese auch immer erfüllen mag, produktive oder destruktive. Die Entwicklung unbemannter selbstregelnder Waffensysteme, bei denen nicht nur Zielerkennung, Definition der Situation, sondern schließlich die Entscheidung zum Einsatz autonom erfolgt, ist mit Begriffen wie Entfremdung oder Entmündigung des selbstbestimmten Menschen als Subjekt seiner Geschichte, nicht mehr zu fassen. Denn es bleibt der Mensch, der selbstregelnde maschinelle Systeme produziert, die nicht bloß Befehle ausführen oder vorgegebene Ziele verfolgen. Was hervorgebracht wird, sind Produkte, die Funktionen des Produzenten übernehmen, Objekte, die als Handlungssubjekte fungieren, Mittel, die ihren Zweck selbst bestimmen. Die Konfusion zielt auf das kategoriale Gerüst des modernen Menschen- und Weltbildes. Immanuel Kant hatte die Neigung zur Verwechslung der Unterscheidung mit dem Unterschied zum Ausgangspunkt seines Philosophierens gemacht. Um sich als Handlungssubjekte verstehen zu können, müssen sich Menschen der Unterscheidung von Zweck und Mittel bedienen. Aber sie müssen zugleich sich selbst aus dem Zweck/Mittel-Kalkül herausnehmen, um sich als Subjekte behaupten zu können. Der Zwecke und Mittel unterscheidende Mensch kann nicht selbst Gegenstand des Unterschieds werden, und das heißt, für andere jeweils entweder bloß Zweck oder bloß Mittel sein. Der Mensch bleibt nur Handlungssubjekt, wenn er für sich selbst eine nicht mehr kategorial als Mittel und Zweck einzuordnende Sonderstellung beansprucht. Er muss sich gewissermaßen zum Jenseits der
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Einführung: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierung
Unterscheidung machen, um nicht auf die Seite des Objekts zu wechseln. Das meint Selbstzwecklichkeit als Formel für Menschenwürde. Die humanistische Richtung unserer Tage hat in dem Maße, in der sie Intersubjektivität an die Stelle des Subjekts rückt, aus der selbst- eine fremdbezügliche Relation gemacht. Sollen ist nunmehr prinzipiell von allgemeiner Zustimmung abhängig und einigen lassen sich die Menschen stets auf Ideale, auf Zweckformeln, auf Werte. Die antihumanistische Richtung konstatiert diese Entwicklung und beobachtet nicht nur ein Fadwerden vertexteter Moralen (Luhmann 2008, 109), sondern diagnostiziert den Gegenstand der Einigung als bloß symbolische Generalisierung. 2 Was diese kennzeichnet, ist die Fähigkeit, jedes beliebige Handeln zu rechtfertigen, sofern dies in einer politisch korrekten Semantik erfolgt. Weil damit die Ethik ihre Aufgabe der Orientierung in konkreten Situationen einbüßt und alle Aufmerksamkeit auf die Sprache lenkt, mit der ein Handeln legitimiert wird, wirbt Luhmann für eine Ethik, die als Reflexionstheorie der Moral ausgearbeitet wird. Wohlgemerkt kommt dieser Vorschlag aus dem Inneren der Systemtheorie und mithin jener Theorie, die sich mit Phänomenen der Selbstorganisation, der selbststeuernden und lernenden Systeme befasst, deren gefährliche Eigendynamik im Drohnenzeitalter zur größten Herausforderung wird. Dies verblüfft umso mehr, als in dieser Theorie entscheidende Weichen gestellt sind, die das kantische Instrumentalisierungsverbot auf einer zeitgemäßen Grundlage erneuern lassen. Wenn mithin in dieser Abhandlung Luhmann und Kant im Hinblick auf explizite und implizite Haltungen zum Instrumentalisierungsverbot miteinander verglichen werden, so kommt Kant gewissermaßen dreifach vor. Neben den Versuch einer Annäherung an das von Kant Gemeinte tritt nicht nur jene humanistische Neuinterpretation dieses Gemeinten, die den Anspruch erhebt, Kant modernisiert zu haben. Auch im antihumanistischen systemtheoretischen Denken, das diesen Neokantianismus zur alteuropäischen, nur innerhalb des hierarchischen Gesellschaftsmodells plausiblen Semantik zählt, ist Kant präsent. Dessen Aktualisierung verzichtet freilich auf die namentliche Berufung, um dafür umso mehr die Logik der Selbst-
Abweichend von Parsons’ Begriff werden bei Luhmann (1975, 172) Annahmemotive nicht ins Psychologische verschoben, sondern sind als Teil der Medienstruktur erkennbar.
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begrenzung wiederaufzurichten, die den dezidierten Modernisierungsversuchen zum Opfer gefallen war. Der Einbruch des soziologisch-systemtheoretischen Denkens ins Innere ethischer Reflexion lässt sich in seiner Tragweite daran erkennen, dass die Theoriestelle des Subjekts durch den Begriff der Selbstreferenz und keineswegs des Systems besetzt wird. 3 Selbstreferenzielle Systeme markieren die Grenzen der Bestimmung des Menschen in seinen psychischen und sozialen Determinanten. Aber der Mensch ist kein System. Der Punkt, an dem sich moralischer und sozialwissenschaftlicher Diskurs kreuzen, ist ein programmatisches Verständnis von Werten, bei dem an die Stelle der unbegründbaren Werthierarchie die programmatische Integration und das programmatische Vereinbarmachen von widersprüchlichen Anforderungen treten. Prototypisch ist die Just-Peace-Programmatik, die dilemmatischen Entscheidungen zwischen Operationen des Menschenrechtsschutzes und Operationen der Menschenrechtsverletzung die moralische Qualität nimmt, indem die Beurteilung nicht von den Wirkungen des Handelns, sondern von der Zielformel des Komplexprogramms und den zu erwartenden Fernwirkungen einer globalen Durchsetzung desselben aus erfolgt. 4 An dieser Stelle eines regelutilitaristisch-programmatischen Verständnisses von Werten beginnt sich das Denken Luhmanns von den systemtheoretisch-soziologisch-philosophischen Annäherungen wieder zu distanzieren. Dem Vertrauen in Verfahren, in Regelungen, in Institutionen, in Organisationen und so genannte Regime wird der Zweifel entgegengesetzt, dass das alte Gute durch Psycho- und Sozialtechniken – und zu diesen zählt Luhmann Diskurskulturen – gewährleistet werde könne. Mehr noch sieht Luhmann in der Konzentration auf die system- und lebensweltlichen Techniken noch immer identitätslogisches Denken am Werk. Und dieses ist es, das von dem entfernt, was für den Menschen gut ist, da es immer schon zu wissen meint, was der Andere will und braucht. Differenzlogisches Denken sucht demgegenüber zu einer bescheideneren wissenschaftlichen Haltung gegenüber dem Menschen zu motivieren. Ausgerechnet eine Die Besonderheit dieser Begriffsfassung liegt nach Luhmann (1984, 600) darin, »daß die Operation der Referenz in das von ihr Bezeichnete eingeschlossen ist. Sie bezeichnet etwas, dem sie selbst zugehört.« 4 Zur Diskussion im Rahmen einer Philosophie der internationalen Beziehungen siehe Cwaszcza/Kerstin (1998); Dietrich/Zanetti (2014); in der Friedens- und Konfliktforschung Baumgart-Ochse/Schöring/Wisotzki/Wolff (2011). 3
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Theorie, die das Beobachten und den Beobachter ins Zentrum stellt, enthält Hinweise auf und Empfehlungen für die Relativierung der Beobachterposition, sogar für den Verzicht auf beurteilendes und verurteilendes Beobachten. Die Nähe zu Kant beginnt mit den theoretischen Intuitionen. Luhmanns Verhältnis zur Ethik zeigt sich als radikale Distanzierung von den Hauptströmungen der gesellschaftspolitisch einflussreichen Ethiktheorien. Deren Aufgabe wird nicht länger im Begründen und Rechtfertigen moralischer Urteile gesehen, 5 sondern in der Reflexion problematischer Begleiterscheinungen moralischer Kommunikation, und zu dieser zählt auch die Politisierung der Ethik. Die Auflösung der Ethiktheorie in Demokratietheorie setzt nämlich voraus, dass institutionelle Errungenschaften des staatlichen Gewaltmonopols und des Rechtsstaates aus den theoretisch-philosophischen Problemen von Frieden und Gerechtigkeit bloß noch empirisch-praktische Probleme der Durchsetzung haben werden lassen. Der innere Konnex von Systemtheorie und Ethik zeigt sich in den Implikationen für die Friedensproblematik. Ebenso wie der Sprung von der Bestimmung des Guten zur Bestimmung von Verfahren des Bestimmens von Gutem Vormoderne und Moderne trennt, so trennt die Reflexion über Verfahrensmodalitäten eine Moderne von einer Postmoderne, deren Denken in komplexen Programmatiken eine derartige Reflexion erübrigt. Jetzt erscheint das Gute nicht mehr als etwas, das der menschlichen Vernunft offenbar ist, aber auch nicht als etwas, das kommunikative Prozesse zu Tage fördern kann. Es ist nunmehr das Ergebnis von Experimenten, die als Intervention in komplexe Strukturen (biologische, psychische, soziale) im Prinzip ergebnisoffen sind. Es ist dies programmatische Denken, in dem die Mensch-Maschine-Verschmelzung angelegt ist. 6 Das Beunruhigende dieser Zäsur tritt nicht zutage, weil die moBegründung gilt Luhmann (»Ethik als Reflexionstheorie der Moral, in: ders.: 2008, 270 – 347, 271 f.) als ein paradoxes Unternehmen. »Sie sabotiert sich laufend selbst, indem sie den Zugang zu anderen Möglichkeiten eröffnet, wo sie ihn verschließen möchte.« 6 Um Extreme transhumanistischer Lesart zu vermeiden, bietet sich ein an Typen des »kommunikativen Textes« orientierter Begriff der Postmoderne an, der nach Röttgers (2012, 11) anders als der Begriff der Spätmoderne nicht konservativ die Rückkehr zu den Werten der Moderne einfordert, sondern den Mut aufbringt, auf dem Boden der theoretisch und praktisch eingetretenen Veränderungen zu denken. 5
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Einführung: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierung
dernitätsspezifischen Semantiken der Kausalität (Ursache/Wirkung), des Rationalismus (Zweck/Mittel) und des Konsequenzialismus (Absicht/Resultat) fortwirken. Aber die Konditionen ihrer Sinnentfaltung haben sich verändert. Das experimentelle Denken, das nach und nach alle Grenzen legitimer Eingriffe überwindet, bedient sich zwar der gewohnten Begriffe. Aber deren Sinn verschiebt sich unversehens und zwar bis zu jener Stelle, an der die Umwertung offenkundig wird. Zwecke stellen sich als das Ergebnis der Mittelwahl ein, eingetretene Wirkungen bestimmen die Selektion von Ursachen und Resultate konstruieren gute oder schlechte Absichten. Diese Entwicklung hat den Weg genommen, wie ihn jede Aufklärung geht, nämlich den Weg der kognitiven Verunsicherung. Diese greift um sich, sobald die Leitunterscheidungen nicht mehr verstanden werden, weil sie durch gesellschaftsstrukturelle Veränderungen nicht mehr plausibel erscheinen und zu lange in Frage gestellt worden sind. Mit welcher Rasanz und Vehemenz am Ende der liberalistisch-sozialistischen Systemkonkurrenz modernitätsspezifische Leitunterscheidungen erodiert sind und eine Krise des Menschenwürde- und des Menschenrechtsdiskurses ausgelöst haben, wurde an anderer Stelle beschrieben. 7 Nach einer gewissen Zeit der Verunsicherung kristallisieren sich neue Orientierungsmuster aus den Trümmern zersetzter Leitperspektiven. Die programmatische Wende zeichnet sich innerhalb jener philosophischen Richtungen ab, die als Korrektiv stets zu Diensten standen, wenn an die empirischen Sozialwissenschaften die Aufforderung erging, über die Humanitätsgewinne ihrer Forschung Rechenschaft abzulegen. Die Sozialwissenschaften hatten sich als Fördereinrichtungen für Demokratisierungsprozesse, für Emanzipationsfortschritte, für Friedensgewinne oder für Konfliktbearbeitungskompetenzen zu profilieren. Dies konnte jedoch nur plausibel gemacht werden vor dem Hintergrund eines elaborierten Verständnisses der philosophischen Traditionsbegriffe der Freiheit, der Gleichheit, des Friedens, der Emanzipation und der Gerechtigkeit. Den äußeren Anstoß zu grundlegenden Veränderungen dieses Arrangements liefern Globalisierungsprozesse in allen Funktionsbereichen, die den alten Wunsch der Philosophie nach einer tragfähigen Begründung und Implementierung universaler Normen seiner So in den beiden Bänden über Menschenbildkonstrukte im Rahmen des biopolitischen und des sicherheitspolitischen Diskurses Brücher (2004, 2004a).
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Erfüllung näher zu bringen schienen. 8 Die unterschiedlichen Perspektiven auf das Einheitliche und das Differente sind prototypisch in den Schulen der praktischen Philosophie, der universalistisch orientierten Vertragstheorie, dem auf kulturelle Differenz insistierenden Kommunitarismus und der vermittelnden Theorie der Diskursethik zum Ausdruck gebracht. 9 Geradezu revolutionär wirkt heute die Tendenz, alte Kontroversen ganz hinter sich zu lassen und durch ein programmatisches Denken zu ersetzen, das sich von Gegensätzen nicht mehr irritieren lässt, weil Komplexprogramme Widersprüche in ein Nacheinander von Handlungsschritten auflösen. Luhmann hatte diese Metamorphose bereits vor dem Ende des kommunistisch-kapitalistischen Systemantagonismus als immanente Logik der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen beschrieben. In hochkomplexen Systemen ereignet sich seiner Diagnose gemäß ein Transformationsprozess, der Werten, Normen und Zwecken die Form programmatisch festgelegter Entscheidungsprämissen verleiht. Der Programmbegriff bietet sich »zur Bezeichnung der steuernden Struktur dieses Informationsprozesses deshalb an, weil er nicht, wie die klassischen Begriffe Wert, Zweck und Norm zeitindifferent ist, sondern gerade die Ordnung einer Zeitfolge von Nachrichten meint. Das ermöglicht es, Zeit als Ordnungsfaktor einzusetzen.« (Luhmann 1973, 255) In diesem Vorgang geht unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet jedoch mehr verloren als die noch immer stark an philosophischer Traditionsbegrifflichkeit orientierte Semantik der Funktionssysteme glauben macht. Und zwar sind es jene Konditionen, die unter nützlichkeits- und sollensethischen Gesichtspunkten erfüllt sein müssen, um die erstrebten Humanitätsgewinne erzielen zu können. Verloren geht zum einen Notwendigkeit und Fähigkeit, aus Scheitern zu lernen. Denn in ihrer programmatischen Gestalt sind am Nutzen orientierte Entscheidungsprämissen nicht falsifizierbar. Die Art und Weise, in der das Nützlichkeitsprinzip im programmatischen Denken Gestalt annimmt, zerstört das Instrument, mit dem der Utilitarismus den Humanitätsgewinn zu sichern suchte. Sie suspen-
Zu philosophischen Aspekten der Globalisierung siehe die Beiträge in Busche (2009). 9 Zu einschlägigen Ansätzen des europäisch-amerikanischen Diskurses über politische Ethik siehe Reese-Schäfer (1997; 2001). Zum Spannungsverhältnis von Ethik und Soziologie siehe Reckwitz (2001). 8
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Einführung: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierung
diert das Prinzip von Versuch und Irrtum, das aus Scheitern lernen lässt. Denn die Rationalität von Entscheidungen bemisst sich nicht am gegenwärtigen, sondern erst an einem Nutzen, der nach Verwirklichung des Programms und folglich in der Zukunft zu erkennen sein wird. Bewertungen kommen nicht mitunter, sie kommen prinzipiell zu früh. Damit entfällt das Vernunftkriterium des metamoralischen Urteils und weicht einem experimentellen Verfahren, das letztlich auf ein Urteil hier und jetzt ganz verzichten lässt. Experimentelle ethische Kriterien lassen nicht schon jetzt bestimmen, was gut und richtig ist, wird Gutes und Richtiges doch erst als ein Ergebnis von Experimenten sichtbar. Der Drohnenkrieg ist ein waffentechnisches Pendant und gewissermaßen eine Kulmination selbstimmunisierender programmatischer Entscheidungsstrukturen. Er wendet die Emanzipation der Entscheidungsprozesse vom handelnden menschlichen Akteur ins Technische einer künstlichen Intelligenz. Folglich lässt er sich nur vor dem Hintergrund eines generell gewandelten Legitimitätsdenkens verstehen. Spiegelbildlich transformiert sich das ethische Moment einer transzendentalen rechtspazifistischen Position der Sollensethik, sobald sie programmatische Formen annimmt. Die Prüfkriterien, welche Fehlentscheidungen diagnostizieren und aus denselben lernen lassen, sind im neokantianischen Legitimitätsdenken, insbesondere den prozeduralen Ethiken von Rawls (1979) und Habermas (1993) Reziprozität, Konsenssuche und Rationalität. 10 Es sind die interagierenden, die kommunizierenden Individuen, folglich der normbildende Diskurs, der dem Idealtypus gemäß Entscheidungen als Fehlentscheidungen kritisieren lässt, sofern sich zeigen sollte, dass sie die wechselseitige Perspektivenübernahme hatten vermissen lassen, sodass sie nicht durch einen echten Konsens, sondern durch den Druck mächtiger Interessengruppen zustande gekommen waren und dass sie folglich nicht rational im Sinne von vernünftig genannt werden können, da sie bloß kurzfristigen Vorteilen einiger Weniger gedient hatten. Es ist aber auch der Diskurs – die demokratische Öffentlichkeit – dem die Überprüfung der Frage zugetraut wird, ob die Entscheidungen im Einklang mit den Normen stehen und infolgedessen auch dann als rational und darin als legitim anzuerkennen sind, wenn sie gegen geltendes Recht verstoßen haben. Auch diese Chance der Falsifikation und folglich des Lernens aus 10
Zur rechtsphilosophischen Kritik siehe Teubner (2007, 304).
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Einführung: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierung
Fehlern ist vergeben, sobald die Frage, ob Entscheidungen der Norm entsprechen, nicht mehr von den diskutierenden Individuen abgeklärt werden muss, weil die Frage von Kompatibilität oder Inkompatibilität im Programmentwurf vorab entschieden ist. Man muss sich nicht mehr kollektiv darüber verständigen, was unter Demokratie, was unter Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit verstanden werden soll. Denn die Frage, wieviel Freiheit dem Einzelnen gewährt, wieviel Gleichheit realisierbar und wieviel Partizipation möglich ist, entscheidet sich im Hier und Jetzt nach programmatischen Erwägungen und es entscheidet sich in der Zukunft nach den Maßstäben dann ermöglichter Möglichkeiten. Diese Entwicklung legt Hand an das Tötungstabu. Die Frage der Mittelwahl hat sich in beiden Richtungen, im utilitaristisch-realistischen und im transzendentalphilosophisch-rechtspazifistischen Legitimitätsdenken von ihrem je besonderen ethiktheoretischen Kontext gelöst. Aus der Frage nach den Bedingungen, unter denen ein gerechter Friede möglich sein kann, ist die Frage nach einem komplexen globalen Programm gerechter Friede erwachsen, in dem ein Instrumentalisierungsverbot undenkbar ist. An dessen Stelle treten Elemente des gerechten Krieges, die als »Theorie der Prüfung der Legitimität militärischer Kriegsgewalt« ihren Platz im Gesamtprojekt einnehmen. 11 Handlungen beziehen ihre Legitimität nicht mehr aus dem Normenprüfungsverfahren des kategorischen Imperativs, aber auch nicht mehr aus dem Normenbegründungsverfahren des Diskurses. Während kantianisches und neokantianisches Verfahren noch Fälle denken lassen, in denen ein bestimmter Mitteleinsatz als normwidrig verworfen wird, vereitelt der programmatische Interpretationsrahmen auch diese Form der Kritik an skandalösen Praktiken. In dieser Lage bleibt nur noch der Skandal mit normengenerierender Potenz als gewissermaßen wert- und zweckfreier Ressource, aus der möglicherweise etwas Neues, ein Weltgewissen erwachsen könnte. 12 Andererseits bleibt der Skandal in seinem Normbildungspotential moralisch ambivalent. Denn als moralische Kommunikationsweise, Siehe Haspel (2006, 180), der einem Trend zur terminologischen Vermeidung von Begriffen wie Krieg und Militär die Persistenz militärischer Formen der Konfliktlösung gegenüberstellt und deshalb dafür plädiert, den pazifistischen Diskurs in die Gestalt einer Ethik der internationalen Beziehungen zu transformieren. (2006, 189). 12 Siehe Luhmann »Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? In: ders: (2008, 228–252, 252). 11
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Einführung: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierung
die auf den negativen Wert konzentriert ist, auf die öffentliche Verachtung von Normbrechern, folgen Skandalisierungen auch der Logik kollektiver Achtungskommunikation. Wenn das experimentell-programmatische Denken als Ausdruck genuin expansiver Tendenzen der Funktionssysteme zugleich den wertethisch-kulturellen Horizont der Weltgesellschaft bestimmt, was geschieht dann mit Kulturgemeinschaften, die sich diesen Imperativ nicht zu eigen machen wollen? Oder erübrigt sich diese Frage, weil das, was instrumentalisiert wird, nichts anderes ist als der Mensch, der sich selbst hervorbringt? Luhmann wirft den zeitgenössischen Ethiken vor, aufgrund ihrer philosophisch-philologisch-historischen Blickrichtung in anthropologischen Konstrukten festzuhängen und keine Denkmittel kritischer Reflexion bereitzustellen: Begriffe würden mehr aus dem Kontext vergangener statt gegenwärtiger Sinnstrukturen reflektiert. 13 Von hier sei folglich kein Korrektiv zu erwarten. Zielscheibe ist ausgerechnet die Orientierung am Humanismus. Dieser ist verstanden als Entschlossenheit, Selbstreferenz mit dem Titel Vernunft und Reflexion umweglos auf den Menschen zu beziehen und nicht als unterschiedlich zurechenbares formallogisches Konstrukt zunächst gesondert zu betrachten, um in einem zweiten Schritt Relevanzen für den einzelnen Menschen herauszuarbeiten. Die Crux der von Luhmann bevorzugten soziologisch-empirischen Blickrichtung ist allerdings, dass systemtheoretische Anknüpfungspunkte an philosophische Denkfiguren übersehen werden. 14 Auf solche Kontinuitäten aufmerksam zu machen und gleichwohl das Neue und Weiterführende einer die Selbstreferenz- und Selbstreplikationsproblematik ernstnehmenden Theorie herauszuarbeiten, ist das Ziel der vorliegenden Bemühungen, systemtheoretische und transzendentalphilosophische Parallelen ausfindig zu machen. Hier zeigt sich eine Relevanz der Systemtheorie für ethiktheoretische Fragen und die Unabhängigkeit dieser Relevanz von der Verwendung philosophischer Traditionsbegriffe.
Zu einer ähnlichen Kritik siehe Röttgers (2012), der im Rahmen einer postanthropologischen Sozialphilosophie zeitgemäße Sinnstrukturen am Begriff des kommunikativen Textes aufzeigt. 14 So kann Spaemann (1990, 62) sogar von Luhmann als einem Antiphilosophen sprechen. 13
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II. Systemtheorie und Ethik
1.
Ethische Semantik und Gesellschaftsstruktur
Bei unserer Themenstellung Kant als den Autor des kategorischen Imperativs in den Vordergrund zu stellen, versteht sich von selbst. Denn die erklärt humanistischen gegen die technologische Modelllogik und Praxis gerichteten Ansätze stehen in der Aufklärungstradition. Aber im gleichen Atemzug Luhmann zu erwähnen, der die Frage »gibt es unverzichtbare Normen« mit einem klaren »Nein« beantwortet (Luhmann 2008, 228 ff.), bedarf einer besonderen Erklärung. Diese beginnt mit einer Präzision: Unter Normen versteht Luhmann nur kontrafaktische Erwartungen, also Erwartungen, an denen im Enttäuschungsfall festgehalten wird. 1 Mit dem Dementi ist folglich das noch nicht hinweggefegt, was für Kant schlichtweg unverzichtbar ist. Um jedoch zu einer weitergehenden Aussage zu gelangen, bedarf es der Rekonstruktion der Theorieanlage unter dem einzigen Aspekt dieser Fragestellung, die letztlich noch enger auf das Instrumentalisierungsverbot zugespitzt werden muss. Erst in diesem letzten Punkt lässt sich begreifbar machen, dass keineswegs die konsensfähige Definition eines Sollens im Vordergrund stehen kann. Denn Imperative sind in einer global vernetzten Welt mehr und mehr das zufällige Produkt einer kommunikationsmedialen Schwarmintelligenz und als solche, Teil der Mensch-Maschine-Verschmelzung. Während Imperative den gemeinschaftlich handelnden Menschen, mithin ein Subjekt voraussetzen, zielt das, was hier plakativ mit Instrumentalisierungsverbot gemeint ist, auf die Existenzberechtigung dieses Menschen, der sich mit anderen verständigen und sogar einigen soll. Es kann folglich auf die für Kant so zentrale Differenz von hypothetischem und kategorischem Imperativ nicht verzichtet werden. Der Übermut, mit dem die industriell-technische Moderne 1
Siehe »Normen in soziologischer Perspektive« in: (Luhmann 2008, 25–55).
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Ethische Semantik und Gesellschaftsstruktur
diese Differenz beiseitegelegt hat, um das Kategorische durch konjunkturellen Schwankungen unterworfene Werte zu ersetzen, ist dem Vertrauen in die wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritte bezüglich dessen geschuldet, was der Mensch ist und werden kann. Nachdem heute dieses Ist als Plastizität beschrieben worden ist und das Kann als Selbst- und Fremdexperiment, schlägt das einstige Vertrauen in Misstrauen um. Wissenschaft informiert nicht mehr über den Menschen, sondern subsumiert diesen unter ihr informationstechnisches Paradigma. Der Mensch wird zur informierten Materie. 2 Nicht nur für ethische, auch für friedenstheoretische und friedensethische Fragen scheint es geradezu zentral, in diesem Punkt Klarheit zu gewinnen. Denn wie können sich Unterdisziplinen einer Ethik der internationalen Beziehungen oder der Konflikt- und Friedensforschung unter wechselnden Bezeichnungen der Conflict- oder der Peace-Studies etablieren, wenn sich Tötungsverbot und Tötungslizenz nur noch als das temporäre Produkt diskursiver Aushandlungsprozesse begründen lassen. Selbige Disziplinen sind aufgrund ihrer Leitbegriffe des Friedens und des Konflikts in ethische Fragestellungen verstrickt. Da sich in einer kommunikationstechnisch vernetzten Welt ethische Positionen nicht anders als machtpolitische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, pädagogische und medizinischtherapeutische Positionen globalisieren, muss man hier eine Schlüsselfrage vermuten. Sollte es überhaupt plausible Ansätze für mögliche Antworten geben können, so müssten sie von den beiden Eckpunkten geradezu diametraler Theorien ihren Ausgang nehmen. Nur wenn sich Konvergenzen eines Denkens in den Kategorien moralischer Gebote und eines Denkens moralischer Kontingenz aufzeigen lassen, muss dieser Prozess sich globalisierender Ethiken nicht in kulturkämpferische Parteilichkeit ausarten. Es sind zwei Paradigmenwechsel, mit denen Luhmanns Ansatz die Reflexionsgrundlagen von Ethik und Moralphilosophie ebenso wie von Friedensethik und Friedenstheorie revolutioniert. Luhmann wendet das Gödelsche Unentscheidbarkeitstheorem auf die Moral in einer Weise an, die die Reaktionen der analytischen Philosophie auf die so genannte Gödel-Katastrophe nicht fortschreibt: Kontingenz und Relativität von Normen und Werten verleiten nicht zur Flucht in den Common Sense, in das allgemeine Mei2
Siehe »Die Entdifferenzierung von Geist und Materie« in: Brücher (2004, 149–163).
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Systemtheorie und Ethik
nen und für Gut Befinden von Mehrheiten. Vielmehr sieht sich von Grund auf infrage gestellt, dass gutes gleich soziales Verhalten und Handeln ist. 3 Mit der Differenzierung von Sozial und Moral gewinnt Luhmann eine Ansatzhöhe, die es erlaubt, kollektive Formen von Unmenschlichkeit als genuin soziale Phänomene zu fassen und nicht vorschnell pathologisieren zu müssen. Eben dieser Schritt löst zugleich die Identität von Moral und Ethik, von Geltendem und Gültigem, der Achtungskommunikation und der Begründung von Kriterien der Achtbarkeit. 4 Jetzt werden wieder Kriterien des Guten denkbar, die nicht mit dem Common Sense übereinstimmen. Der zweite Paradigmenwechsel kommt aus der Theorie sozialer Differenzierung und ist dafür verantwortlich, dass der erste von der Logik oktroyierte Paradigmenwechsel gesamtgesellschaftliche Plausibilität gewinnen kann. Luhmann behauptet, die prominenten in der einen oder anderen Weise der Nützlichkeitsethik Humes oder der Sollensethik Kants verpflichteten modernen Moral- und Soziallehren seien nicht auf die moderne, sondern bloß auf eine Übergangsgesellschaft zugeschnitten, die sich aus den überkommenen hierarchischen Strukturen löst und zur Ausdifferenzierung von Funktionssystemen übergeht. Da dieser Prozess abgeschlossen sei, erübrigten sich die so genannten normativen Theorien. Darunter versteht Luhmann gleichermaßen sozialphilosophische, -theoretische und -wissenschaftliche Ansätze, deren Begründungs- und Legitimationsstil an den Antizipationen der modernen als einer guten Gesellschaft der gleichen, freien und selbstverwirklichten Menschen ausgerichtet ist. Er versteht darunter nicht, wie häufig behauptet wird, ein Plädoyer für die indifferente ironisch distanzierte und im Ergebnis affirmativ unkritische Haltung gegenüber den humanitär-ethisch-moralischen Grundanliegen der Menschheit. Ironisch wird Luhmann dort, wo er selbigem normativem Gestus Naivität unterstellt. Erst heute, nachdem sich die Gesellschaft restlos auf den funktionalen Differenzierungstypus umgestellt habe, sei die Zeit für eine wirklich moderne Ethiktheorie gekommen, die anders als die von ihm so genannten Übergangssemantiken (Luhmann 1997, 1081) das ReSiehe Luhmann »Politik, Demokratie, Moral«, in: ders: (2008, 175–195, 177 ff.). Sollte ein Festhalten an der Differenz von Geltendem und Gültigem bereits normative Theorie sein, dann könnte es nur um die Suche nach nichtessenzialistischen Möglichkeitsbedingungen einer solchen Theorie gehen, so Bonacker (2000, 140) in der Diskussion der Ansätze von Habermas und Adorno, die allerdings auf eine psychoanalytische Deutung von Widersprüchen zurückgreifen.
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Ethische Semantik und Gesellschaftsstruktur
flexionsniveau der Vormoderne nicht unterbieten. Dieser Punkt enthält einen kaum zu unterschätzenden philosophischen Zündstoff, weil er ideengeschichtliches Gedankengut in einer radikalen Weise sinnfunktional deutet und damit diachrone und synchrone Anschlussmöglichkeiten eröffnet, welche hermetische Diskurskulturen fest verplombt hatten. Im Hinblick auf die Vormoderne wird eine ReLektüre der scholastischen Philosophie und im Hinblick auf globale Horizonte wird eine von kulturellen Differenzen nicht präokkupierte Neulektüre islamischer, hinduistischer, buddhistischer, konfuzianischer und insgesamt all jener Texte möglich, die in einer weltgesellschaftlichen Kommunikation zunehmend wichtiger werden. Was aber ist mit Reflexionsniveau gemeint, das die klassische Moderne aus bestimmten gesellschaftsstrukturellen Gründen nicht erreichen könne? Reflexion ist eine Sinn konstituierende Operation und Sinn ist oder hat all jenes, das zugleich als Struktur und als Verweisung auf andere Möglichkeiten der Strukturierung beobachtet wird. So gesehen wird Moral zur Struktur und Ethik wird zum Horizont der Verweisung auf andere Möglichkeiten, gut von schlecht zu unterscheiden. Gehoben ist das gesellschaftliche Reflexionsniveau, sofern das empirische Achtungsgeschehen nicht mit dem Guten gleichgesetzt, sondern von einer Metaebene kritischer Reflexion aus relativiert wird. Eine solche wider sich selbst argumentierende Kultur findet sich durchaus im vormodernen gesplitteten Arrangement, das Standesmoral (faktischer Achtungsmarkt) und Religionsmoral (Kriterien des Guten) als einander widersprechende Maximen der Bewertung etabliert. Erstere geht von der Ungleichheit, letztere von der Gleichheit der Menschen aus. Um das religionsmoralische Diktum zu einem auch gesellschaftsstrukturell wirksamen Prinzip der Gleichheit fortentwickeln zu können, etabliert die Moderne ein Realitätsverständnis, in dem Widersprüche ausgeschlossen sind. Die Kluft zwischen faktischem Achtungsmarkt und Gütekriterien lässt sich zusammen mit Ständegesellschaft und Religionsmoral überwinden. Jetzt reproduziert der faktische Achtungsmarkt (das Soziale) das im Common Sense aufbewahrte Gute (die Moral). Diese Identität existiert allerdings nur für eine ideologisch geeinte Gruppierung in Abgrenzung von anderen Gruppierungen. Ideologische- und Machtkämpfe aber sind kein Ersatz für ethische Reflexionstheorie. Denn sie dementieren nicht die gesellschaftliche Logik des Achtungsgeschehens, das alltägliche Achten und Missachten, sondern erklären lediglich die Achtungskom25 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Systemtheorie und Ethik
munikation der eigenen Partei zur allgemeinverbindlichen Richtschnur. Die bedenkenswerte These Luhmanns lautet wie folgt: Die moderne restlos auf funktionale Differenzierung umgestellte Gesellschaft habe zwar für die alte Ständemoral ein funktionales Äquivalent ausgebildet, aber nicht für die Religionsmoral. 5 Moderne Achtungskommunikation ist an Funktionscodes orientiert, an der Überzeugung, dass es besser sei mächtig, rechtskonform, normal, gesund, gebildet, wohlhabend und erfolgreich zu sein. An die Stelle der vormodernen Paradoxie von faktischer Ungleichheit und kontrafaktischer Gleichheit tritt das gleiche Recht auf einen Platz auf der positiven Seite der Ungleichheit. Denn Mächtig ist eine Vergleichskategorie, die den Machtlosen voraussetzt. Als Besitzender fühlt sich nur, wer sich mit einem Besitzlosen vergleicht. Gebildet erscheint ein Mensch nur im Kontakt mit Ungebildeten und Normalität bedarf spezifischer Fälle von Abweichung. Jede Angleichung muss deshalb durch einen Akt der Differenzierung, durch neue Elitenbildung, durch die Suche nach neuen Kriterien des Unterscheidens kompensiert werden. 6 Diese Differenzlogik durchzieht alle Funktionscodes. Das Argument, der normative Theorietypus habe sich überlebt und müsse durch eine Ethik ersetzt werden, die den Anforderungen an eine wahrhaft kritische Reflexionstheorie der Moral genügt, wird durch das ältere Argument ergänzt, man könne komplexe Strukturen nicht durch gewaltsame Methoden gezielt zum Besseren hin beeinflussen. Luhmann teilt mit diesem Standpunkt einen Begriff der Gesellschaft, wie ihn Kant verwendet. Die Systemtheorie beantwortet die im »Streit der Fakultäten« gestellte Frage, »ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei«, 7 nicht anders als Kant. Auch Luhmann streitet den Antizipationen zukünftiger Ereignisse jede Wissenschaftlichkeit ab; auch er erkennt im pessimistischen, im optimistischen und dem vom historischen Stillstand überzeugten Temporalbewusstsein nur kontingente Konstruktionen. Kant (AA VII, 2, 3) betont das Konstruierte dieser Typen des Urteils, In den Geschichtswissenschaften zeigen exemplarische Fallstudien die Tragfähigkeit der Theorie funktionaler Differenzierung als neuer Theorie der Moderne, siehe den Sammelband von Frank Becker (2004). 6 Die Deutung der reflexionstheoretischen als »moderner Tugendlehre«, die Funktionscodes gegen die Attacken des wertfreudigen Gutmenschentums bloß verteidigt (so Krohn 1999, 317) würde die sozial-moralische Identität lediglich bekräftigen. 7 Kant, »Anthropologie in pragmatischer Absicht« (AA VII, 79). 5
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Ethische Semantik und Gesellschaftsstruktur
indem er von »moralischem Terrorismus«, von »Eudämonismus« und von »Abderitismus« spricht. Wenn es nun auch immer wieder gelingen mag, Punkte aufzuzeigen, in denen systemtheoretischen Denkfiguren ein analoger Sinn unterstellt werden kann wie korrespondierenden transzendentalphilosophischen Begriffen, so scheint sich unserem Unterfangen noch ein anderes Hindernis in den Weg zu stellen. Theorien miteinander zu vergleichen verspricht nach Luhmann (1993, 246) nämlich ungefähr dem Erkenntnisgewinn eines Vergleichs zwischen Elefanten und Giraffen: Die einen haben lange Rüssel, die anderen haben lange Hälse. Aber es gibt für die Theorie auch jenen unverrückbaren Grundsatz der funktionalen Äquivalenz, der keine Grenze des Vergleichens zuzulassen scheint. 8 Unmöglichkeit und Notwendigkeit des Vergleichens zeigen die inhärente Paradoxie. Man kann Theorien nicht sinnvoll miteinander vergleichen, weil sich die Theorie zum eigenen Gegenstand machen muss, will sie die vergleichende Perspektive konsequent durchhalten. Tut sie dies aber und das bedeutet, vergisst sie beim Gebrauch ihrer Begriffe keinen Augenblick diese ausweglose Selbstimplikation, dann drängt sich der Vergleich geradezu auf. Denn ihr Realitätsbezug zeigt sich überall in dieser Doppelung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Die Notwendigkeit des Vergleichens von selbstreferenziellem und fremdreferenziellem Bezug weist nun jedoch keineswegs in eine Richtung, die der nützlichkeitsethische oder der pragmatische Gesichtspunkt vorgibt. Die fremde Perspektive zu berücksichtigen drängt sich nicht deshalb als Maxime des Handelns auf, weil wechselseitiger Nutzen und alltagstaugliche Erfolgsorientierung nur so zu garantieren sind. Denn der zum Prinzip aufgewertete Nutzen verliert diesen Rang einer Letztgewissheit, wenn die Frage der Referenz gestellt wird: Der Einheitsbegriff Nutzen zeigt sich als Differenz von selbstreferenziellem und fremdreferenziellem Kalkül: Was für mich von Nutzen ist, muss dies keineswegs für den anderen sein. Sobald nun jedoch die asymmetrische Struktur der Referenz durch einen höherrangigen und einen nochmals höherrangigen Nutzen überwunden werden soll, zeigt sich nur der zirkuläre Zuschnitt des Begründungsmusters. Das Nutzenkalkül muss einem übergeordneten Nutzenkalkül muss einem übergeordneten Nutzenkalkül muss einem Theorie versteht Luhmann (1984, 7 ff.) von ihrer Funktion her, Vergleichsmöglichkeiten zu eröffnen.
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Systemtheorie und Ethik
übergeordneten Nutzenkalkül ad infinitum genügen. Die begründungstheoretische Denkbewegung lässt sich beliebig fortsetzen, indem ein immer wieder höherrangiger Nutzen bestimmt wird, der immer wieder Reziprozität als Geltungen begründendes Prinzip erneuert. Weil jedoch die Andersdenkenden einander nicht mehr in innersäkularer okzidentaler Konkurrenz von Liberalismus und Sozialismus gegenüberstehen, sondern wieder die krasse Konkurrenz von Orient und Okzident, von religiöser und säkularer Weltdeutung die Vorderhand gewonnen hat, scheint man sich innerhalb des Westens auf ein Ende solcher Reflexionen verständigt zu haben. Aus dem individuellen wird der kollektive Nutzen, schließlich der Nutzen eines bestimmten Nutzenkalküls, der Rechtsgehorsam. Der Regelutilitarismus 9 deckt sich als ideelles Ferment des demokratischen Friedens mit der Idee Francis Fukujamas (1992) vom Ende der Geschichte. Da nicht das Ende der Ereignis-, sondern nur der Strukturgeschichte gemeint ist, findet die Ereignisflut von ökologischen und menschlichen Katastrophen durchaus einen Platz in dieser Weltanschauung. Ist man jedoch so weit gekommen, dann lässt sich das kantische Argument wieder klar und deutlich vernehmen: Der Nutzen, sei es als Handlungsutilitarismus, als Regelutilitarismus oder als Konsequenzialismus maximaler Präferenzenerfüllung (Hare 1992) ist auch in der terminologischen Differenzierung als verallgemeinerbare Maxime des Handelns nicht deshalb untauglich, weil es so schwer wäre, den individuellen mit dem allgemeinen Nutzen zu verbinden. Zu einer solchen gelungenen Verbindung gehört das Befolgen von Regeln, für das Kant mit seinem Rechtspazifismus wirbt. Gleichwohl bringt diese Maxime der Regelbefolgung den Menschen nicht eo ipso Frieden, weil jede Regel Ausnahmen produziert, anders gesagt, weil sich das moderne säkulare Denken weniger an der Moral und mehr am Regel/Ausnahme-Schema orientiert. 10 Kant problematisiert die Folgen der Entmoralisierung des politischen Funktionssystems für den Frieden. Die Verdrängung der Moral durch das Regel-Ausnahme-Schema gewissermaßen als das Grund-
Zum Versuch, Kant und Bentham zusammenzuführen siehe Hoerster (1997). Luhmann (2008, 331) bezieht sich auf Richard B. Brandt. 10 Dies ersetzt seit dem 17. Jh. nach und nach ein Metaprinzip (Gesetz, Kalkül), für das ebenfalls moralische Qualität in Anspruch genommen wird. Siehe dazu Luhmann (2008, 302). 9
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Ethische Semantik und Gesellschaftsstruktur
prinzip des absolutistischen Denkens bekämpft Kant nicht deshalb so vehement, weil es keine guten Argumente für den allgemeinen und gleichen Rechtsgehorsam geben könnte. Der Politikstil des an den Ideen der Aufklärung orientierten, mit Voltaire befreundeten Friedrich II beweist in den Augen Kants das Gegenteil. 11 Sie ist deshalb gefährlich, weil die Verdrängung des Moral- durch das Machtprinzip erst durch den Wandel des politischen Selbstverständnisses möglich geworden war. Das Herausbrechen eines Teils aus dem Ganzen gesamtgesellschaftlicher Moral hat ein Auseinanderbrechen dieses Ganzen zur Folge, weil den guten Gründen für eine Sonderstellung des herrschenden Teils die guten Gründe all der anderen Teile auf den Fuß folgen. Kurz gesagt: es gibt keine plausiblen Gründe dafür, weshalb sich nur das Politische von der moralischen Bindung an die Gebote und die Verbote des Dekalogs emanzipieren soll. Solange nur die Politik diese Sonderstellung in Anspruch genommen hatte, ließen sich alle anderen Funktionsbereiche als Prinzip der Gewaltenteilung, als Gegenmacht denken. Nachdem auch ökonomisches, juristisches, wissenschaftliches, erzieherisches Handeln nur noch Nützlichkeitserwägungen als Richtschnur von Entscheidungen akzeptieren, wird die Idee eines moralischen Korrektivs durch die mechanistische Idee von Konkurrenz und Verdrängungswettbewerb ersetzt. Damit siegt das mimetische Prinzip über den religionsmoralischen Vorbehalt gegenüber dem neidischen Blick auf den Anderen vollends. Da nicht nur das christliche Mittelalter, sondern auch die griechisch-römische Antike im Sich-miteinander-vergleichen eine Quelle von Unglück, weil Unfrieden gesehen hatte und auch die außereuropäischen Kulturen diese Grundhaltung in ihren Tugendkatalogen zum Ausdruck bringen, ist die kritische Auseinandersetzung mit den praktischen Folgen naheliegend. Kant bringt die Logik dieser unvermeidlichen Konklusion in der Naturgesetzformel zum Ausdruck: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.« 12 Die Ableitung eines kategorischen Imperativs aus der hypothetischen Annahme, dass alle so handeln müssen, ist gleichsam zwingend. Denn die Maxime antizipiert die Unmöglichkeit, zu Das gilt für die Idee des aufgeklärten Absolutismus, den Kant in seiner Frühschrift Was ist Aufklärung von 1783 würdigt. 12 Bei den Formulierungen des kategorischen Imperativs beziehe ich mich auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS), hier BA 52. 11
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Systemtheorie und Ethik
verhindern, dass mein Handeln Nachahmer findet. Bezogen auf das Bild, das sich die Gesellschaft von sich selbst macht, folgt Luhmann dieser Logik Kants sehr viel mehr als den Euphemismen von Aufklärungs- und Wissenschaftstext, wenn er die kategoriale Verschiebung vom Ganzes/Teil- zum System/Umwelt-Denken mit der von Kant befürchteten Tendenz zur Generalisierung des Regel-AusnahmeDenkens in Verbindung bringt. Denn sobald jeder Teil das RegelAusnahme-Schema für sich nach je eigenen Bedürfnissen auslegt und also jedes nur beliebige systemfunktionale Handeln als Ausnahme einer pro forma akzeptierten Regel rechtfertigen kann, so löst sich dieses Ganze auf. Es hört auf zu existieren, weil es nicht mehr operativ erneuert wird. Folgerichtig hören auch die Teile auf, sich so zu verstehen. Sie mutieren zu Systemen. Für diese besitzt ein ehemals als großes Ganzes, als Kosmos verstandenes Insgesamt, das verbindliche Regeln aus sich heraus entlassen hatte, bloß noch Umweltcharakter. 13 Im Gegensatz zum Ganzen verpflichtet die Umwelt zu nichts, aber sie ist je nach Machtfülle in der Lage, Anpassungsleistungen zu erzwingen. Die Beziehung der Subsysteme zueinander, insbesondere die wechselseitige Kontrolle, tritt an die Stelle der Moral. Man könnte auch sagen: aus ihr fließt das Moralische, das nun folgerichtig mit dem Sozialen eins wird. Emile Durkheim petrifiziert dies Faktum als »Begriffskette Gesellschaft-Kollektivbewusstsein-Solidarität-Moral-Recht« und legt damit den Grundstein für die soziologische Zuständigkeit. 14 Was erhalten bleibt, ist der jede Achtungskommunikation bestimmende Moralcode, weil das Vorziehen und Ablehnen logischepistemologischer Natur ist und damit kognitive Operationen aller Art begleitet. Was sich jedoch verändert, sind die Kriterien der Achtbarkeit. Diese lösen sich aus dem Bezug zu einem Ganzen und verzweigen sich in zwei Richtungen: die eine kennzeichnet die Seite der Operation, die andere die der Beobachtung. Die eine verbindet das Gute mit dem Systemfunktionalen, weil jenseits politisch-rechtlichwirtschaftlich-wissenschaftlich-erzieherischem Funktionieren gar
Die Systemtheorie betrachtet sich selbst als theoretische Reaktion auf einen historisch-semantischen Wandel vom Ganzes/Teil- zum System/Umwelt-Denken. Zur diesbezüglichen Semantik Alteuropas siehe Luhmann (1997, 912–930). 14 Zum Problem der Identität von Moral und Sozial seit Durkheim siehe Luhmann, »Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie«, in: ders.: (2008, 7–24, 12). 13
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Ethische Semantik und Gesellschaftsstruktur
nichts gut ist. Die andere Richtung dient der Selbstdarstellung mit der Pflege der moralsemantischen Tradition. Hier setzt der Beitrag Luhmanns zum ethiktheoretischen Diskurs ein, wenn er zur Reflexion der Diskrepanz zwischen faktischer Achtungskommunikation und moralischer Selbstdarstellung rät. Auch in diesem Punkt trifft er sich mit Kant, der seinerseits nicht den moralsemantischen Versprechungen des politischen Absolutismus auf den Leim gehen wollte. Kant misstraut einer entmoralisierten Politik, die die Befreiung von allen Geboten und Verboten des Dekalogs zur Voraussetzung für die machtgestützte Verwirklichung aller von der Aufklärung geforderten Ideale des Wohlstandes, der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit erklärt hatte. Genau betrachtet wiederholt Luhmann diese Aussage auf dem Boden einer voll verwirklichten funktional differenzierten Weltgesellschaft. Er misstraut nicht nur der Politik, sondern auch der Wirtschaft, dem Recht, den Wissenschaften und der Erziehung, die als Preis für das leistungsstarke Engagement bezüglich der Abschaffung von Not, von Gewalt und Krieg, von Unrecht, von Unwissenheit und Unbildung von der Gesellschaft eine Lizenz zu jedwedem Ausnahmehandeln meinen beanspruchen zu können. 15 Während Kant versucht, den herrschenden Teil wieder moralisch einzubinden, geht die ideengeschichtliche Entwicklung einen anderen und zwar den umgekehrten Weg. Sie generalisiert das Prinzip der Selbstexemtion, der Herauslösung der Teile aus dem Ganzen, indem sie kurzerhand die Beherrschten zu Herrschenden erklärt. Eindeutig zu kurz gekommen ist bei dieser ideengeschichtlichen Entwicklung jedoch die Arbeit an einer politisch-gesellschaftlichen Semantik, die den zweiten Schritt nicht reflektiert. Über der Freude an gelungenen Demokratisierungsprozessen wird gleichsam die Tatsache vergessen, dass dieselben aus dem absolutistischen Legitimitätsdenken heraus erwachsen sind. Die revolutionären Bewegungen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts haben folglich die Idee des Absolutismus, das Handeln als Ausnahme von einer prinzipiell anerkannten Regel aus zu rechtfertigen, gesellschaftsuniversal verbreitert. Das absolutistische Legitimitätsprinzip steht jetzt gewisDie Konsequenzen der Herrschaft des normativen Prinzips, der Vergerechtlichung, beschreibt Bernhard Schlink (2005, 12) in Differenzierungswünschen von Rechtsnormen (z. B. Folterverbot), die durch Abwägen von Übeln schließlich zur Relativierung des Verbots führten.
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sermaßen nicht mehr bloß auf einem, nämlich dem politischen Bein. Es stützt sich auf alle gesellschaftlich relevanten jetzt so genannten Akteure in Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Bildung und Erziehung. Diese sind so genannt, weil es die Aktion ist, das machtgestützte Agieren wider Missstände aller Art, aus der Legitimität geschöpft wird. Auf diese beziehen sich die primären Pflichten, während die Pflichten gegenüber Recht und Gesetz an den machtgestützten Willen desjenigen Funktionssystems gebunden bleibt, das dieselben durchzusetzen in der Lage ist. Die Konklusionen aus dieser Entwicklung liegen auf der Hand: Für nationalstaatlich organisierte Gesellschaften mochte das Strukturprinzip einander durch Konkurrenz und Kontrolle in Schach haltender Funktionssysteme den Frieden im Inneren erhalten, sofern das für diese Zwecke ausdifferenzierte politische Subsystem über hinreichend macht- und gewaltgestützte Ressourcen verfügte. Selbst unter dieser Voraussetzung war das politische Korrektiv im Falle revolutionärer Massenbewegungen nicht in der Lage, den Frieden zu erhalten. Für eine Grenzen sprengende funktional differenzierte Weltgesellschaft kann es schlechterdings keine ausreichenden machtund gewaltgestützten Ressourcen geben, die sieben Milliarden Menschen in Schach hält. Das absolutistische Legitimitätsdenken beweist damit seine Obsoleszenz. Der zentrale Vergleichsgesichtspunkt bezieht sich auf eine Zäsur, um die sich Kant innerhalb des Aufklärungsdiskurses bemüht, indem er nicht nur wie seine Zeitgenossen die Untertanen zum Souverän erklärt. Ebenso wichtig scheint ihm die Rückgewinnung einer Funktion zu sein, die das politische Selbstverständnis des Souveräns als bloßer Teil und nicht als Schöpfer, als Repräsentant und Garant des Ganzen aufbewahrt hatte. Es geht um die allgemeine und gleiche Geltung des Dekalogs. Luhmann komplettiert und formalisiert die Argumente, mit denen diese Funktion wiederhergestellt wird, ohne die daraus folgenden moralischen Konsequenzen weiterzuverfolgen. Wohlgemerkt geht es um die reflexionsethische Funktion, die ehemals gültige Richtlinien der Ständemoral und heute gültige Richtlinien der Funktionsmoral kritisieren lässt. Es geht nicht um die Verteidigung und Wiederbegründung vormoderner Lösungen. Und Luhmann ergänzt dies Bemühen um die Wiederherstellung der Funktion kritischer Reflexion faktischer Achtungskommunikation durch jene zweite Zäsur innerhalb des sozialwissenschaftlichen Diskurses. Hier geht es darum, den Prozess gesellschaftlicher Aus32 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Ethische Semantik und Gesellschaftsstruktur
differenzierung als institutionelle Stütze für die Emanzipation des Individuums auf politischem, wirtschaftlichem, rechtlichem, wissenschaftlichem, medizinischem und pädagogischem Gebiet noch in einer anderen als der üblichen Weise zu beobachten. In Frage steht nicht nur, ob die Funktionssysteme die hohen Erwartungen erfüllen, oder ob sie sogar im Gegenteil zur Entfremdung oder zur »Kolonisierung der Lebenswelt« (Habermas 1985, 189) beitragen. 16 Was Luhmann an einer Entwicklung kritisch vermerkt, in der die verschiedenen Funktionscodes Macht/Machtunterworfen, Haben/Nichthaben, Recht/Unrecht, Wahrheit/Irrtum, Normalität/Pathologie, Erfolg/ Misserfolg den Moralcode überlagern, zielt auf den von Kant gegeißelten Zug absolutistischen Denkens. Und dies ist eben ein Denken, das Gutes nur als gesetzte Regel begreifen lässt und das sich folglich nicht vom Schlechten und Bösen, sondern von der Ausnahme unterscheidet. Aus dieser Kritik ergeben sich Anhaltspunkte zur Lösung jenes Schlüsselproblems einer sprachlich-semantisch-kulturellen Lücke, die eine Verunklärung des kategorischen Imperativs durch die vorherrschenden Ethiktheorien hinterlassen hat. Mit diesem Imperativ bietet Kant seinerzeit ein funktionales Äquivalent für das christliche Tötungsverbot an, das seine Bindekraft durch Konfessionsspaltung und anschließende Kriege verloren hatte. Die Spaltung des modernen aufklärerischen Projekts in Ideologien machte jedoch auch diese Lösung wieder fragwürdig und ließ allenfalls noch einen hypothetischen Imperativ gelten, der auf beliebigen Wertewandel reagieren kann. 17 Dieses flexibilisierte Sollen findet eine Stütze in den prominenten Ethiken. Der Kontraktualismus definiert basale Rechte und leitet daraus ein globales Sollen ab. Der Kommunitarismus macht dieses Sollen von je besonderen kulturellen Bestimmungen desselben abhängig und die Diskursethik denkt dieses Sollen als Produkt diskursiver Aushandlungsprozesse. 18 Ethik ist als eine Theorie des Sollens von der Autorität jener Instanz abhängig, die dieses Sollen definiert, mithin vom fraglos anZur Lebenswelt – nach Rücksprache mit Phänomenologen siehe Luhmann (1986a, 176 ff.). 17 So dreht Nikolai Hartmann (1958, 349) den kategorischen Imperativ um: »Handle so, dass die Maxime deines Willens niemals zugleich (wenigstens niemals restlos zugleich) Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte.« 18 Damit sind nur die zentralen richtungsweisenden philosophischen Schulen genannt. Zu weiteren »Grenzgöttern der Moral« siehe Reese-Schäfer (1997). 16
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Systemtheorie und Ethik
erkannten Verpflichtungscharakter wissenschaftlicher, regional-kulturgemeinschaftlicher oder zivilgesellschaftlicher Diskurse. Und da sich die Moderne in ihrem Selbstverständnis ganz von der Kritik an Autoritäten her definiert, halten solche Ethiken allenfalls gesellschaftliche Diskurse am Laufen. Aber sie leisten keinen Beitrag zur Befriedung, wenn solche Diskurse kulturkämpferische und schließlich gewaltsame Züge annehmen. Die moderne Gesellschaft regiert auf diese Fluktuation moralischer Autoritäten und konjunkturabhängiger Werte mit der fortschreitenden Anonymisierung der Handlungsträger, mit der Arkanisierung von Strukturen, mit Kontrollflüchtigkeit, Verkomplizierung und der Fragmentierung von Verantwortung. (Beckmann 2009, 42 ff.). Unter Verwendung des heutigen Sprachgebrauchs könnte man sagen, bei Kant und Luhmann trete die Kultur in ihrer selbstrelativierenden Gestalt als Kultivierung in Erscheinung. Entfaltet man ein Desiderat unverzichtbarer Normen aus konstruktionstypischen Parallelen des transzendentalen Idealismus und der Theorie autopoietischer Systeme, so bleiben die üblichen Unterscheidungen von normativ und deskriptiv, von normativ und konstruktivistisch außen vor. Der Gegensatz von philosophischen Fragestellungen, die sich auf präskriptive Normen beziehen und einer soziologischen auf kontingente Selbstreproduktionsprozesse abstellenden Herangehensweise, tangiert die Ahnherren der beiden Denkbewegungen nicht. Weder versteht Kant das Herzstück seiner Philosophie, den kategorischen Imperativ, als präskriptive Norm, als ein Sollen, dessen Akzeptanzbedingungen immer wieder neu bestimmt sein müssen. Noch vertritt Luhmann eine Spielart des Konstruktivismus, die allenfalls ein Bewusstsein für grenzenlose Kontingenz, aber nicht mehr für ein im ethischen Sinne Vorzugswürdiges erkennen ließe. Dies ist zweifellos eine provozierende These, die im Detail darzulegen und zu überprüfen sein wird. Ein wichtiger Anhaltspunkt ist die Vernunftkritik, die bei beiden Autoren das Kultivierte gegen die herrschende Kultur mit all ihren Tendenzen der Abgrenzung und Verfeindung herauszuarbeiten sucht. Dabei greift jeder auf seine Weise das Vernunftverständnis der eigenen Zeit an. Kant wendet sich in erster Linie gegen den Rationalismus der Leibnitz–Wolffschen Schule, Luhmann problematisiert den Rationalismus von Rawls und Habermas. Die kritisierte Vernunft betrifft in beiden Fällen Denkschemata, die in der Dynamik ihres Formgebrauchs wenig reflektiert sind. Diese Dynamik steuert in letzter Konsequenz auf eine Legiti34 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Politische oder »zivilisierte Ethik«
mierung von Gewalt und Krieg. Dies lässt die Fokussierung auf ein Schlüsselproblem gerechtfertigt erscheinen, an dessen Lösung Kant für das Selbstverständnis der Moderne die Stichworte liefert und Luhmann für das Selbstverständnis der Postmoderne. 19
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Politische oder »zivilisierte Ethik« 20
Die von Luhmann ausgearbeitete Systemtheorie so weit in die Nähe der kantischen Intuitionen zu rücken, wie dies in der vorliegenden Studie versucht wird, muss jedoch gegenüber all jenen Einwänden Stellung beziehen, die offensichtlich auch nach Abschluss des Gesamtwerkes nicht hatten ausgeräumt werden können. Walter ReeseSchäfer (1997, 568 ff.) hat die zentralen Problempunkte zusammengefasst und kommentiert: Ungelöst bleiben dem kritischen Urteil gemäß Begründungs-, Anwendungs- und Institutionenproblem. Das erste Problem zielt auf die Vergangenheit und mithin die Frage, warum so und nicht anders entschieden worden ist. Deren Antwort ist deshalb so wichtig, weil die Glaubwürdigkeit rechtfertigender Gründe Voraussetzung für Lernprozesse und die so dringend benötigte Vergangenheitsbewältigung bleibt. Das zweite Problem zielt auf die Gegenwart, in der die Frage auftaucht, wie (nach welchen Kriterien) gehandelt werden muss. Solche Kriterien sind in letzter Konsequenz nichts anderes als Anwendungsregeln moralischer Maximen. Das dritte Problem fokussiert eine unsichere Zukunft und verlangt die Frage zu beantworten, wozu gehandelt werden soll, welche Zwecke verfolgt werden und mit welcher Aussicht auf Erfolg gehandelt wird. Dazu bedarf es nicht nur technischer Behelfsmittel, Wahrscheinlichkeitsberechnungen, die Kommendes kalkulieren lassen, sondern auch
Luhmann (1995a, 539) betrachtet diesen Begriff als Irrweg, weil er die systemfunktionale Kontinuität der modernen Gesellschaft unterschätze. Die Moderne ist für ihn adäquater mit der Vollverwirklichung des funktionalen Differenzierungsprinzips in Verbindung gebracht und die nachaufklärerische Zeit mit dem Begriff der Übergangsgesellschaft. Wir halten am Begriff fest, um die Zäsur zu markieren. 20 Im Gegensatz zu einer Verantwortungsethik, die Probleme auf den Entscheider abwälzt, bemühe sich »zivilisierte Ethik« darum, »im Kontext eines Überblicks über das Gesellschaftssystem sinnvolle Anwendungsbereiche der Moral zu spezifizieren und die Folgen mit der Differenzierung von Moralcode und Rechtscode abzufangen«, heißt es bei Luhmann (2008, 337). 19
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Systemtheorie und Ethik
institutionalisierte Verhaltensregularien, die Zukünftiges erwartbar und dadurch sicherer machen können. Diese Fragen zielen auf die drei Sinndimensionen des Sachlichen, des Sozialen und des Zeitlichen, die in der heutigen Welt zwar immer wieder in einer zeitgemäßen Form problematisiert, aber nur schwer in einer zeitgemäßen Form mit einem bestimmten Lösungsmodus beantwortet werden könnten. 21 Was jenseits aller inhaltlich materialen Setzungen hinaus heute Gültigkeit beansprucht, ist die Prozedurarisierung aller Geltungsfragen, ist das genuin Rationale kommunikativer Verfahren. Hier setzt Luhmann mit kritischen Rückfragen ein, indem er in diesen scheinbar für sich selbst sprechenden Begriffen Essentialismen, metaphysische Setzungen aufspürt. An letztbegründende Begriffe des Rationalen, des Vernünftigen, des Subjekts, der Handlung, der Zwecke oder der Kommunikation noch rühren zu wollen und damit den Aufklärungsdiskurs als immer tiefer vordringende Metaphysikkritik zu betreiben, ist indes kein Novum. Es ist der normale Gang des Zersetzungsprozesses, der die letzten Reste dessen, woran Menschen glauben und worauf sie vertrauen, als unhaltbar aus der Welt zu schaffen sich anschickt, um eben jenes Tabula rasa zurückzulassen, das seit Hobbes noch immer als Nährboden für die Entstehung eines Neuen und Besseren gilt. Das eigentliche Missverständnis sowohl der kritischen als auch der affirmativen Luhmann-Lektüre besteht darin, die Systemtheorie in diese Tradition einzureihen. Es handelt sich um dasselbe Missverständnis, das in Kant den Alleszermalmer hatte sehen lassen und das bei Heinrich von Kleist den seelischen Zusammenbruch bewirkt, den radikalen Zeitgenossen hingegen die Argumente für eine kompromisslose Enttraditionalisierung hatte liefern können. 22 Nicht nur an einer zeitgemäßen Artikulation, sondern an einer Lösung jener Probleme festhalten zu wollen, die mit den drei Sinndimensionen des Sachlichen, des Sozialen und des Zeitlichen auftreten, bezeichnet Kant als Dogmatismus. Luhmann sieht hierin eine nur halbherzige Rücknahme metaphysischer Setzungen. 23 Die Kritik Baecker und Kluge (2003) sehen in ungelösten Problemen sogar einen Nutzen wiederholter Reflexion funktional äquivalenter Formen der Problemlösung. 22 Dieses Urteil über die Kritik der reinen Vernunft, Kant sei hier ein »Alleszermalmer« geht auf Moses Mendelsohn (2013/1785, 3) zurück. 23 Um die Lösungsorientierung als sine qua non jeder Ethik nicht preisgeben zu müssen, spricht Röttgers (2012, 10) statt von Dimensionen vom Text, der als Prozess zeitlich, als Kommunikation sozial und als Sinn diskursiv gefasst ist. 21
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Politische oder »zivilisierte Ethik«
an dem, was geglaubt und gehofft wird, führt aber weder bei Kant noch bei Luhmann zur kommunikativen Verflüssigung, zur Aufwertung der Änderbarkeit als letzten noch verbliebenen Wert. Dieser gleichsam billige Lösungsvorschlag des Zerschlagens von Strukturen fällt bei Kant und bei Luhmann in den Bereich vorkritischen Denkens. Als Letztbegründungsinstanz tritt Wissenschaft in den Augen Luhmanns selbst in jenen Ansätzen auf, welche letzte Gründe nur als Provisorien, als fallible Forschungsergebnisse oder als stets neues Produkt von Einigungsprozessen verstanden wissen wollen. Denn in der gesellschaftspolitischen Praxis werden solche Quasi-Gründe als symbolische Generalisierung gehandelt; sie wirken infolgedessen wie autoritativ geltend gemachte wahre Gründe. 24 Es wird zu zeigen sein, wie sehr dieses Grundanliegen, die wesentlichen Probleme der Logik (wahr/falsch), der Moral (gut/schlecht) und der Ontologie (Sein/Nichtsein) nur artikulationsfähig zu machen und nicht lösen zu wollen, der kantischen Herangehensweise ähnelt. Kant neigt weder der autoritären Lösung zu, wie sie seinerzeit durch den politischen Absolutismus und denselben mithilfe der Gottesgnadenformel legitimierenden Protestantismus zu beobachten war. Noch aber ist er bereit, diese Probleme aufgrund ihrer Unlösbarkeit auszublenden. Letzteres erscheint Kant gar nicht möglich, weil sich die drei Fragen dem Verstand wider Willen aufdrängen. 25 Geht man in dieser Richtung weiter und belässt es bei der für eine bestimmte Zeit plausiblen Problembeschreibung, dann wird heute nicht anders als vor zweihundert Jahren befürchtet, dass Entscheidungen nicht länger auf der Grundlage von gesicherten Erkenntnissen und Glaubenswahrheiten getroffen werden könnten und folglich beliebig würden. Die Luhmann-Kritik teilt heute weniger die Formulierung, dafür aber umso mehr die Sachaussage. Denn sofern im Gegensatz zu Kant unter Erkenntnissen nicht bloß mathematisch-naturwissenschaftliche verstanden werden, sondern empirisch-analytische und unter Glaubenswahrheiten nicht mehr meta-
In symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ist »ein Hinweis enthalten auf eine paradoxe Fundierung des Wissens, aber der Hinweis ist so gefaßt, daß das Kommunikationssystem der Gesellschaft ihn aufnehmen und verarbeiten kann, ohne durch Paradoxien ins »Oszillieren gebracht und blockiert zu werden.« (Luhmann 1990, 189). 25 Siehe Kant, »Zur Kritik der reinen Vernunft« (KrV, AA IV, 7). 24
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Systemtheorie und Ethik
physische, sondern metaphysikkritische, so votiert auch jetzt die Metakritik wieder für einen Reflexionsstopp (Luhmann 2008, 237), der dafür sorgt, dass sich Entscheidungen auch künftig noch als wohlbegründete legitimieren können. Dies steht hinter der Weigerung, sich auf bloße Problemexposition zu beschränken und der Entschlossenheit, am Ziel einer Problemlösung in den drei Sinndimensionen festzuhalten. Der an Luhmann beobachtete »blinde Fleck« (Reese-Schäfer 1996, 164) bezieht sich auf diesen Theorieanspruch. Bei der Beschränkung Luhmanns darf es dieser Ansicht nach nicht bleiben, soll ein auf Reflexion moralischer Wertungen umdirigiertes Ethikverständnis nicht in den Dezisionismus münden. Politische Entscheidungen ließen sich dann von wissenschaftlicher Seite her nicht mehr begründen, sondern nur noch beobachten. Als politisch bedenklich werden zudem die Folgen eines Konstrukts eingestuft, das den Akteur, das Subjekt der Reflexion und damit den Verantwortungsträger nicht länger als demokratisch legitimierte Instanz in den Vordergrund rückt, sondern als diffusen Beobachter von Beobachtern im reflexiven Dunkel verbirgt. Die Preisgabe einer aktiven durch eine passive Haltung gegenüber Unrecht oder auch gegenüber politisch-gesellschaftlichen Gefahren wird befürchtet, sollte dem Handeln nicht länger eine grundbegriffliche Stellung zukommen. Diese Sichtweise zwingt die Systemtheorie wieder in die Reihe all jener Positionen, die nur eine weitere Politisierung der Ethik für zeitgemäß halten, sei es durch Ethikkommissionen, durch soziale Bewegungen und/oder durch Nichtregierungsorganisationen. Die modernisierte wäre dann eine funktional ausdifferenzierte Variante ethischer Diskurse. Innerhalb des sicherheitspolitischen Diskurses ist heute der Pazifismus die Gestalt einer Ethik, die als soziale Bewegung daherkommt und nur noch in dieser Form legitimiert werden kann. 26 Für unser Thema bedeutet dies aber: Die Relativierung kategorischer Verbotsnormen und darauf gegründeter Völkerrechtsprinzipien wie dem Gewaltverbot der UN-Charta wird zementiert. Von den beiden Imperativen des kantischen Transzendentalismus bleibt nur der hyZu diesem Problempunkt Brücher (2013); zu Funktion und Typologie des Pazifismus als Form politischer Ethik siehe Brücher (2008). Zu Versuchen einer philosophisch anspruchsvollen Neubegründung des Pazifismus siehe Olav L. Müller (2006, 2007).
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pothetische Imperativ, ein vom Mainstream als vernünftig und notwendig ausgezeichnetes Sollen. Von ethischer Relevanz ist die Systemtheorie allein durch ihre Kritik an autoritativen Sollensethiken, sollte die These einer kategorialen Bedeutung der Mensch/Maschine-Verschmelzung stichhaltig sein. Denn präskriptive Ethiken suchen heute dem Verdacht bloßer Gesinnung zu entgehen, indem sie die Folgen ihrer Anwendung und mithin allgemein-globalen Nutzen antizipieren. Dazu sind sie aber nur in der Lage, wenn sie an der Unterscheidbarkeit von Subjekt und Objekt, von Ursache und Wirkung, von Mittel und Zweck festhalten. Rationalismus, Kausaltheorie und Konsequenzialismus erweisen sich als quasi-dogmatische Vorverständigungen. Im zivilen und im militärischen Bereich etablieren sich jedoch selbstregelnde Systeme als eine Realität, die klassische Erkenntnismittel grundsätzlich verfehlt. Wenn man die heraufziehende Gefahr der Deregulierung des Krieges durch den Einsatz von selbstregelnden, selbstlernenden und auf eigengenerierter Datenbasis über Leben und Tod entscheidender Drohnen vergegenwärtigt, so sehen sich alle Varianten von Nützlichkeitsethik eingeschlossen regelutilitaristischer Entwürfe Zweifeln ausgesetzt. Es kann hier kein nutzenorientiertes Abwägen geben und dies ganz unabhängig von den demokratisch legitimierten Verfahren solcher Nutzenkalkulationen, die Entscheidungen als Produkt kommunikativer Vernunft ausweisen. Denn im Falle von Objekten, die als Subjekte agieren, von Mitteln, die Zwecke setzen, von Ursachen, die auf ihre Wirkungen reagieren, stürzt das kategoriale Gerüst in sich zusammen, das derlei Nutzenkalküle erst möglich macht. An die Stelle von Begründungen tritt die moralisch präjudizierte Entscheidung für oder gegen die außerlegale waffengestützte Konfliktlösung. Ein entschiedenes Votum gegen den Rückgriff auf außerlegale Gewalt findet sich bei Kant. Dieser bestreitet in seiner Abhandlung Zum ewigen Frieden ein Recht zum Krieg (ius ad bellum). 27 Als national building und als war on terror unterlaufen Friedensprogrammatiken diese Logik und lassen politische Ziele unter Einsatz bewaffneter Drohnen außerhalb konsolidierten Rechts verfolgen. Wenn die systemtheoretischen Konturen einer der kantischen analog gebauten Ethik eruiert werden sollen, so gilt dies auch für
Hajo Schmidt (1995/96) siehe darin Kants radikales Vermächtnis. Zur Friedensschrift siehe auch die Beiträge in Höffe (2011).
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Systemtheorie und Ethik
den konzeptionellen Ort der Behandlung von Fragen über Krieg und Frieden. Die besonderen Bedingungen des Drohnenzeitalters lassen das utilitaristische und das diskursethische Arrangement an ihre Grenzen stoßen. Das bedeutet nicht, dass die bei Kant herausgearbeiteten kognitiven, moralischen und planerischen Grenzen unter anderen waffentechnologischen Bedingungen ignoriert werden dürften. Gemeint ist damit lediglich, dass mit der Innovation von sich selbst reproduzierenden und lernenden maschinellen Systemen ein Punkt erreicht ist, der diese Grenzen evident werden lässt. Doch während Kant noch am Vorabend der technisch-industriellen Entwicklung diese dreifachen von der Logik, von der Moral und von der Ontologie auferlegten Grenzen wider Fortschrittsoptimismus und Könnensbewusstsein seiner Zeitgenossen zu verteidigen sucht, lässt sich mit der Systemtheorie von einer als Spät- oder Postmoderne diagnostizierten Schadensbilanz aus argumentieren. Wie die bisherige allenfalls dreißigjährige Rezeptionsgeschichte zeigt, muss dies allerdings nicht zu einer größeren Bereitschaft führen, diese Grenzen im einundzwanzigsten Jahrhundert in stärkerem Maße anzuerkennen als dies im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert der Fall war. Analog dem Neukantianismus um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert und dem Neokantianismus in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die den begrenzenden transzendentalphilosophischen Einwand entkräften, indem sie im Transzendentalen eine empirische Substanz aufspüren, ringt ein Neu-Luhmannianismus um die Rückgewinnung sozialwissenschaftlicher Einflussinstrumente, wie sie durch Steuerungslogiken der Komputistik, der Psycho- und Sozialkybernetik bereitgestellt worden waren. Es sind zwei Voraussetzungen, deren Würdigung die Grundlagen solcher Deutungen verändern und die den Luhmannschen Beitrag zu Themen der Ethik und Moral ins rechte Verhältnis setzen. Zum einen gilt es die reflexionstheoretische Ethik als Friedensethik zu lesen. Nicht als normativer Begriff, 28 aber als »Strukturbedingung par excellence«, als »Strukturaufbauwert« der Vermeidung negativer Ereignisse (Luhmann 1984, 453) wächst dem Friedensbegriff theo-
Dieser wird von Luhmann (1984, 453) eher spöttisch als »Gegenangstbegriff« kommentiert, der nicht nur Lebenserwartungen, sondern auch Renten- und Wohlfahrtserwartungen jeglicher Art abdecke.
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retische Bedeutung zu. Dies ist nicht zu verwechseln mit der Erfüllung bestimmter normativer Erwartungen als Strukturbedingung des Friedens. Selbiges anzunehmen ist sinnvoll nur im Rahmen eines strukturfunktionalistischen Ansatzes, der in Konflikt geriete mit einem für moderne Gesellschaften konstitutiven Wandel. Gemeint ist nicht eine bestimmte und somit empirische Bedingung, sondern eine Bedingung der Möglichkeit. Dieser auf der Ebene von Erwartungserwartungen angesiedelte Begriff des Strukturaufbauwerts entspricht dem, was Kant als Gegensatz zum Empirischen mit dem Begriff des Transzendentalen oder Luhmann mit dem Begriff des Mediums beschreiben. Denn es geht beim Frieden gerade darum, nicht problematisiert, nicht enttabuisiert zu werden, anders gesagt, nicht seiner Latenz enthoben und manifest gemacht zu werden. 29 Denn gute Gründe zum Friedensbruch lassen sich zu Hauf finden, wenn ein Prozess der Enttabuisierung erst in Gang gekommen ist. Das zeigt sich seit dem Ende des atomaren Patts der beiden Großmächte Russland und Nordamerika, der zu einem wenn auch bloßem Angstfrieden motiviert hatte. Die einzelnen Theoriesegmente gewinnen erst aus dieser Perspektive einen genuinen Sinn, der vom bloß empirischen Beobachten moralischer Kommunikation wieder zu ethischen Kernfragen zurückführt. Die Philosophie hat ihren einstmals zentralen Problemgegenstand zu Unrecht an jene Wissenschaften abgetreten, die sich zur Beobachtung der einzelnen Funktionssysteme herausgebildet haben. Die systemtheoretischen Analysen von Wertsemantik und Wertediskurs finden im friedenstheoretischen Sinn gewissermaßen ihr geheimes Telos. Denn die wachsende Bedeutung der Werte und einer diese Werte in Organisationen und Institutionen absichernden globalen Ordnung ist ein Symptom allgemein wahrgenommener Existenzgefährdung. Die Weltgesellschaft scheint folglich in einem geradezu gesteigerten Maße auf Konsens angewiesen. Luhmann distanziert sich von Habermas weniger in der Einschätzung der Bedürfnislage
Der Friedensgedanke könnte den zum Letztproblem der Paradoxie von Einheit und Differenz gewandelten Abschlussgedanken am präzisesten bezeichnen und zwar in dem von Spaemann (im Vorwort zu Luhmann 1990b) geforderten Sinn, eine »Einsicht in das, was zu tun ist« zu verschaffen. Luhmann vermeidet den zum Wert verkommenen Begriff des Friedens auch aus einem Gespür für die Gefahren der Enttabuisierung. Zum Versuch einer friedenstheoretischen Lektüre der Systemtheorie siehe Brücher (2002).
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Systemtheorie und Ethik
der Menschen. 30 Aber er lehnt eine Problemexposition ab, die sich im Aufstellen von Wunschlisten erschöpft. 31 Ethik kann nur plausibel sein, wenn sie die gesellschaftsstrukturell möglichen Bedingungen moralischer Metatheorie reflektiert. Funktionale Differenzierung abstrahiert im Gegensatz zu ständischhierarchischer Differenzierung von den vorhandenen territorialen, ethnischen, religiösen und kulturellen Gegebenheiten. Anders gesagt, sie abstrahiert von den konkreten Unterschieden, um ein abstraktes, an konstruierten Befähigungen ausgerichtetes Vergleichskriterium zu etablieren. Die hiermit verbundenen Erwartungshaltungen finden im Begriff der Kommunikationsmedien Ausdruck. 32 Macht, Geld, Wahrheit, Recht, Liebe, Glaube sind als grenzüberschreitende Kräfte konzipiert und entlassen aus sich heraus das Konzept einer Weltgesellschaft als funktionaler Differenzierung im Stadium ihrer Vollendung. Da es jedoch schlechterdings nicht möglich ist, dass sich sieben Milliarden Menschen auf ein unisono Begründen, Anwenden und Institutionalisieren von Normen verständigen, verliert der Diskurs seine moralischen Qualitäten. Denn er setzt Werte, Normen, verbindliche Regeln, Gerechtigkeitsprinzipien, kurz, den Sinn des reklamierten Rechts auf Menschenrechte, Zweifeln aus. Die Weltgesellschaft hat längst auf dieses Faktum reagiert und hat funktionale Äquivalente gefunden. Werte sind gewissermaßen ein Ersatz für dysfunktional gewordene Diskurse. Sie verlangen nicht, in Verfahren direkter Demokratie von Fall zu Fall immer wieder zu prüfen, ob es in problematischen Entscheidungslagen Konsens gibt. Sie transportieren in ihrer Symbolstruktur die Mitteilung, dass alle zugestimmt haben. Mehr kann aber auch die Diskursethik nicht anbieten: Normen müssen bloß einen hypothetischen und nicht einen empirisch-faktischen Konsens spiegeln. Der kritische Einwand gegen eine solche Ethik liegt auf der Hand, die das Ausschließungsverhältnis von Werten und Diskursen dissimuliert, um zu suggerie-
Manfred Füllsack (1998,) geht noch weiter, wenn er im Problem der über sich selbst verständigenden Verständigung und der sich selbst beobachtenden Beobachtung einen gemeinsamen Fokus bei Habermas und Luhmann ausmacht. 31 Diese betreffen die mit Individualität verbundenen Erwartungen der »Selbstbestimmung, Autonomie, Emanzipation, Selbstverwirklichung …« (Luhmann, »Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum«, in: ders.: 1995, 125–141, 132). 32 Dazu Luhmann »Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien«, in: ders.: 1975, 170–192; 1997, 190–405. 30
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Politische oder »zivilisierte Ethik«
ren, der Diskurs könne als ein höher aggregierter und damit für alle in gleicher Weise akzeptabler Wert gelten. Um feststellen zu können, ob es sich bei den Werten um ein für die Weltgesellschaft akzeptables normatives Kriterium handelt und nicht nur um die globale Geltung der Präferenzen einer selbsternannten weltgesellschaftlichen Avantgarde, altertümlich gesagt, um einen verkappten und verbrämten Herrschaftsanspruch, müssen funktionale Tiefenanalysen mehr als die bedauernswerte Differenz von Ideal und Wirklichkeit zutage fördern. Gibt es reale Chancen weltweiter Akzeptanz für ethische Kriterien der Konsensunterstellung? Um dies herauszufinden, muss die Art des Sprechens über normative Fragen die Ebene des Sollens verlassen, um stärker die Funktion des hochgehaltenen Sollens zu durchleuchten. Hier trägt der Äquivalenzfunktionalismus zur Klärung bei. Die Akzeptanzchancen lassen sich besser abschätzen, wenn mitbedacht wird, dass der Wert die Funktion eines Kommunikationsmediums erfüllt, das Gemeinsamkeit unterstellt, bevor deren Vorhandensein überprüft worden wäre (Luhmann 1997, 299). Gerade in einer kulturell, ethnisch, religiös und ideologisch fragmentierten Weltgesellschaft bedarf es generalisierter Symbole, die allgemein genug sind, um mit jeder Besonderheit kompatibel zu sein und auf jede Situation angewendet werden zu können. Die mediale Bedeutung der Werte ist also gleichsam das Einzige, das die Weltgesellschaft für die Lösung der angemahnten Desiderate des Begründens, Anwendens und Institutionalisierens von Normen anzubieten hat. Statt Begründungsdiskurs Geltungsunterstellung, statt allgemeine Einigung auf Verfahrensweisen qua Anwendungsnormen Systemvertrauen und statt normgerechte Institutionen Ideologien qua »stabilisierte Opportunismen, die aus dem Spektrum der Wertesemantik das auswählen, was man für bestimmte Zwecke benötigt.« (Luhmann 2008, 182). Dies ist gleichsam die Bilanz einer globalen Realität, die gezeigt hat, dass es die Art der Problemlösung ist, die unter der Hand und kaum merklich die Desiderate verändert hat. Erstrebt wird eine Weltgemeinschaft, die ihr Handeln durch dieselben Werte legitimiert, mithin eine Wertegemeinschaft. Was bedeutet dies aber für den Weltfrieden, wenn es nur noch auf elastischen Opportunismus (Werte) und auf stabilisierte Opportunismen (Ideologien) ankommt und nicht mehr darauf, dass Menschen de facto nicht getötet, nicht verschleppt und nicht gefoltert werden? Sobald der Wertediskurs seine Natur offenlegt und sichtbar wird, dass er jedes Handeln legitimiert, das in seinem Namen erfolgt, 43 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Systemtheorie und Ethik
schlägt die Gemeinsamkeitsunterstellung in die gemeinsame Unterstellung wechselseitiger Schädigung um. Die Wertegemeinschaft mündet in den Krieg aller gegen alle. Dies ist der Grund, weshalb der gemeinte Sinn der Werte wieder von deren medialen Funktion separiert werden muss und das bedeutet in der Sprache Kants, von der Ebene hypothetischer Imperative zur Ebene kategorischer Imperative fortgeschritten werden muss. Allein diese Ebene ist im Verlauf der ideengeschichtlichen durch Metaphysikkritik gezeichneten Entwicklung der Zeit nach Kant unbetretbar gemacht. Der nachmetaphysische Diskurs rührt an die apriorische Art und Weise, in der Kant Unterscheidungen handhabt und wird in der Folge immer wieder neue Apriorismen entdecken und zu eliminieren suchen. Die Purifikation der Philosophie von allen metaphysischen Altlasten wird zur vornehmen Aufgabe. Auch die Systemtheorie stellt sich schließlich mit Luhmann ganz in den Dienst dieses Forschungsinteresses, allerdings nicht in einer bloß affirmativen, sondern im Verein mit den französischen Poststrukturalisten auch kritischen Art und Weise. Das Ergebnis ist ein geradezu streng durchgehaltener Differenzialismus, der der Systemtheorie einen wichtigen Beitrag zur philosophischen Ethik zuerkennen lässt. 33 Das Differenzdenken konzentriert sich jetzt sowohl auf seine semantischen Seiten, indem es nach den verschiedenen Arten des Handhabens von Unterscheidungen fragt. Es beschäftigt sich aber auch mit den gesellschaftsstrukturellen Determinanten funktionaler Differenzierung, die die Plausibilität von Semantiken mitbestimmen. Vor diesem Hintergrund scheint eine Lösung des Begründungs-, des Anwendungs- und des Institutionenproblems durch fortgesetzte Politisierung der Moral unwahrscheinlich. Dabei handelt es sich nicht um eine Sperre, die durch ein anderes Theoriedispositiv, etwa durch einen diskurs- und handlungstheoretischen Ansatz, beseitigt werden könnte. Der Weg über die Prozeduralisierung ethischer Grundfragen bis hin zur weitergehenden Politisierung scheint durch die moderne funktional differenzierte Gesellschaftsstruktur noch in weiteren Hinsichten verstellt. Diese Struktur sorgt nämlich dafür, dass der politisierte Moralcode die GeAm konsequentesten findet sich diese Perspektive bei Jean Clam (2002; 2004) ausgearbeitet, der bezogen auf die Systemtheorie von einem hervorragenden philosophischen Ausdrucksmedium der zeitgenössischen Welt spricht, das allerdings »massive analytische Klärungen fordert« (2002, 105). Genaueres dazu weiter unten.
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Politische oder »zivilisierte Ethik«
stalt von Funktionscodes annimmt. Was sich als »demokratische Ethik« (Reese-Schäfer 1997, 659) zu legitimieren sucht, ist zunächst die machtgestützte, die rechtskräftige, die marktförmige, die durchsetzungsfähige, die empirisch bestätigte Meinung. Insbesondere das Rechtssystem stellt die Weichen für jetzt noch mögliche Modalitäten der Lösung des Begründungs-, des Anwendungs- und des Institutionenproblems der Moral. Es ist gewissermaßen Moral in einer dem Funktionssystemtypus anverwandelten Gestalt. Alle Funktionssysteme erfüllen moralische Funktionen. Das politische System betreut den Wert der Sicherheit (securitas), das Wirtschaftssystem dient idealtypisch der Wohlfahrt (caritas), das Rechtssystem der Gerechtigkeit (justicia), das Erziehungssystem dient dem zivilisierten Umgang miteinander (tranquilitas). 34 Die hierarchischstratifikatorische Gesellschaft ist restlos auf funktionale Differenzierung umgestellt, sobald das moralische Argument in allen Funktionsbereichen nur noch als Opposition, als Systemkritik oder als Pathologie, auch als linker oder rechter Extremismus und in zunehmendem Maße als Fundamentalismus wahrgenommen wird. 35 Die Form, in der Opposition organisiert wird, richtet sich nach konjunkturellen Vorgaben und Moden. Die Funktion aber bleibt gleich, wie immer sich Kritik artikuliert, als politische Demonstration, als Aufstandsbewegung, als ziviler Ungehorsam oder als Teach-In. Sobald Erwartungen in Bereitschaft und Fähigkeit der Funktionssysteme, Gutes als Vorzugswert begründen, Verfahren der Anwendung von Moralmaximen anbieten und erwartungsfest instituieren zu können, allzu sehr enttäuscht werden, treten Moral- und Funktionscode wieder auseinander. Allein dies ist problematisch, weil sich die moderne säkularisierte Ordnung nicht mehr auf legeshierarchische Formen der Legitimation (des Begründens, Anwendens und Institutionalisierens von Moral) berufen kann. 36 Und dennoch verfährt die Politik in der Art und Weise, wie sie Handeln legitimiert, Es handelt sich hierbei um Konditionen des sozialen Friedens, wie sie vom altrömischen Rechtsdenken überliefert bis in die heutige Zeit als Orientierungsmarken dienen. Siehe Janssen (1995, 231). 35 Sollte die reflexionstheoretische Ethik ihre Aufgabe darin sehen, diesen Glauben zu stärken, so wäre sie nichts weiter als eine »institutionalistische Ethik« (so Krohn 1999, 326–329). 36 Zur Bedeutung der Loslösung vom hierarchischen Rechtsquellendenken (positives Recht – Naturrecht – göttliches Recht) für den modernen Staat siehe Luhmann (1974, 26 ff.). 34
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Systemtheorie und Ethik
als ob wir noch in einer hierarchischen Gesellschaft lebten. Das Rechtfertigen wird nach Luhmann (1965, 28) »überhaupt am hierarchischen Modell orientiert …«. Rechtfertigen bedeutet davon zu überzeugen, dass die Politik mehr tut als bloß die Macht erhalten, die Wirtschaft mehr als bloß Profite zu machen, das Recht mehr als Paragraphen durchzubuchstabieren und die Wissenschaft mehr als bloß beliebige Wirklichkeitskonstruktionen zu produzieren. Die im Rechtfertigen vollzogene Trennung von Moral- und Funktionscode macht sich in der überragenden Priorität bestimmter Werte und daraus resultierender politischer Skandale bemerkbar. 37 Aber dieser Trennungsvorgang treibt nur etwas an die Oberfläche, das subkutan immer vorhanden ist, nämlich eine niemals zur Gänze aufzuhebende Differenz von Moral- und Funktionscode. Wenn die von sozialwissenschaftlicher Seite genannten Probleme nichts anderes sind als zeitgemäße Formulierungen der drei Grundfragen, was wir wissen (begründen), was wir dürfen (anwenden) und was wir hoffen können (institutionalisieren), so handelt es sich hierbei nicht um eine zufällige Koinzidenz mit den kantischen Grundfragen. Vielmehr haben wir die drei Sinndimensionen des Sachlichen, des Sozialen und des Zeitlichen vor uns, die die Luhmannsche Suche nach Antworten auf die Frage, wie soziale Ordnung möglich sei, 38 permanent begleiten und die noch stärker in ihren Implikationen für die Ethik herausgearbeitet werden müssen. Die Antworten Luhmanns fallen in jedem der bemühten Theorieansätze, der System-, der Kommunikations- und der Evolutionstheorie jeweils anders aus, um sich schließlich im Lichte der differenztheoretischen Perspektive zum ethisch dimensionierten Kompositum aufzuaddieren. Auch die Theorieansätze sind Problemexpositionen, die sich den drei Sinndimensionen zuordnen lassen. Die Systemtheorie artikuliert Probleme der Sachdimension, die sich an ungelösten Fragen der Logik und mithin des Wahrheitsverständnisses entzünden. Der Akzent liegt auf dem Begriff des Verständnisses und mithin auf den unter bestimmten gesellschaftsstrukturellen Bedingungen plausiblen Semantik des Wahren und Richtigen. Diese ist im Kontext eines ausdifferenzierten Wissenschaftssystems auf empirisch nachweisbare und darin konsensfähige Übereinstimmung von Urteilen Siehe Luhmann, »Öffentliche Meinung« in ders.: (1971, 9–34, 16) Zu den Konturen der Fragestellung siehe Luhmann »Wie ist soziale Ordnung möglich?« In: ders.: (1981a, 195–286).
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festgelegt. Als Leitdifferenz verwendet, erinnert die System/Umwelt-Unterscheidung die Beobachter lediglich daran, dass in funktional differenzierten Gesellschaften Wahrheit nicht mehr als das Ganze darstellbar ist, sondern nur noch als systemrelativer Weltausschnitt, als empirische Bestätigung einer ganz bestimmten Hypothese, anders gesagt, als Umwelt eines Systems. 39 Probleme der Zukunftsgestaltung im Sinne realitätstauglicher Projekte und Programmatiken, die der zeitlichen Sinndimension zuzuordnen sind, fallen in das Gebiet einer neodarwinistisch und das heißt nicht kausal-finalistisch interpretierten Evolutionstheorie. Eine herausragende Bedeutung aber fällt der sozialen Sinndimension einfach deshalb zu, weil die Luhmann bewegende Frage, wie soziale Ordnung möglich sei, den ›gelernten‹ Juristen zum Soziologen gemacht hat. Dieses von Durkheim und Parsons geprägte Fach sorgt sich um die sozial-moralische Integration einer arbeitsteiligen, in Sparten und Untersparten zerstückelten Gesellschaft und mithin in den Augen Luhmanns um eine nachgeordnete Frage. Dem voraus liegt die sehr viel grundsätzlichere Frage nach den Möglichkeitsbedingungen sozialer Ordnung. Und diese lassen sich nicht von einem einzigen Fach beantworten. Vielmehr sind jetzt neben der Philosophie all jene Disziplinen angesprochen, die sich dem neukantianischen Programm der Detranszendentalisierung folgend auch mit den Erkenntnisbedingungen der je eigenen fachbezogenen Sicht auf die Wirklichkeit beschäftigen. Luhmann fasst diese quer durch alle Disziplinen laufenden Bemühungen unter dem Begriff der Selbstreferenztheorien zusammen, um hier gewonnene Einsichten noch einmal auf die Kernfrage nach den Möglichkeitsbedingungen sozialer Ordnung hin zuzuspitzen. Da zu diesen Bedingungen auch die Art und Weise gehört, in der sich moderne Gesellschaften selbst verstehen, schiebt sich wieder ein mit der Moral in eins fallendes Soziales in den Vordergrund. Für diese im engeren Sinne sozial-moralischen Fragen wird eine Kommunikationstheorie zuständig, die sich im Gegensatz zu heute bevorzugten ethiktheoretischen Ansätzen nicht selbst dem moralisch Guten zuordnet. Es wird folglich ein Theorietypus zu vermeiden gesucht, der im gerade aktuellen Gelehrten- bzw. Da Luhmann nur sach-, sozial und zeitbezogene Plausibilitäten darlegen möchte und nicht nach der Wahrheit im Sinne eines objektiven Geistes fragt, ist er bei aller theorietechnischen Nähe zu Hegel doch kein Hegelianer. Zur These insbes. Wagners (1995) weiter unten.
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Systemtheorie und Ethik
Theoriestreit meint Partei ergreifen zu müssen – etwa für normative oder für deskriptiv-empirische Theorie. Demgegenüber werden Probleme in den Vordergrund gestellt, die aus der Unentscheidbarkeit letztbegründender Abschlussformeln folgen. Dies Faktum eines nicht für eine Seite zu entscheidenden Streites wird zum Gegenstand der Theorie gemacht. Eine solche, normative und erkenntnistheoretische Fragen transzendierende Theorie heißt jetzt »Supertheorie«. 40 Weil aber auch eine so gebaute Theorie kommuniziert werden muss, unterliegt sie den gesellschaftsstrukturellen Bedingungen, unter denen bestimmte Sinnkonstrukte plausibel sind. Dies beherzigend, muss sich die Theorie zu ihrem eigenen Gegenstand machen und dies erfordert eine präzise Angabe von Bedingungen, unter denen in der heutigen Gesellschaft kommuniziert wird. An dieser Stelle greift die Unterscheidung von segmentärer, stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung, mit der sich die Konturen der sozialen Sinndimension feinzeichnen lassen. Dies ist auch der Ort, an dem Fragen des Guten und Vorzuziehenden behandelt werden. Gesellschaften bilden ein je spezifisches Moralverständnis aus. Dieses artikuliert sich in Moralsemantiken, die den Sinn von Präferenzen an etwas rückbinden, was in einer bestimmten Gesellschaftsstruktur plausibel erscheint. Wahrheiten, ob normativer oder erkenntnistheoretischer Art, erscheinen in funktional differenzierten Gesellschaften nur als Werte plausibel. Als Sachaussage haben sie nur in Gesellschaften Gewicht, die über privilegierte Positionen verfügen und das heißt, diesbezügliche Autoritäten anerkennen. In modernen Gesellschaften schiebt sich die System/Umwelt-Unterscheidung vor alle sachlich-logischen und moralisch-ethischen Präferenzen. Denn in dem Maße, in dem Gesellschaften ihr Selbstverständnis an die Kritik an überlieferten Rangordnungen binden, zeigt sich jede Sachaussage und jeder Vorzugswert als systemrelativer Standpunkt, der sich in Abgrenzung von einer Umwelt profiliert. Auch die Evolutionstheorie ist bloße Explikation der zeitlichen Sinndimension und muss folglich von wertenden Vorannahmen Abstand nehmen, auf die dialektisches, sozialdarwinistisches oder ziviliSiehe Luhmann »Soziologie der Moral«, in: ders.: (2008, 5–162, 57 f.). Der Begriff ist zunächst durchaus ironisch gemeint in Analogie zum Super-Benzin, um nicht in die Nähe der transzendentalphilosophischen Frage Kants zu geraten. Der Zugang zum Ursprungsproblem der Selbstimplikation von Wissen, Dürfen und Hoffen ist dennoch wiederhergestellt und der Gegensatz von metaphysisch und nachmetaphysisch tritt zurück. Zu letzterem siehe Rustemeyer (2007, 512 ff.).
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Politische oder »zivilisierte Ethik«
sationstheoretisches Fortschrittsdenken nicht verzichten kann. Errungenschaften lassen sich durch Institutionalisierung nicht auf Dauer stellen. Institutionen werden zu bloßen Erwartungshaltungen, die so lange stabil sind, als sie durch reflexive Entrückung dem Zugriff entzogen bleiben: Solange ich erwarte, dass der andere von mir eine bestimmte Erwartungshaltung (Normalität) erwartet, steht es mir nur um den Preis für unnormal gehalten zu werden frei, anders zu erwarten. Habermas (1992, 88) verknüpft diese reflexive Ebene der Erwartungserwartung vorschnell mit normativ-wertenden Verhaltensimperativen, wenn er von Geltungsansprüchen spricht. Er rekurriert damit auf jenes bis zur Identität gesteigerte Verhältnis von Sozialität (Normalität) und Moralität (Normativität), das Luhmann als logisch unhaltbar und psychosozial gefährlich verwirft. Vorschläge zur weitergehenden Politisierung der Ethik, zu einer demokratischen Ethik knüpfen zwischen Normalität und Normativität ein noch engeres Band. Da Erwartungsmodalitäten jedoch tiefsitzende unterschwellig wirkende kulturelle Prägungen sind, droht die normativ aufgeladene Erwartungshaltung, die das Eigene und Gewohnte prämiert, zum globalen Sprengsatz zu werden. Die differenztheoretische und die friedensethische Korrektur der Lesart lassen der Systemtheorie nicht länger Blindheit gegenüber den Problemen des Begründens, des Anwendens und des Institutionalisierens von Normen unterstellen. In dieser zweifachen Umorientierung liegt der systemtheoretische Bruch mit einer semantischen Tradition der Moderne, die sich laut Luhmann zu Unrecht auf diesen Titel beruft, handelt es sich doch nur um Übergangssemantik einer Übergangsgesellschaft vom hierarchischen zum funktionalen Differenzierungstypus. 41 Wenn die Systemtheorie einen Beitrag zur Ausarbeitung einer zeitgemäßen, innerhalb funktional differenzierter Gesellschaften plausiblen Ethik liefern kann, dann wären damit nicht nur die Legitimationsmargen der so genannten abendländischen Kultur berührt. Vielmehr ließen sich ausgehend von den differenz- und friedenstheoretischen Aussagen des besonderen Paradigmas auch Gesprächsangebote für in gleicher Weise dem Globalisierungsdruck ausgesetzte nichtwestliche Kulturgemeinschaften formulieren. Um den ethischen Implikationen und möglichen Weiterentwicklungen dieses Theorieansatzes für die voll realisierte funktional diffeAusführlich die Beiträge in Gesellschaftsstruktur und Semantik, insbesondere Band 1 (Luhmann 1980).
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renzierte Gesellschaft eine Bedeutung zuzuerkennen, muss freilich ein in die umgekehrte Richtung zielender Einwand ebenso ernst genommen werden. Nicht mangelnder, sondern überschießender Deutungsanspruch wird dort unterstellt, wo die Grundbegriffe selbst schon als politische Aussage gelesen werden. Das betrifft die weit verbreitete politologische Neigung zur Subsumption aller Begriffe unter ein historisch-dialektisches Paradigma. So kann von den »Bewegungsgesetzen« der Autopoiesis nur gesprochen werden (von Beyme 1991, 58), wenn der Begriff nicht als Chiffre für die beschränkte Urteilskraft Verwendung findet, sondern im Gegenteil als Instrument der Verfeinerung pragmatischer Fähigkeiten mittels Berücksichtigung von Rückkoppelungsschleifen. Sowohl idealistische als auch materialistische Dialektik beschäftigt sich hingegen mit Bedingungen, unter denen die kantischen Erkenntnisschranken ignoriert werden dürfen. Die Nähe Luhmanns zu Hegel mag für eine friedensphilosophische Lektüre des differenztheoretischen Ansatzes die größte Herausforderung sein. 42 Die systemtheoretische Begrifflichkeit in ihrer »eigentümlichen theoretischen Qualität« ernst zu nehmen und nicht »auf ihre weltanschauungsbildenden Effekte bzw. ihre subkutanen politischen Aussagen hin …« zu lesen, bleibt ein Anliegen. 43 Die Entfernung vom hegelianischen und die Nähe zum kantischen Verständnis der Dialektik macht ein differenztheoretisches Axiom deutlich. Es geht nicht länger um die Einheit der Differenz von Identität und Differenz, sondern um die Differenz von Identität und Differenz (Luhmann 1984, 607). Damit ist die Kritik der theoretischen, der praktischen und der urteilenden Vernunft wieder gegen ein geschichtsphilosophisches oder wissenschaftliches Wissen stark gemacht, das meint, nicht länger auf Grenzfixierung, sondern auf Grenzüberschreitung drängen zu dürfen. Die kognitiv, moralisch und ontologisch ungesicherte Stellung eines Erkennenden kommt im Begriff des Beobachters zum Ausdruck, der nicht mehr als Subjekt und als Akteur, sondern bloß noch als Aktor unterscheidenden BeSiehe dazu Bergler (1999); Ellrich (1996); Spaemann (1990); Klaus von Beyme (1991, 238) sieht in Luhmanns Hegelianismus sogar eine Neuauflage der Freund/ Feind-Unterscheidung von Carl Schmitt in Gestalt des politischen Codes. 43 So Göbel (»Politikwissenschaft und Gesellschaftstheorie. Zu Rezeption und versäumter Rezeption der Luhmannschen Systemtheorie«, in: de Berg/Schmidt 2000, 134–174, 140) gegen eine verbreitete politologische Lesart dieser Systemtheorie. In den politischen Wissenschaften sieht er die hartnäckigsten Missverständnisse am Werk. 42
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Politische oder »zivilisierte Ethik«
zeichnens eingeführt wird. Eine solche theoriegestützte Grundhaltung bringt den so genannten Rest nicht mehr gegen den Westen auf; sie vermag vielmehr wie einst das transzendentalphilosophischrechtspazifistische Friedensprojekt Kulturen zu versöhnen. Allein, der differenztheoretische Charakter dieser Systemtheorie ist keineswegs unwidersprochen geblieben. Und tatsächlich scheint der 1988 Luhmann verliehene Hegel-Preis 44 eher jenen Kritiken Recht zu geben, die von einer Kontinuität identitätslogisch-metaphysisch-ontologisch-dialektischen Denkens im Gewand einer dem sozialtechnischen Zeitgeist angeglichenen Sprache ausgehen. Da Hegel den Formalismus der kantischen Ethik und insbesondere des kategorischen Imperativs, erst recht aber dessen ablehnende Haltung gegenüber Kriegsrechtfertigungen verwirft, steht und fällt das Profil der von Luhmann in Rudimenten entwickelten reflexionstheoretischen Ethik mit der Glaubwürdigkeit der intendierten Differenztheorie. Basiert die Position Luhmanns auf metaphysischen Prämissen, wie sie für das identitätslogische Denken Alteuropas charakteristisch sind und gewinnt man einen adäquaten Zugang infolgedessen nur, wenn man sie als Neuauflage der Dialektik Hegels rekonstruiert? 45 Die Triftigkeit dieser zentralen Kritik kann nur im Kontext jeder der drei Sinndimensionen geprüft werden. Da sie für die Einschätzung einer ethischen Relevanz der Systemtheorie jedoch von so großer Bedeutung ist, muss auf den Vorwurf ungewollten Substanzdenkens schon an dieser Stelle eingegangen werden. Die Zwangsläufigkeit, mit der die initiale Unterscheidung von System und Umwelt einen »Grund im Sinne einer absoluten, nichthinterfragbaren Identität« voraussetzt (Wagner 1994, 276), folgt dieser Kritik gemäß aus ihrer asymmetrischen Struktur. Diese richte dieselbe dialektische Bewegung der Pole zueinander und zum Ganzen auf eine zugrundeliegende Identität. Da die Umwelt das Andere des Systems sei, müsse es jene vorgängige Einheit geben, von der aus erst System und Umwelt nur in Bezug auf einander das seien, was sie sind. Diese aus der Logik der ursprünglichen Selbstreferenz – das Selbst ist ein solches nur durch das Andere und das Andere ist das Abgedruckt ist die Rede mit einem Vorwort von Spaemann unter Paradigm lost. Zur ethischen Reflexion der Moral (Luhmann 1990b). 45 Zur These siehe typisch Wagner/Zipprian (1992) und Wagner (1994). Dazu Erwiderungen von Luhmann (1993; 1994) und Nassehi (1993 b). 44
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andere Selbst – folgende Einheit und Identität, werde von Luhmann unterschlagen. Als zugrundeliegende Einheit fungiere der Begriff Welt, dieser werde jedoch absichtlich mit dem Begriff Umwelt vermengt, um die Systemtheorie nicht als identitätslogischen Ansatz offenlegen zu müssen und um nicht ungewollt Argumente für eine aus denselben Prämissen hervorgehende »Umwelttheorie« zu liefern. 46 Diese Kritik übersieht die Willkür, mit der die Paradoxie von Einheit und Differenz in einer letzten Einheit Welt aufgehoben werden soll. Indem ausgeblendet wird, dass die Einheit des Weltbegriffs sofort in die Differenz unterschiedlicher Perspektiven zerfällt, stattet sie diejenigen Akteure mit weitreichenden Kompetenzen und Verfügungsrechten aus, die sich als Repräsentant dieses Ganzen ausgeben. Damit verteidigt sie absolutistisches Legitimitätsdenken, das in funktional differenzierten Gesellschaften als Anachronismus erscheint. Folglich gilt es immer wieder den ideengeschichtlichen Hintergrund eines evoluierenden Zusammenhangs von Gesellschaftsstruktur und Semantik zu vergegenwärtigen: Die System/UmweltUnterscheidung löst das Ganzes/Teil-Schema ab, nachdem die funktionale Differenzierungsform sukzessive an die Stelle von Hierarchien getreten war. 47 Die grundbegrifflich eingeführte System/Umwelt-Differenz verliert damit jede Willkürlichkeit. Die Umwelt kann davon ausgehend schon deshalb keine operationsfähige Einheit sein, weil sie andernfalls in die Funktionsstelle der Teile treten würde. Im Gegensatz zur Unterscheidung von System und Umwelt ist das Ganzes/Teil–Schema ethisch konnotiert und enthält eine Reihe von Verpflichtungen. Ist System bloß ein anderer Ausdruck für Akteur, für Entscheider und Repräsentant des Ganzen, so müssen Verantwortung übernommen und Rücksichten gepflegt werden. Und als abhängig, unterprivilegiert, ausgebeutet und von den Entscheidungen Anderer betroffen, ist die Umwelt nichts anderes als Teil eines Ganzen im Gewand einer neuen Terminologie. Diese Lesart suggeriert semantisch-gesellschaftsstrukturell induzierte Pflichten, die der Logik funktionaler Differenzierung widersprechen. Die im Begriff der Umwelt neu semantisierten Teile werden
So Wagner (1994, 279) im Anschluss an C. Warnke (1974), die in den Systemwissenschaften Heilsbotschaften aufspürt. 47 In diesem Punkt der wechselseitigen Plausibilisierung von theoretischen Unterscheidungen und historischen Verläufen, verweist Werner Stegmaier (1998, 69) zu Recht auf eine methodische Nähe Luhmanns zu Hegel und Nietzsche. 46
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dazu ermuntert, gegen die herrschenden Teile zu rebellieren, wenn diese ihren Pflichten zuwider den beherrschten Teilen das ihnen Zukommende nicht gewähren. Für solche gleichsam aus dem kategorialen Schema ableitbaren Ansprüche schwinden mit dem Zerfall der alten Ständegesellschaft jedoch die gesellschaftsstrukturellen Grundlagen, ohne dass sich die Semantik auf diese Veränderung eingestellt hätte. Diese beharrt mit einer gewissermaßen trotzigen Widerständigkeit auf dem gemeinten Sinn der alten Konnotationen und suggeriert, die Notleidenden dieser Weltgesellschaft müssten nur entschieden rebellieren, um die Verhältnisse zum Besseren zu wenden. Und hier entfaltet die semantisch-gesellschaftsstrukturelle Inkompatibilität ihren ganzen Zynismus. Denn im gleichen Zuge setzt sich die Logik der entmoralisierten Weltgesellschaft durch, die der Rebellion nicht länger eine Funktion im Rechtsgefüge zuerkennt; vielmehr bekämpft sie diese im Begriffsfeld von Terrorismus und Fundamentalismus als Inbegriff der Rechtsverachtung. Damit entsteht ein gesellschaftliches Klima, das unisono aufhetzt und die Aufgehetzten kriminalisiert. Im Gegensatz zur Teilhaberschaft am Ganzen und daraus fließender Rechte und Pflichten, bringt der Umwelt-Status nur einen systemrelativen Weltausschnitt zum Ausdruck und impliziert mithin einen allein dem Gesichtspunkt von Effizienz und Rentabilität geschuldeten Aufgabenkatalog. Erst in dem Augenblick, so die Vermutung Luhmanns, wo die Semantik dies ungeschönt darzustellen vermag und damit die Grausamkeiten der funktionalen Differenzierungsform nicht mehr in Euphemismen verbrämt, kann eine das praktische Handeln anleitende Ethik formuliert werden. Mit Recht, so müsste nun gesagt werden, lässt Luhmann die Begriffe Welt und Umwelt ineinander übergehen. Denn die Welt ist im Allgemeinen nur als Insgesamt aller sinnhaften Verweisungen und im Besonderen nur als systemrelativer Weltausschnitt fassbar. Für Sinnsysteme ist die Welt nur Umwelt, wenn es darum geht, diese unterscheidend zu bezeichnen. 48 Geht es um mehr, so stellt sich die Welt als Komplexität dar und mithin als Inbegriff eines Überschusses
Die Unterscheidung von System und Umwelt könne in ihrer Asymmetrie nur einen systemrelativen Weltbegriff erzeugen, heißt es bei Luhmann in der Stellungnahme zum Beitrag von Thomas Günther »Welt als relative Welt oder als Letzthorizont? Zur Azentrizität des Weltbegriffs«, in: Krawietz/Welker (1992, 327–354, 383) im selben Band.
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von möglichen gegenüber verwirklichten Möglichkeiten. 49 Einheit verweist auf Differenz und Differenz auf Einheit, insofern bleibt die Paradoxie der fundierende Begriff. Den Ausweg aus der blockierenden Wirkung dieser Einsicht weist indes ein differenztheoretisches und nicht ein identitätslogisches Vorgehen, das letztbegründende Abschlussformeln in der Hoffnung verwendet, die Anderen würden das Paradox nicht durchschauen und also in autoritätshöriger Gläubigkeit verharren. 50 Im Blick auf eine der funktional differenzierten Weltgesellschaft angemessenen Ethik wären jene Fragen aufzugreifen, die nicht nur von Kant, sondern auch von Hegel in einer für Übergangsgesellschaften repräsentativen Weise beantwortet werden. Die zentralen Gegensätze lassen sich sinngemäß und auf wenige Punkte zugespitzt in plakativer Weise beschreiben: Kant: Du weißt nicht: weil du nicht zugleich die empirischen und die transzendentalen Bedingungen deines vermeintlichen Wissens zugleich wissen kannst. Du darfst nicht: weil die zahllosen Moralvorschriften, die dich einschränken, notwendig sind und weil die Folgen des Handelns nicht vollends überschaubar sind und deshalb ein Rechtsverstoß um guter Zwecke willen keine Legitimationsgrundlage hat. Du willst nicht: weil eine aus der Kritik theoretischer und praktische Vernunft folgende Kritik an der eigenen Urteilsfähigkeit Zukunftspläne entmutigt.
»Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpft sein kann.« (Luhmann 1984, 46). 50 Ein aktuelles Beispiel ist das Militärinterventionen legitimierende Paradox der Menschenrechte, für das Luhmann (1995, 232 f.) drei Formen der Entfaltung nennt: Sie sind Rechte, die sich aus dem Naturzustand in den Zivilzustand hinüberretten können; sie sind positivierte vorpositive Rechte und sie sind Normen, die an ihren Verstößen erkannt werden. Die Invisibilisierung dieses Paradoxes legitimiert Menschenrechtsinterventionismus. Für den Fall Libyens siehe Brücher (2012a). 49
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Aber du musst: weil ohne ein Bemühen um die Auflösung von Widersprüchen, um die Herstellung von Einheit, das Menschengeschlecht keinen Bestand hat. Hegel: Du weißt: dass das Andere dein eigenes Negatives, die negative Seite deiner selbst ist. Du darfst: den Widerspruch explizit machen und also das Negative hervorkehren, was immer daraus entsteht, Krieg oder Frieden. Du willst: das negative Andere deiner selbst integrieren und also zur Einheit finden, die dem Widerspruch zu Grunde liegt. Diese Bewegung ist und heißt Fortschritt. Und du musst: all dies tun, weil Fortschritt eine höhere Einheit ist, die im schmerzlichen Prozess der Forcierung und schließlich Aufhebung der Widersprüche durchlebt und erarbeitet werden muss. Dieser hegelianische Argumentationstypus lässt sich marxistisch, freudianisch/neomarxistisch, zivilisationstheoretisch, diskurstheoretisch, kontraktualistisch oder kommunitaristisch reformulieren, aber nicht systemtheoretisch. Luhmann wirft all diesen Ansätzen vor, den Weg der Metaphysikkritik auf halber Strecke verlassen zu haben. Denn noch immer gelte die Suche den letztbegründenden Abschlussformeln in Prozeduren, in Ausscheidungskämpfen, im Kommunizieren, im Verhandeln oder in der Verteidigung des kulturspezifisch Besonderen. Der Standort Luhmanns lässt sich wieder in einer bloß sinngemäßen Formulierung plakativ folgendermaßen skizzieren: Luhmann: Du weißt nicht: weil du nicht zugleich etwas Bestimmtes beobachten (Beobachtung 1. Ordnung) und die zugrundeliegende Unterscheidung mit beobachten kannst (Beobachtung 2. Ordnung) (= logischsachliche Einschränkung), denn in allem, wo du nicht selbst Spezialist bist, bleibst du abhängig vom Fachwissen der Experten. (= sozialmoralische Einschränkung)
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Du darfst alles: denn wir leben in einer permissiven Kultur, die kontingenzbewusst ist und darum alles erlaubt, was nicht gesetzlich verboten ist. Du weißt nicht, was du willst, denn du bist von Grund auf verunsichert in einer Welt, in der alles möglich sein soll, aber nicht mir, sondern einem abstrakten Akteurskonstrukt der Gesamtheit aller Experten. Du bist durch die Paradoxie ›du weißt nicht, aber du darfst‹ blockiert: Will ich ganz mit mir eins sein, aber wie viele? (Precht 2012). Will ich eine imperfekte (bloß enhanced) oder eine perfekte Maschine sein (Maschinenmensch)? Will ich in kurzsichtiger Weise selbstbestimmt sein oder will ich mich der größeren Komplexitätsverarbeitung selbstreproduzierender Systeme anvertrauen? Du solltest: erst wieder Ordnung in diese durch Entdifferenzierungsprozesse aufgelöste Weltgesellschaft bringen und dich um eine Resymmetrisierung bemühen; das bedeutet, dich an einer ›reflexionstheoretischen Ethik‹ abarbeiten. Zum Begründungsproblem: Die sachliche Sinndimension Die Rekonstruktion sinnfunktionaler Äquivalente maßgebender Theoriestücke zeigt die Gefahren, die der Weltgesellschaft durch die Kontinuität eines Denkens in den Kategorien von Ausscheidungskämpfen drohen. Dieses im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert vorherrschende Vertrauen in wissenschaftlich rückversicherte Fähigkeiten, positive und negative, produktive und destruktive Konflikte unterscheiden und steuernd beeinflussen zu können, kehrt unter den Bedingungen der Globalisierung seine metaphysischen Seiten als ideologisches Oktroi hervor. 51 Entsprechend konkretisiert sich das Friedensverständnis in einem »Gegenangstbegriff« (Luhmann 1984, 453), welcher jedes als Versicherheitlichung gerechtfertigte Handeln stützt. 52 Die Begründung von Normen, wie sie zu den vornehmsten Aufgaben der Ethik zählt, dient der Vergewisserung dessen, was man
Der Luhmannsche (1973a) Begriff des Vertrauens als Mechanismus der Reduktion von Komplexität bringt dies auf d en Begriff. 52 Hajo Schmidt (2007, 255 ff.) sucht der fortgesetzten Belligerenz liberal-demokratischer Staaten und dem pazifistischen Selbstmissverständnis vermeintlicher KantNachfolge mit Hilfe der Psychoanalyse und dem Spätwerk Batailles näher zu kommen. 51
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ohnehin weiß, nämlich des allgemeinverbindlichen Wertes von Werten. Da selbige aber als Opportunitätsregeln gebraucht werden und also Ethik zum Garant sozial-moralischer Identität herabgewürdigt ist, kann die reflexionstheoretische nur als eine Ethik verstanden sein, die die dreifache Affirmation von Wissen, Dürfen und Wollen wieder in Kritik überführt. Äquivalente für die dreifache Kritik lassen sich in der Luhmannschen Theorie an den von sozialwissenschaftlicher Seite angemahnten Desideraten skizzieren: Beim Begründungsproblem geht es um die Artikulation der sachbezogenen Frage Was können wir wissen? Auf das aktuelle Problembewusstsein zugeschnitten, lautet die Übersetzung dieser Frage: Wie kann das Problem der Unbegründbarkeit von Normen beachtet werden, ohne sich gesellschaftspolitischen Dezisionismus einzuhandeln? Die Antwort lautet heute in der Regel: durch Prozeduralisierung. In diesem Sinne soll die von Luhmann vorgeschlagene reflexionstheoretische Ethik als demokratische Ethik fortentwickelt werden. Jede Politisierung der Moral aber läuft Gefahr, die utilitaristische Maxime raffinierter Nutzenkalküle oder das deontologisch-regelutilitaristische Argument sozialer Transzendentalien 53 zu erneuern und damit genau jene Konsequenz einzuhandeln, die Luhmann als weltgesellschaftlichen Anachronismus kritisiert. Denn die Verbindlichkeit solcher Metanormen setzt den gewaltmonopolistisch kontrollierten Nationalstaat voraus. Diese Komplikation eingerechnet wäre im Anschluss an diese nüchterne Diagnose eher ein anderer Weg zu beschreiten. Dieser richtet den Blick noch einmal auf die Stelle, an der die kantischen Postulate der praktischen Vernunft, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in die Grundrechte Sicherheit/Selbstachtung, Freiheit/Chancengleichheit und Subsistenz/Wohlfahrt verwandelt worden sind. Letztere wollen nicht mehr sein als empirische allgemein anzutreffende Werte, deren situationsangemessene Lesart in den Verfahren der Verständigung eruiert werden kann. Genau dies aber, nämlich ihr Wertcharakter, ist der Stein des Anstoßes, wenn Werte situationsabhängige Präferenzen und damit vom Kontext abhängig sind, in dem der Handelnde die von ihm gewählten Mittel meint legitimieren zu können. Blickt man genauer hin, so zeigt sich der Selbstbegründungszirkel eines Guten, das aufgrund seiner Güte für mich, allgemein gelten soll. Darin offenbart sich dessen Abhängigkeit von der Zurechnung der als wertvoll an53
Siehe Luhmann »Politik, Demokratie, Moral«, in: ders.: (2008, 175–195, 190).
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erkannten Präferenz. Nicht jedermanns Präferenzen kommen als Werte in Betracht, sondern nur all diejenigen, denen ich selbst zustimmen kann. Damit drängt sich ein weiterer sinnfunktionaler Zusammenhang auf, den zu übersehen die Weltgesellschaft in chaotisch-gewaltträchtige Zustände treibt. Dieser bezieht sich auf hermetische selbstreproduzierende, sich selbst bestätigende – autopoietische – Diskurskulturen, die Präferenzen Wert zusprechen und absprechen. All dies eingerechnet, fallen terminologische Korrekturen an, die an die Stelle von Werten die Reflexion auf sachliche, soziale und zeitliche Modi des sinnhaften Verfügbarmachens möglicher Werte setzen. Diese Trias lautet Selbstreferenz, Zurechenbarkeit und Autopoiesis. Verglichen mit den Angeboten der Tradition handelt es sich hierbei um sehr abstrakte Formeln, die das Ergebnis einer von Luhmann für notwendig erachteten Formalisierung des kantischen Formalismus darstellen. Dieser wird regelrecht überboten, wo nach der Form von Prinzipen im Unterschied zur Form von Werten und Programmen gefragt wird. Indes werden die pragmatistischen Äquivalente – Sicherheit, Freiheit, Subsistenz – nicht aus ethischen Beweggründen korrigiert; sie gelten vielmehr als anachronistisch, nämlich auf ein heute überlebtes hierarchisches Gesellschaftssystem zugeschnitten. Der zweite Kritikpunkt an der heute kursierenden Semantik der Werte und der Wertegemeinschaft bezieht sich auf unabdingbare Sinnfunktionen, die in dieser Semantik unterschlagen würden. Solche Funktionen beziehen sich auf sachlichen, sozialen und zeitlichen Sinn, in dessen Rahmen heute Probleme des Wissens, des Dürfens und des Hoffens, oder anders gesagt, der Logik, der Moral und der Ontologie traktiert werden. Warum Anachronismus und warum funktionale Unersetzbarkeit? Grund ist ein gesellschaftsstrukturell bedingter Wandel des Formgebrauchs, 54 der das Ausmaß deutlich macht, in dem jener von sozialwissenschaftlicher Seite erhobene Anspruch, Normen begründen, anwenden und institutionalisieren zu können, bodenlos wird. Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass wir sachlich, sozial und zeitlich dimensionierte Desiderate, mithin Desiderate des Wahren, Der neue Fundierungstyp ist Folge der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, der Orientierung an zweiwertigen Codes: Das Wertige ersetzt das Prinzipielle (Luhmann 1997, 105 ff.).
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des Guten und des Erwartbaren in die Form von Prinzipien kleiden, die ganz bestimmte Entscheidungen legitimieren lassen. Sicherheit, Freiheit, Subsistenz und daraus abgeleitet Demokratie, Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte werden als Prinzipien interpretiert zu Ursachen wertvoller Wirkungen, zu rationalen Mitteln von bevorzugten Zwecken und zum Grund kalkulierbarer Folgen. Die moderne Prinzipienlehre ist jedoch eine Semantik der Werte. Während sich Prinzipien durch eben jene kausale, rationale und konsequenzialistische Relation zum Handeln und zur Entscheidung auszeichnen, ist der Begriff des Wertes von eben solchen Relationen freigestellt, um auf wechselnde Präferenzen und Situationen reagieren zu können. Prinzipien sind finalistisch, Werte sind rekursiv strukturiert, das heißt, sie reagieren auf ihren momentanen Rang in der Liste aktueller Bewertungen. Werte als Prinzipien zu behandeln bedeutet, eine moderne auf die Bedürfnisse der komplexen funktional differenzierten Gesellschaft zugeschnittene Semantik mit den Legitimationsinstrumenten der überkommenen hierarchisch strukturierten Gesellschaft auszustatten. Aus der weltgesellschaftlichen Perspektive des so genannten Rests betrachtet, ist dies unredlich. Denn den Rang von Prinzipien erreichen Grundsätze nur in Gesellschaften, die über eine hierarchische Spitze oder über ein Zentrum verfügen. Spitze und Zentrum aber gibt es nur für normativ integrierte Gesellschaften, die sich als Gemeinschaften verstehen. Diese können zumindest idealiter und von den strukturellen Bedingungen unterstützt, für eine von Prinzipien geleitete Gestaltung des Gemeinwesens Sorge tragen. Heterarchisch strukturierte arbeitsteilig organisierte moderne Gesellschaften handhaben ihre Präferenzen hingegen als elastischen Opportunismus (Luhmann 1968, 24). Dies ist die funktional übersetzte Bezeichnung von Werten. Während Werte noch über den Metawert der Effizienz und der Legitimität an Entscheidungen gebunden sind, ist eine vollständige Entkoppelung erst dort erreicht, wo Werte die Form von Programmen annehmen. 55 Und dieser Zustand wird für Gesellschaften diagnostiziert, die restlos auf den funktionalen Differenzierungstypus umgestellt sind. In die Form von Programmen gebracht, legitimieren Werte nicht nur beliebige Entscheidungen. Sie statten diese Entschei-
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Röttgers (2009) spricht von Werte-Politik.
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dungen mit einer zusätzlichen, die Autorität von Prinzipien noch übertreffenden bindenden Kraft aus, indem sie dieselben als Vorgriff auf realisierte Werte interpretieren. Wieder aus der globalen Perspektive jener Betroffenen betrachtet, die Opfer programmatisch legitimierter Entscheidungen werden, fehlen nunmehr jegliche Ansatzpunkte für Einspruch und für Widerstand. Denn Einspruch und Widerstand könnten sich nicht mehr auf den Nachweis fehlender Legitimität und fehlender Effizienz stützen. Wo es sich um einen Vorgriff auf in Zukunft zu erwartende legitime und effiziente Verhältnisse handelt, greifen solche Einwände nicht mehr. In zivilen und militärischen Handlungsbereichen sind Opfer jetzt Kollateralschäden. Sobald legitime Wege des Widerstands so grundsätzlich verstellt sind, werden die Betroffenen terroristisch. Der Terrorismus ist gleichsam die Praxis begründungsunfähigen Widerstands. Er tritt historisch in jenen Zeiten besonders häufig auf, in denen Gesellschaften ihre Institutionen absolut setzen und damit bedingungslose Akzeptanz einfordern. Der Übergang vom hierarchischen zum funktionalen Differenzierungstypus vollzieht sich gewaltsam. Im sechzehnten Jahrhundert wird Religion durch das von Martin Luther dementierte religionsmoralische Widerstandsrecht zum Erfüllungsgehilfen der Ständemoral und delegitimiert (»schlagt sie alle tot!«) auf diese Weise Bauernaufstände, die sich gegen ungerechte Grundherren richten. 56 Dies führt zum Funktionsverlust des Gewissens bezogen auf ein Handeln, das religionsmoralische Grundsätze (zehn Gebote) gegen ständemoralische Grundsätze (Vorrechte) behauptet und dadurch mit dem geltenden standesherrschaftlich garantierten positiven Recht in Konflikt gerät. Das Gewissen verliert also gleichsam seine Funktion einer Institution 2. Ordnung, die einspringt, wenn die Konfliktregelungskompetenz der Institutionen 1. Ordnung (Monarch, standesherrliche Gerichtsbarkeit) versagt. Diese Institution 2. Ordnung findet gleichwohl in Beichtpraxis und Kirchenasyl eine institutionelle Stütze. Da die Kirche aber nicht als gewaltgestützter gesellschaftlicher Ordnungsgarant auftritt, können die beiden Praxen nicht als Institutionen 1. Ordnung eingestuft werden. Der Protestantismus wird sich in der Folgezeit für deren Abschaffung einsetzen.
Zum Verhältnis des Protestantismus zur Gewalt siehe John W. Graham, »Krieg und Protestantismus«, in: Kobler (1928, 85–88).
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Paradox ist diese Entwicklung insofern, als der Funktionsverlust des Gewissens den Beginn einer Semantik des Gewissens markiert, die bis in die Moderne hinein Bestand haben wird. Das Gewissen ist jetzt nicht mehr ein Ausgleichsmedium, das im Konfliktfall zwischen Religions- und Ständemoral vermittelt. Es wird vielmehr zur Stütze einer jetzt zur religions- und ständemoralischen Einheit verschmolzenen Konfession. Der protestantische Landesherr ist zugleich das kirchliche Oberhaupt, sodass die katholischen Untertanen, die an der Differenz von Religions- und Ständemoral festhalten, per se in den Verdacht politischer Abtrünnigkeit geraten. Denn sie erkennen nicht den Landesherren, sondern nur den Papst und damit das Kirchenoberhaupt als obersten Hüter religionsmoralischer Grundsätze an. Diese Abwertung des Gewissens als Instanz der Entparadoxierung, des Ausgleichs, des Vereinbarmachens von Unvereinbarem und seine Aufwertung zum Artikulationsorgan subjektiver Überzeugungen, die jetzt als Glaubenswahrheiten anerkannt sind, fördert den politischen Absolutismus. Denn der protestantische Fürst ist als geistliches und weltliches Oberhaupt doppelt legitimiert. Dieser herrschaftstechnische Vorteil wird auch für katholische Landesherren zunächst zur Versuchung, dann zur Überlebensnotwendigkeit, nachdem mit Wilhelm I und Bismarck ein protestantischer Fürst die deutsche Nationalstaatswerdung durchsetzt. Im Kulturkampf um die Jahrhundertwende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert konkretisiert sich dieser Funktionswandel des Gewissens vom Organ der Vermittlung von Unvermittelbarem zum Organ der Vergewisserung und Durchsetzung von Überzeugungen, der in säkularisierten Versionen bis heute öffentliche Diskurse bestimmt. Die Kritik Kants (KrV AA III, 442) richtet sich im achtzehnten Jahrhundert gegen das absolutistische Prinzip in seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Das betrifft eine spekulative Theologie in Deutschland, die von einer gottgewollten Harmonie von Glaube und Wissen überzeugt ist und auf dieser festgezimmerten Legitimitätsgrundlage dem politischen Absolutismus eine konfessionelle Stütze verschafft. Es betrifft aber auch den vernunftrechtlich-atheistischen Absolutismus eines prärevolutionären Frankreich, den »Pöbel der Vernünftler«, der die Vernunft für allmächtig und Gott für eine menschliche Schöpfung erklärt. Die Entwicklung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts wird nicht das kantische Differenzbewusstsein, sehr wohl aber dessen Sprache der Kritik und des Republikanismus übernehmen. 61 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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Bis in die jüngste Vergangenheit beschleunigter Globalisierungsprozesse schien der euro-atlantische Raum zu keiner Kurskorrektur gezwungen, weil der kaum angefochtene Eurozentrismus des modernen Projekts funktional differenzierter Systeme allenfalls rechte und linke Varianten desselben kannte. Aber fremde Kulturen und Religionen inklusive den entsprechenden Formen der Vergesellschaftung mussten nicht ernstgenommen, sondern konnten als vormoderner Atavismus getrost ignoriert werden. Die Semantik der Werte kondensiert beide Traditionen der atheistischen und der theologischen Legitimation und wird damit nahezu unanfechtbar, weil sie alle fremdkulturellen Präferenzen ins amoralische Abseits verdrängen kann. Dieses Fremde entwickelt dort, wo es sich in keiner Weise mehr Gehör verschaffen kann, terroristische Äußerungsformen. Mit überlegenem Waffengebrauch lässt sich auf weltgesellschaftlicher Ebene nicht kompensieren, was auf der Ebene von Ethik und Moral nicht geleistet oder sogar verspielt wird. Vor diesem Hintergrund sind Vorschläge zu einer ethischen Semantik, die gesellschaftsstrukturelle Voraussetzungen nicht ignoriert, hochinteressant. Denn obgleich aus dem inneren der Sozialwissenschaften heraus formuliert, zielt der systemtheoretische Beitrag nicht in die begründungstheoretisch abgesicherte politisch-sozialtechnische Richtung eines zivil-militärischen Interventionismus, der Widerstand und kollektive Abtrünnigkeit nur verstärkt. Der neuralgische Punkt, in dem die Systemtheorie ins innerste Gebiet der philosophischen Ethik vorstößt, ist die sinnfunktionale Differenzierung moralischer Abschlussformeln, die jeweils Illusionen nähren oder abbauen. Nur ein illusionsloser Begründungsdiskurs kann verhindern, dass die Berufung auf unsere Werte jedem fremdkulturellen Sinnverständnis die Legitimationsgrundlage entzieht und terroristische Widerstandsformen provoziert. Nicht auf den materialen Gehalt der Abschlussformeln kommt es an, nicht darauf, mehr Bedürfnisse und Präferenzen in die Liste der Menschenrechte aufzunehmen. Denn die Menschenrechtssemantik sagt nichts über die sinnfunktionale Bedeutung, anders gesagt, über den Formgebrauch aus, der absolutistisch-kriegerische oder kritisch-friedliche Methoden nahelegt. Die vorangegangenen Überlegungen zusammenfassend lassen sich die Unterschiede des Formgebrauchs folgendermaßen schematisieren:
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Prinzip
→ Entscheidung =
Wert → Entscheidung = Programm → Entscheidung =
Legitimation bestimmter Entscheidungen Legitimation beliebiger Entscheidungen Legitimation beliebiger Entscheidungen als Vorgriff auf bestimmte Prinzipien und Werte.
Der veränderte Formgebrauch verlangt von der Ethik, eine Semantik zu entwickeln, die auf die moderne funktional differenzierte Gesellschaft zugeschnitten ist und sich nicht länger mit geborgter Autorität ausstattet. Das seit Kurt Gödel nicht nur die Logik beschäftigende Unbegründbarkeitsproblem 57 lässt sich durch Prozeduralisierung nur lösen, sofern es einen Konsens bezüglich bestimmter Verfahrensregeln gibt. In der diskursethischen sieht Luhmann aus diesem Grund nicht die metaphysikabstinente Lösung für das Problem unentscheidbarer Letztbegründungen; er sieht hierin eine auf halber Strecke stehen gebliebene Metaphysikkritik. Und da dieses Stehenbleiben reiner Willkür entspringt und allein den Vorteil mit sich bringt, jeweils für die eigene Position autoritative Geltung beanspruchen zu können, mögen derlei Theorieentscheidungen gerade unter dem praxisbezogenen Aspekt einer zusammenwachsenden Welt gefährlich werden. Statt in den Sozialwissenschaften diesen Strang aufzugreifen und nachzufragen, was sich hinter einer solchen Metakritik verbergen könnte, wird häufig genug die bloße Tatsache des Abweichens vom geläufigen diskurstheoretischen Sprachspiel als Hinweis auf ein Zurückbleiben hinter dem erreichten metaphysikkritischen Standard interpretiert. Es ist vorwiegend das aufgekündigte blinde Vertrauen in die Problemlösekraft kommunikativer Verfahren, womit Luhmann vorkritisches Denken ganz ähnlich bekämpft wie seinerzeit Kant die naive Variante des aufklärerischen Fortschrittsdenkens. So können von philosophischer Seite gerade die an Luhmann am stärksten kritisierten Punkte als Einsicht in konstitutive Schwachpunkte der etablierten Philosophie und Soziologie gewürdigt werden. Das so genannte Begründungsproblem, aber auch Anwendungs- und InstitutionenproDer von Luhmann (2008, 175) betonte Aspekt betrifft das prekäre Verhältnis von Politik, Demokratie und Moral. Ökonomie und Politik sind im »Arrowschen Unmöglichkeitssatz«, mit dem die Grenzen der Wahrscheinlichkeitsberechnung als Grenzen der Legitimierbarkeit von Entscheidungen sichtbar werden, im ethischen Sinne herausgefordert.
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blem stellen sich bei Luhmann nicht mehr in dieser traditionellen Form der Konstitution von Geltendem, von geeigneten Formen der Durchsetzung dieses Geltenden und der enttäuschungsfesten Instituierung dieses Geltenden. Den eigentlichen Bruch mit der Tradition sieht Jean Clam (2000, 299) in einer »neuen Gestalt der Intellektion«, die darin besteht, sich an Differenz statt an Identität zu orientieren. Wichtig ist zu sehen, dass nicht von einem neuen Paradigma, sondern von einer neuen Gestalt der Intellektion gesprochen wird. Ein Paradigma ist eine Generalperspektive, die alles in ein neues Licht rückt. Diese kann gewählt oder nicht gewählt werden, aber zwingend ergibt sie sich allenfalls im Kontext bestimmter Zeitströmungen, die Denkrichtungen in ihren Bann ziehen und die zu ignorieren nur um den Preis des Unzeitgemäßen möglich ist. Was ein solches Paradigma als durchsetzungsfähig auszeichnet, ist seine Plausibilität. Der Begriff Intellektion zielt nicht auf die Kontingenz der Perspektive, sondern auf das Problem paradoxer Konstitution. Aber er betont nicht die lähmende Wirkung diesbezüglicher Einsicht, sondern deren erhellende Potenz. 58 Es lohnt, den ethischen Implikationen dieser neuen Art der Intellektion auf den Grund zu gehen. Denn diese rührt an die Soziologisierung aller Sinnfragen, die sich als innere Logik nachmetaphysischen Denkens aufdrängt. Die Krise apriorischer Diskurse wird dann irrelevant, wenn die postontologische Theorie Luhmanns tatsächlich die Differenz metaphysischen und nachmetaphysischen Denkens hinter sich gelassen haben sollte. Diese Krise ist für aktuelle Diskurse bestimmend, seitdem Heidegger Fragen nach dem Letztboden von Sinn jede Berechtigung abgesprochen und die »Freigabe von Sinn- und Bestimmungsfragen an Verfahren« (Clam 2000, 297 f.) eingeleitet hatte. Folglich wäre der Begriff des Postontologischen gegen den des Nachmetaphysischen ins Feld zu führen. Interessant ist dabei, dass die Soziologisierung des Sinns, verstanden als disziplinübergreifendes Vertrauen in die immanente Rationalität kommunikativer Verfahren, ausgerechnet durch die Soziologie rückgängig gemacht wird. Nach Clam hat die Philosophie der Soziologie die Klärung der Bedingungen unverfälschter Selbstbestimmung überlassen. Unverfälscht aber sei nur noch die Einsicht Es handelt sich um eine Theorie, die »obgleich Paradoxien thematisierend und auf einer sehr hohen Reflexivitätsstufe selber ›gödelisiert‹, trotz allem noch Einsicht in Phänomene gewährt, sie überraschend erhellt und damit stets Informationsgewinne verbucht.« (Clam 2000, 299, Anm. 6).
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in die Änderbarkeit des Letztbodens von Sinn. Was bleibt, ist Variabilisierung, diskursive Verflüssigung, Zersetzung und Aufhebung aller überkommenen Geltungen. In der Regel wird dort, wo Luhmann rezipiert wird, das Desiderat postontologisch zu argumentieren, mit nachmetaphysisch übersetzt oder verwechselt, beziehungsweise es wird eine besonders radikale Lesart dieses Nachmetaphysischen hineininterpretiert. 59 Für die Politikwissenschaft führt eine solche Radikalisierung typischerweise zu einem Denken, das Variabilität und Veränderlichkeit gegen Konstanz und Stagnation ausspielt. So zeigt sich systemtheoretisches als radikalisiertes nachmetaphysisches Denken, wenn die staatstheoretische Unterscheidung von Verändern/Bestätigen in ein modifizierendes Dual von Verändern/Verändern verwandelt wird. 60 Dieses Dual ist jedoch offensichtlich eine Identität und somit ein systemtheoretisches Dementi. Die Zweiseitenform ist um ihren Gegenbegriff gebracht; sie ist zugunsten absolut gesetzter Veränderung suspendiert. Man sieht, wie die als bloße Radikalisierung der metaphysikkritischen Position gelesene Systemtheorie am Kern dieser Theorie vorbeigeht und genau das preisgibt, was als post-ontologisch anvisiert wird, nämlich die Umstellung von Identität auf Differenz. Die einwertig gebrauchte Unterscheidung mündet in ein selbstidentisches Verändern um der Veränderung willen. Das beschreibt sehr gut den politischen Standort dieser sich selbst als nachmetaphysische Moderne bezeichnenden Semantik. Denn die Operation des Veränderns ist nun absolut gesetzt; alles Gute und Richtige folgt aus der Kontinuität der Strukturänderung, organisiert als Reform oder als Umsturz. Offensichtlich ist, dass die Diktion nachmetaphysischen Denkens die Grundlagen kultureller Orientierung allenfalls für die so genannte klassische Moderne liefern kann, die aus der Hoffnung in eine zukünftige gute Gesellschaft lebt. (Luhmann 1992, 13). Für eine von Migrationsbewegungen, terroristischer Unterwanderung und völkerrechtlich ausLuhmann wird als Theoretiker der Kontingenz mit Richard Rorty genannt. Die Verwerfungslinien scheinen nicht ethisch relevant, so bei Jahraus (2011, 100): Für Rorty sei Kontingenz bestimmend und werde zur gesellschaftlich kritisch-ironischen Kraft; für Luhmann sei Gesellschaft, weil sie aus Kontingenz heraus entstehe, nicht kontingent. 60 Zur kritischen Metalektüre siehe Andreas Göbel »Politikwissenschaft und Gesellschaftstheorie. Zu Rezeption und versäumter Rezeption der Luhmann’schen Systemtheorie« (in: Berg/Schmidt 2000, 134–174, 152). 59
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gehöhltem Gewaltverbot durchzogenen Weltgesellschaft liefert sie indes keine Anhaltspunkte für praktisches Handeln. Das Paradigma nachmetaphysischen Denkens lässt stets nach dem Abschlussgedanken fragen, der dem metaphysikkritischen Verfahren dadurch standhält, dass er dieses Verfahren selbst als rational und unüberbietbar zementiert. In dieser Rolle fungieren Diskurs, Wandel, Veränderung im Sinne von Werten, die jedes politisch korrekt semantisierte Handeln legitimieren. Im Gegensatz dazu führt die Maxime, sich an Differenz statt an Identität zu orientieren, zu einer neuen Gestalt der Intellektion, die die Paradoxie produktiv werden lässt. Zunächst weist sie auf den Zirkel hin: Der belastbare Abschlussgedanke des metaphysikkritischen Unterfangens ist eine Umschreibung des belastbaren Abschlussgedankens nachmetaphysischer Denkanstrengung. Der Begriff der Rationalität kommunikativer Verfahren meint nichts Anderes; er umschreibt die Selbstbezüglichkeit eines Rationalen, das auf rationale Weise zustande zu bringen ist, das rationalen Kriterien genügen muss. Der Begriff der symbolischen Generalisierung betrachtet solche Abschlusskonstrukte im Hinblick auf das, was sie verdecken und vortäuschen . 61 Es handelt sich dabei um einen Vorgang des Aufschlüsselns von Sinnfunktionen. Da der kantische Begriff des Rationalen noch nicht den hohen Ansprüchen an Begründung wissenschaftlich-technischer Projekte zu genügen hatte, bedarf es heute eines neuen Begriffs, der die rekursive und damit in Unbegründbarkeit mündende Struktur von Begründungen zum Ausdruck bringen kann. Rationalität tritt nunmehr als letztbegründendes Prinzip zurück gegenüber dem Begriff der Selbstreferenz, der bloß noch ein Letztproblem angibt. Unschwer lässt sich hier erkennen, dass im Gegensatz zum metaphysikkritischen Verfahren das postontologische Vorgehen die Stellen erhellt, an denen der Frieden in Gefahr gerät. Dies ist immer dann der Fall, wenn sich Differenzen als unversöhnlich begegnen und sie tun dies, wo das unterscheidende Bezeichnen paradox wird. Nicht nur okkasionell, sondern immer und im Prinzip findet sich diese Paradoxie bei selbstregelnden Systemen. Diese sind deshalb kaum zu händeln, weil sie sich als Objekte, die als Subjekte agieren, als Mittel, Denn der Begriff ist zusammengesetzt aus Generalisierung als »operative Behandlung einer Vielfalt« und Symbol als »Medium der Einheitsbildung« (Luhmann 1984, 135).
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die ihren Zweck selbst definieren und als Konsequenzen ihrer eigenen Ursache nicht mehr unterscheidend bezeichnen lassen. Den Schritt von der postontologischen Theorie zur postontologischen Gesellschaftstheorie ist getan, sobald die strukturverändernden Konsequenzen solcher Einsichten bedacht werden. Der Gegensatz lässt sich nun scharf konturieren: Der sozialwissenschaftliche Umgang mit dem so genannten Begründungsproblem lässt ausgehend von den Grundsätzen nachmetaphysischen Denkens die Frage der Praxis als Frage nach den politikfähigen Organisationsformen stellen, die diesem Problem in angemessener Weise Rechnung tragen können. Die postontologische Problematisierung dieser umweglosen Politisierung lässt die Frage der Praxis hingegen mit dem beginnen, was Kant wichtig war. Denn der Sprung ins Feld politischen Handelns setzt entweder voraus, dass die Ziele und Zwecke evident sind, oder er setzt voraus, dass die Akteure politischen Handelns in der Definition von Zielen und Zwecken autonom gesetzt sind. Den ersten Fall sieht Kant mit dem Verlust der religionsmoralischen Einheit durch Konfessionsspaltung und anschließenden Konfessionskriegen als nicht mehr gegeben. Den zweiten mit dem politischen Absolutismus verknüpften Fall betrachtet Kant als gefährlich und infolgedessen als inakzeptabel. Wichtig ist es deshalb die Frage der Ziele und Zwecke neu zu formulieren und wichtig ist es eine Form der Formulierung zu finden, die nicht nur für die breite Bevölkerung, sondern auch für die politisch Verantwortlichen bindend ist. Die Antwort auf beide Fragen kulminiert in kategorischem Imperativ und republikanischer Ordnung, die nach den Grundsätzen dieses Imperativs konzipiert ist. Während der nachmetaphysisch fundierte westlich-abendländische Wertekonsens die doppelte Antwort Kants in den Zielformeln der Menschenrechte und der Demokratie als zivilisatorische Errungenschaften behandeln konnte, haben sich die Verstehensgrundlagen seither von Grund auf verändert. Allein die Semantisierung des kantischen Imperativs als Menschenrechte und der kantischen Republik als Demokratie verrät den Funktionsverlust zu bloßen Etiketten eines Guten und Vorzuziehenden degenerierter Zielformeln. Diese binden das Handeln in keiner Weise, sondern geben diesem freie Hand. Und die Demokratie ist qua Good Governance zu rechtsbeugenden Maßnahmen und außergesetzlichen Tötungen befugt, wenn Werte bedroht sind. An die Stelle der kantischen Rechtsbindung tritt in beiden Fällen die Rechtsentlastung. 67 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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Wieder also befinden wir uns an der Schwelle einer zeitgeschichtlichen Zäsur, die einen doppelten Verlust verkraften muss. Verloren sind allgemeinverbindliche Handlungsorientierungen mit bindender Kraft und verloren sind Organisationsprinzipien, die solchen bindenden Prinzipien Geltung verschaffen könnten. Es zählt zu den Aufgaben einer bisher nur in groben Umrissen gezeichneten reflexionstheoretischen Ethik, globalisierungstaugliche funktionale Äquivalente für kategorischen Imperativ und republikanische Ordnung auszuformulieren und damit von westlich-abendländischer Seite aus, der Welt mehr anzubieten als ein zivilisatorisches Überlegenheitsbewusstsein. 62 Dieser Anspruch scheint die Luhmannschen Vorgaben weit hinter sich zu lassen, liefern Moralskepsis und Moralkritik doch noch keine Anhaltspunkte für die Kriterien ethischer Reflexion. Dieser Einwand ist schon deshalb naheliegend, weil Luhmann die negativen Seiten der Moral hervorhebt. Allein dies setzt voraus, dass er die philosophische Idealtypik unterschlägt und allein die empirisch-soziologische Realität einer Beobachtungsweise für relevant erklärt, die bei Handlungen, Institutionen, Verhältnissen und Individuen gute und schlechte unterscheidet. Der soziologische Blick bemerkt jetzt eine Tendenz zu Streit, Intoleranz, Unduldsamkeit, Rache und Ungerechtigkeit. So what? ließe sich von philosophischer Seite sagen; welche Einsichten lassen sich daraus für eine Ethik gewinnen, die selbiges Beobachten beobachtet, wenn sie nicht ihrerseits Vorstellungen von einer idealen Form des unterscheidenden Bezeichnens von gut und schlecht einbringt? Luhmann selbst provoziert derlei Fragen, indem er Moral als Codestruktur beschreibt, die Wohlverhalten mit Achtung honoriert und Fehlverhalten mit Missachtung bestraft. 63 Solche Achtungskommunikation zwingt all diejenigen unter ihr Diktat, die solche Kommunikation mit ihren Reflexionen begleiten. Die Ethiktheorie wird Teil ihres Gegenstandes und also von der Gesellschaft moralisch beobachtet als humanistisch oder als anti-humanistisch, als philosophisch oder als anti-philosophisch. Dies ist nach Luhmann keine un-
Da es heute keine konsensfähigen »métarécits« mehr gebe, distanziert sich Luhmann (1996, 16) von dem im Anschluss an Husserl in der Philosophie noch immer vorherrschenden Vertrauen in die Heilungskräfte des abendländischen »VernunftTelos«. 63 Zur Funktion der Moral siehe Luhmann (2008, 97–122). 62
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gemäße Fremdzuschreibung, sondern ein Effekt der selbstreferenziellen Struktur jeder Ethik. Diese wird moralisch, indem sie Moral beobachtet. Es kann folglich nicht allein die Sache ethischer Reflexion sein, die Moral auf ihre negativen Seiten hin abzutasten. Denn ihr Gegenstand ist immer der gesamte Code, der zudem asymmetrisch strukturiert ist und folglich das Gute als Vorzugswert garantiert. Der Grund, weshalb sich Luhmann (2008, 280) in seinen Analysen den polemogen-problematischen Seiten der Moral zuwendet, liegt in deren kompletten Unterbelichtung durch die etablierten philosophischen Morallehren. Diese konzentrieren sich nicht nur auf den positiven Wert, sondern identifizieren das gesamte Phänomen mit demselben. 64 Gleichwohl bleibt die Beschäftigung mit dem Präferenzcode und das bedeutet, mit dem Guten, vornehmliche Aufgabe einer reflexionstheoretischen Ethik, die die Moral nicht begründen muss, da sie selbige vorfindet. Aber die ganze Mühe, die auf den Begründungsdiskurs aufgewendet wird, ist nicht nur entbehrlich. Sie ist nach Luhmann (2008, 271 f.) zudem schädlich und zwar für den positiven Wert, für das Gute. Denn »jede Begründung findet sich, durch ihren puren Vollzug, dem Vergleich mit anderen Möglichkeiten und damit dem Selbstzweifel ausgesetzt. Sie sabotiert sich laufend selbst, indem sie den Zugang zu anderen Möglichkeiten eröffnet, wo sie ihn verschließen möchte.« 65 Wenn dieser Weg so radikal verworfen wird und dennoch die Codestruktur als Ganze reflektiert werden soll, dann stellt sich die Frage nach ethikgemäßen Methoden des Eruierens ethischer Kriterien. Und da auch Kant davon ausgegangen war, dass die Moral vorgefunden werde und nicht erst begründet werden müsse, liegt es nahe, dessen Umweg über die kritische Reflexion auch für die systemtheoretische Suche nach den ethischen Kriterien moralischen Unterscheidens zu wählen. So kritisiert Ottfried Höffe (2008, 43) ausgehend von einem »philosophischen« Begriff der »Moral als das unüberbietbar Gute« an der Luhmannschen »Moral der Gesellschaft« die Reduktion auf ein empirisches polemogenes Phänomen, während solche Tendenzen doch eher Religionen, Konfessionen, Ethnien und Stämme auszeichneten. 65 Nach Krohn (1999, 320) sind moralische Kontroversen durch ein Wechselspiel von institutioneller Moral und Protestmoral sehr wohl in der Lage zu gesamtgesellschaftlichen Wertmustern beizutragen. Die Garantie übernimmt eine soziologische Typologie der sozialen Funktionen der Referenz auf Werte und Normen (Moral), der diskursiven Darstellung (moralische Reflexion), des Begründens (Ethik) und der verpflichtenden Begründung (Metaethik) (ebd. 316). 64
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Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht sagen, dass die Systemtheorie die genuin ethischen Fragen überspringe, um Ethik schlechthin auf das empirisch-statistische Beobachten moralischer Kommunikation zu reduzieren. Aber sie insistiert darauf, eine neue Form zu finden, die in Umgehung der Gefahr politischen Dezisionismus’, dem Unbegründbarkeitsproblem Rechnung zu tragen erlaubt.
Zum Anwendungsproblem: Die soziale Sinndimension Eine neue Form der Intellektion bietet die reflexionstheoretische Ethik, indem sie nicht nur die Paradoxien der Normbegründung sichtbar werden lässt. Noch wichtiger scheint ihr zu sein, dass diese Transparenz zu einer produktiven Bedeutungsverschiebung vom Begründen zum Anwenden von Normen führt. Es kommt wie im Werk Kants zu einer Aufwertung der Praxis, 66 dies aber nicht verstanden als Lösung jener fundamentalen Probleme der sachlichen, der sozialen und der zeitlichen Sinnorientierung. Nicht Lösung, sondern aktualitätsbezogene Wiedervergewisserung und semantische Neuordnung sind die stets wiederkehrenden Aufgaben. In die Irre führt hingegen das Festhalten an universell geteilten Vorverständigungen, die eine globale Verständigung erst möglich machen sollen. Dasselbe gilt für globale Standards der Normanwendung, an die gleiche und universal geltende Definition handlungsrelevanter Situationen. Und es gilt für weltumspannende Ziele, die durch mächtige Institutionen durchgesetzt werden sollen. Während der von Luhmann kritisierte ontologische, 67 als nachmetaphysisch legitimierte Zugriff Werte als idealtypische Identitäten benennt, in denen sich sachlicher, sozialer und zeitlicher Sinn artikuliert, verlangt der postontologische Standpunkt auf die Komplikation zu achten, die ein unterscheidendes Bezeichnen solcher Identitäten
Bei Heinz von Foerster (1993), dessen Kybernetik 2. Ordnung für die Ausarbeitung des Luhmannschen Ansatzes mitbestimmend ist, firmiert diese vorerst nur als Intention sichtbare Tendenz unter »KybernEthik«. 67 Als ontologisch bezeichnet Luhmann (1990, 88 ff.) ein Denken, das sich am Schema Sein/Nicht-Sein orientiert und also immer von der Frage geleitet wird: Ist etwas der Fall oder ist es nicht der Fall. Dieses Etwas ist eine Identität. Bei Descartes, Humes und Kant sieht Luhmann (ebd., 509) »Symptome der Verunsicherung« dieses bis ins 20. Jh. hinein erhaltenen Denkens. 66
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belastet. Gewahr werden der Paradoxie und Entparadoxierung fokussieren auf Unterscheidungen, nicht auf distinkte Werte wie Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit beziehungsweise auf idealtypische Konstrukte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechte. Luhmann nennt für jede der drei Sinndimensionen konstitutive Unterscheidungen, die sich vor den Wert und vor das idealtypische Konstrukt schieben. Die praktische zeigt sich bei Luhmann als operative Vernunft, die in der Normanwendung einen Vorgang der Entparadoxierung erkennen lässt. Dies will der Sache nach auch Kant, wenn er im Umgang mit einander widersprechenden Maximen die zentrale Aufgabe der praktischen Vernunft ausmacht und nicht in der Verwirklichung distinkter Maximen. Erst eine von Kant abweichende Lesart des Anwendungsproblems lässt Luhmann diesbezüglich einen blinden Fleck unterstellen. Bei Kant und Luhmann geht es um eine Antwort auf die Frage: Wer? Wer übt die Reflexionsfunktion im Sinne einer Festlegung möglicher Formen der Verwirklichung von Moralmaximen aus? Nach Kant kann dies immer nur jedes einzelne Individuum sein, das als Adressat von Moralmaximen um Normanwendung bemüht ist. Entfällt beim Individuum ein solches Interesse, so kann die Lücke nicht durch institutionelle Arrangements, durch Verordnungen und Zwangsmaßnahmen ausgefüllt werden. Denn Regelungen welcher Art auch immer sind ohne die Unterstützung des konkret einzelnen Menschen wirkungslos. Adressat der Normanwendung und zwar im Sinne kritischer Reflexion moralischen Unterscheidens kann auch Luhmann gemäß nur der einzelne Mensch sein und zwar jeder der inzwischen auf sieben Milliarden angestiegenen Zahl. Dieser Schluss drängt sich auf, nachdem der funktionale Differenzierungstypus den überpersönlichen, den kollektiven Akteur nur in der Rolle denken lässt, den Einzelnen von moralischen Verpflichtungen und Zumutungen freizustellen. Nur wer diese gesellschaftsstrukturelle Realität ignoriert, kann Intersubjektivität als hinreichenden Adressaten der Normanwendung und somit als Begriff ansehen, der die amoralischen solipsistisch-monologischen Seiten des Subjektbegriffs überwindet und durch diskursivdialogische Wertorientierung ersetzt. Wo gesellschaftliche Einrichtungen ins Moralgeschehen involviert sind, dort findet die Substitution des Moral- durch den Funktionscode statt. Dabei bleibt freilich jeglicher Prozess der Entmoralisierung den Moralsprachen verpflichtet, die historisch ausgebildet 71 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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sind. 68 Es geht folglich um Werte wie Freiheit oder Emanzipation, die erlauben zu tun, was immer notwendig zu sein scheint. Ungeachtet dieser Analysen gelten Öffentlichkeit im Allgemeinen und Ethikkommissionen im Besonderen als alleinige Adressaten der Normanwendung. Die Adressierung des Individuums bleibt als egologisch, als solipsistisch und als Ausweis der Überschätzung des konkret Einzelnen suspekt. 69 Dabei spielen weder bei Kant noch bei Luhmann Kompetenzüberlegungen eine Rolle. Kant bleibt mit dem Satz »du kannst weil du sollst!» 70 zwar dem aufklärerischen Zutrauen in die Fähigkeiten des Einzelnen, sich selbst mündig zu machen, weit mehr verpflichtet als Luhmanns nüchterne Abklärung der Aufklärung. 71 Die Adressierung des Individuums bei Kant und des konkret einzelnen Menschen bei Luhmann verdanken sich indes der Tatsache, dass kein anderer mich mündig machen kann 72 und dass es keine Steuerung selbstreferenzieller Prozesse von außen geben kann. Wieder ist es folglich ein Nicht-Können, das konkludente ethische Überlegungen plausibel macht und gerade nicht Vertrauen und Zutrauen in bestimmte Fähigkeiten bestimmter Akteurskonstrukte. Das gilt auch für die Verklammerung des Anwendungsproblems mit der Kybernetik zweiter Ordnung, die dazu zwingt, diesen konkret Einzelnen als Beobachter zu denken und damit seiner Systemexternität wieder zu entheben. Denn als Reflektierender wird der für ethische Reflexion zuständige einzelne Mensch zum Beobachter und das bedeutet zum Aktor, der eine Unterscheidung macht. Im Gegensatz zum handlungstheoretischen Begriff des Akteurs, der das individuelle gegen das kollektive Subjekt ausspielt und vice versa, ist der Begriff des Aktors bloß formaler Art. Da sich der Aktor ausschließlich auf Anders Uwe Schimank (1997, 331): Da »Moral nicht nur kompatibel mit einem funktionsadäquaten Operieren der Teilsysteme (ist), sondern geradezu eine Voraussetzung für diese«, geht es um die Steigerung der Problemlösekompetenz durch Moral. Die fehlende Reflexivität könne durch kritische Deliberation kompensiert werden. 69 Der kategorische Imperativ wird als introspektives Verfahren der Normenprüfung mit einer »in vacuo« gefällten Entscheidung gleichgesetzt. Siehe Kratochwil (1998, 128). 70 Kant, »Kritik der praktischen Vernunft« (KpV, A 171, 283). 71 So formuliert Luhmann in der programmatischen Antrittsvorlesung von 1967 den Charakter der Soziologischen Aufklärung, in: ders.: (1970, 66 f.). 72 Bei Kant (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung AAVIII, 35) ist dies die Folge menschlicher Freiheit und damit der Selbstbestimmung als unveräußerlich und damit nicht zu delegieren. 68
72 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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eine zurechnungsbedürftige Operation unterscheidenden Bezeichnens bezieht, ist der konkrete Mensch dort, wo er zum Beobachter wird, auch Beobachteter eines anderen Beobachters. Dieser Andere kann eine andere Person, es kann im Vorgang der Selbstbeobachtung aber auch die eigene Person sein. Jetzt kommt es auf die Art der Beobachtung an, welche Systemreferenz in den Vordergrund tritt. Geht es um bloß subjektive Wahrnehmung und um einen Bewusstseinsinhalt, so ist das psychische System adressiert. Wird eine Operation vom zweiten Beobachter als Kommunikation vermerkt, dann ist das soziale System adressiert. Der konkret einzelne Mensch aber ist beides, personales und soziales System. Die nachontologische Formulierung lautet: Es sei von verschiedenen Ebenen des Ordnungsaufbaus der Realität auszugehen, »die den Menschen sozusagen durchschneiden.« 73 So gilt ein paradoxer Befund: Ohne Zurechnung kein Beobachten. Was aber beobachtet wird, ist allein ein Systemzusammenhang, etwas, das sich durch unterscheidendes Bezeichnen konstituiert. Verfehlt wird damit der eigentliche Adressat der ethischen Reflexion, der konkrete einzelne Mensch. Weil dieser immer nur systemrelativ zugänglich ist und folglich sich selbst und anderen intransparent, bleibt jedes moralische Unterscheiden prekär. Der konkrete Mensch kann als personal oder sozial zurechenbarer Beobachter zwischen gut und böse/schlecht unterscheiden, er kann moralisch denken und kommunizieren. Aber er kann die ethisch zu nennende Reflexionsfunktion nur durch Selbstdistanzierung wahrnehmen, folglich durch Relativierung moralischen Unterscheidens, durch Abstand nehmen von der moralischen Be- und Verurteilung. Die Selbstdistanzierung als Voraussetzung für den friedlichen Umgang der Menschen miteinander muss als Gedanke und als Konzept immer wieder auf das aktualitätstaugliche Niveau der zeitgenössischen Denk- und Ausdrucksweise gehoben werden. Systemtheoretisch ausgedrückt: die reflexionsfunktionalen Chancen sind vom Gesellschaftssystem abhängig, innerhalb dessen bestimmte Semantiken plausibel erscheinen. Die Wahrnehmung der ethischen Reflexionsfunktion ist folglich im Zusammenhang von Gesellschaftsstruktur und Semantik lokalisiert. Hier zeigt sich ein genuiner Beitrag spezifisch soziologischer Analyse für die Ethik: Dies charakterisiert nach Luhmann (1995, 271) das Verhältnis der Soziologie zum Menschen.
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73 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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Im hierarchischen Gesellschaftstypus gewährleistet die Kontrollfunktion der Differenz von Ständemoral und Religionsmoral das erreichbare Maximum in der Durchsetzung von Moralmaximen. Wohl gemerkt geht es bloß um das erreichbare Maximum und keineswegs um eine der Religion oder gar der Kirche zuzuschreibende Kompetenz, das Gute zu erkennen und durchzusetzen. In der Übergangssemantik vom hierarchischen zum funktionalen Differenzierungsprinzip ist es die Öffentlichkeit, der das erreichbare Maximum in der Durchsetzung von Moralmaximen zuzutrauen ist, sofern Kant als Repräsentant gelten darf. Voraussetzung dieses Zutrauens aber bleibt, dass die Differenz von Moralnormen (Individuum) und Rechtsnormen (Gesellschaft) bestimmend ist. Die gesellschaftspolitisch einflussreichen Gegenwartstheorien erkennen diese von Kant auseinandergelegte Bedingung nicht mehr an, sondern betrachten Moralnormen (Menschenrechte) als noch nicht abschließend und vollständig kodifizierte Rechtsnormen. 74 Mit der Differenz entfallen nun aber auch kulturell nahegelegte Selbstdistanzierung und damit einhergehende Zurückhaltung im Be- und Verurteilen des Anderen und Andersartigen. Es gibt jetzt nur noch Anständige und Schurken. Für eine voll entwickelte ethnisch, religiös, kulturell durchmischte funktional differenzierte Weltgesellschaft entbehrt eine solche ethiktheoretisch fundierte Moral jeder Plausibilität. Darauf reagiert die ethische Reflexionstheorie der Moral. Um diesem Mangel abzuhelfen, bietet sie für die heutige funktional differenzierte Gesellschaft eine Unterscheidung an, die die Funktion der kantischen Unterscheidung von Moralität und Legalität erfüllt. 75 Da das Legalitätsprinzip per se alles erlaubt, was nicht verboten ist und somit jenen Friedensgedanken wieder unterläuft, den es eigentlich stützen soll, setzt Kant den Begriff der Moralität als Korrektiv und als motivationalen Grund eines unbedingten Willens zum Frieden ein, der dem Gesetzgebungsprozess die Richtung weist. Bei Luhmann tritt an diese Stelle der Gegensatz zwischen einer Moral, die aufgrund genuin polemogener Wirkungen per se dem Frieden abträglich ist Deshalb ordnet Habermas (1993, 111) Menschenrechte und Moralprinzip dem Demokratieprinzip unter. 75 Zu dieser Unterscheidung siehe Kant (KpV 1.T,1.B., 3 H. (II 93). Luhmann (2008, 337) benutzt den Begriff der »zivilisierten Ethik«, der qua Spezifikation sinnvoller Anwendungsbereiche der Moral problematische Folgen mit der Differenz von Moralcode und Rechtscode abfängt. 74
74 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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und einer Ethik, die dieser gegenüber kritisch Position bezieht. Bei dieser Gegenüberstellung tritt der Begriff der Moral die Nachfolge von Legalität an und der Begriff der Ethik ersetzt die kantische Moralität. Dies erscheint zunächst befremdlich, zeigt sich aber bei genauer Betrachtung als sinnfällig. Denn Legalität zielt bei Kant auf die empirische und somit jene Seite des Phänomens, die das Verhältnis der Menschen zueinander äußerlich bestimmt. Der systemtheoretische Begriff der Moral fasst diese Außenseite in einer noch weitergehenden Weise, indem er die mit gesetzeskonformem Verhalten verbundene Achtung als Charakteristikum jener sichtbaren Oberfläche beschreibt. Denn in seiner Funktion eines Gegenbegriffes zur Moralität kehrt Legalität auch seine negativen Seiten hervor: Wer um gewisser Achtungserfolge willen Gesetze achtet, wird dieselben übertreten, sobald die soziale Kontrolle wegfällt. Und er wird um der Achtung willen in Streit geraten. Der Begriff der Gerechtigkeit gewinnt vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Moral und Ethik eine Bedeutung, die den alten Begriff des Maßhaltens, der Vermittlung von schwer Vermittelbarem gegen eine von der Theorie der Gerechtigkeit (Rawls 1979) empfohlene Praxis verteidigt. 76 Während letztere von bloß hypostasierten universal gültigen Standards unveräußerlicher Rechte der Subsistenz und Selbstachtung (Rationalität), der Freiheit (Konsenssuche) und der Gleichheit (Reziprozität) ausgeht und also Ungerechtigkeit, klar zu benennen und Ungerechte, klar zu identifizieren weiß, vermag der als Kontingenzformel des Rechtssystems (Luhmann 1993, 214 ff.) sinnfunktional aufgeschlüsselte Gerechtigkeitsbegriff, dem Faktum fehlender universeller Standards eher gerecht zu werden. 77 Dieses sinnfunktionale Konstrukt ist es, das eine gesellschaftsstrukturell gestützte post-ontologische Lesart der praktischen Vernunft zu entwickeln erlaubt.
Faktisch wertet dies die alten Tugenden der modestas, mediocritas, der justicia und des Vermeidens von Extremen (Luhmann 2008, 296) auf. 77 Eine neuere juristische Luhmann-Interpretation spricht bezüglich der systemtheoretischen Begrifflichkeit nicht mehr kritisch von positivistischer Gerechtigkeitstheorie, sondern eher von Selbstkritik, Selbsttranszendierung und Subversion (Teubner (2007, 308 ff.; 2008); Renner (2008, 62 ff.); Osterkamp (2004). 76
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Zum Institutionenproblem: Die zeitliche Sinndimension Die zeitliche Sinndimension wird im Rahmen der politisierten, der demokratischen Ethik als Problem der Institutionalisierung abgehandelt. Plausibel erscheint dies allein aus dem Grund, weil Zukunftssicherheit als Erwartungssicherheit in Erscheinung tritt und der Begriff der Institution die operative, die gemachte und insofern durch Macht garantierte Erwartungssicherheit wiedergibt. 78 Die systemtheoretische Metabeschreibung sucht den Begriff der Institutionalisierung sinnfunktional aufzuschlüsseln, um auf diese Weise äquivalente Formen der Herstellung und des Garantierens von Erwartungssicherheit benennen zu können. Folglich müssten sich auch Äquivalente in Bezug auf Formen des Umgangs mit den Grenzen institutionalisierter Verhaltens- und Erwartungserwartungen ausfindig machen lassen. Diese beiden Sinnfunktionen der Institutionalisierung und des institutionalisierten Umgangs mit den Grenzen der Problemlösung durch Institutionalisierung müssen kulturell berücksichtigt sein. Fehlt die erste, so drohen Chaos und kollektive Gewalt, fehlt die zweite, so rücken totalitäre Strukturen in die vakant gewordene Funktionsstelle. Für die alteuropäische christlichabendländisch-religionskulturelle hierarchisch strukturierte Gesellschaft ist es der Dekalog, das erwartungssichere Einhalten der Zehn Gebote, der dem antiken Fatalismus eines als ausweglos und unbeeinflussbar betrachteten Schicksal zu entrinnen erlaubt. Erwartungssicherheit ist auch im Falle individuellen Zuwiderhandelns nicht prinzipiell gefährdet, sofern Reue einen Neuanfang im Sinne des Gesetzes möglich macht. Damit stellt die Gesellschaft ein Muster institutionalisierten Zukunftsvertrauens bereit. [tab]Allein die Widersprüchlichkeit dieser Gebote in Situationen extremer Gefährdungen und zwischenmenschlicher Herausforderungen zeigt das Ungenügen dieser Sicherheitsgarantien und verlangt nach einer weiteren Institution, die einspringen kann, wenn die christliche Moral nicht mehr weiterhilft. Dies ist der Fall in Situationen, die es erforderlich erscheinen lassen, einander ausschließende Gebote simultan zu befolgen: Wie soll ich einen Mitmenschen schützen, wenn ich weder lügen noch töten darf? Die Institution 2. Ord-
Wolfgang Kerstin (1998, 525) spricht paradigmatisch von »institutionalistischer Ethik«, die sich auf eine »prinzipienbegründete Friedensverfassung« beziehe.
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76 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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nung, die mit der dysfunktional gewordenen Institution des Dekalogs umzugehen erlaubt, ist das Gewissen. [tab]Der Äquivalenzfunktionalismus lenkt das Augenmerk auf all jene Aspekte, die in kulturbestimmenden Artefakten ein Moment der Problemlösung ausfindig machen. Damit werden religiöse und säkulare Semantiken auf eine ungewohnte Weise dem Vergleich ausgesetzt. Die Frage lautet nun: hat diese Staffelung zweier Institutionen ihre Funktion verloren und wenn ja, warum? Gibt es ein Regelsystem, gewissermaßen eine Institution 1. Ordnung, die aufgrund einer konsistenten Gebots- und Verbotsstruktur das Korrektiv einer 2. Ordnung nicht mehr bedarf? Und: spielt die Säkularisierung in Bezug auf diese Frage überhaupt eine Rolle? [tab]Zieht man in diesem Punkt Kant als den für modernes säkulares Friedensdenken wegweisenden Philosophen zu Rate, so tritt die Unterscheidung von religiöser und säkularer Sinnorientierung in den Hintergrund. In seiner Kritik am aufklärerischen Institutionendenken macht Kant auf das Ungenügen des moral sense und eines hierauf gegründeten Sittenkodex aufmerksam, der nicht anders als der christliche Dekalog ein Regelsystem ist, das in konkreten Situationen verlangt, Ausnahmen zuzulassen. Die Säkularisierung zeigt sich in den Augen Kants als wirkungsloses Instrument der Friedenssicherung, sofern der säkularen Moral nicht eine weitere Institution zur Seite gestellt wird, die analog dem Gewissen der christlichen Religionsmoral Richtlinien für den Umgang mit dem Regel-AusnahmeSchema zur Verfügung stellt. Als eine solche Institution 2. Grades, die dort noch Rudimente von Erwartungssicherheit schafft, wo Menschen nicht wissen, ob sie eine Regel befolgen sollen oder ob sie sich in einer Ausnahmesituation befinden, führt Kant den kategorischen Imperativ ein. Einer derartigen Situation sieht sich der Mensch konfrontiert, wenn das Befolgen einer Regel die moralische Grundverfassung des Menschen schädigt. Auf den ersten Blick haben wir es hier mit einem Problemgegenstand zu tun, der in die soziale Sinndimension zu gehören scheint. Denn es geht um die Anwendung von Moralmaximen. Die Auflösung sozial-moralischer in zeitlich-zukunftsbezogene Fragen ist jedoch nicht nur für Kant, sondern auch für Luhmann geradezu charakteristisch. Sie folgt aus einer Kritik am utilitaristischen Denken. Was wir tun sollen, gilt beiden Autoren aus dem bloßen Grund schwer zu beantworten, weil es keine Methoden der Gewinnung von Zukunftssicherheit geben kann. Wir wissen nicht, was wir tun sollen, 77 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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weil wir nicht wissen können, was wir hoffen dürfen. Kant relativiert den im achtzehnten Jahrhundert an Einfluss gewinnenden Utilitarismus von David Hume; Luhmann relativiert den im zwanzigsten Jahrhundert an Einfluss gewinnenden Regelutilitarismus von John Rawls. 79 Denn um den allgemeinen Nutzen zum moralischen Metaprinzip erheben zu können, müssten die Folgen des Handelns kalkulierbar sein. Weder für Kant noch für Luhmann sind Verfahren denkbar, die Zukünftiges vorausberechnen lassen. Kant arbeitet mit dem Begriff der Mannigfaltigkeit, Luhmann mit dem der Komplexität, um die begrenzte Reichweite im Aufklärungsdenken überschätzter Kausalität (Ursache/Wirkung), Rationalität (Zweck/Mittel) und Konsequenzialität (Grund/Folge) dingfest zu machen. [tab]Die nützlichkeitsphilosophische Antwort auf die Frage, was wir tun sollen, hatte die komplizierte Staffelung einer Institution erster und zweiter Ordnung scheinbar entbehrlich gemacht. Denn sofern es verlässliche Methoden der Folgenkalkulation gibt, reichen Instituierung und Durchsetzung eines Nutzenprinzips beziehungsweise einer nützlichen Regelordnung vollkommen aus, um in jeder Situation richtig handeln zu können. Ausnahmen werden nur dort notwendig, wo der Nutzen unbekannt, wo Regeln nicht befolgt oder wo eine Regelordnung noch nicht durchgesetzt ist. Solche Defizite zu beheben ist Sache von wissenschaftlichem Fortschritt, von Erziehung, von Bildung und Aufklärung, vor allem aber von effizienten politisch-rechtlichen Maßnahmen. Es bedarf keines weiteren Instruments. Zukunftssicherheit stellt sich ein, sofern gemäß einem wohl begründeten allgemeinen Nutzen und/oder gemäß einem wohl begründeten Regelsystem gehandelt wird. Der kritische Einwand richtet sich zunächst gegen die Naivität einer solchen Argumentationsstruktur, die auf hypostasierte empirisch nicht überprüfbare Verläufe setzt. Da es sich nicht um Wissen, sondern um Wissenschaftsglauben handelt, bleibt die zeitliche Sinndimension mit einer im Prinzip und nicht bloß unter gewissen gegebenen Bedingungen unsicheren Zukunft befasst. Diese verlangt die Fragen zu beantworten, wozu gehandelt werden soll, welche Zwecke Der kontraktualistische Ansatz von Rawls ist darin regelutilitaristisch und nicht im Sinne Kants transzendentalphilosophisch, als es um nützliche Verfahren des Begründens von Normen für alle und nicht um Normenprüfung jedes Einzelnen geht. Siehe dazu Petersen (1996, 43).
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verfolgt werden und mit welcher Aussicht auf Erfolg gehandelt wird. Dieser zweite Teil der Frage betrifft den richtigen Zeitpunkt, wann eine bestimmte Entscheidung als vernünftig gelten darf. Allem voraus aber muss zunächst geklärt sein, wann die Anwendung des Moralschemas adäquat ist. Die aktuelle Antwort lautet: bei Risiken und Gefahren (Luhmann 2008, 261). Wo globale Umweltkatastrophen drohen oder das Leben ganzer Populationen durch Reaktorunfälle, durch terroristische Attentate und/oder durch militärische Interventionen gefährdet wird, scheinen die Grenzen politischen, ökonomischen oder juristischen Kalküls erreicht und ein Handeln ganz anderer Art gefragt zu sein. An die Stelle von Wahrscheinlichkeitsberechnungen, die Kommendes kalkulieren lassen, aber auch von institutionalisierten Verhaltensregulativen, die Zukünftiges erwartbar und dadurch sicherer machen können, treten politische Protestbewegungen als Seismographen der Akzeptanz systemrationaler Entscheidungen. In diesem Punkt greift der systemtheoretische Einspruch: Moral führt nicht weiter, weil Risiken und Gefahren keine Realität sui generis entspricht, die gezielt beeinflusst werden kann. Vielmehr haben wir es mit einer Perspektivendifferenz zu tun, die dafür verantwortlich ist, dass Gefahren typisch über- oder unterschätzt werden. Risiken konstruieren die Unwägbarkeiten der zeitlichen Sinndimension aus der Perspektive von Ego, Gefahren konstruieren dieselben aus der Perspektive von Alter. Risiken gibt es nur für den Entscheider, der so oder anders kalkulieren kann. Die Betroffenen jedoch sehen sich Gefahren ausgesetzt, die durch riskantes Handeln anderer verursacht werden. Es gibt keine gemeinsame Nutzenerwägung, keine gemeinsame Vernunft. 80 Die Grenzen der Nützlichkeitsethik und zwar sowohl des klassischen auf das Einzelhandeln bezogenen Utilitarismus’ als auch des auf Handlungssysteme erweiterten Regelutilitarismus, markieren die Grenzen der Institutionalisierbarkeit von Erwartungshaltungen. Denn zwischen guten und schlechten Entscheidungen lässt sich nur auf der Grundlage prinzipiell richtiger oder falscher Lagebeurteilung unterscheiden. Sofern koinzidierende Perspektiven universell unerreichbar und Hinzu kommt ein double standard: »Was die eigenen Entscheidungen angeht, ist man oft extrem risikobereit (…). Bei Gefahren, die einem von anderer Seite zugemutet werden, ist man dagegen hochempfindlich.« (Luhmann, »Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral«, in: ders. (2008, 362–374, 366).
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das rechte Maß der Gefahrendiagnose typisch und nicht nur ausnahmsweise verfehlt wird, drängt sich auch in Bezug auf die zeitliche Sinndimension wieder die kantische Frage nach den Erkenntnisschranken in den Vordergrund. Die Einwände gegen gestaffeltes Institutionendenken werden folglich ein weiteres Mal zurückgewiesen. Hinter der Kritik am vermeintlich ungelösten Institutionenproblem verbirgt sich der utilitaristische Glaube an die Entbehrlichkeit einer Institution 2. Ordnung, die mit Situationen verlorener Erwartungssicherheit umzugehen erlaubt. Dies wird aber notwendig, wenn kommunikative Verfahren und mithin die aktuell maßgebende Institution 1. Ordnung konsensuale Entscheidungen aufgrund perspektivischer Differenzen zwischen Entscheidern und Betroffenen hintertreibt. Aus diesem Grund gilt es nicht anders als beim Begründungsund Anwendungsproblem auch jetzt wieder den erkenntniskritischen systemtheoretischen Ansatz ernst zu nehmen, der nur erlaubt fundamentale in der Zeitdimension auftretende Problem artikulationsfähig zu machen. Das bedeutet zeitdimensionalen Fragen nicht mit nachmetaphysischen, sondern mit postontologischen Denkmitteln nachzugehen. Und dies wiederum impliziert, die Punkte herauszuarbeiten, in denen die De-ontologisierung gesellschaftstheoretisch greifbar wird. Gemeint ist damit stets die Umstellung von Identität auf Differenz. Bezogen auf die zeitliche Sinndimension heißt dies: Der Fokus richtet sich im Falle reflexionsethischer Überlegungen nicht auf das richtige Folgenkalkül, sondern auf die Perspektivendifferenz kontroverser Kalküle. Inwiefern die Differenz von Risiko und Gefahr die Unumgänglichkeit einer Institution 2. Ordnung vor Augen führt und damit zur Konturierung der reflexionstheoretischen Ethik beiträgt, ist bei Luhmann nicht ausgeführt. Erst eine solche Institution vermag indes Enttäuschungen zu verarbeiten, die im Zusammenhang mit den aktuellen Formen kommunikativer Ethik auftreten. Es sind gewisse Implikationen des Autopoiesisbegriffs in Bezug auf prohibitive oder permissive Einstellungen zu Fragen der Instrumentalisierung des Menschen für fremde Zwecke, die in dieser Richtung weiterdenken lassen. Das letzte Kapitel wird darauf näher eingehen. [tab]An dieser Stelle geht es um die Luhmann-Rezeption im Zusammenhang mit den großen Linien der Theorie. Und zu diesen gehört der Konnex von semantischen Artefakten und gesellschaftsstrukturellen Gegebenheiten. Die Umorientierung von Identität auf Differenz und damit die gewechselte Blickrichtung von rationaler, 80 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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konsensualer oder zumindest mehrheitlich gestützter Einschätzung von Risiken und Gefahren auf die Perspektivendifferenz von Entscheidern und Betroffenen, ist nur unter bestimmten gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen zu erwarten. Dies ist eine These, mit der Luhmann den philosophisch-soziologischen Diskurs über ethische Fragen herausfordert. Plausibilität gewinnt identitätslogisches Denken, das die rationale mehrheitlich gestützte Einschätzung von Gefahren und Risiken für möglich erachtet, in hierarchischen Gesellschaftssystemen, in denen die Macht, Probleme zu definieren und zu entscheiden, bei einer Spitze oder einem Zentrum liegt. In funktional differenzierten Systemen kann nur differenzlogisches Denken adäquat sein. Dies scheint als Quintessenz der Luhmann-Lektüre eindeutig. Bei genauer Betrachtung verschwimmen die Konturen: Im voraufklärerischen Gottesgnadentum tritt dieser semantisch-gesellschaftsstrukturelle Komplex als Dominanz der geistlichen über die weltliche Macht, im Absolutismus als Dominanz der weltlichen über die geistliche Macht in Erscheinung. Mag der kulturtragenden Idee nach die Machtakkumulation in Zentrum und Spitze durch den Dualismus von weltlicher und geistlicher Autorität, von Kaiser und Papst auch unterbunden worden sein, im Laufe einer über tausendjährigen Geschichte wird das Gewaltenteilungsprinzip immer wieder durch Konkordanzen aufgeweicht. In hierarchisch strukturierten Gesellschaftssystemen gibt es folglich jene viel beschworene Kompatibilität von Gesellschaftsstruktur und Semantik durchaus nicht per se. Aber weltliche und kirchliche Machteliten müssen um die Angleichung bemüht sein, wollen sie ihre jeweiligen Einflussbereiche erweitern. Sowohl reell als auch ideell entfällt jegliche Kontrollfunktion allerdings erst im europäischen Absolutismus. Erst mit dem Autoritätsverlust der christlichen Religionsmoral tritt die Semantik nicht mehr in Widerspruch zum hierarchischen Gesellschaftssystem. Das Auseinanderbrechen dieses Gesellschaftstypus in der französischen Revolution ist also gewissermaßen die Folge der Vollverwirklichung des hierarchischen Systems. 81 Das sechs bändige Werk Luhmanns über Gesellschaftsstruktur und Semantik lässt deutlich werden, dass gesellschaftlicher Wandel Die Beschränkung der Kompatibilitätsthese auf den europäischen Kulturraum ist im Hinblick auf die Entwicklungsgeschichte der Moderne nahegelegt; die These wäre für andere Kulturräume neu zu prüfen.
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keineswegs durch einen bestimmten Gesellschaftstypus bedingt ist. Sehr viel wahrscheinlicher wird die Annahme, dass es die mit semantisch-gesellschaftsstruktureller Einheitlichkeit einhergehende Vollverwirklichung einer Gesellschaftsform ist, die eingespielte Erwartungsmuster korrodieren lässt. Damit tritt die Differenz von hierarchischer und heterarchischer Verfassung zurück gegenüber der Differenz von rudimentärer und vollkommener Ausprägung eines Gesellschaftssystems. Der hierarchische Typus prädisponiert nicht an sich zum identitätslogischen Denken, vielmehr sucht die abendländische christlich geprägte Kultur in den namhaften Philosophen, den so genannten Kirchenvätern, dem differenzlogischen Prinzip Raum zu geben, indem Einheit im Transzendenten verortet und weltliche Immanenz dem Differenten preisgegeben wird. Das hierarchische System kehrt seine heterarchischen Seiten hervor, sobald sich die Menschen bewusst sind, dass sich absolutes Wissen, absolute Güte und absolute Macht im Irdischen nicht zurechnen lassen. Die fehlende Koinzidenz von gesellschaftsstrukturell vorgesehener Hierarchie und semantisch infiltriertem heterarchischem Prinzip befördert in der Vormoderne differenzlogisches Denken. Erst die Angleichung der Semantik an das hierarchische Ordnungsprinzip verhilft identitätslogischem Denken zum Durchbruch. In der Moderne hingegen, die Luhmann mit der Herausbildung des funktionalen Differenzierungstypus verknüpft, verhält es sich in gewisser Weise geradezu umgekehrt. Der Prozess gesellschaftlicher Ausdifferenzierung von Funktionssystemen erfasst seit dem siebzehnten Jahrhundert immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und führt zu einer Gesellschaft, die jene im Absolutismus erwirkte gesellschaftsstrukturell-semantische Koinzidenz als aufklärerische Errungenschaft übernimmt. Sie übernimmt damit auch das identitätslogische Profil, das die Einheit absoluten Wissens, absoluter Güte und absoluter Macht als Zielpunkt wissenschaftlich-technischer Bestrebungen und somit als Charakteristikum ihrer eigenen Aufklärungssemantik mitführt. Der Absolutismus hatte eine gegen die heterarchisch querdenkende christliche Religionsmoral gerichtete Einheitssemantik jedoch benutzt, um das hierarchische System von jeglicher Kritik abzuschotten und damit zu stabilisieren. Die Untertanen sollten nur noch der weltlichen Macht gegenüber loyal sein. Der protestantische Fürst ist moralisch-religiöses und politisches Oberhaupt in einem. Die aufklärerische Moderne ist umgekehrt bemüht, dieselbe 82 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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Einheitssemantik gegen das hierarchische System zu richten, um einem neuen gesellschaftlichen Differenzierungsprinzip – der Herrschaft des in Berufsgruppen unterteilten Bürgertums – zum Durchbruch zu verhelfen. Damit treten Gesellschaftsstruktur und Semantik nach und nach wieder auseinander. Je weiter sich die einzelnen Funktionssysteme von tradierten gesamtgesellschaftlichen Geltungen entfernen und eigene Formen des Perzipierens und Wertens entwickeln, umso mehr driften Einheitsvisionen ins Ideologische und Sektiererische ab. All dies erscheint den Übergangsgesellschaften jedoch als Problem vernachlässigbar, werden absolutes Wissen (Know How), absolute Güte (Gerechtigkeit) und absolute Macht (globales Gewaltmonopol) doch auf eine zukünftige ideale Gesellschaft projiziert. Damit bleibt identitätslogisches Denken konkurrenzlos, während das funktionale Differenzierungsprinzip gegenläufige Fakten schafft. Mit der fortschreitenden Emanzipation der Funktionssysteme von gesamtgesellschaftlichen Moralvorstellungen, mit der Herausbildung von Sondermoralen, wird jeglichem Einheitsdenken die Grundlage entzogen. Die Luhmann-Rezeption schließt aus dieser Entwicklung auf eine heterarchische semantisch-gesellschaftliche Konstellation. 82 Die soziologische Analyse würde die weitergehende philosophische Einlassung erübrigen, wenn es beim Passungsverhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik um eine Frage von Basis und Überbau oder um ein bloßes Phänomen sich verselbständigender Prozesse der Produktion von Semantiken handeln würde, die sich als Ausdifferenzierung neuer Systeme beschreiben lassen (Stichweh 2000, 242). Die Subsumption identitätslogisch-subjektphilosophisch-vernunftrechtlichen Denkens unter den Begriff des Diskurses weist dieser Deutung gemäß, anachronistischem Sprechen einen Platz im Funktionsganzen der modernen Gesellschaft zu. Als soziales System eigener Art kommuniziert der immer schon korrelativ integrierte Diskurs mit anderen Systemen, was dann angemessen im Begriff der strukturellen Koppelung beschrieben werden kann. Das Beunruhigende der These fehlender Passungsverhältnisse verschwindet vollRudolf Stichweh (2000, 241) lehnt die Redeweise einer Korrelation ab, weil Sinnzusammenhänge immer schon korreliert seien. Insbesondere gelte dies für Makrostrukturen: »Funktionale Differenzierung ist nicht vorstellbar ohne eine zugehörige Semantik funktionaler Differenzierung.« Dieses Korrelative könne konstitutiv, antizipativ oder nachträglich im Verhältnis zu der Gesellschaft, als deren Semantik fungieren.
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ends, wo der per se manifesten weil korrelierten Semantik eine latente Semantik zur Seite gestellt wird, die sich als Ferment dessen zeigt, was gemeinhin unter Kultur verstanden wird (Stichweh 1999; 2000, 247). Eben so, nämlich als fraglos Geltendes und womöglich als Zeichen einer Leitkultur, möchte die gegenwärtige Wertesemantik verstanden sein. Gegen den universalistischen Anspruch einer bestimmten Kultur spricht in keiner Weise, dass selbige bloß Unterscheidungen und Erwartungen vergangener Gesellschaften bereitstellt, sofern es sich bei dieser Vergangenheit um eine in besonderer Weise ausgezeichnete handeln sollte, zum Beispiel um die Aufklärung. Problematisch sind im weltgesellschaftlichen Kontakt jedoch gerade Diskrepanzen zwischen einer Sprech- und korrespondierenden Handlungsweise, die die gesellschaftsstrukturell gegebenen Margen legitimer Eingriffe sprengen. In Widerspruch treten in diesem Fall code- und programmgesteuerte politisch-wirtschaftlich-rechtlichwissenschaftliche Interventionen und eine an allgemeingültigen Werten orientierte Legitimationssemantik. Indem Luhmann Semantiken generell und nicht bloß latenten in kulturellen Symboliken fassbaren Semantiken ein Moment der Nachträglichkeit attestiert, sensibilisiert er für neuartige Probleme der Evidenz und Plausibilität in einer Zeit des Umbruchs von einem rudimentär ausgebildeten zu einem voll verwirklichten funktionalen Differenzierungstypus. 83 Das bedeutet, die Funktionssysteme erkennen nur noch Grenzen funktionaler Zuständigkeit an. Alles was außerhalb liegt und dazu gehören jetzt auch kulturelle, regionale oder ethnische Grenzen, gehören zur Umwelt der Gesellschaft. Diese gesellschaftsstrukturell bedingte Missachtung wird in einer Semantik systematisch verkannt, die auf zukünftig zu erwartende globale Achtung fixiert ist. Luhmann fasst dies gesellschaftliche Außen in den Begriffen Mensch und Natur zusammen und markiert damit den genuin problematischen und gefährdeten Status des konkret Einzelnen in seiner komplexen Natürlichkeit und Kultürlichkeit. Was jetzt auseinandertritt, sind gewissermaßen zweierlei Sprechweisen: Das code- und pro-
Nach Luhmann (1997, 539) benötigt Semantik geradezu Latenzen, weil sie das, was sie beschreibt, unterscheiden muss, »ohne dabei die Einheit des Unterschiedenen in die Beschreibung einbeziehen zu können.« Strukturbrüche könnten daher im Umbruch selbst nicht beobachtet und beschrieben werden, weil nicht miterfasst werden könne, »wie sich das Neue unterscheidet.«
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Politische oder »zivilisierte Ethik«
grammgemäße Sprechen kennt nur systemrelativ relevante empirische Daten, die all das informativ werden lassen, was im Horizont politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, therapeutischer oder erzieherischer Bemühungen sichtbar wird. An den Stellen jedoch, wo selbige Aktivitäten aus den empirisch relevanten Zonen auf das ausgreifen, was Luhmann im gegenbegrifflich gebrauchten Begriff der Realität zu fassen sucht – wo folglich der ganze Mensch in seiner Natürlichkeit und Kultürlichkeit empfindlich und somit Widerspruch herausfordernd betroffen ist –, dort camoufliert nämliches code- und programmorientiertes Sprechen den gemeinten Sinn als Einlösung der Heilsversprechen humanistischer Semantiken. Die Korrelationsthese scheint von hier aus gesehen gleichsam unentbehrlich, um Chancen der weltgesellschaftlichen Akzeptanz sich globalisierender politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher, wissenschaftlicher und erzieherischer Praktiken abschätzen zu können. Sie weist darauf hin, dass in einer voll entwickelten funktional differenzierten Weltgesellschaft heterarchisch-differenztheoretisches Denken an Plausibilität eben deshalb gewinnt, weil sich die eine christlich-abendländische und später die säkular-aufklärerische Moral in subsystemische Präferenzstrukturen ausdifferenziert hat. In keiner Weise sind damit bereits die Konturen dieses Denkens umrissen oder gar determiniert. Einem gegenwärtigen Trend zufolge wird dieses Denken eher als Stütze multipler Selbst- Lebens- und Weltentwürfe interpretiert und auf diese Weise wieder dem westlich-abendländischen Deutungsraum zugeordnet. 84 Die ethische Relevanz gewinnt diese Interpretation als entschiedenes Votum für Toleranz, für das Geltenlassen minoritärer Entwürfe. Damit läge der Gewinn einer reflexionstheoretischen gegenüber der begründungstheoretischen Ethik allein im spezifisch systemtheoretischen Beitrag zur weiteren Begründung dessen, was ohnehin gilt. Was gilt und von niemandem angezweifelt wird, ist Toleranz als Wertorientierung ersten Ranges. Und es ist nicht ein Versäumnis der Ethik, sondern der Sozialwissenschaften im Verein mit den Bemühungen praktischer Politik, wenn nicht alle Dunkelfel-
Kennzeichnend ist neben dem Begriff des Heterarchischen (nur aus einer polyzentrischen Perspektive heraus beschreibbar) Hyperkomplexität (konkurrierende Identitätskonstrukte) und Polykontextualität (Ontologie wird durch Mehrwertigkeit ersetzt). Siehe Fuchs (1992), Willke (1992), Giesen (1991).
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Systemtheorie und Ethik
der unzureichender Wertverwirklichung aufgespürt und Entwicklungen nachgeholt werden. Die Luhmannsche Systemtheorie sprengt aber gerade deshalb dieses Deutungsmuster und greift auf Themen philosophischer Ethik aus, weil sinnfunktional durchleuchtete Geltungen ihre unmoralischen Seiten hervorkehren. Beim Toleranzgebot handelt es sich bloß um eine symbolische Generalisierung, die statt konkretes Handeln anzuleiten, mit jedem Handeln vereinbar ist, das sich als Einsatz für Toleranz ausgibt. Wo der Verstoß offenkundig zu sein scheint, können moralwidrige Handlungsweisen immer noch als Intoleranz den Intoleranten gegenüber gerechtfertigt erscheinen. Eine dialektische den neuen Feindbildern adjustierte Formel zeigt die symbolische dann als diabolische Generalisierung, 85 die nicht mehr Leben schont, sondern tötet. Der innere Konnex von Symbol und Diabol lässt sich in seiner diskursbestimmenden Bedeutung kaum unterschätzen. Systemtheorie entwächst dem sozialwissenschaftlichen Rahmen, indem sie für diese Kippfunktion sensibilisiert. Damit sind die theoretischen Weichen für eine Ausdeutung des heterarchisch-differenzlogischen Denkens gestellt, das mehr leistet als alte Wertsymboliken adjektivisch anzureichern. Denn man weiß ja auch dann noch nicht, wie in konkreten Situationen mit Andersdenkenden zu verfahren ist, wenn man das multiple Profil in den Kreis der Werte aufgenommen hat. Der Umschlag symbolischer in diabolische Generalisierung zeigt die Gefahren der negativen Wirkungen guter Absichten. 86 Selbst die Orientierung an einem nützlichen Regelsystem löst das Problem nicht, dass gute Absichten schlechte Auswirkungen haben können. Ein Wertesystem qua Institution 1. Ordnung bedarf eines Korrektivs, das Enttäuschungen verkraften lässt. Luhmann (2008, 335) umschreibt das angesprochene Problem als »Paradoxie der moralischen Motivation«. Paradoxie verweist begrifflich auf die »Jeder Versuch, die Einheit der Unterscheidung als das Ganze zu symbolisieren, setzt sich der diabolischen Beobachtung aus – so wie nach einer alten Geschichte der Versuch, Gott zu beobachten als das, was sich größer, besser, mächtiger usw. nicht denken läßt, am Differenzproblem auflief und im Bösewerden des Beobachters endete: es blieb ihm keine andere Möglichkeit als: sich selbst zu unterscheiden.« (Luhmann 1990, 193 f.). 86 Nach Kant (KpV. 1, I.1.B.2. H. (II 78) bezieht sich das menschlich Böse im Gegensatz zu dem in der Sinnlichkeit wurzelnden Übel auf den Willen einer Schädigung und sei es zu guten Zwecken: »sofern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objekte zu machen.« Weil der Mensch die eigenen Motive nicht durchschaut, rechtfertigen gute Absichten keine böse Tat. 85
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Politische oder »zivilisierte Ethik«
blockierenden Wirkungen der Erfahrung, dass gute Absichten schlechte Wirkungen hervorbringen, schlechte Absichten aber mitunter auch zu guten Resultaten führen können. Das moderne Vertrauen in verfahrensförmige Zukunftssicherheit blendet das Problem moralischer Motivation aus. Denn Absicht und Resultat koinzidieren nicht mit Notwendigkeit, wenn es gelingt, bestimmte Erwartungshaltungen zu institutionalisieren, bestimmte Verfahrensmodalitäten durchzusetzen. Moderne Verfahren erfüllen Funktionen einer Institution 1. Ordnung, aber sie gefährden wie jedes Einheitsdenken den Weltfrieden, wenn das Korrektiv einer Institution 2. Ordnung fehlt. Aber wie könnte die Institution aussehen, die in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft als funktionales Äquivalent von Gewissen und kategorischem Imperativ plausibel ist? Da es sich immer um dieselbe Funktion handelt, bleibt das gesuchte Äquivalent auf eine plausible Semantik beschränkt. Und um zu einer solchen gelangen zu können, müssen gesellschaftsstrukturelle Gegebenheiten beachtet werden. Damit sind wir wieder beim methodologischen Profil der Systemtheorie: Für eine heterarchisch strukturierte Weltgesellschaft bleibt nachmetaphysisches, auf Identität (Wertegemeinschaft) setzendes Denken prekär. Akzeptabel bleibt für säkular oder religiös akkulturierte Gemeinschaften nur postontologisches, an Differenz orientiertes Denken. Wohlgemerkt geht es dabei eben gerade nicht um das multiple Design als kleinsten gemeinsamen Nenner einer weltkulturellen melting-pot-Identität. Denn dabei handelt es sich wieder um ein westlich-säkular bestimmtes identisches Muster, das zur Entgrenzung drängt. Dreht sich im nachmetaphysischen Denken alles um die Aufhebung der Grenzen, die Kant in Bezug auf ein Erkennen und Beeinflussen zukünftiger Ereignisse zu beachten empfiehlt, so sucht postontologisches Denken nachzuvollziehen, wozu eine solche Aufhebung führt und weshalb sie misslingt. Dazu müssen semantische mit sinnfunktionalen Nachfragen ergänzt werden. Dies ist notwendig, um den Wandel des Ethikverständnisses in Bezug auf die Friedensfrage abschätzen zu können.
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III. Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
1.
Moral und Religion in der Systemtheorie
Die Luhmannsche würde sich kaum von der klassisch kybernetischen Systemtheorie unterscheiden, wenn Reduktionen nur den Sinn hätten, die Fortsetzung von Systemoperationen gewissermaßen um jeden Preis möglich zu machen. Dazu hätte es nicht der theoretischen Bemühungen bedurft, den Sinn- zum Grundbegriff der Systemtheorie auszuarbeiten. 1 Die Anregung stammt nur vordergründig von Max Weber. Denn hier wird der Sinnbegriff als Sinnverstehen auf die Funktion beschränkt, ein Phänomen von seinen für ein Handlungssubjekt zweckdienlichen Seiten zu vergegenwärtigen. In einer Auseinandersetzung mit dem Weberschen Handlungsverständnis deutet bereits der Titel »Zweck, Herrschaft, System« auf ein von Weber distanzierendes Verfahren der Rückführungen bei Luhmann (1975, 90 ff.) hin. In der legitimen Herrschaft ist der Zweck als guter verbürgt und im Handlungssystem petrifiziert, sodass jede Kritik gegenstandslos wird. Die identitätslogische Herangehensweise zurrt Verschiedenes in einem Identischen zusammen: gute Herrschaft ist guter Zweck ist gutes System. Faktisches und Geltendes legitimieren sich wechselseitig und verschmelzen im Idealtypus, den zu kritisieren die humane Gestalt des Faktischen ins Mark treffen müsste. Der konkrete Mensch in seiner Gefährdung durch andere Menschen wird unsichtbar, weil die Institution des Gewaltmonopols das menschliche Gefährdungspotential in Schach hält. Um das Menschendienliche im Idealtypus wieder aufzufinden, bedarf es der Rekonstruktion jenes Scharniers, das Menschliches ein- und ausblenden Das Operieren mit der System/Umwelt-Unterscheidung ist eine von vielen Möglichkeiten, »Sinn«, verstanden als »Fungieren von Prämissen« (Luhmann, »Sinn als Grundbegriff der Soziologie« in: Habermas/Luhmann 1971, 25–100, 70), zu verwenden.
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Moral und Religion in der Systemtheorie
lässt. Die Funktion eines solches Scharniers, das die Transformation des Moralcodes in die Funktionscodes vorbereitet und bewerkstelligt, erfüllt nach Luhmann (2008, 316) die »sozialzirkuläre Selbstreferenz« als eine gewissermaßen unvermeidliche Folge der Säkularisierung: Moral wird von religiösen Begründungsfiguren abstrahiert und allein aus dem Zusammenleben der Menschen erklärt. Anders gesagt: Soziales begründet Soziales. Begriffe wie Solidarität, Reziprozität oder Perspektivenwechsel erhalten jetzt die Funktion, ein gutes Soziales aus sich selbst heraus dingfest zu machen. Es gibt gleichsam ein Etwas: Solidarität, Reziprozität, Konsens, in dem die Genese des guten Sozialen aus bloßen Erwartungen des Erwartens anderer als moralischem Fortschritt evident ist. 2 Indem Ego und Alter zirkulär aufeinander verweisen, erzeugen sie eine soziale Welt. Und da die Ego/ Alter-Selbstreferenz in ihrer Dynamik keiner der beteiligten Seiten transparent sein kann, nimmt das Außenverhalten, die Selbstdarstellung und Selbstinszenierung eine zentrale Stellung im moralischen Entwurf ein. So wird es nach dem Zerfall der alten religionsmoralischen Ordnung zur Sache der Ethiktheorie, Regularitäten des Außenverhaltens zu benennen, die zunächst noch relativ verhaltensnah formuliert sind, aber schließlich immer abstraktere Gestalt annehmen. Noch verhaltensnah sind die regelnden Kriterien von Utilitarismus und Transzendentalismus. Die Orientierung am moralischen Gesetz des kategorischen Imperativs ist ebenso wie das Nutzenkalkül am Handeln und am Handelnden ausgerichtet. Aber die Prozesse des Abgleichens von Ego/Alter-Synthesen, wie Luhmann (2008, 107) die Prozesse wechselseitiger Perspektivübernahme unter einem sinnfunktionalen Gesichtspunkt bezeichnet, bewegen sich vom Konkreten weg und auf abstraktere, symbolisch generalisierte Medien zu. Wer im Besitz von Geld, Macht, Recht, Wahrheit und Bildung ist, kann in seinen Bemühungen um eine Abstimmung des eigenen Erwartens mit den Belangen anderer Menschen nachlassen. Auch wenn jeglicher Transzendenzbezug fehlt, scheint ein sich selbst überlassenes Soziales, sukzessive den Weg zur Selbsttranszendierung wieder einzuschlagen, sobald es als gut ausgezeichnet werden
Nur vor diesem Hintergrund einer materialisierten Identität von Sozial und Moralisch lässt sich das Habermassche (1998) Vertrauen in ein »Bewusstsein kosmopolitischer Zwangssolidarisierung« erklären.
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Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
soll. 3 Die Analyse symbolisch generalisierter Medien legt einen Sinn frei, der sich zivilreligiöser Überhöhung von Geld (Kapitalismus als Religion), 4 von Macht (Souveränitätsverständnis des contrat social), von Recht (Vergerechtlichung), von Wahrheit (Szientistismus) und von Bildung (Selbstverwirklichung als Selbstvervollkommnung) äußert. Der von Luhmann (2000, 205 f.) als Kommunikationsmedium der Religion dingfest gemachte Glaube fügt sich ganz in diesen Kontext einer mit dem Guten verwachsenen funktionsbezogenen Medienstruktur: Der Glaube wird als Vorzugswert dem Unglauben gegenübergestellt und verliert seine kritische Potenz gegenüber zeitund gesellschaftsbedingten Wissensbeständen. Er wird zum Vehikel der Integration eines Subsystems Religion und als solches entweder evangelisch oder katholisch semantisiert ebenso wie Macht entweder basis-, repräsentativ- oder rätedemokratisch organisiert sein kann und Geld entweder markt- oder planwirtschaftlich. Es ist dieses spezifisch moderne in Konkurrenz- und Konfliktszenarien agierende Glaubensverständnis, zu dem sich nicht nur Kant, sondern heute Luhmann kritisch äußert. Offensichtlich verrät ein Aufschlüsseln des Verhältnisses von Gesellschaftsstruktur und Semantik nicht das Ausmaß, in dem eine Gesellschaft in Distanz zu ihrem moralischen Code tritt. In dieser Funktion, die Gesellschaft unter einer fundamentalkritischen Perspektive gegen sich selbst zu mobilisieren, verstehen sich Religionen idealtypisch nur unter der Bedingung, dass geistliche und weltliche Macht getrennt bleiben. Die Entdifferenzierung beider Bereiche im spätrömischen Kaiserreich hat zur Herausbildung einer christlichen Gegenbewegung geführt. Dasselbe Phänomen wird innerhalb des Renaissanceklerus des fünfzehnten Jahrhunderts die Religionskritik Luthers provozieren, welche – von Luther keineswegs bezweckt – zur Kirchenspaltung führt. Auch die Religionskritik Kants bewegt sich in dieser Tradition, wenn er Religion und Moral wieder voneinander abgrenzt und behauptet, die Moral bedürfe zu ihrer Begründung nicht »der Idee eines Wesens über ihm« und mithin keiner Religion, Moral führe aber Gunther Teubner (2007, 308 f.) zeigt dies am Rechtssystem: Es kommt zur SelbstTranszendierung, da Gerechtigkeit mehr sein soll als routinisierte Rekursivität der Rechtsoperationen. 4 Siehe dazu die Beiträge in Baecker (2003). 3
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Moral und Religion in der Systemtheorie
»unumgänglich zur Religion«. 5 Kant gebraucht hier den Begriff der Moral in der Bedeutung von Ethik, und den falschen Anspruch der Religion, Moral begründen zu können, als Dogmatismus, Pfaffentum und Afterdienst. Eine Religion aber, die in den Grenzen der Vernunft verbleibt, wird zu einer Exemplifikation der praktischen Vernunft, mithin auch der Moral. Sie hat ihren Ursprung in der wechselseitigen Bezogenheit von Begriff und Anschauung, die sich in transzendentalen Ideen äußert: der Idee der Seele (absolute Einheit des denkenden Subjekts), der Idee der Welt (absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung) und der Idee Gottes (absolute Einheit der Bedingungen aller Gegenstände des Denkens überhaupt). 6 In diesem Kontext gewinnen die drei Postulate Gott, Freiheit und Unsterblichkeit ihre eminente Bedeutung. In eine systemtheoretische Sprache überführt, manifestiert sich in den transzendentalen Ideen die paradoxe Einheit der Differenz von Ego und Alter im Falle der absoluten Einheit des denkenden Subjekts. Wir haben es hier mit der Explikation sozialen Sinns zu tun. Die Paradoxie der absoluten Einheit eines Subjekts, das als Gedachtes Objektcharakter annimmt, sucht nicht nur den Einzelnen in seinen Bestrebungen heim, ganz sich selbst und mit sich im Reinen zu sein. Sie unterminiert auch das Eins-sein mit den Anderen, systemtheoretisch gesprochen, die Ego-Alter-Synthese. Folglich bringt diese paradoxe Einheit die Differenz von Ethik und Moral als einer weiteren Paradoxie hervor: Ethik kommt als Reflexionstheorie der Moral nicht umhin, sich selbst auf der positiven Seite des Moralschemas zu verorten und damit genau jener Selbsttäuschung zu unterliegen, die moralischer Kommunikation vorgeworfen werden soll. Die Explikation sozialen Sinns bleibt im systemtheoretischen Sprachspiel ebenso kryptisch wie die Idee der Seele. Die Idee der Welt konfiguriert im systemtheoretischen Zusammenhang als Explikation zeitlichen Sinns. 7 Dieser nimmt Gestalt an in Form paradoxer Einheit der Differenz von vergangener Gegenwart Kant, »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (RGV) Vorrede zur ersten Auflage BA IIIf., und BA IXf. 6 Kant, KrV, Prol. § 43 (III 94 f.). Siehe dazu Bambauer, »Kants rationale Religionsphilosophie: Sittengesetz, höchstes Gut und Gottespostulat«, in: Ingensiep/Baranzke/ Eusterschulte 2004, 292–314, 298). 7 Luhmann (1996a, 10, Anm. 13) distanziert sich hierin von Hegel, der die Selbstrealisierung von Welt nicht über Einschränkungen und Inanspruchnahme von Zeit denkt, sondern als Geist (als sich selbst bewusst sein von Welt). 5
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Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
und gegenwärtiger Vergangenheit sowie in Form paradoxer Einheit der Differenz von gegenwärtiger Zukunft und zukünftiger Gegenwart. Die Reihe der Bedingungen zeigt sich als absolute Einheit im Begriff der prozessualen Selbstreferenz: Welt erscheint im Modus ihrer Schematisierung in vorher und nachher selbst dann gerichtet, wenn es für den Richtungsnachweis kein Wissen, sondern nur Kausalunterstellungen gibt. Und schließlich zeigt sich sachlicher Sinn – die Idee Gottes – als paradoxe Einheit der Differenz von Operation (Selektion) und Beobachtung (Unterscheiden). Die Methode (Empirie) konstituiert das, was als Gegenstand des Denkens (Wirklichkeit) identifiziert wird. Der Gegenstand findet seine Identität im Bewusstsein von der unüberbrückbaren Differenz zu einem Wahren oder Wirklichen, zur Einheit aller Bedingungen der Gegenstände des Denkens überhaupt. Der paradoxe Charakter sachlichen, sozialen und zeitlichen Sinns, wie er sich in den transzendentalen Ideen bei Kant und in der leitbegrifflichen Stellung der Paradoxie bei Luhmann äußert, bringt in einer zur Weltgesellschaft verdichteten Menschheit etwas Wesentliches zum Ausdruck. Es führt die Konvertibilität von religiöser und säkularer Kultur vor Augen und mithin jener polaren Orientierungen, die für das aufklärerisch-moderne Bewusstsein zentral sind. Ein systemtheoretisches Analogon zur Postulatenlehre, dessen Suche Gegenstand des folgenden Kapitels sein wird, ist deshalb nicht bloß von akademischem Interesse. Da sich kulturell-religiöse Kampfzonen trotz atomarer Proliferation und weltweiter Perfektionierung der Drohnenkriegführung kontinuierlich erweitern, bedarf es nichtkriegerischer Modi der Entparadoxierung sachlichen Sinns (säkulare vs. religiöse Semantisierung von Wahrheit), sozialen Sinns (säkulare vs. religiöse Semantisierung des Guten) und zeitlichen Sinns (säkulare vs. religiöse Semantisierung von Zwecken). Zu dieser Ebene muss angesichts der Tatsache vorgedrungen werden, dass sich bei weltgesellschaftlich ausgetragenen kulturell-religiösen Konflikten Fälle von »tragic choice« (Luhmann 2008, 245) häufen. Kennzeichnend ist für diese Fälle ein von den Konfliktparteien reklamiertes Recht zur Rechtswidrigkeit. Damit verbundene Probleme lassen sich nicht mehr mit den Mitteln ausdifferenzierter Funktionssysteme lösen, sofern eben diese Mittel unisono zur Disposition gestellt sind. Es ist die quasi-religiöse Erwartung in die Leistungskraft der Funktionssysteme bezüglich der Erfüllung primärer und sekundärer Bedürfnisse, die von der Konvertibilität des säkular-religiösen Schis92 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Moral und Religion in der Systemtheorie
mas zeugt. 8 Folglich beginnt der in Funktionscodes transformierte Moralcode sich selbst zu transzendieren, sobald Zweifel an der Güte der proklamierten Kriterien politischen, ökonomischen, juridischen, wissenschaftlichen oder erzieherischen Unterscheidens aufkommen. Re-Moralisierung der Funktionscodes tritt als Politisierung von Sachfragen in Erscheinung. Umgangssprachlich ist damit nicht gemeint, dass sich die Politik bestimmter Probleme annimmt. Es geht nicht um einen Zuständigkeitstransfer vom einen ins andere Subsystem. Vielmehr handelt es sich um einen Vorgang, in dem die moralische Indifferenz der Funktionscodes in Bezug auf ein bestimmtes Thema vorübergehend außer Kraft gesetzt wird. Indem die Politisierung von Themen den Charakter moralischer Kommunikation annimmt, verliert das politische System tendenziell den Status eines Funktionssystems und bringt Avantgarden hervor, die für sich diese Doppelrolle der Repräsentation und normativen Integration beanspruchen. Politisierung qua Moralisierung bedeutet, die Machtfrage zu stellen in Angelegenheiten, bei denen Skandale auf Missstände aufmerksam gemacht haben. Blickt man genauer hin, so zeigt sich der geheime Sinn von Skandalen im kollektiven Zweifel an der Verbindlichkeit des zivilreligiösen Glaubens. Es handelt sich gewissermaßen um eine zweite Stufe der Selbsttranszendierung des modernen Arrangements einer in Funktionscodes transformierten Moral. Auf der ersten Stufe war es zur Selbstvergewisserung dieser Transformation als Glaube an bestimmte Ziele, Inhalte und Präferenzen gekommen, die aus der Verlegenheit, genauer bestimmen zu können, woran geglaubt werden soll, symbolisch generalisierte Medien der Kommunikation hatte entstehen lassen: Demokratisch kontrollierte Macht, durch Grundrechtsnormen gebundene Rechtsausübung, am Markt orientiertes Wirtschaften, an empirischer Überprüfung orientierte Wissenschaften sind systemtheoretisch betrachtet programmatische Entscheidungsprämissen. Hatte die erste Stufe der Selbsttranszendierung des Arrangements funktionaler Differenzierung zur zivilreligiösen Überhöhung Sie findet Ausdruck in der für den westlich-abendländischen Wertediskurs zentralen Gerechtigkeitstheorie von Rawls (1979). Der Präferenzutilitarismus bringt diese Erwartungen noch deutlicher zu Ausdruck, so bei Richard M. Hare, der als ethisches Prinzip die »Maximierung der Präferenzenerfüllung (im Universum)« anerkennt und sich am Idealtypus des Erzengels orientiert. Zur Kritik siehe Nida-Rümelin (1995) und die Replik von Hare (1995).
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der Funktionscodes geführt, so kommt es auf einer zweiten Stufe der Selbsttranszendierung zur Rückbildung des Zivilreligiösen ins Religiöse. 9 Die Uneinlösbarkeit des zivilreligiösen Anspruchs macht sich darin bemerkbar, dass sich der Glaube nicht als gegenstandsbezogener, nicht als Glaube an etwas Bestimmtes bewähren kann: Demokratie, Menschenrechte und freiheitliche Ordnung lassen sich nicht in global übereinstimmender Weise als reziprok verbindliche, konsensual interpretierbare rationale Perspektive behaupten, sodass gesagt werden könnte: Alle glauben an Demokratie, an Menschenrechte und an die freiheitliche Ordnung. Ein seiner prekären Stellung bewusster ›Glaube an …‹ verwandelt sich in ein problembewusstes reflexives Glaubensverständnis, in einen Glauben an die Macht des Glaubens. Zivilreligiöse Orientierungen beziehen ihre gesamte Überzeugungskraft nämlich aus dem Versprechen, Werte und diese verbürgende Institutionen ließen sich global durchsetzen, wenn nötig erzwingen. 10 Zugleich wird dieser Prozess durch eine bloß kommunikationsmediale Präsens dessen, woran geglaubt wird, vereitelt. Es versteht sich dann nicht mehr von selbst, dass politisch korrekt semantisierte Machtausübung den Menschen zugutekommt, dass marktwirtschaftlich legitimierte globale Monopolbildungen Armut abschaffen oder dass die rechtsstaatlich legitimierte Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Institutionen und Organisationen Rechtssicherheit erhöhen können. Das Ende der zivilreligiösen Adhäsion macht sich darin bemerkbar, dass erneut Verhaltensnähe eingefordert und der Funktionscode wieder in den Moralcode rückübersetzt wird. 11 Die Funktionscodes remoralisieren sich. Den Anlass liefern Skandale, die es eigentlich nicht geben dürfte, wenn die Funktionscodes als funktionale ÄquivaDer Islamismus versteht sich heute als globale revolutionäre Jugendbewegung. Olivier Roy (2006) sieht in ihm nicht eine Konfrontation traditionaler Gesellschaften mit der Moderne, sondern eine Folge der Entterritorialisierung im Anschluss an Enttäuschungen mit kolonial importierten westlichen Modellen. 10 Hubertus Busche (2009, 100) sieht im egalitaristischen Modell von Rawls deshalb ein totalitäres Moment. Vom Staat werde ein Maß an gerechter Güterverteilung verlangt, das die mittelalterliche Distributivgerechtigkeit noch nicht einmal von Gott erwartet habe. Enttäuschungen über die Leistungsschwäche und/oder -unwilligkeit Gottes angesichts des Holocaust lassen Rawls von der Theologie zum politischen Liberalismus wechseln, der absolute Gütergerechtigkeit in Aussicht stellt. Zum religiösen Hintergrund der Gerechtigkeitstheorie siehe Rawls (2010). 11 Nicht zufällig rückt heute der politische Protestantismus der »Öffentlichen Theologie« in den Vordergrund (siehe Höhne 2015). 9
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Moral und Religion in der Systemtheorie
lente des Moralcodes taugen würden. Offensichtlich handelt es sich bei den transformatorischen Prozessen, die an die Stelle der moralischen Verurteilung der gesamten Person jene humanere partielle Kritik an Funktionsträgern haben treten lassen, um vorübergehende Erscheinungen. Der Humanitätsgewinn der Entmoralisierung bleibt auf eine Anfangsphase beschränkt, in der das funktionale Differenzierungsprinzip noch nicht voll entfaltet ist. Einen Blick für rückläufige Prozesse der Remoralisierung von Funktionscodes gewinnt man, wenn Probleme gesellschaftlicher Integration ins Spiel kommen. Ursprünglich war es ja der Zerfall der alten Ständeordnung gewesen, der im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die moralische als Ersatz für gesellschaftlich-ständische Integration hatte anbieten lassen. Und es war die Überforderung der Achtungskommunikation gewesen, welche die grausamen Exzesse des mit dem Namen Robespierre verknüpften Tugendterrors hervorbrachte. Wenn mit zunehmender Konsolidierung des funktionalen Differenzierungstypus die Funktionscodes nach und nach den Moralcode überlagern und Tugend- durch Funktionssemantik verdrängen, dann sieht es eine Zeitlang so aus, als bedeute Integration in die Funktionssysteme zugleich Desintegration der Gesellschaft. In der systemtheoretischen Literatur wird im Fehlen von Zentrum und hierarchischer Spitze geradezu ein konstitutives Moment der Desintegration gesehen, das die moderne im Gegensatz zu allen vormodernen Gesellschaften dazu nötige, sich polykontextual, dialogisch und kontingenzbewusst zu orientieren. 12 Diese systemtheoretische Lesart suggeriert, es könne einen Gesellschaftstypus geben, der auf Integration ganz verzichtet, und der mehr noch in der Lage ist, sich ganz in desintegrativen, transitorischen Verhältnissen auf Dauer einzurichten. Damit wird die übliche Integrationssemantik zwar modifiziert; aber es ist kein Idealtypus in Sicht, der alles entbehrlich macht, was vormodernen Menschen so wichtig war, in erster Linie feste Zugehörigkeiten. Verfolgt man die weiteren Analysen Luhmanns zur Dynamik der modernen codeorientierten Beobachtung, zur evoluierenden autopoietischen Repro-
Luhmann (1997, 618 f.) stellt folglich der bloß wertenden Unterscheidung von Systemintegration und Sozialintegration von Lockwood die Unterscheidung von Formen der Systemdifferenzierung auf der einen und der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion auf der anderen Seite gegenüber. Siehe auch Nassehi (1999); Stichweh (1997; 2005).
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duktion der Funktionssysteme, dann werden die neuen Integrationsmechanismen erkennbar, die Ständeprinzip und Moral abgelöst haben. Diese sind weit davon entfernt, Offenheit, Flexibilität, Lernfähigkeit und Kontingenzbewusstsein als funktionale Äquivalente an die Stelle des Gruppenzwangs treten zu lassen. Vielmehr zeichnet sich eine Entwicklung ab, die Integration zu einem ausweglosen Schicksal werden lässt, nicht anders als dies für vormoderne Gesellschaften gegolten haben mag. Exklusion aus den Funktionssystemen wirkt nach Luhmann (1995, 259 f.) weit integrierender als Inklusion in die Funktionssysteme. Indem der Exkludierte aus allen Funktionsbereichen nach und nach herauskatapultiert wird, bleiben nur jene Milieus, die sich auf der Unterseite der anständigen Gesellschaft bilden, analog der gut organisierten Gemeinschaften der Bettler und Diebe vormoderner Gesellschaften. Heute müsste es freilich nicht mehr an-ständig, also standesgemäß lauten, sondern an-funktional. Der unanfunktionale Mensch von heute organisiert sich in terroristischen Organisationen oder in kriminellen und mafiösen Vereinigungen. Einzig das religiöse Subsystem unterläuft diese Logik funktionaler Differenzierung und bewahrt darin die alte reflexionstheoretische Funktion. Insofern nimmt Gott als Kontingenzformel unter all den Formeln von Politik, Recht, Wissenschaft und Wirtschaft eine Sonderstellung ein. Mit diesen teilt die Gottesformel die Funktion »Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit, also unendliche Informationslasten in endliche Informationslasten zu überführen« (Luhmann 2000, 147). 13 Während jedoch Legitimität, Gerechtigkeit, Limitationalität und Knappheit der Kontingenz von Politiken, von Rechtsentscheiden, von wissenschaftlichen Experimenten und von ökonomischen Projekten die Notwendigkeit der Selbstverpflichtung auf ein Ideal entgegensetzen, bleibt die Gottesformel im Unbestimmbaren. Damit geht das Transformatorische nicht verloren, aber die Funktion verschiebt sich. Bestimmtheitsgewinne liegen jetzt darin, die subsystemische Verpflichtung auf ein so und nicht anders verstandenes Ideal kontingent zu setzen und mithin wieder in Unbestimmtheit rückzuverwandeln. Dieses Kontingentsetzen zielt aber nicht nur auf die Gottesformel (Du sollst dir kein Bildnis machen), sondern richtet sich Weniger missverständlich formuliert: »Sinnformen werden als religiös erlebt, wenn ihr Sinn zurückverweist auf die Einheit der Differenz von beobachtbar und unbeobachtbar und dafür eine Form findet.« (Luhmann 1996a, 20).
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an alle Subsysteme mit der Aufforderung, in der Handhabung ihrer Ideale analog zu verfahren: Die Vielzahl möglicher Deutungen sollen nicht in einem von Gruppenzwängen diktierten Einheitskonstrukt unterdrückt werden. Da im Zuge der Kommunikation dieses Sachverhalts die subtile Differenz leicht verloren geht und die Operation des Kontingentsetzens einer bestimmten Deutung von Idealen als Kontingentsetzen von Idealen missverstanden werden kann, bietet Luhmann den spezifizierenden Begriff der symbolischen Generalisierung an. Soziologisch relevant und mithin für das Zusammenleben von sieben Milliarden Menschen ausschlaggebend ist die historisch-kulturell bestimmte Deutung von Idealen und nicht deren Vorhandensein. Eben diese Nachrangigkeit von Idealen ist für die Verhältnisbestimmung von Moral und Religion von großer Bedeutung. Das Vorhandensein erklärt sich hingegen gewissermaßen von selbst: Jede Selbstdarstellung ist in der Außenwahrnehmung Darstellung eines Selbst als mit sich identischem und mithin als idealem. Das gilt auch für das selbstbezichtigende oder kokettierende Eingeständnis von Fehlern und Unzulänglichkeiten, die das Selbst als besonders lebendig und ins wahre Leben verstrickt auszeichnen. Eine Funktion der kritischen Reflexion notwendig unterschiedlicher – irdischer Unvollkommenheit geschuldeter – Deutung des Guten und Richtigen bringt die Religion infolgedessen in Konflikt mit allen übrigen Funktionssystemen und womöglich bereits mit allem, was sich selbst darstellend als individuelle oder kollektive Identität profiliert. Denn die konsistente um eine Zweckformel herum gearbeitete Selbstdarstellung bleibt operativ bedeutsam. Politik muss ihre Entscheidungen als legitim begründen können, um deren Geltung nicht zu untergraben. Die Wirtschaft muss eine Überproduktion von Luxusgütern als Mittel der Wohlstandssicherung begründen können, um die Kaufkraft anzukurbeln. Das Recht muss die Verrechtlichung von allen noch der freien Gestaltung des Einzelnen überlassenen Bereichen des täglichen Lebens als Vergerechtlichung darstellen können, um allgemeinen Rechtsgehorsam zu motivieren. Die Wissenschaft muss sogar die Sinnhaftigkeit empirischer Untersuchungen von Niemandem angezweifelter Binsenweisheiten noch als Erkenntnisgewinn darstellen können, um Stellen und Forschungsgelder in relevantem Umfang requirieren zu können. 14 14
Als Beispiele sind nur die primären Funktionssysteme genannt. Man könnte diese
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Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
Wer die Selbstdarstellung verunsichert und die funktionseigene Deutung des Guten und Richtigen kontingent setzt, erscheint als potentiell gefährlich, weil subversiv. Dies provoziert Gegenmaßnahmen, die Subordination und Anerkennung einer zivilreligiösen Dominanz erzwingen. Da der funktionale Differenzierungstypus im Stadium seiner weltgesellschaftlichen Vollverwirklichung durch die von ihm erzeugte Komplexität, Vernetzungsdichte und Störanfälligkeit weder Kritik noch Gegenmachtbildung akzeptieren kann, treibt dieser Typus in ein globales Schisma. Dies ist die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion, der jetzt mehr analytische Prägnanz zugeschrieben wird als den Unterscheidungen darwinistischer und historisch-materialistischer Deutungssysteme. Letztere hatten der Religion nur noch eine zivilisationsgeschichtliche Schrumpfexistenz zugestanden, die nach und nach ganz von Funktionslogiken verdrängt würde. Dass sich diesbezügliche historische Erwartungen nicht erfüllt haben, bleibt indes ein zu vernachlässigender Faktor, der das Deutungsmuster nicht untergräbt. Denn es lassen sich die Zeiträume beliebig erweitern, in denen der Prozess absterbender Religion mit etwaigen Rückschrägen und Verzögerungen unaufhaltsam voranschreitet. Es liegt dann ganz in der Hand der Deutenden, die aktuelle als eine Phase der Progredienz oder der Renitenz zu interpretieren. 15 Was bleibt, sind politische Fragen der Gewichtung von demokratisch zugestandener Religionsfreiheit und demokratisch zugestandener Freiheit von Religion. Sollten Religionen jedoch sowohl bezüglich ihrer reflexionstheoretischen Funktion als auch ihres inkludierenden Codegebrauchs unverzichtbar sein, so stellen sich Anforderungen einer weit differenzierteren Analyse. Das Verhältnis der Funktionssysteme zur Religion muss grundsätzlich neu überdacht werden. 16 Folglich gilt es in der Frage Stellung zu beziehen, ob religiöse Kritik an der interessengebunden-systemfunktionalen Lesart von Idealen einer Kritik an Überlegungen u. a. auch an Gesundheitssystem, Massenmedien, Erziehungs- und Bildungssystem durchspielen. 15 Für eine starke Säkularisierungsthese siehe typisch Ulrich Beck (2008, 13), der am »Glauben an die Erklärungskraft der soziologischen Aufklärung« festhält und die Religion als bloße gesellschaftliche Entwicklungsphase interpretiert. 16 Das gilt insbes. für Bildungsprozesse in säkularen durch Immigration geprägten Gesellschaften. Siehe dazu Reder (2010), der Vor- und Nachteile der beiden funktionalen Religionstheorien von Habermas und Luhmann vergleicht.
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Moral und Religion in der Systemtheorie
Idealen gleichkommt und insofern Vorbehalte einer säkularen Öffentlichkeit angebracht sind. Die Vorbehalte artikulieren sich zwar häufig in einer vom Dualismus säkular-religiös geprägten Semantik. Aber sie zielen auf das ungeklärte Verhältnis, in dem sich die Funktionssysteme zur Religion im funktional differenzierten Gesellschaftssystem befinden. Ein gravierender Unterschied zwischen bloßer Kritik an der Lesart und Kritik an Idealen selbst macht sich bemerkbar, wenn man die zugrundeliegende Unterscheidung von Religion und Moral transparent macht. Denn Ideale führen zu oder implizieren moralische Kommunikation über Vorzugswerte. Und hier kommt alles darauf an, wie diese Kommunikation geführt, was bedacht und was unterschlagen wird. Als Modus der Handhabung jener Unterscheidung, mit der ein Ideal bezeichnet wird, zeigt sich die Lesart in religiöse Fragen verstrickt. Das gilt nach Luhmann (2000, 53) allerdings für alle Unterscheidungen: Jeder Formgebrauch involviert Religion und zwar aus dem Grund, weil in »jeder Unterscheidungsoperation … die Welt als auch der Beobachter selbst als ›unmarked space‹« zurückbleiben. 17 Im Gegensatz zu Politik, Recht, Wissenschaft und Wirtschaft wird jedoch in der Religion eben diese Durchlässigkeit des eigenen Codegebrauchs (des marked space) auf religiöse Fragen (den unmarked space) reflektiert. Der religiöse Umgang mit den Problemen kontingent gesetzter Ideale lässt die Strebensstruktur unangetastet und dementiert nicht die Präferenzordnung der Ideale. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn die eingehandelten Unbestimmbarkeiten durch Quasi-Sicherheiten kompensiert werden. Nur so lässt sich der Verlust säkularer Bestimmtheitsgewinne, ein Kontingentsetzen etablierter Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden verkraften. Dazu dienen rituelle Praktiken, liturgische Vergegenwärtigungen der Funktion, Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit zu verwandeln. Es bleibt mithin bei der Funktion. Das Gute, Wahre, Schöne wird in Symbolen und Erzählungen (Gleichnissen) fassbar, ohne in Bestimmtheit überzugehen. Symbole und Erzählungen aber sind flexiLuhmann (2000, 22) verwendet in loser Anlehnung an Spencer-Brown den Begriff »unmarked space« i. d. R. für »Welt« und »unmarked state« bevorzugt für das unbestimmt bleibende. Siehe »Identität – was oder wie?«, »Die Weisung Gottes als Form der Freiheit«, in: ders.: (1990, 14–30; 75–94). An anderer Stelle nennt Luhmann (1995, 13) die differenztheoretische Absicht der Vermeidung der Raummetapher: Spencer-Brown wolle das »draw a distincion« wieder in Identität auflösen.
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Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
bel genug, um unterschiedliche Auslegungen des hier und jetzt Guten und Richtigen weder unterbinden noch relativieren zu müssen. Dies ist der Grund, weshalb rituelle (religiöse) und begriffliche (säkulare) Vergegenwärtigung der Funktion des Umgangs mit kontingent gesetzten Idealen in ihren Konsequenzen unterschiedlich sind. Aufgrund fehlender ritueller Auffangmechanismen sind säkulare Formen kritischer Reflexion auf die Angabe von Gründen und von Schuldigen angewiesen, die dafür verantwortlich sind, dass eine bestimmte Lesart der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Sicherheit oder des Friedens das verfehlen, was diese Begriffe verheißen. Wenn aber der Unterschied zwischen säkularer und religiöser Vergegenwärtigung der Funktion, Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit zu überführen, mit dem Unterschied zwischen konkret und abstrakt zusammenfällt, dann zeigen sich Übergänge und verfließende Linien. Denn als eine in der Immanenz stattfindende Form der Vergegenwärtigung meinen sich Glaubensgemeinschaften von den alltäglichen Bemühungen um eine Konkretion von Idealen nicht dispensieren zu können und werden politisch. Politisierte Religion aber betreibt das Geschäft systemfunktionaler interessengebundener Ausdeutung von Idealen und unterscheidet sich von der säkularen Herangehensweise nur durch eine als anmaßend und anstößig empfundene religiös begründete moralische Überlegenheit in der humanen Definition des hier und jetzt Guten und Richtigen. Zu diesen immanenten Gefahren eines sukzessiven Abgleitens in Radikalismus und Fundamentalismus treten jene externen Gefahren, die einer Vergegenwärtigung der Funktion, Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit zu transformieren durch Unverständnis und Fremdheit so genannter Ungläubiger drohen. Denn für nicht im Ritus beheimatete Bevölkerungsteile sind kontingent gesetzte Ideale nicht mehr informativ und treten ihre Orientierungsfunktion an Relativismen ab, die auf eine kulturelle Gestalt der Transformation von Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit verzichten. 18 Indes zeugt der offen oder verdeckt geführte globale Kampf der Kulturen heute wieder von der Unverzichtbarkeit einer kulturellen Gestalt, die bestimmte Interpretationen der Ideale des LeZu den Vorzügen des sinnfunktionalen Religionsbegriffs von Luhmann siehe auch Reder (2010, 24): Es werde eine bestimmte Form der Kommunikation über Kontingenz zur Verfügung gestellt, die unbefragte Sinnsetzungen anderer Systeme, ihre blinden Flecken, einholbar mache. Genau dies wird von den Kritisierten jedoch als Gefahr wahrgenommen. Aus diesem Grund müssen die gesamtgesellschaftlichen Vorzüge an anderer Stelle gesucht werden.
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gitimen, des Gerechten, des Wahren und Nützlich-Rentablen reflektiert und nicht auf waffengestützte partikulare Ausdrucksformen vertraut. Damit entfallen die prominentesten Problemlösungsvorschläge Relativismus und globale Leitkultur. Die Trennung von Religion und Politik steht unter weltgesellschaftlichen Vorzeichen erneut zur Disposition. Wo diese globale Perspektive gewählt und nicht durch normative Vorentscheidung vereitelt wird, geht es nicht vorderhand um Argumente für oder wider eine Trennung, sondern um eine Gegenüberstellung von Argumentationstypen. Ahmed Cavuldak (2015) wagt sich in diesem Sinne im Rahmen einer politiktheoretischen Studie bis zur sektiererischen Frage nach der Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie vor. Er erreicht damit eine Ansatzhöhe, die unter multikulturellen Vorzeichen allein informativ sein kann. Einander gegenübergestellt werden ein philosophisch-epistemischer, von Habermas repräsentierter Typus, der die Kluft zwischen Glauben und Wissen als Gegebenheit allen weitergehenden Reflexionen voranstellt und ausgehend von dieser Vorentscheidung die Trennung zu Lasten der Religion entscheidet. Diese soll über die Rechtsbindung hinaus zu einem verfassungspatriotischen Bekenntnis verpflichtet werden. 19 Da die Grunddifferenz von Glaube und Wissen nicht nur im islamischen, sondern bereits im christlichen Kulturverständnis differenziert gehandhabt 20 und selbst innerhalb der Naturwissenschaften keineswegs vorentschieden ist, scheidet diese Perspektive unter weltgesellschaftlichen Vorzeichen aus. Als ein zweiter Typ wird das pragmatische Friedensargument vorgestellt, das in Rousseau den Verfechter privatisierter, jedoch soziomoralisch durch eine religion civile abgesicherter Religion findet. Unter weltgesellschaftlichen Gesichtspunkten krankt dieser Vorschlag daran, dass die Vorrangstellung des Friedens in religiöse Fragen vorstößt. Geklärt werden müsste folglich die Gewichtung innerhalb der augustinischen Unterscheidung von pax aeterna (gutem Leben) und pax terrena (Überleben). 21 Ein dritter Typus findet sich Habermas (2001, 24) hält am Humanitätspotential der Religion fest, sofern sich diese auf die Autorität der Wissenschaft und die Prämissen des Verfassungsstaates einlässt. 20 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft im Katholizismus siehe Benedikt XVI (2006). Zum Gespräch zwischen Habermas und Ratzinger (2005). 21 Die gesamte ideengeschichtliche Entwicklung seit der Spätantike fußt in diesem Punkt auf dem Friedensgedanken von Augustinus. Siehe Laufs (1973). 19
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Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
im normativ-menschenrechtlichen Argument von John Rawls. Auch hier sind die Voraussetzungen hoch gegriffen und dürften auf weltgesellschaftlichem Niveau kaum erfüllt werden können. Denn hier sieht sich die westliche Interpretation der Gewissensfreiheit als Religionsfreiheit zum Naturrecht aufgewertet. Einem kulturell bestimmten Menschenrechtsverständnis wird gleichsam globale Verbindlichkeit attestiert. Anders umschreibt der Typ des religiösen Arguments eine Mittelposition insofern, als Religion allein unter dem Gesichtspunkt einer zum guten Regieren motivierenden sozio-moralischen Kraft Berücksichtigung findet. So analysiert Tocqueville den Einfluss des Puritanismus auf die Entwicklung der Demokratie in den Vereinigten Staaten. Da der islamische wahhabitische Puritanismus in SaudiArabien keine demokratische, sondern eine monarchistische Verfassung stützt, oder der religiöse Wächterstaat des Iran eine Demokratie nicht nach westlichem Vorbild motiviert, entfällt das religiöse Argument als Stütze institutionalisierter Religionsfreiheit. Aus der Gegenüberstellung prominenter Argumentationstypen schält sich offensichtlich keine global plausible Umgangsweise mit dem Spannungsverhältnis von Politik und Religion heraus. Dies mag seinen Grund nicht zuletzt im semantischen Zuschnitt auf eine Übergangsgesellschaft haben, die sich Stück für Stück aus hierarchischen Strukturen befreit und auf die neue Gestalt funktional differenzierter Systeme zusteuert. Übergangssemantiken beziehen unabhängig davon, welcher Funktionssystemprimat gewählt ist, ihr ethisches Profil ganz aus dem Engagement für die skizzierte Idealgesellschaft. Epistemologische und ethische Grundfragen gelten durch die Klassiker grundsätzlich als geklärt. Im Blick auf global taugliche Maximen wäre folglich die Verengung der Fragestellung verfehlt. Das Verhältnis von Politik und Religion ist immer mitbestimmt vom Verhältnis, in das sich die anderen Funktionssysteme zur Religion setzen. Und es ist darüber hinaus vom Ausmaß abhängig, in dem sich Religionsgemeinschaften in ihrem Selbstverständnis auf das funktionale Differenzierungsprinzip einlassen und damit sich selbst als Subsystem begreifen. Sollte jeder Formgebrauch einen unmarked space erzeugen und folglich Religion involvieren, wie Luhmann behauptet, so käme man dem beängstigenden Gegenwartsphänomen einer globalen Mobilmachung fundamentalistischer Religion in einer spezifischen Weise näher. Der tradierte und kaum noch reflektierte Formgebrauch – die Handhabung von Unterscheidungen – droht unter den Bedingungen 102 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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einer globalisierten Gesellschaft an Plausibilität zu verlieren. Das bedeutet für die einzelnen Kulturgemeinschaften jeweils unterschiedliches. Für alle aber gilt, dass der brüchig gewordene Formgebrauch seine religiösen Seiten hervorkehrt. Bei moslemischen Kulturgemeinschaften tritt die Verunsicherung bezüglich tradierter Verständigungen darüber, was unter Gerechtigkeit, unter Freiheit, unter Frieden und Sicherheit zu verstehen ist, als Politisierung des Islam in Erscheinung, bei westlich-säkularen Kulturgemeinschaften als Militanz christlich-evangelikaler und säkular-menschenrechtlicher Bekenntnisse. Mit Religion im Sinne der so genannten Gläubigen hat dieser korrosive Prozess ein seine religiöse Tiefenstruktur hervorkehrender Formgebrauch nichts zu tun. Denn was jetzt bloßgelegt wird, sind die unglaubwürdig gewordenen politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, rechtlichen und erzieherischen Praktiken der Verwirklichung von Idealen. Der militante Islamismus richtet sich deshalb nicht bloß gegen die mit Kolonialismus und Imperialismus gleichgesetzte moderne funktional differenzierte Gesellschaft. Der Kampf gilt mehr noch einer Beschränkung der Religion auf bloß rituell-symbolische Vergegenwärtigungen der Funktion, Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit zu überführen. Er gilt der Feier des Numinosen, an deren Stelle der Kampf gegen die falsche Lesart treten soll. Denn die fundamentalistisch-politisierte Religiosität erfüllt jetzt nicht die Funktion der kritischen Reflexion einer rigiden und provinziellen Lesart von Idealen, die ausgrenzend und verfeindend wirkt. Vielmehr übernimmt sie jetzt Funktionen, die in konsolidierten Gesellschaftssystemen von eingespielten institutionalisierten Formen der Verständigung und Regelung übernommen wird. Die Wortführerschaft geht jetzt auf Konvertiten über. 22 Gemeinsam ist diesen Richtungen ein für sich reklamiertes Recht zum Rechtsbruch, ein Recht zur außerlegalen Tötung. Die Re-Moralisierung der Funktionscodes nimmt unvermeidlich militante Züge an, wenn es nicht zu einer Re-Ethisierung qua kritischer Reflexion der negativen Begleiterscheinungen solcher Rückbildungsprozesse kommt. Die Herausforderungen an eine entsprechend plausible Ethik sind dabei im Drohnenzeitalter von besonderer Art, weil mit der Mensch-Maschine-Verschmelzung ein kaum noch zu
Marxisten werden zu Islamisten, zu christlich-evangelikalen und neokonservativen Aktivisten. Siehe dazu Hank (2015).
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überbietendes Stadium kategorialer Entdifferenzierung erreicht ist. 23 Die in jeder Zeit immer wieder neu zu beantwortende Frage, wie Realität und Idealität ins Verhältnis zu setzen sind, verschmilzt mit dem Fragenden. Dieser beginnt sich seiner selbst, seiner Subjekt- und Akteur-Stellung nicht mehr sicher zu sein, weil sich Gemachtes (Idealität) und Gewachsenes (Realität) gleichermaßen selbst replizieren. Was geschieht, wenn im Zuge der globalen Durchsetzung des funktionalen Differenzierungsprinzips die Form Mensch den von ihr produzierten blinden Fleck offenkundig macht und folglich ihre Verstrickung in religiöse Fragen? Angesprochen sind all jene Unterscheidungen, mit denen der Mensch bezeichnet wird, Natur und Kultur, Gemachtes und Gewachsenes, Mensch und Tier, Allgemeines und Besonderes, um die Wichtigsten zu nennen. Die Form Mensch ist in den genannten Fällen anthropologisch bestimmt. Allein dies ist im weltgesellschaftlichen Vergleich keineswegs selbstverständlich, sondern setzt ein säkulares jüdisch-christliches Menschen- und Weltbild voraus. In ihrer religiösen Fassung sind all diese Unterscheidungen durch die darüber angeordnete Unterscheidung von vollkommen und unvollkommen, von absolut und relativ, von Gott und Mensch zweitcodiert. Um auf selbige Unterscheidungen zu stoßen benötigt man keine religiöse Unterweisung; vielmehr erreicht der Prozess des Markierens aus sich heraus Grenzen, sobald unterschiedliche Markierungen aufeinandertreffen. Auf religiöses Terrain begibt sich ein Diskurs über das Unbestimmbare erst, wenn hierarchische Verhältnisse allseits akzeptierter Dominanz wegbrechen. Findet ein solch korrosiver Prozess jedoch auf Weltebene statt, dann erreicht die Verunsicherung tiefere Schichten kultureller Prägung. Für den westlich-abendländischen Raum impliziert dies eine Verunsicherung bezüglich der anthropologischen Bestimmung idealen Menschseins. Jetzt treten längst vergessene Fragen aus der Versenkung historischer Erinnerung an die Oberfläche öffentlicher Diskurse. Eine dieser zentralen Fragen betrifft den Zweifel, ob das Sinnbild des Vollkommenen, Absoluten (Göttlichen) ausMeyer-Drawe (2007) benutzt im Rahmen einer phänomenologischen Studie die Spiegelmetapher, um die Nähe von Mensch und Maschine zu skizzieren. Waldenfels (1990, 146) sieht die Reichweite der Technik von Anfang an als »Synergie, als ein Zusammenwirken, das sich zwischen purem Dienen und Beherrschen bewegt und eine einseitige Autonomie des Menschen ebenso fraglich macht wie einen reinen Automatismus der Technik.«
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gerechnet der Mensch sein sollte, an dem so viele schlechte Eigenschaften beobachtet werden. Immerhin waren die frühen Christen dem Verdacht blasphemischer Selbstvergottung ausgesetzt. Und zur Disposition stehen wieder andere Kulturangebote, die etwa wie die altorientalischen Religionen das Tier (stark und demütig dem kosmischen Gesetz ergeben), wie im Judentum das Volk (stark in Gemeinsamkeit und Einigkeit) oder wie in altgriechisch-römischer und moslemischer Religiosität das Gesetz (stark durch Erwartungssicherheit) zum Symbol verehrungswürdiger Vollkommenheit gewählt hatten. 24 Den christlich geprägten Gesellschaften wäre in dieser neuen globalen Situation geraten, ihre besondere religiöse Symbolik des Menschen (stark durch Akzeptanz von Schwachheit und Fehlbarkeit) herauszuarbeiten und nicht länger für einen aufgeklärten Säkularismus leitkulturelle Ansprüche geltend zu machen. Denn damit werden nur die alten gegen das Urchristentum geäußerten Verdachtsmomente für die säkularisierte Variante erneuert. Es ist die technologische Entwicklung, die den blinden Fleck anthropologisch-anthropozentrischer Menschen- und Weltbilder sichtbar macht. Denn jetzt verliert der Mensch als ein kulturell bestimmtes kreatürliches Wesen den Charakter einer Primärevidenz. An die Stelle des Menschen tritt eine Synthese aus Künstlicher Intelligenz, Biotechnologie, Drohnentechnologie, Internetversorgung und Wissensarchivierung, die auf globaler Ebene stetig perfektioniert und petrifiziert wird. Der Begriff des Individuums wird durch den Begriff der Singularität ersetzt, die gleiches insinuiert, in Wirklichkeit aber eine Meta-Technologie bezeichnet. Nach den bislang gescheiterten Großprojekten Glück und Wohlfahrt verheißender human- und social-engeneering weckt die Konstruktion eines lernenden selbstreplizierenden KI-Weltführers erneut Hoffnungen in eine effizienzgesteigerte Gestaltungsmacht, die die drängendsten Menschheitsprobleme zu lösen verspricht. Aber ist diese Identifizierung von Idealen mit dem Gemachten wirklich zwingend und ist sie irreversibel? Nur sofern dies der Fall sein sollte, muss in dem mit Maschine verschmolzenen Menschen die Preisgabe alles dessen vermutet werden, was mit dem selbstverantwortlichen Subjekt als ethischer Referenz verknüpft ist. Das heute vorherrschende Verständnis der Ethik als Unternehmen der NormDamit sind nur einige der Symboliken genannt. Zur Geschichte der Gottesverehrung von der Altsteinzeit bis zur Gegenwart siehe H. Müller-Karpe (2005).
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begründung bezieht immerhin aus dieser Gleichsetzung seine Plausibilität. Normen sind diskursiv erzeugte, gewissermaßen produzierte Vorzugswerte. Der von Kant als kategorischer Imperativ formulierte Normenprüfungssatz bezieht sich hingegen nicht auf etwas konstruiertes und produziertes, sondern auf etwas vorauszusetzendes, einen im Dekalog ausformulierten westlich-abendländischen Wertekonsens gewissermaßen als tradierter Gegebenheit. 25 Im Verein mit den Aufklärern seiner Zeit gilt Kant die menschliche Natur als tragender Grund moralischer Intuitionen. Kant trennt von seinen aufgeklärten Zeitgenossen, dass er Moralität nicht ganz auf Naturalität reduzieren möchte. Er weigert sich, den natürlichen Drang zu unmoralischem Handeln und Verhalten als bloß kultürlich wegzurationalisieren. Was Kant noch zusammenzufügen wusste, das zerfällt seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert in polare Weltanschauungen des Kulturalismus und Naturalismus. Wilhelm Dilthey und Charles Darwin markieren die beiden Eckpunkte des Ausschließungsverhältnisses, die sich bei aller Gegensätzlichkeit der Paradigmen doch in punkto Modulation von tradiertem und naturbedingtem Erbe einig sind. 26 Diese Schnittstelle kristallisiert sich zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts in einem kumulativen Paradigma der Macht und der Machbarkeit heraus, sodass der Mensch sich selbst als Produkt von Bio- und Diskursmacht zu begreifen lernt. Es sind nicht mehr bloß Wissenschaften und Philosophie, die innerhalb des cartesianischen Dualismus entweder für eine naturalistische oder eine kulturalistische Sichtweise optieren und entsprechende Forschungsergebnisse vorlegen. Das ineinander verwobene Paradigma der Biound Diskursmacht wird zum geheimen Movens aller Funktionscodes, sodass sich schließlich die moderne Gesellschaft durch kontinuierliche Strukturänderungen stabilisiert. 27 Dies führt zur Infiltration technischen Denkens in alle Sinnbezüge als nicht mehr zu überbietendem Endpunkt eines auf AnthroOhne diesen Hintergrund und allein an seiner Leistung gemessen, ein legitimes Verfahren zur Ermittlung allgemein anerkannter moralischer Normen bereitzustellen, scheint der Imperativ den Einzelfallprüfungen nicht stand zu halten. Siehe dazu typisch Hoerster (2003, 105 ff.). 26 Joachim Fischer (2010, 233) spricht von einer »spezifischen Theorietechnik« zur Gewinnung eines adäquaten Begriffs des Menschen. 27 Nach Luhmann (1997, 494) sind Funktionssysteme auf Variation hin stabilisiert, »sodass der Stabilisierungsmechanismus zugleich als Motor der evolutionären Variation fungiert.« 25
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pologie und Humanismus setzenden Menschenbildes. Denn Technik liegt jetzt immer dort schon vor, wo Sinnhorizonte gekappt sind, und dies ist bereits der Fall bei jedem unterscheidenden Bezeichnen von etwas. Indem die anthropologische Wende der Philosophie ihre Leitunterscheidung von Natur und Kultur in lebensweltlichen Techniken synthetisiert, unterminiert sie einen Begriff des Menschen, der sich als allem zugrundeliegendes Subjekt begreift. Es gibt nur noch Technik und Religion. Denn was sich der Verfügung entzieht, fällt in den Bereich der Religion. Dazu gehört auch der Mensch, sofern er sich nicht fügt, oder, sofern er keinen Platz in der Codestruktur der Funktionssysteme findet. Aus dem Subjekt werden gefährliche Subjekte und Exkludierte. 28 Das positive Pendent ist der Inkludierte als Funktionsträger und als Funktionsempfänger. Die Zuspitzung auf Technik und Religion als Leitunterscheidung eines zu Ende gedachten Humanismus variiert die religiöse Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Dies führt zum Zusammenprall der Kulturen, die Sinn konstituieren, weil eben dieser Sinn mit dem Markierten und mit der Operation des Markierens identisch ist. Jenseits des Markierten liegt der unmarked state. Die Remoralisierung der Funktionscodes signalisiert den Plausibilitätsverlust tradierter Markierungen, die heute freilich nicht mehr auf die Autoritäten hierarchischer Gesellschaftsordnungen zuzurechnen sind. Insofern greift das Schema konservativ/progressiv nicht mehr, es sei denn, man wollte eine Semantik als konservativ bezeichnen, die einer auf permanente Strukturänderung festgelegten modernen Gesellschaft positiv gegenübersteht und auf kontrafaktische Identitätskonstrukte verzichtet. 29 Während moderne Leitunterscheidungen ihren Informationswert verlieren, beginnt Religion als Beschäftigung mit dem unmarked space beziehungsweise unmarked state all jene Orientierungsmuster zu absorbieren, die sich als säkular, als säkularistisch oder atheistisch profilieren. Sobald alle Funktionssysteme im Zuge ihrer Re-Moralisierung religiöse Funktionen überIm Exklusionsstatus werden Menschen »nicht mehr als Personen, sondern als Körper erfasst« (Luhmann 1995, 245). Agamben (2002) zeigt diese Logik souveräner Macht und nackten Lebens mit einer Aktualisierung der antiken Figur des homo sacer. 29 So Arnim Nassehi »Die Stunde der Konservativen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. 2. 2016, Nr. 42, 9) in Umwertung bisheriger Werte. Nach Luhmann (1997, 1078) haben sich die Bedingungen umgekehrt: Die Progressiven seien wertkonservativ geworden. Der ›Neokonservativismus‹ sei ihre Erfindung. 28
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nehmen, degeneriert umgekehrt das Religiöse zum Gestus moralischer Überlegenheit in Bezug auf vorgebliches Wissen über angemessenen Machtgebrauch, gerechtes Rechtsprechen und Wirtschaften, Chancengleichheit garantierende Bildung und Erziehung. Nicht mehr die Feier des Numinosen, sondern die weltweite Fahndung nach Normbrechern wird zum treibenden Faktor, der das alte Säkular-Religiös-Schema allenfalls als Relikt überkommener identitätsstiftender Semantiken fortleben, sachlich aber kollidieren lässt. Die einen bedienen sich einer zivilreligiösen, die anderen einer religiösen Sprache beim Urteilen und Verurteilen. Wenn von Re-Moralisierung der Funktionscodes als einer Entwicklung gesprochen wird, die massenmediale Kommunikation auf Skandalisierungen konzentriert und wenn all dies den immanenten Bezug jedes Formgebrauchs zur Religion offenlegt, dann wird das Verhältnis von Moral und Religion zur alles bestimmenden Frage. Kant gibt eine eindeutige Antwort: Moral setze Religion nicht voraus, aber sie führe zur Religion und zwar »unumgänglich«. Der Nachsatz charakterisiert die so bedingte Religion als Erweiterung der Moral zur Idee eines »machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen … in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.« 30 Unwesentlich ist bei dieser Konklusion die Frage der Rechtgläubigkeit, der Gegenüberstellung von richtigem und falschem Verständnis. An dieser Frage entzünden sich weltanschauliche Konflikte. Im Alltagsverständnis aber überwiegt diese Art der Relationierung. Der recht verstandene Glaube entlässt gewissermaßen aus sich heraus moralisch einwandfreies Verhalten und Handeln. Säkular gewendet lautet dieses Diktum: Erst das richtige Wertverständnis sorgt dafür, dass regieren, wirtschaften, forschen und erziehen gut wird. Mit dem Ende des kapitalistisch-sozialistischen Systemantagonismus und einsetzender Globalisierung reichen Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechtsrhetorik nicht mehr aus. Alles hängt jetzt von der richtigen im Sinne von rechtgläubigen Variante derselben ab. Die Frage, was das Bedingende und was das Bedingte ist, schiebt sich in dem Maße in den Vordergrund, in dem sich alle Seiten in ihrem Entschluss bestärkt sehen, ihre Werte mit außerlegalen Mitteln global zu verteidigen. Ein Effekt der Bestärkung und der Verstär30
Kant »Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft«, (AA VI, 006).
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kung geht von der massenmedialen Resonanz von Terroraktionen auf der einen und außergesetzlichen Antiterrormaßnahmen auf der anderen Seite aus. Ebenso wie Kant die Grausamkeiten der absolutistisch gewordenen Übergangsgesellschaft hochrechnet, indem er die erwartbaren Folgen des entfesselten ius ad bellum antizipiert, reagiert Luhmann (2008, 246) auf Gefahren, die der Menschheit im Zusammenhang mit dem numerischen Anstieg tragischer Konflikte in einer voll entwickelten funktional differenzierten Weltgesellschaft drohen. Die Klärung des Verhältnisses von Moral und Religion muss mithin im Zentrum einer Ethik stehen, die die besonderen Bedingungen des Drohnenzeitalters reflektiert. In der Gegenüberstellung von vier Argumentationstypen der Verhältnisbestimmung von Politik und Religion war oben das religiöse Argument als eine moderate Variante vorgestellt worden, die der Hoffnung Tocquevilles entsprechend den Demokratisierungsprozess vorantreibt. Jetzt hat es jedoch den Anschein, als handele es sich hier um eine nicht minder konfliktträchtige Version wie die Relationierungstypen der globalen Zivilgesellschaft, der globalen Rechtsgemeinschaft oder der globalen Demokratie. Denn all diese idealtypischen Konstrukte lesen die Beziehung immer in der gleichen Richtung: Der richtige Glaube (religiös oder säkular) begründet richtiges Verhalten und Handeln (Moral). Folgerichtig entbrennt ein Kampf um die rechte Gesinnung, um die Rechtgläubigkeit, welcher verbal-diskursiv, notfalls aber auch mit Waffengewalt ausgetragen werden kann. Wenn sich somit der Schluss aufdrängen mag, dass nur ein umgekehrtes Bedingungsverhältnis für das Zusammenleben von sieben Milliarden Menschen tragbar ist, so bedeutet dies noch nicht, dass ein solches in sachlich-logischer Hinsicht vertretbar wäre. Das Argument Kants, wonach Moral keineswegs Religion voraussetze, zu dieser jedoch unumgänglich führe, muss folglich erst plausibel gemacht werden. Sollte dies gelingen, so wäre die Systemtheorie auf konstruktionstypische Analogien hin abzutasten. Dieser Fokus reflektiert die Repräsentativität der Transzendentalphilosophie für Übergangsgesellschaften und der Systemtheorie für die voll entwickelte funktional differenzierte Weltgesellschaft. Moral setzt Religion im alltagsweltlichen Sinne richtigen Glaubens nicht voraus, sofern darauf verzichtet wird, Religion auf dieses Sinnverständnis zu verkürzen. Das tut Kant, wenn er davon ausgeht, dass ein den Bereich empirisch erfahrbarer Dinge transzendierendes 109 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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Wissen schlicht Glaube heißt. Das Fürwahrhalten ist ein Wissen, das Glauben ist. 31 Nicht eine bestimmte, nämlich religiös zu nennende Praxis bekommt es mit Glaubensdingen zu tun, sondern auch die jeder empirischen Untersuchung zugrundeliegende oder aus ihr abgeleitete Theorie. Wenn der Glaube mithin ubiquitär ist und nicht auf eine Haltung so genannter Gläubiger reduziert werden darf, so ist bei Kant der religiöse Glaube noch in besonderer Weise ausgezeichnet und somit nicht einfach eine Glaubenshaltung unter vielen möglichen. Davon zeugt der Satz: »Ich musste … das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.« 32 Interessant ist dabei insbesondere im Blick auf die heutige multikulturelle Problemlage, dass dieses unumgänglich auf Religion zusteuernde Moralbewusstsein keiner metaphysischen Begründung bedarf. Es folgt aus einer Funktion der Praxis selbst, die allerdings zu unterscheiden ist von psycho- und sozialstrukturellen Funktionen, mit denen der angelsächsische Pragmatismus religiöse Gefühle aufwertet. Jede alltägliche Überzeugung und selbst jede erfahrungswissenschaftliche Untersuchung setzt eine Theorie im Sinne eines Sets von Annahmen voraus, die zum individuellen oder kollektiven Glaubensbestand gehören muss, um einer empirischen Überprüfung für Wert befunden zu werden. Man kann Glaubensgewissheiten immer wieder überprüfen und gegebenenfalls erschüttern, man kann Wissen als Glauben entlarven und Glauben als vernünftig darstellen. Aber man erreicht mit dieser wechselseitigen Erhellung keinen Grund, der den Unterschied ein für alle Mal festlegen würde. Wo der Unterschied als solcher problematisiert und mithin die Unterscheidungsabhängigkeit des Bezeichnens als Glaube oder als Wissen tangiert ist, dort stößt man in religiöse Fragen vor. Moral aber geht der Religion und mithin einem Klärungsbedarf bezüglich der Unterscheidung von Wissen und Glauben voraus. Dies Erkenntnisinteresse einer Klärung ist bei Kant identisch mit der Freiheit als Bestimmungsmerkmal des Menschen. Denn ein bloß von äußeren und inneren Zwängen getriebenes Wesen will nicht wissen, ob das, was ihn antreibt Wissen oder Glauben ist. Die Praxis und mithin das Zusammenleben der Menschen setzen voraus, dass Urteile wie Handlungen verbucht werden und auf einen Träger zurechenbar sind. Nach Kant (KrV Log. Einl. IX (IV 72 f.) gibt es drei Arten des Fürwahrhaltens: Meinen, Glauben, Wissen. 32 Kant, KrV Vorr. z. 2. A. I 37-RC 32. 31
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Moral und Religion in der Systemtheorie
Sie setzen nicht bestimmte – positive, freundschaftliche – Gefühle voraus, sondern allein Willen und Freiheit. Weder der gute Wille noch nachgewiesene Freiheit sind gemeint, sondern dieselben als Faktum. Sofern bestimmte Ziele verwirklicht und Pläne in die Tat umgesetzt werden, ist das treibende Moment ein von außen an den Menschen herangetragenes Sollen oder ein von innen drängendes Bedürfnis. Ein um bestimmter Wirkungen willen vollzogenes Handeln nennt Kant pflichtmäßig. 33 Davon unterschieden ist das Handeln aus Pflicht, was gleichbedeutend ist mit einem Handeln, das nicht von äußeren Faktoren abhängig ist. Somit sind Wille, Freiheit und Moralität drei Begriffe, die dasselbe meinen, nämlich die Zurechenbarkeit als Grundlage des Zusammenlebens. Moral geht der Religion voraus, heißt dann: Zunächst muss zwischen Freiheit und Determination, zwischen Willen und Willkür unterschieden sein, bevor die Unterscheidung von Wissen und Glauben zum Gegenstand einer Klärung gemacht werden kann. In einen sinnfunktional-systemtheoretischen Kontext gestellt, lassen sich die beiden Unterscheidungen sozialem und sachbezogenem Sinn zuordnen. Ob eine Entscheidung in Freiheit getroffen wird oder unter Zwang erfolgt, ob der Entscheider zurechenbar ist, muss erst im sozialen Kontakt beantwortet werden. Und die Frage, ob ein vorgebliches Wissen bloß geglaubt und ein Glaube vernunftgemäß oder fanatisch, versponnen oder gar wahnhaft ist, wird erst im sozialen Prozess der wechselseitigen Abstimmung von Erwartungshaltungen brisant. Jeder Formgebrauch, so hieß es bei Luhmann, produziere einen blinden Fleck und involviere insofern Religion. Die Frage, warum dies so sei, führt direkt zur sozialen Sinndimension und mithin jener Dimension, der Luhmann den moralischen Formgebrauch des Unterscheidens von gut und böse/schlecht zuordnet. Der blinde Fleck wird nämlich erst dort zum ernsten Problem, wo das übliche Unterscheiden von wahr und falsch, von gut und schlecht oder von effizient und ineffizient seine Plausibilität verliert. Jede Kulturgemeinschaft richtet sich in einem bestimmten Kriterienkatalog als Grundlage allgemeiner Verständigung ein. Im jüdisch-christlichen Kulturkreis werden solche Kriterien von einer Aufklärungssemantik bestimmt, die systemtheoretisch gesehen ganz auf eine Übergangsgesellschaft vom hierarchischen zum funktionalen Differenzierungsprinzip zugeschnitten und nach Voll33
Kant, GMS (VII), BA 9.
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Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
endung dieses Typus nicht mehr informativ ist. Da dem Ineinander von moralischer und religiöser Kommunikation im weltgesellschaftlichen Informationsaustausch eine wachsende Bedeutung zukommt, da ferner die Richtung des Bedingungsverhältnisses vom Moralischen zum Religiösen und nicht vom Religiösen zum Moralischen für den Weltfrieden unabdingbar zu sein scheint, lohnt die Übersetzung der kantischen Postulatenlehre in eine gesellschaftsstrukturell kompatible Semantik.
2.
Selbstreferenz, Kontingenzformel, Autopoiesis
Moral führe zur Religion, heißt es bei Kant. Und: jeder Formgebrauch produziere einen blinden Fleck und impliziere insofern Religion, heißt es bei Luhmann. Äquivalente Formeln finden sich folglich bei den beiden Repräsentanten des modernen säkularen Denkens jeweils für Übergangsgesellschaften und für die voll entwickelte funktional differenzierte Weltgesellschaft. Dies gibt zu denken, in einer zunehmend von kulturkämpferischen Tendenzen bestimmten globalen Situation. Was beide Autoren beschäftigt ist die Unmöglichkeit, dieses Etwas zu bestimmen, auf das sich alle einigen können. Deshalb gilt es nachzufragen, worin die Koexistenz einer Menschheit gründen könnte, die durch religiöse, kulturelle, ethnische, sprachliche und ideologische Differenzen entzweit wird. Unter welchen Bedingungen hat die Menschheit Bestand, fragt der eine. Wie ist Gesellschaft möglich, fragt der andere. Und um einer Antwort näher zu kommen, setzen sich beide mit den Vorschlägen auseinander, die ihre Zeit jeweils unterbreitet, mit aufgeklärter Vernunft und mit diskursiven Verständigungsformen. Hier setzt jeweils die Kritik ein mit dem Verdacht, dass sich weder Vernunft noch Diskurs als das gesuchte Etwas eignen und dies aufgrund einer zirkulären Struktur, die jede Seite im Festhalten am eigenen Standpunkt bestärkt. Wenn es überhaupt etwas geben sollte, das die Menschheit zum Frieden motiviert, so kann es nur der explizierte Umgang mit dem Zirkel sein. Der Zirkel aber hat nur ein Thema und nur ein einziges Problem; dies ist seine Form, die Form der Selbstimplikation. Und explizierter Umgang heißt dann nichts anderes als weltgesellschaftlich plausible Semantik der Form. Da Kant die drei Fragen Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? mit dem Versuch der Unterbrechung des Zirkels 112 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Selbstreferenz, Kontingenzformel, Autopoiesis
einer sich selbst immunisierenden Vernunft beantwortet, müssen auch neuere Versuche hier einsetzen. Die verblüffenden Parallelen zwischen der Art und Weise, wie transzendentalem Idealismus und differenzialistischer Systemtheorie dies gelingt, deuten, gerade weil sie von Luhmann nicht intendiert sind, auf Notwendigkeiten hin, die sich aus der Logik ergeben. 34 Diese verlangt den Umgang mit der Kalamität, Vernunft mit vernünftigen Gründen zu kritisieren: Unter den vielen Vernunftäußerungen soll zwischen wahr und falsch, gemäß und ungemäß unterschieden werden. Die Vernunft soll über sich selbst zu Gericht sitzen. Das tut sie aber nicht, denn sie kann sich selbst nicht dementieren, sondern nur steigern und überbieten. Wenn eine Wahrheit nur durch eine konkurrierende Wahrheit in Frage gestellt, ein Vernunftgebrauch nur durch einen anderen kritisiert und ein Gut nur durch ein Besseres schlechtgemacht werden kann, dann zeigen sich Meinungs- als Machtkämpfe. Da sich der Selbstbegründungszirkel der Vernunft offensichtlich nur unterbrechen lässt, indem ein Ununterschiedenes willkürlich unterschieden wird, kommt Macht ins Spiel. Dem wird Rechnung getragen, sobald nicht mehr eine wertende Metapher wie Vernunft oder synonym verstandener Diskurs bemüht wird, wo es einfach nur um Beobachten geht. Der erkenntnistheoretisch aufgewertete Begriff des Beobachtens meint eine Form im Sinne Spencer-Browns, eine selbstimplikative Operation des unterscheidenden Bezeichnens: »Entscheidend ist, daß die Beobachtung selbst als die erste Unterscheidung zu gelten hat.« (Luhmann 1990, 74). 35 Die beobachtete mit konkreten Meinungen und Verhaltensweisen identifizierte Vernunft zerfällt in die selbst- und die fremdreferenzielle Perspektive. Sie zerfällt in vernünftig und unvernünftig. Seine neokantianische Lesart hindert Luhmann dran, dies zu sehen. So wird dem Ding an sich nicht die Erscheinung, sondern die Vernunft gegenübergestellt, die jetzt die Funktion letzter Einheit (Prinzipien, Gründe) übernimmt. Luhmann (1990, 423 Anm. 84) setzt an die Stelle die Paradoxie der Einheit von Fremdreferenz (Ding an sich) und Selbstreferenz (Vernunft). 35 Damit mag Luhmann den Formbegriff Spencer-Browns erweitert haben »indem er ihn zusätzlich mit einer Gewichtung und einer bezeichnenden Komponente ausstattet.« (Hennig 2000, 193). Luhmann geht es aber nicht um die mathematische Darstellung der Laws-of-form, sondern um Erweiterung, indem er den Kalkül – Bezeichnen ist nichts weiter als Unterscheiden – auf Phänomene der Sinnkonstitution anwendet. Zur allgemeinen Rezeption der »Laws of Form« Spencer-Browns in der Systemtheorie siehe L. H. Kauffman, Das Prinzip der Unterscheidung, in: Baecker 2005, 173–190; Baecker 1993; ders. 1993a. 34
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Weil dies aber so ist und kein objektives Kriterium des Unterscheidens zur Verfügung steht, schleicht sich ein Zweifel in diese Beobachtung mit der Frage, ob es überhaupt vernünftig sein könne, zwischen Vernunft und Unvernunft zu unterscheiden oder ob es nicht ratsam (vernünftiger) wäre, dieselbe Meinung oder Verhaltensweise als nützlich und schädlich oder als rechtskonform und rechtswidrig zu unterscheiden. Jede Selbstanwendung der Unterscheidung führt in Paradoxien: Vernunft, die auf vernünftige Weise von einem anderen unterschieden wird, tritt als Einheit und als Differenz in Erscheinung. Aus diesem Grund ist das »Unterscheiden-und-Bezeichnen … als Beobachten eine einzige Operation; denn es hätte keinen Sinn, etwas zu bezeichnen, was man nicht unterscheiden kann …« (Luhmann 1990, 94 f.) 36 Der Begriff des Beobachtens wird gegenüber dem Begriff der Form vorgezogen, weil Beobachten nicht nur der Sachdimension (Logik), sondern auch Zeit- und Sozialdimension gerecht werden kann: Aus dem Subjekt wird der Beobachter qua Entscheider. Entscheiden aber verweist auf Macht. An dieser Stelle wird gemeinhin auf Verfahren der Legitimitätsbeschaffung verwiesen, die mit Max Weber als traditionale, rationale und charismatische bestimmt sind. Dabei handelt es sich jedoch nur um die Beschreibung bereits durchgesetzter Regelungen, aber es werden nicht die Gründe freigelegt, die hinter den in Machtkämpfe verwandelten Meinungskämpfen um richtiges Handeln stehen. Den Schritt zurück von den Macht- zu den Meinungskämpfen bis hin zu den begründenden Entscheidungen über Wahrheitsfragen schafft nur ein radikalisierter Formalismus, der nicht auf den Inhalt, sondern auf die Funktion einzelner Unterscheidungen achtet: Dient die Unterscheidung dem Bezeichnen von etwas, so werden inhaltliche Bestimmungen eines Wahren, eines Legitimen, eines Guten und Gerechten zur Grundlage von Entscheidungen. Da solche Bestimmungen aber kontingent sind, bedarf es einer relativierenden Zweitcodierung in Form einer Unterscheidung, die ganz auf diese Funktion reduziert ist, die Kontingenz zum Ausdruck zu bringen. Dies gelingt In Spencer-Browns operativer Logik liege die »einfachste und eleganteste Behandlung« vor, indem sie das Unterscheiden und Bezeichnen zu einer Operation zusammenfasse, »die ihr Paradox gleichsam vor sich herschiebt, bis der Kalkül komplex genug ist, daß er die Form eines ›re-entry‹, eines Wiedereintritts der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene (oder: einer Form in die Form) annehmen kann« heißt es bei Luhmann (1990, 94).
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nicht auf semantischem Wege etwa durch den Terminus Toleranz, der das Akzeptieren von Kontingenz als allgemeinverbindliches Sollen festschreibt. Denn damit wird nur ein weiterer selbstbezüglicher Wert den bereits bestehenden Werten hinzugefügt, die nicht negiert, sondern nur überboten werden können: Dass Toleranz fehlt und infolgedessen von Intoleranz gesprochen werden muss, lässt sich nur auf der Grundlage eines spezifizierenden Kriteriums behaupten. Dieses erhebt den Anspruch, ein Gutes durch ein Besseres zu überbieten und gerät somit in jenen Selbstbegründungszirkel, der nicht durch weitere Überbietungen, sondern nur durch Unterbrechung davor bewahrt werden kann, die Gestalt von Machtkämpfen anzunehmen. Daraus folgt, dass diese Funktion der Unterbrechung von Selbstreferenz nicht durch einen Einheitsbegriff erfüllt sein kann, sondern nur durch eine Differenz. Die kantische Unterscheidung von Empirisch und Transzendental dient dieser Funktion der Unterbrechung des Selbstbegründungszirkels. Sie macht in diesem Sinne keinen Unterschied, sondern erinnert die Wissenden nur daran, dass die Voraussetzungen ihres Wissens nicht selbst gewusst werden können und damit der Streit der Meinungen die Substanz entbehrt, um derentwillen zur Waffe gegriffen werden müsste. Diese Unterscheidung von Empirisch und Transzendental ist vom Neukantianismus jedoch madig gemacht worden. Sie gilt heute als metaphysisch und hat die Philosophie bewogen, die Friedensfrage beiseite zu schieben und sich anderen Themen zuzuwenden. Der Friede ist zum Erkenntnisgegenstand der Gesellschaftswissenschaften geworden und so wundert es nicht, dass von hier aus eine neue Suche nach Unterscheidungen in Gang gekommen ist, die sich als Substitut für das Verlorene eignen. Der ersten Frage nach den Grenzen des Wissens nähert sich die Systemtheorie mit Hilfe von Unterscheidungen wie Empirie und Realität, aber auch von Operation und Beobachtung. Diese versetzen sie in die Lage, Selbstreferenz zu unterbrechen, ohne die Illusion mit zu erzeugen, hier sei die Annäherung an ein Wahres, Vernünftiges und Gutes gelungen, das die Herabsetzung von Kulturen rechtfertigt. 37 Konstruktionstypische Parallelen transzendentalphilosophiSiehe Luhmanns (1969) Auseinandersetzung mit dem Eurozentrismus Husserls. Hans Bernhard Schmid (1997, 278) zieht in Zweifel, dass der »Ausschlussgestus« in Husserls Begriff Europas durch die Reformulierung in Luhmanns Begriff der Weltgesellschaft zum Verschwinden gebracht werde. Dem lässt sich entgegenhalten, dass
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scher und systemtheoretischer Annäherung an die drei Sinndimensionen zeigen eine Kontinuität des Umgangs mit fundamentalen Problemen sachlichen, sozialen und zeitlichen Sinns. Kant und Luhmann legen bei den zentralen theorieleitenden Unterscheidungen das Gewicht auf die Funktion eines Differenzschemas, zwei Seiten in ihrer nicht nivellierbaren Unterschiedlichkeit festzuhalten. Indem deutlich wird, dass es nicht auf einen Unterschied von Etwas, sondern auf die Unterscheidung ankommt, stellt sich die Frage nach der Funktion und nach dem Preis dieser Gewichtung. Die Funktion besteht darin, das zu relativieren, was in einer bestimmten Zeit als Wissen, als Dürfen und als Urteilsvermögen Anerkennung findet. Für die Aufklärung ist dies ein nahe liegendes Unterfangen, gilt ihr doch das tradierte Wissen eher als Produkt von Vorurteilen, tradierte Moral als Hindernis für die freie Entfaltung und tradierte Urteilsformen als Behinderung des historischen Fortschritts.
Zur unaufhebbaren Unterscheidung in der Sachdimension Angesicht der Tatsache, dass Bemühungen um eine Aufklärung über die spezifischen Verdunkelungsstrategien aufklärerischer Schematisierungen von Seiten der Modernisierungstheorien als bloße Denkrichtung oder sogar als quasi-ideologisch-sektiererische Schule abgetan werden, gilt es, dem Streit über Begriffe eine Darstellung der Formlogik unterscheidenden Bezeichnens dieser Begriffe zur Seite zu stellen. Jetzt wird deutlich, dass sich das relativierend-aufklärerische Moment in den Effekten der Wahl einer Unterscheidung verbirgt, die sich gegen ihre Aufhebung immunisiert. Es zeichnet sich damit völlig unabhängig von der Wahl bestimmter Begriffe. Kants Unterscheidung von Empirisch und Transzendental hätte keine gedanklichen Mittel gegen religiösen Dogmatismus, aber auch gegen Materialismus, Fatalismus, Atheismus, freigeisterischen Unglauben, Schwärmerei und Aberglauben, Idealismus und Skeptizismus 38 zur Globalisierung als Effekt funktionaler Differenzierung nur dann Ganzheit, Inklusion fortführen würde, wenn diesem Typus von Gesellschaftsstruktur das semantische Korrelat Kontingenzbewusstsein als zeitgemäß reformuliertem Vernunft-Telos korrespondieren würde. Die ethischen Implikationen des postontologischen und differenztheoretischen Formalismus dieser Systemtheorie legen eine andere Deutung nahe. 38 Kant Vorrede der KrV B, 30.
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Verfügung stellen können, wenn mit ihr nicht der Grenzverflüssigung im religiösen Schema von Immanenz und Transzendenz ein Riegel vorgeschoben worden wäre. Bevor der Wissende sich auf Erlebnisse der Offenbarung beruft, muss er apriorische Erkenntnisbedingungen in Rechnung stellen, die das relativieren, was ihm offenbar geworden ist. Ohne auftrumpfendes Wissen aber fehlen die Gründe, mit der der Überzeugte seinen Krieg gegen Andersdenkende rechtfertigen könnte. Die Unterscheidung von empirisch und transzendental schiebt der Entdifferenzierung von Immanenz (Erde) und Transzendenz (Himmel) einen Riegel vor. Wird die Unterscheidung zwischen dem Glauben und dem Unglauben nicht im Horizont des empirisch identifizierten Unterschieds inklusive jenen Bedingungen relativiert, die einen solchen Unterschied sehen und machen lassen, so handelt es sich um Aberglauben. Dieselbe Konklusion wiederholt sich bei allen weiteren von Kant kritisierten Haltungen: Im Falle des Idealismus – Kant nennt Descartes und Berkeley – verlässt sich der Urteilende allzu rasch auf ein wahres Kriterium für den Unterschied zwischen Erscheinung und Ding an sich, ohne selbst eine Beobachterposition außerhalb dieser Unterscheidung beziehen zu können. 39 Beim Materialismus glaubt der Erkennende sehr wohl zu wissen, dass Ursächlichkeit im Materiellen und nicht im Ideellen zu suchen ist, ohne die Ursächlichkeit dieser Unterscheidung selbst als materielle bestimmen zu können. Ein solches sich selbst als Wissen ausgebendes Nichtwissen liegt auch beim Atheismus vor, der sich mit dem Nachweis, dass Gott nicht existiere, auf dieselbe Ebene angemaßten Wissens begibt wie der religiöse Dogmatiker. Luhmann (1988; 1990a, 31 ff.; 1990, 68 ff.) rettet die argumentative Figur einer gegen ihre Aufhebung immunen Unterscheidung zunächst mit der Unterscheidung von Beobachtung erster und zweiter Ordnung. Nur auf diese Weise lässt sich religiösen und/oder säkularen Glaubenskriegen die Legitimationsgrundlage entziehen. Der erste Beobachter sieht einen Unterschied, der zweite Beobachter relativiert denselben im Horizont des von ihm wahrgenommenen Beobachtungsschemas, das den Unterschied erst als solchen erkennen lässt. Der zweite Beobachter mag zwar den blinden Fleck des ersten erkennen, aber er projiziert in dieses Sehen einen eigenen blinden Fleck und Kant, KrV tr. Anal. 2. B. 2. H. 3. Abs. 4. Widerlegung des Idealismus (I 255 f. – Rc 316).
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verfehlt allein damit wieder Erkenntnis im emphatischen Sinne. 40 Aufgrund dieser Unklarheit kann er nun aber noch nicht einmal sagen, dass er das Beobachtungsschema des beobachteten Beobachters richtig wahrnimmt. Diese gemeinsame Funktion der transzendentalphilosophischen und der konstruktivistischen Unterscheidung, gegen ihre Aufhebung zu immunisieren, torpediert die Figur des rationalen Akteurs, der gleich einem Zünglein an der Waage entscheidet. 41 Die parallele Formlogik kulminiert bei Luhmann in der Figur reflexiven Beobachtens: Das Unterscheiden von Unterscheidungen, mit denen die Beobachter arbeiten und die im Beobachten der Beobachter zu beobachten sind, muss noch von einem Ununterschiedenen unterschieden werden »das damals Gott hieß und heute, wenn man System und Umwelt unterscheidet, Welt, oder, wenn man Gegenstand und Erkenntnis unterscheidet, Realität.« (Luhmann 1988, 29). Was für die kantische Formlogik gilt, das gilt auch für Luhmann. Kommt es jedoch im Gegenteil nicht auf die Unterscheidung, sondern auf den spezifizierbaren Unterschied von Empirisch und Transzendental beziehungsweise von Unterschiedenem und Ununterschiedenem an, dann rückt die besondere Hinsicht in den Vordergrund, unter der erst ein Unterschied sichtbar wird. Es muss jetzt genau angegeben werden, was in den Bereich des Erfahrbaren (Unterschiedenen) und was in den Bereich von Bedingungen fällt, die jeder konkreten Erfahrung vorhergehen (Ununterschiedenen). Allein dies ist nur als Entscheidung möglich, die bestimmte Erfahrungswerte in den Rang von Bedingungen hebt. Die Kontingenz von Bestimmungen macht das Verfahren der Detranszendentalisierung zum Dezisionismus, der im Wissen um ein Gut gerechte Kriege legitimieren lässt. Aus diesem Grund muss der Versuchung widerstanden werden, die Differenz um einer Einheit willen aufzuheben. Der dafür zu entAus diesem Grund wählt Luhmann (1988, 29) als Partner des Konstruktivismus nicht die Erkenntnistheorie, sondern die Theologie. Es geht um die Suche nach einem Ansatz, der das Säkular-Religiös-Schema transzendiert und damit neue Impulse für den interkulturellen Austausch liefert. Schulte (1993) missversteht die transitorische Figur des zweiten Beobachters als Garant von Letztgewissheit und spricht folglich von einem blinden Fleck der Systemtheorie bezüglich der Selbstmystifizierung des Beobachters zweiter Ordnung, der an die Stelle des göttlichen Geistes trete. 41 Der Begriff der Beobachtung dritter Ordnung dient zur Bezeichnung von Prüfverfahren für die Beobachtung von Beobachtungsweisen. (So Baecker 2001, 46–50; Stegmeier (1998, 65 f.). Luhmann (1990a, 47) selbst fördert Missverständnisse, wenn er Hegels Logik als großes Vorbild für Theorien nennt, die Unterscheidungen unterscheiden. 40
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richtende Preis ist allerdings hoch. Denn die verlorenen Gewissheiten führen zu gravierenden Problemen der Desorientierung. Es sind drei Felder, auf denen Wissen nach funktionalen Äquivalenten verlangt und infolgedessen das differenzerhaltende Bemühen in Grenzen gehalten werden muss. Nicht verzichten lässt sich offensichtlich auf eine als Wissen auftretende Überzeugung, dass der Vorzugswert einer Unterscheidung nicht hinfällig wird, sollte ein nach ihm gerichtetes Handeln erfolglos geblieben sein. In der Sprache Kants geht es um ein Wissen um die prinzipielle Übereinstimmung von Würdigkeit (Handeln nach dem moralischen Gesetz) und Glückseligkeit (Bewirken von Gutem). 42 Ein tätiger Mensch handelt, als ob es eine Instanz gäbe, die langfristig gute Wirkungen dieses Handelns selbst dann verbürgt, wenn Erwartungen enttäuscht werden. Der subjektive Glaube tritt folglich gegenüber einem bewusst oder nicht bewusst vollzogenen Postulieren von Zweckmäßigkeit im Sinne von Erfolg versprechend ganz zurück. Der tätige Mensch postuliert einen Gott, der die Übereinstimmung von Absicht und Resultat – aufs Ganze gesehen – sicherstellt. Was im religiösen Kontext als Gott semantisiert ist, dies lässt sich auch mit Adam Schmith als unsichtbare Hand, mit Hegel als objektiver Geist, mit Marx als historisch-materialistisches Gesetz, mit Freud als Manifestmachen von Latentem oder mit Husserl als intentionale Sinnstruktur umschreiben. Der Pragmatismus scheint all diese Konzepte in dem sie bestimmenden Prinzip der Wirksamkeit zusammenzufassen. Der heutige Diskurs sieht in ihm folglich die motivierende Kraft dieses Glaubens am deutlichsten zum Ausdruck gebracht. 43 Die Gegenüberstellung unterschiedlicher Quellen der Motivation denkt von einer immer wieder neu zu bestimmenden Ursächlichkeit her, die an dem bei Kant Gemeinten jedoch vorbeigeht. Denn Postulate werden nur für jene Bereiche benötigt, die dem Verstand verschlossen bleiben und die sich diesem dennoch als Fragen immer wieder aufdrängen. Nicht unzugänglich, sondern Zug um Zug transparent zu machen, sind hingegen Bedürfnisse des Attribuierens von positiven und negativen Wirkungen, Bedürfnisse der Deu-
Kant, KrV tr. Meth. 2. H. 2. Abs. (I 672 f. – Rc 825 f.) nennt eine der Sittlichkeit entsprechende Glückseligkeit das »höchste Gut«. 43 Zur Vielfalt der religiösen und weltanschaulich-säkularen Formen, in der sich ein solcher Kraft spendender Glaube artikulieren kann siehe William James (1997), den bis heute wegweisenden Mitbegründer des amerikanischen Pragmatismus. 42
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tung und Sinngebung, mit denen sich die nachmetaphysischen Formulierungen des Motivationsproblems befassen. Diese müssen nicht prinzipiell unbefriedigt bleiben. Deutlicher als die gleichsam aktionistische Interpretation des Postulierens als kontrafaktische Setzung mag deshalb die umgekehrte Formulierung den gemeinten Sinn zum Ausdruck zu bringen: Der nicht in Resignation verharrende, nicht mutlos depressiv untätige Mensch gibt zu erkennen, dass er eine Sinnhaftigkeit seines Tuns postuliert. Das Gottespostulat beherbergt folglich eine Überzeugung, die mehr die Qualität von Wissen als von Hoffen hat. 44 Denn das Postulieren ist Teil des Handelns selbst und nicht nur der motivierende Impuls desselben. Das Postulat bleibt selbst dann unversehrt, wenn das gesamte Wissen einer Zeit in Frage gestellt wird. Es lässt sich zwar in einer religiösen oder in einer säkularen Sprache zum Ausdruck bringen. Aber da die säkularen Formeln Glauben nur als Glauben an etwas Bestimmtes oder zu Bestimmendes und nicht als Niederschlag einer reflexiven Glaubensgewissheit – als Glaube an die Kraft des Glaubens – verstehen können, greift Kant, obgleich nach einem säkularen Substitut für die verlorene christliche Religionsmoral suchend, auf die Gottesformel zurück. Luhmann bewegt sich mit seiner Art der Verbalisierung auf einem Niveau, das ein Gespräch zwischen den Einzelwissenschaften, der Philosophie und der Theologie und damit auch ein Gespräch zwischen den Kulturen und Religionen über Selbstreferenztheorien wieder neu in Gang bringen könnte. 45 Der Begriff der Selbstreferenz vermag nämlich deutlicher noch als der von Kant verwendete Begriff der Vernunft und der Vernunftbegabung das zum Ausdruck zu bringen, was im Gottesbegriff intendiert ist, nämlich das Moment einer von außen unzugänglichen Selbstbegründung und Selbstbestimmung. Da die Vernunftsemantik in die Jahre gekommen ist und Selbstfundierung zu einem von außen erkennbaren und durch andere zu beurtei-
Üblich ist die von neukantianischer Lektüre bestimmte Lesart des praktischen Vernunftglaubens an die Existenz Gottes und ein künftiges Leben als »persönliche Überzeugung« und »weder eines Wissens noch eines Für-wahr-haltens« (vgl. Heinz/ Krijnen 2007, 68). 45 Da wir alle in Bezug auf das Eintrainieren einer Beobachtung zweiter Ordnung Erben der Theologie seien, könne man verstehen, dass sich Theologen von säkularisierten Kontingenzen abgestoßen fühlten, kommentiert Luhmann in »Stellungnahmen« (in: Krawiez/Welker 1992, 371–386, 382) die Kritik u. a. an seinem Ansatz. 44
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Selbstreferenz, Kontingenzformel, Autopoiesis
lenden empirischen Phänomen hat werden lassen, 46 war es an der Zeit, den kantischen Sinn mit einem anderen Begriff wieder zu Tage zu befördern.
Zur unaufhebbaren Unterscheidung in der Sozialdimension Nach Kant trifft jede Rechtfertigung von Übergriffen auf Leib und Leben der Mitmenschen in letzter Konsequenz auf die Unterscheidung von Moralität und Legalität: Positive Gesetze, die mit dem Gerechten verwechselt werden, machen blind für Ungerechtigkeit. Und eine auf gesetztes Recht reduzierte Moral legitimiert jedes nicht ausdrücklich verbotene Handeln. 47 In dieser einander wechselseitig blockierenden Funktion bietet das Schema einen maximalen Menschenrechtsschutz. Diese Einsicht ist von bleibender Aktualität und überdauert gesellschaftsstrukturellen Wandel. Heute wird mitunter eine Verstärkung der beiden Extreme beobachtet: Der Verrechtlichung und Verregelung von immer weiteren Bereichen des gesellschaftlichen Lebens 48 steht eine Tendenz zur Aufkündigung von Regeln gegenüber, zum Außerkraftsetzen von völkerrechtlichen Prinzipien durch außergesetzliche Tötungen und unerklärte Drohnenkriegführung unter permanenter Verletzung von Menschenrechten. Jede aufgekündigte Regel setzt einen neuen Standard, der militärische Netzwerk-Angriffe zum probaten Mittel der Destabilisierung ziviler Kommunikationsnetze feindlicher oder zu Feinden deklarierter Gemeinschaften werden lässt. Diese Tendenz zur simultanen Verstärkung beider Extreme setzt Hoffnungen in die Ausarbeitung eines
In der praktischen Philosophie ist es heute ein Begriff von Selbstbestimmung, der als geltend Machen von Gründen die Öffentlichkeit in den Vordergrund rückt. Siehe die Ansätze zum Humanprojekt von Gerhardt, Nida-Rümelin, Sturma, in: Ganten/ Gerhardt/Heilinger/Nida-Rümelin (2008, 1–10; 11–18; 97–102; 197–198; 232–234). Zu Selbstbestimmungskonzepten im Schnittpunkt von Philosophie und Therapie siehe K. Brücher (2015). 47 »Das Wesentliche alles sittlichen Werts der Handlung kommt drauf an, dass das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme. Geschieht die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetz, aber nur vermittels eines Gefühls, welcher Art es auch sei … so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten.« (Kant KpV 1.T,1.B,3. H. (II 93). 48 Siehe Schlink (2005); Teubner (2007, 315) spricht von einer totalitären Gerechtigkeitssuche als »einer der unheilvollen Rationalitätsimperialismen der Moderne«. 46
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internationalen Regelwerkes als Mittel der Unterbindung eines neuen Wettrüstens und den Verzicht auf Cyber-Attacken herab. Die Überlagerung und Verdrängung des Instrumentalisierungsverbots durch das Regel-Ausnahme-Schema wird schon von Kant zurückgewiesen mit dem Hinweis, dass ein Außerkraftsetzen der Regel durch die Ausnahme nur plausibel sei, wenn die Ausnahme für sich eine höhere Moralität in Anspruch nehmen könnte, sodass sie mit Recht gesetztes Recht aushebelt. Woher aber wird dieses Recht zur Entdifferenzierung von Moralität und Legalität bezogen, wenn der Weg zur Berufung auf eine göttliche Instanz verstellt ist? Kant durchdenkt die Implikationen eines säkularen Legitimitätsdenkens, während in absolutistischen Kategorien festhängende Zeitgenossen stillschweigend an die Stelle der lex divina die Macht der eigenen Seite gesetzt haben in der Hoffnung, dass niemand den Betrug durchschaut. Hinter diese Aufklärung kann nicht zurückgegangen werden. Der Luhmannsche Ansatz beherzigt dies, wenn er im Rahmen eines zeitgemäßen kybernetisch-systemtheoretischen Sprachspiels ein funktionales Äquivalent für die kantische Unterscheidung anbietet. Es handelt sich um Moral und Ethik als einer Unterscheidung, die anders als die Gegenwartsphilosophie vorsieht, gegen jede Versuchung zur Entdifferenzierung gefeit ist. Im Gegensatz zur kantischen Unterscheidung fehlt jetzt allerdings der Personenbezug. Luhmann (2008, 336) betont die Unterschiede, wenn er darauf hinweist, dass Kant ebenso wie Thomasius und Gundling auf die Ausdifferenzierung des Rechts mit der »Unterscheidung innerer (sittlicher) und äußerer (rechtlicher) Gründe der Willensbestimmung« personenbezogen reagiere. Er bemängelt an dieser Semantik, dass man sich die adäquate Analyse des Gesellschaftssystems verbaue. Damit verweist er aber nur auf eine bereits von neokantianischen Strömungen viel geäußerte Kritik am individualistisch-solipsistischen Zug der Transzendentalphilosophie. Neu und weiterführend ist bei Luhmann aber jene Kontinuität eines differenztheoretischen Zuschnitts, der nach der Funktion von Unterscheidungen fragen lässt. Morales Unterscheiden von gut und schlecht/böse fungiert als eine Codestruktur, die Bedingungen der Achtung und Missachtung festlegt und in dieser Eigenschaft zu Streit Anlass gibt. Ethik ist nicht eine mit besseren Gründen ausgestattete Moral; sie ist vielmehr eine Argumentationsebene, die der normalen moralischen Kommunikation Hindernisse in den Weg legt. Um zu verhindern, dass im prakti122 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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schen Leben bereits als gut und richtig gilt, was nicht verboten ist und umgekehrt, dass von den Mitmenschen verlangt wird, der Kodifikation bestimmter Vorstellungen des Guten zuzustimmen, muss Freiheit postuliert werden. Denn nur, wenn Menschen unterstellt wird frei zu sein, muss ihre Weigerung, sich für fremde Zwecke instrumentalisieren zu lassen, ernst genommen werden. Rechnen Menschen hingegen damit, determiniert zu sein, so können sie weder Rechte in Anspruch nehmen noch Pflichten wahrnehmen. Die Instrumentalisierung durch Mitmenschen steht jetzt als Determinante neben anderen Formen der Determination, gegen die es keinen sinnvoll aussichtsreichen Widerstand geben kann. Freiheit hat als Postulat der praktischen Vernunft den Status eines Wissens, das alle Zweifel und Selbstzweifel übersteht. Denn um diese Freiheit in Abrede zu stellen, muss der Zweifelnde sich bereits als freier Mensch betätigen; er muss beispielsweise für ein deterministisches und gegen ein freiheitsorientiertes Menschen- und Weltbild optieren. Er muss folglich Widerstände überwinden, was als Gedanke nur möglich ist, wenn sich der Mensch gegen seine eigene Determination stemmt, wenn er dieser den Gehorsam verweigern kann. Sollte er aber wirklich nur ein Produkt neurophysiologischer Determinanten sein, so wäre sein Votum für den Determinismus und gegen die Willensfreiheit als Epiphänomen bloß neurologischer Prozesse wertlos; es gäbe schlicht kein Votum. Sobald aber der Entscheidung für die eine und gegen die andere Version Wert beigemessen und folglich der Urteilende ernst genommen wird, sieht sich dieser durch sich selbst und durch andere als freier Mensch geachtet; mit anderen Worten, es wird ihm die Freiheit unterstellt, sich zu seinen neurologischen Forschungen so oder anders zu verhalten, diese oder jene Schlüsse zu ziehen. 49 Ausgehend von einer differenztheoretischen Fassung der sozialen Sinndimension gewinnt die Kritik am kantischen Personenbezug eine über die bisherige Soziologisierung von Sinnfragen hinausgehende Bedeutung, wenn Freiheit auf eine breitere auch sozialreferenzielle Grundlage gestellt wird. Die Freiheit, von der Kant spricht, Der hirnphysiologische Einwand Benjamin Libets gegen die Willensfreiheit ist inzwischen von John-Dylan Haynes sogar experimentell widerlegt: Das hirnphysiologisch messbare Bereitschaftspotential kann durch den Willen übergangen werden. Siehe dazu »Proceedings« doi: 10.1073/pnas.1513569112. Zur philosophisch-psychiatrischen Kritik an der kategorialen Einebnung von Geist und Gehirn siehe K. Brücher/Gonther 2006.
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Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
scheint nämlich durch deutschen Idealismus und Materialismus relativiert, wenn es den einzelnen Menschen vom größeren Ganzen der sozialen Bezüge her zu beurteilen gilt. Aus der Perspektive der Verantwortung für die historische Entwicklung des Kollektivs ließ sich das Instrumentalisierungsverbot wieder aufheben. Hier setzt die differenzialistische Systemtheorie ein, indem sie sinngemäß ein Postulat der praktischen Vernunft auch für die soziale Referenz nachweist. Ebenso wie das Individuum nicht verantwortlich handeln kann, nicht zurechnungsfähig ist, wenn es im Bewusstsein lebt, in all seinen Handlungs- und Verhaltensweisen determiniert zu sein, so lassen sich kommunikative Beiträge nicht mehr zurechnen, wenn immer nur ein ganz bestimmter Anschluss für möglich und legitim erachtet wird. Das totalitäre Ordnungsprinzip suspendiert Verantwortlichkeit. Bezogen auf die einzelnen Sozialsysteme bedarf dieses Postulat der Freiheit in einer Gesellschaft voll ausgebildeter funktionaler Differenzierung immer wieder einer neuen Form der Spezifikation, um den Begriffssinn nicht zu verlieren. Dieser Sinn blieb im Rahmen des kantischen Rechtspazifismus an den Begriff der Verantwortung geknüpft und ließ sich infolgedessen nicht auf bloße Befreiung von unliebsamen Bindungen verkürzen. Die zentrale im Freiheitsverständnis immer mitgedachte Bindung meint Bindung an den Willen jenes Anderen, der nicht für meine Zwecke vernutzt werden möchte. Der politische Absolutismus ließ Kant die Dringlichkeit der Grenzfixierung von den Verfügungsansprüchen des politischen Systems aus denken. Heute gilt es solche Grenzen für jedes einzelne der von moralischen Bindungen befreiten Funktionssysteme zu bestimmen. Der speziell für diese Funktion reservierte Begriff lautet bei Luhmann: Kontingenzformel. 50 Für die Moral erfüllt Freiheit diese Funktion, für das Recht Gerechtigkeit, für die Politik Legitimität, für die Wirtschaft Knappheit, für die Wissenschaft Limitationalität, für die Erziehung Bildung und für die Religion Gott. Die Formel, die Kontingenz konturiert, enthält die Mitteilung, dass bestimmte Artikulationen eines Guten und Vorzuziehenden zwar grundsätzlich immer auch anders möglich sind. Aber dieses Faktum lässt sich nicht wieder zu einem absoluten Vorzugswert aufbauschen, sodass den einzelnen Hier geht es um die »Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität und damit um eine Funktion, die letztlich in den Funktionsbereich der Religion fällt.« (Luhmann 1990, 397).
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Selbstreferenz, Kontingenzformel, Autopoiesis
Funktionssystemen jede Übergriffigkeit und jede vergewaltigende Machtpraxis gestattet wäre, wenn sie sich in ihren Rechtfertigungen nur einer bestimmten kontingenzbewussten Rhetorik bedienen. Jede der einzelnen Funktionssysteme verfügt über eine solche Formel, die listenreichen Finessen des absolutistischen Denkens Einhalt gebietet: Die Moral setzt gegen den gebieterischen Moralismus der Moralisten die Freiheit. Das Recht setzt gegen die autoritären Paragraphenhengste die Gerechtigkeit. Die Politik begrenzt den unaufhaltsam rücksichtslosen Tatendrang der Durchsetzungsstarken mit dem Ruf nach Legitimität. Die Wirtschaft begrenzt den radikalen und nichts schonenden Verwertungswillen mit dem Hinweis auf die Knappheit von Ressourcen. Und die Wissenschaft dämpft den Übermut des forscherischen Größenwahns mit der Erinnerung an die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens. Dies meint Limitationalität. 51 Schließlich gilt es im Erziehungssystem immer wieder bewusst zu machen, dass neben der Vermittlung eines berufsspezifischen Knowhow Bildung im umfassenderen Sinne einer Befähigung zum Leben in unterschiedlichen Situationen vermittelt werden muss. 52 Auch die Religion kennt eine Kontingenzformel, die der intellektuellen Versuchung entgegentritt, im Transzendenten mehr zu sehen als die unzugängliche Seite des Immanenten. Dies geschieht mit dem Hinweis auf die prinzipielle Unerkennbarkeit Gottes. Solche Formeln der Selbstbegrenzung, die Funktionssysteme vor absolutistischen, dogmatischen, totalitären und fundamentalistischen Tendenzen bewahren, setzen die Differenz von Ethik und Moral voraus. Auch die beiden folgenden Stufen sind bei Transzendentalphilosophie und differenzialistischer Systemtheorie in auffälliger Parallele anzutreffen. Der zu erzielenden praktischen Vernunft entspricht bei Luhmann ein Verständnis von Ethik als Reflexionstheorie der Moral. Diese kulminiert bei beiden Autoren in Friedensgebot und Instrumentalisierungsverbot, bei Kant allerdings in expliziter, bei Luhmann nur in impliziter Hinsicht.
Nach Luhmann (1990, 396) handelt es sich um eine kybernetische und komplexitätstheoretische Zuspitzung der kantischen »Bedingung der Möglichkeit« nicht auf die Frage, was alles möglich ist, sondern auf die Frage nach den »Einschränkungen (constraints) in einem offenen Horizont, der unter anderen Bedingungen andere Möglichkeiten zulassen würde.« 52 Zu Menschenrechten zwischen Bildung und Ausbildung siehe Brücher (2012, 69– 83). 51
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Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
Zur unaufhebbaren Unterscheidung in der Zeitdimension Schließlich verbleibt die Frage, was wir hoffen dürfen und mithin die Entfaltung der Zeitdimension von Sinn. Die unterste Stufe bildet hier bei Kant in der dritten Kritik die Unterscheidung von selbstbezüglichem Subjekt, fremdbezüglichem Objekt und selbstbezüglichem Objekt. Bei letzterem geht es um vergesellschaftete Phänomene, um Organismen, aber auch um Gesellschaft im weitesten Sinne. 53 So ist die politisch verantwortliche Person in eine paradoxe Handlungskonstellation gestellt: Sie sieht sich Subjekten gegenüber, die als freie Wesen zurechnungsfähig und als solche mit Rechten und Pflichten konfrontiert sind; sie hat es mit strukturellen Gegebenheiten und Notwendigkeiten als objektiven Einschränkungen jeder Gestaltungsmacht zu tun und sie operiert in einem interaktiven Feld, in dem sie selbst und alle anderen zugleich Agierende und Reagierende sind. Dieses dreigliedrige Schema kann nicht entdifferenziert werden. Denn um bestimmten Menschen den Subjektstatus streitig machen zu können, um sie mit gutem Gewissen als Objekte machtpolitischen Kalküls zu gebrauchen, müsste die Leitunterscheidung der ersten Kritik aufgehoben werden können: Das bedeutet, der politische Entscheidungsträger müsste sich selbst zur Inkarnation des transzendentalen Subjekts erklären; er müsste sich selbst zur Bedingung von Möglichkeiten erheben, während den Mitmenschen ein bloß empirisches Wesen zuerkannt würde. Wie wir gesehen haben, lässt sich das Schema jedoch nicht auf eine seiner beiden Seiten reduzieren, weil es als Bedingung seiner eigenen Zweiseitenform fungiert. Auch hier lässt sich eine Analogie zum systemtheoretischen Setting ausmachen, wenn im Anschluss an die mathematische Logik George Spencer Browns (1997) das Handeln als Grundbegriff sozialwissenschaftlicher Theorie durch die trilogische Struktur zugleich wirksamer Selbstbeziehung, Fremdbeziehung und Transferbeziehung ersetzt wird. 54 Der Welt gestaltende und verändernde Akteur wird im Nach Kant (»Kritik der Urteilskraft«, KdU A 286/87, B 290/91) kennzeichnet ein selbstbezügliches Objekt, dass »die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, dass sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind.« Siehe dazu auch »Das Konzept der Wechselwirkung bei Kant« (Köchy in: Ingensiep/Baranzke/Eusterschulte, 78–106). 54 In einer selbstimplikativen Begrifflichkeit wird das Selbst zu seiner eigenen Markierung. Zu den Konsequenzen der Trilogik für die Unterscheidung von Selbst und Anderem siehe Glanville (1993). 53
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Selbstreferenz, Kontingenzformel, Autopoiesis
Hinblick auf die Perspektivendifferenz eines Blicks auf sich selbst, auf andere und auf die Beziehung zwischen diesen beiden Beziehungen zur formalen Figur des Aktors, der die Unterscheidung von System (Selbstbeziehung) und Umwelt (Fremdbeziehung) macht und in diesem Machen nicht umhin kommt, die Beziehung zwischen diesen beiden Relationierungsformen mit zu bezeichnen. Dieser Akt des Mitbezeichnens meint der Begriff System, weshalb man auch sagen kann, an die Stelle des Subjekts trete das System. Im Hinblick auf diese Funktion des Aktors ist mit System folglich eine selbstreferenzielle Relation bezeichnet. Chancen und Grenzen der Zukunftsgestaltung sind mit dem Begriff des Aktors sehr viel realistischer zu fassen als mit dem Begriff des Akteurs, der den Einfluss von Operationen als zielgerichtetes Verursachen einer Wirkung zugleich über- und unterschätzt. Überschätzt wird der selbstbezügliche Anteil, der willentliche Vollzug, der die Operation zum Mittel eines gewünschten Zwecks erklärt und also die Programme und Techniken der Umsetzung zu Quasi-Garanten einer gelungenen Verwirklichung erklärt. Unterschätzt werden Operationen – kognitiver, emotionaler, kommunikativer Art – bezüglich des fremd- und des transferreferenziellen Anteils. Gemeint sind sowohl die Reaktionen der Anderen als auch zu erwartende Eigendynamiken interaktiver Selbstverstärkungsprozesse. Diese bleiben reduziert auf die ideologisch-konstruierte, weil bloß antizipierte Wechselwirkung zwischen Plan und Reaktion. Da sich der Handelnde und Gestaltende nun offensichtlich in dieser paradoxen Lage befindet, mit moralisch ansprechbaren Subjekten, mit wissenschaftlich beeinflussbaren Objekten und mit unbeeinflussbaren weil in Wechselwirkungsbeziehungen verkeilten interaktiven Phänomenen zu tun zu haben, bedarf es wieder eines pragmatischen Vehikels, das kulturell geformt ist. Diese Funktion erfüllt bei Kant das Unsterblichkeitspostulat als Inbegriff einer Hoffnung, dass trotz paradoxer Ausgangslage nicht alle Anstrengungen vergebens sind. Bei Luhmann finden wir an entsprechender Stelle das freilich äußerst nüchterne und mit keinen emotionalen Konnotationen angereicherte Autopoiesiskonzept. Noch in einem dritten Bereich muss folglich ein Wissen postuliert werden, das jeder Kritik standhält, nämlich das Wissen einer vom individuellen Tod unberührten Wirkung des Handelns. Auch dieses Postulat der Unsterblichkeit kann wieder religiös oder säkular codiert sein. Und auch wenn es um die Relativierung des individuellen Todes geht, treten die Metaphern der unsichtbaren Hand, des 127 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
objektiven Geistes, der rationalisierenden Psyche, der historisch-materialistischen Gesetzmäßigkeit und der kulturell bestimmten Sinnstruktur als funktionale Äquivalente des Unsterblichkeitspostulats in Erscheinung. Luhmann bietet aber nicht nur eine avantgardistische Art der Semantisierung an, wenn er sich des Autopoiesiskonzepts bedient. Dieser Begriff bringt im Gegensatz zu den anderen modernisierten Metaphern den Wissenscharakter deutlicher zum Ausdruck. Während utilitaristische, idealistische, materialistische, psychologische und phänomenologische Semantisierungen des Unsterblichkeitstheorems auf die Seite des pragmatistisch begründeten Glaubens gewechselt sind, fokussiert der Begriff autopoietischer Anschlussoperationen auf jenes postulierte Müssen, das bei Kant hervortritt. Dieses Müssen beruht auf dem Wissen um ein nicht anders Können ganz im Sinne einer Quasi-Unfähigkeit, ein Ende wahrhaft zu denken und nicht bloß mit einem Gedanken suggerierenden Begriff zu versehen. Wenn nämlich das Bewusstsein aus dem fortgesetzten bewusst Sein und bewusst Werden von Etwas besteht, dann überschreitet der Hirntod die Grenze des Denkvermögens. Das Denken kann sein eigenes Ende nicht denken, sondern vermag den Körper, dem es sich zugehörig fühlt, nur als Leiche vorzustellen, oder er kann Seelen, Geister verkörperlichen. Dasselbe Unsterblichkeitspostulat gilt nun jedoch – und hier geht Luhmann über Kant hinaus – auch für andere Systeme außerhalb des Bewusstseins, etwa für das Soziale, das jenseits fortgesetzter Kommunikation nicht ist. Das Soziale – die Gesellschaft – kann ein Jenseits der Kommunikation nicht kommunizieren. Es kontaminiert alles Seelische, Natürliche oder Transzendente mit den Regeln, die Verständigung erst zustande kommen lassen. Die Gesellschaft kann ihr Ende, sei es als ökologische oder atomare Katastrophe nicht kommunizieren; sie kann nur griffige Formeln in Umlauf bringen, die sie selbst in einer paradoxen Weise über skandalträchtige Themen als kommunikatives Anschlussgeschehen stabilisiert. Als Postulat der praktischen Vernunft ist das neu semantisierte Unsterblichkeitstheorem in der Lage, ein Differenzbewusstsein zu erzeugen, das die wahren Gefahren in dieser kommunikativen Unerreichbarkeit größter Gefährdungen erkennen lässt. 55 Dies ist es, was Luhmann in seiner immer wieder missverstandenen Abhandlung über Ökologische Kommunikation zum Ausdruck bringen möchte. Das Buch erscheint 1986, dem Jahr des Reaktorunfalls von Tschernobyl.
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Selbstreferenz, Kontingenzformel, Autopoiesis
Autopoiesis wird zum funktionalen Äquivalent des Postulats der Unsterblichkeit allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es nicht beim bloßen Feststellen selbstreferenzieller Reproduktion bleibt. Denn die hiermit eingestandenen theoretisch-praktischen Grenzen transkribieren allenfalls die kantische Kritik an Urteilsformen, die auf den zeitlichen Horizont des Handelns ausgreifen und meinen, zukünftige Ereignisse vorausberechnen zu können. Aber sie scheinen keine Hinweise auf jene motivierende gegen Enttäuschungen und Rückschläge immunisierende Kraft zu enthalten, die den Postulaten eigen ist. Nicht bloß ein Distanzierungsgewinn kritischer Rückfragen, sondern eine dem Glauben zugesprochene handlungsmotivierende Funktion wächst dem Autopoiesisbegriff jedoch unverkennbar dort zu, wo der Wissenscharakter betont wird. Denn im Gegensatz zum subjektiv erlebten Glauben zielt der Begriff des Wissens auf objektive im Sinne von allgemeinverbindlichen Aussagen. Die Einsicht in die autopoietische Reproduktion organischer, psychischer und sozialer Prozesse lässt mich selbst als einen Fall dessen begreifen, was ich als Welt beobachte. 56 Die Tatsache, dass ich weitermache, ohne mich ständig der Sinnhaftigkeit dieser Fortsetzung zu versichern, zeigt mir selbst und anderen, dass ich de facto Unsterblichkeit auch dann postuliere, wenn ich mir dessen nicht bewusst bin. Aber die Vergegenwärtigung dieses Faktums der Autopoiesis und mithin ein Drang zur Semantisierung derselben – zum Beispiel als Jenseitsglaube, als Glaube an den historischen Fortschritt oder an eine objektive Sinnstruktur – macht sich erst bemerkbar, wenn die autopoietische Reproduktion unterbrochen wird. Wo dies geschieht, ist der Augenblick gekommen, an dem sich das Wissen um ein Nicht-anders-Können der autopoietischen Reproduktion in Hoffnung verwandelt. Das momentane Stimmungstief verliert seine existenzielle Bedeutung. Weder Notwendigkeit noch Wirklichkeit einer diesbezüglichen Kraft lassen sich folglich auf psychologische Bedürfnisse reduzieren, aber sie sind auch nicht auf dieselben angewiesen. Beschreiben lassen sich solche Phänomene selbstreferenzieller Reproduktion nicht mehr So erscheint Selbstreferenz als Gegenstandsstruktur, »die nicht auf der Subjektseite, sondern gerade auf der Objektseite der Erkenntnisrelation zu lokalisieren ist. Nur die Reflexivität des Erkenntnisprozesses, nur die Möglichkeit, Erkenntnis zu erkennen, lässt auch den Erkennenden selbst als Selbstreferenz erscheinen; dies aber nur, sofern er Objekt des auf Erkennen gerichteten Erkenntnisprozesses ist.« (Luhmann, Soziologie der Moral, in: ders.: 2008, 56–162, 93).
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Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
in einer Sprache der zweiwertigen Logik, einer Codesprache. Denn es kommt ein dritter Wert ins Spiel, der nicht nur das Kriterium des Unterscheidens von zwei Werten bestimmt. Geht es bloß um dieses Problem, so reicht die Methode des Beobachtens zweiter Ordnung vollkommen aus: Die Beobachter entdecken und entlarven den blinden Fleck nur beim Anderen, aber sie durchschauen nicht die Kriterien der eigenen Unterscheidungsoperationen. Dabei bleibt allerdings wieder zu berücksichtigen, dass der Beobachter ein operativer Begriff ist, der einen personal oder sozial zurechenbaren Aktor meint, der eine Unterscheidung macht. Inwieweit ein einzelner Mensch in der Lage ist, in Bezug auf sich selbst, den zweiten auf den ersten Beobachter folgen zu lassen, ist eine empirische und für jeden Einzelnen unterschiedlich zu beantwortende Frage. Wichtig ist nur die Zeitverschiebung zu berücksichtigen. Schlechterdings unmöglich ist es dem konkret einzelnen Menschen, die Beobachtungsoperation erster und zweiter Ordnung simultan zu vollziehen. Obgleich selbiges praktisch unmöglich ist, drängt sich die trilogische Struktur als theoretisch-praktisches Problem auf: Das Dritte, die Selbst- und Fremdbezug regelnde Transfersbeziehung, kann in einer Weise semantisiert – kulturell geformt – sein, die die Beziehung zu sich selbst und zu anderen stört, wenn nicht gar zerstört. Aber man kann im großen Angebot der Lifestyle-Angebote und Weltanschauungen nicht wissen, welches Sinnkonstrukt die psychische und soziale Autopoiesis stärkt, welches hoffen lässt. 57 Wieder also stoßen wir auf die drei Fragen Kants, die sich wider Willen aufdrängen, ohne je beantwortet werden zu können. Die Fragen der sachlichen Reichweite, der sozialen Bedeutung und der zeitlichen Relevanz – des Kairos – schieben sich immer wieder in den Vordergrund, weil jedes unterscheidende Bezeichnen die Welt in einer bestimmten Richtung beeinflusst und somit nicht als gleichgültig behandelt sein kann. Der blinde Fleck dispensiert den Beobachter nicht von seiner Verantwortung, sondern zwingt nur zur Verankerung derselben in einer Semantik, die eben dies Faktum simultan wirksamer Zwei- und Mehrwertigkeit präsent hält. Da der dritte
Fraglich ist, ob eine Ethik des guten Lebens, die Probleme der Identitätsgewinnung ernst nimmt, unter den Bedingungen der Globalisierung eine Alternative zu den auf Regeln fixierten utilitaristischen und kantischen Ethiken sein könnte, wie Reckwitz (2001, 215 f.) behauptet. Zum Konstrukt friedvoller Selbstbeziehung siehe Brücher (2015).
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Selbstreferenz, Kontingenzformel, Autopoiesis
Wert, der die Kriterien des Unterscheidens bestimmt, kontextabhängig ist, zeigt sich dieses Dritte als Vieles, als eine Vielzahl von Göttern, als eine Vielzahl von Lifestyle-Angeboten und Weltanschauungen. Erst in dem Augenblick, in dem dieses Faktum des erscheinenden Vielen als paradoxe Einheit des Dritten der einen Transfersbeziehung vergegenwärtigt wird, verschmilzt die Vielheit der Götter im Paradox des einen Gottes und die Vielheit der Lifestyle-Angebote oder Weltanschauungen im Paradox der Funktion des Anfertigens von Ego-Alter-Synthesen. Der Friede mit sich selbst und mit anderen wird erst dort möglich, wo dieses Eine als Paradox semantisiert wird. Darum bemühen sich Kant und Luhmann. Aus naheliegenden Gründen sträuben sich jedoch viele Menschen gegen ein solch blutleer-abstraktes Orientierungskonstrukt und insistieren auf etwas sichtbar und identifizierbar Konkretem, etwas zum Anfassen und zum sich streiten. Sie können sich nicht an einer Feier des Paradoxons erfreuen. Die Zwänge des Zusammenlebens einer immer größeren Zahl von Menschen in einer Weltgesellschaft aber könnte eine Kultur notwendig machen, die den Menschen eben dies abverlangt. Und das bedeutet: verlangt wird die Ausarbeitung einer Semantik, die das Eine als bloße Selbstreferenz, die Ideale als bloße Kontingenzformeln und die Zukunftsprojekte als bloße Autopoiesis beschreibt. Weder in der sachlichen noch in der sozialen oder zeitlichen Sinndimension ist jetzt die Paradoxie unterschlagen. Immer dringlicher erscheint es, transzendentalen Idealismus und differenzialistische Systemtheorie zusammenzuspannen. Denn die wertethische Umformulierung der Postulatenlehre führt zu einem dreifachen, nämlich logischen, sozial-moralischen und psychischen Scheitern. Wird auf das erste Postulat verzichtet und ein tatsächliches weil kontingenzbewusstes und fallibles Wissen angenommen, so sieht sich die Menschheit durch den Absolutheitsanspruch vermeintlich wohl begründeter Positionen tyrannisiert. Das wahrheitsanaloge weil seiner Irrtumsanfälligkeit bewusste Wissen unterscheidet sich vom bloß postulierten Wissen in den drei Sinndimensionen darin, dass es weder Instrumentalisierungsverbot noch Verbot gerechter Kriege anerkennen kann. Die Transformation des bloß postulierten in das wahre weil kontingenzbewusste Wissen gibt sich als Ziel nachmetaphysischen Denkens alternativlos. Unter weltgesellschaftlichen Bedingungen wird eine bloß deklaratorisch-rhetorische Distanzierung von absoluten Wahrheitsansprüchen nicht minder zu einer Gefahr für das friedliche Zusammenleben 131 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
als sie von apodiktischen Wahrheitsansprüchen ausgeht. 58 Auf der Ebene der Logik, anders gesagt, der sachlichen Sinndimension, bleibt das Problem der Paradoxie von Begründungen unlösbar. 59 Aber es gibt Modalitäten des Umgangs mit dieser Paradoxie, die dem Weltfrieden nicht entgegenwirken. Man könnte die Konsequenzen der wertethisch motivierten Preisgabe der Postulatenlehre für die Auseinandersetzung über sachbezogene Fragen als logisches Scheitern bezeichnen. Divergierende Interpretationen von Werten, von Situationen und Problemen werden auf unlautere Beweggründe zurückgeführt, auf Egoismen, auf Interessen, auf Ideologie oder auf strategisches Kalkül. In eine analoge Richtung bewegt sich die Zurückweisung des zweiten Postulats. Wenn Freiheit nicht nur als Logik der Zurechenbarkeit postuliert wird, sondern als Wert, als Anspruch und anthropologisch begründetes Bedürfnis allgemeine Gültigkeit beansprucht, so sind Instrumentalisierungsverbot und Verbot gerechter Kriege hinfällig. Zivil-militärische Praktiken, die das Ziel globaler Implementierung dieses Wertes verfolgen, sind gerechtfertigt. 60 In sinnfunktional aufgeschlüsselter Form finden sich bei Luhmann zwei Problemfassungen der sozio-moralischen Paradoxie, die Freiheit als bloßes Postulat oder bloßen Begriff der Zurechnung gegen das normative Verständnis eines allgemeingültigen Anspruchs verteidigen: Die Paradoxie der Selbstanwendung des Codes verleiht als Problemformel der Unsicherheit Ausdruck, ob das moralische Urteilen gut ist. Formallogisch handelt es sich um das re-entry des Moralcodes, den Wiedereintritt der Unterscheidung von gut und schlecht auf einer der beiden Seiten des Codes, in diesem Fall auf der Seite des positiven Wertes. Aber warum sollte die Moralisierung der Freiheit derselben zugutekommen? Warum sollte das in einen Wert oder eine Norm verwandelte Postulat die Freiheit auf- und nicht abwerten, wenn manche Menschen ihre Freiheit doch offensichtlich falsch geZur formlogischen Parallele von religiösem und säkularem Fundamentalismus siehe Brücher (2002, 143 ff.). 59 Luhmann (1987, 161–174, 163) sucht in entfaltungsbedürftiger Tautologie und Paradoxie nach Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft, die den Formalismus von Vernunft und idealistischem Ich (Fichte) überbieten. Zunehmend wichtig werden jedoch auch philosophische Anknüpfungspunkte. 60 In diesem Sinne reformulieren Walzer (1977) und Rawls (2002, 128 ff.) die Lehre vom gerechten Krieg für Humanitäre Interventionen und Antiterrorkriege. Zur Ethik des Interventionsrechts siehe Zanetti (1998, 297–324). 58
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Selbstreferenz, Kontingenzformel, Autopoiesis
brauchen? Treten Werte an die Stelle von Postulaten, so beteiligt sich die Ethiktheorie an Moralisierungen; sie verteilt Achtung und Missachtung nach selbst gesetzten Kriterien (gut/schlecht, frei/unfrei, gerecht/ ungerecht, fortschrittlich/rückschrittlich usw.). Die hoch geschätzte Operation des Begründens vermag deshalb nicht den positiven Wert (das Gute) zu steigern, sondern nur die Wertungslust (moralisches Unterscheiden). Die Preisgabe der Postulatenlehre provoziert moralisches Scheitern. In einer weiteren Hinsicht ist die Moralisierung der Freiheit problematisch. Die unterschiedslose Zurechnung von Freiheit, wie sie durch die Postulatenlehre gesichert ist, wird hinfällig im Rahmen eines säkularen mit sozialem Verhalten und Handeln identifizierten Moralverständnisses. Systemtheoretisch betrachtet erscheint dieses Problem als tautologische Selbstreferenz des Sozialen: Sobald moralisches Handeln mit sozialem identisch gesetzt ist, fehlt der kritische Abstand zu gesellschaftlichen Praktiken, zur gesellschaftlichen Handhabung des Moralschemas, zur aktuellen Definition des Guten/Gemeinschaftstauglichen und des Schlechten/Gemeinschaftsschädigenden. Das in einen Wert transkribierte Freiheitspostulat führt zu einem sozialen Scheitern. Denn nunmehr lassen sich Sündenbockpraktiken nur noch als pathologisch stigmatisieren, aber nicht mehr als ein Phänomen sozialer Interaktion begreifbar machen. Auch bezogen auf das dritte Postulat der Unsterblichkeit führt dessen wertethische Umformulierung zu Problemen, die politisch-sozialtechnisch nicht gelöst werden können, weil sie aus einem sinnwidrigen Umgang mit der Zeitdimension erwachsen. Im Rahmen der wertethischen Umformulierung erscheint nämlich die Frage wesentlich, ob dem Wert der Stabilität oder dem Wert des Wandels Priorität zukommt. Allein diese Frage ist unentscheidbar; sie macht blind für die Paradoxie unterscheidenden Bezeichnens von Beharrung und Wandel, von Struktur und Prozess und verleitet zur Hypostase fragloser Geltungen. In Paradoxien gerät dies Unterscheiden, sobald es sich als handlungsleitend bewähren soll: Stabilisierende Maßnahmen müssen flexibel auf den gegebenen sozioökonomischen Wandel reagieren und Änderungsprozesse müssen gewachsene Strukturen berücksichtigen. Was bleibt, ist eine Differenz ideologisch maskierter Absicht entweder zu bewahren oder zu verändern. Das in einen Wert verwandelte Postulat hinterlässt einander bekämpfende Ideologien änderungsresistenter kulturübergreifender absoluter Werte und kulturbedingter Präferenzen. Kontraktualismus/Neoliberalismus und 133 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Die drei Fragen Kants und ihre systemtheoretische Reformulierung
Kommunitarismus als die beiden prominenten Vertreter dieser beiden Richtungen lehnen infolgedessen Instrumentalisierungsverbot und Verbot gerechter Kriege ab. Das zentrale in der zeitlichen Sinndimension auftretende Problem liegt infolgedessen quer zur Unterscheidung von Beharrung und Wandel. Es besteht darin, dass gute Absichten (Stabilisieren, Verändern) schlechte Wirkungen haben können. Was demotivierend wirkt, ist die Unlösbarkeit von Problemen, die mit der zeitlichen Sinndimension in Zusammenhang stehen. Luhmann (2008, 335) spricht vom Problem der Paradoxie moralischer Motivation, das nur immer wieder in einer zeitgerechten Sprache artikuliert, aber nicht durch neue und immer bessere Institutionen gelöst werden könne. Das Problembewusstsein für diese Paradoxie scheint indes verloren gegangen zu sein und damit die Möglichkeit, adäquate Formen des Umgangs mit diesem Problem zu entwickeln. Man könnte die Folgen der wertethischen Auflösung der Postulatenlehre in der zeitlichen Sinndimension als psychisches Scheitern bezeichnen.
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IV. Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
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Institutionen erster und zweiter Ordnung
Im Gegensatz zur politisierten oder begründungstheoretischen Ethik sieht die reflexionstheoretische Ethik ihre Aufgabe nicht darin, moralische Kommunikation zu gestalten und zu rechtfertigen. Es geht ihr vielmehr darum, dieselbe zu kritisieren. Und da sich die Kritik nicht auf das übliche und insbesondere von sozialpsychologischer Seite viel getadelte Moralisieren von Sachthemen beschränkt, sondern weil sie die Moral im Visier hat, liegt der Verdacht einer antimoralischen Gesinnung nahe. Die Assoziation der Moderne mit wachsender Freiheit zu unmoralischem Verhalten scheint in diese Richtung zu gehen. 1 Es bedarf einer Hermeneutik philosophisch ernst zu nehmender postontologischer Theoreme der Systemtheorie, um zu einem anderen Urteil gelangen zu können. Die Rückbindung zentraler Begriffe an korrespondierende Begriffe der Tradition erhellt funktionale Äquivalente, die im Kern auf den Schutz des Einzelnen gegenüber den Instrumentalisierungsabsichten weltgesellschaftlich potenter Akteure zielen. Dabei lässt sich zeigen, dass die systemtheoretische Methodologie der Rekonstruktion funktional äquivalenter Theoreme über die Postulatenlehre hinausgreift und den zentralen Begriff der praktischen Vernunft, den kategorischen Imperativ erreicht, um denselben in einer zeitgemäßen neokybernetischen Sprache vor den Nivellierungstendenzen von Relativismus und Nihilismus zu retten. Hier steht ein Weiterdenken der Implikationen des systemtheoretischen Begriffsapparats an, der philosophische Anknüpfungspunkte dort erkennen lässt, wo Luhmann abfällig vom alteuropäischen Gedankengut spricht. Das nimmt der
Siehe Luhmann, »Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität«, in: ders. (1990, 26, Anm. 21).
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
Systemtheorie nicht ihre Originalität, aber es korrigiert ihre mangelnde Anschlussfähigkeit an die philosophische Diskussion. Die Suche nach funktional äquivalenten Antworten auf die drei Fragen, Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? führt zu Ergebnissen, sofern die zeitgemäß-plausible Umgangsweise mit Problemen als Antwort gelten kann. In der vormodernen Semantik stehen Glaube (Sachdimension), Liebe (Sozialdimension) und Hoffnung (Zeitdimension) in einem Spannungsverhältnis, das durch die Figur des Gewissens ausbalanciert wird. In der Moderne bringt die Trias von Wissen, Dürfen, Hoffen die vermittelnde Figur des kategorischen Imperativs hervor. Und für die Postmoderne würde es gelten, die Gestalt einer Trias von Beobachtung 1. Ordnung (Beobachtung von Gegenständen), Beobachtung 2. Ordnung (Beobachtung des Beobachters), Beobachtung 3. Ordnung (Transferbeziehung von erster und zweiter Beobachtung) als eine unter den gegebenen weltgesellschaftlichen Bedingungen einzig plausible semantische Gestalt herauszuarbeiten, die als vermittelnde Figur die transjunktionale Operation vorsieht. 2 Gegenüber den beiden vorangegangenen Gestaltungen scheint die für die heutige Zeit konzipierte Form lebensfern und abgehoben. Der hohe Grad an Abstraktion ist jedoch einer weltgesellschaftlichen Realität geschuldet, die ein nie erreichtes Maß an Vernetzung und kommunikativer Verdichtung aufweist. Politisch-ideologische, kulturelle und religiöse Gegensätze prallen mit zunehmender Heftigkeit aufeinander und es fehlt eine übergreifende Semantik, die nicht bloß gewaltgestützte Ansprüche (Menschenrechte) artikuliert. Die gewählte formallogische und neokybernetische Sprache antwortet auf den erreichten Grad an Heterogenität, der durch die fortgesetzte weltorganisatorische Kodifizierung von Bedürfnissen, Ansprüchen und Rechten in globale Gewalt umzuschlagen droht. Die Suche nach Gemeinsamkeiten muss aus diesem Grund ihren Ausgang von Sinnfunktionen nehmen und nicht von Werten, die als allgemeingültige hypostasiert werden. Angesiedelt sind solche Funktionen auf der elementaren Ebene der Vermittlung von Gegensätzen und nicht auf der Ebene von Bedürfnissen, Ansprüchen und Forderungen, die schlechTransjunktion »selegiert Positiv/Negativ-Unterscheidungen«. Luhmann (2000, 71) entlehnt den Begriff der mehrwertigen Logik Gotthard Günthers. Entsprechende Operationen entscheiden auch, ob ein bestimmter Code (z. B. Recht/Unrecht) angewandt oder nicht angewandt werden soll (Luhmann 2008, 185).
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Institutionen erster und zweiter Ordnung
terdings nicht zu universalisieren sind, ohne globale Verteilungskämpfe auszulösen. In jeder dieser drei semantischen Figuren, dem Gewissen, dem kategorischen Imperativ und der transjunktionalen Operation geht es darum, mit einander widersprechenden Normen oder Anforderungen auf eine dem Frieden zuträgliche Weise umzugehen. Es gilt zwischen Widersprüchlichem zu vermitteln, wobei die Widersprüche in jeder der drei Sinndimensionen, dem Sachlichen, dem Sozialen und dem Zeitlichen auftreten können. Diese Funktion muss von jeder Semantik erfüllt sein. Infolgedessen übergreift die Suche nach äquivalenten Topoi der Funktionserfüllung die Differenz von vormodernem und modernem Denken. Sie übergreift aber auch die Differenz von kulturellen Sinnstrukturen. Um dies Übergreifende deutlich zu machen, verwenden wir im Folgenden mit dem Theorem des Wechselns von Kontexturen einen von Luhmann verwendeten Begriff der mehrwertigen Logik auch für die Charakterisierung von vormoderner Semantik und von transzendentalphilosophischer Übergangssemantik. Bezogen auf die vormoderne Semantik ergeben sich Widersprüche im Sachlichen einer gemeinsamen Sicht der Dinge allein deshalb, weil absolute Wahrheit nur in Gott und infolgedessen dem Menschen unerreichbar ist. 3 Im Sozialen gehen widersprüchliche Anforderungen von der Stände- und der Religionsmoral aus. Erstere verlangt ungleiche, letztere verlangt aufgrund ununterscheidbarer Gottebenbildlichkeit aller Menschen gleiche Behandlung. Im Zeitlichen treten Widersprüche in Situationen auf, in denen es nicht möglich ist, jedes einzelne der zehn Gebote zugleich zu verwirklichen. In Dilemmasituationen einander widersprechender Gebote (nicht Lügen, nicht Töten) erhält das Gewissen die Funktion, zwischen inkommensurablen Kontexturen zu vermitteln. Mag das Lügen im Kontext alltäglicher Anforderungen auch verboten sein, im Kontext bedrohten Lebens scheint es mitunter sogar geboten. Die moderne Gestalt der sinnbezogenen Trias findet sich bei Kant in funktional äquivalenter Form ausformuliert. Weder für den Rationalismus noch den Utilitarismus als den beiden zentralen philosophischen Richtungen der Aufklärung sind Widersprüche konstituierendes Moment der Wirklichkeit. Vielmehr verbürgen Vernunft Hier gibt es Anknüpfungspunkte für Luhmann (1990, 77–94; 1997, 147) bei Nikolaus von Kues, der mit Entgegensetzungen arbeitet und nur Gott als die »coincidentia oppositorum« denkt.
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
und moralische Gefühle die sukzessive Auflösung von Widersprüchen, wenn sie nicht länger durch äußere Hindernisse an ihrer Entfaltung und Artikulation gehindert werden. Bei Kant sind Widersprüche im Sachlichen hingegen grundsätzlicher Art, nämlich die Folge von einschränkenden Erkenntnismöglichkeiten, die übereinstimmende Sichtweisen erschweren. Im Sozialen lassen widersprüchliche Maximen, Bedürfnisse und Interessen die naturgegebene und an sich produktive Streitlust destruktiv entarten. Und bezogen auf die zeitliche Sinndimension verlangen widersprüchliche Folgenkalkulationen ein vermittelndes Prinzip, das Kant allein im bedingungslosen Rechtsgehorsam anerkennt. Auch die moderne Gestalt der Trias fragt in jedem der drei Sinndimensionen nach einem versöhnenden Medium, das den Übergang von einer Kontextur in eine andere bewerkstelligt. Kontext steht hier für den situationsadäquaten Umgang mit Problemen als sine qua non auch des kantischen Vernunftverständnisses. Denn was im Kontext des alltagspraktischen Umgangs geboten sein kann, das verbietet sich mitunter im Kontext der diplomatischen Beziehung zwischen Staaten. Was im einen Fall als Offenheit und Ehrlichkeit hoch geschätzt ist, das erweist sich im Spiegel öffentlichkeitswirksamer Resonanz als unklug und gefährlich. 4 Wenn aber nicht alle Normen für alle Situationen in gleicher Weise regelnd in Funktion treten können, so bedarf es eines Prinzips, eines Mediums oder Instruments, das die Transitionsleistung erbringt. 5 Da für Kant allein der strikte Rechtsgehorsam und mithin das Prinzip der Legalität in der Lage sein kann, im Reich der diversen und unvereinbaren Zwecke vermittelnd einzugreifen und Einheit zu stiften, muss er die vormoderne Lösung verwerfen. Nicht das Gewissen, sondern allein ein Medium, das die logisch-moralische Bedingung für konsequenten Rechtsgehorsam schafft, kann als verallgemeinerbares Prinzip anerkannt sein. Diese Funktion erfüllt der kategorische Imperativ. Die systemtheoretische Trias gestaffelter Beobachtung als eine für die moderne funktional differenzierte Weltgesellschaft plausible Bezogen auf die Lüge folgt Kant allerdings der protestantischen Version der bedingungslosen Ablehnung durch Luther (1983, 64): »Die Lüge ist wie ein Schneeball, je länger man ihn wälzt, desto größer wird er«. 5 Der Begriff des Mediums als »Einheit der Differenz von loser und fester Koppelung« (Luhmann 1996a, 11) zeigt die Überbietung des Nachmetaphysischen durch das Postontologische in ihren praktischen Wirkungen der Überleitung, indem es ausdrücklich nicht um »Wissen« (»implizites Wissen« oder »Hintergrundwissen«) geht. 4
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Gestalt führt kein neues Prinzip ein, sondern reflektiert die Geltungsgründe der beiden vorangegangenen Transitionsformen. Dabei gelangt sie zum Urteil, dass Gewissen und moralisches Gesetz zu konkret seien und das heißt, in ihren kommunikativen Anschlüssen allzu sehr auf die westlich-abendländische Semantik angewiesen, um in der kulturell zerklüfteten Weltgesellschaft als Richtlinie dienen zu können. Wenn es auch nicht um ein neues ethisches Prinzip gehen mag, so geht es doch um ein neues Prüfverfahren, das formal genug ist, um in beliebige Sprachen und Diskurskulturen übersetzt werden zu können. In dieselbe Richtung zielt nun jedoch bereits Kant, der betont, dass der kategorische Imperativ kein »neues Prinzip der Moralität, sondern nur eine neue Formel« aufstellen solle. 6 Das immer weitere Erklimmen höherer Abstraktionsstufen verdankt sich zunächst der Konfliktanfälligkeit eines von der Konfessionsspaltung gezeichneten Europas. Es verdankt sich auch der wachsenden Vernetzungsdichte, die bereits das Jahrhundert Kants als Ergebnis, seine Wirkung entfaltenden Buchdrucks, überseeischer Kontakte und kolonialer Expansion herausforderte. Gegenüber dem Gewissen erweist sich der kategorische Imperativ als abstrakt und lebensfern. Unter den gegebenen Bedingungen einander feindselig gegenüberstehender Konfessionen scheint diese Umwegigkeit der verfahrensförmigen Gewissensprüfung aber unumgänglich. Dieses Verfahren der Normenprüfung ist nur dann in der Lage, einem nicht länger religionsmoralisch orientierten Gewissen Entscheidungshilfen an die Hand zu geben, wenn die besonderen Umstände berücksichtigt werden, die den Geltungsraum bestehender Normen einschränken. Der Hinweis auf konkrete Situationen und die Aufforderung, situationsadäquate Entscheidungen zu fällen, taugt jetzt nicht mehr. Denn im Falle von Dilemmata und Normkonflikten begegnet die Situation dem Handelnden als chaotisch und unstrukturiert. Es hätte jener intakten und unisono geltenden Religionsmoral bedurft, um aus der Situation bereits Anhaltspunkte für richtiges Entscheiden gewinnen zu können. Wenn Kant infolgedessen eine durch Konfessionsspaltung und Religionskriege in ihrer Geltung beeinträchtigte Religionsmoral durch eine überkonfessionelle säkulare Moral ersetzen möchte, so muss dieses neue Verfahren der Normenprüfung Konflikte im Bereich sachlicher Divergenzen – Wahr»Wer wollte auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diese gleichsam erst erfinden?« (Kant, KpV 1. Aufl., Riga 1788, Vorrede, 162).
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heitsfragen – ebenso berücksichtigen wie soziale Konflikte bezüglich unterschiedlicher Interessen oder Konflikte um die temporale Frage der Wahl von erfolgreichen Mitteln zur Erreichung eines bestimmten Zwecks. Die drei in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten präzisierten Teile des kategorischen Imperativs 7 bieten Verfahren der Normenprüfung für jedes der drei Sinndimensionen an: Treten Konflikte in Sachfragen auf und der religionsmoralische Hinweis, dass absolute Wahrheit nur in Gott und folglich auf keiner Seite der beiden streitenden Parteien zu finden sei, hat seine schlichtende Funktion eingebüßt, so ist folgender Imperativ zu beherzigen: Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte. (Kant GMS, BA 52). Die zusätzlichen Anhaltspunkte, die der Normenprüfungssatz für die Gewissensprüfung bereitstellt, betreffen die praktisch gewendete Wahrheitsfrage. Der Sachzwang geht wie im religionsmoralischen Imperativ von den Grenzen des Erkenntnisvermögens aus und verlangt die Frage zu beantworten, was geschehen würde, sollten alle Menschen einem natürlichen Trieb folgend je ihre subjektive Wahrheit mit Gewalt verteidigen. Das zweite Segment des kategorischen Imperativs betrifft Interessenkonflikte und tangiert somit die soziale Sinndimension. Hier macht sich der zweifache Orientierungsverlust bemerkbar. Neben der diskreditierten Religionsmoral beginnt ein selbstbewusstes Bürgertum Hand auch an die Ständemoral zu legen, die jedem Menschen einen Platz im gesellschaftlichen Erwartungsgefüge zugewiesen und damit Verteilungskonflikten vorgebeugt hatte. Konflikte um knappe Güter und Privilegien können jetzt nicht mehr geschlichtet werden, indem man dazu auffordert, das einem Jeden Zukommende zuteilwerden zu lassen, wie es seit der Politeia Platons (2011, 35) als Maßstab gerechten Handelns gegolten hatte. Sie bedürfen eines neuen Regulativs, das ein sozialverträgliches Maß für individuelle und kollektive Ansprüche enthält. Das sozial verunsicherte Gewissen verlangt nach einem zusätzlichen Verfahren der Selbstüberprüfung, einem neuen Imperativ, den Kant (GMS, BA 52) als Form der SelbstFür unseren Zusammenhang genügt die Beschränkung auf Naturgesetzformel (GMS BA 52), Gesetzesformel (GMS, BA 52) und Selbstzweckformel (GMS, BA 67). In der Metaphysik der Sitten bemüht sich Kant um eine weitere Spezifizierung und kommt auf fünf Imperative.
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befragung jedes Einzelnen nicht allzu weit von der Gewissensprüfung entfernt: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Das Prüfkriterium übernimmt Kant der Tradition gemäß dem Grundsatz, nur das ändern zu wollen, was tatsächlich veraltet ist und dies beschränkt sich auf die religionsmoralische Semantik, mit der die Schranken von Vergleich und Solidarität gesprengt werden. Mochten sich bisher die Gründe für Mitleid und Solidarität mit dem armen Bauernsohn für den adeligen Knappen aus der Gotteskindschaft aller Menschen abgeleitet haben, so verlangt das achtzehnte Jahrhundert, Grenzen sprengende Argumente einer wissenschaftlichen Methodik zu entnehmen, die allgemeine Gesetzmäßigkeiten aufzeigt. Auch der dritte auf die Zeitdimension bezogene Teil des kategorischen Imperativs intendiert keine neue Regel, sondern nur ein Verfahren, das die Gewissensprüfung erleichtert. Dies geschieht durch die Art der imperativischen Selbstbefragung, mit der der Fragende sich selbst als Teil der Antwort begreift: Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner eigenen Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest (Kant GMS, BA 67). Diese selbstimplikative Form kompensiert die Unmöglichkeit, Verantwortung für etwas zu übernehmen, das der Verfügung des Handelnden entzogen ist, somit für nichtintendierte Fern- und Nebenwirkungen einer Handlung, für die Zeit. Dennoch enthält die Art der Normenprüfung nicht anders als die Gewissensprüfung die Aufforderung, Vor- und Nachteile zu antizipieren. Es geht folglich nicht um Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen, sondern nur um Grenzen der Schuldzurechnung durch die Gesellschaft, um die Begrenzung der immer auch willkürlichen Festlegung von Haftungsbedingungen. Insofern setzt Kant die Tradition des christlichen Moralverständnisses fort, das in der gesellschaftlich konstituierten Zuschreibung von Verantwortung und Schuld des griechisch-römischen Sittenkodex’ den Ursprung des Sündenbockmechanismus vermutet. Zurückgewiesen wird die Ausweglosigkeit einer verhängnisvollen anonymen Schuldverstrickung jedoch nicht länger mit einer religionsmoralischen, sondern mit einer aufklärerischen wissenschaftlichen Semantik. Heute lässt sich ein gegenläufiger Prozess der Deplausibilisierung und Delegitimierung wissenschaftlich begründeter Moralsemantik und die Infiltration der massenmedialen Kommunikation durch radikalideologische und -religiöse, durch fundamentalistische 141 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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Semantiken beobachten. Da es sich nicht um die Konkurrenz von säkularen und religiösen Semantiken handelt, sondern um die Flucht einer obsoleten Normsprache in simples dichotomisches Denken von Freund und Feind, von Gut und Böse, liegt in der Fortsetzung der sollens- und der nützlichkeitsethischen Begründungsdiskurse kein Gewinn. Denn es ist ja die relativistische Zersetzung der überkommenen säkularen Moralsprachen, die ein Vakuum hinterlassen hat, das auch in den von der Aufklärung geprägten westlich-säkularen Gesellschaften einen Nährboden für fundamentalistische Bewegungen hat entstehen lassen. Es ist aber durchaus nicht nur die Selbstrelativierung der begründungstheoretischen Ethik, die der Beliebigkeit interessengestützter Präferenzen das Wort redet und auf diese Weise den Frieden mehr gefährdet als sie diesen durch Just-Peace-Programme fördern würde. Hinzu kommt, dass moralisches Gesetz und Kalkül als Verfahren der Norm- qua Gewissensprüfung etwas voraussetzen, das unter weltgesellschaftlichen Bedingungen funktionaler Differenzierung fehlt. Dies ist eine hierarchische Ordnung, wie immer eine solche Ordnung gestaltet sein mag. Denn erst von einer Spitze oder einem Zentrum aus lassen sich verbindliche Auslegungen wertethischer Imperative des Nützlichen und Zuträglichen formulieren. Die einzige in modernen funktional differenzierten Gesellschaften akzeptierte Hierarchie von zivilisierten und noch nicht zivilisierten, von entwickelten und unterentwickelten Ländern, von aufgeklärten und traditionalen Kulturen wird von Migrationsbewegungen und weltkultureller Durchmischung unterhöhlt. Zweierlei Defizite hat folglich eine Ethik zu beheben, die sich als eine weltgesellschaftlich kompatible Alternative anbieten möchte: Sie muss hinreichend abstrakt sein, um ein Höchstmaß an kultureller Heterogenität zu verkraften und sie muss dennoch spezifisch sein, um die notwendige Funktion friedenstauglichen Umgangs mit Widersprüchen in den drei Sinndimensionen erfüllen zu können. Das bedeutet, sie muss ein funktionales Äquivalent für religiös begründetes Gewissen und säkular begründeten Imperativ anbieten, der nicht länger auf eurozentrischen Fundamenten ruht, sondern heterarchisch strukturiert ist. Tatsächlich könnte ein Begriff der transjunktionalen Operation in der Lage sein, all die genannten Bedingungen erfüllen zu können, sofern ihm innerhalb der reflexionstheoretischen Ethik eine Schlüsselstellung eingeräumt wird. Die notwendige Generalisierbarkeit er142 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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gibt sich aus der Überbietung des kantischen Formalismus. Und die notwendige Spezifikation findet sich in den drei Bestimmungsmerkmalen der transjunktionalen Operation, der Grenze, der programmatischen Profilierung und der Autopoiesis. 8 Diese stehen gleich den drei Bestimmungsmerkmalen des kategorischen Imperativs zu den drei Sinndimensionen in Beziehung: Die Sachdimension von Sinn sieht sich darin geregelt, dass Grenze immer auch als Grenzregime in Erscheinung tritt. Das Soziale ist als genuin profilbildende Operation immer auch ein Programm guten Lebens und wirkt auf diese Weise regelnd noch bevor explizite Regeln etabliert werden. Und die Autopoiesis sorgt für Übergänge im Zeitlichen einfach dadurch, dass Operationen nur an Operationen desselben Typs anschließen können.
Grenze als transjunktionale Operation Die transjunktional verstandene Grenze steht für das Zwischen zweier Kontexturen, die beliebig bestimmt sein können, politisch, sprachlich-kulturell, historisch. Es würde dem Phänomen nicht gerecht, wollte man dieses Zwischen als Medium der Integration und Abgrenzung verkürzen. Vielmehr handelt es sich um einen genuin operativen Begriff, um ein Regime, das Regeln der Überschreitung selbst dort oder gerade dort mitteilt, wo dieselbe unterbunden werden soll. Widersprüche im Sachlichen, in der gemeinsamen Sichtweise, in der Interpretation von Fakten, von Werten und Situationen etablieren Grenzen, die Menschen voneinander trennen, die jedoch immer auch durch ein Grenzregime geregelt sind. Nicht das Faktum, sondern die Modalitäten dieser Regelung stehen in Frage. Euro-atlantische Differenzen schleichen sich bereits durch unterschiedliche Konnotationen der Grenze als transjunktionaler Operation ein. Die auf eine relativ kurze Vergangenheit zurückblickenden Vereinigten Staaten von Amerika sind fest verankert im Grenzregime des frontiersman, des Grenzen überwindenden Pioniers. Demgegenüber sehen sich traumatisierte Gesellschaften, bei denen ein Scheitern auf bloßer Kraft und Stärke beruhender Grenzregime in kulturelle Formen der Luhmann (2008, 185 f.) verweist auf die Trias im Zusammenhang mit der Verhältnisbestimmung von Politik, Demokratie und Moral, ohne die innerethischen Konsequenzen zu verfolgen.
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Vergangenheitsbewältigung Eingang gefunden haben, zur Reflexion und Ausformulierung transjunktionaler Operationen genötigt. 9 Auf die jahrhundertelange Erfahrung mit dem Leid, das die kriegerische Pax Romana über die Menschheit gebracht hat und welches in den Gewaltexzessen des zusammenbrechenden römischen Reiches kulminiert, reagiert die Philosophie des Mittelalters mit der Ausarbeitung der Figur des Gewissens als alternatives nicht macht- und gewaltgestütztes Grenzregime. Die zahlreichen Abhandlungen über das Gewissen signalisieren keine genuin weltabgewandte Haltung der introspektiven Pflege des eigenen Seelenfriedens. Sie reagieren zunächst und vor allem auf ein Scheitern, das dazu motiviert, eine Institution bereitzustellen, die Erwartungsmuster herausbildet. 10 Auch die nützlichkeits- und sollensethischen Metaregeln Kalkül und moralisches Gesetz reagieren auf Gewaltexzesse, die den Zusammenbruch des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation infolge konfessioneller Spaltung und Religionskriegen begleiten. Auf den institutionellen erwartungsstabilisierenden Aspekt des Imperativs wurde bereits oben mit dem Begriff der Institution 2. Ordnung eingegangen. Während es hier um die Frage der Enttäuschungsabwicklung für jene Fälle gegangen war, in denen Institutionen des sozialen Lebens an Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stoßen und mit widersprüchlichen Verhaltensanforderungen Ordnung mehr untergraben als sichern, zielt der Begriff der transjunktionalen Operation darüber hinaus auf den geregelten Wechsel von Kontexturen. Auch dieser Wechsel erfüllt die Funktion einer Institution, dies jedoch in einem spezifischen Sinne. Während der Begriff der Institution nur das Faktum erwartbar gemachter Erwartungen als Element der Herstellung verlässlicher zwischenmenschlicher Beziehungen berührt, bezeichnet der Begriff transjunktionaler Operation die Wege, um zu diesem Ziel zu gelangen. Die drei Bestimmungsmerkmale der Grenze, der programmatischen Profilierung und der Autopoiesis sind informativ nicht bloß im Hinblick auf ein normatives Sollen. Ihre Aussage beschränkt sich nicht auf das gebotene Respektieren von Grenzen, die andere ziehen,
Zur Rezeption der Grenzen sprengenden Aspekte des universalen kantischen Republikanismus in der Zwischenkriegszeit siehe Bernasconi »Ewiger Friede und totaler Krieg«, in: Hirsch/Delhom (2007, 22–42). 10 Zu den unterschiedlichen Funktionen des Gewissens siehe Reiner (1971, 471). In der Vormoderne ist es »Zeuge, Beweismittel, Ankläger und Richter«. 9
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auf Vorverständigungen, die nicht Fremdes und Anderes am Eigenen messen lassen und auf die Vermeidung gegen die Umwelt rücksichtsloser Selbstreproduktion. Wer im Falle kollidierender Normen all dies einfordert und mithin moralisch kommuniziert, verkennt die Natur tragischer Konflikte. Transjunktionale Operationen lassen sich als Sollensprinzipien schlechterdings nicht begründen, weil deren Funktion darin besteht, Erwartungshaltungen sich selbst und anderen gegenüber für jene Situationen zu formulieren, in denen solche Prinzipien miteinander in Konflikt geraten. Werden dilemmatische Normkollisionen hingegen wie alltägliche moralisch-rechtlich zu regelnde Fälle behandelt und damit Grenze, programmatische Profilierung und Autopoiesis als metamoralische Regeln, als objektive allgemein verbindliche Vorzugswerte gelesen, dann ist eine »Kultur des Denunziatorischen« die Folge. 11 Denn um jetzt noch glaubhaft an normativen Bewertungsstandards festhalten zu können, benötigt man wider besseres Wissen Schuldige, Normbrecher. Der Unterschied zwischen Sollensprinzipien und transjunktionalen Operationen tritt bei den drei Bestimmungsmerkmalen klarer hervor, wenn man sich der differenztheoretischen Methode versichert. Hier gilt es immer wieder die Frage, was wird unterschieden? gegenüber der Funktion zurückzustellen, die dem Unterscheiden zukommt. Beim überbotenen Formalismus der operativen Begrifflichkeit geht es noch weniger um den Unterschied, der fixiert wird und noch mehr um das Schicksal der Unterscheidung im kommunikativen Text. 12 Gemeint ist die Handhabung der Grenze in ihrer doppelten Bedeutung als Trennung der beiden Seiten der Unterscheidung und als Trennung des Bestimmbaren qua Unterscheidbaren von dem, was unbestimmt bleibt, weil es sich nicht unterscheiden lässt. Erst die Zusammenschau dieser beiden Grenzbegriffe lässt das operative Moment auch dieses Begriffs deutlich werden. Wieder also finden wir die bei Jean Clam (2000, 299) betonte neue Gestalt der Intellektion als
Bernhard Schlink (2011, 473) verwendet diesen Begriff für die moralische Bewertung fremder und vergangener Denkwelten nach heutigen Maßstäben. 12 Dieser von Röttgers (2012, 54 f.) bevorzugte Begriff fasst die operativ gewendete in Praxis mündende Handhabung von Unterscheidungen im Prozess der Genese von Übergängen. Diese werden unter einem Nähe- und Distanzaspekt spezifiziert: zeitlich (Retention/Protention), sozial (Gemüt/gemeinschaftliche Andere), diskursiv (Mythen/Lebensformen). Uns kommt es nicht auf phänomenologische Breite, sondern auf funktionale Äquivalenz zu Gewissen und kategorischem Imperativ an. 11
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einer produktiv gewendeten Paradoxieentfaltungstechnik. Und als eine solche fungiert die transjunktionale Operation. Grenze zeigt sich jetzt als derjenige Begriff, der das Faktum notwendiger Überleitfunktionen symbolisiert. Um ein Symbol handelt es sich allemal, weil der Begriff eine abstrakte und eine anschauliche Dimension in sich vereinigt. Die Kulturabhängigkeit der Symbolisierung lenkt das Augenmerk immer sehr schnell auf die normative Funktion der Angabe dessen, was man tun soll, Grenzen respektieren oder überschreiten. Die unterschiedliche kulturelle Verarbeitung von leidvollen Erfahrungen mit Militärinterventionen erschwert den globalen in der Weltorganisation zu erzielenden Konsens bezüglich der Frage, ob Grenzen im einzelnen Konfliktfall zu respektieren oder zu überschreiten sind. Jede Diskussion über normative Fragen müsste jedoch vom Wissen um die sinnfunktionale Bedeutung der Grenze begleitet sein, die darin besteht, von einer Kontextur zur anderen überzuleiten. Und in den gegenwärtigen Diskursen scheint genau dieses Wissen häufig zu fehlen. Der Grund für die Beschränkung auf moralische Aspekte der Grenze und die Blindheit für Funktionen der Transgression lässt sich mit Luhmann im Festhalten an einer überkommenen Semantik vermuten, die in einen Widerspruch zur Gesellschaftsstruktur getreten ist. Denn die moralisierend-normative Sichtweise setzt eine hierarchische Spitze voraus, deren Legitimation auf einem selbstgewissen Moralismus beruht, auf einer Verdrängung der transjunktionalen durch die moralische Operation. Absolutistische und totalitäre Organisationen bedürfen keiner Regeln der Transgression von einem Kontext in einen anderen, denn sie kennen nur Normbrecher, aber keine Normkollision. Immer wieder gilt es infolgedessen die häufig unscharfen Formulierungen Luhmanns bezüglich des vermissten Passungsverhältnisses von Gesellschaftsstruktur und Semantik präzise auf den Punkt hin zuzuspitzen, um den es geht. Einander gegenüber stehen nicht einfach bloß hierarchische und funktional differenzierte Gesellschaft. Denn die Trennung zwischen Diskurskulturen, die ein Bewusstsein tragischer Konflikte mit sich führen und Kulturen, die Konflikte als schlichtes Resultat defizitärer sozio-politischer Institutionen interpretieren, verläuft quer zur Unterscheidung von Moderne und Vormoderne. 13 Dies wird in friedensethischen Temporalisierungen sichtbar. Siehe dazu Brücher (2016).
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Der Abschied von einer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, die das hierarchische Ordnungsprinzip durch die Analyse der modernen Weltgesellschaft als funktional differenziertes System ersetzt, kann nach und nach auch zu einem Bruch mit der semantischen Tradition führen. Denn der Wechsel von einer zweiwertigen zu einer mehrwertigen Logik, von einem hierarchischen zu einem heterarchischen Ordnungsdenken oder von einer zentrierten zu einer polyzentrischen Perspektive drängt sich auf, wenn die Weltgesellschaft vom funktionalen Differenzierungsprinzip aus verstanden wird. Es ist nämlich nicht nur der Koordinierungsbedarf multikultureller Strömungen und unterschiedlicher kulturbedingter Präferenzen, die es erschweren, zwischen einem Guten und einem Schlechten zu unterscheiden. Auch die Überlagerung des Moralcodes durch Funktionscodes führt zu Normkonflikten zwischen rechtsförmlicher, wirtschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher und pädagogischer Präferenzstruktur, denen die Qualität eines entmoralisierten Vorzugswertes zukommt. Zum Guten gehört jetzt auch die Fähigkeit, Codestrukturen auf eine sozialverträgliche, eine friedenstaugliche Weise zu wechseln, zu überqueren. In dieser spezifischen Funktion wird Grenze zu einem operativen Begriff und zwar einem Begriff, der die Notwendigkeit einer mehrwertigen Logik als Folge globaler Ablehnung des hierarchischen Ordnungsprinzips zum Ausdruck bringt. Widerstand, Aufstand, Protest hat sich weltweit zu einer auf Ideologie und Organisation nicht mehr angewiesenen weltkulturellen Manifestation von Befindlichkeit entwickelt. Das global expandierende funktionale Differenzierungsprinzip entlässt gleichsam aus sich heraus korrespondierende Strukturen der Akzeptabilität. Die Umstellung von hierarchischen auf heterarchische Verhältnisse erfasst alle Bereiche bis hin zu den intimsten Feldern geschlechtlicher Beziehung und Identität. Es handelt sich um eine Logik, die ihre eigenen Paradigmen erzeugt und fortzeugt ohne Schuldige und Drahtzieher im eigentlichen Sinne eines verursachenden Prinzips zu benötigen. Und es ist deren Abwesenheit, die durch eine Produktion von Sündenböcken gleichsam kompensiert werden muss. Als moralischer Term kennt Grenze zunehmend nur noch die eine Lesart der geforderten oder abgelehnten Grenzüberschreitung, sei es als technischer Eingriff in die Struktur biologischen Lebens, sei es als humanitäre zivil-militärische Intervention in fremdkulturelle politisch-gesellschaftliche Strukturen oder als eingefordertes 147 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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Menschenrecht auf Immigration in die reichen Industriestaaten, auf globale Verteilungsgerechtigkeit. In Ermangelung eines allgemein akzeptierten moralischen Zentrums, das Gerechtigkeitsstandards festlegt und durchsetzt, gefährdet der normative Grenzbegriff den Weltfrieden. Jetzt tritt der Umgang mit daraus erwachsenden tragischen Konflikten in den Vordergrund und verdrängt die auf Überschreitung fixierte Semantik der Grenze durch ein Bewusstwerden von deren transjunktionalen Funktion. Grenze steht jetzt gewissermaßen für etwas ganz anderes, nämlich nicht länger für einen so oder ganz anders zu verstehenden Begriff. An die Stelle kontingenter Bedeutung tritt die immer gleiche Funktion der Überleitung von einer kulturellen, sprachlichen oder systemfunktionalen Kontextur in eine andere. 14 Um dieser Funktion Genüge zu tun, bedarf es eines ganz bestimmten Umgangs mit Präferenzen, in der Sprache Kants, mit Maximen. Kant folgend gilt es die Frage zu formulieren, wie eine Welt aussehen würde, in der alle Menschen Grenze als performative Aufforderung zur Grenzüberschreitung verstehen würden. Die Parallele zur Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs drängt sich auf: Stell dir vor, alle müssten Grenzen als Aufforderung zur Überschreitung, zur Nivellierung derselben interpretieren. Und die chaotischen aggressiv kriegerischen Folgen antizipierend würde ein Imperativ lauten: Bedenke, dass jede deiner Operationen eine Grenze markiert, die System und Umwelt, Selbstreferenz und Fremdreferenz zertrennt und infolgedessen jede Überwindung illusionär ist. Aber die Missachtung von Grenzen, die andere ziehen, etabliert eine destruktive Präferenzstruktur, die auch den Intervenierenden zur Gefahr wird. Der Unterschied von normativer und funktionaler Interpretation der Grenze tritt hier deutlich hervor: Während das normative Verständnis für die Wahl von Optionen lediglich die Angabe guter Gründe verlangt und somit an die kommunikative Kompetenz politisch korrekter Sprecher appelliert, erinnert die transjunktionale Operation an die unterscheidungsbedingte Unvermeidlichkeit von Grenzfixierungen und mithin die beschränkte Kontingenz von Grenz-
Dieser Topos der Übergänge gewinnt im Kontext weltgesellschaftlicher Vernetzung zunehmend an Bedeutung und wurde von Röttgers (1982; 2002a) zu einer Sozialphilosophie der Übergänge ausgearbeitet, die einen appellativen (ethischen) Sinn gewinnt als Plädoyer für eine »Kultivierung der Anschlüsse und Übergänge im Text.« (ders.: 2012, 44).
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regimen. Wenn Bestimmen bedeutet, eine Grenze zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung zu markieren, so erweist sich die Freiheit, zwischen Respektieren und Ignorieren von Grenzen wählen zu können, als folgenreiche Selbsttäuschung. Grenzen werden etabliert, wie immer man entscheiden mag. Aber es steht frei, dies Faktum anzuerkennen oder zu ignorieren. Im letzteren Fall ist es jedoch entgegen der eigenen Absicht nicht möglich, das reklamierte Recht zur Intervention sich selbst vorzubehalten. Wer die Grenzen anderer missachtet, kann nicht verhindern, dass er selbst Opfer der etablierten Präferenzordnung wird. Dass es sich dabei nicht um einen moralischen, sondern einen logisch-epistemisch induzierten Imperativ handelt, drückt sich in einem Verbot der Selbstexemtion aus: Wer moralisch kommuniziert, kann nicht verhindern, dass sein Verhalten an den Maßstäben gemessen wird, die er an andere anlegt. 15
Programmatische Profilierung als transjunktionale Operation Deutlicher noch tritt dieser logisch-epistemische Imperativ beim zweiten Bestimmungselement der transjunktionalen Operation hervor, der programmatischen Profilierung. Auch hier geht es wieder um die Anerkennung eines Faktums, das als Anerkanntes die Funktion einer Überleitformel von einer Kontextur zur anderen gewinnen kann. Obgleich sachlich auf das Phänomen der latenten unbewussten oder vorbewussten Strukturen bezogen, fokussiert der funktionalistische Aspekt nicht auf jene Vorverständigungen, die Verständigung jeweils ermöglichen oder verhindern. Der Akzent liegt vielmehr auf dem Wissen um dies Faktum in seiner transjunktionalen Leistungskraft. In dieser Funktion wird die programmatische Profilierung zu einem Äquivalent von Gewissen und kategorischem Imperativ. Wie geht dies vonstatten, das heißt, wie wird ein Erwartungsmuster etabliert, das der normwidrigen Reaktion auf Enttäuschungen über den Funktionsverlust von Normen vorbeugt? Erinnerlich ist das Problem durch die paradoxe Lage bestimmt, Dass die humanitär begründete Bombardierung Serbiens durch die Nato 1999 ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats zur Aushöhlung des allgemeinen Gewaltverbots von Artikel 2, Nr. 4 der UN-Charta führen würde, war zu erwarten und kann nicht als ätzendende Retourkutsche lächerlich gemacht werden. So Michel Eltchaninoff (2016) zu Putins humanitär begründeten Interventionen in Georgien 2008 und in der Ukraine 2015.
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in der sich ein Handelnder angesichts widersprüchlicher Anforderungen befindet. Der Begriff der programmatischen Profilierung muss infolgedessen einen Imperativ enthalten, der Kontexte zu wechseln erlaubt, ohne gewaltsame Methoden als alternativlos erscheinen zu lassen. Eben dies sollten bereits Gewissensprüfung und kategorischer Imperativ möglich machen. Erstere legitimiert Gewalt nur als Ultima-ratio. Letzterer geht noch weiter und erklärt ausschließlich die legale gesetzlich geregelte Gewalt für legitim. Wenn man diese beiden Modalitäten jeweils mit hierarchischer Gesellschaft und Übergangsgesellschaft in Verbindung bringt, so stellt sich auch für die programmatische Profilierung die Frage der Plausibilität, diesmal im Rahmen einer voll entwickelten funktional differenzierten Weltgesellschaft. Zunächst gilt es freilich die Frage zu beantworten, warum die nachkantische Moderne nicht nur das Ultima-ratio-Denken der Gewissensbindung, sondern auch das Kategorische des Imperativs gestrichen und nur hypothetische Imperative stehen gelassen hat. Diese bezeichnen an konkrete Bedingungen gebundene Sollensprinzipien, während der kategorische Imperativ unter allen Bedingungen gilt. So gibt es für Kant keine Ausnahme von der Rechtsbindung eines Gewalteinsatzes, denn jede andere leistungsbezogene Bindung an die Durchsetzung von Gerechtigkeit, von Frieden oder Fortschritt würde den Kampf der Parteien nur anheizen. Das neunzehnte Jahrhundert jedoch beginnt mit der Hegelschen und schließlich der Marxschen Geschichtsphilosophie solche Kämpfe als Motor gesellschaftlichen Fortschritts positiv zu werten und infolgedessen das Ultima-ratiodurch ein Prima-ratio-Denken zu ersetzen. Das Legalitätsprinzip wird nun vollends dem Legitimitätsprinzip nachgeordnet. Da sich auch der Darwinismus als die zweite Großtheorie des neunzehnten Jahrhunderts vorwiegend in seiner finalistischen Variante durchsetzt und folglich das Prinzip der Auslese als Fortschrittsgenerator deutet, findet Ultima-ratio-Denken und kategorischer Imperativ auch von hier keine Stütze. Nach den beiden Weltkriegen wird die Gewissensbindung wieder betont, aber sie bezieht sich jetzt auf die Wahl effizienter Methoden der Durchsetzung von Werten (prima-ratio). Und diese beschränken sich in einem von Overkill-Kapazitäten geprägten Ost-West-Konflikt auf einen sparsamen Gebrauch militärischer Gewaltmittel. Voraussetzung für die plausible Relativierung des Legalitätsprinzips ist neben waffentechnischen Voraussetzungen auch die frag150 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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lose Anerkennung einer auf zivilisatorische Überlegenheit gegründeten Dominanz, von welchen Akteuren dieselbe auch immer reklamiert sein mag, einer fortschrittlichen Partei oder einer leitkulturellen Avantgarde in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Wenn in der modernen durch das Ende des liberalistisch-sozialistischen Systemantagonismus vollendeten Weltgesellschaft das hierarchische Ordnungsprinzip in allen Bereichen unterlaufen und durch heterarchische Prinzipien ersetzt wird, so scheint es immer schwieriger, Avantgardepositionen zu begründen. Das gilt selbst für die demokratische Schrumpfvariante der Anerkennung von Autoritäten, die durch politische Wahlen im Amt bestätigt worden sind. Ein ganzes Bedingungsgeflecht beginnt sich jetzt aufzulösen: Es schwinden die Chancen, dass problematische Entscheidungen akzeptiert werden. Aber zugleich entfallen damit auch jene Voraussetzungen, unter denen eine von bestimmten Bedingungen abhängig gemachte Rechtsbindung allererst legitimiert werden konnte. Selbst die guten Gründe demokratisch legitimierter Autoritäten verlieren ihre Glaubwürdigkeit, gehen die Vorstellungen von einem gerechten, menschenwürdigen Leben im weltgesellschaftlichen Geltungsraum doch zu weit auseinander. Die Kriterien moralischen Unterscheidens und damit die Bedingungen der Achtbarkeit geraten in Konflikt. Was in gängigen begründungstheoretischen Ethiken durch die Trias von Reziprozität, Konsenssuche und Rationalität beantwortet wird, das zeigt sich nun als profilbildende Semantik, die sich zwar von anderen profilbildenden Semantiken unterscheiden lässt. Das Charakteristikum erstreckt sich aber nicht auf einen unverwechselbaren materialethischen Kern, der sich bei anderen nicht finden ließe. 16 Moralsemantiken rechtfertigen kein moralisches Überlegenheitsbewusstsein. Jetzt zeigt sich, dass der transzendentale Idealismus Kants mehr war als eine alteuropäische Semantik des Übergangs von hierarchischer zu funktionaler Differenzierung. Vielmehr antizipiert die strikte Vorordnung des Legalitätsprinzips eine Weltgesellschaft, in der jedes Festhalten an illegalen aber Gutes bezweckenden legitimen Gewaltmitteln nicht nur bestimmte überkommene Ordnungen, sondern das Ordnungsprinzip selbst untergräbt. Teubner (2007, 304) zeichnet die Konturen einer neuen profilbildenden Semantik des Rechtssystems im Anschluss an die Systemtheorie als Umstellung auf eine neue Trias: Asymmetrie statt Reziprozität, Umweltorientierung statt Konsens und Paradoxalität des Rechts statt Rationalität.
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Mit dieser Gegenüberstellung von Legalitäts- und Legitimitätsprinzip sind die entscheidenden Konturen der Profilbildung beschrieben. Eine voll entwickelte funktional differenzierte Weltgesellschaft kann sich die Vorordnung des Legitimitätsprinzips schlichtweg nicht mehr leisten, so ließen sich die vorangegangenen Überlegungen auf eine einfache Formel bringen. Kant sieht sich in der Ansicht bestätigt: Wenn rechtsförmliche Mittel nicht helfen, dann hilft gar nichts mehr. Wo dies Faktum bewusst gemacht wird, dort ist die Profilierung als Teil einer transjunktionalen Operation angesprochen. Aber es gibt noch jenen zweiten Teil des Kompositums programmatischer Profilierung zu berücksichtigen, nämlich die Programmatik. Dieser Begriff des Programms spezifiziert das Profil und unterscheidet sich damit von dem, was in der zeitgenössischen Ethiktheorie vorschnell als Realitätsstützte der Werte abgehakt wird. Denn dem allgemeinen Verständnis nach ist eben dies die Aufgabe eines Programms, Ideen, Werte und Vorstellungen planmäßig in die Wirklichkeit umzusetzen. Dabei spiegelt der inflationäre Gebrauch des Begriffs das allgemeine Vertrauen in die Leistungsfähigkeit von Organisationen bezüglich eben dieser Umsetzung. Er spiegelt darüber hinaus eine Entwicklung, in deren Verlauf Familien und Schichten in ihrer gesellschaftskonstituierenden Bedeutung von Organisationen ersetzt werden. Der Begriff des Programms sagt infolgedessen nichts über reale Verwirklichungschancen, aber alles über die gesellschaftliche Semantik aus. Als Teil des Profils enthält das Programm eine genauere Angabe zur Profilbildung, zur Selbstdarstellung. Es bezieht sich auf die Tatsache, dass sich Wertordnungen, die Vor- und Nachrangiges bestimmen, von den moralischen Maximen und Normen grundlegend unterscheiden. Eine Semantik der Werte und der Werteordnung scheint nur dort der weltkulturellen Verständigung dienen zu können, wo ihr bloß programmatischer Charakter mitkommuniziert wird. Erinnerlich schlüsselt Luhmann diesen Begriff des Programms in seiner Funktion auf, Zeitfolge von Nachrichten zu bezeichnen: Es gibt wichtige und weniger wichtige Nachrichten. Solche Zeitfolgen sind immer gruppenspezifischer Art; sie lassen sich nicht über einen weltgesellschaftlichen Leisten spannen. Wo Werte programmatische Form annehmen, dort stehen nicht länger die Kriterien des Unterscheidens von gut und schlecht oder gut und böse zur Diskussion. Solche Fragen scheinen durch den Hinweis auf deren Kontingenz 152 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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und Relativität ohnehin beantwortet. Die moralische geht ganz in der zeitlichen Unterscheidung von im Moment wichtig und im Moment weniger wichtig oder unwichtig, von vorrangig und verschiebbar auf. Im Gegensatz zum diskursethischen Begriff der Vorverständigung, der als Bedingung für Verständigung selbst etwas Gutes bezeichnet und damit zum Festhalten an Positionen – mit allen Mitteln – motiviert, zeigt der als transjunktionale Operation verstandene Begriff der programmatischen Profilierung Wege der Vermittlung und Versöhnung inkommensurabler Positionen an. Denn er deutet darauf hin, dass es bei den viel beschworenen Unterschieden der Wertorientierung, die ein jeweiliges Uns dazu motiviert, auf unseren Werten zu insistieren, vielfach um eine bloß zeitliche Präferenzordnung geht. Auseinander gehen die Meinungen darüber, was zuerst zu tun ist, die Erhaltung konkreter Menschenleben oder die Durchsetzung einer Ordnung, die menschenwürdiges Leben möglich macht. Gegenüber dieser zentralen Frage treten die kulturellen Unterschiede der Auslegung des Guten in den Hintergrund. Nicht die welteinheitliche Definition von Regeln, sondern bloß der welteinheitliche Umgang mit dem Regel-Ausnahme-Schema kann realistisches Ziel einer globalen Ethik sein und zwar nach dem Grundsatz Kants: Wenn das Recht nicht hilft, dann hilft gar nichts mehr. Ein Weltethos im Sinne Hans Küngs (1993) kann angesichts unvermeidlicher Auslegungsdivergenzen geltenden Rechts nur als »Projekt Weltethos« wirksam sein. 17 Probleme unterschiedlicher Interpretation aber treten gegenüber den tragischen Konsequenzen eines allseits zu beobachtenden Trends zur Vorordnung des Legitimitätsprinzips bedeutungsmäßig zurück. Während die Semantik der Programme und Programmatiken ein vermeintliches Wissen um die Effizienz bestimmter Methoden der Verwirklichung von Werten mit sich führen und damit das Legitimitätsdenken in seinen robusten Methoden bestärken kann, enthält der transjunktional gebrauchte Begriff der Programme die Aufforderung, Unterschiede der situations- und kulturbezogenen Gewichtung zum Argument für die Bindung des Effizienz- an den Legalitätsgedanken werden zu lassen. Dazu bedarf es eines ethisch dimensionierten Erwartungsmodus. So kommt es nach zwanzigjährigem Diskurs von 200 Vertretern der Weltreligionen 1993 auf dem »Parlament für Weltreligionen« zu einer gemeinsamen »Erklärung Weltethos«. Der Ethos wird in übereinstimmenden Werten und im Lernen von interreligiösen Gemeinsamkeiten gesucht. Siehe Rehm (2005).
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Angesichts der neuen Medien, die es jedem Einzelnen heute möglich machen, meinungsbildend wirksam zu sein, erscheint das kantische Argument der unintendierten Vorbildfunktion jeder wie immer kommunizierten Handlungsweise weit mehr evident als dies im achtzehnten Jahrhundert der Fall gewesen sein mochte. 18 Das Argument mag allgemein einleuchten; aber es fehlt eine plausible Theorie, die das allseits beobachtete und bestätigte Faktum zum Ausdruck bringen könnte. Aus diesem Grund haben noch immer wirklichkeitsfremde empiristische Relativismen Konjunktur, die das Faktum empirisch nicht nachzuweisender Vorbildfunktion jeden Handelns als Gegenargument nutzen, um die kategorische Gesetzesformel Kants zurückzuweisen. Es ist jetzt die bloße Nichtfalsifizierbarkeit der Effizienz rechtswidriger Methoden, sei es der außergesetzlichen Tötung, der Erzwingung von Geständnissen durch so oder anders genannte Folter, der Militärinterventionen, die zur Suprematie des Legitimitätsprinzips verleiten. All dies spricht für eine Theorie, die in Semantiken weit mehr Profilierungszwänge am Werk sieht und aus diesem Grund für die Aufschlüsselung von Funktionen der Sinnkonstitution sensibilisiert. Die Semantik der Vorverständigungen, der Werte und der Werteordnung wird durch die Funktion der Überleitung von einer Kontextur zur anderen verdrängt. Auf die gelungene Überleitung kommt es an und nicht auf die Begründung von allgemeinverbindlichen Normen und Werten, wenn nicht ein hobbesscher Krieg aller gegen alle die Zukunft der globalisierten Welt bestimmen soll. Aus diesem Grund sind terminologische Differenzierungen so wichtig, die die Ethiktheorie auf ein weltgesellschaftlich kommensurables Niveau heben. So birgt die bloße Anerkennung der programmatischen Natur semantischer Profilierungen ein Potential zur Erneuerung des Ultimaratio-Arguments der Gewissensbindung und mehr noch des kantischen Gesetzesarguments. Mit der programmatischen Profilierung als dem zweiten bedeutungstragenden Inhalt der transjunktionalen Operation stellt die Systemtheorie gewissermaßen die terminologischen Bedingungen für eine logisch-funktionalistische Erneuerung des kategorischen Imperativs her und dies in Bezug auf die kantische Gesetzesformel: Handle Empirisch lässt sich die Dynamik von Meinungsgeneratoren bei Facebook, Twitter und Instagram an den Friendship-Links ablesen, die auf Repräsentativität einer Äußerung hinzudeuten scheinen. Allein solche Links lassen sich technisch produzieren.
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so, dass die Maxime deines Handelns zum Gesetz allgemeinen Handelns werden könnte. Während die empiristische Zurückweisung des Kategorischen das prospektive Dürfen durch statistisch signifikante numerische Fälle in seiner Bedeutung herabsetzt, vermag die Systemtheorie dem von keiner Seite angezweifelten Faktum gerecht zu werden, dass Statistiken nichts für den Einzelfall aussagen. Dieser einzelne Fall aber, anders gesagt der einzelne Mensch, sieht sich Dynamiken reflexiven Erwartens ausgeliefert, die wirksam sind, lange bevor sich der Einzelne dessen bewusst wird, und lange bevor er dieselben kommunizieren könnte, aber erst recht lange bevor sich Wirkungen in Statistiken niederschlagen. Die empirische Methode erfasst das mimetische Muster von Erwartungserwartungen nicht, weil sie dieses in handlungstheoretisch verstehbare Aktions-Reaktions-Zusammenhänge integriert und damit in bestehende Managementstrukturen der Planung und Steuerung meint einbinden zu können. Die programmatische Profilierung könnte dort, wo sie als transjunktionale Operation bewusst ist, in der voll entwickelten funktional differenzierten Weltgesellschaft als Chiffre die Funktion übernehmen, den Wechsel von einer Kontextur zur anderen in rechtsförmliche Bahnen zu bewegen. Denn es würde sich hier um einen logisch-epistemischen Imperativ handeln und nicht um ein bloßes Sollen, das einer allgemein akzeptierten normgebenden Instanz bedürfte. So ließe sich die transjunktionale Operation in einem weiteren Sinne als funktionales Äquivalent für die Ultima-ratio-Bindung des Gewissens und der Rechtsbindung des kategorischen Imperativs bestätigen.
Autopoiesis als transjunktionale Operation Mit dem Problem der eigendynamischen Wirkung von Erwartungserwartungen, das der kantische Satz Stell dir vor, alle dürften so handeln anspricht, ist nun allerdings bereits der dritte Aspekt der transjunktionalen Operation angesprochen, nämlich die Autopoiesis. Dieser Begriff bringt die eigendynamische Wirkung von Vorverständigungen in besonderer Weise zum Ausdruck, indem er deren Genese sichtbar macht. Autopoiesis bezeichnet den Gang der selbstreferenziellen Reproduktion im Sinne einer Unmöglichkeit, an Operationen außerhalb des eigenen Operationsmodus anzuschließen. Bewusstsein 155 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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kann nur an Bewusstes, Kommunikation nur an Kommuniziertes und Leben nur an Lebendiges anschließen. Die Struktur, innerhalb derer gedacht, kommuniziert und gelebt wird, tritt zurück gegenüber dem Anschlussereignis. Der Moment und damit auch der Zufall gewinnen damit eine eminente Bedeutung, denn die als Ereignisse begriffenen Elemente eines Systems kommen und gehen unbeeinflusst vom handelnden Akteur. Statt jedoch die Tragik dieser zufallsbedingten Ereignisverkettungen zu beklagen und in den Fatalismus der antiken Geistesverfassung zurückzufallen, konzentrieren sich die Luhmannschen Überlegungen auf die Verantwortung für die Wahl des Anschlusswertes. 19 Und hier entfaltet Autopoiesis qua transjunktionaler Operation ihre Wirkung. Denn sie zeigt die Automatik, mit der eine negative Kommunikationsofferte rückkommuniziert wird und eine Spirale in Gang setzt, die bisher gültige Normen außer Kraft setzt. Dasselbe gilt für den Reproduktionsmodus psychischer Systeme. Ein negativer Gedanke erzeugt den nächsten und lässt ein Worst-Case-Szenario imaginieren, das spontan einleuchtende robuste Reaktionen als alternativlos erscheinen lässt. Als Anschlusswert verstanden löst sich der Begriff des Wertes vom subjektivistisch-individualistischen Charakter einer beliebig gearteten Präferenz; er verliert seine Kontingenz und gewinnt Züge eines Notwendigen. In die transzendentalphilosophische Sprache übersetzt heißt dies: Sie löst sich aus der ethischen Fixierung auf die Maxime, die nach Kant eine je individuelle und infolgedessen beliebige Vorliebe für etwas sein kann, und erreicht die Ebene kategorischer Imperative. Dabei schält sich das Imperativische gewissermaßen aus der Begrenztheit logisch-sinngemäßer Anschlussoperationen heraus: Wer unfreundlich behandelt wird, scheint zur gleichgearteten Antwort geradezu imperativisch genötigt nach dem Motto: Du sollst dir nicht alles gefallen lassen, du sollst deine Selbstachtung nicht aufs Spiel setzen! Wenn hier ein kategorischer kontraintuitiver Imperativ plausibel sein soll, so muss dieser von den Konditionen abstrahieren, die den spontanen Imperativ motiviert hatten. Er muss die Ebene des Hypothetischen, anders gesagt, die Ebene von Wenn-Dann-Konklusionen verlassen. Wechselt man die Ebene nicht und meint, die ganze Ethik aus hypothetischen Imperativen heraus verstehen zu können, Hierin sieht Stegmaier (1998, 79 ff.) den systemtheoretischen Beitrag zur ethischen Orientierung.
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so bleibt nur der allseits als Schwäche und Kapitulation ausgelegte Umkehrschluss: Freilich, du sollst dir alles gefallen lassen, du sollst deine Selbstachtung auf Spiel setzen! Moralische Umwertungen nach dem Motto ›der Stärkere gibt nach‹ scheinen das Nutzenprinzip durch die Paradoxie ›das Schwache ist stark‹ oder ›das Starke ist schwach‹ ad absurdum zu führen. Diese Inkonsistenz ist zumindest so lange anstößig, als an einer utilitaristischen Ethik festgehalten wird. Dieser gemäß erübrigt sich das kontraintuitive Kategorische der Imperative angesichts der hypostasierten Tatsache, dass die Entscheidung für das Gute und Richtige durch moralische Intuitionen gesichert ist. 20 Weil von empirischer und nicht von transzendentaler Bedeutung, können moralische Intuitionen seit den enttäuschenden Ergebnissen des Milgram-Experiments jedoch nur beschränkt überzeugen. Hier zeigten die Probanden eine erschreckend hohe Bereitschaft zur kontraintuitiven Zufügung von Schmerzen, sobald eine wissenschaftlich sachverständige Autorität dazu aufgefordert hatte. (Milgram 1974). Der Wechsel von einer Kontextur zur anderen kann folglich nicht moralischen Intuitionen überlassen bleiben; er kann aber auch nicht als weitere Regel qua Ausnahmeregel auf politisch-administrativ-rechtlichem Wege beschafft werden. Denn das Problem der Handhabung des Regel-Ausnahme-Schemas würde durch eine weitere Regel nicht gelöst. Im Gegenteil sieht es sich durch die lückenlose Verregelung der zwischenmenschlichen Beziehungen geradezu potenziert. Denn an immer mehr Stellen entstehen Konfliktlinien, die gemäß der altrömischen Rechtspraxis des do ut des Gleiches mit Gleichem vergelten oder gemäß einer ins Negative gewendeten goldenen Regel den Intoleranten mit Intoleranz begegnen lassen. Da intuitive Reaktionszyklen Eskalationsprozesse auslösen können – ein Wort provoziert ein gleichartiges Wort, eine Handlung verlangt eine entsprechende Handlung – drängt sich die Notwendigkeit einer Institution 2. Ordnung auf, die kontraintuitive Erwartungen erwartbar macht. Eine solche Institution übernimmt die Aufgabe, einen friedensförmigen Umgang mit Enttäuschungen über den Funktionsverlust von Institutionen 1. Ordnung, insbesondere des Rechts, erwartbar zu machen. Dieses Moment reflexiven Erwartens äußert sich im Ultima-ratio-Prinzip der Gewissensbindung als allgemein geDieses Axiom wird seit der Principia Ethica von G. E. Moore von 1903 (1996) in der analytischen Moralphilosophie allgemein geteilt.
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teilte Erwartung, dass der Souverän bereits vor sich selbst ein ganz auf den Einzelfall zugeschnittenes von allgemeinen Geltungen unabhängiges Entscheiden erwartet. Und das Vertrauen, mit dem die Untertanen ihre Loyalität begründen, bezieht sich auf diese Selbstverpflichtung des Monarchen, die gerechte Lösungen erhoffen lässt. Da der Souverän im kantischen Rechtspazifismus von jedem Einzelnen verkörpert ist, entfallen die Voraussetzungen für die Aufspaltung von rechts- und gerechtigkeitsorientierter Selbstverpflichtung in Fürst und Untertan. Denn das reflektierte Selbstverhältnis der Gewissensprüfung bleibt notwendig auf die einzelne Person beschränkt. Die Untertanen können die Gewissensbindung des Souveräns nicht erzwingen, sie können nicht erzwingen, dass dieser ein guter Mensch ist. Aber sie haben das Recht zum Widerstand, wenn sie einer gewissenlosen Herrschaft ausgeliefert sind. Ist aber jeder Einzelne Souverän einer republikanischen Ordnung, so entfällt nicht nur jeder Grund, sondern auch jegliches Recht zum Widerstand. Nur die Selbstbindung garantiert gerechtes Handeln. Das gemeinschaftlich geäußerte Gewissen ist hingegen nichts anderes als die kommunizierte moralische Selbstdarstellung. Da die gleichsinnige Gewissensentscheidung aller Weltbürger kaum zu erwarten sein dürfte, sieht Kant im Rechtsgehorsam das Maximum erreichbarer Gerechtigkeit. Der kategorische Imperativ, der im Falle von Normkonflikten (Recht vs. Gerechtigkeit) Orientierung bereitstellen soll, liefert immer Argumente für den Rechtsgehorsam, weil andernfalls Kämpfe um Gerechtigkeitsstandards drohen, die gewaltsam eskalieren. Das Ultima-ratio-Prinzip der Gewissensbindung und der kategorische Imperativ der Rechtsbindung verlangen in der funktional differenzierten Weltgesellschaft nach einer abstrakter ansetzenden Motivformel. Dies kann nur eine Formel sein, die die tieferliegende Funktion der Überleitung von einer Kontextur in eine andere benennt. Denn im Falle von Normkonflikten wirkt der Hinweis auf Werte nicht konfliktentschärfend, sondern erhöht die Eskalationsgefahr. Wie wir gesehen haben, spezifiziert sich die transjunktionale Operation in der Zeitdimension als Autopoiesis. Dieser Begriff ist weit davon entfernt, das Faktum intuitiver Reaktionszyklen als Bestandteil moralischer Intuitionen euphemistisch zu verbrämen; es wird vielmehr als erwartbares Erwartungsmuster in seinen Selbstreproduktionszwängen zum Ausdruck gebracht. In den Hintergrund tritt folglich die begründungstheoretisch eingeforderte Antwort auf 158 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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die Frage, ob aus gutem Grund reaktiv oder präemptiv zurückgeschossen wird. In ihrer Funktion einer Überleitformel symbolisiert Autopoiesis das erwartbar gemachte und darin institutionalisierte aktions-reaktions-fixierte Handlungsverständnis als Kapitulation vor der Logik eigendynamischer Selbstreproduktionsmechanismen. 21 Dieser spezifische Sinn des Autopoiesisbegriffs irritiert, handelt es sich bei demselben doch um einen systemtheoretischen Schlüsselbegriff, der in unterschiedlichen funktionalen Kontexten Verwendung findet. Seine zentrale Stellung verdankt er dem operativen Charakter der Theorie, die die zeitliche Sinndimension in den Vordergrund rückt. Im Zusammenhang mit dem an dieser Stelle behandelten Problem des Übergangs von einer Kontextur zur anderen wird Autopoiesis gleich dem Begriff der Grenze oder der programmatischen Profilierung zu einer Überleitformel, die Erwartungsmuster dort etabliert, wo Alltagserwartungen systematisch enttäuscht werden. Denn das so genannte normale Zusammenleben, sei es im privaten oder politisch-öffentlichen Raum, ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Normkonflikte nicht zu tragischen Konflikten fortentwickeln. Wo dies systematisch und nicht bloß okkasionell misslingt, dort laufen moralische Appelle ins Leere. Luhmann (2008, 246) nennt extreme Fälle – Folter, internationale Interventionen und die nachträgliche Verurteilung von »Verbrechen«, die zur Zeit ihrer Begehung durch positives Recht (aber nicht durch angeblich »überpositives Recht«) gedeckt waren. Tragische Konflikte mindern den Orientierungswert konsolidierter Strukturen zugunsten spontaner Reaktionen auf vorangegangene Offerten und lösen Eigendynamiken aus. In ihrer Funktion der transjunktionalen Operation als spezifischem Erwartungsmodus, benennt Autopoiesis dies Faktum als drohende Eskalationsgefahr und rät zur Interdependenzunterbrechung negativer Selbstreproduktionsdynamiken. Die systemtheoretische Antwort auf die drei Fragen Kants kulminiert folglich im Begriff der transjunktionalen Operation als einer das weltsoziale Zusammenleben regelnden institutionellen Form von Übergängen scheinbar widersprüchlicher systemfunktionaler, kultureller oder religiöser Kontexturen. Das institutionelle Moment bewegt sich dabei wohlbemerkt auf jener Ebene, die in hierarchischen und in Übergangsgesellschaften von Gewissen und kategorischem Zur Theorie der Eskalation in sozialphilosophischer und systemtheoretischer Perspektive siehe Brücher (2011).
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Imperativ besetzt wurden. Sie geht all den Institutionen voraus, die unter globalisierungspolitischen Gesichtspunkten heute behandelt werden. Dass vermeintlich institutionell gesicherte so genannte zivilisatorische Errungenschaften wie das Gewaltverbot der UN-Charta oder die territoriale Unversehrtheit nur so lange gelten, als es von den mächtigsten Staaten hochgehalten wird, hat die jüngste Vergangenheit seit dem Ende des Ost-West-Konflikts gezeigt. Was zunehmend rar wird, sind Argumente für das Ultima-ratio-Prinzip des Gewalteinsatzes und für die Dominanz des Legalitäts- über das Legitimitätsprinzip. Und sofern genau dies, nämlich die vermissten guten Gründe, mit dem in Zusammenhang steht, was Luhmann das Fadwerden vertexteter Moralen nennt, können globalisierungstaugliche Argumente nur von jenen Denkrichtungen aus vorgetragen werden, die das Neue der weltgesellschaftlichen Situation in seinen Grundzügen zu erfassen suchen und nicht Richtungen, die das beobachtete Neue mit ihren Vorstellungen vom guten menschenrechtlich gesicherten Leben bloß konfrontieren. Solche gewissermaßen logischen oder regulativen Prinzipien, die als Überleitformeln erlauben, Kontexte auf friedliche Weise zu wechseln, lassen sich auch mit Olav L. Müller (2007, 42 ff.) als epistemische Imperative der Perspektivübernahme, 22 der funktionalen Äquivalente und der Eskalationsvermeidung beschreiben. Diese Begriffe zeigen die Art und Weise, wie man handelt, wenn Grenze als transjunktionale Operation beherzigt wird. Oder anders gesagt, man weiß jetzt genau, was zu tun ist, wenn die Schwierigkeiten des Umgangs mit unvereinbaren Kontexturen durch Beachtung der Grenze beantwortet wird: Man ist angehalten, die menschliche Natur unterschiedlicher Perspektiven auf die Wirklichkeit in Rechnung zu stellen; man ist zur Perspektivübernahme aufgefordert. Vom moralischen Imperativ des ›taking the role of the other‹ George Herbert Meads, der als sozialisationstechnisch konditionierbares Verhaltensrepertoir und schließlich als zivilisatorische Errungenschaft heute globalisiert und auf Dauer gestellt werden soll, unterscheidet sich dieser epistemische Imperativ darin, dass auf Gegenseitigkeit gerade
Dieser Imperativ, auch genannt »Epistemischer Imperativ zur Natur des Menschen – wehre dich gegen Dämonisierungen der Gegenseite, versuche immer, den Fall aus der Sicht der Gegenseite zu verstehen« fasst Kants Prinzip der Homogenität neu. (O. L. Müller 2007, 42). Dieses zeigt den Einfluss von Werten (Gesetzesannahmen) auf die Tätigkeit der Naturwissenschaften.
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verzichtet wird. Dies verlangt eine Moral, die ihre eigene Perspektivität reflektiert. 23 Auch der epistemische Imperativ der funktionalen Äquivalente zeigt den sinninhärenten Bezug zur transjunktionalen Operation, indem er die handlungstheoretischen Konsequenzen der programmatischen Profilierung ausbuchstabiert. Dieser Profilierungstypus lokalisiert die Gründe für die vermeintliche Alternativlosigkeit bestimmter Methoden gleich doppelt: Das Verschnüren von Wertkonglomeraten in Programmen (Humanprojekt, Just-Peace-Programmatik, Transitional-Justice-Projekte) 24 blendet alle Fragen der Wertrangordnung und damit de facto der Wertbindung aus. In die Form von Programmen gebracht lassen sich alle Werte als höchste Werte voraussetzen, die größte Opfer rechtfertigen. Wo gewissermaßen alles auf dem Spiel steht (»unsere Werte«, »unser Wertsystem«), dort sind alle Mittel proportional. Es gibt schlechterdings keinen Verstoß gegen das Gebot, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu berücksichtigen. Diese Anmutung kompletter Alternativlosigkeit verstärkt sich noch einmal, wenn komplexe Programmatiken zur Profilbildung personaler und/oder sozialer Systeme Verwendung finden. Man tritt jetzt nicht nur die eigenen Werte mit Füßen, wenn die Bereitschaft zum Einsatz stärkster Mittel in Zweifel gezogen wird; man verliert auch noch das Gesicht. Als moralischer Imperativ lässt sich die sthenische Rückfrage nach funktional äquivalenten Mitteln deshalb gerade nicht begründen. Denn die programmatische Profilbildung sichert meinen Werten ihre Höchstrangigkeit; sie verlangt nicht einen Einsatz unter vielen möglichen, sondern den höchstmöglichen. 25 Im massenhaften Aufeinanderprallen von programmatischen Profilierungen gerät die Weltgesellschaft aus den Fugen. Diskussionen über die neuen der Globalisierung geschuldeten Probleme der Menschheit sind notwendig, um dies Wissen zu einer Überleitformel auszubauen, zu einer Institution 2. Ordnung, die im Falle tragischer Konflikte einen auf legale Mittel beschränkten Wechsel von einer Programm-Kontextur Stegmaier (1998, 72) weist bezüglich dieser »Perspektivierung der Moral«, die auf Gegenseitigkeit verzichtet, auf eine Nähe Luhmanns zu Nietzsche hin. 24 Zu den drei Programmatiken siehe Ganten/Gerhardt/Heiinger/Nida-Rümelin (2008); Baumgart-Ochse/Schöring/Wisotzki/Wolff (2011); Buckley-Zistel/Beck/ Braun/Mieth (2013). 25 Baumann (2007, 71) meint den epistemischen Imperativ mit dem Argument widerlegen zu können, jeder Wohlmeinende würde Alternativen ohnehin berücksichtigen. 23
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
in eine andere erwarten lässt. Selbiges ist alles andere als naheliegend oder für moralisch-wohlmeinende Akteure gar Selbstverständliches. Es bedarf eines epistemischen Imperativs, der den Drift zum kognitiven Rotieren im eigenen Kontext stoppt und von sich selbst und anderen erwarten lässt, Alternativen auch dort noch ins Auge zu fassen, wo die Wertordnung Alternativlosigkeit vorschreibt. Dabei ist wichtig zu betonen, dass das Imperativische nicht von einem immer kontingenten aber autorisierten Sollen ausgeht, sondern von der Logik. Für den dritten der epistemischen Imperative, die Eskalationsvermeidung liegt der innere Konnex zur Autopoiesis in ihrer Funktion transjunktionaler Operation auf der Hand und wurde oben bereits ausgeführt. Er symbolisiert gewissermaßen die höchste Stufe der weltgesellschaftlich dringlichen Korrektur dominanter und über die Massenmedien global verbreiterter Interpretations- und Denkgewohnheiten, die steuerungstechnischen Umgangsweisen mit Konflikten größtes Vertrauen entgegenbringen lassen.
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Ebenso wie das kantische Programm, so mündet auch das systemtheoretische in moralische Fragestellungen, oder eben in die Frage Was soll ich tun? – und dies aus einem ähnlichen Beweggrund. Es sind die Grenzen des Wissens, die dem Handeln seine einzigartige Bedeutung verleihen. Luhmann verwirft die grundbegriffliche Stellung des Handelns nicht, um den Begriff des Erlebens an die Stelle zu rücken. Es geht nicht um den Gegensatz von aktiver und passiver Haltung. Vielmehr soll der weiter gefasste Begriff der Operation deutlich machen, dass zu verantwortender Einfluss bis zu den Selektionsleistungen reicht. 26 Aus diesem Grund ist nicht nur deren Zurechnung so wichtig, auch historisch variable Zurechnungsentscheidungen gewinnen an Bedeutung. 27 Mit der Vielgliedrigkeit und Komplexität der Handlungszusammenhänge und den unübersichtlichen Zuständigkeiten scheint es geIm Begriff »Beobachtungshandeln« (Reese-Schäfer (1992, 163; 1997, 587) schwingt hingegen die Unterstellung eines marginalen Praxisbezugs mit. 27 Siehe Luhmann, »Erleben und Handeln« in: ders. (1981, 67–80, 68). 26
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Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
radezu absurd, die Haftungsbedingungen des Einzelnen zu verschärfen, wo doch jeder erfahren kann, dass die allgemeine Praxis des Delegierens von Verantwortung nicht bloß einer verantwortungslosen Mentalität anzulasten ist, sondern global vernetzten Organisationsstrukturen. Umso bedeutender wird es, Verantwortung zu spezifizieren. 28 Der Zusammenhang scheint paradox: Je vernetzter und unübersichtlicher die Handlungsvollzüge werden, desto wichtiger wird es, den Einfluss nicht am Verursachen von Wirkungen (Handlung) festzumachen, sondern an Operationen der Selektion, an der Vorauswahl von Möglichkeiten, an der Art und Weise, in der Menschen an Probleme herangehen. Lange bevor Wirkungen in einer als Handeln erkennbaren und zurechenbaren Weise hervorgebracht sind, ist eine Richtung durch die Art der operativen Perspektivierung gebahnt. Diese Erkenntnis ist nichts Neues, aber die theoretisch-praktische Lokalisierung des Phänomens in individual- und sozialpsychologisch gedeuteten pathogenen Strukturen hat die Kultur und mithin den Ort des Mainstreams exkulpiert. Da sich der einzelne Mensch allein aufgrund der globalen Vernetzungsdichte vor sich selbst nicht mehr aus der Verantwortung stehlen kann – vor Anderen spielt nur die politisch korrekte Art zu Sprechen eine Rolle –, bedarf es einer kulturell konturierten Verantwortung für Selektionsweisen. Kant, den dieses Problem bereits im Grenzen sprengenden achtzehnten Jahrhundert umtreibt, entwickelt angesichts mannigfacher Handlungsbezüge regulative Ideen. Solche nicht in Wissen zu überführenden und dennoch persistenten Grundfragen, wie sie in den Begriffen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit Ausdruck finden, werden bereits bei Kant funktional aufgeschlüsselt. 29 Wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt, ist Gott als das vollständige Subjekt dem nah, was Luhmann im Begriff der Selbstreferenz wiederzugeben sucht. Unsterblichkeit, verstanden als vollständige Reihe ohne erstes und oberstes Glied, findet sich bei Luhmann mit dem Begriff der Auto-
Der Begriff der Verantwortung ist deshalb zusammen mit dem komplementären Begriff des Vertrauens zu einem zentralen philosophischen Problemgegenstand geworden. Siehe dazu die Beiträge in Hirsch/Delhom (2015). 29 Denn es sind die drei Funktionen der Vernunftschlüsse, aus denen die Ideen entspringen: »erstlich die Idee des vollständigen Subjekts (Substantiale), zweitens die Idee der vollständigen Reihe der Bedingungen, drittens die Bestimmung aller Begriffe in der Idee eines vollständigen Inbegriffs des Möglichen«, Kant, KrV, Prol. § 43 (III 94 f.). 28
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
poiesis ausgedrückt. Und das kantische Postulat der Freiheit, das die Bedingung möglicher Zurechenbarkeit von Handlungen und somit der Moral angibt, findet sich bei Luhmann im Theorem der Kontingenzformel ausgedrückt. 30 Ein Primat der praktischen gegenüber der theoretischen Vernunft äußert sich bei Luhmann freilich nicht in einem ausgearbeiteten Werk über ethische Grundfragen. Das hat seine Ursache einmal darin, dass Luhmann den kategorischen Imperativ mit den Augen der Wertethiker betrachtet. 31 Außerdem zwingt ihn sein Selbstverständnis als Soziologe dazu, die Ausarbeitung einer modernen Ethik der Philosophie zu überlassen. Ein Primat der Praxis lässt jedoch ethische Implikationen weit über die konkreten Einlassungen auf das Thema erkennen. Er äußert sich insbesondere an jenen Stellen, wo Luhmann die Logik der Form Spencer Browns auf sozial relevante Themenfelder anwendet. Das Setzen eines Anfangs wird als unterscheidenden Bezeichnens – draw a distinction – in seinen Konsequenzen für den Menschen sichtbar gemacht.
Evolution und Verantwortung Allein das Faktum fehlender Letztbegründung verschafft der Komplementarität von Freiheit und Verantwortung eine herausragende Bedeutung. In der Argumentation Kants tritt ebenso wie bei Luhmann eine Interpretation in den Hintergrund, die im antiken Denken vorherrschend war, nämlich Freiheit als Wahlfreiheit. Hier geht es darum, zwischen vorgegebenen Möglichkeiten zu wählen, klassisch zwischen Tugend und Laster. Damit würden Freiheit und die Negation von Regeln qua Negation von Zwang identisch. 32
Deshalb ist die Angabe von Bedingungen wichtig, unter denen Freiheit in Erscheinung tritt. Für die Moderne ist es nach Luhmann (2008, 340) zweckmäßig, Freiheit nicht als Voraussetzung, sondern als Folge der Moral zu denken. Denn »im Grunde stellt jede Kommunikation den, der sie versteht, vor die Frage der Annahme oder Ablehnung.« Siehe zu diesem Moralverständnis auch Röttgers (2012, 279). 31 Luhmann (2008, 357) spricht von der deduktiven Unergiebigkeit des kantischen Sittengesetzes. 32 Da die Unterscheidung von Freiheit und Zwang implodiert sei, heißt es bei Luhmann (1995b, 7–28), müsse heute nach einem anderen Verständnis von Freiheit gesucht werden: Die kognitiven Bedingungen für Wahlfreiheit nehmen nicht mehr die Form von Regeln an, sondern die Form von Wissen. 30
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Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
Kant aber vertritt sehr viel mehr jenen schon im Spätmittelalter bei Duns Scotus ausgearbeiteten Freiheitsbegriff als Fähigkeit, etwas beginnen zu können. Die Unfähigkeit, ein erstes (Schöpfung) und ein letztes Glied (Himmelreich auf Erden) zu benennen, bürdet dem Menschen eine große Verantwortung für sein Handeln auf. Bei Luhmann impliziert der initiale Imperativ Unterscheide! auch dann nichts anderes, wenn der weitere Fortgang des unterscheidenden Bezeichnens der Evolution überlassen bleibt. 33 Da Luhmann (1997, 498– 504) ausschließlich die neuere jede Finalität und Kausalunterstellung meidende Evolutionstheorie bemüht, lassen sich die Konsequenzen der initialen Wahl einer Unterscheidung nur als Folge eines Zusammenspiels der evolutionären Mechanismen, Variation, Selektion und Stabilisierung denken. Sie machen sich zwar vom Willen des Operators unabhängig, aber auf eine Weise, die von Wahrscheinlichkeitskalkülen und statistischen Erhebungen nicht kompensiert werden kann. In die Konsequenzen der initialen Wahl bleibt der Aktor verstrickt. Anders gesagt: dessen Freiheit ist unvermeidlich mit Verantwortung verknüpft. Denn moralische ist nach Luhmann symmetrische Kommunikation. 34 Ihre Postulate gelten für beide Seiten. »Ob ›Imperativ‹ oder nicht und ob ›kategorisch‹ oder nicht: Die Selbstbindung ist eine Implikation des Sinnes moralischer Kommunikation« (Luhmann 2008, 277). Gleichwohl erneuert Luhmann nicht nur das kantische Symmetriegebot, auch das Imperativische findet sich in einem Ethikverständnis, das der moralischen Inklination zum Missachten Widerstand entgegensetzt. Und das Kategorische findet sich im implikativen Status der Moral: die Bedingungen der Achtungskommunikation laufen per Implikationem mit. Ein kategorisch geltender Imperativ geht aus der logischen Form unterscheidenden Bezeichnens hervor: Der Aktor ist als Marker seiner eigenen Unterscheidung Teil derselben; er kann sich seiner Teilhaberschaft und somit seiner Verantwortung nicht entziehen. Das Verbot der Selbstexemption ist ein von der Logik verordnetes Verbot, das sich gleichwohl moralisch auswirkt und somit wieder in die Freiheit des einzelnen Menschen gestellt ist. Es enthält folgende WarSo deutlich in Luhmann »Die Weisung Gottes als Form der Freiheit«, in: ders.: (1990, 77–94). 34 Die Moral stellt folglich, gebunden an ihre eigene Terminologie, ein Postulat der Unverzichtbarkeit der Menschenwürde auf (Luhmann 2008, 278). 33
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
nung: Wenn auch der Beobachter mit dem Beobachteten verschmilzt, so stellt die moderne Gesellschaft kognitive Instrumente zur Verfügung, die es dem Beobachter leicht machen Selbstimplikation als Faktum moralischer Kommunikation auszublenden. Befangen in Subjekt/Objekt- und Zweck/Mittel-Semantiken kann er der Illusion erliegen, den eigenen Subjektstatus nicht zu verlieren, wenn er den Anderen in einen Objektstatus zwingt. Symmetrische Kommunikation lässt jedoch stets den Operator an seinen Operationen messen, das heißt an den Kriterien seines unterscheidenden Bezeichnens. Präferenzen werden auch dort auf den bevorzugenden Operator, auf den Handelnden, zurückgerechnet, wo Operationen nicht explizit moralisch, sondern politisch, ökonomisch, juristisch, pädagogisch oder religiös gerechtfertigt werden. Denn es sind stets gute Wirkungen, gute Zwecke und gute Folgen, die Operationen als Ursache, als Mittel und als Grund bevorzugen lassen. Und das Unterscheiden von Gutem und Schlechtem ist moralisches Unterscheiden. Sofern sich diese Verknüpfung nicht länger als kausale, als rationale und konsequenzialistische legitimieren lässt, weil weder Kausal- noch Instrumental- oder Konditionalrelationen nachweisbar sind, so scheint der Handelnde jede Orientierung zu verlieren. Dies treibt die Ethik zur Reflexion jetzt noch möglicher Beeinflussung, die dem Faktum aneinander gekoppelter Freiheit und Verantwortung gerecht werden kann. Da sich bereits Kant vor dem Hintergrund seiner Kritik am Utilitarismus bemüht, ohne derlei Sicherheiten auszukommen, liegt es wieder nahe, hier Anknüpfungspunkte zu suchen. Und tatsächlich scheinen evolutionstheoretisches und transzendentalphilosophisches Sprachspiel mühelos ineinander zu überführen. Das evolutionstheoretische Setting stützt nicht mehr sozialdarwinistische Topoi der Auslese und der Ausscheidungskämpfe, sondern lädt zur Reformulierung des kategorischen Imperativs ein: Wird das Zusammenspiel der evolutionären Mechanismen berücksichtigt, so ist eine Haltung nahegelegt, die dessen Logik in allen drei Versionen Folge leistet. Der erste Imperativ »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz würde!« provoziert die handlungsleitende Frage: Stell dir vor, alle müssten so handeln. (Kant GMS, BA 52). Diesem kategorischen, epistemischen oder transjunktionalen Imperativ korrespondiert der evolutionäre Mechanismus der Stabilisierung: Bei jedem Akt unterscheidenden Bezeichnens gilt es in Rechnung zu stellen, dass damit korrespondierende Erwartungsstrukturen petrifiziert wer166 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
den. So mag die unterstellte Gleichheit souveräner Staaten den Vereinten Nationen mitunter skandalöse Verhältnisse bescheren, in denen illiberale, autoritäre oder sogar totalitäre Staaten ihr Stimmrecht nicht im Sinne liberaler Rechtsstaaten ausüben. Indes scheint die Ablösung des Gleichheitsprinzips durch die Unterscheidung von souveränen Staaten und ihrer Souveränität beraubter Schurkenstaaten ungleich schwerer zu wiegen. Denn sie suspendiert die Bedingung für Rechtsstaatlichkeit, nämlich die Gleichheit vor dem Gesetz. Als stabilisiertes Erwartungsmuster richtet sich dieses Unterscheidungsprinzip stets gegen die unterlegene und nicht gegen die Seite des Unrechts. Analoge Überlegungen lassen sich bezüglich der Zweckformel anstellen, wenn man diese evolutionstheoretisch reformuliert. Die Aufforderung: »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner eigenen Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest!« (Kant GMS, BA 67) provoziert die Frage: Stell dir vor, du seist von der Maxime selbst betroffen. Diese Logik mündet in einen Imperativ, der geraten sein lässt, beim unterscheidenden Bezeichnen den Mechanismus der Variation zu berücksichtigen. Um bei unserem Beispiel zu bleiben bedeutet dies: Wenn auch die gegenwärtigen Machtverhältnisse und Diskursstrukturen dem westlichen Ordnungsmodell Überlegenheit gegenüber anderen Modellen attestieren sollten, so verhindert bereits die Variabilität möglicher Auslegungen der demokratischen und menschenrechtlichen Maximen, dass es ausschließlich nichtwestliche Länder sein müssen, welche gravierender Menschenrechtsverletzung bezichtigt und von einer Internationalen Gemeinschaft oder Koalition der Willigen für Militärinterventionen freigegeben werden. Auch der evolutionäre Mechanismus der Selektion führt, wenn er in der Wahl von Wahrnehmungsschemata berücksichtigt wird, zu einem Handlungsimperativ, der sich mit Kant folgendermaßen formulieren lässt: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!« (Kant GMS, BA 52). In Frageform gefasst lautet der Satz: Stell dir vor, alle dürften so handeln. Was jetzt im Akt unterscheidenden Bezeichnens antizipiert werden muss, bezieht sich auf das Selektionsmuster, die Vorauswahl von Wahlmöglichkeiten, die sich in Prozessen der Verrechtlichung niederschlägt. Auch hier bestätigt sich wieder: Das Schema souveräner Rechtsstaat und seiner Souveränität beraubter Schurkenstaat ist ein Unterscheidungsmodus, der nicht 167 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
von Freund/Feind-Konstellationen und Machtverhältnissen unabhängig wirksam sein kann. 35 Aus diesem Grund und nicht weil die Initiatoren der UN-Charta eine rechtsstaatlich verfasste Staatengemeinschaft vorgefunden hätten, einigte man sich bei der Gründung der Vereinten Nationen auf die unterschiedslose Zuerkennung von Souveränitätsrechten, auf Gewaltverbot und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. 36 Der kategorische Imperativ ist eine Art der Markierung; er antwortet auf das Scheitern der rationalistischen und der empiristischen Normbegründung. Auch das Luhmannsche (2008, 189) Verbot der Selbstexemption ist bloß eine Art der Markierung und antwortet zusätzlich auf das Scheitern der dialektischen Normbegründung. Dieser Zusatz aber macht es erforderlich, über die Evolutionstheorie nachzudenken, die Voraussetzungen für eine Ergänzung des einfachen Fortschrittsglaubens der Aufklärung durch einen problematisierten, aber nicht negierten Fortschrittsglauben des neunzehnten Jahrhunderts geschaffen hatte. Diesen theoretischen Hintergrund im Auge zu behalten ist notwendig, da sich die gesellschaftliche Wirklichkeit funktional differenzierter Systeme seither weiterentwickelt hat. Der kategorische Imperativ ist plausibel in einer Gesellschaft, die das Individuum (als Reich der Freiheit) der Gesellschaft (als Reich der Notwendigkeit) gegenüberstellt und alles vom Einzelnen erwartet und erhofft. Er verliert seine Plausibilität in einer Gesellschaft, die dem Staat (als Allgemeines) die Gesellschaft (als Besonderes) gegenüberstellt. Der Einzelne gehört in den Bereich der Besonderheiten, die aus sich heraus nichts vermögen. Erst disziplinierende Techniken der Internalisierung des Allgemeinen – als Nutzenkalkül oder als Solidarität – machen ihn für den Fortschritt tauglich. Unwichtig ist gegenüber dieser Logik, ob mit Staat der liberale oder der sozialistische gemeint ist. Aber nachrangig ist auch, wie das Besondere im Einzelnen bestimmt wird, individualistisch oder kollektivistisch. In der Literatur wird der negative Drift mit dem Hinweis vermerkt, dass sich ein Rechtsstaat, der extralegale Hinrichtungen weltweit durchführt, nicht von jenen Unrechtsregimen unterscheide, die vor Menschenrechtsgremien angeklagt werden. Siehe typisch den Strafrechtler Kai Ambos (2011), Jeremy Scahill (2013). 36 Hajo Schmidt (2007, 253) weist auf die dahinterstehende problematische Reduktion des kantischen Friedens-Modells auf den Frieden rechtsstaatlich verfasster Demokratien hin, welche entscheidende Prinzipien unterschlage, wie ein auf Hospitalität beschränktes Weltbürgerrecht und die strikte Begrenzung eines mit Zwang(srecht) gleichgesetzten Rechts auf das innerstaatliche Recht. 35
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Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
Die differenzialistische Systemtheorie wird vor dem Hintergrund dieses Problemzusammenhangs ausgearbeitet. Und dieser ist es, der die Entfaltung eines dem kategorischen Imperativ funktional äquivalenten Theorems notwendig macht. Die Enttäuschung über qualitative und quantitative Modelle wird von der Evolutionstheorie aufgegriffen. Denn die evolutionäre Perspektive vermag allein über die Verteilung von Wahrscheinlichkeiten und den Aufbau von Plausibilitäten, Auskunft zu erteilen. Sie sagt hingegen nichts über die Ereigniskette selbst aus und somit über Kausalitäten, die sich unabhängig vom Handelnden fortschreiben. Sie gibt aber auch keine Richtlinien für eine angemessene Wertung von Ereignissen. Um Einfluss auszuüben, muss der Handelnde die einschränkenden Bedingungen dieses Zusammenspiels der Mechanismen so weit wie möglich bedenken. Die Rahmenbedingungen möglicher Einflussnahme richten sich jedoch nach der Gesellschaftsstruktur. Für die funktionale Differenzierungsform konstatiert Luhmann (1986) abgeschottete Resonanzräume, die Folge code-gesteuerter Kommunikation sind. 37 Im politischen System gewinnen nur jene Nachrichten Informationswert, die innerhalb des systemeigenen Codes wahrgenommen werden, das heißt, die im Medium Macht kommunizierbar sind. Entscheidend wird dann, ob die Nachricht einem mächtigen oder einem machtlosen Akteur zugerechnet wird. Nur im ersten Fall ist Resonanz zu erwarten. Das Wirtschaftssystem nimmt Nachrichten im Horizont von Kosten/Nutzen-Kalkülen und von Verwertungsinteressen auf. Für das Rechtssystem ist die Judifizierbarkeit entscheidend, folglich nur der Gesichtspunkt: noch rechtsförmlich oder bereits rechtswidrig, noch nicht verrechtlicht, aber zu verrechtlichen. Das Passungsverhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik sagt also zunächst nur etwas darüber aus, was Informationswert gewinnt. Dieser Wert bleibt auf den Sektor begrenzt, der einer Nachricht Bedeutung zumessen lässt. Einflussreich wird eine Operation allenfalls, sofern sie relevante Resonanzräume nicht ignoriert. Damit sind Imperative noch einmal mehr als bloß kontextbezogene Richtlinien des Handelns denkbar, als Wenn-Dann-Konklusionen. Der systemtheoretische Begriff der Konditionierung beschränkt Im 18. und frühen 19. Jahrhundert sei diese Abhängigkeit von »Evidenzen und Plausibilitäten« noch unter dem Gesichtspunkt der »Rationalitätsenttäuschungen« aufgenommen und verarbeitet worden. (Luhmann 2008, 283).
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
sich folglich auf den engen Konnex des Unterscheidens zu dem dadurch Bezeichneten. 38 Dieses ist bloß innerhalb eines bestimmten Funktionssystems informativ und bindend. Man könnte also sagen, dass die Verdrängung des kategorischen durch hypothetische Imperative durch die Gesellschaftsstruktur erzwungen ist. Diese Schlussfolgerung verkennt allerdings die Funktion des kategorischen Imperativs. Kant entwickelt eine solche Verbindlichkeit nicht, weil eine ohnehin moralisch integrierte Gesellschaft an einem kategorischen Sollen interessiert gewesen wäre, die sie im Hochgefühl einer selbstgewissen Normativität bestätigt. Vielmehr braucht Kant einen kategorischen und nicht bloß hypothetischen Charakter jenes immer bedingungsfreien Willens zum Frieden, weil er die Folgen des Verlustes regionsmoralischer Verbindlichkeiten bedenkt. Der kategorische Imperativ ist ein funktionales Äquivalent des Gewissens, das als Orientierung in Situationen einspringt, in denen die Gebote und Verbote des Dekalogs widersprüchliche Verhaltensanforderungen stellen. Das Tötungsverbot gilt folglich selbst für den Fall, dass der Einzelne meint in der konkreten Situation dasselbe nicht befolgen zu können und womöglich sogar nicht befolgen zu dürfen. Kant radikalisiert das Tötungsverbot und erweitert es zu einem Instrumentalisierungsverbot aus der historischen Erfahrung mit der Macht einer Ständemoral, die dieses Verbot zu relativieren, wenn nicht auszuhebeln verstanden hatte. Der kategorische Imperativ ist im Gegensatz zur Instanz des Gewissens nicht für eine hierarchische Gesellschaft gedacht, in der Stände- und Religionsmoral die Gesellschaft mit diametralen Verhaltensmaximen und Erwartungshaltungen verunsichern. Die Instrumentalisierung von Mitmenschen für eigene Zwecke kann aus ständemoralischen Gründen mitunter Tötungen einschließen. Das kategorisch geltende auf gewollte oder in Kauf genommene Tötungen zielende Instrumentalisierungsverbot Kants ist für eine Gesellschaft konzipiert, die sich in Funktionssysteme auszudifferenzieren beginnt. Die neue moderne Gesellschaft soll nicht mehr durch ständemoralische Instrumentalisierungserlaubnis »Systeme sind nicht einfach Relationen (im Plural!) zwischen Elementen. Das Verhältnis der Relationen zueinander muß irgendwie geregelt sein. Diese Regelung benutzt die Grundform der Konditionierung. Das heißt: eine bestimmte Relation zwischen Elementen wird nur realisiert unter der Voraussetzung, daß etwas anderes der Fall ist bzw. nicht der Fall ist. Wenn immer wir von ›Bedingungen‹ bzw. von ›Bedingungen der Möglichkeit‹ (auch im erkenntnistheoretischen Sinne) sprechen; ist dieser Begriff gemeint.« (Luhmann 1984, 44).
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Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
und religionsmoralisches Instrumentalisierungsverbot blockiert sein. Das christliche Tötungsverbot wird zum Instrumentalisierungsverbot erweitert. Bereits im neunzehnten Jahrhundert werden die beiden Komponenten erneut separiert: Die Hegel-Marxsche Geschichtsphilosophie verknüpft das kantische Instrumentalisierungsverbot wieder mit einer Tötungserlaubnis für bestimmte als gut ausgezeichnete Zwecke der Konstruktion einer idealen Gesellschaft. Und die neukantianische Verwissenschaftlichung der Philosophie erklärt beide Verbote als Relikte eines alten im Metaphysischen befangenen Denkens. 39 Diese Entwicklung kulminiert in der Einigung auf kontingente Werte, die als allgemeinverbindliche von der Weltgesellschaft zu befolgen nicht nur verlangt, sondern unter Aufbietung aller verfügbaren zivil-militärischen Methoden erzwungen wird. Am Ende bleibt eine funktionsmoralische Instrumentalisierungserlaubnis, der bloß noch das Korrektiv von Skandalen Einhalt gebieten soll. Das kann nicht funktionieren. Auf der Grundlage dieser Einsicht gilt es an der funktionalen Unersetzbarkeit einer Einrichtung des sozialen Lebens festzuhalten, die in paradoxen Verhaltensanforderungen und blockierenden Dilemmasituationen nichttötende Maßnahmen verteidigt. Möglichen Konturen einer solchen Einrichtung wurden im Rahmen der vorliegenden Abhandlung mit dem Begriff der Institution 2. Ordnung umrissen. Die Unterscheidung zwischen Institutionen, die lösbare Probleme behandeln (Recht, Moral, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung) und Institutionen, die unlösbare Probleme behandeln (Gewissen, kategorischer Imperativ, transjunktionale Operation), bleibt infolgedessen als schlechtweg konstitutiv für die Gesellschaft vorausgesetzt. Lösbare sind vorletzte, unlösbare sind letzte Probleme. In Dilemmasituationen kann nicht mehr begründet, sondern nur noch für oder gegen außerlegale Gewaltmittel entschieden werden. Die gesamte funktional-strukturelle Methodologie fußt auf dieser Umorientierung von Letztbegründungen auf Letztprobleme. Das letzte Problem besteht darin, dass sich jede Einheit als differente Perspektive auf diese Einheit und jede Differenz unter einem einheitlichen Gesichtspunkt betrachten lässt. Erinnerlich überführt Luhmann die dialektiZur Haltung Paul Natorps und Max Schelers zur Gewaltfrage z. Z. des Ersten Weltkrieges siehe Brücher (2009a, 174).
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
sche Formel der Einheit von Einheit und Differenz in die sinnfunktionale Formel der Differenz von Einheit und Differenz: Problemlösung auf diesem Feld bleibt auf differenzerhaltende Operationen angewiesen. Denn Einheit ist immer nur die Perspektive des einen Beobachters. Dies gilt für alle drei Sinndimensionen, für Wahrheitsfragen, für normative Fragen und für Fragen der Zukunftsgestaltung. Davon ausgehend ließ sich ein praxisbezogenes Resultat der bisherigen Ausführung erkennen: Mit dem Begriff der Selbstreferenz (anstelle der Vernunft), der Kontingenzformel (anstelle des Ideals) und der Autopoiesis (anstelle des Fortschritts) wird der differenzielle Aspekt betont und der jeweils unterschlagenen Sinndimension wieder die gebührende Aufmerksamkeit gezollt. Denn das Insistieren auf meinem Einheitskonstrukt ignoriert fremden Sinn. Alle drei Theoreme erinnern daran, dass Differenz nicht in einer letzten Einheit aufgehoben werden kann.
Sinn und Technik Dennoch ist Vereinheitlichung eine notwendige Voraussetzung für die gewünschte Leistungssteigerung, mit der sich die Moderne gegen eine am Ideal der Selbstgenügsamkeit ausgerichtete Vormoderne wendet: Gezielte und auf Effizienz bezogene Komplexitätssteigerung durch Komplexitätsreduktion, so lautet die knappe systemtheoretische Formel (Luhmann 1997, 507). Es kann nun durchaus zum eigenen Sinnentwurf werden, Sinnbezüge zu kappen, salopp gesagt, Rücksichten zu ignorieren, um die eigene Gestaltungsfreiheit zu erhöhen. Die Frage ist nur, ob ein solcher Sinnentwurf seinerseits kontextfrei erfolgreich sein kann, oder ob es wieder gesellschaftsstrukturelle Voraussetzungen gibt. So wäre es durchaus denkbar, dass ein gezieltes Ausblenden von Sinnbezügen im Zeitalter der Globalisierung an Grenzen der Akzeptanz stößt. Statt von Ausblenden kann man auch vom Abschneiden von Sinnhorizonten sprechen und somit von Technisierung im Sinne multidimensionaler auch Psycho- und Sozialtechniken einbegreifender Erscheinungsweisen desselben Phänomens. 40 Das beschreibt Technik als »funktionierende Simplifikation im Medium der Kausalität« (Luhmann 1991, 97). Als eine Form kausaler Verknüpfung von Ereignissen macht Technik die Beobachtung laufender Sinnbezüge entbehrlich.
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Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
Das westlich-abendländische auf industriell-technische Entwicklung abgestellte Wahrheitsverständnis spiegelt den technoiden Entwurf und zwar in jedem der einschlägig erfolgreichen Begriffe: So beachtet der empirische Wahrheitsbegriff nur die Sachdimension, wenn er Forschungsergebnisse zur verbindlichen Richtschnur des Handelns erklärt. Demgegenüber vernachlässigt ein Begriff des Wahrheitsanalogen 41 die Sachdimension und setzt allein auf diskursive Einigungsprozesse und damit auf die Sozialdimension. Anders, aber wieder einseitig, fokussiert der Begriff der Wirklichkeitskonstruktion auf die Zeitdimension, indem er die transitorische Geltung von Forschungsergebnissen und von Einigungsbemühungen zum ureigensten Merkmal des Wahren und Wirklichen erklärt. 42 Alle drei Begriffe sind dogmatisch in dem Sinne, dass sie nur säkulare Semantiken für akkulturationsfähig halten. Religiöse Semantiken aber – und damit ein Großteil der außereuropäischen Kulturen – bleiben ausgeschlossen. Dies ist unter der heutigen weltgesellschaftlichen Vernetzungsdichte, den Migrationsbewegungen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten aus dem Grund gefährlich, weil sich ein als vormodern abgekanzeltes Religiöses zu politisieren beginnt. Politisierte aber ist fundamentalistische Religion. Der kantische Formalismus hatte ganz im Sinne der Aufklärung die Sprengkraft gegensätzlicher Weltanschauungen, insbesondere säkularistisch-utilitaristischer und religiöser Provenienz in einer übergreifenden Moral zu harmonisieren gesucht. Aber er war sogar noch weitergegangen, indem er Atheismus und religiösen Dogmatismus auf derselben Stufe vorkritischen Denkens einordnete. In den vorangegangenen Kapiteln wurden Motive und Begründungslinien der Luhmannschen Überbietung des kantischen Formalismus ausgeführt. Jetzt geht es darum, dieselben konkret zu machen. Bezogen auf den Umgang mit Fragen des Wahren und Wirklichen bedeutet dies: Es gilt alle drei Sinndimensionen simultan zu berücksichtigen, wenn es um die Lösung von Problemen geht, die aus bestimmten immer kulturell gefärbten Konzeptionen herrühren. Die jeweils vernachlässigten Dimensionen müssen in die beachtete
Habermas (1999, 271) begreift Richtigkeitsansprüche als wahrheitsanaloge Geltungsansprüche. 42 Zu Schlüsselwerken des Konstruktivismus siehe Pörksen (2014); zum Diskurs des radikalen Konstruktivismus Siegfried J. Schmidt (1987). 41
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
Sinndimension einbezogen werden, das meint re-entry im ethisch anspruchsvollen Sinne. Der empirische Wahrheitsbegriff, der nur auf sachliche Probleme der übereinstimmenden Identifikation von Wahrheit oder von Wahrheiten erinnert, tut so, als wären die Probleme bloß logischer Art und ließen sich durch soziale Bemühungen, durch Diskurse und durch geduldige Temporalisierung, genannt Prozeduralisierung lösen. Aus systemtheoretischer Perspektive betrachtet sind die sozialen und temporalen Bedingungen für die Plausibilität der ergänzenden Wahrheitsbegriffe des Wahrheitsanalogen und der Wirklichkeitskonstruktion jedoch ebenfalls nicht gegeben. Denn als kognitiv strukturierende Orientierungsfiguren haben alle drei Begriffe nur in einem hierarchischen Gesellschaftssystem Bestand, in dem es eine Instanz gibt, die aus der Logik erwachsende Probleme dogmatisch löst. Als Dogmatik wirken diese Konstrukte im Kontext politisch-gesellschaftlichen Handelns, indem sich Entscheidungen auf Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung stützen, obgleich dieselben nicht einheitlich, sondern konträr bis widersprüchlich ausfallen. Luhmann bringt die Übernahme von Funktionen des Dogmas mit dem Begriff des Kommunikationsmediums zum Ausdruck. Als Kommunikationsmedium steuert Wahrheit Annahmemotive im Falle von Selektionen (Entscheidungen), deren Akzeptanz unwahrscheinlich ist. Die Vermutung liegt nahe, dass ein so konzipiertes Wahrheitsverständnis zur Annahme prekärer – riskanter, umstrittener – Selektionen allenfalls in Übergangsgesellschaften motiviert, die die alten Autoritätsstrukturen auf das neue Verhältnis von Funktionsträgern und Funktionsempfängern übertragen. Aufgrund dieser Uneinheitlichkeit einer empirisch aufgezeigten, einer diskursiv zustande kommenden und einer konstruierten Wirklichkeit müsste die ethnisch-religiös-kulturell durchmischte Weltgesellschaft die Autorität einer globalen Avantgarde anerkennen, um der westlich-abendländischen Lösung des Problems zuzustimmen. Wie die weltpolitischen Konflikte der Zeit nach dem Ende des Systemantagonismus und dem obsiegenden liberal-demokratischen System jedoch gezeigt haben, lassen sich zwar Avantgardeparteien in allen aufständischen Gesellschaften mit Argumenten und mit Waffen unterstützen. Was aber nicht gelingt, ist die Steuerung von Protesten und Aufständen in afrikanischen, arabischen oder asiatischen Ländern dergestalt, dass die Umsturzbewegungen von säkular und demokratisch-rechtsstaatlich orientierten Avantgarden bestimmt 174 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
wird und nicht von Vertretern theokratischer Ordnungsformen oder von fundamentalistischen Kräften. Aber nicht nur die sozialen, auch die temporalen Bedingungen der technoiden Präferenzstruktur sind heute angesichts beschleunigten Strukturwandels nicht mehr gegeben. Evolutionstheoretisch betrachtet, dienen Strukturen einer funktional differenzierten Weltgesellschaft nicht länger als Mechanismus der Selektion, der Vorauswahl von Wahlmöglichkeiten, anders gesagt, der Orientierung. Sie dienen vielmehr als Variationsmechanismus, gewissermaßen als Material für Experimente. Deshalb gibt es keine Alternative zur funktionalen Differenzierung (Luhmann 1986, 76): Jeder Gegenentwurf kommuniziert das Kontingenzbewusstsein als Bauprinzip der Moderne. Der Umsturz ist endemisch und bedarf keiner progressiven Partei, die denselben propagiert. 43 Was in voll entwickelten funktional differenzierten Gesellschaften zunehmend rar wird, sind stabile Muster, die das Verhalten anderer Menschen, seien es Individuen oder Gruppen, erwartbar machen. Wahrheit behält ihre Funktion eines Kommunikationsmediums aber nur so lange, als Ergebnisse empirischer Studien und mithin bloße Provisorien riskante Entscheidungen begründen können. Dies setzt voraus, dass der empirische Wahrheitsbegriff als Dogma allgemein anerkannt ist. Da bereits für Kant im achtzehnten Jahrhundert die Bedingungen für Dogmatisierungen nicht mehr gegeben waren, hatte er kein alternatives säkular-modernes Wahrheitsverständnis angeboten. An die Stelle eines identitätsstiftenden Begriffs tritt vielmehr die Differenz von transzendentalen und empirischen Bedingungen möglicher Begriffsbildung. Nicht nur verschiedene Konfessionen, sondern auch unterschiedliche Religionsgemeinschaften und Kulturen können mit einer solchen Art von Vernunft- und Wahrheitsverständnis koexistieren. Nachdem diese Differenz von transzendental und empirisch den Standards nachmetaphysischen Denkens nicht hatte standhalten können, experimentiert Luhmann mit einer Reihe von Unterscheidungen in der Absicht, ein funktionales Äquivalent ausfindig zu machen. Denn auch er ist wieder davon überzeugt, dass nur ein differenzund nicht ein identitätslogisches Verständnis für eine Weltgemeinschaft akzeptabel sein kann, die nicht nur numerisch gewachsen ist. Beiträge Luhmanns zu Protest und sozialen Bewegungen sind abgedruckt in: ders.: (1996b)
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
Vielmehr hat sich auch deren Verflechtungsdichte in einem Maße erhöht, wie es im achtzehnten Jahrhundert undenkbar gewesen sein mochte. Wenn nun die Unterscheidung von Realität und Empirie 44 analog der kantischen Unterscheidung von transzendental und empirisch keinen Unterschied macht, sondern die Beobachter nur vor Dogmatisierungen warnt, so geht es in diesem letzten Kapitel um die Antwort auf die Frage, wie dies vonstattengeht. Kant wählt ein Verfahren der Normenprüfung. Für die Systemtheorie ist es im Anschluss an Luhmann nahegelegt, ein Verfahren des re-entry, der Integration unberücksichtigter Sinndimensionen in die berücksichtigte Dimension, zu wählen. Nun gehört es durchaus zum modernen Selbstverständnis, Aspekte auszuklammern, die für Projekte nicht unmittelbar relevant sind. Und da es sich bei den als irrelevant eingestuften Aspekten um etwas handelt, das im Kontext der Sinnentwürfe Anderer und Fremder relevant sein kann, bergen lebensweltliche Techniken ein nicht unbeträchtliches Konfliktpotential. Sind Technik und Technisierung als Abschneiden von Sinnhorizonten recht begriffen, so geht es bei einer Institution, die Kontexte auf friedliche Weise zu wechseln erlaubt, in gewisser Weise auch um einen Antipoden zur Technik. Dies verrät keine technikfeindlich-maschinenstürmende Haltung. Denn die zu Beginn dieser Abhandlung genannten Pioniere der atom- und der computertechnischen Entwicklung Albert Einstein und David Gelernter weisen nicht minder entschieden auf die Notwendigkeit eines Korrektivs hin. Die technische Entwicklung hat indes ein Stadium erreicht, in dem nicht mehr klar vor Augen tritt, was als humanistische Tradition Alternativen bereitstellen sollte. Denn ein Fokus des Menschlichen und Menschendienlichen kapituliert angesichts der bereits erreichten und tendenziell immer weiterzutreibenden Mensch-Maschine-Verschmelzung. Welche Realität kommt dem Menschen in einer von selbstregelnden Systemen überformten Kategorie zu, in der das Gemachte den Machenden bestimmt, in welcher Produkte die Funktion
Dieselbe Funktion erfüllen Operation/Beobachtung, Medium/Form. An die Stelle des transzendentalphilosophischen Apriori tritt ein imaginärer Raum (Luhmann 1990, 716): Realität, Operation, Medium. Die logische Paradoxieauflösung im Anschluss an Hegel (Die Einheit der Gesellschaft (Welt) wird in der Gesellschaft (Welt) repräsentiert), welche konkurrenzlose Repräsentation verlangt, wird folglich durch eine kreative Auflösung ersetzt. Dies gibt dem Paradox die Form des re-entry.
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Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
des Produzenten übernehmen, in der Objekte als Handlungssubjekte fungieren und Mittel ihren Zweck selbst bestimmen? Ist Technik das Absehen von der gesamten Fülle der Sinnverweisungen, so dürfte es auch schwierig sein, ein ganz anderes und vom Technischen Unterschiedenes zu denken, zumal damit vom Selbstverständnis des modernen Menschen abgesehen werden müsste. Mit und innerhalb der systemtheoretischen Nomenklatur zu denken, macht einen solchen zudem ganz aussichtslosen Schnitt entbehrlich. Es genügt, sich mit Aussagen über den Menschen wieder zurückzuhalten und denselben mit Luhmann als unbestimmbare Komplexität außen vor zu lassen. Das kommt der Suche nach einem Antipoden der Technik zugute, da sich die aus der humanistischen Tradition überkommenen Konzeptionen der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung inzwischen zu technoiden Programmen der Selbsthervorbringung fortentwickelt haben und somit die Mensch-MaschineVerschmelzung ins Innerste des menschlichen Selbstverständnisses Eingang gefunden hat. Es geht folglich um eine weltgesellschaftlich kompatible Form der Technik und nicht um die Negation derselben. Eine solche Form müsste der Diversität kultureller und religiöser Sinnentwürfe gerecht werden können. Damit kommen wir auf den Begriff des re-entry zurück, der zugleich als Technik und als sinninhärenter Vorgang die Fülle der sinnhaften Verweisungen gegen den abgeschnittenen Sinnhorizont in Stellung bringt. Weil letzteres eben praktisches Handeln behindert und ohnehin niemals alle Verweisungen vergegenwärtigt werden können, wird ein Vorschlag zu einer anderen Art der Reduktion unterbreitet. Dies war auch das Anliegen Kants und – für die gegenwärtige Semantik weit bestimmender noch – Husserls (1962). Doch während Kant die Moral als Teil modernen Problemlösungsdenkens zu bewahren sucht und deshalb die Verfahrensform des kategorischen Imperativs vorschlägt, setzt Husserl auf die fortschreitende Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems. Dies aber bedeutet, es wird auf fortschreitende Entmoralisierung vertraut. 45 Die phänomenologische Reduktion der Epoché, das Abschneiden von
Nach Sebastian Luft (2010, 222 f.) hat sein Wissenschaftsethos, weil aus ethischmoralischen Reflexionen heraus entstanden, Husserl womöglich zu Unrecht den Ruf des »Elitären« und »kalten Rationalisten« eingetragen. Die Wirkung geht dennoch von Husserl dem Mathematiker aus.
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
Sinnhorizonten, das Ausklammern alles scheinbar Evidenten, soll sich auch lebensweltlich bewähren, indem es vorurteilsfreies Erkennen möglich macht (Husserl 1998, 13 f.). Praktisches Handeln wird nicht entmutigt, wenn in Aussicht gestellt wird, dass sich nützliche von weniger nützlichen oder sogar schädlichen Verweisungen unterscheiden lassen. Eingeklammert werden soll nur all das, was für Menschliches und Zwischenmenschliches abträglich ist. Und da es die Wissenschaften sind, die Einsicht in wesentliche Unterschiede vermitteln, kann die Philosophie als Anwältin eines ausdifferenzierten autonom gesetzten Wissenschaftssystems zur avantgardistischen Kraft werden. Luhmann nimmt diesen entscheidenden ideengeschichtlichen Schwenk hin zur restlosen Entmoralisierung von Wissenschaft und Philosophie zum Ausgangspunkt seines Nachdenkens über den Zusammenhang von Gesellschaftsstruktur und Semantik. Aber er folgt dem Trend zu allumfassender Technisierung nicht unkritisch, indem er allenfalls verschiedene Formen der Technisierung zu Konkurrenten erklärt. Luhmann wirft Habermas vor, eben dies getan zu haben und für Moral auszugeben, was bloße Infiltration lebensweltlicher Techniken in Bereiche ist, die noch von der Tradition bestimmt sind. Gegen herrschaftssichernde Sozialtechniken sollen herrschaftskritische lebensweltliche Diskurstechniken das Menschliche und Zwischenmenschliche verteidigen. Aus der Konkurrenz von Techniken folgt jedoch keineswegs ein dem einzelnen Menschen zugutekommendes Verhalten und Handeln. Verfahrenstechniken im sozialen und psychischen Bereich führen dem Durchsetzungsstarken nur neue Mittel der Durchsetzung an die Hand, aber sie stärken nicht die Benachteiligten. Dies vermag nach Kant und auch nach Luhmann nur eine Maxime, die der Tendenz zur Instrumentalisierung anderer Menschen für eigene Zwecke Widerstand entgegensetzt. 46 Und da alle Menschen und nicht nur eine bestimmte Klasse, eine bestimmte Rasse oder ein bestimmtes Geschlecht dazu neigen, dem niederen Begehrungsvermögen Folge
Denn der Mensch vermag nach Kant (KrV A 802 / B 830) »durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden …« Quelle und Kraft der Überwindung nennt Kant »praktische Vernunft«. Solche distanzierenden Vorstellungen oder Reflexionen fallen bei Luhmann (2008, 266) unter den Begriff der Ethik.
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zu leisten, muss der Einzelne in seiner Widerstandskraft gegen die ganz natürlichen Impulse zur Instrumentalisierung gestärkt werden. Dies lenkt das Augenmerk auf die Ethik nicht als Mittel der Begründung dessen, was ohnehin gilt, sondern als Mittel der kritischen Reflexion moralischer Kommunikation. 47 Das höhere (Wille) wird gegenüber dem niederen Begehrungsvermögen (Willkür) gestärkt, wenn Ethik als Verfahren der Normenprüfung so viel Sinnverweisungen wie möglich und so wenig wie nötig zulässt. Mit dieser Formulierung lässt sich der Luhmannsche Standpunkt fassen, der ausgehend vom Husserlschen Sinnverständnis Grenzen der lebensweltlichen Technisierung benennen lässt, ohne das Prinzip moderner Problembewältigung aufzukündigen. Eine dem Menschlichen und Zwischenmenschlichen zuträgliche Form des Abschneidens von Sinnhorizonten, anders gesagt, der Technisierung, findet sich bei Kant in den drei Verfahren der Normenprüfung, die als Gesamtheit den kategorischen Imperativ umreißen. Jedes dieser Verfahren findet sich bei Luhmann in einer sinnfunktional-systemtheoretischen Nomenklatur reformuliert, die der Überbietung des kantischen Formalismus entspringt: Möglichkeiten der Übersetzung zentraler Imperative des transzendentalen Idealismus und Rechtspazifismus der kantischen Tradition in systemtheoretische Termini wären folglich noch einmal am Sinnbegriff zu testen. Dies führt die Methode vor Augen, mit der Luhmann Sinnhorizonte nur so weit abschneidet, dass praktisches Handeln möglich ist. Im Gegensatz zum heutigen Neokantianismus gelten Begriffe des Verfahrens oder der Prozeduralisierung als rudimentäres Zugeständnis an lebensweltliche Techniken in einer globalisierten Welt für verfehlt. Denn diese Begriffe enthalten keine Hinweise auf die Notwendigkeit, Vernunft als bloße Selbstreferenz, Werte als bloße Kontingenzformeln und Zukunftsgestaltung als bloße Autopoiesis zu relativieren und auf diese Weise mit den diametralen Interpretationen von mehr als sieben Milliarden Menschen kompatibel zu machen.
Um die Grenze zwischen Reflexion und antimoralischem Affekt nicht zu verwischen, ersetzt Röttgers (2012, 279) das polemogene Kriterium von Moral durch die Unterscheidung zwischen operierender Moral und ethisch bewerteter Moral.
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Ethik als Wissenschaft und Moral Bei Kant schwingen bestimmte Funktionen des sinnhaften Verfügbarmachens von Begriffsinhalten in allen Formulierungen mit, die die Systemtheorie auf dem hochabstrakten sinnfunktionalen Niveau wieder neu begründen muss. Im achtzehnten Jahrhundert ist ein abendländischer religionsmoralischer Konsens noch nicht aufgekündigt, der in Vernunft, in Moralmaximen und in Zielsetzungen ein Moment der Selbstbegrenzung vorgesehen hatte. Eine solche Begrenzung wird zur Voraussetzung für maximale Offenheit gegenüber fremden und anders gearteten Sinnentwürfen. Maximal bedeutet nicht total, heißt nicht, vollkommene Selbstverleugnung und Assimilierung in einem neuen Globalmenschentum. Denn ein solches könnte nur wieder von einer selbsternannten Elite manipuliert und diktiert sein. Das gesuchte Profil findet sich in den Bedeutungsschattierungen des Begriffs reflexionstheoretischer Ethik. Diese will ganz Wissenschaft und ganz Moral sein; beziehungsweise sie bleibt Letzteres selbst für den Fall, dass sie als nicht normative Theorie konzipiert wird. Es ist folglich die problematische Zwitterstellung, die der Ethik gewollt oder ungewollt ein reflexionstheoretisches Gepräge verleiht und dies in zwei Richtungen. Als Wissenschaft beobachtet die Ethik ihren Gegenstand Moral mit Hilfe der Unterscheidung von wahren und unwahren Aussagen. Sie überprüft folglich mit der ihr eigenen Methode empirischer Expertisen, ob die Achtbarkeitsbedingungen halten, was sie versprechen. Nach Luhmann (2008, 104 ff.) ist es die Funktion der Moral, Ego/Alter-Synthesen mit Achtung zu honorieren und misslingende Synthese mit Achtungsentzug zu bestrafen. Als eine im Mainstream trivialisierte und ins Prokrustesbett von Logik und Rationalität gespannt vertextete Moral treten Funktion und Achtungskommunikation jedoch immer wieder auseinander. Nicht nur jener Mensch genießt Achtung, der in Frieden mit anderen lebt. Umgekehrt wird demjenigen soziale Kompetenz zugetraut, der Achtung genießt, wobei sich die Achtbarkeitsbedingungen multiplizieren und folglich diffundieren. Sich selbst und andere achten bedeutet in einem ausdifferenzierten multiethnischen und multikulturellen Gesellschaftssystem, den moralischen Kriterien der jeweiligen peer group zu entsprechen. Die Moral kehrt ihre polemogenen Seiten hervor und knüpft Achtung und Selbstachtung zunehmend an den Kampf um die eigenen Werte, der sich als Kampf gegen die Unwerte der Anderen verschärft. 180 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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Der Friedensbezug tritt als das moralische Apriori und das ursprüngliche Anliegen jeder Achtungskommunikation in den Hintergrund. Eine reflektierte Ethiktheorie hätte jetzt die Aufgabe, diese Umkehr von der Festigung zur Gefährdung des Friedens zu analysieren und das friedenstheoretische Apriori für die eigene Zeit neu zu begründen. In der Wahrnehmung dieser Aufgabe mutiert die Wissenschaft zur Moral, nämlich zum Votum für den friedlichen Umgang der Menschen miteinander und das bedeutet, für den friedlichen Austrag von Konflikten, die hier und jetzt stattfinden und nicht von Konflikten, die in einer zukünftigen idealen Weltordnung auftreten werden. Die von Luhmann in Ansätzen skizzierte reflexionstheoretische Ethik behandelt nur die erste Richtung. Sie denkt über die Frage nach, ob die moralische Kommunikation so geartet ist, dass sie zum Gelingen der Ego/Alter-Synthese beiträgt und kommt hier eher zum gegenteiligen Schluss. Was diese Ethik aber bislang wenig reflektiert, ist ihr friedenstheoretisches Apriori, das im Zuge des immer brutaleren Kampfes um die eigenen Werte zunehmend verschüttet wird. Deshalb gilt es für die heutige durch Terrorismus und Antiterrorkriege zunehmend zersetzte Weltgesellschaft ein friedenstheoretisches Apriori den aktuellen Standards von Logik und Rationalität entsprechend herauszuarbeiten. 48 Bei dieser zweiten reflexionstheoretischen Richtung der Ethik geht es folglich nicht um Normen, um Werte, um Maximen und Präferenzen; es geht vielmehr ausschließlich um institutionalisierte Formen der Überleitung von einer Kontextur in eine andere. Und in diesem Punkt ist es die beschriebene Zwitterstellung, die der reflexionstheoretischen Ethik eine diesbezügliche Bedeutung verleihen könnte. Denn in der Verknüpfung der Kontingenzformeln von Wissenschaftssystem und Moral, mithin von Limitationalität und Freiheit, lässt sich das Leistungsprofil des kategorischen Imperativs in eine neokybernetisch-systemtheoretische Fassung bringen. Dabei dürfte eine solche neue Semantisierung die Realität fortschreitender Verschmelzung von Mensch und Maschine nicht ignorieren. Was bedeutet Kontingenzformel in den beiden relevanten Fällen einer Ethik, die zugleich Wissenschaft und Moral sein will beziehungsweise sein muss? Limitationalität ist wie alle Kontingenzformeln ein Begriff, der die bereichsspezifische Grenze markiert. Im Fal-
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Zur Spirale des Terrors seit dem 11. September siehe Kepel (2009).
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le der Wissenschaft von der Moral bedeutet dies: Die empiristische Sicht des Moralischen, die nichts weiter im Sinn hat als moralische Kommunikation zu beobachten, führt nicht, wie häufig befürchtet, in eine soziologische Sackgasse. Sie ist nicht moralisch indifferent in Bezug auf das, was sie beobachtet. Denn wo Ethik ernst zu nehmende Wissenschaft sein will, muss sie konzedieren, dass die von ihr beobachtete Achtungskommunikation bloße Empirie ist und damit nicht die Wirklichkeit des Moralischen erreicht. An dieser Stelle, wo Ethik sich ihrer Wissenschaftlichkeit bewusst ist und damit ihrer limitierten Erkenntnismöglichkeiten, zeigt sich der Gewinn einer Unterscheidung, deren Funktion in ihrer Unaufhebbarkeit liegt. Keine andere Funktion hat dieses für die Systemtheorie grundlegende Schema von Empirie und Realität. Es gewinnt folglich die gleiche Bedeutung wie die kantische Unterscheidung von transzendental und empirisch für die Begründung des kategorischen Imperativs. Sobald man nun allerdings genauer fragt, worin diese Wirklichkeit eines Moralischen bestehen könnte, das sich bloß als Kommunikation über Präferenzen und daran geknüpfter Verteilung von Achtung und Missachten beobachten lässt, so scheint die Versuchung groß, den postontologischen wieder zugunsten des üblichen nachmetaphysischen Standpunkts zu verlassen. Denn jetzt scheint es um die genauere Angabe von Merkmalen dieser anderen Seite des Empirischen zu gehen, deren Funktion doch einzig in der Markierung von Limitationalität bestehen soll. Die Annäherung an dieses Wirkliche kann deshalb nicht in der Enthüllung eines vermeintlichen Apriori des Moralischen (Frieden) als in Wirklichkeit Aposteriori (Ideologie, Weltanschauung) bestehen. Vielmehr richtet sich das Augenmerk auf die Zwitterstellung der in Frage stehenden reflexionstheoretischen Ethik als ganzer Wissenschaft und ganzer Moral. Qua Moral unterscheidet sich die Ethik von sich selbst und tritt damit das Erbe der kantischen Unterscheidung von Moralität und Legalität an. Die gesuchte Grenze, die die beiden Seiten der Unterscheidung trennt, besteht in der Kontingenzformel der Moral und also der Freiheit. Die Aussage ist nun folgende: Die empirische Seite des Moralischen ist kontingent in dem Sinne, dass schlichtweg alles präferiert werden kann. Krasse Beispiele wie wechselseitig vereinbarter Kannibalismus führten vor Augen, was in weniger Gemüt und Sinne affizierenden Fällen, wie zweckgerichteten politisch-militärischen Operationen, durch höchstrangige Werte gerechtfertigt scheint. Dies ist ein in Kauf nehmen des Todes von Menschen, die ihrer Tötung nicht 182 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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zugestimmt haben und zumindest in diesem Punkt den genannten Fall medienwirksamen Kannibalismus’ übertrifft. Als Kontingenzformel erfüllt Freiheit in diesem weitgetriebenen Spiel exzessiven Kontingenzbewusstseins und Wertrelativismus’ nun die unverzichtbare Funktion, einem Treiben Einhalt zu gebieten, das meint alles und jedes als Wert verteidigen und als Recht einfordern zu können. In ihrer Funktion einer Kontingenzformel geht es nicht mehr um die Frage, ob Freiheit im Sinne des traditionellen Verständnisses als menschliche Anlage und Eigenschaft vorauszusetzen, oder ob sie im Luhmannschen Sinne ein Effekt der Kommunikation ist, die möglicherweise abzulehnende Offerten macht. Denn wo es um ein Markieren der Grenze geht, die Ethik und Moral trennt, dort sind beide Freiheitsbegriffe sofort zur Stelle und bereit, den Legitimationsdiskurs zu stoppen. Der infinite Regress des Begründens findet ein Ende mit dem Hinweis, dass diese Handlung, dieses Projekt oder das Verfolgen einer solchen Zielsetzung die Freiheit des Menschen verletze. Grenzmarkierungen sind folglich Stoppregeln, die einer Aufhebung der Unterscheidung in beiden Richtungen widersprechen: Weder kann sich Ethik als Unternehmen der Normbegründung zum Maßstab moralischen Unterscheidens erklären und das heißt in praxi, die Instrumentalisierung von Menschenleben für bestimmte als gut ausgezeichnete Zwecke legitimieren noch kann der Mainstream faktischer Achtungskommunikation von sich behaupten, für den Menschen gut zu sein und folglich die ethische Reflexion der eigenen Zweiseitenform gleich mit zu liefern. So gesehen haben Limitationalität und Freiheit eine appellative Funktion, die auffordert, sachliche und soziale Grenzmarkierungen zu beachten. Die systemtheoretische Reformulierung des kategorischen Imperativs gewinnt Konturen. Da es jedoch um eine Fassung geht, die unter den Gegebenheiten einer funktional differenzierten, bis zur Mensch-Maschine-Verschmelzung vordringenden Weltgesellschaft plausibel sein könnte, scheiden universal gültige Sollensprinzipien aus. Der Sinnbegriff zeichnet das Anforderungsprofil dieses vielfach gebrochenen multiethnisch und multikulturell kompatiblen Sollens am präzisesten, weil er die sachlichen, die sozialen und die zeitlichen Divergenzen mit bedenkt. Die notwendige und geforderte Beschreibung eines globalen Sollens wird folglich von einer Beschreibung der sinnkonstituierenden Bedingungen eines weltgesellschaftlich möglichen Sollens abgelöst. Und hier hatten wir gesagt, dass jede Praxis 183 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
und folglich auch jede moralisch anspruchsvolle Praxis, darauf angewiesen ist, Sinnhorizonte abzuschneiden, weil anders gar nicht mit der komplexen Wirklichkeit umgegangen werden kann. Wie aber lässt sich die Methode genauer beschreiben, mit der ein Maximum an Sinnverweisungen (der Normen und Werte, der Interessen und Wünsche der Anderen und Fremden) mit einer für praktisches Handeln unabdingbaren Minimierung von Sinnverweisungen verbunden werden kann? Altertümlich und darin missverständlich ausgedrückt kann man auch formulieren, wie Toleranz und Güte mit Machbarkeit, mit Technisierung versöhnt werden können. Die Methode, so war gesagt worden, heißt nicht mehr Prozeduralisierung, sondern re-entry. Mit dem Wiedereintreten von Unterscheidungen in sich selbst wird der zu Praxiszwecken abgeschnittene Sinnhorizont wieder eingebracht. Während Verfahrensweisen und Prozeduralisierungen den Anspruch erheben, mit moralischen und erkenntnistheoretischen Zweifeln auf eine moralische und wahrheitsanaloge Weise umgehen zu lassen, tritt die Figur des re-entry nicht als höhere Moral und überlegenes weil kontingenzbewusstes Wahres auf. Sie soll im Gegenteil erkenntnis- und moralphilosophische Fragen gerade nicht immanieren, sondern transzendieren. Und da die sytemtheoretische Reformulierung des kategorischen Imperativs aus diesem Wiedereintreten des Sinns in sich sich selbst herausgelesen werden soll, bedarf es weiterer Klärungen. Denn es scheint zunächst nicht einsichtig, weshalb die Figur des re-entry ausgerechnet am differenzlosen Begriff Sinn ihre ethiktheoretisch zentrale Bedeutung demonstrieren sollte: Der Begriff re-entry besagt, dass eine Unterscheidung in sich selbst wieder eintritt. Für die moralische Unterscheidung von gut und schlecht/böse scheint dies nicht weiter rätselhaft. Denn betrachtet man sich das, was als Gut bewertet wird genauer, so stechen die negativen Merkmale ins Auge, die man übersehen hatte. Dieselbe Unsicherheit ergreift die gegenpolige Anschlussoperation. Man bemerkt gute Seiten am Bösewicht. Luhmann zieht den Begriff des reentry dem der Dialektik vor, nachdem Hegel dieselbe mit geschichtsphilosophisch-teleologischen Fortschrittsaxiomen verknüpft hatte. Das re-entry moralischer Kommunikation lässt sich leicht verständlich machen. Komplizierter wird es aber, sobald Moral als Fall einer sinnkonstituierenden Operation unter anderen Fällen bedacht ist. Dass ein re-entry auch bei politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, wissenschaftlichen, erzieherischen oder religiösen Operatio184 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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nen zur Selbstbegrenzung führt, hat Luhmann (1970, 92–112) im Begriff der reflexiven Mechanismen deutlich zu machen versucht. Wie aber verhält es sich mit dem Reflexivwerden von Sinn? Im reentry Sinn konstituierender Operationen wird die Unterscheidung von Möglichem und Wirklichem wieder in sich selbst eingeführt. Die bloß mögliche Wirklichkeit ist Kontingenz und das wirklich Mögliche ist Chance. Mit dem ersten Begriff wird Freiheit assoziiert, mit dem zweiten Begriff Bindung. Nachmetaphysisches Denken, das bloß noch hypothetische Imperative anerkennt, konzentriert sich ganz auf das re-entry auf Seiten der Möglichkeit. Es kommt folglich zur Konzentration auf Freiheit als allgemeinen Wert und auf Freiheiten als besonderen Rechten. Die kantische Komplementarität von Freiheit und Bindung, von Rechten und Pflichten kann in dieser Form nicht fortgeführt werden, weil sie nur auf dem Boden eines kategorischen Imperativs der Selbstbindung, aber nicht auf dem Boden bloß hypothetischer Imperative gemeinschaftlich ausgehandelter Sollensprinzipien Bestand hat. Letztere begründen wechselseitige Ansprüche. Pflichten gegenüber sich selbst können jedoch nicht inbegriffen sein, weil wahre Absichten und somit die Motive der Wertorientierung nur als geäußerte kommunikativ sichtbar sind und infolgedessen für Andere unsichtbar bleiben. Aus diesem Grund treten Bindung und Pflichten hinter Freiheiten und Rechten zurück: Menschen haben ein Recht darauf, dass Andere ihre Pflichten erfüllen. Auch dies ist wieder unter weltgesellschaftlichen Bedingungen selbstmörderisch, weil die Vielzahl von Bedürfnissen und Ansprüchen, das Insistieren auf Freiheiten und Rechten von mehr als sieben Milliarden Menschen in Terrorismus und in Kriege gegen den Terrorismus münden. Als Formel der Selbstbindung mögen nun zwar Gewissen und kategorischer Imperativ eindeutig sein. Der formalistische Begriff des re-entry muss mit diesem Sinn jedoch erst angereichert werden. Dazu dient eine genauere Beschreibung der Operation des re-entry: Immer dort, wo eine Unterscheidung wieder in sich selbst eintritt, wird die dreiteilige Sinnverweisung auf sachliche, soziale und zeitliche Aspekte der Unterscheidung aktiviert. Die Selbstbeziehung oder Selbstreferenz kommt folglich dreifach zum Zug. Das ist mehr, als der auf sachlich-logische Sinnkomponenten begrenzte Begriff der Reflexion zum Ausdruck bringen kann. Und dieses Zusätzliche erlaubt schließlich eine systemtheoretische Reformulierung des kategorischen Imperativs. Denn die Selbstbindung ist gleichsam 185 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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dreifach abgesichert, sie ist ein Faktum nicht bloß der Vernunft, wie Kant angenommen hatte, sie ist ein Faktum von Sinn und damit jenes Phänomens, das nach Luhmann nicht negiert werden kann. 49 Da dreifach abgesichert und nicht negierbar, sind Selbstbindung und damit auch Pflichten gegen sich selbst und gegen Andere wieder komplementär zu den Freiheiten und Rechten gedacht. Wie die genauere Betrachtung der Imperative weiter unten zeigen wird, bestätigt sich in dieser Form des Wiedereintretens von Sinn in sich selbst die Figur des re-entry als funktionales Äquivalent von Gewissen und kategorischem Imperativ. Die Funktion der Selbstimplikation sieht sich folglich in drei Begriffen repräsentiert, die jeweils einen besonderen Aspekt herausstellen und darin zu einer komplexen Figur verschmelzen. Die Institution 2. Ordnung beschreibt die Figur als Einrichtung des sozialen Lebens, die dort regelnd einspringt, wo das Regelsystem, die Wertordnung oder das Normengerüst einer Gesellschaft, widersprüchliche Verhaltensanforderungen stellt. Die transjunktionale Operation beschreibt diese Figur in ihrer Leistung, den Übergang von einer Kontextur in eine andere auf eine dem Frieden zuträgliche Weise zu regeln. Und das re-entry beschreibt diese Figur in Bezug auf die Methode, mit der diese Leistung erbracht werden kann. Drei Aussagen enthält folglich diese Spezifizierung der Figur: Regelung, Leistung und Methode. Im Falle noch nicht geregelter oder nicht mehr geregelter Verhältnisse, mithin im Falle tragischer Konflikte, stehen gewissermaßen tiefenkulturelle Regelungen selbst dort zur Verfügung, wo dieselben aufgekündigt worden sind. An die Stelle des religionsmoralischen Gewissens tritt nach Beendigung der Religionskriege im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Vernunft und mithin ein Medium, das allen Menschen erst nach erfolgreichen Erziehungs- und Bildungsbemühungen zugesprochen werden kann. Indem es einer Autorität bedarf, die den Unterschied zwischen vernünftig und unvernünftig definiert und deren Aufgabe es ist, die Menschheit dem gewünschten Ideal näherzubringen, fällt die Vernunft als funktionales Äquivalent des Gewissens weg. Sie offenbart sich als Quelle normativer Setzungen und mithin von Institutionen 1. Ordnung. Indem sich aber die erste als zweite Ordnung ausgibt, instituiert sie faktisch Jede Negation von Sinn muss sinnverstehend zugänglich sein; folglich ist Sinn das »Universalmedium« (Luhmann 1997, 51).
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ein Äquivalent und dies ist die Dezision. Es gibt gleichsam keine andere Wahl als die Willkürentscheidung, weil die Grenze zwischen Vernünftig und Unvernünftig immer wieder neu gezogen wird. Kant reagiert auf diesen absolutistischen Missstand und bietet den kategorischen Imperativ als tragfähiges Äquivalent an. Als vernünftiges Verfahren der Normenprüfung reklamiert dieser Imperativ nur den Platz der Gewissensprüfung, aber nicht den höchsten Platz der Vernunft. Wer sich eines vernünftigen Verfahrens bedient, erhebt nicht den Anspruch, das Vernünftige schlechthin zu repräsentieren. Ganz anders verhält es sich jedoch bei der idealistischen, der materialistischen und der szientistischen Nachfolge, wenn aus dem bloßen Normenprüfverfahren ein Verfahren der Normbegründung wird und die normbegründende Instanz – Staat, Partei, Wissenschaft, Diskurs, Zivilgesellschaft – zum Repräsentanten der Vernunft avanciert. Eine weitere in der Spezifizierung des re-entry enthaltene Aussage betrifft eine Leistung, die mit dem Begriff der transjunktionalen Operation umrissen wird. Im Gegensatz zur vorangegangenen Aussage über Rudimente der Erwartungssicherheit, die auch im Falle tragischer Konflikte gegeben sein müssen, geht es nun noch weitergehend um die Richtung, in der sich dieses Sicherheitsäquivalent bewegen muss. Es reicht nicht eine beliebig hergestellte Sicherheit, vielmehr kommt nur eine solche in Betracht, die den friedlichen Übergang von einer Kontextur, von einem Sinnkosmos zum anderen herstellt. Das leistet nicht ein Appell an die Vernunft, mit der immer zunächst die eigene assoziiert wird und die folglich zum Verbleib im eigenen Kontext rät. Schließlich ist eine Aussage über die Methode enthalten, das reentry. Die höherstufig gebrochene Erwartungssicherheit der Institution 2. Ordnung lässt nur dann adäquat mit unvereinbaren Normen umgehen und Sinnkontexte auf eine friedliche Weise wechseln, wenn keine der drei Sinndimensionen ausgeblendet wird. Denn hierzu notwendige Dogmatisierungen können auf einer kulturell heterogenen Grundlage weltgesellschaftlicher Kommunikation keine Plausibilität beanspruchen. Obgleich der konkret Einzelne als Adressat von Gewissen und kategorischem Imperativ angesprochen ist und nicht ein Abstraktum (Kollektivsubjekt oder gesellschaftlicher Akteur), handelt es sich um eine Institution. Denn beide Regulative sind auf der Ebene von stabilisierten Erwartungserwartungen angesiedelt. Reflexives Erwarten ereignet sich im Zwischenmenschlichen. Bei dem gesuchten Äqui187 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
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valent von Gewissen und kategorischem Imperativ geht es folglich um durchaus mehr und anderes als die notwendige Korrektur einer das Selbstinteresse betonenden liberalen Ideologie. 50 Nicht anders als die moralische führt auch die Unterscheidung von subjektiven und objektiven Rechten zu Zweifeln, sobald es zum re-entry kommt: Weil von einer Avantgarde formuliert, sind objektive Rechte subjektiv und subjektive Rechte sind unter den rechtsstaatlichen Bedingungen der Gleichheit vor dem Gesetz objektiv. Die Frage lautet folglich: Wie kann eine Institution 2. Ordnung aussehen, die in funktional differenzierten Gesellschaften plausibel ist? Deren Notwendigkeit ergibt sich erinnerlich aus der Tatsache, dass Institutionen 1. Ordnung – der Dekalog im vormodernen Europa, Werte- und Rechtsordnung in Übergangsgesellschaften – keine Richtlinien für die situationsangemessene Normanwendung enthalten. Es bedarf folglich einer erwartbar gemachten Erwartungshaltung, die dieses Defizit ausgleicht. Es bedarf keiner weiteren Regel, da dieselbe immer nur Funktionen einer Institution 1. Ordnung erfüllen könnte. Das Korrektiv einer Regel kann keine neue Regel sein. Das Besondere der Institutionen des Gewissens und des kategorischen Imperativs besteht darin, dass sie weder eine neue Regel einführen noch die geltende Ordnung suspendieren will. Aber sie beschränkt sich auch nicht darauf, Normen als kontingent zu relativieren und auf diese Weise Ausnahmehandlungen zu legitimieren. Ihre Funktion ist es nicht, Geltungen außer Kraft zu setzen; vielmehr gilt es im Gegenteil etwas zu erhalten, was im Augenblick des Funktionsverlustes von bestehenden Institutionen in Gefahr gerät, nämlich das friedliche Zusammenleben der Menschen. Für die Situation der Gefahr scheinen heute aber bloß noch Politik, Recht, Medien und jene Wissenschaften zuständig zu sein, die selbige beobachten und kommentieren. Die philosophische Ethik hatte ihre Beschäftigung mit der Friedensproblematik in der Moderne nahezu eingestellt. Damit war die sinnfunktionale Bedeutung eines geschichteten Institutionenmodells aus dem Blick geraten. Wenn nun auch die Funktion unbestritten sein mag, so kommt es dennoch entscheidend auf die Form an, in der diese Funktion geltend gemacht wird. In einer funktional differenzierten Weltgesellschaft kann nur eine Form plausibel sein, die nicht Gebotscharakter So Menke (2015) der an einer vollständig emanzipierten Gesellschaft festhält, in der sich subjektive Rechte durch ein Recht der Gegenrechte selbst überwinden.
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hat. Denn Gebote lassen sich als Sollensprinzipien nicht allgemeingültig begründen, fehlen doch die gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen hierarchischer Ordnungsprinzipien, die Ergebnisse höchstrangiger Begründungsdiskurse allgemein verbindlich machen ließen. Der ethische ist heute ein Diskurs der Werte. Aus diesem Grund muss eine Institution 2. Ordnung die Form von Werten annehmen; sie muss als Semantik der Werte zum Ausdruck kommen. Da Werte als Opportunitätsregeln mit jedem Handeln kompatibel sind, das unter Berufung auf Werte legitimiert wird, da ferner Werte bloß subjektive Präferenzen sind, die sich auf Beliebiges beziehen können, geht es nicht um die Frage, welche Werte für uns beziehungsweise für die als Wertegemeinschaft betrachtete Weltgemeinschaft gelten sollen. Einzig die Form ›Wert‹ vermag über die gesuchten Konturen einer Institution 2. Ordnung Auskunft zu geben. Als Form thematisiert, ist beim Wert auf die Unterscheidung zu achten, die für das mit Wert Gemeinte konstitutiv ist. Je nachdem, welche der drei Sinndimensionen abgerufen wird, gewinnt der Wert jeweils eine andere Form. Steht die grundsätzliche Reflexion von Werten an, so geht es um das Verständnis der eigenen und der Werte Anderer. Dies ist das Feld, in dem die Sozialwissenschaften auf eine Lösung des Begründungsproblems als einer Aufgabe insistieren, der nachzukommen die Systemtheorie aufgefordert wird. Reflexion aber gilt in der Luhmannschen Systemtheorie als ein Modus selbstreferenzieller Relationierung, der ein Ganzes in Beziehung zu sich selbst bringt. 51 Die Sprache suggeriert in diesem Punkt jedoch vorschnell Klarheit. Denn es müsste etwas zweifelsfrei schon da sein, das als Ganzes oder als Teil desselben thematisiert werden kann. Sobald der ontologische Zirkel problematisiert wird, verwandelt sich das Schema in eine Differenz von Perspektiven, in eine selbstreferenzielle und eine fremdreferenzielle Sicht, anders gesagt: in System und Umwelt. Daraus ergeben sich die Konturen möglichen Verstehens. Nicht nur in Bezug auf meine und unsere, sondern auch die Werte der Anderen und Fremden bleibt es immer dieselbe Form, die als Institution 2. Ordnung allein plausibel sein kann. Dabei bezieht sich die Plausibilität durchaus nicht allein auf das, was Luhmann das Passungsverhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik nennt. Sie umfasst Zu den drei Formen, der operativen, der prozessualen Selbstreferenz und der Reflexion siehe Luhmann (1987b, 31 ff.).
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auch den Verstehenshorizont einer kommunikationsstrukturell vernetzten Weltgesellschaft, in der heterogene kulturell bestimmte Werte koexistieren müssen. Verstandene Werte zeigen sich jetzt als paradoxe Einheit von System und Umwelt, von selbstreferenzieller und fremdreferenzieller Sicht. Wenn Werte nicht diese Form annehmen, sondern subjektive Präferenzen und pure Opportunitätsregeln bleiben, dann unterminieren sie den Weltfrieden statt ihn zu festigen und allererst zu ermöglichen. Damit ist der erste Teil der Frage nach der notwendigen Form beantwortet, die das re-entry in ihrer Funktion einer Institution 2. Ordnung sichtbar werden lässt. Geklärt werden konnte das Wiedereintreten der sachlichen Sinndimension in sich selbst. Bei dieser Dimension gilt es dieses Etwas zu bestimmen, das zu sich selbst in Beziehung tritt. Und wir hatten gesehen, dass dieses Etwas nicht als ein in Teile dekomponierbares Ganzes (Identität, Integrität, Integration) gedacht sein kann, sondern nur als ein auf seine Umwelt bezogenes System. Da selbstreferenzielle und fremdreferenzielle Perspektive rekursiv aufeinander bezogen sind, kann man sagen: Das Selbstverhältnis ist in der sachlichen Sinndimension unvermeidlich, es ist gegeben und kann nicht als kontingente moralisch-epistemologische Konstruktion relativiert werden. Was dies bedeutet und inwiefern wir hier eine systemtheoretische Version des kategorischen Imperativs vor uns haben, wird deutlich, wenn an die erste der drei Segmente der kantischen Formulierung erinnert wird. Hier heißt es: Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte. (Kant GMS, BA 52). Dieses als Gebot formulierte Sollen folgt zwar der moralischen Semantik. Plausibel wird es aber erst durch ein logisches Kalkül, das aus der Unmöglichkeit folgt zu verhindern, dass die von mir gewählte Maxime Schule macht. Denn jede moralische Kommunikation ist symmetrische Kommunikation. Das, was sie als Moral postuliert, gelte für beide Seiten, heißt es bei Luhmann (2008, 277). Dieses logisch induzierte Verbot der Selbstexemtion könnte systemtheoretisch reformuliert, folgende Wertperspektive nahelegen: Bedenke bei deinen Handlungen, dass jede Operation eine Grenze markiert, welche System und Umwelt, Selbstreferenz und Fremdreferenz spaltet und damit eine Trennung mit all ihren Konsequenzen in die Welt setzt.
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Eine in ihren Eigendynamiken weder zu erkennende noch zu kontrollierende Trennung wird gleichsam gesetzt. Das draw a distinction ist die unvermeidliche Seite, deren frei verantwortete Seite als Reflexion auf diesen Sachverhalt in Erscheinung tritt. Der kantischen Aufforderung: Stell dir vor, alle müssten so handeln, entspricht die systemtheoretische Formulierung: Stell dir vor, alle setzten mit ihren Operationen einen in ihren Konsequenzen weder zu überschauenden noch zu kontrollierenden Unterschied. Sie können nicht anders als im Rahmen der Unterscheidung von System und Umwelt zu operieren. Wenn wir statt des spezifischen Begriffs Handeln den unspezifischen Begriff Operieren einsetzen, dann würde ein nicht minder bindender Imperativ sichtbar: Dieser liegt in der Wahl einer Operation, die der Form reflexionstheoretischer Ethik folgt und das bedeutet einer Operation, die so geartet ist, dass sie von jedem anderen gewählt werden könnte. Das Verstehen der Werte, durchaus nicht nur der Werte anderer Menschen, sondern auch im Sinne richtigen Selbstverstehens der eigenen Werte, ist nun allerdings die voraussetzungsvollste und umfassendste Variante möglicher Selbstreferenz. Das in Beziehung zu sich selbst Setzen äußert sich bei Luhmann jedoch in dreifacher Gestalt. Und dies war oben als Grund dafür genannt worden, weshalb sich die Figur des re-entry zur systemtheoretischen Reformulierung des kategorischen Imperativs eignet. Nicht jede der drei Gestalten der selbstreferenziellen Relationierung ist in gleichem Maße anspruchsvoll. Weniger voraussetzungsreich sind prozessuale und basale Selbstreferenz. Es ist die ›prozessuale Selbstreferenz‹, mit der Luhmann die soziale Sinndimension in besonderer Weise anspricht, während sich ›Reflexion‹ auf die sachliche Sinndimension und die ›basale Selbstreferenz‹ als bewusste und/oder kommunikative Anschlussoperationen auf die zeitliche Dimension beziehen. Diese Zuordnung erstaunt, weil der Begriff des Prozesses gemeinhin als Charakteristikum der Zeit gilt. Der nachmetaphysische Begründungsdiskurs setzt jedoch auf eben diesen Unterschied von früher und später, um die Bedingung geltender Normen als empirische bestimmen zu können. Luhmann geht von den realen semantischen Gegebenheiten aus, um in der Art und Weise, wie faktisch gedacht und argumentiert wird, das selbstreferenzielle Moment herauszuarbeiten. Im Falle eines Prozesses kann man sagen, er trete zu sich selbst in Beziehung als bewusste oder kommunizierte Operation, sofern bei 191 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
dieser Operation ein Vorher und Nachher unterschieden wird. Eine spätere nimmt auf eine frühere oder eine frühere auf eine spätere Operation Bezug, wobei im Falle des Bewusstwerdens eine Vorstellung und im Falle der Kommunikation eine geäußerte Meinung das Ergebnis sind (Luhmann 1987, 31 ff.). Die Frage stellt sich nun, ob es für die Form der mitgeteilten Werte wieder weltkulturell relevante Auflagen gibt. Gemeint sind damit Auflagen, die mit der Vielfalt säkularer und religiöser Orientierung kompatibel sind und der auf Abgrenzung und Feindbildung hinwirkenden ideologischen und fundamentalistischen Verengung von säkularem und religiösem Prinzip entgegenwirken. Bei der in Frage stehenden Form der mitgeteilten Werte geht es um die Unterscheidung von früher und später. Es geht wohlgemerkt um die Form unterscheidenden Bezeichnens und nicht um die ontologisch-empirische Feststellung einer nachweisbaren Sequenz. Allgemein gilt jedoch, dass das Meinen dem Sagen vorausgeht selbst für den Fall, dass sich Meinungen im Dialog und gewissermaßen zeitgleich mit dem gesprochenen Wort bilden. Von prozessualer Selbstreferenz ist die Rede, weil es offensichtlich ein und dieselbe Operation ist, die ein Moment des Früheren und des Späteren aufweist, die in diesem Auseinandertreten oder dieser internen der Zeit geschuldeten Spaltung aber auch Schaden nehmen kann. Dann geht es um Themen wie fehlende Authentizität oder falsches Bewusstsein als die säkularen Ausdrucksformen einer Erscheinung, die im siebzehnten Jahrhundert noch innerhalb der religiösen Semantik als falsche Devotion diskutiert wurde. 52 Dass es sich dabei keineswegs bloß um ein absichtsvolles Dissimulieren der wahren Intentionen, um unmoralische Täuschung handelt, die man ebenso lassen könnte, waren dem Discours des moeurs des siebzehnten und der Moralphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts noch bewusst. Die verwissenschaftlichte Sicht auf dieses Phänomen haben neunzehntes und zwanzigstes Jahrhundert dazu veranlasst, die ungewollte und damit moralisch nicht zu belangende Selbsttäuschung zu den Pathologien zu zählen. Diese gilt als individualpsychologisch oder qua falsches Bewusstsein als sozial bedingt. Am gläsernen Menschen ließ sich folglich festhalten, schien Dieses Interesse an dem Verhältnis von Handlung und Motiv führt hier zu weiteren Differenzierungen: Der Moralcode wird »auf Seiten der Tugenden mit Hilfe der alten Unterscheidung von Sein und Schein nochmals dupliziert nach ›wahr‹ und ›falsch‹.« (Luhmann 2008, 303).
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Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
es doch möglich, die Spaltung von Meinen und Sagen im Prinzip und längerfristig politisch, juridisch und/oder therapeutisch in den Griff zu bekommen. Die Entwicklung nachmetaphysischen Denkens macht diesen Trend in gewisser Weise unumkehrbar. Denn sie schiebt alles empirisch nicht Erreichbare in die Nähe von Glaubensinhalten und verkennt damit die Unmöglichkeit, sachliche (Logik), soziale (Moral) und zeitliche (Ontologie) Sinndimensionen als Einheit (Tatsache) und nicht bloß als Differenz (Unterscheidung von richtig und falsch, gut und schlecht, vorher und nachher) zu fassen. Der zugrunde gelegte Sinn, der sich im Rahmen einer Unterscheidung konstituiert, ist zwar zugleich der vermittelte Sinn. Dieses Zugleich von Früherem und Späteren markiert jedoch eine paradoxe und keine eindeutige Einheit. Diese zu Unklarheiten und Uneindeutigkeiten führende paradoxe Einheit tritt einmal als sachliche (Reflexion), dann wieder als soziale (prozessuale Selbstreferenz) und schließlich als zeitliche (elementare Selbstreferenz) in Erscheinung. Konkret und sichtbar äußert sie sich als Verstehen, als Mitteilung und als Information. 53 Luhmann veranschaulicht diese Form der paradoxen Einheit von vorher und nachher mit dem Hinweis auf das sukzessive Verschwinden von nicht mehr in Anspruch genommenen Institutionen. Als Erwartungserwartung hat die Institution nur so lange Bestand, als Menschen dieselbe praktizieren. Wenn niemand mehr heiratet, verschwindet die Institution Ehe. Da Luhmann das Transzendentale nun offensichtlich mit einer operativen Seite ausstattet, so ist damit noch keine im üblichen Sinne detranszendentale Sicht eingehandelt, die nur noch Empirisches kennt. Nicht die Aufhebung der Unterscheidung zugunsten eines Wertes – hier das absolut gesetzte Empirische – trifft den Sachverhalt. Den Begriff der Aufhebung gilt es vielmehr durch den der Paradoxie zu ersetzen. Der Umgang mit einer Paradoxie aber verlangt von den Menschen sehr viel mehr als die schlichte Aufhebung, die brachiale Vorgehensweisen nahelegt, die weniger den Klugen und mehr den Tatmenschen herausfordert. Um die Grenzen der Detranszendentalisierung aufzuzeigen, ohne metaphysikverdächtig zu werden, schlägt Luhmann (1997, 190–201) die Unterscheidung von Medium und Form vor.
Luhmann (1984, 203) definiert Kommunikation als Synthese dreier Selektionen, als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen.
53
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
Die prozessuale Selbstreferenz ist folglich ebenso unhintergehbar wie die elementare Selbstreferenz und die Reflexion. Letztere findet auch dort statt, wo ein Mensch nicht im emphatisch-anspruchsvollen Sinne von anderen als reflektiert anerkannt ist. Jede Operation geschieht in der Zeit und jede Operation muss auf dieses Faktum Bezug nehmen. Was auf sich selbst Bezug nimmt, ist eine Operation, nämlich ein Sagen, das auch irgendwie gemeint ist. Oder es ist ein Meinen, das als Gesagtes wieder in Differenz zu sich selbst tritt. Ob das Gesagte auch gemeint ist, lässt sich empirisch nicht beweisen. Es handelt sich also um eine Operation, die zu sich selbst in Differenz gerät und in dieser Form Zweifel provoziert, an sich selbst und an anderen. Weil der Unfriede so tief in die Sinndimensionen eingelassen ist, muss auch der Friede von hier seinen Ausgang nehmen, nämlich in der Form prozessualer Selbstreferenz. Und diese findet sich in einer weiteren Formulierung des kategorischen Imperativs: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. (Kant GMS, BA 52). Die vereinfachte Version lautet: Stell dir vor, alle dürften so handeln. Das Gesetz macht dort Verhaltensweisen erwartbar, wo die Enttäuschungsgefahr am größten ist, nämlich im Fortgang der Zeit. Da die Zukunft unbekannt ist, bietet die Selbstverpflichtung auf ein Gesetz das Maximum möglicher Sicherheit. Ob das Gesagte auch wirklich gemeint war, tritt in seiner Bedeutung zurück, wenn Menschen sich darauf verständigen, Gesetze zu achten. Eine solche Ordnung lässt nach Kant selbst ein Volk von Teufeln in Frieden leben, weil es nur noch auf die Gesetzestreue und nicht mehr auf die dahinterstehende gute Gesinnung ankommt. 54 Da Gesetze aber den Willen zu ihrer Übertretung nicht durch ein weiteres Gesetz aus der Welt schaffen können, ist der kategorische Imperativ kein Instrument der Disziplinierung von Kollektiven. Er bezieht seine Bedeutung allein aus der Tatsache, dass Freiheit nicht delegierbar ist, dass kein anderer mich mündig machen und also auch kein anderer meinen Willen zur Gesetzestreue wollen kann. Der von Kant angedachte Gesetzescharakter ist als Selbstbindung zu verstehen, mit der die Unwissenheit bezüglich der eigenen wahren Absichten kompensiert und
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Siehe Kant, Zum ewigen Frieden. (AA VIII, 366).
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Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
Erwartungssicherheit für sich selbst und dann auch für andere geschaffen wird. Der Begriff der Institution zielt auf diese Sicherheit und zwar in einem Stadium weit fortgeschrittener Verfasstheit. Ein noch so gut ausgeklügelter Gesetzestext kann jedoch den situationsbezogenen Umgang mit diesem Text nicht mit regeln. Er kann folglich nicht verhindern, dass sich das Regel/Ausnahme-Schema vor den Text schiebt und dessen Relevanz gänzlich in den Hintergrund drängt, wenn die Menschen der Ansicht sind, dass man nicht zugleich Freizügigkeit gewähren und soziale Sicherheit gewährleisten kann, um das aktuelle Flüchtlingsproblem anzusprechen. Ausnahme aber meint immer Nichtgeltung der Regel und keine Ausnahmeregel wird diese grundlegende Differenz aus der Welt schaffen. Was mit Institution 2. Ordnung angesprochen ist, bezieht sich nicht auf ein neues Gesetz und eine neue Regel. Gemeint ist der Umgang mit der Begrenztheit von Regeln, von Gesetzen und Institutionen. Das Moralgesetz des kategorischen Imperativs ist recht besehen ebenso wie das religionssemantische Gewissen kein Gesetz, sondern die Bedingung für den Umgang mit dem Funktionsverlust von Gesetzen. 55 Und selbige Umgangsweisen lassen sich heute anders als im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert nicht mehr als individuelles und kollektives Sollen plausibel machen. Nur noch im Rahmen flexibler auf die wechselnden Präferenzen der Weltbevölkerung reagierender Wertsemantiken scheinen Richtlinien einer Institution 2. Ordnung akzeptabel. Nicht an der Funktion des kategorischen Imperativs, aber am ethiktheoretischen Kontext sind folglich Änderungen vorzunehmen. Nach der religionssemantischen Ethik der hierarchischen Gesellschaftsordnungen und der transzendentalphilosophischen Ethik der Übergangsgesellschaften bietet sich für die voll realisierte funktional differenzierte Weltgesellschaft die reflexionstheoretische Ethik an. Dieser gemäß ließe sich die Gesetzesformel des kategorischen Imperativs wie folgt formulieren:
Diese metajuristische Funktion des moralischen Gesetzes kommt in der funktionalistischen Überbietung des Formalismus im Rahmen des Luhmannschen operativen Konstruktivismus’ im Begriff der Konditionierung zum Ausdruck. Es geht nur um Wenn-dann-Konklusionen: Wenn ich in einer bestimmten Weise unterscheide, dann bekomme ich Bestimmtes zu sehen. Diese Nachfrage nach dem ›Wie‹ der Unterscheidung ist freilich eine empirische Frage. (Luhmann 1990, 15).
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
Beachte bei deinen Operationen die unüberbrückbare Differenz von Sagen und Meinen und wähle deshalb nur Präferenzen (kontingente Werte), die wechselseitige Erwartungserwartungen (gemeinsame Institutionen) nicht verunmöglichen. Damit bleibt die Funktion des Gesetzes erhalten, ohne sich damit die weltgesellschaftlich illusionäre Figur eines globalen Gesetzgebers einzuhandeln. Die Wahl einer Maxime, die zum Gesetz allgemeinen Handelns werden könnte, bezieht sich allein auf den kultivierenden Akt der Konditionierung, der bewussten und kommunizierten Operation, die mit globalisierungskompatiblen Wenn/Dann-Unterstellungen arbeitet: Wenn ich mit meinen Operationen gewollt oder ungewollt gewisse Standards setze, dann werde ich früher oder später an eben diesen Standards selbst gemessen. Und es gilt daran zu erinnern, dass Luhmann (2008, 277) die Apodiktik dieser Aussage unterstreicht, indem er ein Symmetriegebot der moralischen Kommunikation ableitet: »jede moralische Kommunikation ist symmetrische Kommunikation. Das, was sie als Moral postuliert, gilt für beide Seiten.« Dies gibt die Logik des kategorischen Imperativs wieder: Es handelt sich um ein Faktum und nicht um bloßes Sollen, denn der moralisch Kommunizierende kann nichts dagegen tun, wenn sein eigenes Handeln nach den Maßstäben beurteilt wird, die er an das Verhalten anderer anlegt. Aber nicht nur in sachlicher und sozialer, auch in temporaler Hinsicht ist Selbstbezüglichkeit abgesichert. Der Rekurs auf das Selbst hat unterschiedliche Funktionen je nachdem, welche der drei Sinndimensionen angesprochen ist. In der Zeitdimension geht es bei der Konstitution von Sinn um operative oder basale Selbstreferenz. Diese Begriffe verweisen auf den Umstand, dass ein zu Bestimmendes mitbestimmt wird von den bewussten und/oder kommunizierten Anschlussoperationen. Was bei Aristoteles als unvermeidliche Rekursion von Denken und Sein auftritt, das zeigt sich nun als Unvermeidlichkeit bewussten und/oder kommunikativen Anschlussgeschehens. Denn Bewusstes kann nur an Bewusstes anschließen und an nichts Anderes, was außerhalb liegt und um dessen Erkenntnis es eigentlich immer geht. Allein diese unvermeidliche Rekursion drückt allem Erkannten den Stempel auf. Und sofern dasselbe kommuniziert wird, tritt eine zusätzliche Rekursion noch einmal zwischen den denkenden qua erkennenden Menschen und den Gegenstand seines Denkens und Erkennens. Denn auch für Kommunikation gilt wieder, dass diese nur 196 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
an zuvor Kommuniziertes anschließen kann und nicht an bloß Bewusstes oder Gefühltes. Diese weitere Rekursion drückt dem Erkannten je ihren Stempel diskursiver Verständigungsgepflogenheiten auf. Die Rekursion von Denken und Sein ist auf operativer Ebene mithin verdoppelt. Doppelt ist damit auch das Hindernis, das den Denkenden und Kommunizierenden vom Vernünftigen trennt. Ist das Intendierte aber der Mensch selbst, so verfehlt diese zweifache Rekursion das, was den Menschen ausmacht, dessen Identität oder dessen Selbst. Der Beobachter erreicht nur das Bewusste und/oder Kommunizierte und damit ein bloß in deren Medien erscheinendes Selbst seiner selbst. 56 Auf dieser temporalen Ebene operativer Selbstreferenz geht es um die Art und Weise, in der sich Systeme selbst reproduzieren. Um sich dem Verdacht ontologischen Denkens nicht auszusetzen, kann man auch umgekehrt formulieren: Was sich an einem Sinnsystem (psychisch, sozial) jeweils als spezifisch psychisch oder spezifisch sozial beobachten lässt, ist keine abgrenzbare Struktur. Denn hier sind nicht nur psychosoziale, sondern selbst psychosomatische Faktoren miteinander verwoben. Das Psychische bleibt damit auf den Operationsmodus bewussten Anschlussgeschehens beschränkt und das Soziale auf Kommunikation. Bewusstes nimmt Bezug auf Bewusstes und kann nur in dieser Form alles Übrige in der Welt registrieren. Auch Kommunikation kann nicht anders denn auf Kommuniziertes antworten. Obgleich es sich hier offensichtlich nicht um eine Leistung und erst recht nicht um eine moralisch anspruchsvolle Operation handelt, sondern um eine eher mechanisch anmutende bloße Selbstreproduktion, findet sich ein Moment kategorischen Sollens. Denn es ist wieder das begrenzte Können, das eine bestimmte Form aufzwingt. Das basale selbstreferenzielle sich Bewusstwerden beziehungsweise die basale selbstreferenzielle Rückkommunikation von Kommuniziertem bestimmt den Informationswert von Werten. Nicht jede Präferenz wird als Wert registriert geschweige denn anerkannt. Der ständige Verweis auf unsere Werte gibt der moralischen Kommunikation eine bestimmte Richtung vor. Er oktroyiert die Form eines genau diese Grenzen missachtenden Wertbewusstseins und einer genau diese Dieses Moment der Unerreichbarkeit zeigt sich als Gegen- und Ineinander der paradoxen Einheit von Element und Relation (operative Selbstreferenz), von Vorher und Nachher (Reflexivität), von System und Umwelt (Reflexion). Siehe Luhmann (1984, 600 ff.).
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Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
Grenzen missachtenden Art des Kommunizierens. Denn man kann durchaus davon ausgehen, dass andere und selbst feindlich gesonnene Kollektive weder Gewalt und Terror noch Unfreiheit, Fremdbestimmung und Intoleranz zu ihren Werten zählen. Aber in allen Kulturgemeinschaften dieser Welt dient das Regel/Ausnahme-Schema der Legitimation von moralisch zweifelhaften Handlungen. Auch auf der Ebene basaler Selbstreferenz bedarf es offensichtlich einer kultivierenden Mäßigung des Wertdiskurses. Wo dies als Problem ersten Ranges anerkannt ist, wird weniger auf die Abweichung der fremden von den eigenen Werten fokussiert und mehr auf die Unterscheidung von informativen und nicht informativen Nachrichten. Der Wert erscheint hier als Informationswert, der in freundschaftlicher und in feindseliger Richtung ausfallen kann. Und hier ist es entgegen einer verbreiteten Meinung nicht die Qualität der Werte, der höhere oder mindere Wert an sich, der diese Richtung vorgibt. Diese falsche Annahme führt dazu, dass die Gewalt der eigenen Seite als Ausnahmehandeln, als Reaktion und als Ultima Ratio gewertet wird, die Gewalt der Feinde hingegen als Regel, als Aktion und als Prima Ratio. Da selbige Wertung aber reziprok ist – für die Feinde liegt der Informationswert in der inversen Lesart – muss die Korrektur auf der Ebene der Form unterscheidenden Bezeichnens dessen gesucht werden, was Informationswert gewinnt. Eine solche Arbeit an kulturellen Prärogativen ist in einer global vernetzten Welt unverzichtbar. Die Parallele zur Zweckformel des kategorischen Imperativs drängt sich hier auf. Diese lautet bei Kant: Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner eigenen Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. (Kant GMS, BA 67). Einfacher formuliert heißt dies: Stell dir vor, du wärest von der Maxime selbst betroffen. In den Rang eines Selbstzwecks sieht sich der Andere, der als feindlich angesehene Fremde, erst gehoben, wenn seine Präferenzen im Wertediskurs berücksichtigt und nicht von vornherein als Verstoß gegen Werte eingeordnet werden. Im anderen Fall gewinnen nur diejenigen Nachrichten Informationswert, die die eigene Seite ins Recht und die Gegenseite ins Unrecht setzen. Gegenläufige Nachrichten werden für eigene Zwecke instrumentalisiert, der Andere sieht sich zum Mittel des Wertdiskurses degradiert. Systemtheoretisch lässt sich dieser Appell an die Vorstellungskraft folgendermaßen formulieren: Stell dir vor, du würdest Opfer deiner eigenen 198 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Evolutionstheoretische und sinnfunktionale Äquivalente
Form basaler Selbstreferenz, anders gesagt, deiner eigenen Informationspolitik. Die Form des bewussten und des kommunikativen Anschlussgeschehens ist folglich nicht beliebig, soll die Weltgesellschaft nicht in Chaos und Krieg versinken. Systemtheoretisch reformuliert könnte die Zweckformel des kategorischen Imperativs lauten: Berücksichtige in deinen bewussten und kommunikativen Operationen, dass die Information über Werte nur als paradoxe Einheit von bekannten (ins eigene Informationsraster fallenden) und unbekannten (aus diesem Raster fallenden) Nachrichten generalisierbar ist und folglich der Andere nicht zum Mittel des eigenen Wertdiskurses degradiert werden darf. Auch in Fragen der Zukunftsgestaltung nach je unseren Werten findet der kategorische Imperativ eine systemtheoretische Bestätigung. Da es nicht um Annahme oder Ablehnung bestimmter Werte geht, sondern ausschließlich um die Form des Wertdiskurses, wird der Streit über Höchstwertzuschreibungen belanglos. Das betrifft auch die Auseinandersetzung zwischen den philosophischen Schulen um die Wertrangbeziehung von Einheit und Differenz. Denn selbst die semantisch-verbale Anerkennung von Unterschieden bleibt folgenlos, wenn sie durch die Form unterlaufen wird, in der sich Differenz artikuliert. Und Form ist immer eine Form, nämlich eine Unterscheidung, die zugleich als Differenz ihrer beiden Seiten konstituiert wird. Werte treten zwar als Einheit in Erscheinung, aber diese Einheit muss als paradoxe reflektiert und das heißt, bewusst gemacht und kommuniziert werden. Die Rekonstruktion paralleler Theoriefiguren transzendentalphilosophischer und systemtheoretischer Provenienz hat einen Sinn offengelegt, der einige Aspekte gesellschaftskompatibler Neufassungen des kategorischen Imperativs enthält. Freilich dürfte es bei dieser Beschränkung nicht bleiben; die Deutungsmöglichkeiten der postontologisch-differenz- und friedenstheoretischen Lesart der Systemtheorie sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Da es in den vorangegangenen Überlegungen nicht um Ethik in ihrer gesamten Bedeutungsspanne gegangen war, sondern ausschließlich um das für die Friedensethik zentrale Instrumentalisierungsverbot, wurde ein und derselbe Gedanke in unterschiedlichen Theoremen immer wieder aufs Neue durchgespielt. Damit verbundene Wiederholungen waren unvermeidlich. Übersichtshalber und zum Verständnis dem Thema 199 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Die systemtheoretische Re-formulierung des kategorischen Imperativs
geschuldeter Redundanzen sollen die entscheidenden Parallelen in einem Schaubild verdeutlicht werden: 1. Institutionen erster und zweiter Ordnung: aufgezeigt am Begriff der transjunktionalen Operation in den drei Sinndimensionen:
Zweckformel – Zeitdimension: Autopoiesis
= Sozialdimension
8 > > > >
> > > :
Naturformel – Sachdimension: Grenze
2. Evolutionstheorie aufgezeigt an den evolutionären Mechanismen in den drei Sinndimensionen:
Zweckformel – Zeitdimension: Variation
= Zeitdimension
8 > >
> :
Naturformel – Sachdimension: Stabilisierung
3. Sinnbegriff aufgezeigt an den drei Formen der Selbstreferenz in den drei Sinndimensionen:
Zweckformel – Zeitdimension: operative oder basale Selbstreferenz
8 > > > > > >
> > > > > :
Naturformel – Sachdimension: Reflexion
= Sachdimension oder Reflexivität
200 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
V.
Schluss: Mensch-Maschine-Verschmelzung und Instrumentalisierungsverbot
Der weltkulturelle Gewinn einer Ethiktheorie, die den Begriff der Paradoxie ins Zentrum rückt, liegt gleichsam auf der Hand: Bezogen auf die Sachdimension wird Dogmatisierungen jeder Art die Grundlage entzogen. Im Sozialen geben Ideale auch nicht in Gestalt idealtypischer Formen der Vergemeinschaftung Richtlinien für konkretes Handeln an die Hand. Und die Zeit hat man mit dem Problem von Veränderlichkeit und Wandel nicht dadurch im Griff, dass Entscheidungen im Kontext eines kulturell bestimmten Begriffs als rational ausgewiesen werden. Dogmatisierungen, Idealisierungen und Rationalisierungen taugen in einer kulturell zerklüfteten und durch unterschiedliche Rechtstraditionen geprägten Weltgemeinschaft nicht als stabilisierte Erwartungen. Dieser Topos, der Institutionen von ihrer Funktion her begreift, führt im gleichen Zuge deren Unverzichtbarkeit vor Augen. Globale Interaktion bedarf stabilisierten Erwartens. Andersgläubige und anders Sozialisierte müssen erwarten, dass der Andere erwartet, dass auch dort noch im Zweifelsfall für den Frieden optiert wird, wo die Unterschiede tiefgreifend und unüberbrückbar sind. Der systemtheoretisch erschlossene, aus der Einsicht in die wachsende Bedeutung selbstregelnder Systeme abgeleitete transjunktionale Imperativ könnte als funktionales Äquivalent von religionsmoralisch abgesichertem Gewissens-Imperativ und subjektphilosophisch abgesichertem kategorischem Imperativ dienen. Denn gleich den beiden vorangegangenen Imperativen ist auch hier wieder Gewalt allenfalls als Ultima Ratio, aber niemals als Prima Ratio denkbar. Eine solche Haltung entspringt dem Bewusstsein gefährdeten Friedens. Das christliche imperativische Gewissen bildet sich als Institution 2. Ordnung in einer Zeit gewaltexzessiv entgleister römischer Großmachtpolitik. Und der subjektphilosophische kategorische Imperativ reagiert auf Gewaltexzesse eines vom Jus ad bellum befeuerten politischen Absolutismus. Heute könnte in einer zusehends in Terro201 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Schluss
rismus und Antiterrorkriegen aufgeriebenen Weltgesellschaft ein transjunktionaler Imperativ den dringend gebotenen globalen Erwartungsmodus etablieren, dass die eigene und die Seite der Feinde eine kontrafaktische nicht enttäuschungsanfällige Präferenz für friedliche Konfliktlösungsformen hegen. Damit sind weltgesellschaftlich plausible Orientierungsmarken auf Operationen bezogen, deren Referenz im Rahmen der Systemtheorie jedoch diffus zu sein scheint und mehr noch, am Menschen geradezu vorbeizugehen. An wen oder was soll sich dieser Imperativ richten, wenn die Systemtheorie an die Stelle des ansprechbaren Akteurs den formalen Begriff eines Aktors gesetzt hat. Was diesen kennzeichnet, ist nicht mehr zielgerichtetes und zu verantwortendes Handeln, sondern bloß noch eine Operation des Unterscheidens, die beliebig zurechenbar ist. Zur Diskrimination fähig sind Maschinen, Organismen und Organisationen in gleicher Weise wie Personen oder Individuen. Wenn eine reflexionstheoretische Ethik hier Fuß fassen will, so scheint sie noch sehr viel mehr abzudanken als jene Philosophie der jüngsten Vergangenheit, die sich im Verein mit den Sozialwissenschaften Sinn- und Bestimmungsfragen allein noch von Verfahrensweisen erhofft. Diese Erwartung und das Vertrauen in richtige Problemlösungen gehen jetzt auf die Technikwissenschaften über. Solche Befürchtung ist richtig und falsch, denn in dem Augenblick, in dem sich ein Imperativ an Operationen richtet, ist die Technik in gleicher Weise angesprochen wie Sozialwissenschaften oder Philosophie. Doch es ist genau dieser Punkt, in dem allein noch ein aus systemtheoretischen Erkenntnissen erschlossener Imperativ für eine Welt relevant werden kann, die zunehmend durch computerisierte selbstlernende selbstregelnde Systeme gestaltet wird. Denn der transjunktionale Imperativ richtet sich ausschließlich an Operationen, die eben jene Welt gestalten, indem sie Unterscheidungen machen und somit einen Schnitt dort setzen, wo zuvor Kontinuität bestanden hat und die dort einen Unterschied erkennen lassen, wo zuvor keiner sichtbar war. Der Mensch und zwar nunmehr jeder der sieben Milliarden Individuen, würde sich freilich aus der Verantwortung ziehen, wenn die Aussage nicht in ihrer rekursiven Struktur gelesen, sondern wieder nur in derjenigen Richtung registriert würde, die ein Delegieren von Verantwortung vertreten lässt. All die Systemreferenzen, auf die sich ethisch gebundene, einem transjunktionalen Imperativ verpflichtete Operationen beziehen lassen, machen 202 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Schluss
den Menschen aus. Die zur Mensch-Maschine verschmolzene Referenzfigur ethisch relevanter Operationen kann vorwärts und rückwärts gelesen werden. Denn es bleibt der Mensch, der maschinelle Systeme hervorbringt qua Mittel, die Zwecke setzen, qua Objekte, die als Subjekte agieren. 1 Die Einwände gegen den systemtheoretischen Deutungsanspruch auch im Bereich philosophisch-ethischer Fragestellungen müssen folglich neu überdacht werden. Sie beziehen sich im Wesentlichen auf grundbegriffliche Veränderungen, die den Menschen nicht mehr als Teil der Gesellschaft und Handeln nicht mehr als Ausweis einer, die gesellschaftliche Wirklichkeit gestaltenden, Potenz des Menschen fortführen. Ethik ist als Reflexionstheorie moralischer Kommunikation auf Operationen des unterscheidenden Bezeichnens bezogen, anders gesagt, auf den Aktor, der eine Unterscheidung macht, wieder anders gesagt, auf Systeme (organisch, psychisch, sozial, physisch), denen ethisch relevante Operationen zugerechnet werden. Nun behauptet Luhmann allerdings, mit seiner Konzeption zunächst nur die Art und Weise zu beschreiben, in der die kritisierten Ansätze selbst ethisch relevante Theorie betreiben. Was den differenz- und systemtheoretischen Ansatz unterscheidet, ist ein Verzicht auf Euphemismen, die den humanen Zuschnitt systemfunktionaler Operationen allein durch Bezugnahme auf semantische Titulaturen wie Mensch, Handlung, Subjekt oder rationaler Akteur unter Beweis stellen sollen. Fraglich ist aus der Perspektive der reflexionstheoretischen Ethik folglich, ob in den einschlägigen Ansätzen überhaupt der Mensch und nicht ohnehin bloß Systeme als die entscheidenden moralischen Referenzpunkte fungieren. Das ganze ethische Malheur würde in diesem Fall aus der nicht problematisierten umweglosen Identifizierung der jeweiligen Referenzpunkte – psychischer, sozialer, kybernetisch-komputistischer, organischer Art – mit dem Menschen folgen. Die Perfektionierung von Psycho-, von Bio- und von Sozialtechniken sind folglich dann willkommen, wenn begleitend eine humanistische Sprachwahl immer wieder versichert, dass es um Freiheit, Gleichheit, Wohlbefinden und Selbstbestimmung des Menschen geDer Begriff der strukturellen Koppelung, den Elena Esposito (2001) im Anschluss an Luhmann zur Verhältnisbestimmung von Bewusstsein und Computer heranzieht, beschreibt die Konturen dieser Verschmelzung.
1
203 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Schluss
he. 2 Die psychische Zurechnung ist als Konzeption einer in moralischen Intuitionen fundierten Moral insofern weit verbreitet, als der angelsächsische Utilitarismus auch die sozial-moralische Grundorientierung der Sozialwissenschaften dominiert. Die soziale Zurechnung bestimmt wiederum mit den diskurstheoretischen Ansätzen den massenmedialen Mainstream aus dem Grund, weil hier Kommunikation weltgesellschaftliche Dimensionen annimmt. 3 Schließlich ist ein kybernetisch-komputistischer Ansatz zu nennen, der ein zusehends als Selbstpotenzialisierung verstandenes zivilisatorisches Projekt der Selbstverwirklichung zum Ausdruck bringt. Dieser Ansatz ist noch wenig diskutiert, dafür aber um so wirkmächtiger. Das Sollen wird jetzt zur offenen Kategorie, die ihre Konturen von den Möglichkeiten der Selbstmodulation her begreift. Vor diesem Hintergrund gewinnt selbst die organische Zurechnung an Bedeutung, die mit der Soziobiologie typisch menschliches Moral- und Sozialverhalten als genuin animalisch-instinktgesteuert erkennen lässt. Der Mensch ist instrumentalisierendes Instrument sozio-biologischer Inklinationen, psychodynamischer Intuitionen, kommunikativer Aushandlungsprozesse und computertechnischer Selbstvervollkommnung. Die ethisch relevante Unterscheidung verliert ihre Präferenzstruktur: Denn jetzt bekommt man es mit Objekten zu tun, die als Subjekte agieren, mit Mitteln, die Zwecke setzen und mit Ursachen, die auf ihre Wirkungen reagieren. Wenn aber all dies der Mensch ist und den Menschen ausmacht, wie wollte man dann im Namen des Menschen etwas moralisch beanstanden wollen, worin sich dieser in seinen Handlungsmöglichkeiten spiegelt? Man sieht, dass ein Insistieren auf den Begriffen der humanistischen Tradition, auf den Begriffen des Subjekts, des Handelns oder der Rationalität, nur noch mit der Pflege einer ethischen Semantik beschäftigt sein kann, die sich von jener Wirklichkeit zunehmend entfernt, die maschinelle, organische, psychische und soziale Operationen der Selbstreproduktion hervorbringen. Die Frage: TötungsverAus diesem Grund und nicht, weil eine Funktions- qua »institutionelle Moral« bevorzugt wird, spricht Luhmann (1997, 248) bezüglich der Vielzahl bereichsspezifischer Ethiken und Ethikkommissionen von »Leerlauf«. Zur Kritik siehe Krohn (1999, 330 f.). 3 Unwidersprochen hingenommen wird gemeinhin die Annahme, der konkret Einzelne würde sich mehr angesprochen fühlen, wenn »intersubjektive Kommunikation« und nicht Prozesse der Sinnkonstitution beschrieben werden. Siehe typisch Reder (2010, 51). 2
204 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Schluss
bot oder Tötungserlaubnis unter bestimmten Bedingungen – der Lackmustest jeder Ethik – erübrigt sich. Solange die Ethik nicht Operationen, sondern den Menschen qua Subjekt, qua rational handelnden Akteur adressiert, kann sich der Einzelne aus der Verantwortung stehlen. Verantwortung verschwindet im Tabu eines instrumentalisierenden Instruments, genannt Mensch. Infolge der kulturellen Kapitulation vor einem so gewaltigen Problem treten Skandale an die Stelle politischer Auseinandersetzungen über Entscheidungen, die den Tod von Menschen faktisch bedeuten oder bedeuten könnten. Und Ethik verwandelt sich vollends in Politik und zwar im Sinne der Skandalisierung von Taten derer, die im anderen politischen Lager aktiv sind. Die Enttabuisierung der Frage: Tötungsverbot oder Tötungserlaubnis unter bestimmten Bedingungen verlangt in Zweifel zu ziehen, dass der Mensch als die Gesamtheit physischer, organischer, psychischer und sozialer Faktoren hinreichend beschrieben ist. Andernfalls gibt es keinen Grund, gegen die systemfunktionale Vernutzung von Leib und Leben zu rebellieren, wenn bio- oder sicherheitspolitische Experimente dies erforderlich machen sollten. Und es fehlen die Motive für die Ausarbeitung einer reflexionstheoretischen Ethik, die sich mit dem Konstrukt eines transjunktionalen Imperativs um eine zeitgemäße Reformulierung des Tötungsverbots bemüht. Die Motive nicht nur für eine Erneuerung, sondern für die Erweiterung zum Instrumentalisierungsverbot, speisen sich bei Kant aus der Einsicht in eine gewisse Unerreichbarkeit des Menschen. Dieser ist als Paradoxie von transzendentalem und empirischem Subjekt gewissermaßen das ausgeschlossene Dritte einer zirkulären Bestimmung und bleibt damit sich selbst und anderen immer auch verborgen. Diese externe Stellung schlägt sich im Begriff einer praktischen Vernunft nieder, die angeben soll, was unter diesen Bedingungen eines immer nur bruchstückhaften Wissens über den Menschen zu tun ist. Das bedeutet zunächst anzugeben, wie der Mensch gleichsam aus dem Inneren dieses Zirkels heraus handeln kann und soll. Es ist die Formel der Selbstzwecklichkeit, mit der er in den Zirkel der Selbstreferenz einbezogen wird: Der Zwecke und Mittel unterscheidende Mensch würde den Status eines Subjekts verlieren, wenn er sich selbst zum Gegenstand des Unterschieds machen würde. Sklaverei und nicht-republikanische Formen der Herrschaftsausübung verstoßen gegen die Logik. Es ist folglich eine Aussage über den Menschen gemacht, die aus 205 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Schluss
dem Zirkel heraus erschlossen wird. Dies macht den Humanismus der Transzendentalphilosophie aus. Luhmann lehnt die humanistische Zuspitzung des Selbstreferenzgedankens allein deshalb ab, weil er diese umweglose Bezugnahme auf den Menschen für gefährlich hält. Und die wissenschaftlichen Entwicklungen nach Kant, kulminierend im Neuhumanismus der wiederentdeckten Ethik des Guten in Sozialphilosophie und Soziologie seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts scheinen Luhmann Recht zu geben. Denn hier sollte sich bewahrheiten, was die zunehmende Konkretisierung des Selbstreferenzgedankens befürchten ließ, nämlich die Preisgabe der kantischen Schlüsselgedanken von Instrumentalisierungsverbot und Verbot gerechter Kriege. Aus diesem Grund ist von unmittelbar ethischem Belang, was Luhmann systemtheorieimmanent erschließt, dass nämlich jene Begriffe, an denen der Selbstreferenzzirkel aufgezeigt wird, auch maschinelle oder biologische Systeme kennzeichnen. Diese Wendung Kants, der Mensch verliere seinen Status als Subjekt von Zweck/Mittel-Relationen, wenn er sich selbst zum Gegenstand des Unterschieds machen würden, ist für eine reflexionstheoretische Ethik nur in Bezug auf die anthropologische Engführung unannehmbar, aber nicht in Bezug auf die Logik des Arguments. Denn bei Kant ist ein mit Subjekt bezeichneter Mensch nur als Paradoxie von transzendentalem und empirischem Subjekt ethisch informativ. Weil beides zugleich, bleibt der Einzelne in seinen Lebensrechten gesichert, aber nicht in seiner Beobachtbarkeit oder Erkennbarkeit als Mensch. Als Paradoxie verschwindet der Mensch im blinden Fleck der Unterscheidung, woher also wollte man die Argumente für dessen zweckgebundene Tötung beziehen? Wenn es eben dies ist, was den Menschen von ethischer Seite her schützen lässt, so kann man daraus schließen, dass Kant eine logische Konklusion ausformuliert hat, die auch beim abstrakter ansetzenden Selbstreferenzgedanken zwingend ist. In der reflexionstheoretischen Ethik ist eine komplette Kopie dieses Gedankens in einer um weitere Selbstbezüglichkeiten ergänzten Fassung impliziert: Das Sich-Selbst des Subjekts, welches den Menschen einschließt und aus diesem Zirkel heraus zum Instrumentalisierungsverbot drängt, erscheint jetzt als Selbstreferenz von physisch-psychisch-organisch-sozial-maschinellen Systemen, die den Menschen einschließen und aus diesem Zirkel heraus zum Instrumentalisierungsverbot drängen. Folglich teilen selbst jene computerisierten Systeme, die den Mensch-Maschine-verschmolzenen Einzel206 https://doi.org/10.5771/9783495813300 .
Schluss
nen »durchschneiden« (Luhmann 1995, 271), den epistemischen Status mit allen anderen Systemen. 4 Welche Gestalt solche Systeme auch immer annehmen, die Gestalt von Drohnen, von Schaltzentralen, von Funktionsträgern, von Kommandozentren, von Selbstschussanlagen, von Forschungsapparaturen oder intrakorporalen Sensoren und Computerchips, die reflexionstheoretische Ethik versagt tötenden Operationen jede Rechtfertigung. Und dies wäre ein Rudiment von Erwartungssicherheit, das Ethik in einer multikulturell gebrochenen funktional differenzierten Gesellschaft beitragen könnte.
Die Frage, ob dem Computer der Status eines Sinnsystems zugesprochen werden kann und insofern ebenso wie Kommunikation mit dem Bewusstsein strukturell gekoppelt ist, der Esposito (2001, 241–252) nachgeht, tangiert das operative Theorem transjunktionaler Imperative nicht. Sie erhält jedoch Brisanz im Kontext der Frage, wie eine durch die Computerisierung gebahnte Neuordnung von Wissen/Nichtwissen, von Sichtbar/Unsichtbar, von Oberfläche/Tiefe mit fremdkulturellem Kontakt interferiert, die im 2. Band behandelt wird.
4
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