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German Pages 66 [68] Year 2001
Hans Dieter Betz Gottesbegegnung und Menschwerdung
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Akademieunternehmen „Griechische Christliche Schriftsteller" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Hans-Lietzmann-Vorlesungen
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Herausgegeben von Christoph Markschies Heft 6
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2001
Hans Dieter Betz
Gottesbegegnung und Menschwerdung Zur religionsgeschichtlichen und theologischen Bedeutung der ,Mithrasliturgie' (PGM IV.475-820)
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2001
Θ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme Bea, Hans Dieter Gottesbegegnung und Menschwerdung : Z u r religionsgeschichtlichen und theologischen Bedeutung der .Mithrasliturgie' ( P G M I V . 4 7 5 - 8 2 0 ) / H a n s Dieter Betz. - Berlin ; N e w Y o r k : de Gruyter, 2 0 0 1 (Hans-Lietzmann-Vorlesungen ; H . 6) ISBN 3 - 1 1 - 0 1 7 0 8 8 - 4
© Copyright 2 0 0 1 by W a l t e r de Gruyter G m b H & C o . K G , D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses W e r k einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: R a i n e r Engel, Berlin Für die Umschlaggestaltung wurden Abbildungen eines M o s a i k s aus der Hagia Sophia (Istanbul; 9 . J h . ) und des C o d e x V a t . G r a e c . 1 2 0 9 , fol. 6 5 '
(Rom;
4 . J h . ) verwendet. Das M o s a i k zeigt den Erzengel Gabriel, die Handschrift den griechischen Bibeltext E x o d u s 1 4 , 2 6 f. Datenkonvertierung: Readymade, Berlin D r u c k und buchbinderische Verarbeitung: W e r n e r Hildebrand, Berlin
Vorwort Die in diesem Band dokumentierte sechste „Hans-LietzmannVorlesung" fand kurz nacheinander an zwei Orten statt, die mit dem Leben und Wirken Lietzmanns verbunden sind: Sie wurde zunächst am 26. November 2000 im Vortragssaal der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten, darauf am 28. November 2000 wie auch schon in den vergangenen fünf Jahren an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. In Berlin Schloß sie zugleich ein Kolloquium unter dem Titel „Wozu (noch) Editionen im Informationszeitalter?" ab, mit dem das über lange Jahre von Lietzmann geleitete Vorhaben der „Griechischen Christlichen Schriftsteller" seinen spezifischen Beitrag zum Jubiläum der Berliner Akademie leistete 1 . Die „HansLietzmann-Vorlesungen" sind also gewandert, wie auch Hans Lietzmann gewandert ist, als er sich 1924 nach langem Zögern entschloß, Harnacks Nachfolger in Berlin zu werden. Angesichts der verschiedenen personellen Veränderungen in Jena und Berlin lag es nahe, darüber nachzudenken, ob nicht auch die BerlinBrandenburgische Akademie, deren ordentliches Mitglied Lietzmann 1926 wurde, und das Akademieunternehmen „Griechische Christliche Schriftsteller", dem er als Nachfolger Harnacks seit 1930 vorstand, künftig am traditionellen Sitz der Akademie in der Jägerstraße „Lietzmann-Vorlesungen" veranstalten sollten. In Berlin soll es wie auch schon in Jena nicht um die äußerliche Erinnerung an einen Gelehrten gehen, der zeitweilig für ein wichtiges Akademieunternehmen Verantwortung trug, sondern eher D i e V o r t r ä g e dieses K o l l o q u i u m s werden in der Reihe „ T e x t e und U n t e r s u c h u n g e n " im L a u f e des nächsten J a h r e s erscheinen.
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Christoph Markschies
um das öffentliche Bekenntnis zu einer bestimmten Form, die Geschichte des antiken Christentums zu betreiben: Die interdisziplinäre Weite, in der Lietzmann die Geschichte der Antike erforschte, seine selbstverständliche Integration von philologischen, historischen, archäologischen und liturgischen Fragestellungen war seinerzeit schon etwas Besonderes und ist seither, allzumal angesichts der perniziösen Spezialisierung der einzelnen Wissenschaften, nicht mehr oft erreicht worden. Erst in den letzten Jahrzehnten etabliert sich wieder eine interdisziplinäre Erforschung der Spätantike - und da lag es schon vor sechs Jahren nahe, Lietzmann nicht nur feierlich zum Patron einer solchen kulturgeschichtlichen Neudefinition und energischen Ausweitung der Antike-Studien auszurufen, sondern darauf aufmerksam zu machen, daß das Rad nicht immer vollkommen neu erfunden werden muß, man für eine solche Form der AntikeStudien hier Anregungen bekommen kann. Denn viele einzelne Aspekte, die Lietzmann noch ganz selbstverständlich im Rahmen seiner Forschungen berücksichtigte, sind trotz der gegenwärtig verbreiteten Rhetorik der Interdisziplinarität keineswegs schon wieder und überhaupt selbstverständliche Teilbereiche der Erforschung der Antike: Ich nenne ein einziges Beispiel, nämlich das häufig sträflich vernachlässigte Gebiet der Liturgie, das Lietzmann besonders am Herzen lag 2 . Insofern fügt es sich doppelt gut, daß heute über so etwas wie eine pagane Liturgie geredet wird, um zu demonstrieren, daß unter dem Stichwort „Liturgie" ja keineswegs allein an das antike Christentum zu denken ist. Wegen dieser überraschend aktuellen Universalität des Lietzmannschen Forschungsprogramms, die gleichzeitig immer auch mit einer peniblen Durchdringung der Details und zunehmend mit dem Interesse, davon schwungvoll in breiterem Kreise zu erzählen, verbunden war, wurden bislang schon fünf „HansLietzmann-Vorlesungen" in Jena veranstaltet, werden deo volente Vgl. nur H. Lietzmann, Das Sacramentarium Gregorianum nach dem Aachener Urexemplar, L Q F 3, Münster 3 1 9 6 7 .
Vorwort
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dort weiter veranstaltet und nun auch in der Berliner Jägerstraße künftig jährlich solche „Hans Lietzmann-Vorlesungen" angeboten. Insofern gilt, was man in neupythagoreischen Kreisen der Antike über die Zahl Sechs sagte, auch hier: Sie ist die erste vollständige Zahl 3 . Hans Dieter Betz, seit 1 9 7 8 Shailer Mathews Professor of New Testament Studies an der University of Chicago, war wie kaum einer geeignet, die Serie der „Hans-Lietzmann-Vorlesungen" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie zu eröffnen und in Jena fortzusetzen. Die Spannweite seiner eigenen Studien erinnert nämlich sehr deutlich an das Forschungsprogramm dessen, der der Vorlesung den Namen gegeben hat: Mit der alten Dölgerschen Programmformel „Antike und Christentum" ist beispielsweise der vierte Band der gesammelten Aufsätze von Betz überschrieben 4 , und dort findet sich ein Aufsatz, der der Frage nachgeht, warum die entstehende christologische Reflexion des jungen Christentums es vermieden hat, den Glauben an Jesus Christus in den Kategorien der in der Umwelt durchaus sehr populären Heroenverehrung auszudrücken 5 . Untersuchungen zur Magie 6 werden begleitet durch eine kommentierte englische Ubersetzung der griechischen magischen Papyri 7 , und die 3 4
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Iamb., theol. arith. 3 3 (BiTeu 4 2 , 1 9 De Falco). H . D . Betz, Antike und Christentum. Gesammelte Aufsätze IV, Tübingen 1 9 9 8 . - Auf den Nachweis der Erstveröffentlichungen wird in den folgenden bibliographischen Angaben verzichtet. H . D . Betz, Heroenverehrung und Christusglaube. Religionsgeschichtliche Beobachtungen zu Philostrats Heroicus, Christentum, 1 2 8 - 1 5 1 .
in: ders., Antike und
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H . D . Betz, Secrecy in the Greek Magical Papyri, in: ders., Antike und Christentum, 1 5 2 - 1 7 4 ; ders., T h e Changing Self of the Magician according to the Greek Magical Papyri, ebd. 1 7 5 - 1 8 6 ; ders., Jewish M a g i c in the Greek Magical Papyri (PGM V I I . 2 6 0 - 2 7 1 ) , ebd., 1 8 7 2 0 5 und eine Reihe von Beiträgen in H . D . Betz, Hellenismus und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze I, Tübingen 1 9 9 0 .
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T h e Greek Magical Papyri in Translation, ed. by H . D . Betz, Vol. I: T h e Texts, Chicago 2 1 9 9 6 .
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Spannweite reicht von Rom bis Delphi 8 . Wenn Hans Dieter Betz in einem seiner wissenschaftsgeschichtlichen Aufsätze von der „zunehmenden Isolierung der neutestamentlichen Forschung" handelt 9 , in die diese Disziplin seit den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geriet, dann handelt es sich dabei gewiß nicht um ein verkapptes Selbstreferat. Schon die Mainzer Dissertation vom Wintersemester 1957/1958 über „Lukian von Samosata und das Neue Testament" zeigt, in welch weitem Rahmen hier neutestamentliche Wissenschaft angelegt ist; das Buch erschien als „Beitrag zum Corpus Hellenisticum Novi Testamenti" wenig später in den „Texten und Untersuchungen" 1 0 . Wollte man weiter das Œuvre von Hans Dieter Betz dem von Hans Lietzmann gegenüberstellen, dann hätte man zu reden über das, was in den „Paulinischen Studien" 11 von Betz ausgeführt ist, hätte seine faszinierende Kommentierung des paulinischen Galaterbriefs 12 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rhetorik mit Lietzmanns Kommentar im „Handbuch zum Neuen Testament" zu vergleichen (um hier nur einen der drei 8
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H.D. Betz, The Mithras Inscription of Santa Prisca and the New Testament, in: ders., Hellenismus und Urchristentum, 72-91; ders., The Delphic Maxim ΓΝΩΘΙΣΑΥΤΟΝin Hermetic Interpretation, ebd., 92-111. H.D. Betz, Eduard Norden und die frühchristliche Literatur, in: ders., Antike und Christentum, (78-99) 84. H.D. Betz, Lukian von Samosata und das Neue Testament. Religionsgeschichtliche und paränetische Parallelen. Ein Beitrag zum Corpus Hellenisticum Novi Testamenti, TU 76, Berlin 1961. Vgl. auch die umfangreiche Zusammenstellung zu Plutarch: H.D. Betz (Hg.), Plutarch's Ethical Writings and Early Christian Literature, Studia ad Corpus Hellenisticum Novi Testamenti 4, Leiden 1978. H.D. Betz, Paulinische Studien. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 1994. H.D. Betz, Galatians. A Commentary on Paul's Letter to the Churches in Galatia (Hermeneia), Philadelphia 1979/H984 = Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien. Aus dem Amerikanischen übersetzt und für die deutsche Ausgabe redaktionell bearbeitet von S. Ann, München 1988.
Vorwort
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großen Kommentare von Betz zu nennen) 13 : Zwei ganz verschiedene Ansätze und doch einander verbunden durch den energischen Blick auf die zeitgenössische antike Literatur. Die große Schultradition, in der Hans Dieter Betz steht, wird deutlich, wenn dieses Vorwort mit Bemerkungen Rudolf Bultmanns schließt. Betz hat in einem programmatischen Aufsatz zum Thema „Antike und Christentum" aus einem Memorandum Bultmanns zitiert, daß die Frage nach dem Verhältnis der Universität zum Forschungsprogramm „Antike und Christent u m " weithin zusammenfalle „mit der Frage nach der Einheit der Universität. Ist unsere Universität nur eine Sammelstätte für alle möglichen Einzelwissenschaften, oder ist sie eine wirkliche ,Universitas', eine Einheit, deren Teile - die Einzelwissenschaften - als die Glieder eines Organismus zusammengehören?" 1 4 Deutlicher und noch dazu mit einem ganz und gar paulinischen Gedanken kann man eigentlich nicht sagen, warum es immer wieder sinnvoll ist, sich des Forschungsprogramms von Hans Lietzmann zu erinnern und zur Berliner Premiere wie zur Jenaer Fortsetzung der Hans-Lietzmann-Vorlesungen Hans Dieter Betz zu bitten. Auch in diesem Heft ist wieder sehr herzlich dem Verlag zu danken, der bisher schon die Vorlesungsveranstaltung freundlich unterstützt hat - in der Regel durch ein äußerst schmackhaftes Buffet - , sie weiter unterstützt und auch weiter verlegt. Die BerlinBrandenburgische Akademie verbindet mit dem Verlag eine lange Zusammenarbeit, die auch in den Jahren zwischen 1949 und 13
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H . D . Betz, 2. Korinther 8 und 9. Ein Kommentar zu zwei Verwaltungsbriefen des Apostels Paulus. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und für die deutsche Ausgabe redaktionell bearbeitet von S. Ann, Gütersloh 1993. E. Dinkier, Die christliche Wahrheitsfrage und die Unabgeschlossenheit der Theologie als Wissenschaft: Bemerkungen zum wissenschaftlichen Werk Rudolf Bultmanns, in: Gedenken an Rudolf Bultmann, Tübingen 1977, (15-40) 37 Anm. 28; zitiert bei Betz, Antiquity and Christianity, in: ders., Antike und Christentum, (267-290) 289, Anm. 85.
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1989 fortgesetzt wurde. Vor einiger Zeit fanden sich beim Aufräumen in der Arbeitsstelle „Griechische Christliche Schriftsteller" der Akademie zwei maschinengeschriebene Seiten aus den sechziger Jahren, auf denen ein früherer Funktionsträger der damaligen Deutschen Akademie der Wissenschaften, dessen Name hier diskret verschwiegen sei, Einschätzungen über den Verlag Walter de Gruyter für seine politischen Oberen vortrug. Der unvergessene Professor Wenzel wird dort in wunderbarem DDRDeutsch als „ein aufgeschlossener, wendiger Typ, der politische Realitäten anerkennt und in harten ökonomischen Kategorien denkt", bezeichnet. Wörtlich heißt es dann weiter: „Dennoch ist er kein Businessman, sondern auf Grund seiner künstlerhaften Veranlagung genügend ausgewogen, um die Besonderheiten eines wissenschaftlichen Verlages zu berücksichtigen. Die technischen Mitarbeiter Prof. Wenzels sind jüngere Westberliner mit klarem, offenem Blick für die Welt". Auch wenn wir so heute nicht mehr formulieren und - Gott sei Dank - auch niemandem solche Berichte schicken müssen: Dem „klaren, offenen Blick" der heutigen Verantwortlichen im Verlag verdanken wir das Engagement des Verlages bei den Lietzmann-Vorlesungen und die in diesen Tagen begonnene Zusammenarbeit bei der Betreuung der beiden großen Reihen der „Griechischen Christlichen Schriftsteller" sowie der „Texte und Untersuchungen". Berlin, im August 2001
Christoph Markschies
Inhaltsverzeichnis Vorwort Gottesbegegnung und Menschwerdung . . . Deutsche Übersetzung der ,Mithrasliturgie'
Gottesbegegnung und Menschwerdung Zur religionsgeschichtlichen und theologischen Bedeutung der ,Mithrasliturgie' (PGM IV.475-820) 1
Hans Lietzmann, dessen ehrenvollem Gedenken diese Vorlesung dienen soll, kenne ich nur aus seinen Schriften und veröffentlichten Briefen. Er erscheint da als ein zielgerichteter Wissenschaftler mit weitreichenden Interessen, zu denen auch die praktischen Erfordernisse des akademischen Lebens gehörten. Als Beispiel beziehe ich mich auf die im Jahre 1902 von ihm begründeten „Kleinen Texte für Vorlesungen und Übungen". Wie eh und je muß in jeder Generation den Studenten neu eingeschärft werden, daß unsere Wissenschaft mit dem Lesen exemplarisch ausgewählter Originalquellen beginnt2. Hinzu kommt, daß es überraschend oft kleine Texte sind, die eine unverhältnismäßig große
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Das Folgende bietet den Text der Hans-Lietzmann-Vorlesung, vermehrt nur durch einige unumgängliche Anmerkungen. Eine vollständige Fassung mit ausführlicherer Dokumentation wird in der Reihe „Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur" erscheinen. Dieser Band enthält auch Anhänge zur Mithrasliturgie (den griechischen Text, einen griechischen Wortindex, eine deutsche Übersetzung, eine Analyse der literarischen Komposition und eine Bibliographie). Mit eigenen Worten beschreibt Hans Lietzmann dies in seiner Selbstbiographie in ders., Kleine Schriften III, TU 74, Berlin 1962, 352: „Aus den Bedürfnissen des Unterrichtes erwuchs mir 1902 der Plan der .Kleinen Texte', die das erforderliche Quellenmaterial, das erfahrungsgemäß der weitaus größten Zahl Studenten nie in die Hände kommt, in wissenschaftlich einwandfreier und womöglich fördernder Behandlung darbieten sollen".
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Wirkung auf die Nachwelt ausüben. Allerdings sind kleine Texte oft auch fremdartig und nur zugänglich, wenn sie zugleich in einen größeren Zusammenhang hineingestellt werden. Dies gilt in besonderem M a ß e von einem berühmten religionsgeschichtlichen Text, der im folgenden im Blick auf seine religionsgeschichtliche und theologische Bedeutung vorgestellt werden soll. Bei diesem Text handelt es sich um die von Albrecht Dieterich so bezeichnete „Mithrasliturgie", also um einen griechisch-ägyptischen Papyrus, der als Bestandteil des Großen Pariser Zauberpapyrus auf uns gekommen ist 3 . Wie aus den Briefen ersichtlich, war H a n s Lietzmann mit Albrecht Dieterich und mit der Familie seines Lehrers Hermann Usener freundschaftlich verbunden; Dieterich war ja verheiratet mit Useners Tochter Marie. Als Usener 1 9 0 5 und Dieterich 1908 plötzlich starben, kümmerte sich Lietzmann um die Familien und half bei der Regelung der Nachlässe, die seitdem in der Universitätsbibliothek in Bonn deponiert sind.
I. Annäherung an den Text Richten wir nun den Blick auf den vorliegenden Text, so wollen wir ohne weitere Umstände die Frage stellen, w a s dieser Text uns heutigen Menschen am Beginn des 21. Jahrhunderts zu sagen haben könnte. Es ist ja ganz und gar nicht selbstverständ-
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Die Wissenschaft verdankt Dieterich, diesen bedeutenden Text ans Licht gezogen, ediert und zusammen mit einem bis heute nicht überholten Kommentar veröffentlicht zu haben (Eine Mithrasliturgie, Leipzig/Berlin 1903; 2. Aufl., hg. von R. Wünsch, 1910; 3. Aufl. hg. von O. Weinreich, 1923; Nachdruck, Darmstadt 1966). Ein Arbeitstext, auch mit Kommentar, wurde von Reinhold Merkelbach herausgegeben (Abrasax. Ausgewählte Papyri religiösen und magischen Inhalts III, Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Sonderreihe Papyrologica Coloniensia XVII.3, Opladen 1992).
Gottesbegegnung und Menschwerdung
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lieh, daß wir einen Z u g a n g zu einem antiken Text finden, der offen vor uns liegt, der aber als Geheimliteratur nicht für uns Unberufene bestimmt gewesen ist. Der Pariser Zauberpapyrus, in dem die Mithrasliturgie enthalten ist, stellt einen Zufallsfund oder Beutegut von Grabräubern dar, der von Antiquitätenhändlern nach Europa gebracht wurde und durch eine Auktion in die Bibliothèque Nationale geriet. Nie zur Veröffentlichung bestimmt, war er aller Wahrscheinlichkeit nach dem Verfasser, einem gräko-ägyptischen Priester, bei seinem T o d e ins G r a b gegeben worden. Der Pariser Zauberpapyrus stellt eine Sammlung magischer Texte dar, in der die Mithrasliturgie ein langes Exzerpt bildet, das vom Verfasser aus einer Quelle übernommen und redaktionell bearbeitet worden ist ( P G M IV.475-820). Ursprünglich handelt es sich um das Werk eines anonymen Autors, bearbeitet von einem ebenso anonymen Redaktor und abgefaßt wohl im dritten Jahrhundert n.Chr. 4 Auf letztlich nicht geklärte Weise wurde der Papyrus am Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrhunderts im unterägyptischen Herakleopolis oder in Theben wiederentdeckt 5 . Wir haben es also mit einer autographischen Handschrift eines praktizierenden Priestermagiers zu tun, die uns, wenn auch gegen seinen Willen, einen einzigartigen Einblick in antike Gottesbegegnung und Menschwerdung tun läßt. Kein Wunder also, daß dieser Text nach seiner Veröffentlichung
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Carl Wessely (Griechische Z a u b e r p a p y r i von Paris und L o n d o n , D A W W . P H 3 6 , 1 8 8 8 , 2 7 - 2 0 8 ) datiert den in U n z i a l e n g e s c h r i e b e n e n K o d e x a u f d e n A n f a n g d e s vierten J a h r h u n d e r t s n . C h r . (S. 4 0 ) ; der recht k o m p l i z i e r t e E n t s t e h u n g s - u n d U b e r l i e f e r u n g s p r o z e ß w i r d v o n D i e t e r i c h ( M i t h r a s l i t u r g i e [wie A n m . 3], 4 3 - 4 6 ) i m Z e i t r a u m v o n 1 0 0 3 0 0 n . C h r . a n g e s e t z t . D i e s e n A n g a b e n sind die P a p y r o l o g e n seither g e f o l g t ; s. K . P r e i s e n d a n z , P a p y r i G r a e c a e M a g i c a e . D i e g r i e c h i s c h e n Z a u b e r p a p y r i , 2. A u f l . h g . v o n A . H e n r i c h s , S t u t t g a r t 1 9 7 3 - 1 9 7 4 , B a n d I, 6 4 - 6 6 . I m f o l g e n d e n w e r d e n die P G M n a c h dieser A u s g a b e mit P a p y r u s n u m m e r n (lateinisch) u n d Z e i l e n ( a r a b i s c h ) zitiert.
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P G M I, S. 6 4 - 6 5 ; H . D . Betz, T h e G r e e k M a g i c a l P a p y r i in T r a n s l a t i o n , I n c l u d i n g the D e m o t i c Spells, C h i c a g o 2 1 9 9 6 , X L I I - X L I I I .
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von Carl Wessely im Jahre 1888 und durch die kritische Ausgabe mit Kommentar von Albrecht Dieterich im Jahre 1 9 0 3 zu einem der berühmtesten religionsgeschichtlichen Zeugnisse auf Papyrus avancierte. Der Zusammenhang von Gottesbegegnung und Menschwerdung war seit den ältesten Zeiten Gegenstand von Reflexion. Ein Hauptthema war die Frage nach der Nähe oder Ferne der Gottheit. Gestand man dem „Goldenen Zeitalter" zu, daß in ihm die Menschen mit den Göttern zusammen die gleiche Welt bewohnten, so wuchs durch die Denkarbeit der Philosophen die Skepsis und die bedrohliche Erfahrung von Gottesferne. Die Philosophen räumten mit der Vorstellung auf, daß die Götter mit den Götterbildern und die Gotteserfahrung mit dem Tempeldienst identisch seien. Lebten die Götter aber nicht in erreichbarer Nähe, sondern in der fernen Himmelswelt, wie sollte der Mensch ihre Gegenwart erfahren? Durch Epiphanien, Visionen oder Traumbilder? Durch die Verehrung der Gestirne und kosmischen Naturkräfte oder durch Erkenntnis der dem Menschen innewohnenden göttlichen Seele? Durch das weite Feld der Mantik, durch geheime Einweihungen in die Mysterienkulte oder durch die Göttern und Geistern gebietenden Zauberpraktiken? Friedrich Hölderlin formuliert zu Anfang seines Gedichtes „Patmos" sprachlich fast überspitzt das Problem, das sich wie dem antiken so auch uns heutigen Menschen unausweichlich stellt 6 : „Nah ist Und schwer zu fassen der Gott." Das Wissen um das Nahesein der Gottheit ist die eine Seite, durch „und" spannungsvoll verbunden mit der anderen Seite, der Erfahrung der Unfaßlichkeit. Es ist kaum zu bezweifeln, daß Hölderlins Zeile in Verbindung steht mit der Rede des Paulus '
Zitiert nach: Hölderlins Werke und Briefe I, hg. von F. Beißner und J. Schmidt, Frankfurt a. M . 1 9 8 3 , 1 7 6 .
Gottesbegegnung und Menschwerdung
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auf dem Areopag in Athen (Apg 1 7 , 2 7 - 2 8 ) , in der der Apostel die Bestimmung der Menschen so formuliert: „ . . . daß sie Gott suchen sollten, ob sie ihn wohl ertasten und finden möchten; er ist ja nicht fern von einem jeden von uns. Denn in ihm haben wir Leben, Bewegung und Wesen . . . " 7 . Wie die Forschung seit Wettstein immer wieder betont hat, steht die Areopagrede mit ihren Formulierungen im Gefolge der stoischen Philosophie, besonders des Poseidonios. W e n n in Apg 1 7 , 2 7 - 2 8 als Ziel des Menschenlebens das Suchen nach Gott (ζητεΤν τον θεόν) bestimmt wird, ist dazu grundsätzlich die Möglichkeit vorgegeben durch seine Nähe zu jedem einzelnen Menschen, die durch die Begriffstrias von Leben, Bewegtheit und also Existenz evident ist. Danach läßt sich die Gottheit ganz naturalistisch „betasten" und „begreifen": „ W a s immer du mit Händen tastend greifest (und sei es ein Stein, aus dem das Feuer springt), überall .begreifest' du G o t t " . Der mit dem Stichwort ψηλαφάν angesprochene Naturalismus steht allerdings im Gegensatz zum Betasten der Götterbilder und Göttersymbole, weshalb im gleichen Zusammenhang die Athener wegen ihrer Götterbilder kritisiert werden (Apg 1 7 , 1 6 . 2 2 - 2 3 . 2 9 ) . Diese Kritik nimmt ihrerseits zu den Götterbildern Stellung in zweifacher Weise. Einmal wird die einfache Identifizierung von Bilderdienst und Gottesdienst abgelehnt (τό θείον είναι όμοιον, Apg 1 7 , 2 9 ) , zum anderen wird die Möglichkeit, die Götterbilder im Rahmen eines geistigen Naturalismus, verbunden mit einer Bildtheorie, als symbolische Repräsentationen zu verstehen, aufgenommen. Die „Unwissenheit" (άγνοεϊν, άγνοια, Apg 1 7 , 2 3 . 3 0 ) der Athener wird darin gesehen, daß sie über die wahre Identität der Gottheit erst noch aufgeklärt werden müssen (Apg 1 7 , 2 3 ) . Allerdings deuten die Optative auf Ungewißheit insofern, als der geistige Naturalismus vom Erkenntnisvermögen des Suchers abhängt. Z w a r hat nach stoischer Lehre die 7
Zitiert ist die Übersetzung von H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, H N T 7, Tübingen 1 9 6 3 , 9 9 - 1 0 0 .
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N a t u r jeden Menschen mit dem Vermögen der Gotteserkenntnis begabt (έμφυτος έννοια θεοϋ), aber es bedarf der Initiation durch die Philosophie, um diese G a b e auch zu nutzen. Während die Menschheit in ihrer Anfangszeit imstande war, den göttlichen K o s m o s als solchen wahrzunehmen und zu erkennen, wurde in der folgenden Zeit dieses Erkenntnisvermögen durch den Einbruch von H a b s u c h t (avaritia) gründlich verdorben. D i o n Chrys o s t o m o s schildert den Sachverhalt in Analogie zur eleusinischen Mysterienweihe. Wenn er zu A n f a n g in einer Narrenrede die Philosophie personifiziert auftreten läßt, so ist sie es, die den Menschen über die Wirklichkeit menschlicher Existenz im Kosm o s aufklärt: „ F a s t verhält es sich damit s o , wie wenn ein M a n n , ein Grieche oder ein Nichtgrieche, in einen Mysterienkult eingeweiht wird. M a n bringt ihn dazu in ein Mysterienhaus von ungewöhnlicher Schönheit und Größe. Viel an mysterienhaften Erscheinungen gibt es da zu sehen, viel auch an d a z u passenden Stimmen zu hören. Abwechselnd umgeben ihn Dunkelheit und Licht, tausend weitere Dinge geschehen. Schließlich pflegt es beim so genannten , T h r o n i s m o s ' auch noch zu geschehen, daß die Mysterienpriester den Einzuweihenden Platz nehmen lassen und d a n n im Kreis u m ihn herum tanzen. Ist es da noch g l a u b h a f t , daß ein solcher M a n n nicht in seiner Seele angerührt werden und auf den Verdacht k o m m e n sollte, d a ß alles, w a s geschieht, mit Bedacht und sehr kluger Vorbereitung inszeniert w u r d e , selbst wenn er zu den entfernten, namenlosen B a r b a r e n s t ä m m e n gehörte, selbst wenn kein Erklärer und kein Deuter anwesend w ä r e - er müßte d a f ü r nur eine menschliche Seele h a b e n ? " "
Unter Leitung der Philosophie müssen sein Erkenntnisvermögen und seine Lebensweise wieder an die ursprünglichen N a t u r gegebenheiten herangeführt werden. N u r so wird er dessen inne, daß die Gottheit ihm nahe ist, weil seine Seele gottverwandt ist und aus der gleichen Geistsubstanz wie die Gottheit besteht. N u r so kann er die N ä h e der Gottheit sichtbar erfahren durch den 8
D i o n Chrys., or. X I I 3 3 , vgl. auch XII 34 (übersetzt von H.-J. K l a u c k , Dion von Prusa, Olympische Rede, D a r m s t a d t 2 0 0 0 , 67).
Gottesbegegnung und Menschwerdung
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Anblick der Sonne, des Sternenhimmels und sogar durch Materie wie den Stein, aus dem Feuerfunken geschlagen werden. Für die Uneingeweihten bleibt dagegen nur die abergläubische Verehrung der Götterbilder oder die radikale Skepsis der Epikureer. Demzufolge befinden sich die in der Areopagrede von A p g 17 angesprochenen Athener in dem Dilemma, daß sie zwar die Götterbilder durch aufwendigen Kult verehren und dies sogar im geistigen Sinne verstehen können, daß ihr Gottesverständnis aber nur hinreicht bis zum „unbekannten G o t t " (άγνωστος θεός). Der wahre Gott aber, der den K o s m o s geschaffen hat und fortwährend erhält, bleibt ihnen unzugänglich. Wie ein stoisch gebildeter Philosoph klärt sie Paulus durch Bekanntmachung von drei Grundlehren auf: (1) Der wahre Gott bedarf nichts und kann daher nicht durch Darbringen von Gegenständen aus Menschenhand verehrt werden; (2) Aufgabe ist, diesen Gott zu suchen; (3) er ist jedem einzelnen durch seine Schöpfung beständig nahe, da die Menschheit in ihm und durch ihn Leben, Bewegtheit und Sein empfangen hat. Es gilt hier, die subtilen Unterschiede im Auge zu behalten. N a c h stoischer Lehre ereignen sich Gottesbegegnung und Menschsein in der philosophischen Erkenntnis, wenn der göttliche den menschlichen νους durch direkte Berührung informiert und in der Lebensweise gemäß der Natur (ομολογουμένως τ η φύσει ζην, sequi naturam) angeeignet wird. Anders ereignen sich für den christlichen Verfasser der Apostelgeschichte Nähe Gottes und Menschsein durch die Offenbarung Gottes im Evangelium Jesu Christi. Mit diesem Evangelium ist Gott in einem Menschen (Apg 17,31) den Menschen nahegekommen, so wie es Paulus verkündigt und im Glauben angenommen werden muß. Es gibt also auch für die christliche Lehre eine Art von geistigem Naturalismus, vermittelt durch die öffentliche Verkündigung und angeeignet durch den Glauben. Dieser Glaube schließt die kultische Verehrung von Götterbildern aus (Apg 17,24-25.29). Was nach der Areopagrede sich zunächst stoisch anhört, wird also vom Verfasser der Apostelgeschichte in den Kategorien von Schöpfung, Erhaltung und
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Hans Dieter Betz
Erlösung der Welt uminterpretiert. So wird der theologische Sachverhalt schließlich auch von Ignatius von Antiochien in einer formelhaften Mahnung zusammengefaßt: „Warte auf den [sc. Gott], der über der Zeit ist, den Zeitlosen, den Unsichtbaren, der um unseretwillen sichtbar wurde, den Ungreifbaren, den Leidensunfähigen, der um unseretwillen leidensfähig wurde, der in jeder Hinsicht um unseretwillen erduldet h a t " (Ign. Polyc. 3 , 2 ) . Aus dem bisher Dargelegten geht hervor, daß auch das Stichwort ού μακράν („nicht ferne") polemisch gegen eine Rechtfertigung von Götterbildern gerichtet ist, die behauptet, daß ohne sie die Gottheit dann in unzugängliche Ferne gerückt würde und daß dann der praktizierte Kult seine Vermittlungsfunktion zwischen den fernen Göttern und den Menschen auf der Erde und damit seinen Sinn überhaupt verlöre. Diese Konsequenz wird dramatisch deutlich durch einen dem Demetrios Poliorketes dargebrachten Hymnus, als dieser im J a h re 2 9 1 / 2 9 0 v.Chr. in Athen einzog. In einem von zynischer Schmeichelei triefenden Hymnus erwiesen die Athener dem Demetrios göttliche Ehren (Plu., Demetr. 1 1 - 1 3 ) . Die betreffenden W o r t e deuten auf bekannte Formelsprache: „Andere Götter sind in weiter Ferne oder haben keine Ohren oder existieren nicht oder kümmern sich um uns keinen Deut, aber dich sehen wir gegenwärtig, nicht aus Holz oder aus Stein, sondern wahr und wirklich" (Athenaeus, deip. 2 5 3 e ) . Wie aus den Parallelstellen hervorgeht, k o m m t dem formelhaften Ausdruck ού μακράν eine wichtige apologetische Bedeutung zu. Da die philosophische Verwerfung des äußerlichen Kultbetriebes als Superstition die Götter unvermeidlich in eine überweltliche Ferne rückt, bekämpfen die stoischen Philosophen den drohenden Atheismus der Epikureer mit der Vorstellung der inneren Präsenz der Gottheit im Menschen, im Vernunftbestandteil der Seele. Die Akzeptanz dieser Vorstellung, so wird richtig erkannt, ist eine Sache philosophischer
Überzeugungsarbeit.
In ihrem Dienste stehen die eindrucksvollen
Beschreibungen
menschlicher Existenz im Kosmos, ausgezeichnet sowohl durch
Gottesbegegnung und Menschwerdung
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den überwältigenden Anblick der kosmischen Phänomene als auch durch die wirksame Gegenwart des Deus internus. Die Identität dieses Gottes bleibt freilich ungewiß, wie Seneca durch einen Vergilvers bestätigt: „Wir brauchen nicht unsere Hände gen Himmel zu erheben oder den Tempelwächter bitten, uns an das Ohr des Götterbildes heranzulassen, als könnten dadurch unsere Gebete sicherer erhört werden. Gott ist dir nahe, er ist bei dir, er ist in dir. Was ich meine, Lucilius, ist dies: ein heiliger Geist wohnt in uns, ein Beobachter und Wächter unserer guten und bösen Taten ... Von jedem guten Menschen [gilt]: ,Ein Gott wohnt [in uns gewiß], aber welcher es ist, ist ungewiß'" 9 .
II. Religionsphilosophische Voraussetzungen Auf dem Hintergrund der bisher dargelegten Problemskizze heben sich die religionsphilosophischen Voraussetzungen des Verfassers der Mithrasliturgie deutlich ab. Es gehört zu den erstaunlichen Zügen dieses Textes, daß wir in ihm derartige Voraussetzungen überhaupt antreffen. Albrecht Dieterich hatte bereits erkannt, daß es sich um stoische Einflüsse handelt. Wie ist dieser Sachverhalt zu erklären? Nach Ansicht der Forschung ist der Verfasser unter den Priestern in einem der großen Tempel in Theben zu suchen. Es muß sich demnach um einen der gelehrten Priester gehandelt haben, der nicht nur in der magischen Literatur der Tempelbibliothek zu Hause war, sondern der sich auch in der textkritischen Bearbeitung von Handschriften auskannte. Die Mithrasliturgie zeigt einen Verfasser, der ein Meister sowohl in der Handhabung Sen., ep. 41,2: Non sunt ad caelum elevandae manus nec exorandus aedituus, ut nos ad aurem simulacri, quasi magis exaudiri possimus, admittat; prope est a te deus, tecum est, intus est. Ita dico, Lucili: sacer intra nos spiritus sedet, malorum bonorumque observator et custos ...In unoquoque virorum bonorum „Quis deus incertum est, habitat deus" (Verg., Aen. Vili 352; Übersetzung vom Verfasser).
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magischer Rituale als auch der literarischen Komposition war. Seine Fähigkeit, ein so kompliziertes Werk, wie die Mithrasliturgie es ist, aus verschiedenen Bestandteilen zusammenzuarbeiten, war beträchtlich. Bei diesen Bestandteilen handelt es sich um ältere ägyptische Riten, Einflüsse hellenistischer Mysterienlehren und stoisierender Naturphilosophie, um Kenntnisse auf den Gebieten der Astrologie, Alchemie und Pflanzenkunde sowie literarischer Konventionen. Von heutiger Warte aus gesehen fällt die kritische Grundhaltung des Verfassers ins Auge, dessen Ziel es freilich ist, mit Hilfe eines Aufstiegsrituals eine Begegnung mit der höchsten Gottheit herbeizuführen. Gleichwohl glaubt er nicht, daß eine solche Begegnung auf die traditionelle Weise erfolgen kann. Für einen ägyptischen Priester, der in den Tempeln die Götterbilder ständig vor Augen hat und der den Dienst an diesen Göttern tagtäglich versieht, ist es erstaunlich, daß von alldem in der Mithrasliturgie keine Rede ist. Trotz der ihn umgebenden Götterstatuen, Bilder und Inschriften leben nach seiner Vorstellung die Götter nicht in diesen Bildern, sondern in kosmischer Ferne im Himmel. Für ihn ist nur der höchste Gott Helios-Mithras-Aion ausschlaggebend, mit dem er eine Begegnung sucht; sonstige traditionelle Götternamen begegnen in der Mithrasliturgie nicht 10 . Alle anderen Gottheiten haben ihre festen Plätze in der kosmischen Ordnung der Sternenwelt und sind dem höchsten Gott untergeben. Daß der Verfasser einen kosmisch-astralen Monotheismus, wie wir ihn aus dem späten Hellenismus kennen, vertritt, geht auch aus einer bemerkenswerten Diskrepanz hervor. Im Aufstiegsritual selbst, das aus dem Quellenmaterial stammt, werden die beiden Götter Helios und Mithras klar unterschieden (Z. 628-661, 693-732), wogegen der Verfasser in seinem von ihm formulierten Exordium nur von einer Gottheit Helios-Mithras (Z. 481) spricht. 10
Angerufen werden dagegen personifizierte Begriffe, z. B. Vorsehung (πρόνοια) und Weltseele (ψυχή, Ζ. 475), Aion (αιών, Ζ. 5 2 0 . 5 9 4 ) und Tyche (τύχη, Ζ. 665).
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Diesem höchsten Gott nahezukommen, ist alles andere als einfach, denn seine Nähe und Ferne verhalten sich konträr zueinander. Einerseits ist er der Vater aller Dinge (Z. 5 4 8 ) , der das ganze Weltall und mit ihm den Menschen hervorgebracht hat, der alles erhält und umgreift; andererseits lebt er außerhalb des Kosmos in einer transzendenten Himmelswelt, zu der niemand anderes Zutritt hat. W i e stellt der Verfasser sich vor, daß es zu einer Begegnung mit diesem Gott kommen kann? W e n n überhaupt, so ist seine Antwort, dann nur in Form einer Himmelsreise. Die Komposition der Mithrasliturgie, die eine solche Himmelsreise zum Ziel hat, zeigt, daß der Verfasser sich über die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens im klaren war. Er konnte zwar aus seinem Quellenmaterial ein vollständiges Aufstiegsritual entnehmen, aber seine eingeschobenen Erklärungen lassen kritische Einwände erkennen, die er für sich und auch für die Empfängerin seines Werkes religionsphilosophisch zu beantworten sucht. Um was für kritische Einwände handelt es sich? Das Aufstiegsritual selbst sieht einen rituell-äußerlichen Aufstieg durch sieben kosmische Sphären vor 1 1 . Diese bloß rituell-äußerliche Vorstellung vom Aufstieg teilt der Verfasser aber offenbar nicht, denn sonst hätte er dem Ritual nicht die sorgfältig formulierten Erklärungen beigegeben. Im großen Eingangsgebet (Z. 4 8 4 - 5 3 7 ) werden nicht etwa die üblichen Namen der Götter angerufen, sondern die elementaren Naturkräfte: „Ursprung" (γένεσις) und „Anfang" (άρχή) sowie die vier Elemente, „ G e i s t " (ττνεύμα), „Feuer" (m/p), „ W a s s e r " (ύδωρ) und „ E r d e " (γή). In diesem Gebet sind die Urkräfte des Weltalls mit den Kräften verbunden, aus denen auch der Mensch entstanden ist. W e n n der Beter dann jene göttlichen Kräfte um die G a b e der Wiedergeburt bittet, so begreift er damit seine Wiedergeburt als eine Restitution seiner ursprünglichen Geburt. D a dem Aufsteigenden der Aufstieg in die achte Sphäre verwehrt ist, verläßt Mithras sie und begegnet ihm in der siebten Sphäre.
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Die Epiklese des Gebets (Ζ. 4 8 6 - 4 9 8 ) lautet wie folgt: Erster Ursprung meines Ursprungs A E É I O Y 0 Erster Anfang meines Anfangs PPP SSS PHR[.], Geist des Geistes, des Geistes in mir erster M M M , Feuer, von Gott gegeben zu meiner Mischung der Mischungen in mir, des Feuers in mir erstes ËY ËIA EE, W a s s e r des Wassers, des Wassers in mir erstes ÖÖÖ AAA EEE, Erdstoff, des Erdstoffs in mir erster Y Ë YÔË, mein, des NN, Sohnes der NN, vollkommener K ö r p e r , durchgebildet von ruhmvollem A r m und unvergänglicher Rechten in lichtloser und lichtvoller W e l t , in unbeseelter wie beseelter YËI AYI EYÖIE.
M i t diesem Gebet greift der Verfasser auf zwei Voraussetzungen zurück. Einmal gibt er an, daß er selbst als Myste (μύστης) 12 in ein Mysterienritual eingeweiht ist 1 3 , wodurch seiner sterblichen Natur als Mensch die Gabe der Unsterblichkeit (άθανασία) 14 verliehen worden ist. Z u m anderen kennt er dieses Mysterienritual in einer naturphilosophischen Deutung, wonach es sich bei ihm um einen elementaren Naturvorgang handelt, nämlich die Wiederherstellung des ursprünglichen Menschen durch Reaktivierung seiner göttlichen Urnatur. Religionsphilosophisch wird demnach die Möglichkeit für das Aufstiegsritual darin gesehen, daß dieses seine Grundlage hat in der Mysterieneinweihung. Das Aufstiegsritual wird folglich als eine reaktivierende Weiterführung jener Mysterieneinweihung begriffen. Diese Voraussetzung gilt sowohl für den Verfasser als auch für die Empfängerin der Mithrasliturgie 1 5 . 12
" 14
15
Der Ausdruck μύστη; fungiert als eine Art Ehrentitel (Z. 4 7 7 . 7 4 4 , vgl. σύμμυστη; Ζ . 7 3 1 ) . Μυστήριου wird auf verschiedene Weise zur Bezeichnung des Rituals verwendet (Z. 4 7 6 . 7 2 3 . 7 4 6 . 7 9 4 ) . Siehe αθανασία Ζ . 4 7 7 , αθάνατος Ζ . 5 0 1 . 5 0 4 . 5 0 5 . 5 0 6 . 5 1 6 - 5 1 7 . 5 2 0 . 5 3 1 . 5 4 4 . 6 0 9 . 6 2 0 , άπαθαυατισμός Ζ . 7 4 1 . 7 4 7 . 7 7 1 , άπαθανατίζειν Ζ. 647.648. Damit ist die zu Anfang genannte „Tochter" (Z. 4 7 6 - 4 7 7 ) gemeint.
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Auch sie ist eine Eingeweihte, der die Kräfte der Unsterblichkeit bereits zugesprochen sind 16 . Der Grund für diese Voraussetzung ist folgender: Der Rückgriff auf die verliehene Gabe der Unsterblichkeit berechtigt zu der für den Aufstieg notwendigen Bitte um die Wiederherstellung der ursprünglichen Sinneswahrnehmung (Z. 501-515). Diese Wiederherstellung wirkt sich auf das Wahrnehmungsvermögen während der Himmelsreise in vier Hinsichten aus (Z. 502-513): in der Fähigkeit zum visionären Sehen (έττοπτεύειν), zum geistig inspirierten Denken (νόημα), zum Staunen (θαυμάζειν) und zum Schauen (θεάσθαι). Wie ernsthaft der Verfasser um diese Probleme bemüht ist, geht auch daraus hervor, daß er der eigentlichen Schilderung des Aufstiegs weitere Erläuterungen vorausschickt. Bei diesen handelt es sich um zwei religionsgeschichtlich vorgegebene Probleme. Einmal geht es um das Problem des Verhältnisses von Menschlichem und Göttlichem. Ein Übertritt aus der menschlichen in die göttliche Welt verbietet sich infolge der grundsätzlichen Annahme, daß „ich es nicht erreichen kann, als sterblich Geborener zugleich mit den goldenen Lichtstrahlen der unvergänglichen Leuchte nach oben zu steigen" (Z. 529-532). Der Sachverhalt bezieht sich darauf, daß nach traditioneller Auffassung der Aufstieg auf den Strahlen der Sonne erfolgt (Z. 537-538). Die Frage ist aber, was denn da aufsteigen soll. Ist es der Mensch mit seinem sterblichen Leibe? Oder ist es die vom sterblichen Leibe getrennte unsterbliche Seele? Dem Verfasser zufolge ist es weder das eine noch das andere. Der sterbliche Mensch kann nicht einfach in die Regionen der unsterblichen Götter aufsteigen. Die Alternative eines Aufstiegs der vom Leibe getrennten unsterblichen Seele war bereits in Piatons Phaidon 67b-d erörtert worden. Dort lehnt Sokrates ein Weiterleben nach dem Tode ab, es sei denn, man akzeptiert die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Das von Piaton genannte Prinzip ist an der 16
Vgl. Z . 4 7 6 - 4 7 8 . 4 8 1 - 4 8 4 . 7 3 8 - 7 4 6 .
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rituellen Reinheit orientiert: „Denn daß die Unreinheit sich mit der Reinheit berührt, ist nicht erlaubt" 1 7 . Bemerkenswert ist, daß hier eine Analogie zur Argumentation des Paulus über die Auferstehungslehre in I K o r 15 vorliegt. Dort formuliert der Apostel sein Prinzip nach apokalyptischer Lehre ( I K o r 15,50): „Fleisch und Blut kann das Reich Gottes nicht ererben, noch wird die Vergänglichkeit die Unvergänglichkeit ererben" 1 8 . Die Mithrasliturgie zeigt sich jedoch weder an der platonischen Ausprägung der Seelenlehre noch an der jüdisch-christlichen Apokalyptik interessiert. Stattdessen wird in ihr eine stoisierende Lehre von der Verwandlung der sterblichen in eine unsterbliche Natur des Menschen bevorzugt. Die Ähnlichkeit mit der Auferstehungslehre des Paulus ist aufschlußreich. In seiner sogenannten Narrenrede (2Kor 10,112,10) behauptet Paulus, auch er könne mit einer Jenseitsreise aufwarten (2Kor 12,1-4), aber auf Details könne er sich nicht festlegen: „ob im Leibe, weiß ich nicht; ob außer dem Leibe, weiß ich nicht; - Gott weiß es". Mit seiner Ausrede „Gott weiß es" scheint er vergessen zu haben, daß er bereits im 1. Korintherbrief eine ausführliche Antwort auf den Einwand gegen die Auferstehungslehre vorgetragen hat (IKor 15,35): „Wie wachen die Toten auf? Mit was für einem Leib kommen sie?" Seine Antwort ist das schon genannte Prinzip in I K o r 15,50: „Fleisch und Blut kann das Reich Gottes nicht ererben, noch wird die Vergänglichkeit die Unvergänglichkeit ererben". Dennoch kann Paulus an der Lehre von der Totenauferstehung dadurch festhalten, daß er für den Übergang vom Diesseits ins Jenseits eine Metamorphose des σώμα annimmt (IKor 15,36-57): Bei der Auferstehung von den Toten wird der sterbliche σώμα-Leib mit einem unsterblichen Geist-σώμα überkleidet und verwandelt. 17 18
Pl., Phaid. 6 7 b : μή καθαρφ y à p καθαρού Ιφάπτεσθαι μή ού θΕμιτόν ή. I K o r 1 5 , 5 0 : σάρξ καί αίμα βασιλείαν θεού κληρονομήσαι ού δύναται, ούδ' ή φθορά τήυ άφθαρσίαν κληρονομεί.
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Paulus hat diese Lehre in 2Kor 12,1-4 aber keineswegs vergessen, denn hier geht es nicht wie in IKor 15 um die Totenauferstehung, sondern um eine Jenseitsreise mit anschließender Rückkehr. Auf eine solche Jenseitsreise aber läßt sich I K o r 15 nicht ohne weiteres anwenden. Die Auferstehung von den Toten schließt eine Rückkehr ins Diesseits aus. Der Kontext von 2Kor 12,1-4 bietet auch keine Veranlassung zu weiteren Erklärungen, so daß seine Ausrede wohlüberlegt erscheint. Auf religionsphilosophische Voraussetzungen deutet auch der Sprachgebrauch der Mithrasliturgie, wenn sie den Begriff Magie nicht verwendet, wogegen der Begriff der „Kraft" (δύναμις) bevorzugt wird 19 , und zwar gerade an solchen Parallelstellen der PGM, die die Terminologie von μαγεία, μαγικός und μάγος im positiven Verständnis belegen 20 . Die traditionelle griechische Charakterisierung von Magie als „die Götter überreden" (πείθειν θεούς)21 begegnet auch in P G M 1.51-53, wird aber in der philosophischen Tradition negativ bewertet 22 . Auch von der „magischen Seele" (μαγική ψυχή) ist in der Mithrasliturgie nicht die Rede, wohl aber an anderen Stellen der PGM 2 3 . Die Mithrasliturgie spricht dagegen von „Seelenkraft" (ψυχική δύναμις) 24 . Dieser Befund muß auf dem Hintergrund der komplizierten Begriffsgeschichte der Magie verstanden werden; er zeigt wohl an, daß der stoisch beeinflußte Verfasser den bei den Ägyptern üblichen positiven Gebrauch der Wortfamilie von μάγος κτλ. absichtlich vermeidet, und zwar zugunsten des stoisch interpretierbaren Begriffs δύναμις. 19 20
21 22 23
24
PGM IV.477-478.524.642.650. P G M 1.53.127 (Brief des Pnuthis [1.42-195]); I V . 2 1 0 . 2 4 3 (Brief des N e p h o t e s [IV.154-285]); I V . 2 0 8 1 (Brief des Pitys [ I V . 2 0 0 6 - 2 1 2 5 ] ) ; IV.2289.2319.2449.2453. Vgl. Hes., Fr. 2 7 2 ; Pl., R. II 3 6 4 c . Vgl. Pl., Αρ. 122a; Pit. 2 8 0 e ; R. IX 572a. Vgl. IV. 1 8 0 . 2 0 9 - 2 2 0 . 1 7 0 2 ; ferner 1 7 6 2 . 1 7 8 0 . 1 8 0 7 . Der Begriff ist neuplatonisch. I V . 5 2 4 , vgl. auch 5 3 5 . 6 3 0 . 7 1 0 . 7 2 5 .
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Zu den Voraussetzungen des Verfassers der Mithrasliturgie gehört schließlich die Uminterpretation der Vorstellung vom „Aufstieg". Während das aus den Quellen übernommene Ritual eine äußerlich-realistische Jenseitsreise vorsieht, verlegt der Verfasser sie in die Innenperspektive: der Aufstieg ist als Ritual zugleich realistisch und innerlich-pneumatisch zu verstehen. Die Möglichkeit zu einer solchen Umdeutung ergibt sich aus der religionsgeschichtlichen Vorstellung der Ekstase, die durch eine rituelle Methode der Atemtechnik herbeigeführt wird (Z. 5 3 7 - 5 3 8 ) . Durch dreimal wiederholtes starkes Einatmen (ελκειυ, άυασπάυ) werden zugleich Luft und göttlicher Geist dem Inneren zugeführt. Nach antiker Vorstellung handelt es sich bei diesem Geist (πνεύμα) um Elementarteilchen, die durch Sonnenstrahlen übertragen in der Luft flimmern und mit ihr eingeatmet werden. Für den das Ritual Durchführenden werden zwei Folgen genannt. Einmal sieht er sich in die Luft erhoben (Z. 539541), zum anderen wird seine Sinneswahrnehmung überhöht (Z. 5 4 1 - 5 4 4 ) , so daß er nichts Irdisch-Menschliches mehr sieht und hört, sondern nur noch „alles Unsterbliche" (Z. 544). Demzufolge findet die Jenseitsreise in der Innenwelt als Ekstase statt, wobei aber nicht weniger „realistisch", nur auf andere Weise, Stufen der Elevation und Vision unterschieden werden. In dieser Verfassung kann der Aufsteigende dann seiner sterblichen Natur den Befehl erteilen, zurückzubleiben (εσταθι, φθαρτή βροτώυ φυσί [Ζ. 533]), während seinem wiedergeborenen „Ich" (έγώ), das nunmehr als göttlicher Sohn mit der Gabe der Unsterblichkeit versehen ist, die Kräfte für den Aufstieg zur Verfügung stehen (Z. 5 1 7 - 5 2 7 . 5 3 3 - 5 3 7 ) . Die Frage, durch welche religionsphilosophischen Überlegungen sich der Verfasser genötigt sah, das Aufstiegsritual im Sinne einer pneumatischen Ekstase umzuinterpretieren, kann durch eine berühmte Parallele erklärt werden. Bekanntlich ist die Geschichte vom Traum des Scipio am Ende von Ciceros De re publica (VI 329) eine literarische Nachahmung des „Mythos des Er" am Ende von Piatons Staat (R. 614a-621d). Daß Piaton sein Werk mit
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einer naiv anmutenden Erzählung eines Pamphyliers namens Er von einer diesem zuteil gewordenen Jenseitsreise ausklingen läßt, stieß schon in der Antike auf Kritik, vor allem durch die Epikureer. Cicero konnte zwar Piaton damit verteidigen, daß der „Mythos des Er" von dessen ungebildeten Kritikern mißverstanden worden sei und daß er, richtig verstanden, durchaus der Philosophie des Meisters entspräche (VI 3-4). Aber für seinen eigenen Schlußmythos sah Cicero sich veranlaßt, doch einen anderen Weg zu gehen. Dieser bestand darin, daß er in seiner Erzählung die Erscheinung des älteren Publius Cornelius Scipio Africanus Maior (235P-189 v.Chr.) vor seinem Adoptivenkel Publius Cornelius Aemilianus Africanus Numantius Minor (185P-129 v.Chr.) als ein Traumerlebnis beschreibt. Erzählerisch wird der Anlaß von Cicero in den Anfangsabschnitten meisterhaft ausgemalt (VI 910). Der Besuch des jüngeren Scipio bei dem alten numidischen König Masinissa ruft dessen Erinnerungen an den von ihm verehrten älteren Scipio wach. Der Auftritt des Jüngeren wirkt auf den König wie eine Epiphanie des Alteren, worauf er mit einem ergreifenden Dankgebet an den Sonnengott antwortet. Nach einem Festgelage und anschließenden, bis in die Nacht dauernden Gesprächen über den Großvater, seine Taten und seine Aussprüche erscheint jener seinem Enkel im Schlaf, der ihn auf Grund seiner Ähnlichkeit mit einem im Hause befindlichen Bildnis wiedererkennt (VI 10). Africanus stellt ihm in einer großangelegten „Offenbarungsrede" vor Augen, was an Gabe und Aufgabe auf ihn als römischen Staatsmann wartet. In Wirklichkeit legt Cicero hier natürlich sein eigenes Ideal des römischen Staates und des ihn führenden Staatsmannes vor. Dieses Programm, auf dessen Einzelheiten hier nicht eingegangen zu werden braucht, umfaßt in Form einer visionären Kosmosschau nacheinander Kosmologie, Anthropologie, Ethik und Eschatologie (VI 15-29). Die Parallelen zwischen dem Traum des Scipio und der Mithrasliturgie sind erstaunlich, und zwar gerade auch weil beide Texte keine direkte literarische Abhängigkeit voneinander aufweisen. Allerdings hat Günter Wojaczek in einem anregenden
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Aufsatz frühere Hinweise von Karl Büchner und anderen aufgenommen und auf literarische Zusammenhänge zwischen Ciceros Somnium Scipionis und Mysterieneinweihungen aufmerksam gemacht25. Diese Zusammenhänge, die die literarische Einkleidung, Struktur und Terminologie betreffen, sind gewiß nicht zu verwechseln mit einer Mysterieneinweihung im rituellen Sinne, deren Veröffentlichung in einem philosophischen Werk undenkbar wäre. Aber Anspielungen auf Mysterien durch Verwendung von Themen und Terminologien zum Zweck der Erzeugung einer quasi-religiösen Aura waren durchaus üblich und für die Leser attraktiv, wovon ja auch die Berühmtheit des Textes bis heute zeugt. Beide Texte setzen Kenntnis von Jenseitsvisionen voraus und stellen deren Umarbeitung mit Hilfe philosophischer Ideen dar. Die philosophischen Interessen sind im Falle Ciceros klar zu identifizieren. Er geht von Piatons Mythos aus, den er zitiert, aber er interpretiert ihn im Einklang mit seiner römischen platonisch-stoischen Philosophie, die sich sowohl gegen offenbarungsgläubige Stoiker als auch gegen rein diesseitig orientierte Epikureer richtet. Im Unterschied zu Cicero müssen die philosophischen Ideen der Mithrasliturgie erst durch Vergleich erschlossen werden. Ihr Verfasser nennt weder Piaton noch die Epikureer und arbeitet innerhalb der praktizierten ägyptischen Religion, der er als Priester und Magier dient. Gleichzeitig steht er dem traditionellen Verständnis dieser Religion skeptisch gegenüber. Er greift auf stoische Ideen zurück, um sein Ritual einer Jenseitsreise religionsphilosophisch zu rechtfertigen, teilt also nicht Ciceros Ablehnung solcher Rituale überhaupt. Im großen und ganzen kann man demzufolge den Verfasser der Mithrasliturgie dem ägyptischen Priester und stoischen Philosophen Chairemon von Alexandria (1. Jh. n.Chr.) zuordnen oder ihn als einen frühen Vertreter der Hermetik ansprechen. Unter den griechischen Phi25
G. W o j a c z e k , ΟΡΓΙΑ ΕΠΙΣΤΗΜΗΣ. Z u r philosophischen Initiation in Ciceros Somnium Scipionis, Würzburger J a h r b ü c h e r für die Altertumswissenschaft, N . F . 9 , 1 9 8 3 , 1 2 3 - 1 4 5 ; 1 1 , 1 9 8 5 , 9 3 - 1 2 8 .
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losophen wäre er Plutarch von Chaironeia (ca. 5 0 - 1 2 0 n.Chr.) durchaus vergleichbar: auch dieser war ja Priester des Apollo in Delphi, stand aber als platonischer Philosoph dem konventionellen Religionsbetrieb skeptisch gegenüber. Auch für Philo von Alexandria (ca. 2 0 v. bis 50 n.Chr.) werden die Dinge nicht viel anders gelegen haben.
III. Das Aufstiegsritual Das Aufstiegsritual im eigentlichen Sinne umfaßt den Hauptteil des Textes (Z. 5 4 5 - 7 3 1 ) . Wie bereits angedeutet, setzt ein solches Ritual die Vorstellung eines fernen höchsten Gottes voraus, dem zu begegnen nur durch eine langwierige und gefährliche Himmelsreise erreicht werden kann. Soweit es die rituellen Bestandteile betrifft, ist die Darstellung präskriptiv, wogegen die fortlaufende Beschreibung der Himmelsreise deskriptiver Art ist. Beides ist so miteinander verbunden, daß die erzählenden Teile als Folge der zu vollziehenden Riten erscheinen und durch das stereotype Futur „du wirst sehen" (όψη) 26 eingeleitet werden; eingewoben sind dann noch die dem epideiktischen Genre zuzurechnenden Gebete. Es ist Dieterich zuzustimmen, der meint, der Verfasser habe das Aufstiegsritual wahrscheinlich aus einer Quelle entnommen 27 . Von daher stammt wohl auch der Name άπαθανστισμός („Unsterblichmachung"), den der Verfasser an einigen Stellen verwendet 28 . Der Aufstieg erfolgt in sieben Stufen, deren Beschrei26
Dieses Futur wird durchgehend verwendet; s. Z. 5 3 9 . 5 4 2 . 5 4 4 . 5 5 0 . 5 5 5 . 5 5 6 . 5 6 5 . 5 7 4 . 5 8 3 . 6 2 4 . 6 3 5 . 6 5 6 . 6 6 1 . 6 3 9 . 7 0 2 . 7 5 6 ; vgl. auch 5 4 7 548.569.665.775.
27
Dieterich, Mithrasliturgie (wie Anm. 3), 8 2 - 8 5 . Der Begriff άπαθανατισμός wird als Bezeichnung für das Hauptritual verwendet (Z. 7 4 1 . 7 4 7 . 7 7 1 ) , in dem der Magier sich als „unsterblich gemacht" (απαθανατισθείς), d.h. vergöttlicht, vorstellt (Z. 6 4 7 - 6 4 8 ) . Zu beachten ist, daß das Ritual selbst die Vergöttlichung nicht her-
28
20
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bung in sieben Szenen weitgehend parallel angelegt ist. Auf jeder Stufe beginnt es mit einer Orientierung über O r t und Zeit. Dann folgen das stereotype όψη, die Nennung der Bildobjekte und deren Beschreibung nach Art von Tafelbildern. D a ß bei diesen Bildbeschreibungen ausgeführte Kultbilder irgendwelcher Art Pate gestanden haben, war eine von Dieterichs wichtigen Einsichten. Über die Provenienz solcher Bilder läßt sich nichts Genaues sagen, abgesehen davon, daß in der Antike überhaupt Ritus und Bild in naher Beziehung stehen und daß an einigen Stellen Parallelen zwischen T e x t und Ikonographie aufgewiesen werden können. Zusammen ergeben die sieben Szenen eine Bildergalerie mit einer Kosmosschau, die nicht der altägyptischen, sondern der hellenistisch-spätantiken Astralreligion entspricht. Für Dieterich handelt es sich also um Abbildung von Riten, die religionsphilosophisch gedeutet sind. R e i n h o l d
Merkelbach
stimmt in seinem Kommentar diesen Ideen weitgehend zu, denkt aber eher an eine Umsetzung einer
literarisch-stoisierenden
K o s m o s s c h a u in ein Ritual, das „in heiligem Spiel" aufgeführt wurde 2 9 . Gewiß kann man die Mithrasliturgie als „ R i t u a l t e x t " bezeichnen, aber dieser Begriff ist nicht eindeutig. Einerseits sind rituelle Bestandteile aus Quellen übernommen und zu dem vorliegenden Formular zusammengearbeitet worden, das aber als solches vom Verfasser stammt. Andererseits ereignet sich die Himmelfahrt in der Ekstase, so daß die „Aufführung" imaginär
29
beiführt, sondern als in einer Mysterieneinweihung bereits erfolgt voraussetzt. Vielleicht gehörte der Begriff in einen ursprünglich anderen Zusammenhang. In den P G M begegnet er ausschließlich in der Mithrasliturgie, sonst nur bei dem Stoiker Cornutus (de nat. deor. 3 1 , p. 6 3 ed. C. Lang), wo er die Vergöttlichung des Herakles bezeichnet. Merkelbach, Abrasax (wie Anm. 3), 2 8 : „Diese Gedanken sind in ein Ritual transponiert, . . . " Ähnlich ibid., 3 9 - 4 0 : „Die religiösen Gedanken werden in heiligem Spiel dargestellt ... In der Zeremonie wird ein Gedanke der stoischen Philosophen übernommen und in ein Kultspiel umgesetzt".
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stattfindet. Die Verbindung von Ritualtext, Bild, Präsentation und Interpretation bei der ekstatischen Himmelsreise und Orakelkonsultation ist außerordentlich differenziert, was hier nicht näher dargelegt werden kann. In der ersten Szene (Z. 544-555) sieht sich der aufsteigende Magier von der Erde abgehoben und in den mittleren Luftraum versetzt (Z. 544). Er schaut die Konstellationen der Tages- und Stundengötter mit ihrer Aszendenz und Deszendenz. Ihre Beschreibung zeigt zwei Bilder, zuerst den Weg dieser Götter, wie er im Lichte der „väterlichen Sonne" (Helios) erscheint, sodann die rätselhafte Figur eines Rohres (ό καλούμενος αυλός), das von der Sonne herabhängt und dessen Funktion damit erklärt wird, daß es je nach Drehung die Windrichtungen bestimmt. Die zweite Szene (Z. 556-569) zeigt die Planetengötter, die den Eindringling unfreundlich empfangen und bedrohen. Um dieser Gefahr zu begegnen, stellt der Text ein ausgeführtes Schutzritual zur Verfügung, das sofort (εϋθέως) anzuwenden ist. Das Ritual hat mehrere Bestandteile: Der intensive Blick (άτενίζειυ), ein Schutzgestus, nach dem der rechte Zeigefinger auf den M u n d zu legen ist (Z. 558), sowie der öfter vorkommende σιγήLogos gebieten Schweigen und Ruhe. Hinzu kommt das Ausstoßen von quasi-musikalischen Lauten, die συριγμός („Pfeifen") und ποπττυσμός („Schnalzen") genannt werden, sowie schließlich nichtmenschlicher Sprache entstammende Formeln (voces magicae). Als Ergebnis des Schutzrituals kann versichert werden (Z. 656-659), daß die Planetengötter freundlich gestimmt sein werden und den Besucher passieren lassen. In der dritten Szene (Z. 569-585) steht die Sonnenscheibe (ö δίσκος) im Mittelpunkt. Anscheinend befindet sich der Magier jetzt in einer höheren Sphäre. Wieder droht Gefahr, durch Donnergetöse angezeigt, die erst durch einen Schutzritus abgewendet werden muß. Zu diesem gehört der σιγή-Logos ebenso wie eine Selbstvorstellung des Magiers als verstirnter Mitplanet (σύμττλανος άστήρ). Daraufhin folgt eine Beschreibung der Sonnenscheibe in drei Bildmotiven: die „Entfaltung" der Sonnen-
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Hans Dieter Betz
Scheibe, das Hervortreten fünffingriger Sterne und die Sonnenscheibe als feuerloser Kreis mit feurigen Sonnentoren, die aber geschlossen bleiben. Die vierte Szene (Z. 585-628) zeigt dann die Öffnung der Sonnentore und durch sie hindurch die Welt der Götter. Der Magier wird angewiesen, seine Augen zu schließen und ein großes Gebet an den Gott Aion zu richten (587-620). Dieses, „das dritte" genannte, Gebet ist formal streng aufgebaut. Die Epiklese ruft den Gott als κύριος an, verbunden mit einer Aretalogie von 21 Attributen (Z. 587-602). Der Bitte um Öffnung der Tore folgt eine Rezitation der geheimen Namen der Götter (Z. 606616) und eine genaue Anleitung über die Form ihrer Rezitation (Z. 617-620). Als Resultat wird ein ungeheures Donnergetöse vorausgesagt, angesichts dessen wieder der σιγή-Logos zu rezitieren ist (Z. 623). Daraufhin soll der Magier die Augen öffnen, um die offenstehenden Tore und die dahinter sichtbare Welt der Götter zu schauen. Statt Furcht und Zittern erlebt er nun ekstatische Freude und sieht seinen Geist mit den Göttern weiter nach oben steigen (Z. 624-628). Die fünfte Szene (Z. 628-661) schildert die Begegnung mit dem Gott Helios, der nicht einfach mit der Sonnenscheibe identisch ist, die ihn vielmehr nur reflektiert. Der Magier muß beim Aufstieg innehalten, und das Atemritual muß erneut vorgenommen werden, um mehr Geist einzuatmen (Z. 628-630). Hinzu kommt eine sorgfältige Beachtung von Riten und Zeremonien. Eine Gebetsformel, verstärkt durch voces magicae, fordert den Gott auf zu erscheinen (Z. 631-633). Wenn dieser seine Strahlen auf den Magier richtet, soll er mitten hineinblicken, worauf er den Helios schauen wird (Z. 633-634). Es folgt eine ikonographische Beschreibung des Erscheinungsbildes des Helios, einschließlich Alter, Schönheit, Haartracht, Kleidung und Strahlenkranz (Z. 634-637). Der Epiphanie ist zu begegnen mit einem sorgfältig komponierten Grußgebet, in dem der Gott mit seinem Namen und seinen Attributen und aretalogischen Aussagen angeredet wird
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(Z. 639-642). Auch die anschließende Überreichung einer Petition entspricht bis in Einzelheiten kultischen Zeremonien, die aber auch Formalitäten bei Hofe nachzubilden scheinen. Es geht um das Gesuch einer Audienz beim höchsten Gott Mithras, das Helios diesem überbringen soll (Z. 642-655). Teil dessen ist eine Selbstvorstellung des Bittstellers, in der dieser sich durch seine Selbstidentifizierung als „Mensch" (άνθρωπος) in die Hierarchie der göttlichen Wesen einordnet. Der Raum für den Namen des Individuums ist freigelassen (NN), aber seine Berechtigung zur Petition ist geknüpft an das Zitat einer kultischen Formel, in dem seine menschliche Geburt und seine göttliche Wiedergeburt attestiert werden (Z. 645-649). Diese Formel entspricht einem sogenannten Synthema, wie wir es aus den Mysterienkulten kennen. Das Gesuch selber wird daraufhin unter Beobachtung des Höflichkeitszeremoniells (Proskynese) vorgetragen (Z. 649655). Der Zweck der Audienz ist, den Gott Mithras zu einer günstigen Stunde zum Erscheinen und Gewähren einer Offenbarung zu veranlassen. Nach Vorlage der Petition entfernt sich Helios, und der Magier sieht ihn seinen Weg zum Himmelspol nehmen (Z. 655-657). Die Szene endet mit einer erneuten Anwendung von Schutzriten, bestehend aus intensivem Blick (άτενίζειν), lautem Brüllen (μύκωμα μακρόν) aus allen Kräften bis zum Erschöpfen des Atems, wiederholtem Küssen der Schutzamulette nach allen Seiten hin sowie dem Befehl an das Gottesbild auf dem Amulett, Schutz zu gewähren (Z. 657-661). Die sechste Szene enthält die Begegnung mit den Gottheiten der Sternbilder des Großen und Kleinen Bären (Z. 662-692). Zuerst erscheinen die Sterne des Großen Bären, die durch die nunmehr offenen Himmelstore hervortreten. Ihre Beschreibung ist wiederum ikonographisch (Z. 662-665). Es handelt sich um sieben Jungfrauen (παρθένοι), in feines Leinen gekleidet und mit Masken von Schlangenköpfen; in den Händen halten sie goldene Szepter. Ihr Name ist: Schicksalsgöttinnen des Himmels (αϊ ουρανού Τύχαι). Auch zu ihrem Empfang ist ein Begrüßungsritual genau festgelegt (Z. 665-672), in dem zunächst alle sieben
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Schicksalsgöttinnen gemeinsam und dann einzeln mit ihren geheimen Namen begrüßt werden. Auf sie folgt das Erscheinen der Sterne des Kleinen Bären in Gestalt von sieben männlichen Göttern (Z. 673-692). Auch von ihnen wird eine ikonographische Beschreibung gegeben: ihre Masken sind die von schwarzen Stieren, ihre Kleidung sind leinene Lendenschurze, ihre Symbole goldene Diademe. Ihr Name ist: die Polherrscher des Himmels (οί πολοκράτορες του ουρανού). Auch sie sind durch ein den Schicksalsgöttinnen analoges Begrüßungsritual willkommen zu heißen, zuerst gemeinsam und dann einzeln. Die siebte Szene stellt den Höhepunkt des ganzen Dramas und die Begegnung mit dem Gott Mithras dar (Z. 693-732). Zunächst aber wird berichtet, wie die zuvor genannten Göttinnen und Götter ihre Prozession beenden und sich zu zwei chorartig gegenüberstehenden Gruppen formieren (Z. 693). Der Magier wird angewiesen, nach oben in die Luft zu blicken, wo er gewaltige Gewitter und Himmelsbeben (σεισμοί) schaut. Darauf erscheint der höchste Gott und steigt aus der höheren (achten) Sphäre hinunter in die siebte zur Audienz mit dem Magier (Z. 693-695). Obwohl sein Name nicht genannt wird, geht aus der ikonographischen Beschreibung eindeutig hervor, daß es sich um Mithras handelt (Z. 696-704). Er ist von ungeheurer Größe, mit leuchtendem Gesicht, ein junger Gott mit goldenem Haar und goldenem Strahlenkranz. Er ist in einen weißen Chiton gekleidet und trägt persische Hosen (άναξυρίδες). In seiner rechten H a n d hält er das goldene Schulterblatt eines Rindes, das zugleich astrologisch als das Bärengestirn gedeutet wird, welches den Himmel bewegt. Aus seinen Augen sprühen Blitze hervor und aus seinem Mantel Kometensterne. Zweifellos handelt es sich bei diesem Gott um Mithras, denn so wird er auf Bildnissen dargestellt. Die Erscheinung ist überwältigend und gefährlich, denn der Magier wird angewiesen, sofort Schutzriten zu vollziehen (Z. 704711), und zwar wiederum das laute Brüllen bis zum Ausgehen des
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Atems, das Küssen der Amulette und das Rezitieren einer „mystischen" Gebetsformel, in der er den Gott als „mein Leben" (ζωή μου) anredet, sich mit Namen (NN) vorstellt und ihm den durch einen Geheimnamen autorisierten Befehl erteilt: „Bleibe du, wohne in meiner Seele, verlaß mich nicht" (μένε σύ, νέμε έυ τή ψυχή μου, μή με καταλείψης). Mit dieser Gebetsformel treffen wir unvermittelt auf die zuvor bereits besprochene Vorstellung von der Nähe der Gottheit in der Seele. Erst danach, wiederum begleitet durch intensiven Blick und lautes Brüllen, erfolgt die feierliche Begrüßung (Z. 712-717). Das Begrüßungsgebet hat drei parallele Teile und verbindet die Aufforderungen „sei gegrüßt" (χαίρε) mit der Nennung von Attributen des Mithras und seinen Geheimnamen (voces magicae). Die Begrüßung wird gefolgt vom Vortrag des Gesuchs (Z. 717-718), das die Gewährung einer Orakelaudienz (χρηματίζειν) betrifft, wobei der Inhalt der Orakelfrage ausgespart bleibt (NN) zwecks späteren Eintrags. Anschließend ergeht wiederum eine ausführliche Selbstvorstellung des Magiers (Z. 719-724), die in drei Teilen zwei Sachverhalte enthält: die Rezitierung eines Synthema in Gestalt von zwei Kultformeln und der Selbstidentifikation durch einen geheimen Namen; diese Kultformeln sind dem Magier wohl in der Mysterieninitiation offenbart worden (Z. 724). Hierauf gewährt der Gott schließlich eine Orakelkonsultation (χρησμωδεϊν), die allerdings nicht in Einzelheiten beschrieben wird. Statt dessen wird sogleich das Ende der Audienz dadurch angezeigt, daß der Gott sich entfernt (Z. 727-728). Vorkehrungen zu einer sicheren Rückkehr des Magiers auf die Erde erübrigen sich, denn seine Himmelsreise besteht ja in einer geistigen Ekstase (Z. 737). Während wir also über den Inhalt der Audienz nichts zu wissen bekommen, weil dieser ja bei jeder Durchführung des Rituals konkret verschieden ist, sind einige abschließende Bemerkungen des Verfassers aufschlußreich (Z. 726-732). Dem Magier wird
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bedeutet, daß die Offenbarung in Versen (δια στίχων) besteht und daß er sich nach der Audienz wie nach einer Ekstase sehr geschwächt fühlen und sprachlos dastehen wird (Z. 725-728). Über zwei Sorgen wird der Magier vorweg beruhigt (Z. 728730). D a s Verstehen dessen, was er vernommen hat, stellt sich sofort von selbst ein (αυτομάτως). Auch die Erinnerung an den Wortlaut wird unfehlbar genau sein (άιταραβάτως). Dies wird damit begründet, daß es sich bei der Offenbarung ja um die Worte des großen Gottes handelt und daß diese Offenbarung zuverlässig ist, selbst wenn sie Tausende von Versen umfaßt. Diese Bemerkungen des Verfassers setzen eine Lehre von der göttlichen Inspiration von Orakelsprüchen voraus. Offenbar denkt er bei diesen Gottessprüchen an umfangreiche Sammlungen, wie sie von den Orakelheiligtümern angelegt wurden und die in irgendeinem Zusammenhang mit den literarischen Orakelsammlungen stehen, wie etwa den Chaldäischen Orakeln. In den genannten Sorgen meldet sich wieder die Skepsis: Wer ist fähig, diese rätselhaften Sprüche richtig zu verstehen? Wer garantiert die Zuverlässigkeit ihrer Überlieferung? Der Verfasser sieht die Antwort als mit der göttlichen Inspiration gegeben an: Inspiriert ist nicht nur der Gott, sondern auch seine Aussprüche, desgleichen der Orakelempfänger und damit auch die Deutung. Ein weiterer Gesichtspunkt ist zu nennen. Aus den Bemerkungen des Verfassers geht hervor, daß es sich bei der Offenbarung nicht um irgendwelche banale Auskünfte handeln kann. Die magische Literatur überliefert genug Beispiele für einfache Orakelfragen angesichts der normalen Bedürfnisse des Alltags. Orakelfragen solcher Art erfordern keine langwierigen Himmelsreisen und ekstatischen Techniken, wie sie in der Mithrasliturgie angewendet werden. Vielmehr deuten die Tausende von Versen, von denen der Verfasser redet, auf längere Offenbarungsreden, die auf Grundfragen der Religion und des menschlichen Lebens antworten, oder auf Offenbarungsdialoge, wie wir sie aus der hermetischen und gnostischen Literatur kennen. M a n wird sich daher vorzustellen haben, daß die Mithrasliturgie das Rahmen-
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ritual darstellt, das die Voraussetzungen nicht nur für eine Begegnung mit dem höchsten Gott, sondern im Zusammenhang damit für eine längere Offenbarungsrede oder einen Offenbarungsdialog darstellt. Mit dem Weggang des Gottes endet das eigentliche Ritual (Z. 732). Der darauf folgende Text (Z. 732-819) bringt Anhänge mit weiteren Riten, die der das Ritual praktizierende Magier an verschiedenen Stellen einzuschieben hat, oder mit Optionen bei der Durchführung, mit vorzubereitenden magischen Substanzen und mit „wissenschaftlichen" Erklärungen von zu verwendenden Ingredienzien und Pflanzen. Für die recht komplizierten Einzelheiten muß auf meinen ausführlichen Kommentar verwiesen werden. Das Ende des Gesamttextes der Mithrasliturgie ist mit dem literarischen Epilog (Z. 819-820) erreicht, in dem die Vollständigkeit des vorliegenden Dokumentes (υπόμνημα) bestätigt wird, das durch ein Paragraphenzeichen vom folgenden Text abgesetzt ist.
IV. Menschwerdung Von der Menschwerdung ist in der Mithrasliturgie an drei Stellen ausführlich die Rede. Alle drei Stellen sind Bestandteile von Gebeten, die an die göttlichen Elemente Geist, Feuer, Wasser und Erde (Z. 516-537), an den Sonnengott Helios (Z. 644-649) und an Mithras (Ζ. 719-724) gerichtet sind. Beim ersten dieser Gebete handelt es sich um das große Eingangsgebet an die Weltelemente (Z. 484-537), beim zweiten und dritten um Begrüßungsgebete an Helios (Z. 639-655) und Mithras (Ζ. 711724). Formgeschichtlich sind es feierlich formulierte Selbstvorstellungen des Akteurs, in denen er sich selbst als Mensch definiert und durch seine Namen identifiziert. Diese Selbstvorstellungen lassen sich leicht aus ihrem Kontext herauslösen und als formelhafte Definitionen des Menschen erkennen, in denen sich eine religionsphilosophisch durchdachte Anthropologie artikuliert.
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Diese T e x t e werfen eine Reihe von Fragen auf, die hier wenigstens genannt werden sollen. Wie ist es zu erklären, daß diese Selbstvorstellungen innerhalb der griechischen magischen Papyri einzigartig dastehen? W o h e r stammen die darin enthaltenen Lehren allgemein, und auf welchem Wege hat der Verfasser speziell von ihnen Kenntnis erhalten? Wie erklärt es sich, daß vergleichbare Selbstvorstellungsformeln auch auf den sogenannten Orphisch-dionysischen Goldplättchen begegnen 3 0 ? Die drei Selbstvorstellungen weisen charakteristische Unterschiede auf, von denen die erste eine religionsphilosophische Verarbeitung kürzerer Formeln darstellt, wie sie in der zweiten und dritten vorliegen. Um mit den letzteren zu beginnen, ist, wie gesagt, die zweite nunmehr integriert in die Begrüßung des Helios. Sie hat, für sich selbst betrachtet, große Ähnlichkeit mit sogenannten Synthemata, d.h. liturgischen Formeln, wie sie aus Mysterienriten bekannt sind. 1. Die Selbstvorstellung vor Helios (Z. 6 4 4 - 6 4 9 ) : „ . . . daß ein Mensch, ich N N , Sohn der N N , geboren aus dem sterblichen Mutterleib der N N und dem keimtragenden Saft, und [daß] dieser, heute von dir wiedergeboren [und] unter so vielen Tausenden unsterblich gemacht, in dieser Stunde, nach dem Ratschluß des überschwenglich guten Gottes . . . "
Die Formel beginnt mit der Selbsteinstufung als „ M e n s c h " (άνθρωπος) und der matrilinearen Selbstidentifizierung durch an dieser Stelle einzusetzende Namen des jeweils agierenden M a giers und seiner Mutter. Definiert wird der Mensch durch eine doppelte Geburt, deren erste die natürliche Erzeugung (γενόμενος) aus dem sterblichen Leib der Mutter und dem Samen des Vaters darstellt. Die zweite Geburt ist die durch Einwirkung des Gottes ,0
S. für Texte, Diskussion und Literatur die Festschrift für Walter Burkert: Ansichten griechischer Rituale, hg. von F. Graf, Stuttgart
1998.
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erfolgte Wiedergeburt (μεταγενυηθείς), dessen Identität mit dem sterblichen Wesen ausdrücklich festgehalten ist (τούτου). Diese Wiedergeburt ist nicht jedem Menschen zugänglich, sondern nur solchen, die durch einen göttlichen Gnadenakt erwählt sind. Wie durch die Aoriste und die Zeitangaben („heute", „in dieser Stunde") festgehalten ist, geschieht sie auf rituellem Wege und besteht in der Verleihung der Unsterblichkeit (άπαθανατισθείς) 31 . Anthropologisch gesehen werden demzufolge zwei Menschenklassen unterschieden: solche, die nur sterblich sind, und solche, die sterblich geboren werden und deren Menschennatur durch Unsterblichkeit überhöht wird. Beide Klassen werden als Menschen angesprochen, wobei jedoch den unsterblich gemachten ein höherer Status zugemessen wird, ohne daß das sterbliche Menschsein als solches verworfen wird. O b die Vergöttlichung als „ w a h r e s " Menschsein oder als seine Überwindung durch Gottwerdung zu verstehen ist, bleibt offen. 2. Die Selbstvorstellung vor Mithras (Ζ. 719-724): „ H e r r , wiedergeboren scheide ich, gewachsen und gemehrt sterbe ich, in lebenzeugender Geburt geboren gehe ich, zum Sterben gelöst, wie du eingesetzt, wie du z u m Gesetz bestimmt und geschaffen hast das Geheimnis. Ich bin PHEROYRA MIOURI."
Der Akteur spricht hier als ein in das Mysterium Eingeweihter. Seine Selbstidentifizierung geschieht am Anfang durch die Anrede an Mithras als „ H e r r " (κύριε), der am Ende die Ich-binFormel mit Nennung seines geheimen N a m e n s (εγώ είμι φερουρα μιουρι), der wohl im Wiedergeburtsritus verliehen wurde, entspricht. Seinen T o d ins Auge fassend, spricht er als Wiedergebo-
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Vgl. den N a m e n άτταθανατισμός, mit dem der Verf. das ganze Ritual benennt (Z. 7 4 1 . 7 4 7 . 7 7 1 ) ; zu αθανασία etc. s.o. Anm. 14.
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rener (παλινγευόμενος) von den empfangenen Segensgaben des Wachstums und der Bereicherung seines Lebens. Sein T o d ist Abgang, Auflösung und Übergang ins jenseitige Leben. So entspricht es der im Mysterienritual empfangenen göttlichen Ordnung. Um welches Mysterium es sich handelt, wird nicht gesagt. Obwohl diese Formel an ihrer jetzigen Stelle in die Begrüßung des Mithras eingearbeitet ist, weist sie doch auf einen ursprünglich anderen Zusammenhang hin. Für sich genommen scheint es sich um eine Sterbeformel zu handeln, die der Wiedergeborene vor seinem natürlichen Tode rezitiert. Die Unterschiede zu der an Helios gerichteten Formel sind deutlich, aber beide Formeln widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich. 3. Das Gebet an die Elemente (Z. 5 1 6 - 5 3 7 ) : „Denn erschauen will ich heute mit unsterblichen Augen, ich, sterblich geboren aus sterblichem Mutterleib, erhöht von großmächtiger Kraft und unvergänglicher Rechten, mit unsterblichem Geiste den unsterblichen Aion und Herrscher der feurigen Diademe, heilig, da geheiligt durch Heiligungsriten, wobei in Heiligkeit auf nur kurze Zeit verharrt meine menschliche Seelenkraft, die ich wieder übernehmen werde nach der jetzigen und mich bedrängenden bitteren N o t , ohne Verkürzung, ich, der N N , Sohn der N N , nach Gottes unveränderlichem Ratschluß EYE YÏA EËI AÖ EIA Y ÏYA ÏEÔ. Da ich es nicht erreichen kann, als sterblich Geborener zugleich mit den goldenen Lichtstrahlen der unvergänglichen Leuchte nach oben zu steigen OËY AEÖ ËYA ËOË IAE ÖIAE, stehe still, vergängliche Menschennatur, und [übernimm] mich sofort [wieder] wohlbehalten nach der unerbittlichen und bedrängenden N o t . Denn ich bin der Sohn PSYCHÖ[N] DEMOY PRÖCHÖ PRÖA, ich bin MACHARPHN ΜΟΥ PRÖPSYCHÖN PRÖE.
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Die hier vorliegende Selbstvorstellung ist umfangreicher als die bisher besprochenen. Es scheint sich um eine sekundäre Bearbeitung kürzerer Formeln zu handeln, die angereichert sind durch liturgische Sprache und religionsphilosophische Erklärungen. Die einleitende Z. 516 bereitet die Aufstiegsvision mit Hilfe „unsterblicher Augen" vor. Sodann wird auf die Formel der sterblichen Geburt aus dem Mutterleib und der vergöttlichenden Begabung mit dem unsterblichen Geiste zurückgegriffen, die die Begegnung mit dem Gott Aion, dem „Herrscher der feurigen Diademe", ermöglicht. Zu den Vorbedingungen gehören auch Heiligungsriten, durch die der Mensch sich wenigstens auf kurze Zeit dem Zugriff des Schicksalszwangs (ανάγκη) entziehen kann. Daraufhin erfolgt die Selbstidentifizierung durch den Namen und die Versicherung, alles geschehe nach göttlichem Ratschluß. In Z. 529-532 wird nochmals hervorgehoben, daß es ohne diese Vorbedingungen für den Sterblichen unmöglich ist, „mit den goldenen Lichtstrahlen der unvergänglichen Leuchte" nach oben zu steigen. Die hiermit genannte Vorstellung bedeutet, daß die Himmelsreise auf den Sonnenstrahlen erfolgt, eine in der Spätantike geläufige Ansicht. Abschließend identifiziert sich der Akteur noch durch geheime Namen als Sohn der Gottheit. Anthropologisch gesehen ist die Entstehung des Menschen durch die Gottheit gewirkt. Danach ist der sterbliche Mensch in seinen Grundlagen gesund und gut. Nur befindet er sich gegenwärtig im Zustand der Unterdrückung durch die Macht des Schicksals (άυάγκη, ειμαρμένη). Die Wiedergeburt gestaltet sich demnach als eine Befreiung durch Vergöttlichung und Geistverleihung. Letztlich wird diese Wiedergeburt bewirkt durch eine Aktivierung der Weltelemente, aus denen nicht nur der Kosmos, sondern auch der Mensch besteht und die im großen Eingangsgebet feierlich angerufen werden. Vorgenommen wird diese Aktivierung im Ritual, an dem der Akteur sowohl aktiv als auch passiv teilnimmt.
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V. Vom alten zum neuen Weltbild Die Thematik von Jenseitsreise, Himmelsschau, Gottesnähe und Gottesferne im Zusammenhang mit der Menschwerdung durchzieht weite Bereiche der Literatur- und Religionsgeschichte. Im Verlauf dieser Geschichte gibt es nicht nur Kontinuität, sondern auch durchgreifende Brüche. Ein ohne Zweifel entscheidender Bruch trat ein, als das antik-mittelalterliche durch das neuzeitliche Weltbild abgelöst wurde. Daß mit dem auf naturwissenschaftlichen Grundlagen beruhenden neuen Weltbild auch die seit alters herrschenden Vorstellungen von Diesseits und Jenseits, Kosmosschau, Gottesnähe und Gottesferne sowie die davon abhängigen Auffassungen von Menschwerdung in eine Krise gerieten, ist eine bekannte Tatsache. Die Auslotung und literarisch-philosophische Verarbeitung dieser Krise beschäftigte das ganze 19. Jahrhundert. Im folgenden soll der Blick auf zwei paradigmatische Texte gelenkt werden, von denen der eine die Anfänge der Krise und der andere ihre schärfste Zuspitzung bezeichnet. Der erste der Texte enthält eine berühmte Episode in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, Buch 1, Kapitel 10. Wie bekannt, setzt sich diese Episode aus mehreren Szenen zusammen, ist aber in sich geschlossen und bietet eine komprimierte Darstellung der Altersphilosophie des Dichters 32 . Die Episode handelt im Schloß der Makarie, die als überragende Gestalt im Hintergrund bleibt, während der Vordergrund durch die Begegnung Wilhelms mit dem Mathematiker und skeptischen Philosophen Montan bestimmt wird; das Mädchen Angela dient als Vermittlerin zwischen Makarie und den beiden 32
Die Episode findet sich nur in der zweiten Fassung von 1 8 2 9 , wobei Goethe gewisse Ansätze der ersten Fassung von 1 8 2 1 völlig umarbeitete. Im folgenden wird der T e x t zitiert (mit Seite und Zeile) nach der Hamburger Ausgabe von Goethes Werken, Band VIII, textkritisch durchgesehen und kommentiert von E. Trunz, München l 2 1 9 8 9 , 1 1 4 1 2 8 (mit Kommentar 5 8 0 - 5 9 6 ) .
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Hauptakteuren. Voraus geht eine Vorlesung M o n t a n s über mathematisch-astronomische Themen, die aber nicht mitgeteilt wird, deren Wirkung auf Wilhelm aber in seinem Ausruf gebündelt ist, der zugleich das Thema der folgenden Episode bildet: „Große Gedanken und ein reines Herz, das ist's, was wir uns von Gott erbitten sollten!" (S. 118, Z. 25-27) Die Vorlesung Montans, so gelehrt sie gewesen sein mag, ist nicht die Sache Wilhelms; diese ist vielmehr die Anschauung, die, von Montan herbeigeführt, durch den Aufstieg auf den Turm einer Sternwarte erfolgt. Hier erlebt Wilhelm, wie er betont, zum ersten Mal in seinem Leben eine Himmelsschau (S. 118, Z. 35-38): „Die heiterste Nacht, von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden, welcher zum erstenmale das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken glaubte".
Literarisch erinnert die Schilderung an antike Himmelsreisen, aber bei dieser Himmelsschau handelt es sich vordergründig um ein natürliches Begebnis, selbst wenn Wilhelm dessen Einzigartigkeit vom „gemeinen Leben" abgehoben sieht (S. 118, Z. 38 S. 119, Z. 5). So ist denn auch seine Reaktion typisch: Das Schließen der Augen kehrt die Perspektive nach innen und führt zu einem Dialog mit seinem Geiste (S. 119, Z. 6-10). Seine Frage richtet sich auf die Selbsterkenntnis: „Was bin ich denn gegen das All? wie kann ich ihm gegenüber, wie kann ich in seiner Mitte stehen?"
Als Antwort „auf das Rätsel des gegenwärtigen Augenblicks" faßt er zusammen, was als stoischer Konsens gelten kann: „Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die nach vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Innersten, Tiefsten versammelt, wenn er sich fragt:,Darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes, um einen reinen Mittelpunkt kreisend, hervortut? Und selbst wenn es dir schwer würde, diesen Mittelpunkt in deinem Busen aufzufinden, so würdest
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Hans Dieter Betz d u ihn d a r a n e r k e n n e n , d a ß eine w o h l w o l l e n d e , w o h l t ä t i g e W i r k u n g von ihm ausgeht und von ihm Z e u g n i s gibt'. Wer soll, wer k a n n aber a u f sein v e r g a n g e n e s L e b e n z u r ü c k b l i c k e n , o h n e g e w i s s e r m a ß e n irre zu w e r d e n , d a er m e i s t e n s f i n d e n w i r d , d a ß sein W o l l e n richtig, sein T u n f a l s c h , sein B e g e h r e n t a d e l h a f t und sein E r l a n g e n d e n n o c h erw ü n s c h t g e w e s e n ? W i e o f t h a s t d u diese G e s t i r n e leuchten g e s e h e n , u n d h a b e n sie d i c h nicht j e d e r z e i t a n d e r s g e f u n d e n ? Sie a b e r s i n d immer dieselbigen und sagen immer dasselbige:
,Wir
bezeichnen',
wiederholen sie,,durch unsern gesetzmäßigen G a n g , T a g und Stunde; f r a g e d i c h a u c h , w i e v e r h ä l t s t d u d i c h zu T a g u n d S t u n d e ? ' - U n d s o k a n n ich d e n n d i e s m a l a n t w o r t e n : , D e s g e g e n w ä r t i g e n V e r h ä l t n i s s e s h a b ' ich m i c h nicht zu s c h ä m e n , m e i n e A b s i c h t ist, einen
edlen
F a m i l i e n k r e i s in allen seinen G l i e d e r n e r w ü n s c h t v e r b u n d e n herzustellen; d e r W e g ist bezeichnet. Ich soll e r f o r s c h e n , w a s edle Seelen a u s e i n a n d e r h ä l t , soll H i n d e r n i s s e w e g r ä u m e n , v o n w e l c h e r A r t sie auch seien.' Dies darfst du vor diesen himmlischen
Heerscharen
b e k e n n e n ; achteten sie deiner, sie w ü r d e n z w a r ü b e r deine B e s c h r ä n k t heit l ä c h e l n , a b e r sie ehrten g e w i ß d e i n e n V o r s a t z u n d b e g ü n s t i g t e n d e s s e n E r f ü l l u n g " (S. 1 1 9 , Z . 1 1 - S. 1 2 0 , Z . 5 ) .
Der innere Dialog ist beendet, die Augen sind wieder geöffnet, „ d a fiel ihm Jupiter in die Augen, das Glücksgestirn, so herrlich leuchtend als je; er nahm das Omen als günstig auf und verharrte freudig in diesem Anschauen eine Zeitlang" (S. 120, Z . 7-10). Aber nun wird Wilhelm von M o n t a n vom Turm herabgerufen, um ihn durch ein Fernrohr den Stern „als ein himmlisches Wunder anschauen" zu lassen (S. 120, Z. 14). Allerdings sind diese Phänomene für den Astronomen nichts als sogenannte Naturwunder, keine göttlichen Offenbarungen. Nachdem Wilhelm einige Zeit versunken durch das Fernrohr geblickt hat, stellt er den von seinem Instrument begeisterten Sternforscher vor die grundsätzliche Problematik des gerade Erlebten. Goethe zufolge bezeichnet die Fernrohr-Szene den fundamentalen Bruch zwischen Mittelalter und Moderne. Dies rührt daher, daß das Fernrohr die dem Menschen seit jeher gewohnte Perspektive verrückt und damit sein Selbstverständnis im Gegenüber zum K o s m o s aus dem Gleichgewicht bringt. Mit den Worten Wilhelms:
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„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen danken soll, dal? Sie mir dieses Gestirn so über alles M a ß näher gerückt. Als ich es vorhin sah, stand es im Verhältnis zu dem übrigen Unzähligen des Himmels und zu mir selbst; jetzt aber tritt es in meiner Einbildungskraft unverhältnismäßig hervor, und ich weiß nicht, o b ich die übrigen Scharen gleicherweise heranzuführen wünschen sollte. Sie werden mich einengen, mich beängstigen" (S. 1 2 0 , Z . 1 6 - 2 3 ) . D i e W i r k u n g d e r S c h a u d u r c h d a s F e r n r o h r ist z w e i f a c h e r A r t . E i n e r s e i t s h a t W i l h e l m V e r s t ä n d n i s für die w i s s e n s c h a f t l i c h e Begeisterung M o n t a n s :
„ I c h begreife r e c h t g u t , d a ß es
Euch
H i m m e l s k u n d i g e n die g r ö ß t e F r e u d e g e w ä h r e n m u ß , d a s u n g e h e u r e W e l t a l l n a c h u n d n a c h s o h e r a n z u z i e h e n , w i e ich hier d e n P l a n e t e n s a h u n d s e h e " (S. 1 2 0 , Z . 2 7 - 3 0 ) . A n d e r e r s e i t s a b e r m a c h t er die E r f a h r u n g g e l t e n d , d a ß d e r b l o ß e G e b r a u c h e i n e r t e c h n i s c h e n E r r u n g e n s c h a f t keine sittlich m o t i v i e r e n d e W i r k u n g auf den Menschen ausübt: „Aber erlauben Sie mir, es auszusprechen: ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hülfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner innern Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen. Sooft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selbst nicht; ich sehe mehr als ich sehen sollte, die schärfer gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Innern, und ich lege die Gläser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist" (S. 1 2 0 , Z . 3 0 - S. 1 2 1 , Z . 7). W i l h e l m s A b n e i g u n g g e g e n Brillen e r k l ä r t d e m S i t t e n b e o b a c h t e r , „ w o h e r sich m a n c h e s in die M e n s c h h e i t e i n g e s c h l i c h e n h a t , w o r ü b e r m a n sich b e k l a g t . S o bin ich ζ. B. ü b e r z e u g t , d a ß die Gewohnheit,
Annäherungsbrillen
zu t r a g e n ,
an dem
Dünkel
u n s e r e r j u n g e n L e u t e h a u p t s ä c h l i c h s c h u l d h a t " (S. 1 2 1 , Z .
12-
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15). Goethe benutzt die scheinbar triviale Brillentheorie, um an ihr ein Hauptproblem der modernen technischen Zivilisation zu exemplifizieren. Die dünkelhafte Vorliebe für künstlich verrückte Perspektiven, sogenannte virtuelle Realitäten, geht H a n d in H a n d mit dem Verfall bisher geltender moralischer Maßstäbe; wie es zu einer Neubegründung und Neufassung moralischethischer Maßstäbe kommen kann und wie diese in der Gesellschaft durchgesetzt werden sollen, ist umstritten. Hierauf wechselt die Szene. Motiviert durch Wilhelms Reisemüdigkeit empfiehlt M o n t a n ihm ein Schläfchen, um dann mit frischem Blick für den Aufgang der Venus bereit zu sein, der dem Sonnenaufgang voraus geht. Wilhelm legt sich nieder und ist augenblicklich in tiefem Schlaf versunken. Als die Zeit gekommen ist, weckt ihn M o n t a n auf. Jener springt auf und eilt zum Fenster; „dort staunte, starrte er einen Augenblick, dann rief er enthusiastisch: .Welche Herrlichkeit! welch ein Wunder!' Andere Worte des Entzückens folgten, aber ihm blieb der Anblick immer ein Wunder, ein großes W u n d e r " (S. 121, Z. 29-32). Wilhelms Exaltiertheit kommt dem Astronomen sonderbar vor, und er bemerkt: „ D a ß Ihnen dieses liebenswürdige Gestirn, das heute in Fülle und Herrlichkeit wie selten erscheint, überraschend entgegentreten würde, könnt' ich voraussehen, aber das darf ich wohl aussprechen, ohne kalt gescholten zu werden: kein Wunder seh' ich, durchaus kein W u n d e r ! " Paradoxerweise sehen die beiden Freunde die gleichen Phänomene, aber ihre Sicht ist grundverschieden: Der eine rühmt sich immerzu der Wunder, die er zu bestaunen glaubt; der andere sieht Natur und keine Wunder, ist aber gleichwohl ein „begeisterter" Anhänger seiner Wissenschaft. Wie kommt es zu dieser Verschiedenheit? Für Wilhelm ist der Sachverhalt eindeutig. M o n t a n kann gar keine Wunder sehen, denn er bringt nicht die dazu nötigen Voraussetzungen mit. Jener aber kann vom Wunder sagen: „ d a ich es mitbringe, da ich es in mir trage, da ich nicht weiß, wie mir geschieht" (S. 121, Z . 33 - S. 122, Z . 1). Die Erklärung erfolgt durch den Bericht Wilhelms über eine Traumvision, die er wäh-
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rend seines Schlafes erlebt hat. In dieser Traumvision fühlte er sich zurückversetzt in die Begegnung mit Makarie am Vortage. Was er schaut, ist die Erscheinung der Makarie als einer Göttin, wie in einer Theaterszene: „Der grüne Vorhang ging auf. Makariens Sessel bewegte sich hervor, von selbst wie ein belebtes Wesen; er glänzte golden, ihre Kleider schienen priesterlich, ihr Anblick leuchtete sanft; ich war im Begriff, mich niederzuwerfen. Wolken entwickelten sich um ihre Füße, steigend hoben sie flügelartig die heilige Gestalt empor, an der Stelle ihres herrlichen Angesichtes sah ich zuletzt, zwischen sich teilendem Gewölk, einen Stern blinken, der immer aufwärts getragen wurde und durch das eröffnete Deckengewölb sich mit dem ganzen Sternhimmel vereinigte, der sich immer zu verbreiten und alles zu umschließen schien" (S. 1 2 2 , Z. 4 - 1 5 ) .
In diesem Augenblick erfolgt die Peripetie. Montan kommt herein, weckt Wilhelm auf und reißt ihn aus seiner Traumvision heraus. Dieser springt auf und taumelt schlaftrunken nach dem Fenster, „den Stern noch lebhaft in meinem Auge, und wie ich nun hinblicke - der Morgenstern, von gleicher Schönheit, obschon vielleicht nicht von gleicher strahlender Herrlichkeit, wirklich vor mir! Dieser wirkliche, da droben schwebende Stern setzt sich an die Stelle des geträumten, er zehrt auf, was an dem Erscheinenden Herrliches war, aber ich schaue doch fort und fort, und Sie schauen ja mit mir, was eigentlich vor meinen Augen zugleich mit dem Nebel des Schlafes hätte verschwinden sollen" (S. 122, Z. 16-25). Das Traumerlebnis hat Sicht und Wahrnehmung Wilhelms verwandelt, so daß der Stern, den er im Traume sah, mit der Schau des am Himmel aufgehenden verschmilzt. Er sieht mit anderen Augen als Montan, und dies erklärt sein Staunen vor dem Wunder. Die Szene endet mit dem nachsichtig-ironischen Kommentar des Astronomen: „Wunder, ja Wunder! Sie wissen selbst nicht, welche wundersame Rede Sie führten. Möge uns nur dies nicht auf den Abschied der Herrlichen hindeuten, welcher früher oder später eine solche Apotheose beschieden ist" (S. 122, Z. 26-29).
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Die Bemerkung markiert den scharfen Bruch zwischen der alten Welt mit ihrer mythischen Welterfahrung und der neuen wissenschaftlich-technischen Weltanschauung. Der Astronom steht auf der Seite der Moderne; er kennt noch die Worte, er spürt auch Begeisterung für die wissenschaftliche Naturerkenntnis, aber das Erlebnis göttlicher Wunder und Offenbarung ist ihm fremd. Dagegen befindet sich Wilhelm auf der Schwelle: auch er ist ein neuzeitlicher Mensch, aber er ist noch fähig, wie ein antiker Mensch an Wunder und Offenbarung nicht nur nach der Theorie zu glauben, sondern sie im Anschauen und Staunen zu erleben. Gottesnähe und Gottesferne sind für beide grundsätzlich verschieden angelegt; wie sie sich genauer zueinander verhalten, ist offen gelassen. Damit ist auch die Vorstellung von Menschwerdung von der gemeinsamen Grundlage abgelöst und der jeweiligen individuellen Ausformung überlassen. Was die Freunde, zu denen ja auch die empfindsame Angela und ganz besonders die weise Makarie gehören, miteinander verbindet, ist, daß sie Spielarten Goethescher Naturmystik verkörpern. Goethes Roman beläßt die Dinge bei diesen erzählerischen Andeutungen, wie es ja der erste Spruch aus Makariens Archiv verfügt: „Die Geheimnisse der Lebenspfade darf und kann man nicht offenbaren; es gibt Steine des Anstoßes, über die ein jeder Wanderer stolpern muß. Der Poet aber deutet auf die Stelle hin" (S. 4 6 0 , Nr. 1). Der andere paradigmatische Text stammt von Friedrich Nietzsche, der in seiner Schrift Die fröhliche Wissenschaft in kaum zu überbietender Schärfe das Ende des alten Weltbildes und des damit gegebenen Menschenbildes „testamentarisch" so formuliert, daß er die Rede vom Tode Gottes als „das grösste neuere Ereignis" deklarierte 33 und mit der Entstehung des „Übermenschen" verband: „Todt sind alle Götter; nun wollen wir, dass der
31
F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke. Kritische Studienausgabe, Band 3, hg. v. G. Colli/M. Montinari, Berlin 2 1 9 8 8 , 5 7 3 .
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Übermensch lebe" 3 4 . Dieser Übermensch kann nur noch als überwundener Mensch definiert werden, der gegenwärtige Mensch somit nur als Übergangserscheinung. M i t anderen Worten: Ohne das Gegenüber zu Gott k o m m t auch die Definition des vorfindlichen Menschen in Wegfall, und der Gottesferne entspricht die Menschenferne, die Erkenntnis: „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst; das hat seinen guten Grund ... W i r bleiben uns eben nothwendig fremd, wir verstehen uns nicht, wir m ü s s e n
uns verwechseln, für uns heisst der Satz
in alle Ewigkeit: J e d e r ist sich selbst der Fernste , . . ' " 3 5 .
VI. Zur Bedeutung Abschließend seien noch einige Bemerkungen zur Frage der Bedeutung dieser T e x t e für den heutigen Menschen hinzugefügt. Ich kann davon ausgehen, daß meinen Zuhörern die Aktualität der Mithrasliturgie für Religionsgeschichte und Theologie bereits aufgegangen ist. W a s Goethe in dichterischer Vorahnung andeutete, brachte Nietzsche auf die Formel, die zur philosophischen Grundlage des 2 0 . Jahrhunderts wurde und die auch der Theologie zum Schicksal werden sollte. Seit Nietzsches Deklaration sind über hundert Jahre vergangen, in denen Goethes Vorahnungen und Nietzsches Ankündigungen in einer Weise geschichtliche Wirklichkeit geworden sind, die alles vorige Wähnen und Warnen in den Schatten stellte. 34
F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, in: Werke. Kritische Studienausgabe, Band 4, 1 0 2 . Dieser Zusammenhang ist schon angedeutet in der berühmten Parabel „Der tolle Mensch" (Werke. Kritische Studienausgabe, Band 3, 4 8 0 - 4 8 2 , Nr. 1 2 5 ) und ausgeführt vor allem im Zarathustra IV, Abschnitt „Vom höheren Menschen" (ibid., 3 5 6 368).
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F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Vorrede, 1 (Werke. Kritische Studienausgabe, Band 5, 2 4 7 - 2 4 8 ) .
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So ist die Frage noch einmal zu stellen: Was können uns heute religionsgeschichtliche Texte wie die Mithrasliturgie und die mit ihr zusammenhängende Literatur bedeuten? Religionsgeschichtliche Texte sind ja nicht bloß unterhaltsame Kuriositäten, sondern sie ermöglichen es, ernsthaft Einblick zu nehmen in andere Welten, die insgesamt als vergangen gelten mögen, die aber durch eingehendes Studium in Erinnerung gerufen und in ihrer fortwährenden Präsenz erkannt werden können. Geschichtliches Verstehen ist Verstehen des Gegenwärtigen als Gewordenes, wobei das Vergangene noch zugegen ist, sofern es in Texten und Monumenten in der Erinnerung aufgehoben ist. Diese Erinnerung stellt Vorgänge und Weichenstellungen im Denken wieder vor Augen und ermöglicht damit ein Verstehen der geschichtlichen Ereignisse, die über uns gekommen sind. Die besprochenen Texte fordern dazu heraus, grundsätzliche Fragen nicht nur der religionswissenschaftlichen Interpretation, sondern vor allem auch der Anthropologie und Theologie neu zu überdenken. Die Texte lassen darauf schließen, daß die damaligen Priester-Magier, die natürlich unter den Bedingungen eines vorwissenschaftlichen Weltbildes arbeiteten, über Einsichten in das Menschsein verfügten, die wir Heutigen allzu schnell als überholten Aberglauben abtun. Wenn wir Heutigen unsere eigene Situation kritisch ins Auge fassen, sehen wir uns mit einem Dilemma konfrontiert: Einerseits kann eine Rückkehr zu einem antik-vorwissenschaftlichen Weltbild nicht in Frage kommen; andererseits verbietet sich nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ein unkritischer Glaube an den modernen Mythos vom unaufhaltsamen wissenschaftlich-zivilisatorischen Fortschritt. Was heute geboten und möglich scheint, ist, einzelne Probleme erneut zu durchdenken. Ich möchte mich hier auf drei dieser Sachverhalte beschränken, die sich durch das Studium der Mithrasliturgie nahelegen. 1. Wenn der antike Mensch, wie gezeigt wurde, ein Verständnis seiner selbst im Gebet an die Gottheit artikuliert, bedeutet dies zunächst einmal, daß er sich als άνθρωπος im Gegenüber zur
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Gottheit (θεός) definiert. Die Lehre, daß Menschwerdung „vor Gott" (coram Deo) in der Teilnahme am Ritus zu erfahren und im Gebet zu artikulieren ist, ist ja die Grundlage aller antiken Anthropologie gewesen. Diese Voraussetzung gilt jedoch für die Moderne nur noch bedingt, so daß diese bewußt und zu Recht von einer „Neuen Anthropologie" sprechen kann. Für sie bildeten Nietzsches Formeln gewissermaßen den Ausgangspunkt. Aber das 20. Jahrhundert hat auch das Scheitern des sogenannten „Übermenschen" in kaum zu überbietender Weise vor Augen geführt. In dieser Situation muß die Frage in aller Klarheit gestellt werden: Kann es, und wie sollte es, bei einem grundsätzlichen und unwiderruflichen Verzicht auf eine bewußte Gottesbegegnung je zu einem angemessenen Menschenverständnis kommen? Während die sich mit dem Menschen befassenden Wissenschaften über ein mit früheren Zeiten nicht zu vergleichendes Faktenund Datenwissen verfügen, herrscht zugleich über das, was unter Menschsein zu verstehen ist, in der menschlichen Gesellschaft eine tiefe Verunsicherung und in deren Folge soziale Zerrüttung. Was unter Menschsein im tieferen Sinne zu verstehen ist, geht über das bloße Erfassen von technischen Daten und Fakten weit hinaus. Ein Hiatus zwischen diesen beiden Seiten bedroht den Menschen und damit auch die Wissenschaften. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, daß der weitaus größte Teil der Weltbevölkerung daran festhält, das Menschsein im Gegenüber zur Gottheit zu definieren. Die von der westlichen Zivilisation propagierte Auflösung religiös fundierter Lebensformen stößt dagegen auf zum Teil aggressiven Widerstand. Spricht sich hier nicht doch auch, neben allem anderen, was dazu zu sagen ist, ein berechtigter anthropologischer Realismus aus? 2. Die Mithrasliturgie enthält differenzierte Erkenntnisse über die Vorgänge bei der Menschwerdung. Menschwerdung ist als lebenslanger Prozeß verstanden, wobei die doppelte Geburt die wichtigste Rolle spielt. Die biologische Geburt des Menschen ist als kosmischer Naturvorgang gesehen, hinter dem die Welt-
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elemente als agierende Kräfte stehen. Obwohl das Menschenkind normalerweise ohne Defekt zur Welt kommt, bedarf es zur vollen Entwicklung einer zweiten Geburt, der sogenannten Wiedergeburt (παλιγγενεσία). Auch diese Wiedergeburt vollzieht sich als kosmischer Naturvorgang, wird aber vermittelt durch einen Initiationsritus, durch den der Mensch zu einer geistigen Ekstase, Schau des Kosmos und Begegnung mit der Gottheit geführt wird. Im Verlauf dieses Initiationsritus lernt der Mensch Grundformeln (Synthemata) kennen, die sein Menschsein definieren. In den Selbstvorstellungen artikuliert er sich demnach als der, der er sein soll und ist. Diese Selbsterkenntnis ist also nicht zu haben als ein bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen von Fakten und Daten, sondern sie ist im strengen Sinne eine Geisteserfahrung. Die heutige Zivilisation hat den fundamentalen Bereich des Rituellen aus dem alltäglichen Leben weitgehend entfernt und glaubt, abgesehen von Traditionsresten, darauf verzichten zu können. Damit wird der komplizierte Menschwerdungsprozeß, für den die Antike ein feines Gespür hatte, den unvorbereiteten und hilflos dahintreibenden Individuen überlassen. Wie es dabei zu einer bewußten Menschwerdung kommen kann, bleibt offen. Das Problem wird noch verschärft, wenn, wie es weitgehend der Fall ist, Familie und Schule auf die kulturelle Erziehung der Kinder und Jugendlichen verzichten. 3. Was bedeuten die durch die Mithrasliturgie aufgeworfenen Fragen für die christliche Theologie? Kurz gesagt: Auf dem Hintergrund der Mithrasliturgie heben sich die Konturen des christlichen Verständnisses von Gott, Welt und Mensch scharf ab. Nicht daß die Thematik von Gottesbegegnung und Menschwerdung etwa verschwunden wäre; sie liegt auch in der christlichen Theologie von Anfang an vor, aber doch in einer grundlegend anderen Weise. Der neutestamentlichen Christologie zufolge steigt der Sohn Gottes vom Himmel herab, und zwar nicht nur von der achten in die siebte Sphäre, sondern auf die Erde, wo er sich in dem Menschen Jesus von Nazareth inkarniert. Zu einer Begegnung mit dem Sohne Gottes bedarf es demnach keiner
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Jenseitsreise. Vielmehr geschieht die Begegnung mit Gott durch die Gegenwart Christi im Wort der Verkündigung und in den gottesdienstlichen Riten, vor allem T a u f e und Herrenmahl. Die Evangelien stellen den in Jesus Mensch gewordenen Gottessohn vor die Augen des Geistes mit dem Ziele der Menschwerdung der Glaubenden. D a s Leben der Christen, wenn es genuin ist, geschieht danach in der Gemeinschaft der Kirche als fortwährende Gottesbegegnung und Menschwerdung. Gilt diese Lehre als gemeinchristlich, so wird im einzelnen noch wieder differenziert, und zwar im Rahmen der unterschiedlichen theologischen Konzeptionen der neutestamentlichen und späteren Autoren. Die christlichen Glaubensinhalte sind einerseits als Bestandteil des antiken Weltbildes zu bestimmen, andererseits erfolgte ihre Entwicklung in theologischen Auseinandersetzungen mit den antiken Religionen, ihren Mythen, Riten und theologischen Vorstellungen. Die Herausforderung, vor die sich die heutige christliche Theologie gestellt sieht, ist im Grunde noch immer die gleiche: Begnügt sie sich damit, traditionelle Denk- und Lebensformen nach Möglichkeit erhalten zu wollen, oder bringt sie die Fähigkeit und den M u t auf, auch in Zukunft die Wege zu einer glaubwürdigen Menschwerdung aufzuzeigen?
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DEUTSCHE ÜBERSETZUNG DER ,MITHRASLITURGIE'* [f. 7 r e c t o ] 475
Sei mir gnädig, Vorsehung und (Welt-)Seele, der ich diese
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unverkäuflichen, überlieferbaren Mysterien niederschreibe;
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für mein einziges Kind aber bitte ich um Unsterblichkeit, eine Eingeweihte dieser unserer Kraft,
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(du mußt nun, Tochter, Säfte nehmen
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von Pflanzen und Spezereien, die dir
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[noch bezeichnet werden] sollen am Ende meines heiligen
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Schriftwerks), die der große Gott Helios Mithras
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mir hat übergeben lassen von seinem Erzengel,
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so daß ich allein als Bittsteller [? Adler?] den Himmel
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beschreite und erschaue alles.
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Die Anrufung des Gebetes lautet so:
486
Erster Ursprung meines Ursprungs AEËIOYÔ
487
Erster Anfang meines Anfangs PPP SSS PHR[.],
489
Geist des Geistes, des Geistes in mir erster MMM,
[f. 7 verso] 490
Feuer, von Gott gegeben zu meiner Mischung der Mischungen in
491
mir, des Feuers in mir erstes ÈY ËIA EË
492
Wasser des Wassers, des Wassers in mir erstes ÖÖÖ AAA EEE
493/494
Erdstoff, des Erdstoffs in mir erster YË YÖE
495
mein, des N N , Sohnes der N N , vollkommener Körper,
496
durchgebildet von ruhmvollem Arm
497
und unvergänglicher Rechten in lichtloser und lichtvoller
498
Welt, in unbeseelter und beseelter YËI AYI EYÖIE.
*
Die Übersetzung folgt im großen und ganzen Preisendanz (siehe Anm. 4), der seinerseits Dieterichs Teilübersetzung (wie Anm. 3) bearbeitet hat. Meine hier vorgelegte Übersetzung geht aber an einer Reihe von Stellen eigene Wege, worüber in meinem in Arbeit befindlichen Kommentar Rechenschaft gegeben wird. Die Zeilenzahlen entsprechen dem griechischen Text und stimmen daher mit der Übersetzung nur ungefähr überein.
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499 500 501 502 503 504 505 506 507/508 509 510 511 512 513 514 515 516 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531
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Hat es euch aber gefallen METERTA PHOTH (METHARTHA PHËRIË, in einer Variante) ÏEREZATH, mich wiederzugeben der Geburt zur Unsterblichkeit, und zugleich damit meiner eigentlichen Natur, so will ich, nach der jetzigen und mich heftig bedrängenden Not, selbst erschauen den unsterblichen Ursprung mit dem unsterblichen Geiste ANCHREPHRENESOYPHIRIGCH, mit dem unsterblichen Wasser ERONYÏ PARAKOYNËTH, mit der unvergänglichen Luft EÏOAË PSENABÖTH, damit ich im Geiste wieder geboren werde KRAOCHRAX R OÏM ENARCHOMAI und in mir wehe der heilige Geist NECHTHEN APOTOY NECHTHIN ARPI ΕΤΗ, damit ich bewundern werde das heilige Feuer KYPHE, damit ich erschaue das abgründige, schauerliche Wasser des Aufgangs NYÖ THESÖ ECHO OYCHIECHÖA und mich erhöre der lebenzeugende und ringsumfließende Äther ARNOMËTHPH. Denn erschauen will ich heute mit unsterblichen Augen, ich, sterblich geboren aus sterblichem Mutterleib, erhöht von großmächtiger Kraft und unvergänglicher Rechten, mit unsterblichem Geiste den unsterblichen Aion und Herrscher der feurigen Diademe, heilig, da geheiligt durch Heiligungsriten, wobei in Heiligkeit auf nur kurze Zeit verharrt meine menschliche Seelenkraft, die ich wieder übernehmen werde nach der jetzigen und mich bedrängenden, bitteren Not, ohne Verkürzung, ich, der NN, Sohn der N N , nach Gottes unveränderlichem Ratschluß EYE ΥΪΑ EËI AÖ ΕΪΑΥ ÍYA ÏEÔ. Da ich es nicht erreichen kann, als sterblich Geborener zugleich mit den goldenen Lichtstrahlen der unvergänglichen Leuchte nach oben zu
46 532 533
Hans Dieter Betz steigen OEY AEO ΕΥΑ EOE YAE ΟΙΑΕ, stehe still, vergängliche M e n s c h e n n a t u r , und [übernimm] mich sofort [wieder] wohlbehalten
534 535 536 537 538
nach der unerbittlichen und bedrängenden N o t . Denn ich bin der Sohn PSYCHÖ[N] D E M O Y PROCHÖ PRÖA, ich bin MACHARPHN M O Y PRÖPSYCHÖN PRÖE. H o l e von den Strahlen Atem, dreimal einziehend, so sehr du kannst,
539 540 541 542
und du wirst dich gehoben und zur H ö h e hinüberschreiten sehen, so d a ß du mitten in der Luft zu sein vermeinst. Und du wirst nichts hören, weder M e n s c h noch sonst ein W e s e n , und du wirst auch nichts erblicken [f. 8 recto]
543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558
von den Sterblichen der Erde in jener Stunde: lauter Unsterbliches wirst du sehen. Denn schauen wirst du jenes Tages und jener Stunde göttliche Konstellation: die den Pol umwandelnden G ö t t e r , wie sie zum Himmel hinaufschreiten, andere aber, wie sie herabschreiten. Die Wanderung der erschauten G ö t t e r wird durch die Sonnenscheibe, meinen V a t e r , den G o t t , sichtbar werden, ebenso aber auch der sogenannte Aulos, der Ursprung des diensttuenden Windes; denn du wirst von der Sonnenscheibe etwas wie eine R ö h r e hängen sehen. N a c h den Regionen des Westens hin wirst du in unermeßlicher Länge als O s t w i n d , wenn er gerade dem Osten zugewiesen ist, und ebenso umgekehrt, wenn der andere [der Westwind] dem W e s t e n [zugeteilt ist], das Bild [der Aulosröhre] gewendet sehen. D u wirst aber sehen, wie die G ö t t e r scharf auf dich starren und gegen dich heranrücken. D a n n lege du sofort den Zeigefinger der Rechten auf den M u n d und sprich:
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559 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582
583 584 585 586 587
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Schweigen, Schweigen, Schweigen, Symbol des lebendigen, unvergänglichen Gottes; schütze mich, Schweigen NECHTHEIR THANMELOY. Dann pfeife in langem Pfeifen zweimal, dann schnalze und sprich: PROPROPHEGGË MORIOS PROPHYR PROPHEGGË NEMETHIRE ARPSENTEN PITËTMI MEÖY ENARTH PHYRKECHÖ PSYRIDARIÖ TYRË PHILBA. Und dann wirst du sehen wie die Götter gnädig dich anblicken und nicht mehr gegen dich heranrücken, sondern sich zu dem eigentlichen Standort ihrer Tätigkeit begeben. Wenn du nun siehst, daß die obere Welt rein ist und sich im Kreise bewegt und keiner der Götter oder Engel mehr heranrückt, so mache dich gefaßt, ein gewaltiges Donnergetöse zu vernehmen, so daß du in Schrecken gerätst. Du aber sprich wiederum: Schweigen, Schweigen! (Formel) Ich bin ein Stern, der mit euch zieht, wenn auch aus der Tiefe aufglänzend OXY O XERTHEYTH. Hast du das gesprochen, wird sich die Sonnenscheibe sofort entfalten. Hast du aber das zweite Gebet gesprochen, da es heißt „Schweigen, Schweigen" und so fort, pfeife zweimal und schnalze zweimal, und sogleich wirst du sehen, wie von der Sonnenscheibe her Sterne herankommen, [fünf]zackige in großer Menge, und den ganzen Luftraum füllen. Du aber sprich wieder: Schweigen, Schweigen! Und hat die Sonnenscheibe sich geöffnet, wirst du sehen einen feuerlosen Kreis und feurige abgeschlossene Tore. Du aber sprich sofort das hier folgende Gebet, deine Augen schließend. Drittes Gebet: Erhöre mich,
48 588 589 590
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höre mich, den NN, Sohn der NN. Herr, der du zusammengebunden hast mit deinem Geiste die feurigen Schlösser der vierfachen Wurzel, Feuerwandler PENTITEROYNI,
591 592 593
des Lichtes Schöpfer (andere: Verschließer) SEMESILAM, Feuerhauchender PSYRINPHEY, Feuermutiger IAO, Geistleuchtender OAÏ,
594
Feuerfroher ELOYRE,
595
Aion ACHBA,
Schönleuchtender AZAÏ, Lichtherrscher PEPPER PREPEMPIPI,
59 6
Feuerleibiger PHNOYËNIOCH,
597
Feuersäender AREI EÏKITA,
598
Feuertosender GALLABALBA,
Lichtspender, [f. 8 verso] Lichtgewaltiger AIÖ,
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Feuerwirbelnder PYRICHI BOOSÉIA, Lichtbeweger SANCHERÖB,
600
Blitztosender IE ÖE IÖElÖ, Ruhm des Lichts BEEGENËTE,
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Mehrer des Lichts SOYSINEPHIEN, Erhalter des Lichts durch Feuer SOYSÏNEPHI ARENBARA-
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ZEI MARMARENTEY. Gestirnbezwinger,
603
öffne mir PROPROPHEGGË EMETHEIRE
604 605
weil ich anrufe wegen der drängenden und bitteren und
MORIOMOTYRËPHILBA,
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unerbittlichen Notwendigkeit die Namen, die noch nie Eingang fanden
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in sterbliche Natur und nicht gesprochen wurden
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in artikulierter Aussprache von menschlicher Zunge oder
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sterblichem Laut oder sterblicher Stimme,
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die unsterblich lebenden und preiswürdigen Namen EEÖ OEEÖ IÖÖ
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OË EEÖ EEÖ OË EÖ IÖÖ OËËE ÔËE
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ö o E iE EÖ OÖ OE IEÖ OË ö o E IEÖ OE IEEÖ
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EE IÖ OÉ IOE ÖEÖ EOE OEÖ ÖIE ÖIE EÖ
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ΟΙ III E o E ÖYE EÖOEE EÖ EIA AEA EEA
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EEEE EEE EEE IEÖ EEÖ OEEEOE EEÖ
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EYÖ OE EIÖ EÖ ÖE ÖE EE OOO YIÖE. Das alles sprich mit Feuer und Geist beim ersten Male bis zum Ende, dann ebenso, wenn du zum zweiten M a l beginnst, bis du allesamt genannt hast die sieben unsterblichen Weltengötter. Hast du das gesprochen, wirst du vernehmen Donner und Krachen des umgebenden Raumes; ebenso wirst du fühlen, daß du selbst erschüttert bist. Dann sprich wiederum: Schweigen! (Formel) Darauf öffne die Augen, und du wirst die Tore offen sehen und die Welt der Götter, die innerhalb der Tore ist, so daß von des Anblickes Lust und Freude dein Geist sich mitreißen läßt und aufwärts steigt. Nun bleib stehen und ziehe sogleich von dem göttlichen Wesen, es unverwandt anblickend, in dich den Geisthauch. Und ist dann deine Seele wieder zu sich gekommen, sprich: Komm heran, Herr ARCHANDARA PHÖTAZA PYRIPHÖTA ZABYTHIX ETIMENMERO PHORATHEN ERIE PROTHRI PHORATHI. Nach diesen Worten werden sich die Strahlen gegen dich wenden: Du blicke in ihre Mitte. Wenn du das tust, wirst du einen Gott sehen, sehr jung, wohlgestaltet, im Feuerhaar, in weißem Gewand und scharlachroter Chlamys, mit feurigem Kranz. Sogleich begrüße ihn mit dem Feuergruße: Herr, sei gegrüßt, Großmächtiger, Hochgewaltiger, König, Größter der Götter, Helios, Herr des Himmels und der Erde, Gott der Götter,
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gewaltig ist dein Hauch, gewaltig ist deine Kraft. Herr, wenn es dir gefällt, melde mich dem größten Gott, der dich erzeugt und geschaffen hat: daß ein Mensch, ich N N , Sohn der N N , geworden aus dem sterblichen Mutterleib der N N und keimtragendem Saft, und daß dieser heute von dir wiedergeboren [und] unter so vielen Tausenden unsterblich gemacht, in dieser Stunde, nach dem Ratschluß des iiberschwenglich guten Gottes, verlange, dich zu verehren, und darum flehe nach menschlichem Vermögen. (Daß du dir zur Hilfe nehmest des heutigen Tages und der Stunden Regenten mit dem Namen THRAPSIARI [f. 9 recto] MORIROK, damit er erscheine und offenbare in den guten Stunden EÖRÖ RÖRE ÖRRI ÖRIÖR RÖR RÖIÖR REÖRÖRI EÖR EÖR EÖR EÖRE.) Hast du das gesagt,
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so wird er zum Pole gehen, und du wirst ihn wie auf einem Wege einherschreiten sehen. Du aber blicke unverwandt hin und stoße ein langes Brüllen aus, wie aus einem Horn, wobei du deinen ganzen Atem ausgibst und deine Bauchhöhle anstrengst, und küsse die Amulette und sprich, zuerst zum rechten: Schütze mich PROSYMËRI. Nach diesen Worten wirst du Tore sich öffnen und kommen sehen aus der Tiefe sieben Jungfrauen in Byssosgewändern, mit den Masken von Schlangen. Sie heißen „des Himmels Schicksalsgöttinnen" und halten goldene Zepter. Siehst du das, sprich so den Gruß:
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Seid gegrüßt, ihr sieben Schicksalsgöttinnen des Himmels, hehre und gütige Jungfrauen,
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und zugleich mit dem MINIMIRROPHOR lebende, ihr hochheiligen Wächterinnen der vier Säulen, sei gegrüßt, du erste, CHREPSENTHAËS, sei gegrüßt, du zweite, MENESCHEËS, sei gegrüßt, du dritte, MEXRAN, sei gegrüßt, du vierte, ARARMACHËS, sei gegrüßt, du fünfte, ECHOMMIË, sei gegrüßt, du sechste, TICHNONDAÉS, sei gegrüßt, du siebte, EROY ROMBRIËS. Hervor kommen aber auch andere sieben Götter mit den Masken von schwarzen Stieren, in linnenen Schürzen, sieben goldene Diademe haltend. D a s sind die sogenannten „Polherrscher des Himmels"; sie mußt du ebenso begrüßen, jeden mit seinem eigenen Namen: Seid gegrüßt, ihr Achsenwächter, ihr heiligen und starken Jünglinge, die ihr auf einen Befehl die rundumdrehende Kreisachse des Himmels antreibt und Donner und Blitze und die Schläge der Himmelsbeben und Donnerkeile entsendet in die Scharen der Gottlosen, mir aber, dem Frommen und Gottesfürchtigen, [gebt] Gesundheit und Unversehrtheit des Körpers und Stärke des Gehörs und Gesichtes, Unerschütterlichkeit in den gegenwärtigen guten Stunden des heutigen Tages. Ihr meine Herren und hochgewaltigen Götter, sei gegrüßt, du erster, AÏERÔNTHI, sei gegrüßt, du zweiter, MERCHEIMEROS, sei gegrüßt, du dritter, ACHRICHIOYR, sei gegrüßt, du vierter, MESARGILTÖ, sei gegrüßt, du fünfter, CHICHRÖ ALITHÖ, sei gegrüßt, du sechster, ERMICHTHATHÖPS, sei gegrüßt, du siebter, EORASICHË. Wenn sie aber zu beiden Seiten in Reih und Glied drohend dastehen, blicke gerade in die Luft,
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und du wirst sehen, wie Blitze herabfahren 695
und Lichter erglänzen und die Erde erbebt und
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der Gott herabkommt im Übermaß seiner Größe,
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mit leuchtendem Antlitz, sehr jung, mit Goldhaar,
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in weißem Gewand und mit goldenem Kranz und
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in weiten Hosen, in der rechten Hand haltend
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das goldene Schulterblatt eines Rindes: Es ist das Bärengestirn,
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das den Himmel bewegt und zurückwendet,
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stundenweise am Pol hinauf- und hinabwandelnd.
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Sodann wirst du aus seinen Augen Blitze und
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aus seinem Körper Sterne springen sehen.
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Du aber brülle sofort in langem Brüllen und strenge dabei deinen
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Leib an, um zugleich die fünf Sinneswerkzeuge in Bewegung zu
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setzen, lang, bis zur Erschöpfung;
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küsse wiederum die Amulette und sprich: MOKRIMO PHERIMO [f. 9 verso]
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PHERERI, mein, des NN Leben,
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bleibe du, wohne in meiner Seele,
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verlaß mich nicht, weil es dir befiehlt ENTHO PHENEN THROPIÖTH.
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Und blicke unverwandt auf den Gott, lang brüllend, und begrüße ihn so:
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Herr, sei gegrüßt, Herrscher des Wassers,
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sei gegrüßt, Herrscher der Erde, sei gegrüßt, Gewaltiger des Geistes,
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LAMPROPHEGGË PROPROPHEGGË EMETHIRI
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ARTENTEPI THËTH MIMEÖ YENARÖ PHYRCHECHÖ
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PSËRI DARIO PHRË PHRËLBA.
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Weissage, Herr, über die N N Sache.
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Herr, wiedergeboren scheide ich,
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gewachsen und gemehrt sterbe ich,
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in lebenzeugender Geburt geboren
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gehe ich, zum Sterben gelöst, wie du eingesetzt, wie du zum Gesetz bestimmt
Gottesbegegnung und Menschwerdung
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in
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und geschaffen hast das Mysterium. Ich bin P H E R O Y R A M I O U R I .
Hast du das gesagt, wird er sofort weissagen. Doch du wirst aufgelöst in deiner Seele und nicht bei dir selbst sein, wenn er dir antwortet. Er aber spricht zu dir die Weissagung in Versen, und hat er sie gesprochen, wird er weggehen. Du aber stehe stumm; denn du wirst das alles von selbst verstehen, und du wirst dich hernach unfehlbar an die Sprüche des großen Gottes erinnern, selbst wenn die Weissagung aus Tausenden von Versen bestünde. Wenn du aber auch einen Miteingeweihten hinzuziehen willst, so daß er allein mit dir die Worte vernehme, soll er mit dir zusammen [sieben] Tage rein bleiben und sich der Fleischesnahrung und des Bades enthalten. Wenn du aber allein bist und die vom Gott gesprochenen Worte vermittelst, sprich wie in Ekstase, voll von prophetischer Begeisterung. Willst du es aber auch ihm zeigen, so prüfe, ob er als Mensch unzweifelhaft würdig ist, und verfahre dabei in der Weise, als würdest du selbst in der Sache des Unsterblichkeitsritus an seiner Statt geprüft: Sprich ihm das erste Gebet vor, das so beginnt: „Erster Ursprung meines Ursprungs AEEIOYÖ." D a s folgende aber sprich als Eingeweihter über seinem Kopfe mit tonloser Stimme, damit er es nicht hört, und salbe sein Gesicht mit dem „Mysterium". Dieser Unsterblichkeitsritus kann dreimal im Jahre stattfinden. Wollte aber jemand, mein Kind, nach Empfang der Vorschrift ihr nicht Folge leisten, dem wird sie nicht mehr zur Verfügung stehen. Anweisung für die Praktik: N i m m einen Sonnenskarabäus mit den zwölf Strahlen, laß ihn bei Neumond in ein tiefes Gefäß von blau-grüner Farbe fallen, wirf zugleich hinein Samen der Lotometra
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und Honig, zerreibe das und mache einen kleinen Kuchen, und sofort wirst du ihn herankommen und fressen sehen, und wenn er gefressen hat, stirbt er sofort. Nimm ihn dann heraus und wirf ihn in ein gläsernes Gefäß mit feinstem Rosenöl, soviel du willst, breite in Reinheit heiligen Sand hin, setze das Gefäß darauf und sprich die Formel über dem Gefäß sieben Tage lang, wenn die Sonne im Mittag steht: Ich habe dich geweiht, damit dein Zauberstoff mir nützlich werde, mir, dem N N allein IE ΙΑ E EE OY EIA; mir allein sei dienstbar; denn ich bin PHÖR PHORA PHOS PHOTIZAAS (andere Varianten: PHÖR PHÖR OPHOTHEI XAAS). Am siebten Tage aber nimm den Skarabäus, begrabe ihn in Myrrhe und Wein aus Mendes und in Byssos und deponiere ihn in einem aufsprießenden Bohnenbeet. Die Salbe aber bewahre, nachdem du [den Skarabäus] bewirtet und selbst an dem Mahl teilgenommen hast, in Reinheit für den Unsterblichkeitsritus auf. Willst du es aber einem anderen zeigen, so nimm den Saft der Kentritis genannten Pflanze, bestreiche damit und zugleich mit Rosenöl das Gesicht, wessen du willst, und er wird so deutlich sehen, daß du dich wundern wirst. Eine stärkere Praktik als diese fand ich nicht auf der Welt. Fordere aber vom Gott, was du willst, und er wird es dir gewähren. Die Zusammenkunft mit dem großen Gott geschieht wie folgt: Besorge die oben genannte Pflanze Kentritis an dem Neumond, wenn die Sonne im Löwen steht, nimm den Saft, vermenge ihn mit Honig und Myrrhe, schreibe auf ein Blatt der Persea-Pflanze den achtbuchstabigen Namen, wie er unten steht und halte dich drei Tage zuvor rein und gehe früh morgens nach Osten hin, lecke das Blatt ab, es der Sonne zeigend, und so
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wird er dich vollkommen erhören. Beginne ihn [sc. den Skarabäus] zu weihen, bei Neumond, wenn die Sonne nach göttlicher Ordnung im Löwen steht. Dies aber ist der Name: ï EE OO ÏAÏ. Lecke ihn ab, damit du geschützt bist, falte das Blatt zusammen und wirf es in das Rosenöl. Diese Praktik habe ich oft angewandt und sie über die Maßen bewundert. Doch sagte mir der Gott: Verwende die Salbe nicht mehr, sondern du [sollst) befragen, nachdem du sie in den Fluß geworfen hast, der das große Mysterium des durch die 25 lebenden Vögel [?] wiederbelebten Skarabäus mit sich trägt, und zwar befragen, statt dreimal im Jahr, einmal im Monat, bei Vollmond. Die Pflanze Kentritis wächst vom Monat Payni an im Gebiet der schwarzen Erde und hat Ähnlichkeit mit dem aufrechten Taubenkraut. Erkannt wird sie folgendermaßen: Wird eine Ibisfeder an der schwarzen Spitze mit ihrem Saft bestrichen, fallen bei der Berührung die Federn ab. Der Herr zeigte sie, und so wurde sie gefunden im Gau Menelaitis in Phalakry an den Dämmen [sc. des Nils], nahe der Besas-Pflanze. Sie ist einschoßig und rotbraun bis zur Wurzel, die Blätter sind ziemlich gekräuselt, und die Frucht ist ähnlich dem Fruchtstand des wilden Spargels. Sie hat Ähnlichkeit mit der sogenannten Talape-Pflanze, wie wilder Mangold. Die Amulette sind so beschaffen: Das rechte schreibe mit Myrrhentinte auf die Haut eines schwarzen Schafes, auch binde es mit Sehnen des gleichen Tieres und hänge es um; das linke aber auf die Haut
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eines weißen Schafes und brauche es auf die gleiche Weise. [Der magische Name] des linken: PROSTHYMËRI. Damit ist das Memorandum vollständig.