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German Pages 296 Year 2014
Martina Grimmig Goldene Tropen
Kultur und soziale Praxis
Martina Grimmig (Dr. phil.), Soziologin und Ethnologin, forscht und lehrt zu den Themen Ressourcenkonflikte und indigene Völker sowie geschlechtsspezifische Dimensionen internationaler Arbeitsmigration.
Martina Grimmig
Goldene Tropen Die Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayana
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7 1
Einleitung | 9
Guayana als Kontaktzone | 17 Perspektiven der Koproduktion | 19 2
Fantastisches Gold – El Dorado und der doppelte Tod des Kaziken | 25
Kannibalen, Konquistadoren und die Suche nach El Dorado | 28 Koloniale Fronten und Handelsbeziehungen | 35 Die Kari’ña als Handelspartner und Buschpolizei | 39 Die Conquista Caribe in Guayana | 46 Der doppelte Tod des Kaziken | 56 3
Bares Gold – Nacktes Leben | 65
Moralische Geographien | 67 Nacktes Leben | 72 Neue Konflikte | 75 Ambivalentes Glück – Die Kari’ña und das Gold | 86 4
Weißes Gold – Kautschuk, Fieber und Vergessen | 93
Guayana im Kolonisierungswahn | 100 Imataca im Balatafieber | 111 »Raubbau am Walde« | 114 »The Weeping Wood« – Zur Situation indigener Gruppen während des Gummibooms | 120 5
Schwarzes Gold – die Nation des Erdöls | 145
Indios Petroleros – Ölrente und territoriale Ansprüche | 150 Der magische Staat und die Eroberung des Südens | 166
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Holz – widerspenstige Grenzgänger | 179
Guayana im Visier forstwirtschaftlicher Interessen | 182 Fragmentierte Räume | 187 Vom Erfolg einer erfolglosen Unternehmung | 190 Guayana als »nationaler Bestimmungsraum« | 192 Prekäre Territorialität – Wer spricht für den Wald? | 199 »Sheer Kari’ña all the way« | 206 7
Grünes Gold – biologische Vielfalt und hyperreale Indigene | 219
Biologische Vielfalt und indigenes Wissen | 223 Vielfalt als kulturelle (Über-)Lebensstrategie | 228 Vielfalt im politischen Diskurs um Imataca | 237 Vielfalt als revolutionäres Projekt | 249 8
Schlussbetrachtungen | 257
Tropen der Differenz | 265 Literatur | 269
Vorwort
Dieses Buch hat eine lange Entstehungsgeschichte. Wesentliche Teile beruhen auf meiner Dissertation, die 2005 an der Universität Freiburg verteidigt und anschließend in elektronischer Form veröffentlicht wurde. Die Forschungen hierzu erfolgten in einem multidisziplinären Kolleg, das die Probleme der Nutzung tropischer Wälder in Thailand und Venezuela untersuchte. Angeregt durch neuere Literatur, theoretische Diskussionen und eine weitere Reise nach Venezuela ist die Überarbeitung des ursprünglichen Textes für diese Buchveröffentlichung weitaus grundlegender geraten als zunächst beabsichtigt. Manche Gedanken und Argumente sind dabei geschärft worden, einige Sichtweisen haben sich geändert. Frei von den Zwängen der akademischen Qualifikation und mit einem gewissen Abstand konnten Argumente zurecht gerückt und Zusammenhänge klarer und vielleicht auch mutiger ausgesprochen werden. Eine wichtige Erkenntnis in diesem Prozess war, dass auch die Dinge, die nicht so recht ins Bild passen wollen oder gar nicht artikuliert werden, ernst zu nehmen sind. Die indigenen Kari’ña von Imataca waren mir hierin lehrreich. Viele Menschen haben mich bei dieser Arbeit freundschaftlich oder ermutigend begleitet. Ich danke Michael Flitner für leidenschaftliches Interesse und Verstand während der gesamten Zeit der Forschung und Ausarbeitung; Luis Herrera als Mentor in Tumeremo; den Kollegen von der Regionaluniversität UNEG für Austausch und praktische Unterstützung; Gisèle de Civrieux für ihre offene Aufnahme in Mérida; den indigenen Aktivisten Tito Poyo, der mich bei den Kari’ña einführte, und José Luis Gonzalez als Verbindungsperson zur regionalen und internationalen Indigenenpolitik; Cecilia und Cipriano Rivas als zentralen Bezugspersonen in Bota-
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namo; den Brüdern Richard und Rinaldo Diaz, die mir Einblick in das Leben der Kari’ña auch im benachbarten Guyana ermöglichten; Janette Forte, Louise Fortmann, Christl Keßler, Larry Lohmann und Mark Münzel für Anregung und Ermutigung in unterschiedlichen Phasen; Barbara Schneider, Christoph Aicher, Winfried Meier und Andrea Scholz als Gesprächspartnern und zeitweiligen Begleitern auf Exkursionen und Ausflügen; Mercedes Rojas für sichere Unterkunft in Caracas und all den anderen, die auf unterschiedliche Weise am Gelingen dieses Buches beteiligt waren.
1 Einleitung
»A place on the map is also a place in history.« ADRIENNE RICH (1986)
Die Region Guayana im Südosten Venezuelas rückte Anfang der 1960er Jahren in den Mittelpunkt nationaler Entwicklungspolitik. Als Schlüssel moderner Nationenbildung wurde die territoriale Integration und Entwicklung der bis dahin randständigen Provinz zum wichtigen Aktionsfeld der neuen, demokratischen Regierung. Wie anderenorts auch war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Glaube an die modernisierende Kraft ökonomischer Entwicklung in Venezuela ungebrochen, umso mehr als der Ölreichtum hier bereits erste Modernisierungserfolge beschert hatte. Als die technokratischen Eliten des Landes nach Süden blickend ihre Entwicklungspläne schmiedeten, betrachteten sie die Region als weitgehend leere Fläche, der sie ohne Skrupel ihre Ambitionen einschreiben konnten. Was Guayana mit seinen schäbigen Kolonialstädtchen, ungestümen Flüssen und ausgedehnten Wäldern in ihren Augen brauchte, war eine moderne und technische Vision, eine, die aus der weiten Brache mit ihrer verstreuten indigenen Bevölkerung eine produktive Landschaft machte. Und in der Tat präsentiert sich Guayana heute – mehr als ein halbes Jahrhundert später – als eine Entwicklungsregion mit durchaus spektakulärem Antlitz. In der Zwischenzeit ist hier mit der Embalse de Guri einer der größten Staudämme der Welt entstanden, beeindruckende Schwerindustrieanlagen, Kraft- und Sägewerke, ja ganze Städte wurden aus dem Boden gestampft, während die Waldgebiete an der Peripherie in produktive Zonen forstwirtschaftlicher und bergbaulicher Nutzung verwandelt wurden. Nicht über-
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raschend vielleicht, dass diese Waldregionen und ihre indigenen Bewohner heute im Brennpunkt von Konflikten um Tropenwaldzerstörung, um Goldbergbau und Holznutzung, um Naturschutz und Menschenrechte in Venezuela stehen. Die Konflikte und ihre Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung, so ein Kernargument meiner Arbeit, lassen sich jedoch nicht angemessen als Ergebnis des rezenten Entwicklungsschubs in Guayana fassen, der dem bislang vermeintlich ruhigen, traditionellen Leben der Indigenen in diesen peripheren Tropenwaldzonen jäh ein Ende bereitet hätte, wie es Berichte und Analysen über die Konflikte und Entwicklungen in diesem Gebiet in den letzten Jahren immer wieder nahe legten. Solche Vorstellungen beruhen auf einer Reihe impliziter Annahmen über die Zusammenhänge von Modernisierung, Kulturwandel und Natur, die – nicht erst im Lichte dieser Studie – problematisch erscheinen. Die Vorstellungswelt (auch der Ethnologie) zeigt sich gerade mit Blick auf die oftmals prekären Lebenslagen indigener Tropenwaldbewohner noch immer stark bestimmt von den Polen eines anhaltenden Evolutionismus, mit seinen sanktionierten Binaritäten von Tradition und Moderne, Vorher- und Nachherszenarien, Stasis und Wandel usw. Die Einbindung der indigenen Kulturen in die Moderne wird in diesen Erzählungen vielfach als ein fortschreitender Prozess kultureller Auflösung oder Marginalisierung konzeptualisiert, der wenig Raum lässt für Widerstände, Interaktionen, Wechselseitigkeiten, oder, um einen Schlüsselbegriff dieser Arbeit zu benutzen, Koproduktionen. Am Beispiel der Kari’ña wird gezeigt, wie der externe Zugriff auf natürliche Ressourcen hier über Jahrhunderte prägend gewirkt hat – und zwar sowohl auf die Natur selbst wie auf die kulturellen und sozialen Verhältnisse der Indigenen. Damit sind auch die kulturellen Dynamiken und Verwerfungen, die sich heute bei den Kari’ña beobachten lassen, nicht einfach als Ausdruck einer zunehmend prekarisierten und bedrohten Lebenssituation zu verstehen, die in der jüngst massiv vorangetriebenen Erschließung natürlicher Ressourcen in ihrem Siedlungsgebiet ihren Ursprung findet. Es spiegelt sich darin auch eine aus wiederholten und langwährenden historischen Erfahrungen gespeiste, kulturelle Widerständigkeit gegenüber staatlichen und modernisierenden Einflüssen. Sie zeigt sich in den sozialen Eigenheiten der Kari’ña und dabei nicht zuletzt in ihrer Fähigkeit und ihrem zumindest teilweise selbstbestimmten Willen, unter widrigsten Bedingungen weitgehend subsistent und stark marginalisiert im und vom Wald zu leben.
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Abbildung 1: Siedlungsgebiete der Kari’ña
Diese These fordert gängige Ansichten und Annahmen über diese Gruppe der Kari’ña in Venezuela heraus. Schon bei meinem ersten Aufenthalt in der Region wurden sie mir von venezolanischen Ethnologen durchgängig als eine extrem marginalisierte, sozial anomische, geradezu traumatisierte Kultur geschildert, als eine versprengte Gruppe, die quasi vergessen und verloren in den Wäldern der Sierra Imataca lebt (s. Abb. 1)1. Auch in kirch-
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Es lassen sich zwei distinkte Siedlungsräume der Kari’ña in Venezuela unterscheiden. Der erste liegt in den östlichen Savannen der Bundesstaaten Monagas und Anzoátegui, einschließlich einiger städtischer Zentren wie Ciudad Bolívar. Die hier lebenden Kari’ña werden gemeinhin als eine Gruppe beschrieben, die zwar eine eigenständige kulturelle Identität bewahrt, materiell und wirtschaftlich sich jedoch weitgehend dem Lebensstil venezolanischer Kleinbauern angepasst hat. Das zweite Siedlungsgebiet liegt südlich des Orinoko in Waldregionen des Grenzgebiets von Venezuela und Guyana. Anders als im erstgenannten Gebiet leben die Kari’ña hier sehr zurückgezogen und marginalisiert.
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lichen und sozialen Kreisen, die in der Region verschiedene Hilfsangebote an indigene Gruppen unterhalten, gelten diese Kari’ña als besonders gefährdet und hilfsbedürftig, da sie offenbar wehrlos den über sie hereinbrechenden Entwicklungen ausgeliefert zu sein scheinen. Sie entsprechen damit einem in Literatur und Medien weit verbreiteten Erzählmuster über indigene Tropenwaldgruppen als Opfer von Entwicklung und Modernisierung. Die industrielle Nutzung und Erschließung von Holz und Bodenschätzen in Tropenwaldregionen wird hier gerne als zweifaches Bedrohungsszenario präsentiert. Als bedroht gilt zum einen der Tropenwald, der durch solche Entwicklungen oft massiv degradiert oder zerstört wird. Als nicht minder gefährdet werden die indigenen Regenwaldvölker präsentiert, deren kulturelle Lebensformen mit der Zerstörung ihrer Lebensräume ebenfalls zu verschwinden drohen. Gerade vor dem Hintergrund der globalen Inwertsetzung tropischer Wälder und indigener Wissenspraktiken wird beides heute mit besonderer Sorge gesehen. Auch die Kari’ña von Imataca könnten leicht innerhalb solcher Kategorien beschrieben werden: Sie leben marginalisiert und – zumindest auf den ersten Blick – noch ›traditionell‹ in den Wäldern im Osten Guayanas. Sie ernähren sich immer noch überwiegend von den Früchten ihrer Brandrodungsfelder, dem Fischfang und der Jagd, und sie wissen den Wald noch auf vielfältig andere Weise zu nutzen. Ihre Marktanbindung ist ausgesprochen gering. Gleichzeitig wird ihr Lebensraum mehr denn je durch externe Nutzungsinteressen vereinnahmt, die sich gegenwärtig in einer großflächigen industriellen Erschließung natürlicher Ressourcen, allen voran Holz und Gold, manifestiert. In Anbetracht dieser Entwicklung wäre es durchaus naheliegend, die Kari’ña sozusagen als Überlebende einer indigenen Kultur zu beschreiben, einer Kultur, die nun unweigerlich und unwiderruflich zu verschwinden droht oder zumindest einem radikalen und umfassenden Wandel unterworfen wird. Wie aus Kommentaren venezolanischer Wissenschaftler und Umweltaktivisten häufig herauszuhören war, wird eine solche Gefahr gerade im Fall der Kari’ña gesehen, da es sich hier um eine vergleichsweise wenig organisierte, wirtschaftlich und politisch sehr schwache Gruppe handelt, die in die nationalen und internationalen Netzwerke oder Widerstandsbewegungen der Indigenen kaum eingebunden ist. Und tatsächlich lassen sich die Kari’ña in vieler Hinsicht gut als Opfer denken und beschreiben. Ein solche Lesart mag sich Außenstehenden bei den Kari’ña in Imataca geradezu aufdrängen, denn neben gewissen Anzei-
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chen von ›Traditionalität‹ ist es vor allem der Eindruck massiver Zerrüttung und Verwahrlosung, der hier das Bild bestimmt. Ähnlich wie von der guyanischen Ethnologin Janette Forte (1999) für den Zustand der Kari’ñasiedlungen im angrenzenden Guyana beschrieben, dürften daher auch hier viele auswärtige Besucher und Besucherinnen zunächst vor allem schockiert sein vom Anblick dessen, was in Imataca eine Kari’ñasiedlung darstellt: Armselig wirkende Hütten ohne Wände, die mehr den Eindruck eines provisorischen Unterschlupfes erwecken als den einer dauerhaften Behausung und die den Blick auf spärlichen Hausrat freigeben – Plastikeimer, Metalltöpfe, löchrige Hängematten; die für die Verarbeitung des Bittermaniok notwendigen Gerätschaften wie Pressschlauch, Sieb und Fächer; zerschlissene Kleidungsstücke und Stoffbeutel, die von den Balken im Inneren der Häuser lose herunterhängen; in und um die Hütte herum ein Sammelsurium von alten Batterien, kaputten Plastikbechern, dreckigen Trinkkalebassen, Schildkrötenpanzern und Glasflaschen, die zum verwahrlosten Gesamteindruck beitragen. Zu diesem äußeren Eindruck kommen eine Reihe als problematisch geltender sozialer und kultureller Verhaltensweisen, die bei einem längeren Aufenthalt deutlich werden: hoher Alkoholkonsum, brüchige und instabile Sozialbeziehungen, geographische Unstetigkeit, Fehlen jeglicher anerkannter Autoritätspersonen, Gewaltkonflikte – all dies lässt auf einen Zustand schließen, der Begriffe wie Stress, Zerrüttung und Anomie nahe legt. Einige der genannten Verhaltensmuster knüpfen dabei durchaus an alte kulturelle Praktiken an, etwa die exzessiven Trinkgelage, die bei den Kari’ña eine lange Tradition haben. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts pries Sir Walter Raleigh in seiner berühmten Abhandlung über Guiana die dortigen Kariben als »wunderbare und großartige Trinker« und strich damit eine Praxis dieser Karibengruppe heraus, auf die auch spätere Forschungsreisende immer wieder gerne hinwiesen, wenn auch weniger bewundernd. Der Konsum von kachire, eines vor allem aus Maniokknollen selbstgebrauten Biers, ist auch heute bei den Kari’ña noch weit verbreitet. Das Trinken vollzieht sich als soziales Ritual, im Rahmen regelmäßig stattfindender Trinkfeste oder Trinkgelage, die je nach verfügbaren Mengen mehrere Tage dauern können und regelmäßig im totalen Rausch der meisten Teilnehmer enden. Häufig wird dabei zusätzlich hochprozentiger Rum konsumiert, in einem Ausmaß, welches nach unseren Maßstäben die Rede von Missbrauch berechtigen würde, zumal nicht selten auch Frauen, Ju-
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gendliche, ja bisweilen sogar jüngere Kinder an den Festen teilnehmen und kachire trinken. Die erwähnten Gewalttätigkeiten treten vor allem in Verbindung mit diesem übermäßigen Alkoholkonsum auf. Zwar sind ernsthafte Verletzungen eher selten, aber allein während meines Aufenthaltes kam es zu mehreren ernsthaften Streitereien, die in einem Fall tödlich endeten, als ein Mann von der Machete seines Gegners so unglücklich am Kopf getroffen wurde, dass er starb. Von mindestens zwei weiteren Fällen gewaltsamer Tötungsdelikte bei den Kari’ña in den letzten Jahren ist mir erzählt worden. Auch diese wiederkehrenden Ereignisse haben sicherlich den Ruf der Kari’ña als eine besonders gefährdete und zugleich schwierige Gruppe in der Region gefördert. Es gibt noch andere Szenen und Verhaltensweisen, die das öffentliche Bild von den Kari’ña als besonders fragile indigene Gruppe zu etablieren helfen. Der Anblick von Frauen mit ihren kleinen Kindern auf dem Arm beispielsweise, die auf den Straßen und öffentlichen Plätzen des nahe gelegenen Städtchen Tumeremo scheinbar ziellos herumlungern. Oder die vielen zirkulierenden Erzählungen von gescheiterten Bemühungen, den Kari’ña zu einem »neuen Leben« zu verhelfen, wie ein Projekttitel versprach, etwa durch die Einrichtung und Organisation sogenannter Gemeinschaftsfelder für den Marktverkauf, oder durch die angesichts der Verhältnisse befremdlich scheinende Förderung von Hühner- und Schweinemast. Die Erfolgsbilanz dieser meist kirchlich getragenen Hilfsprojekte war und ist bescheiden. Nur in einer Siedlung haben diese Bemühungen zumindest ansatzweise ›gefruchtet‹, insofern hier Frauen in Gemeinschaftsarbeit und ausgestattet mit mehreren Öfen, mechanischer Presse und elektrischer Reibe heute regelmäßig cassabe-Fladen für den Markt in Tumeremo backen. In vielen anderen Siedlungen zeugen überwucherte Gemeinschaftsfelder, leerstehende Ställe und herumliegendes, kaputtes Werkzeug von dem traurigen Verlauf der Projekte. Als ebenso schwierig haben sich bislang Anstrengungen erwiesen, für eine schulische Bildung der Kari’ña zu sorgen. Mit über 98 Prozent gehören die Kari’ña zu den indigenen Gruppen Venezuelas mit der höchsten Analfabetenrate. Zwar sind auf Initiative der katholischen Organisation Fé y Alegría inzwischen in fast allen Siedlungen Schulen eingerichtet worden. Es lässt sich jedoch kaum von einem funktionierenden Schulbetrieb sprechen, da es dauerhaft Schwierigkeiten gibt, zuverlässige und geeignete Lehrkräfte zu finden, d.h. Personen, die einerseits gut genug Kari’ña sprechen, um die in Venezuela gesetzlich vorgeschrie-
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bene educación intercultural bilingüe in indigenen Gemeinden adäquat umsetzen zu können, und andererseits generell willig wären, bei den Kari’ña zu arbeiten. Häufig sind es junge, im adventistischen Glauben erzogene Pemon aus anderen Teilen Guayanas, die als Lehrer rekrutiert werden. Viele dieser maestros sind nicht sehr motiviert, und entsprechend bescheiden ist die Qualität ihres Unterrichts, der oft genug auch ausfällt. Dies scheinen die Kari’ña aber – wie viele andere ›Unannehmlichkeiten‹ – mit Gleichmut hinzunehmen. Es ist gerade dieser vermeintliche Gleichmut, diese äußerliche Passivität, die bei Außenstehenden den Eindruck erweckt, dass sie es hier mit einer ebenso bedrohten wie hilflosen Gruppe zu tun haben, die kaum in der Lage scheint, sich gegen ungewollte Einflüsse und vor allem mächtige Ressourceninteressen in ihrem Siedlungsgebiet zur Wehr zu setzen. Hinzu kommt, dass die guayanischen Kari’ña nur wenig Ansätze zeigen, selbst politisch oder in weiterem Sinne widerständig aktiv zu werden, wie es andere Gruppen der Region tun, die sehr umtriebigen Pemon etwa, die seit Jahren mit unterschiedlichen Formen politischer Artikulation und Protestaktionen auf der nationalen und internationalen Bühne präsent sind. Wie Forte auch im angrenzenden Guyana feststellte, ist der soziale und politische Zusammenhalt der Gruppe äußerst schwach. Es gibt keine allgemein anerkannten Führungs- und/oder Autoritätsfiguren, die etwa die Fähigkeit hätten, die Gruppe als Kollektiv politisch zu motivieren oder zu organisieren. Jede comunidad hat einen capitán, aber oft wird dieses einst im Zuge regionaler Organisationsbemühungen eingeführte Amt mehr als eine extern gesetzte Notwendigkeit und Pflicht gesehen, der es nachzukommen gilt, um zumindest minimale Repräsentanz nach außen aufrecht zu erhalten. Eine innere Berufung oder ein über die eigene Siedlungsgruppe hinausgehender Einfluss ist damit nicht verbunden, geschweige denn das Selbstbewusstsein und das rhetorische und organisatorische Geschick, die unabdinglich sind, um als indigener Wortführer über den lokalen Kontext hinaus Gehör zu finden. Wenn überhaupt, so wurde Widerstand in den letzten Jahren denn auch vor allem von externen Fürsprechern mobilisiert und organisiert, oft allerdings mit ambivalenter Bilanz für die Kari’ña, wie das Kapitel über die Auswirkungen des heutigen Goldbergbaus zeigen wird. Die guayanischen Kari’ña gehören also nicht zu jener Riege selbstbewusster Indigener, die sich mit gutem medialen Gespür öffentlich zu inszenieren und global zu vernetzen
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verstehen, und so gelegentlich selbst Ölkonzerne in die Knie zu zwingen vermögen. Doch so sehr die Kari’ña auch als Opferfigur taugen, es bleibt ein Rest von Widerständigkeit und Eigensinn. Dieser Rest wird spürbar, wenn man länger bei den Kari’ña verweilt, doch es ist nicht leicht, Worte zu finden für jenen Zustand der Kari’ña, der Ausgeliefertsein und Ohnmacht ebenso zu beinhalten scheint wie Beharrungsvermögen und aktives Abwehrverhalten. Man findet hier eine merkwürdige Mischung von teilweise kaum fassbarer Zurückgezogenheit und Passivität mit einer ebenso diffusen wie hartnäckigen Abwehr äußerer Einflüsse und von außen kommender Personen, ein sozial schwer verortbares Ausweichen, das sich mit Begriffen wie Anomie, Absonderung und Proletarisierung nur unzureichend fassen lässt. Dies drückt sich auch in einem irritierenden Zusammenspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Zugänglichkeit und Abgesondertheit, von Nähe und Distanz aus, welche die Situation der Kari’ña schon bei einer ersten Fahrt durch das Gebiet seltsam disparat wirken lässt. Besonders erstaunt dabei die markante soziale Distanz und Trennung zwischen den Kari’ña und der venezolanischen criollo-Bevölkerung, obwohl die (räumlichen) Distanzen zwischen der indigenen und nicht-indigenen Welt hier doch vergleichsweise gering ausfallen. Viele der Siedlungen der Kari’ña in der Region Imataca sind – jedenfalls in der Trockenzeit – vergleichsweise gut zu erreichen. Sie streuen sich entlang einer unasphaltierten Piste, die von Tumeremo, Hauptbezirksstadt des Municipio Sifontes und regionales Zentrum des Goldbergbaus, durch ein ausgedehntes, sich in großen, hügeligen Wellen dahinziehende Tropenwaldgebiet geradewegs nach Osten an die venezolanisch-guyanische Grenze führt, wo sie quasi im Nichts endet. Einige kleinere, weniger gut präparierte Stichstraßen zweigen von dieser Hauptpiste ab. Sie führen in der Regel zu verstreut liegenden Minenorten oder zu Arbeitercamps diverser Holzunternehmen. Die ursprünglich aus militärisch-geopolitischen Erwägungen angelegte Piste bildet zugleich einen der zentralen Zugangswege in ein Waldgebiet, das Anfang der 1960er Jahre als Reserva Forestal Imataca ausgewiesen wurde (vgl. nochmals Abb. 1). Mit Beginn der wirtschaftlichen Krise in Venezuela in den 1980ern wurde dieses beeindruckend große Gebiet für die industrielle Holznutzung freigegeben. Seitdem wird in der Region nicht nur Holz geschlagen, sondern auch Gold gefördert, das hier in beträchtlichen Mengen vermutet wird. Es ist heute also nicht ungewöhnlich, schwer bela-
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dene Lastzüge an den Siedlungen der Kari’ña vorbeirollen zu sehen, auf ihrem Weg zu und von den Arbeitszonen der Holzunternehmen, oder die dreckverschmierten Geländewagen der Goldsucher, die sich durch die schlammige und mit vielen Schlaglöchern gespickte Piste wühlen. Trotz dieser Verbindungen hat man unweigerlich das Gefühl, bei und mit den Kari’ña eine ›andere Welt‹ zu betreten, und das nur wenige Kilometer vom quirligen Leben und Treiben in der Kleinstadt Tumeremo entfernt. Gleichzeitig aber, und das ist vielleicht das Irritierende oder Paradoxe, scheinen die Kari’ña trotz dieser spürbaren Trennung und Abschottung tiefer und nachhaltiger als viele andere indigene Gruppen der Region von jener nichtindigenen Welt durchdrungen und traumatisiert zu sein. Und es scheint sogar, dass sie die Nähe dieser Welt in gewissem Maß selbst suchen, wie die Wahl ihrer Standorte für die Siedlungen entlang der Straße andeutet.
G UAYANA
ALS
K ONTAKTZONE
Es waren diese Irritationen, die am Anfang meiner theoretischen Suchbewegung und Überlegung standen. Wie sind die Ambivalenzen und Widersprüche im Bild der Kari’ña zu deuten? Wie lässt sich ihre Situation, ihr heutiges Leben inmitten und umgeben von Bergbaukonzernen, Holzfirmen, Goldsuchern, Grenzschutzpatrouillen, von Entwicklungsplanern und Naturschützern erschließen und verstehen, ohne in den üblichen Dichotomien von Tradition und Moderne, Opfer und Widerstand, lokal und global hängen zu bleiben? Ein erster Schritt bei diesem Bemühen lag in der Anerkennung der historischen Dimensionen der gegenwärtigen Konfliktlagen. Die Beschäftigung mit historischen Quellen ließ bald deutlich werden, dass das Feld der Untersuchung – die tropischen Waldregionen der Sierra Imataca in Guayana – kaum als wenig berührter und historisch marginaler Naturraum gesehen werden kann. Es stellte vielmehr eine zentrale »Kontaktzone« (Pratt 1992) der kolonialen Begegnung dar, die durch vielfache lokale und globale Kräfte geformt wurde. Diese Geschichte ernst zu nehmen impliziert zugleich die Notwendigkeit, Konflikt und Wandel als Teil eines fortwährenden Prozesses zu begreifen, der auch die beobachtbaren ethnischen und kulturellen Muster einschließt. Wie die Kari’ña heute leben und sich verhalten ist also nicht oder jedenfalls nicht nur im Wirkungszusammenhang rezenter Prozesse zu deuten, sondern auch als Ergebnis ei-
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ner langwährenden und widersprüchlichen Geschichte der Konfrontation, der Kollaboration und des Austauschs mit europäischen Mächten und externen Interessen – eine Geschichte, in der ›natürliche Ressourcen‹ eine zentrale Rolle spielten. Der Titel des Buches – Goldene Tropen – nimmt diesen Gedanken leitmotivisch auf. In der Tat ist Guayana bzw. Guiana2 – diese Region zwischen Orinoko und Essequibo im Nordosten des südamerikanischen Festlands – bereits früh zur kolonialen Metapher der Neuen Welt als Ort grenzenlosen und fantastischen Reichtums geworden, deren Wirkung auf europäische Gemüter sich schon mit dem Hinweis auf Shakespeares berühmtes ›Sturm‹-Drama hinreichend andeuten lässt. Die Ressource, die zu Shakespeares (und Raleighs) Zeiten europäische Fantasien und Pläne beflügelte, war bekanntermaßen das Gold, das ausgerechnet in dieser Region der verfemten ›Kannibalen‹ in Guiana vermutet wurde. Doch war dies nur der Anfang, nur eine erste Ressource, die die Beziehung dieser Region und ihrer Bewohner zu außenstehenden Völkern und Mächten strukturieren sollte. Farbstoffe, Hölzer, Viehhäute, Tonkabohnen, Eisenerze, verschiedene Kautschukarten, erdölhaltige Sande, Diamanten, genetische Ressourcen: Die Liste der Güter, die von hier aus um die halbe Welt reisten, ist damit nicht erschöpft. Ihre Geschichte – und davon handelt die folgende Geschichte – ist zugleich auch die Geschichte der heutigen Kari’ña und ihres Siedlungsraums Imataca. Ich lasse mich in der folgenden Darstellung also von der Erkenntnis leiten, dass die Begegnung zwischen den Kari’ña und den ›Anderen‹ nachhaltig und in hohem Maße von natürlichen Ressourcen
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Eine kurze Anmerkung zu den Begriffen Guayana, Guiana, und Guyana, die im Buch immer wieder auftauchen: Guayana bezeichnet im Kontext des modernen, venezolanischen Nationalstaates den politisch-geographischen Großraum der drei südlichen Bundesstaaten Delta Amacuro, Bolívar und Amazonas, mit Schwerpunkt allerdings auf dem Bundesstaat Bolívar mit seinen industriellen Ballungszentren Ciudad Guayana und Puerto Ordáz am Rio Caroní. Das koloniale Guiana war größer gedacht und bezeichnete das ganze Gebiet zwischen dem Atlantischen Ozean, dem Orinoko, Rio Negro und Amazonas. Das Wort Guiana findet in Pluralform (The Guianas) bis heute gelegentlich Verwendung als Bezeichnung für die drei Guyana-Länder (Französisch-Guyana, HolländischGuyana und Britisch-Guiana); die beiden letzteren nennen sich seit ihrer Unabhängigkeit Surinam(e) bzw. Guyana.
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strukturiert worden ist. Die oftmals globalen Beziehungen, die in diesem Raum über mehrere Jahrhunderte hinweg bestanden, waren auf bestimmte, wechselnde, natürliche Ressourcen zentriert. Diese bildeten einen lokalen Ankerpunkt, eine materielle Verankerung weit gespannter, in der Regel multilokaler Netze. Mit der Gewinnung bzw. Erzeugung bestimmter Ressourcen in dem Gebiet wurden zugleich die naturräumlichen Bedingungen und die soziokulturellen Verhältnisse der involvierten Gruppen transformiert, und zwar durchaus unter deren aktiven Teilnahme. Um die relationale und interaktive Dimension dieses Prozesses zu unterstreichen, habe ich den Begriff der Koproduktion gewählt. Der Begriff Koproduktion soll in diesem Zusammenhang zunächst zwei Aspekte umfassen: einerseits eine gleichzeitige Hervorbringung natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz und andererseits eine Verstrickung innerer und äußerer Antriebskräfte in diesem Prozess. Mit dem Interesse an der Bedeutung ökonomischer Ressourcen knüpfe ich an die materialistische Tradition ethnologischer Arbeiten im weiteren Sinne an (Mintz 1985; Roseberry 1983, 1995; Wolf 1986; auch Godelier 1974; Meillassoux 1982). Zugleich wird im Begriff der (Ko-)Produktion eine gewisse Skepsis signalisiert sowohl gegenüber dem überstrapazierten und oft beliebig scheinenden Begriff der Konstruktion, wie gegenüber den Versuchen, eine empfundene Lücke zwischen Sozialität und Materialität, Natur und Technik (oder dergleichen) kurzerhand durch ›Hybride‹ und ›Aktanten‹ zu überbrücken. Stattdessen werden hier in heuristischer Absicht die natürlichen Ressourcen zum organisierenden Prinzip meiner Rekonstruktion bestimmter kultureller Momente und Formationen der indigenen Kari’ña in Guayana gemacht.
P ERSPEKTIVEN
DER
K OPRODUKTION
Die Geschichte natürlicher Ressourcen und kultureller Dynamiken als Teil des gleichen Prozesses zu begreifen war ein theoretisch wie methodologisch inspirierendes Experiment. Zum einen ermöglichte und erforderte dies eine textliche Darstellung, die von vornherein nicht auf die Vollständigkeit und Kohärenz der historischen und kulturellen Betrachtung ausgelegt war, sondern auf ein an Fragmenten, Brüchen und Konflikten orientiertes Verständnis vom Zusammenspiel unterschiedlichster Prozesse abzielte, die sich in den heutigen Auseinandersetzungen um Imataca neu
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überschneiden. In diesem Sinne will die Arbeit auch eher ein Mosaik sein, eine wohlüberlegte Momentaufnahme verschiedener Elemente, die mir zentral erscheinen, um gegenwärtige kulturelle Dynamiken bei den Kari’ña und Konfliktlagen in Imataca zu verstehen. Mit dem Begriff der Koproduktion wurde dabei eine theoretische Perspektive gewählt, die systematisch lokale Artikulationen des Kulturellen in größere sozioökonomische Zusammenhänge und Kontexte einordnet, ohne sich in der Feststellung einfacher Ursache-Wirkungs-Ketten zu erschöpfen. Vielmehr wird der Blick geschärft für die komplexen Interaktionen und konstitutiven Zusammenhänge zwischen globalen, politisch-ökonomischen Prozessen und lokalen Lebensformen, die sich in spannungsgeladenen, aber auch produktiven Reibungen vor Ort entladen. Auch das, was wir als lokale Kulturen erkennen, wird in diesen ungleichen, instabilen, bisweilen chaotischen und kreativen Begegnungen produziert. Identität und kulturelle Praktiken der Kari’ña leiten sich also weniger aus bestimmten, klar zu definierenden Traditionen ab, sondern sind vielmehr als relationales und dynamisches Konstrukt historisch immer wieder neu zu bestimmen. Dies schließt nicht aus, dass kulturelle Artikulationen über einen bestimmten Zeitraum hinweg einen Grad an Kohärenz und Stabilität erreichen können (vgl. Hannerz 1996). In der wissenschaftlichen Literatur fand der Begriff der Koproduktion bereits verschiedentlich Verwendung, an die mein Gebrauch nur lose anknüpft. In der Wissenschafts- und Technikforschung wird mit dem Begriff auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass der Aufbau sozialer und politischer Ordnungen und die Entwicklung der Wissenschaften als Teile desselben Prozesses zu verstehen sind. Wie wir die Welt erkennen und präsentieren, so der von Sheila Jasanoff (2004) formulierte Kerngedanke, ist von der Art und Weise, wie wir entscheiden, darin zu leben, nicht zu trennen. Koproduktion versteht sich in diesem Sinne nicht als Element einer synthetischen Theorie, sondern als eine Perspektive der Interpretation und Erklärung komplexer Zusammenhänge, die Forschungen in Geschichte, Ethnologie, Politik und Philosophie inspirieren soll. Diese Bedeutungsvielfalt und Reichweite macht den Begriff einerseits attraktiv und einladend, birgt jedoch in ihrer Unschärfe auch die Gefahr der Beliebigkeit. Weniger ambitiös und weitfassend haben McCusker und Carr (2006, 2009) den Begriff in die Entwicklungsgeographie eingeführt, wo er vor allem die wechselseitige Konstitution von Landnutzungsänderungen und Existenzsicherungsstrategien lokaler Haushalte beschreibt, die nicht als getrennte oder nur kausal
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zusammenhängende Sphären gesehen werden können, sondern als verschiedene Manifestationen eines übergeordneten sozialen Prozesses. Dies macht Sinn, auch wenn man sich gelegentlich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass sich das, was hier in einer großen theoretischen Geste zusammengebracht wird, so oder so nur schwer als voneinander getrennte Bereiche denken lässt. Auch meine Verwendung des Begriffs ist im weiteren Sinne von der Erkenntnis getragen, dass wir es mit einer globalisierten Welt in Bewegung zu tun haben, in der die Reduktionismen bipolaren Denkens zu überwinden sind, um stattdessen die wechselseitigen Bezüge und Interaktionen zwischen Natur und Kultur herauszustellen, zwischen dem Lokalen und dem Globalen, zwischen dem Symbolischen und dem Materiellen. So wird dies bereits in verschiedenen jüngeren Ansätzen und Theorien aus dem Feld der politischen Ökologie, der Postkolonialismus- und Transnationalismusforschung, der Ethnologie und Entwicklungssoziologie formuliert und umgesetzt (vgl. u.a. Biersack/Greenberg 2006; Li 2007; Tsing 2005). Mein Begriff der Koproduktion ist dabei mit einer bescheideneren und spezifischeren These verbunden, nämlich der von der gemeinsamen Emergenz oder Hervorbringung natürlicher Ressourcen und kultureller Dynamiken, deren wechselseitigen Interaktionen und produktiven Effekte ich in Guayana nachzeichne. Eine Pointe und Herausforderung dieser Perspektive liegt darin, dass gerade Ressourcen in ihrer externen Zweckbestimmung gewöhnlich als eher abstrakte und mobile Dinge gesehen werden, als Teil jener globalen Warenflüsse, die Appadurai (1990) bereits vor zwei Jahrzehnten als eine bedeutende Sphäre der Globalisierung herausgehoben hat. Aber auch globale Flüsse und Trends interagieren und brechen sich auf lokaler Ebene, wo sie sich an lokale Verhältnisse andocken und anbinden, dabei umgeformt werden, um sich mit den verschiedenen Kulturen und den Sichtweisen lokaler Akteure zu verknüpfen, nicht ohne auch diese je spezifisch zu beeinflussen und zu verändern. Anna Tsing, deren Arbeiten ich sehr schätze, führt in diesem Zusammenhang den Begriff der Reibung (engl.: ›friction‹) ein, um die Aufmerksamkeit auch auf die soziale Kreativität der Orte in diesen komplexen Begegnungen oder »Kollaborationen«, wie sie es nennt, zu lenken, auf die Widerständigkeit und relative Autonomie kultureller Formationen, die sich nicht leichterdings in globale Modelle einfügen lassen, bzw. nur unter Verlust all dessen, was sie überhaupt als Kulturen kenntlich macht. Reibung
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steht in diesem Sinne als eine Metapher für Verbindungen mit Differenz: »the awkward, unequal, unstable, and creative qualities of interconnection across difference« (Tsing 2005: 4). Dabei ist Reibung nicht als Synonym für Widerstand zu sehen. ›Friction‹, was im Englischen auch Unstimmigkeit heißen kann, bricht und verändert Bewegungsabläufe auf eine Weise, die sowohl kompromittierend wie emanzipatorisch sein kann, und auch unvorhergesehene und unkontrollierbare Effekte erzeugt – Reibungen können auch Feuer entfachen (Graham 2007). Dafür gibt es in meinem Buch einige Beispiele. Die machtvollen Interessen an natürlichen Ressourcen, die die »worldly encounters« (Tsing 2005) in der Peripherie Guayanas so sehr bestimmten, lassen sich nicht einfach als fortschreitende Expansion und Dominanz globaler Kräfte über lokale Kulturen lesen. Meine Geschichte über natürliche Ressourcen und Kari’ña beginnt mit Gold, der Ressource, die in der kolonialen Wahrnehmung und Beschreibung von Guiana nicht nur von Anfang an präsent war, sondern auch die Ressource schlechthin verkörpert. Im Abendland (und weit darüber hinaus) schon lange begehrt, wurde dem Metall als idealem Tauschmittel schon früh eine geradezu transzendentale Macht zugestanden. Gold ist in diesem Sinne die Ressource aller Ressourcen, die als Metapher für Ressourcenreichtum aller Art steht, wie dies in den mehr oder weniger gängigen Redewendungen vom schwarzen, weißen, braunen, grünen Gold zum Ausdruck kommt. Es ist daher nur folgerichtig, dass Gold als reale Ressource im kolonialen Guiana zunächst gar nicht auftaucht, obwohl sich dort vieles oder nahezu alles um Gold dreht. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt das Gold dann als Edelmetall die Landschaft Guayanas zu transformieren. Sein Bann ist bis heute ungebrochen, ganz im Gegensatz zum Kautschuk, der hier nur einen flüchtigen, wenn auch ökologisch wie sozial äußerst folgenreichen Boom erlebte. Allein das Öl nimmt im 20. Jahrhundert eine ähnlich umfassende Position ein, wie sie einst das Gold innehatte, indem es nicht nur materialiter den Motor globaler Prozesse füttert, sondern auch zum fantasmagorischen Substrat eines »magischen Staates« (Coronil 1997) wird. Die transzendenten Dimensionen des schwarzen Goldes sind freilich nicht mehr im Licht des Glaubens zu finden, das noch Kolumbus im Gold erblicken mochte, sondern in den Zauberkräften eines mühelosen Aufstiegs zu den Verheißungen der Moderne. Holz hebt sich schon wegen seiner höheren Reproduzierbarkeit aus der Kette der hier betrachteten Ressourcen heraus,
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und so mag es auch kein Zufall sein, dass für diese Ressource die Goldmetapher so recht nicht passen will. Tropisches Holz stellt in Venezuela keine genuine Boomressource von globalem Interesse dar. Die tropische Forstwirtschaft ist hier eingebettet in wirkungsmächtige Diskurse um Staatlichkeit und Souveränität, die zwar immer eine Verdrängung und Unterdrückung kultureller Differenz beinhalten, jedoch keine unhinterfragte Hegemonie besitzen. Denn zugleich spiegelt sich darin gerade auch die faktische Begrenztheit staatlicher Macht und Kontrolle über die Grenzgebiete wider, die neue, fragmentierte Räume kultureller Artikulation eröffnet. Während die Antriebskräfte dieser Konstellation vor allem in Venezuela liegen, ist die letzte der betrachteten Ressourcen – biologische Vielfalt – schon in seiner Entstehung intrinsisch an globale Entwicklungen gebunden. Mit der Durchsetzung globaler Standards in diesem Feld wird zugleich eine historische Großchance zur Verbesserung der Lage aller indigenen Völker erhofft. Die Umsetzung dessen in die Lebenswirklichkeiten der Kari’ña bringt neue räumliche Fragmentierungen mit sich ebenso wie symbolische Zugewinne. Guayana zeigt sich im Spiegel dieser Ressourcen als eine Landschaft, die ständig erobert und neuerobert wurde – als ein historisch immer wieder neu überschriebener Raum, in dem Indigene, Eroberer und Neueroberer ihre Handschrift hinterlassen haben. Wie El Dorado in den mythischen Überlieferungen, so haben sich auch die Kari’ña als indigene Bewohner dieses Raums einer vollständigen Vereinnahmung entzogen und so etwas Eigenwilliges, eine resistente Sperrigkeit bewahrt. Denkbar fernab sozialer und politischer Romantik schließt dies mit Scott (2009) auch eine »Kunst, nicht regiert zu werden« mit ein.
2 Fantastisches Gold – El Dorado und der doppelte Tod des Kaziken
»I never saw a more beautifull countrey, [...] and every stone that we stooped to take up, promised eyther gold or silver by his complexion.« SIR WALTER RALEIGH (1596)
»Ein conservativer Geist gefällt sich darin, die Irrthümer vergangener Zeiten fortwährend zu erhalten«, schrieb Alexander von Humboldt (1841: 11) mit Blick auf die frühe Geschichte der Kartographie und Geographie Guayanas. Der wenig schmeichelhafte Kommentar des aufgeklärten Gelehrten galt dabei jenen europäischen Entdeckungsreisenden des 16. und 17. Jahrhunderts, »ganz ungebildete, unwissenschaftliche Europäer«, so Humboldt (ebd.: xv), die in ihren Beschreibungen und Karten von Guayana so unbekümmert Fakten und Fiktionen verrührten. Eine Fiktion oder, in Humboldts Worten, ein Irrtum erwies sich dabei als besonders robust: die Vorstellung eines großen Binnensees, der sich bis weit in das 18. Jahrhundert auf fast allen kolonialen Karten Guayanas verzeichnet fand. Der See Parime oder Rupununi, wie er verschiedentlich auch genannt wurde, war Teil des berühmten Mythos von El Dorado, wörtlich: der Vergoldete. Dieser Mythos erzählt von einem indianischen Kaziken und Herrscher über ein weites Goldland, dessen Reichtümer so groß waren, dass der Kazike seinen mit Goldstaub bepuderten Körper täglich einer rituellen Waschung in jenem See unterziehen konnte. Die Geschichte taucht nach Hemmings (1978a) historischen Recherchen zum ersten Mal in den dreißiger Jahren des 16.
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Jahrhunderts im Umfeld der Muisca-Indianer (im heutigen Kolumbien) auf und verbreitete sich anschließend rasch. Seit der frühen Kolonialzeit wurden eine Reihe von Flüssen und Seen im nördlichen Südamerika mit diesem Mythos in Verbindung gebracht. Als das ›Eldorado‹ ist der Mythos auch generell zum sagenhaften Goldland und zum Symbol für Reichtum durch Naturaneignung geworden. In diesem Kapitel beschreibe ich, wie Gold als Fantasma und koloniales Objekt der Begierde die Geschichte Guayanas und seiner indigenen Bewohner, vor allem der Kari’ña, geformt hat. Dabei komme ich immer wieder auf die mythische Erzählung von El Dorado zurück, die – wie wir sehen werden – die diskursive und materielle koloniale Expansion der Europäer und ihre Begegnung mit den indigenen Kari’ña in Guayana in hohem Maße geprägt hat. Zwar mag Alexander von Humboldt nicht unrecht haben, wenn er solche Mythen als Fantasiegespinste und Irrtümer einem unaufgeklärten Denken vergangener Zeiten zuordnet. Zugleich muss auch Derek Gregorys (1998: 16) Bemerkung ernst genommen werden, dass »Mythen keine unbedeutenden Fantasien sind«, sondern durchaus wirkungsmächtige Geschichten, die im vorliegenden Fall für die Kari’ña auch sehr spürbare Folgen hatten. Der Mythos von jenem Goldland mit der goldenen Stadt und dem goldbepuderten König war vielleicht die einflussreichste und zählebigste aller mythischen Erzählungen, die die Vorstellungen der europäischen Abenteurer und Konquistadoren im 16. und 17. Jahrhundert bestimmte. Relikte davon geistern bis heute in den Köpfen lateinamerikanischer Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker herum. »Wenige Mythen«, schreibt auch Susanna Hecht (1998: 259), die die Bedeutung solcher Erzählungen für die jüngere Tropenwalddebatte herausgearbeitet hat, »haben [...] die europäische Begegnung mit dem Reich der Tropen tiefgreifender verändert als derjenige vom Eldorado«. Eine gewisse Ironie dieser Begegnung liegt dabei darin, dass sich im kolonialen Guayana zwar alles oder vieles um Gold drehte, das Gold selbst aber lange Zeit ephemer oder flüchtig blieb, zum Leidwesen jener spanischen und englischen Eroberer – Antonio de Berrio, Domingo de Vera e Ibargoyen, Walter Raleigh u.a. –, deren Suche nach dem Gold des sagenumwobenen Kaziken in Venezolanisch-Guayana bekanntlich nicht von Erfolg gekrönt war (vgl. Hemming 1978a). Dennoch und gerade in dem Scheitern dieser Unternehmung wirkte Gold als ständiger Antrieb für die koloniale Expansion und Besitznahme
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dieses mit Reichtümern vermeintlich so gesegneten Landstrichs der ›Neuen Welt‹, als deren Garant das Versprechen von Gold sich ausgab. »Das Begehren des Edelmetalls als eines Insigniums der Herrschaft eilt seiner Besitzergreifung stets voraus«, schreibt Magister (1997: 120) in seiner Interpretation eines der frühesten und bekanntesten Reisedokumente über diese Region – des Guianaberichts von Walter Raleigh, der mit seinen Schilderungen über das »große, reiche und schöne Reich von Guiana« die kolonialen Vorstellungen (und Begehrlichkeiten) in Bezug auf diese Region entscheidend geprägt hat. Der 1596 erstmals in London veröffentlichte Bericht ist, wie die Texte, die Kolumbus und Cook zugesprochen werden, eine Ikone des literaturwissenschaftlichen ›new historicism‹ geworden (Greenblatt 1994). Führende Vertreter dieser Richtung wie Montrose und Greenblatt gingen der Frage nach, wie der Westen die Differenz zwischen sich selbst und jenen ›Anderen‹ zu beschreiben versuchte, denen er im Verlauf seiner Entdeckung und kolonialen Expansion begegnete. Dabei zeigte sich, dass die textuellen Tropen und Repräsentationsformen, mit denen die Neue Welt im besonderem ›geschrieben‹ und damit ›erfunden‹ wurde, in frühen historischen Texten eine beträchtliche Stabilität aufweisen. Raleighs Schilderungen liefern eines der aufschlussreichsten und symbolkräftigsten Beispiele für die »Aporien von Entdeckung und Kolonisierung der Neuen Welt, von der Begegnung mit Alterität als frühmoderner Welterfahrung und deren faktischer Auslöschung« (Magister 1997: 112). In diesem Sinne gilt das Werk als paradigmatisches Beispiel für jenes »writing that conquers« (Montrose 1991: 4), welches konstitutiver Bestandteil der geistigen und kulturellen Eroberung Amerikas war. Für den »Renaissancemann«, den von Königin Elisabeth geadelten und später in Ungnade gefallenen Sir Walter Raleigh blieb die Geschichte von El Dorado ebenfalls nicht ohne Folgen, bezahlte er doch das Scheitern an seiner eigenen utopischen Konstruktion mit dem Leben. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts, als Venezuela bereits seine Unabhängigkeit von Spanien erkämpft hatte, wurde dann tatsächlich Gold in Guayana gefunden. Am Yuruarifluss und in der Region Caratal, unweit vom heutigen Tumeremo, bescherten erste Funde der einstigen Eldorado-Region in den 1850er Jahren den lang ersehnten Goldboom. Das fantastische Gold verwandelte sich in bares Gold. Dies war der Beginn einer bis heute andauernden, wechselvollen Geschichte der Goldsuche in Guayana, deren Auswirkungen auf die Kari’ña im nachfolgenden Kapitel dargestellt werden.
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Zunächst konzentriere ich mich auf die historischen Phasen in der Begegnung zwischen den Kari’ña und den Europäern, die vor dem eigentlichen Auftauchen von Gold als physisch-realem Rohstoff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen. Meine Ausführungen zur Koproduktion von Gold und kultureller Differenz der Kari’ña beginnen mit Kolumbus und enden mit jenen gerade genannten Ereignissen, mit denen üblicherweise die Geschichtsschreibung über Gold in Venezolanisch-Guayana einsetzt.
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UND
Es erscheint nur passend, den historischen Rückblick auf die kolonialen Erfahrungen der Kari’ña mit der Goldgier der europäischen Kolonialmächte mit einem Ereignis beginnen zu lassen, mit dem auch die Welt, die sie bewohnen, in die (europäische) Geschichte eintritt: die ›Entdeckung‹ Amerikas durch Christoph Columbus im Jahr 1492. Gleich zu Beginn seines viel beachteten Buches Die Eroberung Amerikas (1985) weist der französische Semiotiker Tzvetan Todorov auf die wesentliche Bedeutung hin, die der Akt der Entdeckung als solcher für das Selbstverständnis und Weltbild der Europäer hatte. Im Vergleich zu früheren Begegnungen mit dem Anderen und Fremden, so behauptet Todorov, stellte »die Entdeckung Amerikas, oder vielmehr der Amerikaner, die bei weitem erstaunlichste Begegnung unserer Geschichte« (Todorov 1985: 12) dar. Es war die Begegnung mit einer Welt, die nicht nur ein bis dato ungekanntes Gefühl der Fremdheit und Neuheit auslöste, sondern, da die Entdeckung Amerikas gleichzeitig die Entdeckung der geographischen Totalität der Erde bedeutete, auch die entscheidenden Weichen stellte für die Herausbildung einer neuen geographischen Imagination, in der Europa zum bestimmenden Referenzpunkt werden sollte (ebd.: 13; vgl. Berg 1995). »Bei all den Versuchen, den neuen Kontinent bis zu einem gewissen Grad mit dem alten vergleichbar zu machen, blieb der Standpunkt«, so Anthony Pagden (1996: 22) »stets unverrückbar europäisch«. Unter den vielen »wundersamen Dingen« (Greenblatt 1994), die die Europäer in der Neuen Welt antrafen, spielten von Anfang auch jene zwei eine herausragende Rolle, die hier im Mittelpunkt stehen: das Gold und die Kari’ña bzw. Kariben, wie sie in den historischen Dokumenten in der Regel
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bezeichnet wurden. Bereits in den Bordbüchern, die Kolumbus auf seinen Amerika-Reisen verfasste, sind Gold und Kariben allgegenwärtig. So notierte er schon einen Tag nach der Entdeckung, am 13. Oktober 1492, »ich beachte alles mit größter Aufmerksamkeit und trachtete herauszubekommen, ob in dieser Gegend Gold vorkomme« (zit. n. Todorov 1985: 16). Kolumbus ließ sich auch in seinen Entscheidungen über die einzuschlagende Fahrtroute von Gerüchten nach möglichen Goldfundorten leiten; »also entschied ich mich, nach Südwesten vorzudringen, um nach Gold und Edelsteinen zu suchen«, hielt er noch am gleichen Tag in seinem Buch fest (ebd.). Elf Jahre später, auf seiner vierten und letzten großen Reise in die Neue Welt, schrieb Kolumbus folgende, oft zitierte Passage über Gold: »Gold ist am edelsten, aus Gold legt man sich Schätze an, und wer es besitzt, kann auf der Welt tun, was er will. Es bringt sogar Seelen ins Paradies« (zit. n. Pagden 1996: 33). Kolumbus’ geradezu obsessiv erscheinendes Interesse an Gold beruhte jedoch nicht in erster Linie auf dem profanen ökonomischen Motiv, sich selbst oder seine Auftraggeber, die spanische Krone, bereichern zu wollen, sondern stand in enger Beziehung mit einem religiösen Sendungsauftrag, dem sich Kolumbus als zutiefst frommer Mensch verpflichtet fühlte. Todorov legt in seinem Buch mit Bezug auf die spanischen Konquistadoren anschaulich dar, wie zugleich Gold zunehmend die Rolle als besonderes Mittel der modernen Tauschbeziehungen, als wirkliches Geld sozusagen und damit als allgemeines Äquivalent aller materiellen und geistigen Werte einnimmt. Als beständiges, leicht teilbares und transportierbares, nichtsdestotrotz seltenes Edelmetall war Gold wie geschaffen, zum abstrakten Tauschmittel und übergeordneten Wertmaßstab in den wirtschaftlichen Modernisierungsprozessen der Neuen Welt zu werden. Gold stellte also nicht einfach irgendein begehrtes Gut dar, sondern war aufgrund dieser ihm zugeschriebenen Bedeutung ein ganz besonderes Objekt der kolonialen Begierde, das es vor allen anderen Dingen wertvoll erscheinen ließ. ›Kariben‹ wiederum war der erste ethnische Name, von dem in Europa aus der Neuen Welt berichtet wurde.1 Bereits in der Person Kolumbus lässt
1
Die Identität der Gruppen, die in den historischen Quellen als Kariben bezeichnet werden, kann nicht ohne Weiteres mit derjenigen der Vorfahren der modernen Kari’ña gleichgesetzt werden. Abgesehen von der grundsätzlichen Problematik, diskrete kulturelle Gruppen zu bestimmen, rührt die Ambiguität in der
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sich dabei jenes Spannungsverhältnis erkennen, das die spanische Kolonialherrschaft in Amerika durchweg kennzeichnen wird, nämlich zwischen den ethisch-religiösen Forderungen, die sich in der Überzeugung von der Universalität des christlichen Glaubens und der abendländischen Kultur begründen, und der Ebene interessensgeleiteter, politisch-ökonomischer Praxis im Umgang mit den Bewohnern und Ressourcen der neu entdeckten Welt. Auch Kolumbus’ Haltung gegenüber der indianischen Bevölkerung war von diesem Zwiespalt zwischen religiösen Entwürfen und pragmatischen Zielsetzungen geprägt. Nach Todorov (1985: 56) finden hier zwei »elementare Ausdruckformen der Erfahrung mit dem Anderssein« ihren Ausgangspunkt, wie sie im Folgenden das Verhältnis der Europäer zu den Indigenen immer wieder kennzeichnen wird: »Entweder sieht er [Kolumbus] die Indianer [...] als vollwertige Menschen, die dieselben Rechte besitzen wie er, betrachtet sie dann jedoch nicht nur als gleich, sondern auch als identisch, nimmt also eine Haltung ein, die zum Assimilationismus, zur Projektion eigener Werte auf die anderen führt. Oder aber er geht vom Unterschied aus, setzt diesen jedoch sofort in die Begriffe der Superiorität und der Inferiorität um (in seinem Fall sind natürlich die Indianer die Unterlegenen).«
Die aus der Wahrnehmung realer Unterschiede und deren Unvereinbarkeit mit den eigenen kulturellen Prämissen abgeleitete These von der Minderwertigkeit des Anderen diente den Spaniern immer wieder auch als moralische Rechtfertigung für die Ausbeutung und Versklavung indigener Gruppen. Analog sah die spanische Kolonialmacht ihre materielle Eroberung grundsätzlich als eine Form des Austausches für die von ihnen geleistete geistige Bekehrung an. Wie stark Kolumbus dabei schon auf seinen ersten Reisen differenziert und polarisiert, wird an seiner gegensätzlichen Beschreibung der Arawaken und der Kariben deutlich. Von ersteren heißt es in einer geradezu paradiesischen Beschreibung, sie seien »ein Volk der
kolonialen Klassifikationspraxis bezüglich der Kariben auch von politischideologischen Motiven her. So genügte häufig schon die Unterstellung kannibalistischer Praktiken und anti-spanischer Einstellungen, um indigene Gruppen als ›Kariben‹ zu bezeichnen (vgl. Whitehead 1988). Zu unterscheiden ist der koloniale Gebrauch des Wortes Kariben auch von der linguistischen Klassifikation ›Kariben‹ in der ethnologischen Literatur (vgl. Heinen 1983-1984).
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Liebe [...] nützlich in allen Dingen, so dass ich Eurer Hoheit versichern kann, dass ich glaube, dass es in der Welt weder ein besseres Volk noch ein besseres Land gibt« (Colón 1982 [25.12.1492]: 98). Ganz anders dagegen sein Urteil über die Kariben, »die ein verwegenes Volk sein müssen, denn sie ziehen über alle Inseln und essen die Menschen, derer sie habhaft werden [...], ein Volk ohne Angst, nicht wie die der anderen Inseln, die feige sind und ohne Waffen den Verstand verlieren« (Colón 1982 [13.01.1493]: 115f.).2 Die Kariben wurden auf diese Weise von Anfang an der moralisch inferioren Kategorie des Anderen zugeordnet. Aus Sicht der Spanier verkörperten sie lange Zeit die extremste Form des Wilden, wobei allen voran der ihnen nachgesagte Kannibalismus als Kriterium ihrer unversöhnlichen kulturellen Differenz gebrandmarkt wurde. Überlieferte Berichte und Dokumente aus dem spanischen Amerika des 16. Jahrhunderts sind voller Anspielungen auf die kannibalistischen Praktiken der Kariben, wie der Ethnologe Neil Whitehead (1988) in seiner Studie über die Geschichte der Kariben im kolonialen Venezuela und Britisch-Guiana dokumentiert: »Es ist in der Tat so, dass der bloßen Erwähnung von Kariben in diesen Dokumenten fast ausnahmslos der Nachsatz folgt: ›que comen carne humana‹, was darauf hindeutet, dass der Kannibalismus der Kariben so etwas wie ein offizielles Dogma geworden ist.« (Ebd.: 175)
Die schon bei Kolumbus etablierte Unterscheidung zwischen bösen und guten Indianern, abhängig davon, ob sie als Kannibalen galten oder nicht, ob sie friedfertig und unterwürfig oder kriegerisch und rebellisch waren, schlug sich dann auch 1503 in einem Erlass der Königin Isabella von Spanien nieder, der die Versklavung jener Kannibalen für rechtmäßig erklärte. Während Sklaverei, Ausbeutung und Gewalt gerade in der frühen spanischen Eroberungsphase des 16. Jahrhunderts in Amerika zur Tagesordnung gehörten, bemühte sich die spanische Krone, die sich ja selbst auch als katholische Macht verstand, zugleich gewisse moralische Prinzipien im Umgang mit der indianischen Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Zur Symbolfigur im frühen Kampf um die Rechte indigener Bevölkerungen in Amerika wurde der Geistliche und spätere Bischof von Chiapas, Bartolomé de Las
2
Zur anhaltenden Wirkungsmächtigkeit dieser ethnischen Stereotypisierung von Arawaken und Kariben in Guyana s. Hulme (1986) und Drummond (1977).
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Casas. Er kritisierte die Brutalität und Habgier der Konquistadoren und denunzierte die Unterdrückung, Ausbeutung und den Genozid an den Indianern. Seinem Einsatz war es zu verdanken, dass eine Reihe von Gesetzen (von Burgos 1512; nuevas leyes 1542) erlassen wurde, die die Verfügungsgewalt der Konquistadoren über die Indianer einengte. In diesem Sinne stellte auch der erwähnte königliche Erlass eigentlich einen Versuch dar, das grausame Treiben vieler spanischer Konquistadoren auf ihren frühen Stützpunkten Cubagua, Margarita, Tobago, Trinidad sowie Paria auf dem Festland einzudämmen, wo bereits in den ersten drei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ganze Völker an den Folgen der Sklavenarbeit in den Perlenbänken starben, die 1512 von den Spaniern entdeckt und innerhalb kürzester Zeit hemmungslos geplündert wurden. Schließlich durften nur die als Kannibalen klassifizierten Gruppen mit Zwang und Gewalt zu Arbeitsdiensten herangezogen werden, während alle anderen zu tributpflichtigen, aber ›freien‹ Vasallen der spanischen Krone erklärt wurden und daher zumindest de jure einen gewissen Schutz genossen. De facto aber konnte dieser Rechtsdiskurs leicht unterlaufen werden, indem man schlicht, wie bereits angedeutet, die koloniale Klassifikationspraxis den jeweiligen politischen und ökonomischen Prioritäten anpasste, so dass beispielsweise die indigenen Bewohner Trinidads oder auch Margaritas einmal als Kariben, sprich Kannibalen, dann wieder als Nicht-Kariben deklariert wurden (Whitehead 1988: 11). Die Klassifikationspraxis der Spanier mit Blick auf die Kariben und andere indigene Gruppen basierte demnach nicht so sehr auf ethnischen bzw. kulturellen Merkmalen. Sie resultierte vielmehr aus realpolitisch begründeten Unterscheidungen zwischen solchen Gruppen, die die Besetzung und Herrschaft der Spanier zu deren Bedingungen zu akzeptieren bereit waren und solchen, die ihre Territorium und Lebensstil zu verteidigen suchten. Wie Hulme in seiner sehr lesenswerten Diskursanalyse über diese frühen kolonialen Begegnungen schreibt, war das, »was die spanische Klassifikation in Wirklichkeit offenbarte, die Reaktion auf Seiten der indigenen Bevölkerung auf die Präsenz der Spanier« (Hulme 1986: 73, Hv. im Orig.). In der »kannibalistischen Trope« (McClintock 1995: 27) und der Geschichte von El Dorado spiegeln sich zentrale Ambivalenzen der kolonialen Befindlichkeit gegenüber der Neuen Welt wider. Zum einen war das Handeln und Denken der frühen spanischen Konquistadoren hinsichtlich der neu entdeckten Welt in erheblichem Maße von der Idee beseelt, hier ei-
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ne ebenso reiche wie prinzipiell verfügbare Welt vor sich zu haben. Tief beeindruckt von der üppigen tropischen Natur, die sie dort antrafen und die so gänzlich anders war als die, die sie kannten, richteten sich ihre Eroberungsträume gleichermaßen auf die materielle Ausbeutung der fantastischen Reichtümer, die diese Natur auch im Inneren zu verbergen schien, wie auf die Expansion ihres geographischen Wissens über die noch unbekannten Landschaften. Auch wenn man letztendlich vergeblich nach dem sagenhaften Goldland von El Dorado suchte, wirkte dieser Mythos doch als ständiger Antrieb für die koloniale Eroberung und Inbesitznahme der Neuen Welt, auf eine Weise wie sie abstraktere Anreize zur ›Entdeckung‹ und Exploration damals kaum hätten leisten können (Whitehead 1995: 61). Es wundert daher wenig, dass sich die Region, wo das Reich des El Dorado vermutet wurde, zusammen mit den unbekannten weißen Flecken immer tiefer ins Landesinnere verschob, bis sie ihren letzten Bestimmungsort in der Sierra Parima fand, dem letzten Stück terra incognita im Guayanaschild (Alès/Pouyllau 1995: 21). Zum anderen aber war neben dieser ›ökonomisierten‹ Sicht auf die Neue Welt und den damit verknüpften Allmachtsfantasien über die Natur, ihre Reichtümer und Bewohner, die Begegnung mit dem Fremden immer auch von Furcht durchsetzt. Da war eben nicht nur die friedlich brachliegende und verfügbare Natur, sondern auch die unbändige und animalische Natur, die sich der Europäer zu bemächtigen drohte, und welche insbesondere in der Gestalt des dunklen und undurchdringlichen Regenwaldes und der angeblichen Wildheit der indigenen Bevölkerung lauerte (vgl. Gregory 1998; Taussig 1987). Diese Furcht davor, von der Natur verschlungen zu werden, sie nicht an ihrem angemessenen Platz halten zu können, verdichtete sich in der kannibalistischen Trope, wo die Angst, vom Unbekannten einverleibt zu werden, in den Worten McClintocks (1995: 27), »auf die kolonialisierten Menschen selbst als deren Bestimmung projiziert« und häufig genug mit »fantastischen Riten imperialer Gewalt« beschworen wurde. Beide Konzeptionen oder »Mytho-Praktiken« der Europäer, wie ich diese Diskurse um ›El Dorado‹ und die ›wilden Kannibalen/Kariben‹ in Anlehnung an Whitehead (1995: 61) nennen möchte, waren für die frühkoloniale Begegnung zwischen den Kari’ña und den Europäern in ganz besonderem Maße prägend, eben weil sie und ihr Territorium die perfekte ideologische Matrix zur Verfügung stellten, auf der diese Bilder und Vor-
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stellungen belebt und ausgelebt werden konnten: Die zunehmend einflussreiche Position der Kariben bzw. Kari’ña im komplexen intertribalen Handelsnetz, das sich zu dem Zeitpunkt, als die Europäer in Amerika eintrafen, zwischen den Küsten der Tierra Firme und dem Hochland Guayanas erstreckte und in dem neben vielen anderen Handelsgütern auch Edelsteine und goldene Amulette zirkulierten; ihre ebenso bewunderten wie gefürchteten Fähigkeiten der Kriegsführung; ihre von frühen Chronisten immer wieder hervorgehobene kraftvolle Körperstatur; und nicht zuletzt ihr hartnäckiger Widerstand gegen die Eroberungsversuche der Spanier – all dies hat sicherlich der Entstehung der kolonialen Diskurse vom reichen Guayana und der ›Wildheit‹ der Kariben Vorschub geleistet. So kam es, wie der amerikanische Reiseschriftsteller Michael Swan nicht ohne Ironie bemerkt, »dass das Gebiet der Caribana [i. e. Kannibalen] passenderweise gerade mit dem Land des vermeintlichen Reiches von El Dorado zusammenfiel« (1957: 284). Oder entsprechend dem theoretischen Leitmotiv dieser Arbeit: die (bis heute wirksame) koloniale Konstruktion von Guayana als einem Ort fantastischer Reichtümer und die koloniale Festschreibung der dort wohnenden Kariben als das »unversöhnliche und wilde Andere« stehen in einem koproduktiven Verhältnis zueinander, in dem sich eine spezifische Begegnungssituation Ausdruck verschafft. Ein weiterer Faktor begünstigte diesen Zusammenhang. Wie in den folgenden Ausführungen noch deutlich werden wird, beruhte der spanische Besitzanspruch auf Guayana und insbesondere auf die Sierra Imataca lange Zeit mehr auf einer symbolischen Geste, denn auf faktischer Einflussnahme und Kontrolle. Santo Tomé, vom Spanier Antonio de Berrio 1595 auf einer seiner drei Expeditionen nach El Dorado in der Nähe des Zusammenflusses von Orinoko und Caroní (in der Nähe des heutigen Cd. Guayana) gegründet, blieb bis Mitte des 18. Jahrhunderts die einzig nennenswerte spanische Siedlung in diesem Gebiet. Selbst dieser Ort jedoch befand sich in den ersten 150 Jahren seines Bestehens in einem chronisch »heruntergekommenen und isolierten Zustand« (Whitehead 1988: 28), woran sich erst unter dem spanischen Gouverneur von Guayana, Carlos Sucre (17331766), allmählich etwas ändern sollte (vgl. Civrieux 1976; Butt Colson 1994-1996). In der kolonialen Kartographie und Imagination wurden solche Leerstellen und Vakanzen gerne mit Bildern von Kannibalen, Amazonen, El Dorado und anderen fantastischen Szenarien gefüllt, wodurch, wie Patricia Seed in ihrem Buch Ceremonies of Possession in Europe's Conquest
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of the New World (1995) zeigt, zwar symbolisch der koloniale Besitzanspruch vorweggenommen und legitimiert wurde. Auf der Ebene realer Machtpolitik waren diese Ansprüche jedoch oft keinesfalls gesichert- Gerade in diesem Fall schürte das im ›Land der Kariben‹ vermutete Gold die kolonialen Rivalitäten um das Gebiet im besonderen Maße (vgl. Forte 1999).
K OLONIALE F RONTEN
UND
H ANDELSBEZIEHUNGEN
Neben dem Kannibalismus wird als ein die Kari’ña historisch kennzeichnendes Merkmal immer auch ihre enge politische und ökonomische Kooperation mit nicht-spanischen Mächten, vornehmlich den Holländern, aber auch den Engländern und Franzosen hervorgehoben, und – damit verknüpft – ihre feindselige Haltung gegenüber den Spaniern. Die »Dutch connection« (Whitehead 1988) der Kari’ña bestimmte letztlich auch über Misserfolg und Erfolg der spanischen Kolonialisierung im Orinokobecken und der Sierra Imataca. Bereits in den 1530er Jahren hatten die Spanier einige sporadische und wenig erfolgreiche Explorationsversuche den Orinoko hoch in das südliche Landesinnere gewagt. Erst etwa fünfzig Jahre später begann man sich ernsthafter für das Gebiet zu interessieren. Die Spanier waren mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, in der Region zwischen dem Orinoko und dem Amazonas das Eldorado zu finden, nachdem u.a. die deutschen Welser es zuvor vergeblich am Metafluss im Westen gesucht hatten (vgl. Hemming 1978a sowie Ramos Pérez 1973 für eine akribische Darstellung der vielen Eldorado-Expeditionen im 16. Jahrhundert). Des Weiteren spielte aber auch die ernüchternde ökonomische Situation mit dem Ende der Boomjahre auf den Perleninseln vor der Küste eine Rolle, welche das Interesse der Spanier zwangsläufig auf die im Hinterland der Kariben vermuteten Reichtümer lenkte. In diesen letzten Jahren des 16. Jahrhunderts wurde der Grundstein gelegt für die anhaltenden Rivalitäten zwischen Spanien, das sich seinen Hoheitsanspruch über diesen Teil der Neuen Welt bereits 1493 durch eine päpstliche Bulle hatte besiegeln lassen, und den nordeuropäischen Mächten, die erst relativ spät die folgenreiche Bedeutung dieser Aufteilung der Neuen Welt zwischen Spanien und Portugal erkannten (Berg 1995: 41f.). Nicht wenige venezolanische Historiker sehen diese Zeit, in der sich englische und holländische Piraterie vor den
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karibischen Küsten »endemisch wie Seuchen ausbreitete« (Lemmo 1986: 18) als entscheidend für Spaniens (bzw. später Venezuelas) territoriale Verluste im Osten des Guayanaschildes. Diese finden in einem bis heute andauernden und für unsere Geschichte bedeutsamen internationalen Grenzkonflikt ihren Nachhall. In dieser Zeit war aus El Dorado eher ein goldenes Land geworden als ein vergoldeter Mann, sowie der Name einer Provinz. Die Geographie derselben war verständlicherweise vage, und umfasste eine unbestimmte Region von Urwäldern und Flüssen im Südosten des amerikanischen Festlandes in Richtung Brasilien, deren Ausmaße noch völlig unbekannt waren. Als 1595 der britische Abenteurer Sir Walter Raleigh am Orinokofluss auftauchte, und Antonio Berrio gefangen nahm, hielt letzterer als »Gouverneur von Trinidad, Guayana, El Dorado und Groß-Manoa« (Civrieux 1976: 884) den Titel über ein Gebiet zwischen dem Orinoko und dem Amazonas, das sich westlich bis hin zu den Llanos in der Nähe des heutigen Kolumbien erstreckte. Während die Engländer in besagter Person von Sir Walter Raleigh eine zwar äußerst dramatische (und diskursiv nachhaltige), aber letztlich realpolitisch wenig durchschlagende Präsenz in der Orinoko-Region zeigten, erwiesen sich die Versuche der Holländer, sich weiter östlich an der sogenannten »wilden Küste« zu etablieren zunächst als erfolgreicher. Im Gegensatz zu den Spaniern, die entweder dazu neigten, die indigene Bevölkerung auf grausame Weise auszubeuten, oder mit ›friedlichen Mitteln‹ bekehren zu wollen, was jedoch oft auf das Gleiche hinauslief, nämlich ihre physische Vernichtung, konzentrierten sich die Bemühungen der Holländer von Beginn an darauf, langfristige und strategische Handelsbeziehungen mit den Indigenen zu knüpfen. Die Holländer waren, wie Menezes (1977: 74) schreibt, »vor allem Geschäftsleute und mehr am Handel interessiert als an der Jagd nach Gold, welche ihre westlichen Nachbarn, die Spanier, so in Bann schlug«. Erleichtert wurde diese Handelspolitik der Holländer dadurch, dass sie sich relativ mühelos in die bereits bestehenden traditionellen Formen wirtschaftlichen Austauschs und sozialer Organisation einfügen ließ. Wie ethnohistorische Studien gezeigt haben, unterhielten die verschiedenen, im größeren Einzugsgebiet des Orinoko ansässigen indigenen Gruppen zur Zeit der europäischen Ankunft in Amerika sehr enge Beziehungen untereinander, die gleichermaßen auf politischen, kriegerischen und affinalen Allianzen basierten wie auf dem Austausch von kulturellen
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Ideen, Praktiken, Technologien und Handelswaren. Die wichtigsten Handels- und Kommunikationsachsen führten entlang der großen Flusssysteme des Orinoko, Cuyuni, Caroní und Caura und wurden dort, wo der Weg zu Wasser versperrt oder unmöglich war, durch ein feinmaschiges Netz aus Waldpfaden ergänzt. Die Kari’ña, so geht aus den Studien hervor, nahmen in diesem »Orinokosystem regionaler Interdependenz« (ArveloJiménez/Biord-Castillo 1989) eine einflussreiche Stellung ein, die später durch die Präsenz der Europäer noch wesentlich verstärkt wurde. Von ihren angestammten Siedlungsgebieten am unteren und mittleren Orinoko, den östlichen Llanos am Guarapiche (in den heutigen Bundesstaaten Anzoátegui und Monagas), und in den bewaldeten Gebiete nördlich des Cuyuniflusses in der Sierra Imataca unternahmen die Kari’ña ausgedehnte Reisen zu benachbarten Karibenvölkern und anderen indigenen Gruppen in Guayana, wie den Sálivas, Adoles, Maipures oder Yaruros, die westlich des Caura am oberen Orinoko lebten, und für Handelsprodukte wie geräucherten Fisch, Palmöl, Schildkröteneier, Tabak, Maniokreiben, Hängematten und Pfeilgifte geschätzt waren. Als exzellente See- und Flussnavigatoren erreichten die Kari’ña mit ihren Handelsexpeditionen weite Teile des nordöstlichen Festlandes einschließlich der Küsten, bis hin zu den Antillen im karibischen Meer, mit deren Bevölkerung sie in engem und freundschaftlichen Kontakt standen. Ihre Expeditionen gingen dabei oft Hand in Hand mit Kriegszügen gegen feindliche Gruppen, wie z.B. ihre chronischen Gegner und »Todfeinde« (Schwerin 2003: 49), die in den Küstenregionen lebenden Arawaken bzw. Lokono, die den Spaniern friedlicher gesinnt waren und von denen die Kariben Kriegsgefangene, sogenannte poitos erbeuteten, die traditionell in ihre Gemeinschaft integriert wurden (Amodio 1991; Morales Méndez 1990). In diesem intertribalen Handel stellten Gold und grüne Jadesteine Güter von hohem kulturellen und religiösen Wert dar, die aus dem guayanischem Hochland zu den Küsten- und Inselbewohnern gebracht wurden. Besonders bekannt waren kleinere Kunstobjekte aus einer Kupfer-Goldlegierung, meist Darstellungen von Tiermotiven, die unter der indigenen Bezeichnung guanín oder karikuri gehandelt wurden. Strittig ist allerdings, ob die Kari’ña nur Zwischenhändler in diesem Goldhandel waren und die GuanínProdukte überwiegend von den Muisca-Indianer im heutigen Kolumbien hergestellt wurden, oder ob es eine eigene indigene Tradition der Goldverarbeitung in Guayana gab. Nach Kloos (1971) wird das Wort Karikuri von
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den Maroni River Caribs in Surinam häufig in Darstellungen des Jenseits benutzt, welches als glänzend und scheinend vorgestellt wird. Er vermutet, dass es solche Geschichten über den ›Himmel‹ waren, die frühere Entdecker an die Existenz von Gold im inneren Guayanas glauben ließen. Während die Maroni das Wort karikuri zwar mit Gold übersetzen, es aber nicht für das eigentliche Metall benutzten, wird es heute von den Kari’ña als Bezeichnung für Gold allgemein, d.h. auch in seiner mineralischen Form verwendet, was ihre Erfahrung mit der europäischen Gier auch nach dem rohen, nicht bearbeiteten Gold sprachlich zum Ausdruck bringen mag (vgl. Forte 1999). Laut Whitehead (1988) waren Arawaken und Kariben die wichtigsten Gruppen in diesem Handel mit der Küste. Der Bedeutung dieses Handels für ihre Vormachtstellung bewusst sorgten sie dafür, dass den Europäern kein direkter Zugang zu den Handelskanälen des Hochlandes gewährt wurde. Ebenso verschwiegen zeigten sich die Indigenen in Bezug auf die von den Europäern so sehnsüchtig erhoffte Preisgabe von Goldlagerstätten. Dass die Europäer niemals Eldorado fanden, hat nach Whitehead daher seinen Grund ebenso sehr in der weitläufigen Streuung der Goldadern im Raum wie in der Verschwiegenheit der indigenen Bevölkerung. Diese Politik der Geheimhaltung war nachhaltig, denn noch Ende des 18. Jahrhunderts hielt ein Gouverneur von Essequibo in einem Brief ernüchtert fest, dass »wir keine Erwartungen hegen dürfen, irgendeine Information von den Indigenen über Goldminen zu bekommen« (ebd.: 53). Unter dem Einfluss der sich neu formierenden Handelskontakte mit den Holländern, die 1616 mit der Errichtung des ersten Handelspostens an der Mündung von Essequibo und Cuyuni und der nur fünf Jahre später erfolgten Gründung der Dutch West India Company ihre Präsenz im Osten Guayanas konsolidierten, veränderte sich die bestehende ethnopolitische Ordnung. Vieles deutet darauf hin, dass insbesondere die Kari’ña von diesen Entwicklungen profitieren konnten. So weisen viele Chronisten des 17. und 18. Jahrhunderts auf die herausragende Stellung der nación caribe unter den indigenen Völkern Guayanas hin, die sich allen Befriedungsversuchen der spanischen Kirche mit großer Aggressivität und Feindseligkeit entgegenstellte. Der Jesuitenmissionar Martínez Rubio, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts seine Eindrücke von den Missionen in Guayana festhielt, charakterisiert die Kari’ña als »stolzes Volk, hochmütig von Natur aus und wagemutig in seiner Art« (Martínez Rubio 1966: 149). Sein Ordensbruder Augustín de Vega, ebenfalls missionarisch in Guayana tätig,
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kam etwa vierzig Jahre später zu ähnlichem Urteil, wenn er äußert: »Die karibische Nation ist volkreicher als jede andere am Orinoko, und alle zeigen sich von Geburt an den Waffen zugetan, in die sie all ihre Sorgfalt legen, und ihren Ruhm.« (Vega 1974, II: 27) Die Dominanz der Kariben in jener Zeit hebt auch der Jesuitenpater Gumilla in seinem etwa zur gleichen Zeit verfassten Werk El Orinoco Ilustrado y Defendido hervor; ihm sei nicht bekannt, »dass es in diesen Ländern ein Volk [i. Orig.: nación] gibt, dass diesem an Größe und Menge ebenbürtig wäre.« (Gumilla 1963: 488) Den Spaniern war dabei durchaus bewusst, dass der wachsende Einfluss der Kari’ña im Orinokogebiet in engem Zusammenhang mit der in ihren Augen unsittlichen Allianz zwischen den ›flämischen Rebellen‹ und den ›menschenfressenden Kariben‹ stand. Mehr als die Kari’ña (die trotz der Bedrohung, die von ihnen ausging, in der kolonialistischen Logik weniger politische Rivalen, denn zu kolonialisierende Untertanen waren) befürchteten die Spanier ein Eindringen der holländischen Rivalen in ihr Hoheitsgebiet, die – wie der damalige Gouverneur von Santo Tomé in einem Brief an den spanischen König 1662 klagte – »all die indianischen Bewohner dieser Küsten zu ihrer Verfügung haben, so dass sie mich in allerhöchste Besorgnis versetzen, das ruinöse Ende dieser Regierung befürchten zu müssen« (zit. n. Whitehead 1988: 159). Da die Behandlung und Propaganda, die die Spanier den ›kannibalistischen‹ Kari’ña angedeihen ließen, der Entwicklung kooperativer oder freundschaftlicher Beziehungen nicht zuträglich war, fanden die Kari’ña mit den Holländern leicht zu einer Übereinstimmung in einer anti-spanischen Haltung, die den übergeordneten politisch-strategischen Rahmen einer lang anhaltenden Allianz bilden sollte.
D IE K ARI ’ ÑA ALS H ANDELSPARTNER UND B USCHPOLIZEI Ein entscheidende Faktor für die sich im 17. Jahrhundert konsolidierende politische und ökonomische Dominanz der Kari’ña in Guayana war die Vormachtstellung, die sie sich gegenüber anderen indigenen Gruppen im Handel mit den Holländern sichern konnten. Dies verschaffte ihnen privilegierten Zugang und Kontrolle über einen Strom europäischer Handelsgüter. Beides verstanden die Kari’ña im bestehenden System interethnischer Beziehungen wirksam als politisches Kapital zu instrumentalisieren. Zu den
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wichtigsten indigenen Handelsprodukten, die die Kari’ña in den holländischen Handelsposten gegen Metalläxte, Messer, Scheren, Haken, Töpfe, Macheten, Seifen, Spiegel, Glasperlen und später zunehmend auch Gewehre tauschten, gehörten Werthölzer, Tabak, Farbstoffe sowie weitere sogenannte Nicht-Holzprodukte, wie Öle, Balsame, Früchte und Drogen, welche sich ja gerade in jüngster Zeit im Kontext der Debatte um alternative und nachhaltige Vermarktungsansätze im Tropenwaldschutz erneut großer Popularität erfreuen. Gerade in der frühen Phase im 16. Jahrhundert waren die holländischen Siedlungen zudem auch in der Nahrungsversorgung auf die indigene Bevölkerung angewiesen, von der sie Mais, Fisch, cassabe, Fleisch usw. eintauschten (Whitehead 1988: 159f.). Das mit Abstand wichtigste kommerzielle und in erster Linie für den Export nach Europa bestimmte Handelsgut aus diesem Gebiet war zunächst nicht etwa Gold, sondern Annato (spanisch: Onoto), ein roter Farbstoff, der aus dem Samen des Buschgewächses Bixa orellana gewonnen und von vielen indigenen Gruppen Südamerikas insbesondere zur rituellen Körperbemalung genutzt wird. Um sich eine Vorstellung vom Volumen des Handels mit Annato, oder Kuseeve, wie die Kari’ña diese Pflanze nennen, zu machen: Zwischen 1700 und 1742 exportierte die Dutch West India Company nach Whiteheads Berechnungen (1988: 160f.) etwa 335 Tonnen von Indigenen produziertes Annato aus ihrer Kolonie Essequibo nach Europa, wo es v.a. als Färbemittel in der aufstrebenden Tuchindustrie eingesetzt wurde. In den von den Holländern festgelegten Tauschwertigkeiten entsprach dies einem Äquivalent von etwa 140.000 großen Äxten oder nahezu 200.000 Macheten. Berücksichtigt man zudem, dass der Annato-Handel zwar den wichtigsten, aber längst nicht den gesamten Teil des indigenholländischen Handelsvolumens darstellte (in zeitlicher wie ökonomischer Hinsicht), so wird einerseits deutlich, wie groß die politische und ökonomische Macht war, die sich die Kari’ña durch ihre privilegierte Stellung in diesem Handel sichern konnten. Andererseits zeigt sich hier, welche konstitutive Rolle die Kari’ña nicht nur in der Formierung der holländischen Kolonialmacht vor Ort spielten, sondern auch im entstehenden englischen Handelskapitalismus mit der Neuen Welt oder auch dem, was Berg (1995: 43) den »Beutekapitalismus des 16. und 17. Jahrhunderts« nennt. Mary Louise Pratt (1992) hat den Begriff der »contact zone« eingeführt, um das interaktive und produktive Moment in der Begegnung an der Peripherie des kolonialen Raums zu unterstreichen, das in den ›kolonialen Er-
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oberungsgeschichten‹ so leicht verkannt wird. Damit sollen keineswegs die extrem ungleichen Herrschafts- und Machtbeziehungen in Abrede gestellt werden, die in der Begegnung zwischen Europäern und indigener Bevölkerung letztlich etabliert und konsolidiert wurden. Vielmehr soll deutlich gemacht werden, dass die Herstellung von kolonialer Staatlichkeit und ethnischen Formationen in Guayana keineswegs in einfachen Binaritäten von Unterdrücker/Unterdrückte, von Dominanz/Widerstand, von kultureller Anpassung/Erosion etc. analysiert und beschrieben werden können, sondern gemeinsam hervorgebracht wurden, in einem koproduktiven Prozess, der oft ambivalente Konsequenzen hatte. Deutlich zum Ausdruck kommt dies beispielsweise im Phänomen des Handels mit indigenen Sklaven, dem sogenannten »roten Gold« (Hemming 1978b), das in den Handels- und Kriegszügen der Kariben stets eine Rolle spielte, und auch in den kolonialen Unternehmungen der Europäer, v.a. der Spanier, von Beginn an präsent war. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts gewann dieser Handel jedoch eine zunehmend größere und machtpolitischere Bedeutung im kolonialen Gefüge, sowohl in den Beziehungen zwischen Holländern und Kari’ña, als auch in den geopolitischen Rivalitäten der Kolonialmächte in und um Guayana. Die Ausweitung und wachsende Bedeutung des Handels mit indigenen Sklaven stand im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Entwicklungen in den holländischen Kolonien Demerara, Essequibo und Berbice jener Zeit. So verlor der bis dahin zwischen den Kariben und Holländern vorherrschende Handel mit Waldprodukten – das Annato zunächst ausgenommen – in dem Maße an Bedeutung, wie die Holländer ihre wirtschaftlichen Aktivitäten auf Kaffee- und Zuckerrohrplantagen in den Küstengebieten verlagerten und aufgrund ihrer stabileren Versorgungslage vom Erwerb indigener Nahrungsmittel und Gebrauchsgüter unabhängig wurden. Stattdessen stieg der Bedarf an Arbeitskräften für die Tätigkeiten auf den Plantagen, so dass sich das Interesse der Holländer nun vornehmlich auf die Indigenen selbst bzw. auf die Rekrutierung indigener Arbeitskräfte richtete. Die Indigenen galten dabei nach allgemeiner Einschätzung der Europäer allerdings als wenig tauglich für die Verrichtung schwerer Plantagenarbeit. Sie wurden, wie es scheint, überwiegend für Dienste im häuslichen Bereich und als Nahrungsproduzenten vor Ort herangezogen. Für die harte Feldarbeit auf den Zuckerrohrplantagen in den holländischen Kolonien fand sich bekanntlich eine andere Lösung: Afrikanische Sklaven, die ab Mitte
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des 17. Jahrhunderts in immer größerer Zahl in die überseeischen Kolonien eingeführt wurden. Damit versuchte man das chronische Problem mangelnder Arbeitskräfte in den Kolonien zu lösen, das bis weit in das 19. Jahrhundert hinein virulent blieb. »Nur eine Sache fehlt, um aus dem Land ein Eldorado, ein noch profitableres Besitztum als die besten ostindischen Kolonien zu machen«, kommentiert ein holländischer Historiker im 19. Jahrhundert, »und diese eine Sache ist, Leute, Bevölkerung, Arbeiter« (Netscher 1888: 3, Hv. i. Orig.). Eine stetig wachsende Nachfrage nach indigenen Arbeitskräften war insbesondere in der holländischen Kolonie im Osten, dem heutigen Surinam, zu verzeichnen, »wo der Besitz von indigenen ›Haussklaven‹ regelrecht zur Mode wurde«, wie Whitehead (1988: 181) vermerkt. Im Handel mit indigenen Arbeitskräften traten die Indigenen selbst gleichermaßen als Objekt und Handelsware wie aktiv als ›Sklaveneintreiber und -verkäufer‹ in Erscheinung. Zu führenden Protagonisten unter der letztgenannten Gruppierung gehörten auch Kari’ñagruppen aus der Imataca/Essequibo-Region. Diese gingen immer mehr dazu über, die auf ihren Handels- und Kriegszügen erbeuteten Gefangenen, die bereits erwähnten poitos, an holländische Händler und Plantagenbesitzer auszuliefern, bevorzugt im Tausch gegen Gewehre und Munition, welche sie wiederum für gezielte und vermehrte Überfälle sowohl gegen schwächere oder rivalisierende indigene Nationen, als auch gegen spanische Stellungen am unteren Orinoko einsetzen konnten. Offenbar wurden viele der Gefangenen zunächst durch Handel mit friedlichen Gruppen erworben, obwohl die zunehmende Nachfrage der Kari’ña viele dieser ›friedlichen‹ Gruppen dazu gezwungen haben dürfte, ihre Gefangene wiederum mit kriegerischen Überfällen von anderen Gruppen zu erbeuten (Schwerin 2003: 56). Mit der Ausweitung des Sklavenhandels wurden die nahe am Orinoko lebenden und zugänglicheren Gruppen mehr und mehr dezimiert, was die Kari’ña und alliierte untergebene Gruppen zwang, ihre Suche nach Gefangenen auf ein immer größeres Gebiet auszuweiten. Vorerst hatten die Kariben offenbar das Handelsnetzwerk noch weitgehend unter Kontrolle. Sie initiierten die Interaktionen mit den Holländern und auch Franzosen, und waren federführend in der Attacke gegen die Spanier, deren Missionierungsversuchen sich die Kari’ña mit Feindseligkeit, Zerstörung und Massakern entgegenstemmten. Sowohl den Kariben wie Holländern schien klar, dass eine erfolgreiche Missionierung durch die Spanier dem lukrativen Handel im Einzugsgebiet des Orinoko ein Ende be-
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reiten würde. Gleichzeitig scheuten sich die protestantischen Holländer nicht, die Kariben gegen die katholischen Spanier aufzuhetzen. Mit Blick auf die Dynamik der Machtrelationen zwischen Europäern und Indigenen hatte diese Entwicklung ambivalente Folgen. Einerseits konnten die Kari’ña dadurch zunächst ihren Einfluss in Guayana zementieren. Nach der guyanischen Historikerin Anna Benjamin, die sich mit der Rolle indigener Gruppen im holländischen Plantagensystems des 17. und 18. Jahrhundert beschäftigt hat, »ermöglichte der Sklavenhandel den Kariben, mehr oder weniger zur alleinigen Verteilungsinstanz für europäische Güter unter den Nationen im Inneren des Landes zu werden« (Benjamin 1992: 11). Andererseits schürte der Handel, der ja in sich selbst schon einen wachsenden kolonialen Einfluss über die kulturellen, materiellen wie auch symbolischen und organisatorischen Ressourcen der Indigenen zum Ausdruck bringt, massive inter-ethnische Konflikte. Von den kolonialen Mächten wurden diese nach der wohlbekannten Strategie eines divide et impera für eigene politische Interessen instrumentalisiert. So bewirkte beispielsweise die stärker werdende Einbindung traditioneller Allianzsysteme in das koloniale System einen erheblichen Wandel im Status der poitos. Diese soziale Kategorie gehörte in der Sprache der Kariben ursprünglich zum semantischen Feld von Schwesters Sohn, Schwiegerbruder, Schwiegersohn oder Helfer bzw. Assistent und brachte damit im Prinzip eine affinale Beziehung zum Ausdruck, in der die von den Kariben geraubten poitos langfristig in die kulturelle Gemeinschaft integriert wurden. Unter dem Einfluss der Europäer wurde der traditionelle Gebrauchswert des poitos zunehmend durch seinen ökonomischen Tauschwert verdrängt. Dies bedeutete zum einen, dass sich gewissermaßen der ›Sklavenstatus‹ der poitos verstärkte. Andererseits wurde die Akkumulation von poitos über traditionelle Bedürfnisse hinaus stimuliert und erweitert. Die poitos wurden dabei auch für die sehr arbeitsintensive Annato-Produktion eingesetzt (vgl. Whitehead 1988; Dreyfus 1983-84). Obwohl der Handel mit ›roten Sklaven‹ für alle involvierten Parteien von wirtschaftlicher Bedeutung war, war es nicht nur eine Frage des materiellen Gewinns, die hier auf dem Spiel stand. In weitaus größerem Maße stellte sich in diesem Zusammenhang die Frage politischer Autorität. In einer auffälligen Umkehrung des heutigen geopolitischen Diskurses in Venezuela, nach dem periphere Tropenwaldregionen wie jene der Imataca/Essequibo-Grenzregion gerade wegen ihrer ›demographischen Leere‹ heikle
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Fragen nach staatlicher Souveränität und Kontrolle aufwerfen, war es im Guayana des 17. und 18. Jahrhunderts offenbar just die lokale Bevölkerung, über die sich die koloniale Autorität zu definieren hatte. Sowohl die Spanier als auch die Holländer waren sich nur allzu bewusst, dass die Kontrolle über die allgegenwärtigen und selbstbewussten Kariben entscheidend war, um ihre Besitzansprüche in Guayana zu sichern. Die kolonialen Strategien der Bevölkerungskontrolle waren dabei durchaus unterschiedlich. Interessanterweise wurde zum selben Zeitpunkt, als der Handel mit poitos zwischen Kariben und Holländern an Dynamik gewann, die Versklavung indigener Personen auf Anordnung der spanischen Krone (1652) in deren Hoheitsgebieten abgeschafft. Die Anordnung war jedoch weniger humanitären Motiven geschuldet, als dem Bestreben der spanischen Krone, das hohe Maß an Misswirtschaft, Ineffizienz und Amtsmissbrauch ihrer Kolonialbeamten im Umgang mit der indigenen Bevölkerung zu regulieren, welche »als strategische Ressource im Kampf um territoriale Besitzergreifung [...] nicht länger nach den Launen der Kolonialisten zu vergeuden war« (Whitehead 1988: 183). Während die Spanier die Institutionen der encomienda und der Mission einführten, d.h. die militärische Eroberung zugunsten einer rentableren Aneignungs- und Kontrollpolitik aufgaben, um das »Karibenproblem« (Ramos Pérez 1944) in den Griff zu bekommen, nutzten die Holländer, denen die personellen Mittel und die infrastrukturelle Basis für eine solche direkte Unterwerfungsstrategie fehlten, ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu den Kari’ña, inklusive ihres Handels mit indigenen Sklaven, quasi als verlängerten Arm eigener machtpolitischer Interessen. Wie unverzichtbar die ›Freundschaft der Indigenen‹ für die Sicherung der holländischen Machtbasis war, unterstrichen nicht zuletzt die vielfältigen Bemühungen und Maßnahmen der Freundschafts- und Beziehungspflege, die die holländische Kolonialmacht ihren indigenen Partnern zukommen ließen (Menezes 1979). Diese reichten von großzügigen Geschenkgaben, die auch speziell an indigene Bedürfnisse angepasste Waren wie Pfeilspitzen umfassten, über die Gewährung militärischer und logistischer Unterstützung im Widerstandskampf gegen die Spanier, bis hin zu formal zugesicherten Freiheitsgarantien. Solche Verträge wurden vor allem mit ökonomisch und politisch wichtigen indigenen Nationen abgeschlossen. Die Verträge hingen eng mit der Sklavenfrage zusammen. Sie spiegelten gleichermaßen das Interesse der Dutch West India Company an diesem Handel wieder als auch ihre Bemühungen, diese Aktivitäten zu regulieren,
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indem sie z.B. Verordnungen erließ, die den Plantagenbesitzern die willkürliche Gefangennahme von Sklaven unter der lokalen Indianerbevölkerung in ihrem Einflussbereich verbot. Ein erster schriftlicher Vertrag wurde mit den Kari’ña 1672 abgeschlossen, ein Vertrag mit den Arawaken folgte im frühen 18. Jahrhundert; 1769 wurden die Verträge mit beiden Gruppen erneuert und ähnliche Abkommen mit den Warao und Akawaio ausgehandelt (Menezes 1977: 46). Auch aus Sicht der indigenen Kari’ña beinhaltete der Sklavenhandel eine politisch-strategische Dimension. So richteten sich ihre Überfälle und Attacken meist gegen solche Gruppen, die mit den Spaniern kooperierten. Mit Auftreten der Holländer veränderte sich die Zielsetzung und Motivlage der von den Kariben geführten Kriege. Ursprünglich lag das Ziel ihrer kriegerischen Aktivitäten, wie Gumilla (1963) in seinen ausführlichen Beschreibungen über die traditionelle Kriegsführung der Kariben darlegt, vor allem darin, ihre Autorität und ihren Status zu erhöhen, indem neue Feldarbeiter und Helfer in ihre Gruppe aufgenommen wurden. Bei den nächtlichen Überraschungsattacken der Kariben wurden vor allem Frauen und Kinder gefangen genommen, an Plünderungen und Zerstörung der überfallenen Dörfer schienen sie traditionell weniger interessiert. Unter dem Einfluss der Holländer wurde die Nachfrage nach den holländischen Handelsgütern zum bestimmenden Faktor der Kriegsführung. Indem die Holländer oft im Voraus für bestimmte Gefangenenquoten bezahlten, verstrickten sich die Kari’ña hier in eine Art Gläubiger/Schuldnersystem, wie es später vor allem die Arbeitsbeziehungen in der südamerikanischen Kautschukgewinnung charakterisieren sollte (vgl. Kap. 4). Mit der steigenden Abhängigkeit von den Holländern wurden ihre Kriegshandlungen aggressiver und intensiver, was nicht zuletzt den zunehmenden Zerfall eines langwährenden und ausdifferenzierten indigenen Handelssystems reflektierte. Eine andere Bevölkerungsgruppe in der holländischen Kolonie bekam ebenfalls die wachsenden Dominanz und Aggressivität der Kariben zu spüren: die sogenannten maroons oder cimarrones – afrikanische Sklaven, die aus den holländischen Plantagen tief in die Wälder entflohen waren und sich langsam als neue Kraft im Landesinneren etablierten. In Anbetracht der existenziellen Bedeutung der afrikanischen Sklaven für die holländische Plantagenökonomie, und der Tatsache, dass die Spanier nur allzu willig waren, den entflohenen Sklaven ›Schutz‹ zu gewähren, wurde diese Frage von den Holländern als ein Problem von höchster politischer und ökonomischer
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Priorität behandelt. Zur Bewältigung dieses Problems griffen sie einmal mehr auf ihre altbewährten Partner zurück, die Kariben, die sich nicht zuletzt aufgrund ihrer profunden geographischen Kenntnisse im Feld als nützliche »bush police« (Whitehead 1988: 153) erwiesen. Sie wurden beauftragt, entlaufene Sklaven wieder einzufangen und sie an den holländischen Handelsstützpunkten im Landesinneren abzugeben. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts sollte sich die Rolle der Kari’ña in der politischen Ökonomie des holländischen Kolonialregimes immer mehr auf diese Funktion konzentrieren. Buchstäblich eine Frage des Überlebens für die holländischen Kolonien wurde diese Form der Unterstützung durch die Indigenen bei der großen Sklavenrebellion im Jahr 1763 in Berbice, die nur durch eine massive Mobilisierung indigener Streitkräfte niedergeschlagen werden konnte.3 Die dadurch geschürte tiefe und bis in heutige Zeiten spürbare Animosität zwischen den beiden Gruppen war von den Holländern durchaus gewollt, wie der damalige Generalkommandant der holländischen Kolonien Essequibo, Demerara und Berbice, Storm van Gravesande nüchtern zu erkennen gibt: »These occurences cause great embitterment between the blacks and them (our Caribs), which, if well and reasonably stimulated, cannot fail to be of much use and service in the future of the Colonies.« (Zit. n. Benjamin 1992: 16)
D IE C ONQUISTA C ARIBE IN G UAYANA Das frühe 18. Jahrhundert markiert den Zenit des gemeinsamen Einflusses von Holländern und Kariben in Guayana. Der Einfluss holländischer Handelsunternehmungen und -kontakte mit indigenen Gruppen hatte sich mittlerweile nicht nur in westlicher Richtung über die größeren Einzugsgebiete des Cuyuni und des Mazaruni bis hin zum Orinoko ausgedehnt, sondern war auch nach Süden bis hin zum oberen Rio Branco im portugiesischen
3
Die rebellierenden Sklaven hielten die Kolonie Berbice fast ein Jahr unter ihrer Kontrolle, etwa die Hälfte der holländischen Kolonialbevölkerung in Berbice kam direkt oder indirekt durch die Aufstände ums Leben. Der afrikanische Sklave Cuffy, einer der Anführer der Sklavenrebellion, wird seit den 1960er Jahren als Nationalheld in Guyana gefeiert (vgl. Spinner 1984).
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Machtbereich zu spüren (Hemming 1990). Bereits im Westfälischen Frieden von 1648 hatte Spanien den holländischen Territorialbesitz zwischen den Flüssen Essequibo und Surinam anerkennen müssen, im Vertrag von Utrecht (1713) musste das durch langjährige Handelskriege in Europa und innenpolitische Streitereien um die spanische Erbfolge (1700-1713) innerlich wie äußerlich zerstörte Spanien weitere territoriale Verluste im Osten Guayanas hinnehmen. Nach und nach wurden jedoch unter der neuen, die Habsburger ablösenden Dynastie der spanischen Bourbonen umfassende kolonialpolitische Reformen in Verwaltung, Steuerpolitik und Wirtschaft eingeleitet, die in der Regierungszeit Karls III. (1759-1788) ihren Höhepunkt fanden – des »einzigen spanischen Monarchen, der den Ideen eines aufgeklärten ›Kapitalismus‹ wirklich nahestand und bereit war, sie politisch in die Tat umzusetzen« (Berg 1995: 43) – ihren Höhepunkt fanden. Für die Kari’ña in Guayana bedeutete dies den Beginn einer von den Spaniern forciert vorangetriebenen Kolonialisierung und Erschließung des Orinokobeckens unter der Federführung kapuzinischer Missionare. Zugleich wurden alte koloniale Fantasien über das vermeintliche Goldland Guayana wiederbelebt. Geschürt wurde dies u.a. durch die bald offen zu Tage tretende Prosperität der kapuzinischen Missionen, die z.T. auch auf der Gewinnung von Bodenschätzen wie Eisen und alluvialem Gold beruhte (Civrieux 1976: 950ff.). Im Jahr 1740 wurde in der Cédula de Aranjuez die Existenz von Gold in Guayana erstmals ›wissenschaftlich‹ bestätigt (ebd.). In der eigentlichen conquista caribe durch die Kapuziner spielte Gold zunächst allerdings eine nebensächliche Rolle. Grundlegender und wohl entscheidend für den missionarischen Erfolg in Venezolanisch-Guayana und der Sierra Imataca war zunächst, weitaus profaner, ein europäisches Haustier – das Rind. Laut dokumentierter Missionschronik bekamen die mit der Missionierung der Indianer am Orinoko betrauten Kapuziner im Jahr 1724 von ihren Ordensbrüdern aus Píritu (in der Nähe der heutigen Stadt Barcelona) hundert Rinder geschenkt, mit denen die Kapuzinermönche nach Süden zum Caronífluss zogen, wo sie noch im gleichen Jahr ihre erste Viehfarm und Missionsstation Suay in der Nähe des alten Santo Tomé de Guayana gründeten. »Dieses Ereignis markiert«, so der venezolanische Ethnologe Civrieux (1976: 91), »den eigentlichen Beginn der kapuzinischen Missionen in Guayana«. Mit der Etablierung einer Rinderwirtschaft gelang es den Missionaren, ein wirtschaftliches Standbein vor Ort zu schaffen und damit die chronischen Versorgungsprobleme zu bewältigen, welche
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neben der generellen Unwirtlichkeit der Region und den stetigen Attacken feindseliger Indigenengruppen, allen voran Kariben, frühere Missionierungsinitiativen in dieser peripheren Zone immer wieder zum Scheitern verurteilt hatten (Donís Ríos 1990). Nachdem sich die Kapuziner 1734 in einem Abkommen mit den Jesuiten und Franziskanern, die ebenfalls missionarische Ambitionen in Guayana verfolgten, die Ostflanke Guayanas – etwa vom heutigen Cd. Bolívar bis hin zum Atlantischen Ozean – als ihr Verantwortungsgebiet gesichert hatten, begannen sie von Suay aus ihren Wirkungskreis mit neuen entradas und Missionsgründungen systematisch nach Osten auszubauen. Bereits drei Jahre später, im Jahr 1737, hatten sie das Yuruari-Tal westlich der Sierra Imataca erreicht, eine fruchtbare Savannenlandschaft, die im Vergleich zu den sich im Osten anschließenden ausgedehnten Waldgebieten der Sierra Imataca relativ günstige Voraussetzungen für die Errichtung und Unterhaltung großer Viehherden bot. Damit war die Grundlage für die großen, vergleichsweise bevölkerungsstarken Missionen gegeben, wie sie hier in der Folge entstanden. Unter diesen nahm die im selben Jahr gegründete Mission La Divina Pastora de Yuruari eine herausragende Stellung ein. Sie entwickelte sich in der Tat zu dem, was in ihrem Namen bereits als Verheißung angelegt war, zur »göttlichen Hirtin«, und das im ökonomischen wie religiösen Gehalt des Wortes. Die Kapuziner bauten den Ort zu einem straff organisierten Wirtschaftsbetrieb aus, der die weitere Region mit »frischem und gepökeltem Fleisch, Butter und Käse, Talgfett und Leder« versorgte (Vila 1965: 385). Auf der Basis der Viehwirtschaft wurden sukzessive neue Handwerksgewerbe eingerichtet, wie etwa Steinbrüche und Ziegeleien, Tischler- und Metallwerkstätten, Korbflechtereien und Webereien, in denen die indianischen Zöglinge in der Arbeit des industriellen Handwerks geschult und diszipliniert wurden (Robinson 1975). Die missionarischen Fortschritte in dem Bemühen, die weit verstreute Indigenenbevölkerung in permanenten Missionsdörfern zu konzentrieren bzw. zu »reduzieren« (reducir), wurden zwar immer wieder durch Epidemien, Aufstände, Flucht und Angriffe rebellierender Karibengruppen zurückgeworfen. Dennoch gelang es den Kapuzinern zwischen 1724 und 1767 über 25 Missionsdörfer zu errichten. Die territoriale Ausdehnung ihres Einflussbereichs erstreckte sich am Ende dieser Zeit über ein Gebiet von mehr als 5.000 qkm. Insgesamt lebten in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts wohl etwa 20.000 Indigene in den Missionen; der Umfang der
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Rinderherden wurde 1772 auf 145.000 Stück Vieh geschätzt, nur 14.000 Rinder befanden sich dagegen im säkularen Besitz. Alles in allem unterstanden etwa 80 Prozent der gesamten land- und viehwirtschaftlich genutzten Fläche in Guayana der unmittelbaren Kontrolle der Kirche (Butt Colson 1994-96). Diese Fakten bezeugen die enorme Machtstellung der Missionen im Guayana des späten 18. Jahrhunderts, deren Einfluss den der weltlichen Kräfte bei Weitem übertraf. Der Einfluss beschränkte sich dabei keineswegs auf das Feld missionarischer und sozialer Tätigkeiten. Mindestens ebenso groß, wenn nicht größer, war ihre wirtschaftliche Macht in der Region. Einmal mehr bestätigt sich hier die Rolle der Mission als zentrale »frontier institution« (Bolton 1917), die in den hispano-amerikanischen Kolonien neben dem conquistador eine der wichtigsten Institutionen bei der Ausdehnung, Konsolidierung und Entwicklung des kolonialen Staates bildete. Eine vergleichbare Rolle spielten in den holländischen Kolonien die Handelsposten; die Kari’ña fanden sich hier im Schnittfeld der beiden Systeme (s. Abb. 2). Wie bereits angedeutet, war die Missionsarbeit in Guayana keine geradlinige Erfolgsgeschichte. Die Missionare, vor allem die über den Orinoko- und Caronístrom nach Osten in das westliche Cuyunibecken vordringenden Kapuziner, hatten von Beginn an mit sehr aggressivem Widerstand von Seiten der ansässigen oder Handel treibenden Kariben zu kämpfen. Die Region war ein wichtiges Verbindungsgebiet und gewissermaßen Herzstück im System des inter-ethnischen Handelsnetzwerks der Kariben. Dies war auch den Missionaren bewusst, die die Standorte ihre Missionen bevorzugt an strategisch wichtige Knotenpunkte indigener Handelsrouten legten, in der Absicht, die indigenen Handelswege zu blockieren. Die Ethnologin Audrey Butt Colson beschreibt die Strategie der Missionsgründer folgendermaßen: »This trade was vigorously opposed by the Capuchin missionaries, who saw Spanish sovereignty and their own religious work undermined by a Dutch-Carib trading alliance which also threatened to depopulate the Orinoco basin of its indigenous inhabitants.« (Butt Colson 1994/96: 46)
Einen ersten Höhepunkt erreichte der Widerstand im Jahr 1735, als sich unter Führung von Taricura, einem einflussreichen »Rebellenführer der Kariben« (Civrieux 1976: 927) aus Barima (im heutigen Guyana) eine über
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fünfhundert Mann starke Gefolgschaft von Indigenen versammelte und mehrere Missionsstationen der Franziskaner, Jesuiten und Kapuziner am Orinoko angriff, plünderte sowie die dort angesiedelten Missionsindianer befreite (vgl. Whitehead 1988: 115-119). Einige Jahre später, im Sommer des Jahres 1750, mussten die Kapuziner den wohl härtesten Rückschlag in ihrer Missionsgeschichte in der Region Imataca einstecken. Der Angriff der Kariben mutet wie eine letzte, verzweifelte Mobilmachung an, angetrieben offenbar von dem Wunsch, in einem einzigen großen Schlag ein für alle Mal der Missionierung der Kapuziner ein Ende zu setzen. Alle fünf kapuzinischen Missionen, in denen Kari’ñagruppen meist unter erheblichen Zwang angesiedelt worden waren, wurden in diesem Sommer niedergebrannt und zerstört: Curumo, Cunuri, Tupuquén, El Palmar und die gerade mal sechs Monate alte und noch wenig gefestigte Mission Mutanambo, deren historischer Standort sich in unmittelbarer Umgebung der heutigen Kari’ñasiedlung Botanamo befand. Ein Kazike namens Maracayan aus Curumo war offenbar einer der zentralen Anführer dieses Großangriffs auf die Missionen. Der Eindruck einer letzten, großen Mobilmachung bestätigt sich in der historischen Rückschau. Die Kari’ña gaben ihren Widerstand gegenüber dem Vorstoß der kapuzinischen Missionare zwar bis zum endgültigen Zusammenbruch des Missionsregimes während des 1811 einsetzenden Unabhängigkeitskrieges nie gänzlich auf. Und selbst hier schlossen sie sich offenbar mehrheitlich den patriotischen Truppen an, um mit diesen gemeinsam gegen die mit den Royalisten sympathisierenden Kapuziner vorzugehen. Dennoch kündigte sich bereits kurz nach ihrem großen Aufbegehren im Jahr 1750 die entscheidende Wende im politischen Kräftemessen um Guayana ab, in welchem die Kari’ña, wie überhaupt die indigene Bevölkerung der Region, immer mehr ins Hintertreffen geraten sollte. Eingeleitet wurde diese Wende mit der real expedición de limites, einer mehrköpfigen Grenzexpedition, die sich im Auftrag Spaniens und Portugals zwischen 1754 und 1761 in der Region aufhielt. Ihre Aufgaben lagen in der Demarkierung der spanischen und portugiesischen Einflusssphären, sowie in der geographischen, zoologischen und botanischen Erforschung der Region. Unter anderem sollte sie dabei die Frage nach dem wirtschaftlichen Potenzial von Naturprodukten und die Durchführbarkeit ökonomischer Vorhaben prüfen, so konkret z.B. den Anbau von Zimt und Kakao sowie die Goldgewinnung (Ramos Pérez 1946). Mit langen Listen indigener Nutzpflanzen, die traditionelle Verwendungsweisen und mögliche Nutzen-
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stiftungen für die Spanier ebenso enthielten wie die indigenen Bezeichnungen für die entsprechenden Pflanzen ähneln Alvarados vegetationskundliche Forschungen frappierend aktuellen ethnobotanischen Studien über das seit einigen Jahren populäre ›indigene Wissen‹ (Ramos Pérez 1946: 159-166). Wichtiger als ihre wissenschaftlichen Aufgaben, auf deren Errungenschaften nicht zuletzt Alexander von Humboldt während seiner späteren Forschungsreise in der Region aufbaute, dürften jedoch andere Ziele gewesen sein. So hatten José de Ituriaga und Eugenio de Alvarado, unter deren Kommando die Expedition stand, klare, wenn auch geheim zu haltende Anweisungen von der spanischen Krone mit auf den Weg bekommen: erstens sollten sie dafür sorgen, dass die Franzosen und Holländer aus dem spanischen Einflussbereich des Orinoko- und Cuyunibecken zurückgedrängt werden. Zweitens sollten sie sich um die aufständischen Karibengruppen kümmern, die, wie es in beschönigender Sprache hieß, zu ›befrieden‹ waren. Alle Maßnahmen waren auf das Ziel hin ausgerichtet, den spanischen Machtanspruch über das Gebiet zu sichern und zu konsolidieren (Whitehead 1988: 125ff.; Butt Colson 1994-96: 50). Tabelle 1: Missionen der katalanischen Kapuziner in Guayana, 1724-1767 Name der Mission (Gründungsjahr) La Purísima Concepción de Suay (1724)
Ethnie (Anzahl)* Pariagotos 240 (224)
b
San Antonio de Caroní (1725)
Pariagotos 253 (224)
c
Santa María de Yacuari (1726)
Pariagotos 120
d
Nuestra Señora de los Angeles de Amaruca (1730) San Francisco de Altagracia (1734) San José de Cupapuy (1731) La Divina Pastora de Yuruari (1737)
Pariagotos 208 (228)
a
e f g
Pariagotos 419 (499) Pariagotos 590 Pariagotos 147 (219)
Besondere Vorkommnisse und Merkmale 1740 von Engländern in Brand gesteckt, mehrmals von Kari'ñatruppen attackiert Hauptsitz der Guayana Mission, viele Epidemien, Karibenangriffe ab 1765 1728 wegen chronischer Epidemien und Flucht der Indigenen aufgegeben Wegen ständiger Epidemieausbrüche in die Nähe von Upata verlegt
Zentrum der kapuzinischen Viehwirtschaft
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San Miguel de Unata (1737)
i
Cunuri (1744)
k
San Miguel de Palmar (1746)
l
Kari’ña 230 Kari’ña 287
n
Tupuquén (San Felix) (1748) Nuestra Señora de Monserrat de Miamo (1748) Curumo (1749)
o
Mutanambo (1750)
p q
San Fidel del Carapo (1752-1756) Aguacagua (1753)
r
Murucuri (1754)
s
Avechica (Supamo) (1758-1761)
Kari’ña 70 Kari’ña 280 Kari’ña 140 Kari’ña 140 Guaicas 190
t
Guasipati (1757)
Kari’ña
u
Terepi (1757)
w
Name unbekannt (1754) Cumano (Cumamo)
Kari’ña 200 Kari’ña
m
?
Guaraúnos (Warao) 133 (149) Panacayos Kari’ña 300 Kari’ña 270 (350)
Kari’ña 180
Kari’ña ca. 100
1740 nach Invasion der Engländer von Kari'ña zerstört 1750 im Aufstand der Kari'ña zerstört 1750 Flucht und Aufstand der Kari'ña, 1752 wiederaufgebaut 1750 ebenfalls von Kari’ña zerstört, 1770 Neugründung 1750 von Kari'ña zerstört, 1752 Wiederaufbau Militärposten und Mission, 1750 von Kari’ña niedergebrannt noch im Jahr der Gründung von Kari’ña niedergebrannt 1750 ebenfalls von rebellierenden Kari’ña zerstört
Chronische Flucht der Kari’ñabewohner Mehrmals von Kari’ña attackiert, die ihre Handelsrouten blockiert sahen, genauer Standort unklar Mission entwickelte sich zum wichtigen ökonomischen Standort, um 1816 bereits 1000 Einwohner 1758 Flucht der indigenen Bewohner noch im selben Jahr von Kari’ña zerstört Ort nicht rekonstruierbar
*Die Zahlen beziehen sich auf die Jahre 1755 (bzw. 1761 und 1773). In vielen Fällen stieg die Bevölkerungszahl in den Missionen nach 1770 stark an (im Einzelnen s. Whitehead 1988). Eig. Zusammenstellung und Auswahl (s. Grimmig 2007 m.w.V.)
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(1990); eig. Entwurf.
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Die Buchstaben verweisen auf die vorstehende Tabelle 1. Quellen: Whitehead (1988); Butt Colson (1994-96); Morales Méndez
Abbildung 2: Ausbreitung der Missionen, Forts und Handelsposten sowie Handelswege der Kariben im 18. Jhdt. F ANTASTISCHES G OLD – E L D ORADO
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Nach anfänglichen und wenig erfolgreichen Versuchen, die zweite und eigentliche Aufgabe ihrer Mission, die ›Befriedung und Unterwerfung‹ der indigenen Bevölkerung mittels diplomatischer Verhandlungen, Geschenkangeboten, und anderen Anreizen zu erfüllen, leiteten die beiden Kommandeure mit ihren Begleittruppen und unterstützt von den Kapuzinern 1757 einen gewaltsamen Eroberungszug gegen die letzten unabhängigen Enklaven von Kariben im Orinokobecken und der Sierra Imataca ein. Nach und nach gelang es den Spaniern, strategisch wichtige Knotenpunkte in den indigenen Handels- und Reiserouten zwischen dem Essequibo und dem Orinoko unter ihre Kontrolle zu bekommen und damit sowohl den Handelsverkehr als auch die Bewegungsmöglichkeiten der indigenen Bevölkerung im Raum drastisch einzuschränken. Mit dieser Taktik konnte 1760 zunächst der Widerstand der letzten unabhängigen Kariben an der Südflanke des Orinoko gebrochen werden, die bislang dem Druck der Franziskaner dort standgehalten hatten. Whitehead (1988: 125) sieht in dieser Niederlage das »Wounded Knee« der Indigenen in der Region. Vor die Alternative gestellt, sich entweder dem ›zivilisierten Leben‹ der Missionen zu unterwerfen oder die ›wilde Existenz‹ im Wald fortzusetzen, wie es die Missionare sahen, entschieden sich viele Kariben offenbar für den letzteren Weg. Immer mehr Karibengruppen traten den Rückzug aus Spanisch-Guayana nach Osten in den holländischen Einflussbereich an. Viele zogen sich in die peripheren Waldgebiete entlang der Flüsse Barima, Cuyuni, Mazaruni, Essequibo oder in die südlichen Savannen des Rupununi zurück. Eine »seltsame Leere« (Civrieux 1976: 962) machte sich am mittleren Orinoko breit, wo die Spanier nun relativ ungestört ihr Kolonialisierungsprojekt vorantreiben konnten. Deutliches Indiz für die Konsolidierung gerade auch der säkularen Macht Spaniens in Guayana ist die Entwicklung des Ortes Santo Tomé de Guayana, der 1764 unter dem neuen Namen Angostura an seinen jetzigen Standort (das heutige Cd. Bolívar) am Orinoko verlegt worden war und sich innerhalb weniger Jahre zu einer florierenden Handelsstadt entwickelte. In dem Maße, wie der spanische Einfluss in der Region Guayana wuchs, schienen auch die bisher so schwer fassbaren Goldressourcen wieder in greifbarere Nähe zu rücken. Bislang hatte das vermeintliche Goldland Guayana, in dem ja angeblich, wie Raleigh (1848: 82) es so schön ausdrückte, »jeder Stein, den wir aufhoben, seinem Anschein nach Gold oder Silber versprach«, materiell gesehen eine wenig bedeutende Rolle für die Spanische Krone gespielt. Viele Europäer
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hielten zwar weiterhin an der Hoffnung fest, dass irgendwo in den noch gänzlich unbekannten Gegenden des Guayanahochlandes das Reich von El Dorado mit seiner legendären Lagune Parima und goldenen Stadt Manoa zu finden sei, die inzwischen fester Bestandteil der kolonialen Kartographie Guayanas geworden waren und erst nach Alexander von Humboldts Korrektur im 19. Jahrhundert allmählich verschwanden. Zugleich tauchen jedoch kleinere Anzeichen auf, die auf eine Veränderung in der kolonialen Haltung der Spanier zum Gold hindeuten. Sie verweisen auf eine Versachlichung oder Entzauberung der Wahrnehmung, insofern man sich bei der Goldsuche nun nicht mehr nur von Fantasien und Legenden leiten ließ, sondern ebenso von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die auf einer Beobachtung der Natur basierten. Mit anderen Worten: Man setzte nicht mehr so sehr darauf, das Gold im mythischen Goldland des El Dorado zu finden, sondern mindestens ebenso sehr im Erdgestein und Flussablagerungen, die nun auf Anzeichen des Metalls hin untersucht wurden. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die sich hier andeutende Entkoppelung des Goldes vom Mythos El Dorado, sich gerade zu einem historischen Zeitpunkt vollzog, als die indigene Bevölkerung dieser einstigen EldoradoProvinz auch real einen drastischen Machtverlust erlebte. So gesehen ging deren reale Entmächtigung mit der im Bereich des Imaginären einher oder anders gesagt: mit dem wirklichen Kaziken verschwand auch der mythische Kazike El Dorado. Nach und nach verschoben sich dann auch die kolonialen Auseinandersetzungen um die Region Guayana von einer machtpolitischen Kontroll- und Expansionspolitik über die indigenen Territorien und deren Einwohner hin zu einer handelsförmigen Erschließung des Landes und der Ressourcen selbst: Der mythisch-kulturelle El Dorado transformierte sich allmählich in das abstrakt-ökonomische Eldorado, das heute üblicherweise mit dem Begriff verbunden wird und hier wie im Folgenden durch die Schreibweise unterschieden bleibt. Die sich hier abzeichnende ökonomische und politische Transformation in Guayana steht in engem Bezug zu umwälzenden geistesgeschichtlichen Vorgängen in Europa, die das Zeitalter der Aufklärung begründen und die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer beispiellosen Expansion des Wissens geführt haben, gerade auch über die außereuropäische Welt. Für Urs Bitterli, der in seinem Buch Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹ (1991) eben diese in der Kolonialforschung häufig vernachlässigte, geistesgeschichtliche Dimension der europäischen Kolonisation in den Vorder-
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grund seiner Betrachtung gerückt hat, beginnt mit dieser mächtigen Bewegung der wissenschaftlichen Inbesitznahme der überseeischen Welt, wie sie das 18. Jahrhundert brachte, das »zweite Entdeckungszeitalter«. In diesem wurden die empirische Wissensproduktion über entlegene geographische Räume und daraus abgeleitete Erkenntnisse über deren wirtschaftliches Potenzial immer mehr zu den zentralen handlungs- und machtbestimmenden Faktoren im kolonialen Gefüge. Ikone dieses »zweiten Entdeckungszeitalters« ist der aufgeklärte Forschungsreisende – exemplifiziert etwa in der Person eines Joseph Banks, eines Bougainville, eines La Condamine, und – herausragende Figur in der Exploration des Orinokogebiets – eines Alexander von Humboldt. Sie lösen den bewaffneten conquistador, die Leitfigur der ersten Entdeckungsphase ab.
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Die Sierra Imataca im Osten Guayanas, also genau die Region, in der die hier betrachteten Kari’ña heute siedeln, war die »letzte unabhängige Bastion der Kariben« im kolonialen Venezuela (Whitehead 1988: 125). Erst kurz vor dem Ausbruch der Unabhängigkeitskriege im Jahr 1816 konnte die Region von den Spaniern und Missionaren halbwegs unter Kontrolle gebracht werden. Die Schwierigkeiten bei der Eroberung der Kari’ña, der »wahren Kariben«, wie der Ethnologe Edward im Thurn (1967 [1883]: 158) sie später bezeichnete, lag mitunter auch in den spezifischen Sozialstrukturen der Kari’ña begründet, die übergreifende Autoritätsfiguren nur temporär und bei Bedarf in Kriegszeiten kannten. Im Allgemeinen waren die Kari’ña in vergleichsweise kleinen, autonomen Gruppenverbänden organisiert, die jedoch einen hohen Grad an Zusammenhalt und Kommunikation aufrecht erhielten, auf den sich größere politische Allianzen und Kooperationen in Kriegszeiten stützen konnten. Eine wichtige Rolle spielten hier die sogenannten Kriegshäuptlinge, unter deren charismatischer Führung größere, gemeinsame Widerstands- und Kriegsaktionen ermöglicht und koordiniert werden konnten. Diese Fähigkeit bei Bedarf starke, symbolische Führungsfiguren zu entwickeln, ermöglichte es den Kari’ña in Krisenzeiten auch über großen Raum politisch koordiniert zu agieren. Diese Flexibilität bei gleichzeitigem Fehlen einer dauerhaften, zentralen Organisationsstruktur erschwerte die Unterwerfung der Kari’ña, wenngleich die Probleme teil-
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weise durch den Einsatz einer den Kariben feindlich gesinnten indianischen Miliz, den sogenannten indios de pelea (Civrieux 1976: 962) überwunden werden konnten. Darüber hinaus begünstigten Entwicklungen in den holländischen Kolonien die spanische conquista der Kariben in Guayana in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts. Mit der Verlagerung der ökonomischen Prioritäten auf die küstennahe Plantagenwirtschaft traten die expansionistischen Interessen der Holländer im Osten in den Hintergrund, wodurch auch ihre indigenen Bündnispartner im Inneren des Landes für sie an Bedeutung verloren. Noch bevor jedoch die Missionare ihre mühevoll errungene Kontrolle über das Karibengebiet der Sierra Imataca konsolidieren konnten, brachen die Unabhängigkeitskämpfe in Venezuela aus und veränderten die Situation grundlegend. Es begann eine schwierige und von lang anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen geprägte Zeit in Venezuela. Sie markiert eine der einschneidendsten Zäsuren in der Ethnohistorie der Kari’ña. Der radikale Einschnitt erfolgte vor allem in zweierlei Hinsicht, und beide Dimensionen der Transformation sind in der Rede vom doppelten Tod des Kaziken bereits angedeutet. Zum einen stirbt hier der indianische Kazike im engeren Sinn, insofern als die Indigenen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur ihre politische Machtbasis im kolonialen Gefüge verloren, sondern sich damit auch gewaltige Veränderungen in der soziokulturellen Organisation abzeichneten, die Whitehead (1992: 146f.) als einen »Prozess der Tribalisierung« kennzeichnet. Diese Entwicklung schlug sich auch im kolonialen Sprachgebrauch nieder. Sprachen die Spanier und Holländer im 18. Jahrhundert noch von »indigenen Nationen«, so setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend der Begriff der »tribes«, der Stämme, zur Kennzeichnung der ethnischen Gruppen durch, deren kulturelle Grenzen nun als relativ geschlossen und statisch betrachtet wurden. Dies spiegelt nach Whitehead (ebd.) den Zerfall größerer politischer Strukturen unter den Kariben wieder, die, wie gesagt, zwar nie wirklich zentralistisch organisiert, aber lange Zeit in der Lage waren, dichte und handlungsfähige Netze zu knüpfen und gemeinsame Aktivitäten darin effektiv zu steuern. Die Formation größerer, politischer Allianzen und die Präsenz charismatischer Führungsfiguren, die gerade in Kriegszeiten eine wichtige Rolle gespielt hatten, gehörten nun der Vergangenheit an. An ihre Stelle traten kleine, fragmentierte, gesellschaftlich marginalisierte Gruppen, die je nach Position innerhalb des kolonialen Systems als spanische Kariben und hollän-
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dische Kariben, oder nach den von den Missionaren erzeugten Kategorisierungen als Missionsindianer und unabhängige Indianer bezeichnet wurden (Whitehead 1992: 147). Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt Dreyfus in ihrer Studie zur Genese und Veränderung der kulturellen Formationen bei den Kariben im Venezuela des 16. bis 18. Jahrhunderts: »Today, local groups are much smaller than four centuries ago; some are almost closed by local endogamy. There are no more continuous wars nor big war chiefs. Instead there are powerless, appointed ›captains‹. There is no basis for the hierarchies as they existed in the past, e.g. as those that were extant within communities, between clienteles and prestigious leaders, and those that extended beyond the community level between dependent allies and prominent raiders.« (Dreyfus 198384: 50-51)
In gewisser Weise kristallisiert sich in dieser Zeit also jener moderne ethnographische Zustand von den kleinen, marginalisierten, aus wenigen verwandten Haushalten bestehenden Siedlungsgruppen heraus, welcher auch heute noch die soziokulturelle Situation der Kari’ña prägt. Damit bestätigt sich, was Kloos (1971: 11) im Bezug auf die Gründe für die kleinen Siedlungsgruppen bei den von ihm untersuchten Kari’ña in Surinam ähnlich gemutmaßt hatte, nämlich dass historische Faktoren hierfür mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger gewesen sein könnten als ökologische Anpassungsleistungen. Das heißt mit anderen Worten, dass »die gegenwärtigen Gemeinschaften in der Tat das Produkt einer Reihe von historischen Veränderungen [sind]«, wie Dreyfus (1983-84: 50) in ihrer ethnohistorischen Studie betont. Dieser im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert bei den Kari’ña zu beobachtende Prozess der kulturellen Fragmentierung und Marginalisierung hängt eng mit der zweiten Dimension der angesprochenen Zäsur in der Ethnohistorie der Kari’ña zusammen. Sie brachte den Tod in ganz konkreter Form. Der Beginn der Unabhängigkeitskriege markierte zugleich den Höhepunkt in einer Welle von Krankheitsepidemien in Guayana, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der Region grassierten und vor allem unter der indigenen Bevölkerung viele Opfer forderten. Zum einen waren mit der von den Missionaren eingeleiteten Konzentration (bzw. reducción) der Indigenen in Missionsdörfern die idealen Bedingungen für die Verbreitung von Krankheiten und Seuchen geschaffen worden. Zum anderen waren dies
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in der Regel Krankheitserreger, die von den Europäern in die Neue Welt eingeschleppt worden waren und gegen die die Indigenen keinerlei Abwehrkräfte besaßen, so dass sie, wie ein deutscher Missionar in Venezuela bereits 1699 feststellte, »derart leicht sterben, dass der bloße Anblick und Geruch eines Spaniers genügt, dass sie den Lebenshauch aufgeben.« (zit. n. Stearns/Stearns 1945: 17) Whiteheads (1988) Berechnungen zufolge kann man etwa davon ausgehen, dass bis Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Bevölkerungsgröße der Kari’ña ihren historischen Tiefstand erreichte, etwa neunzig Prozent der ursprünglich in den Llanos, dem Orinokobecken und dem Gebiet zwischen Essequibo und der Sierra Imataca lebenden Kari’ñabevölkerung ausgelöscht worden waren. Von den einst etwa 100.000 Kari’ña waren damit kaum 10.000 Menschen übrig geblieben. Ähnlich hoch sind auch die Verlustschätzungen von Dobyns (1966: 399ff.), demzufolge über drei Viertel der verschiedenen indigenen Ethnien am mittleren Orinoko während des 17. und 18. Jahrhunderts ausstarben. Die späteren, geringen Bevölkerungsdichten in tropischen Wäldern sind demnach hier weniger demographische Anpassungen an ökologisch limitierende Bedingungen, wie dies u.a. Meggers (1971) mit ihrer These vom »counterfeit paradise« behauptete, sondern vielmehr historische Artefakte von eingeschleppten Krankheiten und Kolonialisierung. Diese Befunde stärken generelle Zweifel an der weit verbreiteten These von der geringen Tragfähigkeit tropischer Waldgebiete wie Amazoniens, die – so die Argumentation – kulturhistorisch nur eine sehr begrenzte demographische Dichte und kulturelle Entwicklung erlaubt hätten. Es war vor allem der Verdienst von Wissenschaftlern wie Dobyns (1966), Denevan (1976; 1992), Wagley (1977), Balée (1989), die mit ihren umfangreichen umwelthistorischen und ethnoökologischen Studien schon früh zur Dekonstruktion eines wissenschaftlichen Tropenbildes beitrugen, welches, wie Susanna Hecht es pointiert formulierte, »dazu tendierte, die Natur zu glorifizieren und die Eingeborenen zu trivialisieren« (Hecht 1998: 254). Auch die genauere naturwissenschaftliche Betrachtung der tropischen Natur hat im Nachhinein Ergebnisse mit gleichsinniger Stoßrichtung geliefert. So haben diese Studien gezeigt, dass die tropischen Regenwälder keineswegs dem vorherrschenden Bild von den »zeitlosen Wäldern« (Brookefield 1988: 210) gerecht werden, in denen die indigenen Produktionssysteme allenfalls vernachlässigbare Anpassungsleistungen an die Natur darstellen, sondern in weitaus höherem Maße als bisher angenommen »anthropogene Wälder« (Balée 1989: 2) sind, die von Indige-
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nen aktiv verändert, gemanagt und bearbeitet worden sind und werden. In unserem Fall weist Mansutti (1993: 21) darauf hin, dass in der Regel vor allen Dingen diejenigen Gruppen in Guayana überlebten, die »Spezialisten im Umgang mit den schwierigsten Zonen des tropischen Waldes waren – im [Orinoko-]Delta und in den Quellgebieten der großen Flüsse, die in Guayana nichts anderes sind als unsere Grenzgebiete mit Brasilien und dem Essequibo«. Gerade unter dem Schock des massiven Bevölkerungsverlusts kombiniert mit der wachsenden Überlegenheit der Kolonialmächte, so Kloos (1971), dürften wohl alle Formen traditionaler Führung bei den Kariben relativ schnell zusammengebrochen sein, wobei sich die Gruppen immer mehr entfremdeten und isolierten. In einer perfiden Ironie der Geschichte hat wohl gerade diese Entwicklung aber auch die Chancen der Kari’ña gesteigert, unter sehr schwierigen Umweltbedingungen zu überleben. Viele zogen sich in periphere Waldgebiete zurück. Bereits hier deutet sich ein Muster an, dass das soziale und kulturelle Handeln der Kari’ña im Raum und im Umgang mit der nationalen Gesellschaft bis heute prägt: es ist eine Bewegung und ein Changieren an den Rändern der Gesellschaft, in den peripheren Ritzen, Nischen, und Zwischenräumen staatlicher Territorien, die zwar eng mit den Machtnetzen der dominanten Gesellschaft verstrickt sind, die es den indigenen Kari’ña jedoch bis heute erlaubt, eine gewisse Distanz und kulturelle Autonomie aufrechtzuerhalten. Der Ausbruch der Unabhängigkeitskriege setzte dem Missionssystem der Kapuziner schließlich ein Ende. Infolge der ständigen Unruhen, Plünderungen und anhaltenden Epidemien verschlechterten sich die Lebensbedingungen in der ganzen Region rapide. Einen Eindruck von der Misere und dem Elend jener Tage vermittelt eindrücklich der Reisebericht von John Hamilton, einem Schotten, der in den Jahren 1818 und 1819 die Missionen der Kapuziner in Guayana besuchte. Von den einst florierenden Missionsdörfern war offenbar wenig übrig geblieben, »alles, die Kühe ausgenommen, trug Spuren der Not und der Misere«, schrieb Hamilton (1820a: 265) in Anbetracht der Zerstörung und des Elends in den Missionen. Überall wütete das Fieber, das »noch verheerender auf die Indianer wirkt als auf die Kreolen« (ebd.: 270). In der Mission Cupapuy, einer der größten Missionen der Region, zählen Hamilton und seine Gefährten unter den etwa 700 bis 800 übrig gebliebenen indigenen Bewohnern über 400 Fieberkranke, von denen täglich 12 bis 14 sterben. Das Fieber forderte offenbar auch unter der Kreolen-Bevölkerung derart massive Opfer, dass Hamilton
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düster prognostiziert: »Sollte der Krieg noch fünf weitere Jahre andauern, befürchte ich sehr, dass dies in der vollständigen Entvölkerung der Provinz enden wird.« (Ebd.: 277) Er bestätigt in seinem Bericht die Flucht vieler indigenen Gruppen, die es mehrheitlich »in die Wälder zog«. Zu diesen gehören auch die Kari’ña bzw. die Kariben, über die Hamilton schreibt: »The Caraibbes, who occupied seven missions, are of that sturdy race that so long resisted the Spanish arms. It is wonderful how the padres could ever have surmounted their antipathy [...]. Though pretty well broken in, they retain many features of their former character, have resisted the forced levies, and, in some instances, united into predatory bands, and, when pursued, blood has generally been shed. The main body of the tribe has retired into the lands of the Essequibo, whence they communicate with Demarara.« (Ebd.: 276-277)
Die Flucht der Kariben in das Essequibogebiet sieht er dabei vor allem in zwei Motiven begründet, einmal in deren Angst davor, von den patriotischen Truppen Simon Bolívars, die sich der Missionen bemächtigt hatten, für Arbeits- und Militärdienste zwangsrekrutiert zu werden, zum anderen in dem »natürlichen Hang der Kariben zu einem primitiven Leben« (Hamilton 1820b: 4). Auch an ihrem Zufluchtsort in den angrenzenden holländischen Kolonien, die 1816 in den Besitz der Engländer übergegangen waren, verloren die Kari’ña in dieser Zeit an Bedeutung für das koloniale Regime. Zwar waren sie in ihrer Funktion als bush police bis zur Abschaffung der Sklaverei in den 1840er Jahren noch gelegentlich von Nutzen, doch wurden sie auch hier mit der Konsolidierung des kolonialen Staates mehr und mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt, die ohne ihre produktive Unterstützung und ihren Beistand niemals hätte entstehen können (Whitehead 1988: 171). ›Faul‹ und ›nutzlos‹ wie sie zunehmend gesehen wurden, wurden sie auch dort von der kolonialen Regierung, wie die guyanische Ethnologin Brackette Williams ausführt, »passiv und aktiv dazu ermuntert, in die Wildnis zurückzukehren« (Williams 1991: 137). Ihre Rückkehr in die Wälder war demnach nicht einfach ein freiwillig gewählter Rückzug, sondern eine sowohl materiell wie symbolisch wirksam werdende, aktive Zurückweisung der Indigenen aus einem Zentrum der Macht an die Peripherie, und damit zurück an ihren vermeintlich angestammten Platz. Dies bekräftigt auch Menezes (1977: 84) in ihrer Chronik der kolonialen Indi-
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genenpolitik von Britisch-Guiana: »Thus the Indians were put in their places, and back to those places in the wilderness they went.« Auch Andrés Level, der 1846 im Auftrag des damaligen Innenministers die alten Missionsbezirke im oberen, mittleren und unteren Orinoko besuchte und dabei in die Umgebung von Tumeremo kam, zeichnete ein desolates Bild der Provinz Guayana, die nach den langen Jahren der Unabhängigkeitskriege ökonomisch, infrastrukturell und demographisch vollkommen darnieder lag. Besonders schockiert war er von den Lebensumständen der indigenen Bevölkerung in Guayana, die seit der Unabhängigkeit Venezuelas völlig sich selbst überlassen wurde und sich in einem derart beklagenswerten Zustand befand, wie es ihn nie zuvor in diesem Jahrhundert gegeben hätte (Level 1850: 6f.). Level machte u.a. das dekadente und seines Zivilisationsauftrags kaum würdige Missionssystem verantwortlich für die Misere der Indigenen, welches mit seinen autoritären und ausbeuterischen Praktiken viele der indigenen Zöglinge in ihr früheres, wildes Leben im Wald zurückgetrieben hatte, wo sie sich versteckten und kein Lebenszeichen mehr von sich gaben. Andere verfielen offenbar immer mehr dem Alkohol, der – nach Level – freizügig unter den Indigenen verteilt wurde, und soweit führte, dass die Indigenen auf offener Straße an Alkoholvergiftung starben. Sowohl auf venezolanischem als auf britischem Hoheitsgebiet ging das allmähliche, physische wie diskursive Entschwinden der indigenen Bevölkerung in die Bedeutungslosigkeit nach 1830 mit einer Jurisdiktion einher, die die kulturellen und territorialen Rechte der Indigenen sukzessiv beschnitt. Hatte die indigene Bevölkerung unter den Spaniern noch diverse Sonderrechte genossen, so war die indigene Politik im unabhängigen Venezuela geprägt von Bemühungen, jegliche kommunale Ländereien und Kollektivrechte der Indigenen zu zerstören und die Entäußerung indigener Territorien voranzutreiben (Arvelo-Jíménez 1984: 106ff; Kuppe 1987). Ganz ähnlich entwickelte sich auch die rechtliche Situation der Indigenen jenseits der Grenze im benachbarten Britisch-Guiana (s. Menezes 1988). Als schließlich nur wenige Jahre nach Levels Reise durch Guayana Gold in der Region gefunden wurde und Goldsucher verschiedenster Nationalität und Herkunft in die Waldgebiete der Sierra Imataca zu strömen begannen, waren von den einst einflussreichen und mächtigen Kariben nur noch klägliche Reste übrig, was selbst von europäischen Reisenden mit Verwunderung registriert wurde. So fragte sich beispielsweise der Brite
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Daniel Blair, der 1857 von Georgetown aus zu einer Expedition in die Goldschürfgebiete am Cuyuni an der Grenze zum heutigen Venezuela aufbrach, angesichts der im Vergleich zu früheren Berichten auffälligen Dezimierung der Kari’ñabevölkerung irritiert: »Now we find only these small settlements along its [the Cuyuni's] whole course and the ruins of two – what has become of these people? The people here say they are all dead, many in the natural course of time must be, but where are their survivors?« (Blair 1980 [1857]: 26)
Die Antwort auf diese Fragen kennen wir nun zumindest teilweise: Viele Angehörige dieser indigenen Gruppe sind, wie dargelegt, Opfer von Kriegen und vor allem von tödlichen Krankheitsepidemien geworden. Zugleich zogen die stark dezimierten Reste in entlegenere Gebiete diesseits wie jenseits der Grenze zurück, wo sie – wie etwa die Kari’ña – als zersplitterte, isolierte Gruppen über- und weiterlebten. Wie andere indigene Tropenwaldbewohner waren die Kari’ña damit gewissermaßen wieder an ihren ursprünglichen und aus Sicht der kolonialen Eliten auch natürlicherweise ›bestimmten‹ Platz in peripheren Waldgebieten zurückgekehrt. Dort konnten sie dann knapp hundert Jahre später als »kulturell vergleichsweise reine Gruppe« von Ethnologen wie John Gillin wiederentdeckt werden (Gillin 1936: 111).
3 Bares Gold – Nacktes Leben
»... they do not live, they merely exist.« STORER P. PEBERDY (1948)
Heute stößt man in Guayana, dort wo im 16. Jahrhundert spanische Konquistadoren wie Diego Ordás, Antonio de Berrio und ihr englischer Rivale Sir Walter Raleigh so intensiv und doch vergebens nach den Schätzen des El Dorado gesucht haben, in der Tat auf ein El Dorado, ein kleines, unmittelbar an die Forstreserve Imataca angrenzendes Städtchen, das seinem Namen alle Ehre erweist. Mit seinen einfachen Baracken, den vielen Getränkeläden und Essstuben, den nicht zu übersehenden Hinweisen auf Goldankauf, den allgegenwärtigen verbeulten und schlammverschmierten Geländewagen auf den Straßen, und nicht zuletzt den Scharen abgekämpfter Männer in derben Stiefeln und staubiger Kleidung kommt kaum ein Zweifel auf, dass die Suche nach Gold hier das Leben der Bewohner und Bewohnerinnen bestimmt. Dies gilt ebenso für die meisten der umliegenden Orte – Km 88, Las Claritas, Tumeremo, El Callao. Sie alle zählen heute zu den wichtigsten und bekanntesten Standorten des venezolanischen Goldbergbaus. Die Geschichte des Städtchens El Dorado beginnt in einer Zeit, als man den Glauben an die Existenz eines sagenumwobenen Goldlandes endgültig als geographische Fiktion verabschieden musste und der Mythos seine Wirkung vor allem in Literatur und Kunst zu entfalten begann. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts machten erneut Gerüchte von reichhaltigen Goldvorkommen in Guayana die Runde. Im Unterschied zu früher waren diese Gerüchte allerdings nicht kolonialen Fantasiewelten entsprungen, sondern basierten auf realen Funden. In der Tat war in der Region, wo man früher
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das Reich von El Dorado vermutet und gesucht hatte, Gold gefunden worden: Mit der Entdeckung der Goldfelder am Yuruarifluss und oberen Cuyuni unweit des heutigen Tumeremo Ende der 1850er Jahre beginnt die Geschichte des Goldbergbaus in Guayana. Über dreihundert Jahre nach den ersten Eldorado-Expeditionen nach Venezolanisch-Guayana begann der alte koloniale Traum vom reichen Goldland Guayana wahr zu werden. Damit beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte der natürlichen Ressourcen in Guayana. Mit Blick auf die Erfahrungen der Kari’ña mit dem baren, realen Gold waren es vor allem zwei Themen, die mir hier interessant erscheinen. Ein Thema lässt sich gut mit dem Begriff der Repräsentation erfassen. Fragen von politischer und symbolischer Repräsentation prägen die Auseinandersetzung dominanter Gesellschaftssektoren mit der indigenen Bevölkerung in den ersten Phasen des Goldbooms in Guayana stark. Es war eine Zeit intensiver kolonialer Machtkämpfe um die neu entdeckten Goldreichtümer, in denen machtpolitisch die einstigen indigenen Herrscher dieses Gebietes – die Kariben – keine Rolle mehr spielten. Umso mehr wurden sie – vielleicht gerade weil sie nicht mehr für sich selbst ›sprechen‹ konnten – als legitimatorische und moralische Ressource in dem sich zuspitzenden territorialen Machtkampf zwischen Venezuela und England um Gold und Grenzverlauf in Guayana vereinnahmt. So versuchten beide Nationen in den offiziellen Grenzverhandlungen ihre Besitzansprüche auf die Goldgebiete in Imataca und am Barama über die indigene Bevölkerung zu legitimieren. Auch in jüngeren Konflikten um Ressourcenrechte an Gold im Gebiet der Kari’ña bleibt – wie später zu sehen – die Frage der politischen und symbolischen Repräsentation virulent. Ein zweites Thema berührt gewissermaßen das Leben selbst. Die Wucht des Goldbooms brachte die Kari’ña offenbar zunächst in eine derart existenzielle Bedrängnis, dass Besucher der Region sich geradezu schockiert über die Zustände bei den Kari’ña zeigten. Augenzeugen aus jener Zeit hoben die besonders »morbide Verfassung« der Kari’ña hervor, deren Existenz offenkundig auf ein bloßes physisches Überleben reduziert war (Peberdy 1948: 19), einen Zustand, den man in loser Anlehnung an Giorgio Agambens philosophische Abhandlungen als nacktes Leben fassen kann. Auch im Vergleich mit anderen ethnischen Gruppen der Region wurde die Situation der Kari’ña als besonders dramatisch beschrieben. Diese negative Zuschreibung begleitet die Kari’ña im Grunde bis heute, denn auch gegenwärtig gelten die Kari’ña von Imataca gemeinhin als besonders fragile, ver-
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nachlässigte und hilfsbedürftige Gruppe unter der indigenen Bevölkerung Guayanas.
M ORALISCHE G EOGRAPHIEN Zwischen 1860 und 1900 wurde zunächst vor allem die Region um Tumeremo und El Callao intensiv vom Goldfieber erfasst, später folgten die Gebiete jenseits der Grenze am Barama in Britisch-Guiana, gerade jene Region also, die im Zuge der Unabhängigkeitskriege in Venezuela zu einem wichtigen Rückzugsgebiet der Kari’ña geworden war. In Venezuela lockten die Goldfunde am Yuruari viele Menschen und Abenteurer aus allen möglichen Ecken des Landes in die Region, die mit Pike, Schaufeln und Holzpfannen an den Flussufern des Yuruari und Cuyuni nach Gold zu schürfen begannen. Eine Phase intensiver, spontaner Zuwanderung begann, die der nach Jahrzehnten politischer Instabilität und Krisen extrem desolaten und verarmten Provinz im Südosten Venezuelas einen neuen Aufschwung bescherte. Eine Vielzahl neuer Siedlungen entstand, darunter auch jener Ort, der heute die Erinnerung an den mythischen Kaziken namentlich aufrechterhält und zugleich wohl auch die Hoffnung auf fantastische Reichtümer vorwegnahm – das bereits erwähnte Städtchen El Dorado, heute einer der quirligsten und umtriebigsten Minenorte der Region. Auch in den alten, verlassenen Missionsorten der Kapuziner wuchs die Bevölkerung in dieser Zeit stark an (Cunill Grau 1987). Trotz zunächst vergleichsweise bescheidenen Produktionsmengen war im Jahr 1870 die »Landschaft der Goldsucher« (Robinson 1968) mit ihren Löchern und Grabungen, ihren Waldlichtungen und Rodungen, ihren Wegen und Goldgräbercamps bereits ein wesentlicher Bestandteil der naturräumlichen und sozialen Umwelt geworden. Zu einem der wichtigsten Zentren der regionalen Goldgewinnung entwickelte sich der Ort El Callao, gefolgt von kleineren Zentren namens Chile, California, Perú, Potosí u.a. Viele dieser alten, nach berühmten Goldregionen in aller Welt benannten Minen haben als Standorte des Goldbergbaus in Guayana auch heute noch oder wieder Bedeutung. In den 1870er Jahren installierten sich in und um El Callao verschiedene größere ausländische Minenunternehmen, vor allem aus den USA, Frankreich und England. Mit der Investition ausländischen Kapitals in den Minensektor
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gewann der Bergbau allmählich auch volkswirtschaftliche Bedeutung in Venezuela, obgleich die Wirtschaft des Landes weiterhin agrarisch geprägt blieb. Allein in den Minen von El Callao wurden zwischen 1871 und 1890 über 37 Tonnen Gold gefördert (Brito Figueroa 1975: 304). Ein großer Teil der Arbeiterschaft in den Minen von El Callao rekrutierte sich aus schwarzen Migranten von den westindischen Inseln und Trinidad, die von den Goldgerüchten angelockt in die Region gekommen waren. Ihr Einfluss ist auch heute in der Umgebung von El Callao deutlich sichtbar, nicht nur phänotypisch, sondern auch in der lokalen Folklore und Musik, die bis heute stark von karibischen Traditionen aus dem Antillenraum geprägt sind und sich insbesondere im berühmten Karneval von El Callao Ausdruck verschaffen. Während sich heute der Einfluss der Nachfahren dieser einst aus Trinidad eingewanderten, schwarzen Arbeiterschaft vor allem kulturell niederschlägt, wurde ihre Präsenz damals mit einiger Sorge gesehen. Als britische Untertanen verkörperte sich in ihnen ein wachsender Einfluss Englands in dieser an Britisch-Guiana angrenzenden Provinz im Südosten Venezuelas. Vor allem im Minengebiet um El Callao war der britische Einfluss allgegenwärtig. Viele Bergbauunternehmen waren in britischer Hand, und in den Goldminen arbeitete eine Arbeiterschaft, die überwiegend aus den britischen Kolonien und den Antillen stammte; insgesamt hielten sich schätzungsweise 40.000 britische Staatsangehörige in den Boomjahren des Goldfiebers zwischen 1870 und 1890 in diesem Gebiet auf. All dies gab dem »venezolanischen Yuruari«, wie der venezolanische Historiker Pablo Ojer (1982: 30) schreibt, »ein unverwechselbar britisches Antlitz, das die Zone mehr Georgetown gleichen ließ als Ciudad Bolívar«. Diese Entwicklung wurde in dem seit 1821 vom Mutterland Spanien unabhängigen, aber politisch instabilen Venezuela mit Argwohn betrachtet. Schließlich war der Grenzverlauf mit der benachbarten Kolonie BritischGuiana im Osten weiterhin strittig. Nach den Goldfunden am Yuruari lag die Befürchtung in Venezuela nahe, dass England sich mit »imperialistischen Expansionsbestrebungen« (Almecija 1987) den Zugriff auf die lukrativen Goldressourcen Venezolanisch-Guayanas sichern wollte. Diese Sorge schien durchaus berechtigt. 1840 wurde Robert Schomburgk, ein deutscher Naturforscher, von der Royal Geographical Society und dem britischen Kolonialbüro in London mit der Klärung und Bestimmung des Grenzverlaufs zwischen Venezuela und Britisch-Guiana beauftragt. Die ur-
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sprünglich von ihm festgelegte Grenzlinie, die sogenannte Schomburgklinie wurde in den folgenden Jahren jedoch immer weiter nach Westen verschoben, bis sie in ihrer maximalen Ausdehnung das ganze Goldgebiet um den Yuruari einschloss (Braveboy-Wagner 1984; Burnett 2000). Seit den Goldfunden gestaltete sich die Grenzfrage zunehmend konfliktreich und führte zum zeitweiligen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Venezuela und England. Schließlich wurde 1899 unter Beihilfe der USA die Grenze von einem internationalen Schiedsgericht in Paris festgelegt. Die Grenzentscheidung, die für Venezuela zum Verlust des sogenannten Essequibo führte, wird bis heute von dem Land nicht anerkannt. In diesen durch Goldfunde und Grenzangelegenheiten angestachelten imperialistischen Machtkämpfen in und um Guayana in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte die einst so einflussreiche indigene Bevölkerung der Region – allen voran die Kari’ña – keine aktive Rolle mehr. Sie waren jedoch wichtige historische Legitimationsressourcen in den zähen Verhandlungen. Sowohl Venezuela als auch England versuchten ihre territorialen Gebietsansprüche in den Grenzverhandlungen auch über die historische Präsenz und koloniale Bindung der indigenen Bevölkerung zu legitimieren, die in diesem territorialen Machtpoker als eine Art moralisches Faustpfand instrumentalisiert wurden. So begründete England schon früh die Notwendigkeit einer klaren Grenzregelung mit dem Schutzbedürfnis der hier lebenden Indigenen, die als britische Untertanen vor Übergriffen und Ausbeutung im kolonialen Venezuela zu ›schützen‹ seien. Sie verwiesen dabei auf ihre historischen Anstrengungen, die Amerindians sowohl in wirtschaftlicher als auch politischer Hinsicht zu integrieren und ihnen einen rechtlichen Schutz zu gewähren, und nicht zuletzt auch auf die Tatsache, dass die indigene Bevölkerung, mit denen sie immer freundschaftliche Beziehungen gepflegt hätten, mehrheitlich den Schutz und die Souveränität der Briten auch anerkannten. Venezuela wiederum bemühte die ehemaligen Kapuzinermissionen und indigenen Siedlungen als positiven Beleg für eine erfolgte Besitzergreifung dieser Region, denn schließlich wurde das Ausmaß der tatsächlichen Okkupation und die nachgewiesene politische Präsenz im Gebiet in den Grenzverhandlungen als entscheidendes Kriterium herangezogen, um die Rechtmäßigkeit der konkurrierenden Territorialansprüche zu verhandeln. Gerade der Beweis der ›nationalen Historizität des Raumes‹, einschließlich der Rolle, die Indigene als koloniale Partner spielten, war demnach ein Schlüsselelement für die Legitimität der territorialen
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Ansprüche. Dabei wurden Landkarten aus verschiedenen historischen Epochen herangezogen, darunter auch jene ebenso fantastische wie berühmte Eldorado-Karte mit dem See Parime und der goldenen Stadt Manoa, die Walter Raleigh Ende des 16. Jahrhunderts anfertigte und die die »fantastische Geographie« (Nuñez 1962: 135) Guayanas so lange geprägt hatte. Offenbar versuchte Venezuela in den offiziellen Grenzverhandlungen in Paris auch die spanischen Eldorado-Expeditionen des 16. und 17. Jahrhundert nach Guayana als Beweis für Spaniens Interesse an einer Kolonialisierung und Nutzung dieses von ihnen ›entdeckten‹ Gebietes anzuführen, was England mit dem lächelnden Verweis auf den Fantasiegehalt dieser Geschichte abtat. Dem wiederum soll ein Vertreter der venezolanischen Regierung, die sich als rechtmäßige Nachfolger der Spanier sahen, entgegengehalten haben, dass »ein Glaube ohne Grundlage oft mehr Wunder bewirke als die Tatsachen, und ein Glaube für sich über der Wirklichkeit stehen könne« (zit. n. Nuñez 1962: 136). Und damit mag er rückblickend nicht unrecht gehabt haben, wenn man sich die enorme Wirkung vor Augen hält, die dieser Mythos über die Jahrhunderte entfaltet hat (Hecht 1998; Silver 1992). Auch mit Beginn der realen Goldproduktion in Guayana verlor der Mythos keineswegs seine Bedeutung. Vielmehr verschob sich seine Rolle in den Bereich des explizit symbolischen und des politischen Diskurses, wo er mit neuer Bedeutung versehen wurde. In Texten britischer Autoren des 19. Jahrhunderts wurde der Mythos für Englands Ansprüche auf Guayana als moralisch überlegene Kolonialmacht instrumentalisiert. Wie bereits Alexander von Humboldt die (vor allem spanische) Gier nach Gold als ökonomische und moralische Verfehlung betrachtete, weil sie allein nach Reichtümern strebe, und nicht nach den ›wahren Reichtümern‹ einer produktiven Landwirtschaft und Industrie, tendierten englische Autoren in dieser Zeit dazu, den spanischen Kolonialismus vornehmlich als gewaltsame, despotische und rückständige Herrschaft zu portraitieren, die vor allem an der Plünderung und Ausbeutung vorhandener Ressourcen interessiert war. Englands Vision vom Eldorado dagegen wurde übereinstimmend im Handel und Kommerz gesehen, für den Guayana mit seinem natürlichen Ressourcenreichtum eine vielversprechende Zukunft bot. Der bislang vor allem für Irrtum, Fantasie und gewaltsames Begehren stehende Eldorado-Mythos war damit Mitte des 19. Jahrhunderts zu »einem Symbol für die goldene Zukunft geworden, welche Südamerika als neues Mitglied der großen Familie der Handelsnationen erwarten konnte« (Silver 1992: 8). Guayana, dieses
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»land of promise«, so wurde von den britischen Autoren unmissverständlich deutlich gemacht, galt es vor den anarchischen, venezolanischen Plünderungen zu schützen, um es unter der sorgfältigen Obhut britischer Händler und Kaufleute einer produktiven Entwicklung zuführen zu können, eine Einschätzung, die – so scheint es – auch von Teilen der venezolanischen Bevölkerung in Guayana selbst geteilt wurde (Curtis 1896; Carl 1980). Unter dem Kampfbegriff der »schwarzen Legende« verwehrten sich spanische Historiker später gegen dieses ihrer Ansicht nach propagandistische negative Bild des spanischen Kolonialismus in Amerika. Eine ähnliche Verschiebung lässt sich im Hinblick auf die indigene Bevölkerung in diesen Ländern beobachten, denen nun vor allem als Referenzen im symbolischen und diskursiven Feld eine gewisse Bedeutung zukam. Während führende Intellektuelle Venezuelas wie Andrés Bello vergleichsweise nüchtern das Schicksal der »indianischen Rasse« besiegelt sahen und ihr baldiges Aussterben prognostizierten, bezogen sich andere Autoren später durchaus positiv auf das indianische Erbe (vor allem der mächtigen Kariben), deren vermeintlich fortschreitende Degeneration und kultureller Verfall nun vielfach beklagt und bedauert wurden (Kristal 1994). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war eine deutliche symbolische Aufwertung der präkolumbianischen Vergangenheit in der südamerikanischen Literatur, Politik und Kunst zu beobachten, die im engen Zusammenhang mit den schwierigen, nationalen Selbstfindungsprozessen dieser Länder nach der Dekolonisierung standen. Wie Benedict Anderson in seiner wegweisenden Studie über die Ursprünge und das Entstehen von Nationen schreibt, waren viele Nationalisten der zweiten Generation nach der Unabhängigkeit in Süd- und Nordamerika vom »Gedanken der ›Erinnerung‹ an sie [die Indianer; MG] besessen, ja sogar davon, ›für sie zu sprechen‹, und das gerade vielleicht deswegen, weil sie mittlerweile in der Tat so oft ausgelöscht waren« (Anderson 1998: 171). Für die realen und degenerierten Indigenen, die oft in extrem schwierigen Umwelten weiterlebten, interessierte man sich dagegen weniger. Guayana selbst galt zumindest de facto fortan als weitgehend leerer Raum, der nun für interne, nationale Eroberungen zur Verfügung stand. In Venezuela wurde diese Aufgabe (in Anbetracht der bestehenden Grenzauseinandersetzungen mit Britisch-Guiana) sehr ernst genommen, wie nicht nur die folgenreiche, juristische Aneignung dieser Region als tierra baldía, als Brachland im Staatsbesitz per Gesetz im Jahr 1882 unter Beweis stellte, sondern
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auch die riesigen Konzessionsprojekte, die Ende des 19. Jahrhunderts mit Unterstützung internationaler Investoren in Angriff genommen wurden (vgl. Kap. 4).
N ACKTES L EBEN Wie in Venezuela war man auch im angrenzenden Britisch-Guiana bei der Volkszählung im Jahr 1890 davon ausgegangen, dass die sogenannte amerindianische Rasse alsbald aussterben würde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Indigenen von einem vormals den Europäern gleichwertigen Rang in der sozialen Hierarchie zu einem unterhalb der Afrikaner und Inder gefallen, und von der dominierenden Küstengesellschaft und deren wirtschaftlichen Strukturen völlig ausgeschlossen. Auch hier waren es gerade die Kernsiedlungsgebiete der Kari’ña, die vom Goldboom erfasst wurden, wo zahlreiche kleine Goldgräbersiedlungen mit so vielversprechenden Namen wie Better Hope, Charity, Land of Promise, Golden City entstanden, die über Pfade mit größeren Zentren der Goldgewinnung wie Arakaka und Five Stars verbunden waren. Der Aufstieg der Goldindustrie in den 1880er Jahren wurde durch eine zeitgleiche Krise in der Zuckerproduktion begünstigt. Sie traf damit das mit Abstand wichtigste wirtschaftliche Standbein der kleinen britischen Überseekolonie. Vor allem die Massen schwarzer Arbeiter, die für die harte Tätigkeit auf den Zuckerplantagen herangezogen wurden, sahen in der Goldwäscherei eine verlockende Alternative, die ihnen größere Unabhängigkeit und bessere Einkommensmöglichkeiten versprach. Mit dem Auftauchen von Gold als neuer Ressource im peripheren Hinterland Britisch-Guianas etablierte sich allmählich ein politisches und ökonomisches Gegengewicht zur traditionellen Monopolstellung der mächtigen Plantagenaristokratie in der Küstenregion, in deren Sog nach und nach auch andere nichtstaatliche und kleinbäuerliche Produktionsformen Fuß fassen konnten. Viehzucht, Reisanbau, aber auch forstliche Ressourcen gewannen in dieser Zeit an Bedeutung, unter anderem eine Wildgummiart namens Balata, das im Zentrum des nächsten Kapitels steht. Vieles deutet darauf hin, dass die Präsenz der Goldsucher sich für die indigenen Kari’ña in dieser Region zunächst negativ auswirkte. Bereits im Jahr 1915 schrieb Charles Furlong (ebd.: 536): »[...] dass hier – im Wald – inmitten des Überflusses von Leben, wo die Natur gegen sich selbst Krieg
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führt, die Kariben trotz allem gedeihen, ausgenommen dem Kontakt mit der Zivilisation«. Andere zeitgenössische Berichte kamen zu ähnlichen Urteilen. Die erste, spontane Reaktion der Kari’ña auf den massiven Zustrom von Goldsuchern in ihr Gebiet war offenbar Rückzug (Amerindian Lands Commission 1969: 200). Viele der Gruppen versuchten sich dem Einfluss der Goldsucher zu entziehen und verlegten ihre Siedlungen flussaufwärts in entlegenere Gebiete. Mit der Zeit wurden Kari’ña jedoch für Dienstleistungen verschiedener Art in den Goldgräbercamps rekrutiert, oder sie begannen selbst nach Gold zu suchen. Furlong sollte jedoch mit seiner pessimistischen Einschätzung nicht unrecht haben. So kam eine Mitte der 1940er Jahre durchgeführte Untersuchung über die Situation der Amerindians in Britisch-Guiana gerade im Fall der Kari’ña zu schockierenden Befunden, wie folgende Passage des Untersuchungsberichtes unmissverständlich offenlegt: »The Upper Barama River Caribs are the most impoverished and traumatic aboriginal group that I have encountered throughout the length and breadth of BritischGuiana. They are settled in areas which produced in the early days of mining exploration the largest gold deposits in the Colony above the Fraser Falls of the Barama River and in the Five Star District on the Barima. [...] They have been and still are completely unadministered. Medical services are below the falls [...] They have [been] and are labouring as carriers and labourers in mining camps. Their arts and crafts to all intents and purposes have vanished. From information obtained the Carib population in this area was reputed to be over twenty-five hundred strong just over fifty years ago. There are no facts known to the writer to support this contention but from the morbid condition of these contemporary ›Carib‹ groups such a rapid decline in population number is understandable. Colonel Moorhead, Commissioner of Lands and Mines, who recently walked the Five Star-Baramita trail commented on the physical condition of the carriers and stated that they could not continue to carry the loads they do and live. The answer is they do not live; they merely exist.« (Peberdy 1948: 19-20)
Wiederum sind es die Kari’ña, die als besondere Gruppe im ethnischen Bild der Region hervorstechen, dieses Mal jedoch unter extrem negativen Vorzeichen. Die einst so gefürchteten und mächtigen Kariben, die sich im kolonialen Machtgefüge länger als alle anderen Gruppen behaupten konnten, zählten nach Peberdy nun zu den »ärmsten und am stärksten traumatisierten
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Gruppen« von Britisch-Guiana: Kulturell degeneriert, vernachlässigt und ohne nennenswerte medizinische Versorgung in einem Zustand morbiden Dahinsiechens, das kein Leben mehr war, sondern nur noch »bloßes Existieren«, wie Peberdy es in seinem Bericht ausdrückte. Nicht zuletzt geschürt durch die Invasion der Goldsucher in das Siedlungsgebiet gerieten die Kari’ña in den Strudel einer umfassenden kulturellen Krise. Die daraus resultierende, extrem prekäre und schutzlose Lebenslage der Kari’ña lässt sich mit Giorgio Agambens Begriff des »nackten Lebens« umschreiben, auch wenn dessen rechtsphilosophische Analysen mit Blick auf die abendländische Geschichte und vor allem die großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts entwickelt worden sind. So sieht Agamben den rechtlosen Flüchtling, dem jegliche politische Rechte verwehrt bleiben, und dem nichts als der geschundene Körper, das nackte Leben bleibt, als eine Grundfigur der heutigen globalen Machtkonstellation, die er auch der modernen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als eine Gegenfigur zur eigenen Abstraktheit einschreibt. Die Kehrseite der Verstetigung und Festigung der Souveränität und Identität des kolonialen Staates war der radikale Ausschluss der indigenen Kari’ña, die nicht nur politisch, sozial und räumlich an den Rand einer Gesellschaft gedrängt wurden, sondern auch gewissermaßen ›dekulturiert‹, auf ihr bloßes Leben reduziert wurden. Als extrem zersplitterte und desorientierte Gruppe blieben sie auch von weiteren politischen Entwicklungen vorerst ausgeschlossen. Von der im Vorfeld der Dekolonialisierung Britisch-Guianas aufkeimenden indigenen Bewegung im Land, die sich erfolgreich für die Anerkennung indigener Landrechte im unabhängigen Guyana einsetzte, bekamen viele Kari’ña kaum oder gar nichts mit – ein folgenschwerer Ausschluss. Denn wie die zuständige indigene Landrechtskommission feststellte, wurden ausgerechnet aus den vom Goldboom stärksten betroffenen Gebieten am oberen Barama keine Forderungen nach Land eingereicht. Bis heute bleibt die territoriale Absicherung der Kari’ña in dieser Region besonders prekär (Colchester 1997). Ähnlich problematisch entwickelte sich die Lage auf venezolanischer Seite, wo große Teile des Siedlungsgebietes der Kari’ña Anfang der 1960er Jahre zur nationalen Forstreserve erklärt wurden (s. Kap. 6).
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N EUE K ONFLIKTE Mit der Entdeckung von Öl Anfang des 20. Jahrhundert stand Venezuela zunächst lange Zeit ganz im Bann und Zeichen des ›schwarzen Goldes‹. Erst mit der in den frühen 1980er Jahre beginnenden ökonomischen Krise erlebte der Goldbergbau nach einer langen Phase relativer Bedeutungslosigkeit einen erneuten Aufschwung, diesseits wie jenseits der Grenze. Vor allem im krisengeschüttelten Venezuela wurden die reichhaltigen Goldvorkommen Guayanas – zwischen 10.000 und 12.000 Tonnen Gold werden hier vermutet, was etwa zehn Prozent der globalen Goldreserven entspricht – in dieser Zeit erneut zum Hoffnungsträger für viele Menschen. Auch die damalige venezolanische Regierung Caldera entdeckte in dieser Zeit das ökonomische Potenzial des Bergbaus neu und ebnete mit einer aggressiven Politik der apertura minera den Weg für eine umfassende Liberalisierung und Industrialisierung des venezolanischen Goldbergbaus. Mit der Öffnung des Bergbaus für internationales Kapital traten mächtige transnationale Bergbaukonzerne in Erscheinung, die mit dem handwerklichen Goldbergbau der sogenannten mineros pequeños um den Zugang zu den wertvollen Goldressourcen in einen bis heute von Konflikten und gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägten Konkurrenzkampf traten. Auch in der Amtszeit von Präsident Hugo Chávez hat sich an dieser Situation nichts Grundlegendes geändert. Er setzt weiterhin auf die intensive industrielle Förderung des großen natürlichen Ressourcenpotenzials der Region Guayana als Stützpfeiler der nationalen Wirtschaftsentwicklung, wenn auch nun unter verstärkter staatlicher Lenkung und strengerer ökologischer Kontrolle, und nicht zuletzt mit größerer Beteiligung asiatischer und russischer Investoren. Einmal mehr geraten die Kari’ña dabei in die Zange zweier Erschließungsfronten, wobei zudem noch die großflächige kommerzielle Holznutzung stattfindet (s. Kap. 6). Es ist vielleicht bezeichnend, dass mich mein erster Besuch bei den Kari’ña von Imataca auf direktem Wege zu einer Goldmine geführt hat. Dies lässt bereits den besonderen Stellenwert von Gold in der und für die Region erahnen. Die Reise erfolgte in Begleitung eines in Venezuela weithin bekannten Kari’ña-Aktivisten und Mitbegründers des Movimiento Indígena de Guayana (MIG): Tito Poyo. Anfang der 1980er Jahre von jungen, im städtischen und universitären Umfeld sozialisierten Kari’ña in Ciudad Bolívar gegründet, verstand sich das MIG als erste, explizit unabhängi-
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ge Organisation, die jegliche Form der staatlichen Bevormundung ablehnte, wie sie in den Augen der Gründungsmitglieder und -mitgliederinnen die bisherige staatliche Indigenenpolitik gekennzeichnet hatte. Vor allem in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren zählte das MIG zu den einflussreichsten indigenen Organisationen in Venezuela, die eine eigene Zeitschrift (Orinoco Indígena) herausbrachte, national und international gut vernetzt war und mit der Einrichtung eines regionalen Departamento de Asuntos Indígenas (DAI) auch Einfluss auf die staatliche Regionalpolitik nahm. Seit Beginn der 1990er Jahre hat die Organisation infolge parteipolitischer Verfilzungen, Korruption und interner Querelen stark an Bedeutung eingebüßt. Für Tito Poyo, der mir bei meiner ersten Kontaktaufnahme zu den Kari’ña seine Hilfe als Vertrauensperson angeboten hatte, war die Goldmine Fangol der passende Startpunkt, um einen Eindruck von der Region und der Lebenssituation der Kari’ña zu bekommen. Von Tumeremo aus folgten wir der unasphaltierten Piste in das Gebiet der Forstreserve Imataca hinein. Der Minenort Fangol liegt abseits am östlichen Ende der über 50 km langen Piste, erreichbar über eine kleine, ziemlich holprige und sehr schwer befahrbare Nebenstraße. Am Anfang dieser Nebenstraße befindet sich eine kleinere Kari’ñasiedlung von einigen wenigen, ziemlich armselig aussehenden Hütten. Hier unterbrachen wir unsere Fahrt, zum einen um den schon herbeieilenden capitán zu begrüßen, zum anderen war der weitere Weg in die Mine durch eine bewachte Schranke versperrt, die von der comunidad indígena errichtet worden war, um – wie es hieß – den Zugang zur Mine besser kontrollieren zu können. Die Mine Fangol selbst stand zu diesem Zeitpunkt im Zentrum heftiger Auseinandersetzungen um Nutzungsrechte, in die offenbar auch die umliegenden Kari’ñasiedlungen direkt verwickelt waren. Der capitán von Juan Cansio, ein junger Mann in den Zwanzigern, mit dem Tito Poyo aus Ciudad Bolívar sehr vertraut schien, nahm die Gelegenheit wahr und begleitete uns kurzerhand in die Mine, um zu sehen, wie er in fließendem Spanisch meinte, »como están las cosas allá«, wie die Dinge dort stehen. Gekleidet in Jeans, Hemd und Gummistiefel hatte er an seiner Seite einen langen geschmückten Dolch befestigt, der offenbar als eine Art Insignium seiner traditionellen Autorität dienen sollte. Auf dem letzten Wegstück zur Mine wurden zunehmend Spuren großräumiger Prospektions- und Schürftätigkeit sichtbar. Besonders markant ins Auge stach ein Areal, das deutliche Spuren von bergbaulicher Aktivität aufwies: eine große
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entwaldete Fläche, von riesigen Schutt- und Abraumhalden gesäumt, die wohl auf massive Erdabtragungen und -verschiebungen zurückzuführen waren; dazwischen übel riechende Tümpel mit Brackwasser. Auf einem Teil des Areals waren junge Baumpflanzungen zu sehen, die offenbar Bemühungen zur Wiederaufforstung der degradierten Fläche darstellten. Während wir mit dem Jeep den Platz überquerten, wurden mir diese sichtbaren Spuren der Verwüstung von meinen beiden indigenen Begleitern als typische Folgen des industriellen Goldbergbaus beschrieben. Verantwortlich in diesem Fall war offenbar ein Bergbaukonzern namens Monarch, der zum Zeitpunkt unseres Besuchs wegen anhaltender Konflikte um die Mine seine Förderaktivitäten vor Ort temporär eingestellt hatte. In der Zwischenzeit war die Mine von einer Kooperative venezolanischer Bergleute übernommen worden. Schätzungsweise hundert bis hundertfünfzig Personen waren es zu diesem Zeitpunkt, darunter auch einige Frauen, die vor allem als Köchinnen angestellt waren oder andere Dienstleistungen anboten. Der Kernbereich der Mine erstreckte sich über ein welliges Gelände mit einer größeren, nahezu vollständig abgeholzten Senke in der Mitte, die nach der Anzahl der darin versprengten Stollenöffnungen zu urteilen, offensichtlich der zentrale Arbeitsbereich der Mine war. Das Gold wurde hier in Form eines einfachen Untertagebaus in Stollen gewonnen, die in Venezuela barrancos genannt werden. Die Stollen der pequeños mineros können eine Tiefe von sechzig bis achtzig Meter erreichen; die meisten der mannshohen Stollen sind zwischen zehn und dreißig Meter tief. Über den Eingängen der zunächst senkrecht in die Erde führenden Stollen waren einfache, mit Plastikplanen überspannte Gerüste aus Holzstangen angebracht, wohl um die Stolleneingänge vor dem Eintritt von Regenwasser zu schützen. Unter den Planen bot sich den arbeitenden mineros zugleich ein kleines, schattiges Plätzchen für eine Hängematte. Von dieser Arbeitszone führten einige kleinere, verzweigte Pfade in einen hinteren, größtenteils wieder bewaldeten Teil, wo sich die Mehrzahl der eigentlichen campamentos, der Wohnhütten der Goldsucher befanden. Dies waren meist einfache Holzhütten, die entweder mit Plastikplanen oder Wellblechen bedeckt waren und gerademal Platz boten für den notwendigsten Hausrat, wie etwa Hängematten, Kochstelle, Tisch und ein paar provisorische Hocker. Bei unserer Ankunft in der Hitze des frühen Nachmittags machte der Ort einen verschlafenen Eindruck, nur wenige Männer waren beim Arbeiten zu sehen. Viele hatten es sich in den Hängematten neben den Stollen
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gemütlich gemacht. Andere saßen in Grüppchen im Schatten eines größeren Gebäudekomplexes. Wie sich herausstellte, befand sich dort eine von zwei Gesteinsmühlen der Mine, mit Hilfe derer das aus den Stollen beförderte, goldhaltige Gestein zerkleinert und gemahlen wird. Anschließend wird das Gold unter Zugabe von Quecksilber aus dem fein gemahlenen Gesteinsmaterial gelöst. Einige Männer machten sich gerade an der Mühle zu schaffen, offenbar war eine ihrer Hammervorrichtungen defekt, so dass die Mühle schon seit einigen Tagen nicht mehr in Betrieb genommen werden konnte und sich die Säcke, in denen das in den Stollen abgebaute Goldgestein transportiert wurde, am Rande der Hütte schon zu stapeln begannen. Meine zwei Begleiter wurden von den mineros recht freundlich begrüßt. Innerhalb kurzer Zeit waren sie in eine rege Diskussion verstrickt, in der insbesondere Tito Poyo als redegewandter Wortführer auffiel. Vieles von dem, was an jenem ersten Besuchstag in der Mine erörtert wurde, war für mich nur in Ansätzen verständlich. Zu wenig wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch über die Hintergründe der Auseinandersetzungen um die Goldmine und über die konkrete Rolle, die die Kari’ña dabei spielten. Ebenso fremd war mir die Arbeitskultur der Goldsucher, die offenbar ebenfalls komplexen Regeln und Normen folgte. Wenn auch die Informationen, Gerüchte und Geschichten, die ich an jenem Tag über den ›Fall Fangol‹ und die Kari’ña zu hören bekam, sich erst nach und nach zu einem einigermaßen schlüssigen Gesamtbild zusammenfügten, eines war mir bereits bei diesem ersten Besuch in der Region Imataca deutlich vor Augen geführt worden: die enorme Bedeutung, die dem Gold in dieser Region zugeschrieben wird. Nahezu alles, so mein Eindruck, scheint sich hier um dieses glänzende Metall zu drehen, Politik, Arbeit und Alltag gleichermaßen. Die Mehrheit der Bevölkerung in und um Tumeremo herum lebt direkt oder indirekt vom Goldbergbau. Und Gold beeinflusst in zunehmendem Maße auch das Leben der Kari’ña, wie der folgende Abriss zur Konfliktgeschichte Fangol deutlich macht. Umkämpfte Ressourcen – der Streit um ›Fangol‹ Die Konflikte um die Goldmine Fangol begannen in den frühen 1990er Jahren. In dieser Zeit begann ein Bergbauunternehmen namens Monarch Resources de Venezuela mit der Prospektion und Erkundung eines Terrains, das unmittelbar in der Nähe der beiden Kari’ñasiedlungen Prestamo und Juan Cansio lag. Im staatlichen Bergbaukataster wird das Areal als Teil ei-
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ner 5000 ha großen Konzession namens Bochinche 12 geführt, über welche sich das Unternehmen in einem mit der regionalen Entwicklungsorganisation CVG Anfang der 1990er Jahre abgeschlossenen contrato minero die Nutzungsrechte gesichert hatte. Monarch ist im venezolanischen Goldbergbau kein unbekannter Name. Der englisch-kanadische Konzern zählte gerade in den boomenden 1990er Jahren zu den big players im venezolanischen Goldbergbau. Er besaß mehrere Goldkonzessionen in den Goldfeldern von Guayana. Bochinche 12 war nur eine unter vielen Goldkonzessionen, die die Regierung im weiteren Siedlungsgebiet der Kari’ña in den 1990er Jahren an meist transnationale Konzerne oder Joint-Ventures mit staatlichen Firmen vergab. Die ersten Arbeitshandlungen auf dem Areal der Konzession Bochinche 12 bestanden im Errichten eines Arbeitscamps für das Personal, dem Anlegen neuer Wege und Pisten durch das Terrain, dem Roden von Waldflächen usw. Darüber hinaus wurden unter Einsatz schwerer Gerätschaften massive Erdverschiebungen zur Entnahme von Gesteinsproben vorgenommen. Wenig später ließ das Unternehmen bereits größere Mengen von goldhaltigem Material nach El Callao bringen, wo es eine industrielle Goldscheideanlage unterhielt. Hier wurde das goldhaltige Material zunächst gemahlen, dann aus dem feingemahlenen Gold-Stein-Gemisch in einem aufwändigen Verfahren unter Beisetzung von Zyanid und Aktivkohle das reine Gold extrahiert. Der Entschluss der Kari’ña, gegen das Unternehmen Monarch Widerstand zu leisten, war über längere Zeit gereift. Vorausgegangen waren zahlreiche Zusammenstöße, die langsam, aber stetig zur Politisierung der Situation beitrugen. Auslöser der Konflikte war nach Schilderungen von Tito Poyo und anderen Informanten die Weigerung des Unternehmens, Bewohnern aus den umliegenden Kari’ñasiedlungen die Goldsuche auf ihrem Konzessionsareal zu gestatten. Schließlich war das Konzessionsgebiet des Unternehmens für die Kari’ña nicht nur wichtiges Ackerland und Jagdgebiet, sondern auch als Schürfgebiet für ihre gelegentlichen Goldsuchunternehmungen interessant. Monarch jedoch war nicht geneigt, dieses in ihren Augen »illegitime Eindringen« in ihr Minenareal zu dulden, zumal die Erfahrung lehrte, dass andere Goldsucher dem Beispiel der Kari’ña folgen könnten. Das Unternehmen fürchtete wohl eine ähnlich brisante und konfliktträchtige Zuspitzung der Situation wie es sich in diversen anderen Standorten des industriellen Goldbergbaus in Guayana wiederholt zugetragen hatte, wo mineros pequeños das Areal der Konzerne regelrecht besetzt
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hielten (Schneider 2002). Monarch reagierte mit stärkeren Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen und ließ das Gelände bewachen. Sie wurde dabei von der in der Nähe stationierten Nationalgarde unterstützt, deren offizielles Mandat neben der Grenzsicherung offiziell auch Kontrollaufgaben im Bereich des Umweltschutzes beinhaltete. Im Visier ihrer sogenannten vigilancia ambiental standen in der Regel unabhängig oder in kleinen Kooperativen organisisierte Goldsucher, die meist ohne klare Rechtslage arbeiteten und sich nicht zuletzt deswegen vielerlei Kontrollen und Schikanen von Seiten der guardia ausgesetzt sahen. Die Situation spitzte sich allmählich zu und führte schließlich zu ersten öffentlichen Protesten auf Seiten der Kari’ña. Eine zentrale Anführerrolle spielte dabei der damalige capitán der Kari’ñasiedlung Matupo, José Vidal. Selbst kein Kari’ña, sondern kolumbianisch-indianischer Herkunft, war er seinen eigenen Angaben zufolge als junger Wanderarbeiter nach Venezuela gekommen, wo er sich einer Kari’ñagruppe in Cedro (Cedar) im Grenzgebiet von Venezuela und Guyana anschlossen hatte. Anfang der 1990er Jahre migrierte er mit der Gruppe an den jetzigen Standort nach Matupo. Auch das MIG, repräsentiert durch Tito Poyo, schaltete sich in den Konflikt ein. Die Kontakte zwischen MIG und den Kari’ña von Imataca waren erst Anfang der 1990er Jahre geknüpft worden, als das MIG im Rahmen seiner Unterstützung bei der Durchführung der indigenen Volkszählung in das Gebiet kam. Erst in diesem Zusammenhang haben sie nach Angaben von Tito Poyo von der Existenz dieser »hermanos Kari’ña« in Imataca erfahren. Die weitgehend akkulturierten und städtisch sozialisierten Mitglieder des MIG zeigten sich gleichermaßen erstaunt wie besorgt über das in ihren Augen rückständige und marginalisierte Waldleben ihrer ethnischen Verwandten in der Region Imataca. MIG und lokale líderes der Kari’ña, allen voran der erwähnte capitán der Siedlung Matupo, arbeiteten zunächst eng in der Frage der weiteren strategischen Vorgehensweise zusammen. Während den Kari’ña vor Ort vor allem verschiedene Szenarien der gewaltsamen Besetzung und Beschlagnahmung vorschwebten, setzte das MIG – wohlwissend um die neue Bedeutung indigener Völker in internationalen Umwelt- und Entwicklungsdiskursen – auf das Mittel der öffentlichen Denunziation. Mit Verweis auf den Status der Kari’ña als »primeros habitantes de estas tierras«, als Ureinwohner dieser Territorien, und auf die ökologisch verheerenden Auswirkungen des Goldbergbaus wurde Klage gegen das Unternehmen erhoben. Zugleich forderte das MIG eine Überprüfung der bereits erfolgten Konzessionsvergaben im
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Gebiet, darunter auch die der Holzkonzessionen der Gebrüder Hernández und des Holzunternehmens Inproforca, innerhalb dessen Konzessionsfläche sich die Mine Fangol befand. Die Forderung hatte Erfolg. Eine Untersuchungskommission wurde beauftragt, die Situation vor Ort zu prüfen und sie stieß in der Tat auf gewisse Ungereimtheiten. Offenbar hatte das Unternehmen Monarch, obwohl nur im Besitz eines sogenannten contrato de exploración, der lediglich Untersuchungen und Probebohrungen im Gelände gestattet, bereits mit der Förderung von Gold im Tagebauverfahren begonnen. Dieser Verstoß resultierte in der einstweiligen Suspendierung des Konzessionsvertrags und der Einstellung der Goldförderung vor Ort. Von MIG-Vertretern und Kari’ña selbst wurde dies zunächst als vielversprechenden Erfolg gefeiert, als positives Signal für den nicht nur in Venezuela wachsenden Einfluss indigener Völker in Konflikten um Ressourcen, Land und Umwelt: »La presencia indígena tenía mucha fuerza«, so die lapidare Erklärung von Tito Poyo angesichts der schnellen Kapitulation des Unternehmens. Mit diesem ersten Erfolg im Kampf gegen einen mächtigen internationalen Bergbaukonzern waren die Konflikte um Fangol keineswegs beigelegt. Im Rückblick betrachtet, fingen die Probleme damit erst richtig an. Diese Tatsache erscheint mir in zweifacher Hinsicht interessant mit Blick auf die Frage nach den Implikationen der größer werdenden Bedeutung von Gold im Leben der Kari’ña. Zum einen spiegeln sich in den Problemen spezifische Merkmale und Logiken des Goldbergbaus in Venezuela wider. Sie stehen im engen Wirkungszusammenhang mit dem, was man die politische Ökonomie des Goldbergbaus nennen könnte. In diesem Sinne werfen die Probleme Licht sowohl auf die Materialität der Ressource selbst, als auch auf daraus resultierende Bedingungen für die Partizipation der indigenen Bevölkerung am Goldgeschäft. Zum anderen sind die Schwierigkeiten und Probleme im Zusammenhang mit der einflussreichen Rolle externer Führer bei den Kari’ña zu sehen, die in einem Prozess wechselseitiger Beeinflussung die Probleme fortlaufend verstärkt haben. Umkämpfte Fronten – wer spricht für die Kari’ña? Während in offiziellen Stellungsnahmen der Kari’ña zum Konflikt der Goldbergbau vor allem als zerstörerische Bedrohung für Umwelt und indigene Traditionen dargestellt wurde, können sich viele indigene Kari’ña –
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wie bei anderen indigenen Gruppen anderenorts auch – dem Sog des Goldes nicht gänzlich entziehen. Ein Teil des Widerstandes gegen Monarch speiste sich daher auch aus dem Willen, nicht länger tatenlos zuzusehen, wie andere aus den Naturschätzen ihres Siedlungsgebietes Profit schlagen, während sie wieder einmal leer ausgingen und wie so oft diejenigen sein sollten, die unter den negativen Begleiterscheinungen solch externer Ressourcenerschließung zu leiden hatten. Nach der erfolgreichen Vertreibung von Monarch aus dem Gebiet machten vor allem die umliegenden Kari’ñasiedlungen Besitzansprüche auf die Mine Fangol geltend, die sie unter Verweis auf ihren indigenen Status als Ureinwohner dieser goldhaltigen Gebiete auch formal einzuklagen versuchten. Zugleich stellte sich jedoch das Problem, dass sie selbst nicht in der Lage waren, das Gold zu fördern. Nur wenige Kari’ña hatten Erfahrungen mit den Techniken des Stollenbergbaus. Soweit überhaupt vorhanden beschränkten sich diese im Allgemeinen auf das Schürfen von Sekundärlagerstätten in Flüssen und oberflächennahen Erdschichten, die mit vergleichsweise einfachen Methoden und primitiver Ausrüstung gewonnen werden können. Dabei meiden sie im Allgemeinen einen allzu engen Kontakt mit nicht-indigenen Goldsuchern. In unserem Fall bedeutete dies konkret, dass sie sich relativ schnell zurückzogen, als venezolanische mineros in der verlassenen Mine Fangol nach Gold zu schürfen begannen. Diese Situation brachte die Kari’ña in eine schwierige Verhandlungsposition. Schließlich bedurfte es sozusagen eines Taktierens an zwei Fronten: einmal gegenüber staatlichen Behörden, mit denen über Ressourcenrechte zu verhandeln war, zum anderen gegenüber den vor Ort in Fangol arbeitenden mineros, mit denen Möglichkeiten und Modi einer Gewinnbeteiligung aus der Goldmine auszuloten waren, auf die die Kari’ña gewissermaßen als indigene Bewohner des Territoriums Anspruch anmeldeten. Mit dem Geld sollten sowohl anfallende Kosten im Zusammenhang mit der formalen Einklagung der Rechte über die Minenkonzession gedeckt als auch langfristig verschiedene Projekte für die comunidades finanziert werden. Ins Auge gefasst wurden hier vor allem Projekte im Bereich der Schulbildung und der Organisation, in denen nach Auffassung des MIG besonders dringlicher Handlungsbedarf bestand. In den Augen des MIG waren diese Defizite nicht zuletzt maßgeblich dafür verantwortlich zu machen, dass die Kari’ña in Imataca besonders stark die negativen Einflüsse von Bergbau und Forstnutzung zu spüren bekamen und dass ihnen bis-
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lang auch jegliche Form der öffentlichen Unterstützung und Zuwendung von Seiten staatlicher Indigenenprogramme vorenthalten worden war. Mit der Forderung nach Gewinnbeteiligung fanden sich die Kari’ña gegenüber den mineros gewissermaßen in der Rolle von Rentiers wieder.1 Diese Rolle stellte die beteiligten Kari’ña vor eine Reihe heikler Entscheidungen und organisatorischer Probleme. Wie beispielsweise sollten die Zahlungen der mineros an die Kari’ña und die Verteilung der Gelder an die verschiedenen Dörfer der Kari’ña organisiert werden? Wer übernahm dafür die Verantwortung und Kontrolle? Wie sollten Entscheidungen getroffen werden? Welche Personen waren autorisiert, die Interessen der Kari’ña in dieser Angelegenheit nach außen und vor den Goldsuchern zu vertreten? Zwar gab es immer wieder Ansätze, alle örtlichen Kari’ñasiedlungen in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen, de facto blieb die Entscheidungsgewalt weitgehend in den Händen einiger weniger Personen, in erster Linie den beiden selbsternannten, externen Sprechern und Anführern der Kari’ña. Bereits der große Einfluss solch externer líderes in der Auseinandersetzung war gewissermaßen Indiz für eine extrem schwach ausgebildete politische Führungsstruktur bei den Kari’ñagruppen. Und in der Tat findet sich hier eine Situation ähnlich derjenigen, wie sie Forte bei den Kari’ña im angrenzenden Baramagebiet angetroffen hat: »What is most striking is the comparison, in which the Karinya come out badly, with the overwhelming majority of other Guyanese Amerindian settlements. In no Karinya settlement in this sub-region, Baramita excepting, did I ever meet a local acknowledged leader. There is simply no local structure of governance.« (Forte 1999: S. 71)
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Gewisse Parallelen lassen sich hier zur Geschichte der Indios petroleros erkennen, die uns in Kapitel 5 noch genauer beschäftigen wird. Diesen Namen erhielten einige Kari’ñagemeinschaften in Monagas, nachdem sie in den 1940er Jahren erfolgreich mit internationalen Ölfirmen über die Zahlung einer Ölrente verhandelt hatten. Als Teil eines tradierten Erfahrungswissens der Ethnie Kari’ña in Venezuela wäre es durchaus vorstellbar, dass diese Geschichte unterschwellig auch das strategische Handeln des MIG im Zusammenhang mit der Mine Fangol beeinflusst hat, zumal viele Mitglieder des MIG selbst von Kari’ñafamilien aus jener Region abstammen.
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Gleiches gilt im Prinzip auch für Kari’ñasiedlungen in Imataca. Im Fall des Konflikts um die Mine Fangol führte dies dazu, dass das Sprechen im Wesentlichen von den beiden externen Führungsfiguren übernommen wurde, die jedoch bald zu erbitterten Konkurrenten im Führungsanspruch bei den Kari’ña wurden. Ein Machtkampf entbrannte, der immer weitere Kreise zog und alsbald für ein Klima des gegenseitigen Misstrauens und Argwohns unter den Kari’ña sorgte. Auslöser ihrer Streitigkeiten waren gegenseitige Vorwürfe der Veruntreuung und persönlichen Bereicherung an den Einkünften aus der Mine, die eigentlich zum Gemeinwohl aller Siedlungen zu verwalten und zu verteilen waren. Dabei ging es konkret um Gelder, die aus dem Verkauf goldhaltiger Abraumsande aus der Mine Fangol erhalten worden waren. Solche Abraumsande sind gewissermaßen ein Abfallprodukt im handwerklichen Goldabbau – es sind jene Materialrückstände, die nach der Zerkleinerung und Behandlung des aus den Stollen geförderten Goldgesteins mit Quecksilber zurückbleiben. Allerdings enthalten diese Abraumsande zum Teil noch beachtliche Mengen an Restgold, so dass das Material von den handwerklich organisierten Goldsuchern in der Regel an industrielle Bergbaukonzerne wie Monarch verkauft wird, die über entsprechende Scheidetechnologien verfügen und normalerweise auch sehr am Aufkauf interessiert sind. Dabei sehen sie auch gerne darüber hinweg, dass viele der mineros pequeños illegal arbeiten. In gewisser Weise verschaffen sich hier die großen Bergbaukonzerne Zugriff auf Ressourcen, für die weder sie noch die mineros legale Nutzungsrechte haben. Letztlich profitieren sie sogar von der Rechtsunsicherheit der mineros, da dies die Verhandlungsposition der einfachen Goldsucher in solchen Geschäften beträchtlich schwächt. Einmal mehr wird hier die produktive Verzahnung legaler und illegaler Strukturen und Akteure im Goldsektor deutlich (Barney 2009; vgl. Tsing 2000). Im vorliegenden Fall wurden Berichten zufolge insgesamt zehn Lastwagenfuhren dieses Materials an den Bergbaukonzern Monarch verkauft, der damit trotz Suspendierung seiner Konzessionsrechte weiterhin von der Mine profitieren konnte. Welchen Gewinn die Kari’ña aus diesem Verkauf zogen, blieb im Detail unklar. Die Rechte an diesem Material sind normalerweise sehr komplex und verteilen sich in der Regel mit absteigenden Gewinnanteilen auf die Gruppe der molineros, d.h. Besitzern der Gesteinsmühlen, die oft wiederum weiteren Geschäftspartnern verpflichtet sind, die mineros und in diesem Fall offensichtlich auch die Kari’ña. Jedenfalls soll
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von dem Geld, das das MIG in Vertretung der Kari’ña einstrich, nichts bei den Kari’ña vor Ort angekommen sein. Über den Verbleib des Geldes in einer öffentlichen Versammlung in Tumeremo befragt, beteuerte Tito Poyo in seiner Funktion als Vertreter des MIG, dass es auch nichts an die Dörfer zu verteilen gegeben hätte, da nach Abzüge aller Kosten, einschließlich der Bestechungsgelder an die guardia nacional, deren Einverständnis man bei solchen Geschäften bräuchte, und wegen des niedrigen Verkaufspreises eine viel geringere Summe als erhofft erhalten worden sei, die wiederum fast vollständig für entstandene Kosten für Verwaltung, Unterkunft und Verpflegung aufgebraucht worden sei. In der Bilanz dieses Konfliktes ist letztlich der Wahrheitsgehalt solcher Aussagen unerheblich. Ausschlaggebend waren meines Erachtens vielmehr die sozialen und politischen Folgen für die Kari’ña. Denn was zunächst als vielversprechende Erfolgsgeschichte begann, hat im Nachhinein die Position der Kari’ña in diesem besonders konfliktträchtigen Feld des Goldbergbaus in Venezuela wohl eher geschwächt als gestärkt. Eine derart ernüchternde Bilanz lässt sich in mehrerer Hinsicht ziehen. Zum einen haben die andauernden Querelen und Auseinandersetzungen um die Goldmine Fangol zu massiven sozialen Spannungen und Fraktionsbildungen innerhalb und zwischen den verschiedenen Kari’ñasiedlungen geführt. Nicht zuletzt hat dazu auch eine dritte ›externe‹ Person, die damals einen gewissen Einfluss bei den Kari’ña ausübte, ihren Beitrag geleistet, ein bei den Kari’ña lebender adventistischer Missionar, der ebenfalls zeitweilig massiv im Konflikt intervenierte. Jeder der drei selbsternannten Fürsprecher der Kari’ña versuchte mit mehr oder weniger realistischen Versprechungen (landwirtschaftliche Projekte, eigenes Großterritorium mit indigener Goldförderung etc.) seinen Einfluss bei den Kari’ña zu stärken. Alle drei betonten nach außen hin immer wieder formelhaft, dass ihr Engagement ausschließlich dem Wohl und den Interessen der Kari’ña diene, die – darin waren sich alle einig – dringend Hilfe und Unterstützung nötig hätten. Eine gewisse Relevanz dürften jedoch auch ökonomische Interessen sowie missionarisch-religiöse Motive gehabt haben. So versuchten alle genannten Personen auch unabhängig von den Kari’ña im lukrativen Geschäft der Goldsuche vor Ort mitzumischen. Das Jahr 1997 markierte mit der kurzfristigen Festnahme eines führenden Protagonisten im Streit und vielen hitzigen bis hin zu gewaltsamen Zusammenstößen einen traurigen Höhepunkt in den Auseinandersetzungen. Das soziale Klima vor Ort war geprägt von
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Misstrauen und gegenseitigem Argwohn, auch innerhalb der Kari’ña, die ohnehin schon Mühe hatten zu durchschauen, wer nun was in ihrem Namen zu tun beabsichtigte. Einige der Siedlungen wie Botanamo beispielsweise zogen sich – enttäuscht von den leeren Versprechungen – gänzlich aus dem Nutzungsstreit um die Goldmine Fangol zurück. Und in der Tat sind die vollmundigen Versprechungen eines Tito Poyo, José Vidal und vielen anderen, die in den letzten Jahren den Kari’ña Hilfe und »ein neues Leben« versprachen, meist das geblieben was sie waren – Versprechungen. Allenfalls haben sie dazu beigetragen, die ohnehin prekäre soziale Kohäsion der Kari’ña als Gruppe weiter zu schwächen und den diffusen Zustand der sozialen Anomie, der sich bei den Kari’ña erkennen lässt, zu verfestigen. Nicht zuletzt haben sie das Vertrauen der Kari’ña in Hilfsangebote von außen nachhaltig untergraben. Auch jene drei selbsternannten líderes der Kari’ña, die im Zusammenhang mit dem Streit um die Mine Fangol so lautstark als Wortführer der Kari’ña von Imataca auftraten, haben sich mittlerweile längst anderen Aufgaben zugewandt. Noch problematischer ist jedoch, dass in dem Maße, wie sich die Kari’ña politisch in diesem Feld engagieren, gleichzeitig die sozialen und kulturellen Bedingungen untergraben werden, die für eine politisch erfolgreiche Artikulation ihrer indigenen Identität und Rechte heutzutage notwendig sind. Dies kann einerseits auf den großen Einfluss dieser líderes de afuera zurückgeführt werden, deren Interventionen – so wohlmeinend sie vielleicht auch gedacht waren – eher das Gegenteil von dem bewirkten: anstelle der angestrebten politischen Unterstützung haben sie letztlich mehr zu Entmächtigung der Kari’ña beigetragen. Zum anderen festigte der Konflikt um Fangol den Ruf der Kari’ña als besonders schwierige und zerstrittene indigene Gruppe. Für kommunale und regionale Machtträger war nicht zuletzt dies Grund genug, von eigenen Hilfsleistungen für die Gruppe Abstand zu nehmen.
A MBIVALENTES G LÜCK – D IE K ARI ’ ÑA UND DAS G OLD Der Streit um die Mine Fangol bildet nicht der einzige Berührungspunkt zwischen Kari’ña und Gold. Äußerlich deutet zwar wenig in den Kari’ñasiedlungen der Region Imataca auf eine besondere Bedeutung dieser Ressource hin. Es gibt so gut wie keine materiellen Anzeichen von Gold,
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kein Zurschaustellen eines durch Gold gewonnenen Wohlstandes etwa, kein Schmuckstück oder andersartiger Gegenstand, der auf eine besondere Wertschätzung dieses Edelmetalls bei den Kari’ña verweisen würde. Dennoch bestimmt Gold in einigen der Siedlungen vor Ort mehr und mehr das Leben und Handeln der Bewohner und Bewohnerinnen, wenn auch, wie mir scheint, nicht ganz so stark und intensiv wie jenseits der Grenze in Guyana. Bei den Kari’ña im Nordwestdistrikt, so beschreibt Forte (1999: 59) nach einem einmonatigen Besuch der Region die Situation, »ist Goldsuche das Maß aller Dinge […] – die Hauptbeschäftigung nicht nur von Männern, sondern Frauen und ziemlich jungen Kindern, ja von fast allen, die ich im Gebiet angetroffen habe, Karinya und nicht-Karinya gleichermaßen«. Eine solche extreme Hinwendung zum Gold, die gerade die jüngere Generation der Kari’ña in Guyana unstet von Minenort zu Minenort ziehen lässt, ist bei den Kari’ña auf venezolanischer Seite (noch) nicht erkennbar. Aber auch hier gewinnt die Suche nach Gold an Bedeutung, umso mehr als die unstete und mobile Kultur des Goldsuchens, die sich in diesen peripheren Grenzräumen herausgebildet hat, ihrem eigenen kulturellen Habitus von Bewegung und Unstetigkeit im sozialen Raum entgegen kommt. Nach allem, was man von alten Goldgräbern und Ladenbesitzern in der Region hört, besitzen die Kari’ña sogar eine recht ›gute Nase‹, wenn es darum geht, Gold aufzuspüren. Von den Kari’ña selbst bekommt man verschiedene Erklärungen für dieses Phänomen. Viele führen ihren Erfolg auf Traumvisionen zurück, die ihnen – wenn richtig gedeutet und aufmerksam analysiert – vielversprechende Fundorte aufzeigten (vgl. Slater 1994). Oft seien es Träume über menschliche Fäkalien, die einen guten Hinweis auf Gold abgäben, wurde mir erzählt, und diese spezifische Verbindung weiß auch Forte (1999) von den Kari’ña im Nordwest-Distrikt von Guyana zu berichten. Andere Kari’ña wiederum geben eher praktische Erklärungen, verweisen auf spezifische Zeichen und Hinweise in der Landschaft, die Art und Weise etwa, wie ein Fluss im Verhältnis zum Berg verläuft, oder welche Struktur und Farbe das umliegende Gestein aufweist. Auch unter der nicht-indigenen Minerobevölkerung wird bei der Suche neuer Goldadern vielfach auf mythisch-spirituelle Zeichen und Vorstellungen zurückgegriffen: spiritistische Sitzungen beispielsweise, bei denen die beschworenen Medien, meist Verstorbene, auch Hinweise auf Fundstellen geben würden; des Weiteren ein Vogel namens minero, der mit seinem wiederholten Schrei auf Goldlagerstätten aufmerksam mache, oder auch eine Pflanze, de-
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ren Wuchs auf Gold hinweise (Schneider 2002). Darüber hinaus finden jedoch Metalldetektoren mehr und mehr Einsatz bei der Suche nach neuen Lagerstätten, so offenbar auch unter den Kari’ña in Guyana. Meist gelingt es den Kari’ña jedoch nicht, die Orte lange geheim zu halten, da sie schon bald das Gold für Essen und vor allem Alkohol eintauschen. Hat sich das Gerücht von einer produktiven Quelle erst einmal verbreitet, lassen nachrückende Nicht-Kari’ña Goldsucher nicht lange auf sich warten, welche dann, in der Regel mit besseren technischen Gerätschaften ausgerüstet, ebenfalls vor Ort nach Gold zu suchen beginnen. Die Kari’ña selbst reagieren darauf typischerweise mit Rückzug. Forte (1999) bestätigt auch meinen Eindruck, dass die Kari’ña sich generell unwohl in der Gegenwart von criollos fühlen und es vorziehen unter sich zu bleiben. So liegt es nahe, dass viele Kari’ña sich auf das Schürfen von oberflächennahen alluvialen Seifen und Flussgoldvorkommen konzentrieren, eine Form von Gold, die nicht nur mit einfachstem Handwerkszeug – mit traditioneller Goldwäscherpfanne, der batea, Pickel und etwas Quecksilber – gewonnen werden kann, sondern notfalls auch alleine. Dies bedeutet nicht, dass ausgefeiltere Techniken der Goldgewinnung von den Kari’ña gänzlich gemieden werden würden. In der Regel ist dies für die Kari’ña jedoch nur um den Preis einer gewissen Abhängigkeit von finanzkräftigen Kreolen und der Bereitschaft zu haben, sich in feste Arbeitsstrukturen zu fügen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen zeigen die Kari’ña in Imataca ein bemerkenswertes Widerstreben, diesen Preis für einen (vielleicht) produktiveren Zugriff auf das Gold zu bezahlen. So groß die Verlockung der Goldsuche für die Kari’ña gegenwärtig auch sein mag, sie läutet nicht automatisch das Ende ihrer Subsistenzwirtschaft ein. Gerade mit Blick auf die Auswirkungen sogenannter »mining frontiers« (Hennessy 1978) zeichnen ethnologische Studien im Allgemeinen ein düsteres Bild vom radikalen Kulturwandel indigener Lebensweisen. So hebt auch die Ethnologin Audrey Butt Colson (1983) in einer ebenso eindrücklichen wie beunruhigenden Studie, die sie über die Akawaio und Arekuna des oberen Mazaruni im angrenzenden Guyana in den 1980er Jahren erstellte, die ungemein kulturzerstörerischen Kräfte hervor, die durch die Entwicklung der Gold- und Diamantenindustrie mobilisiert wurden. Sie zeigt anschaulich, wie der Bergbau dort zu einem vollständigen Zusammenbruch der indigenen Subsistenzwirtschaft geführt hat: neue Felder wurden nicht mehr gerodet und bestellt, die Produktion nahm ab, und überteuerte, in die Region importierte Lebensmittel ersetzten lokal produzierte
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Nahrungsmittel, was unter den Indigenen zu ernsthaften Erscheinungen von Mangelernährung führte. Nicht minder gravierend schildert Butt Colson die Auswirkungen im sozialen Bereich, wo sie die Entstehung eines typischen »Goldgräber-Syndroms« ausmachte, das durch »Trinken, Spielen, Prostitution, verschwenderischen Lebensstil und von Zeit zu Zeit Gewalt« gekennzeichnet war. Darüber hinaus wurden alte Werte und Traditionen des Teilens und der sozialen Kooperation durch monetäre Werte, Eigeninteressen und Misstrauen ersetzt (vgl. Mansutti 1981 und Cousins 1991 für ähnliche Entwicklungen bei den venezolanischen Pemon). Ähnliches galt auch für traditionelle Glaubensvorstellungen und Wissenspraktiken, die mehr und mehr verloren gingen, wodurch sich die Abhängigkeit der Indigenen von der Gold- und Diamantensuche weiter erhöhte. Das Ergebnis war ein klassisches Entwicklungsparadox, bei dem steigende Einnahmen durch den Verkauf von Gold letztlich den Lebensstandard der indigenen Bevölkerung deutlich verschlechterten. Viele der von Butt Colson aufgeführten Negativfolgen des Gold- und Diamantenbergbaus lassen sich ansatzweise auch bei den Kari’ña in der Region Bochinche ausmachen. Während ihre Beschreibung jedoch den Eindruck von einer umfassenden kulturellen Krise und einer radikalen Transformation wirtschaftlicher Lebensweisen aufkommen lässt, im Zuge derer innerhalb weniger Jahre eine ›traditionelle Moralökonomie‹ durch eine auf Eigeninteresse und Konkurrenz stützende ›monetär-kapitalistische Wirtschaftsweise‹ mit all ihren negativen sozialen Begleitfolgen verdrängt wird, erscheint mir eine solche Sichtweise mit Blick auf die Kari’ña zu einseitig. Bei den Kari’ña können sehr unterschiedliche Reaktionen im Bezug auf Gold beobachtet werden. So gibt es Gruppen in der Region Imataca, bei denen die Goldsuche eine wichtige Rolle spielt. Viele vor allem der jüngeren Männer arbeiten hier regelmäßig und für längere Abstände in den oft entfernt liegenden Minen, während die Frauen mit den Kindern meist in den Siedlungen bleiben und sich um die Felder kümmern. Dazu gehören beispielsweise die comunidades KM 50, Matupo und natürlich auch El Cansio und Prestamo, die am östlichen Ende der Stichstraße unweit des Minenorts Fangol liegen. Hier ist die Selbstidentifikation als minero unter den Kari’ña hoch, wie den von den lokalen Schulen durchgeführten Einwohnerzensen zu entnehmen war, bei denen neben Namen, Alter und Geschlecht auch nach dem Beruf gefragt wurde. Die Kari’ña bevorzugen dabei bestimmte Regionen, wo sie vergleichsweise unbehelligt von anderen
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mineros der Goldsuche nachgehen können. Beliebte Plätze zur Zeit meines längsten Aufenthaltes 1997 waren beispielsweise der Minenort El León in der Nähe des Flüsschens Margerita im Norden der Sierra Imataca sowie die Minenorte Las Pavas und La Loca unmittelbar an der Grenze zu Guyana, alle etwa einen guten Tagesmarsch von den Siedlungen entfernt. In anderen Siedlungen wiederum, wie beispielsweise Botanamo, wo ich einen großen Teil meiner Zeit vor Ort verbrachte, spielte die Goldsuche kaum eine nennenswerte Rolle. Nur ein paar Leute, darunter interessanterweise zwei jüngere, alleinstehende Frauen, gaben an, in den vergangenen Jahren gelegentlich auf Goldsuche gegangen zu sein. Eine Reihe von Faktoren sind für diese unterschiedliche Verhaltensweisen verantwortlich zu machen. Neben der geographischen Entfernung der Minenorte, begründeten Kari’ña ihre geringes Engagement im Goldbergbau auch mit mangelnden Kenntnissen, fehlenden Kontakten und Gelegenheiten, sowie den insbesondere mit dem unterirdischen Stollenbergbau verbundenen Gefahren. Auch kulturelle Wertvorstellungen spielen eine Rolle. So macht es nach Meinung vieler Kari’ña in Botanamo keinen Sinn, nach Gold zu suchen, wenn das Gold zum großen Teil wieder für Nahrungsmittel eingetauscht werden müsse, d.h. für Dinge ausgegeben wird, die gewissermaßen ›umsonst‹ zu haben sind bzw. selbst hergestellt werden können. Das Gold wird von den Kari’ña offensichtlich nur in bestimmten Kontexten als ein akzeptiertes Tauschmittel gesehen. Es besitzt nicht den Charakter eines wertneutralen universalen Tauschmittels wie Geld in unserer modernen, westlichen Warengesellschaft. Vielmehr werden moralische Unterscheidungen zwischen einer angemessenen und unangemessenen Verwendungsweise dieses Tauschmittels getroffen, wobei eine deutliche Grenze zwischen dem Anbau und Tausch von Subsistenzgütern und dem Kauf von Waren gezogen wird. Ähnliche Beispiele solcher Grenzziehungen und unterschiedlicher Bewertungsmaßstäbe von ›Geld‹ sind von Ethnologen auch für andere Gruppen beschrieben worden (s. etwa Parry/Bloch 1989). Nichtsdestotrotz lässt sich auch unter den Kari’ña als Folge ihres wachsenden Engagements in der Goldökonomie eine Tendenz zur Vernachlässigung ihrer Subsistenzbasis ausmachen. Besonders deutlich war dieser Prozess in den nahe bei dem Minengebiet Fangol gelegenen Siedlungen zu erkennen, wo einige der Familienhaushalte zeitweilig kein produktives Maniokfeld besaßen. Der Mangel an diesem grundlegenden Nahrungsmittel bedeutete, dass diese Familien darauf angewiesen waren, sich von den völlig
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überteuerten Lebensmitteln wie Nudeln, Reis und Konserven aus den kleinen Lebensmittelläden in den Minen zu ernähren, welche sie gelegentlich mit erbeutetem Jagdwild zu ergänzen versuchten. Die wenigsten Kari’ña verlassen sich jedoch ausschließlich auf die Goldsuche, die bei allem nachgesagten Gespür für Gold, wie sie gelernt haben, immer auch ein Glücksspiel ist, bei dem der tägliche Ertrag keineswegs garantiert ist. Für die Kari’ña, die keinerlei Ersparnisse und/oder Vorräte besitzen, bedeutet »nichts zu haben, am Ende eines harten Arbeitstages der Graberei und Wühlerei [...], dass sie besser ein Feld in Reserve halten« (Forte 1999: 75). Bei allen Veränderungen, die der Goldboom bei den Kari’ña diesseits wie jenseits der Grenze auslöst, versuchen doch daher die meisten Kari’ñafamilien zumindest ihre Bittermaniokfelder weiter zu kultivieren. In diesem ganz fundamentalen Sinne bleiben sie damit eine »intakte Waldkultur«, wie Forte (ebd.) schreibt. Dies gilt wohl noch mehr für die Kari’ña in der Region Imataca auf der venezolanischen Seite, die, soweit ich dies nach einer kurzen Reise ins benachbarte Guyana beurteilen kann, deutlich weniger stark von der Goldsuche berührt sind als ihre Verwandten jenseits der Grenze. Die Basisversorgung der meisten Kari’ñahaushalte wird in Imataca weiterhin über das Feld, die Jagd und den Fischfang bestritten. Im Allgemeinen versuchen die Kari’ña also eine subsistente Grundversorgung beizubehalten, die nicht zuletzt in ihrem Widerstreben begründet liegt, sich vollständig in die Abhängigkeit von Gold und seinen Unwägbarkeiten zu begeben. Dies kann einerseits als eine Strategie der Risikoverminderung im Kontext einer wachsenden Einbindung in die regionale Goldökonomie gesehen werden. Andererseits hat dieses Festhalten der Kari’ña an noch so elementaren Praktiken der Waldnutzung eine beträchtliche identitätsstiftende Bedeutung, die es den Kari’ña bei allem Anschein sozialer Anomie ermöglicht, ein erstaunlich starkes Gefühl ethnischen Selbstbewusstseins aufrecht zu erhalten. Gerade in dieser Kontinuität ihrer engen Beziehung zur Umwelt verschafft sich eine bemerkenswerte kulturelle Widerständigkeit Ausdruck. Wohl mag sich die Geschwindigkeit des Wandels und die Intensität gegenwärtiger Erschließungsprozesse erhöht haben, zumal wenn man die gleichzeitige Transformation der Landschaft durch die Holzfirmen in Betracht zieht, die diesseits und jenseits der Grenze riesige Waldgebiete zur Holznutzung zugesprochen bekommen haben. Die Kari’ña leben und suchen weiter nach Gold in den kleinen Nischen und Zwischenräumen ihres Territoriums, Seite an Seite mit venezolanischen Goldsu-
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chern, ›illegalen‹ Brasilianern und Kolumbianern, lokalen und transnationalen Bergbauunternehmen. Die Kari’ña haben die bisherigen Zyklen des ›realen Goldfiebers‹ überstanden, wohl sogar besser überstanden als die fantastische Identifikation ihres Lebensraums mit Eldorado.
4 Weißes Gold – Kautschuk, Fieber und Vergessen
»The jefes say if they cannot make the Indians work for money they must make them work through fear.« VICKI BAUM (1945)
In diesem Kapitel geht es um eine eigentümlich vergessene Ressource in Guayana: Balata. Das ist die Bezeichnung für eine Naturgummiart, die in den venezolanischen Ausfuhrstatistiken des frühen 20. Jahrhunderts weit oben auf der Skala bedeutender Exportgüter auftauchte. Das wichtigste Gewinnungsgebiet für diese – neben dem bekannteren Hevea-Kautschuk – zweite wichtige Handelsklasse südamerikanischen Naturgummis waren die Wälder der Region Tumeremo, also just jene Region, die im Blickfeld meiner Ressourcengeschichte liegt. Trotz der zeitweise großen wirtschaftlichen Bedeutung von Balata wurde der Ressource in historischen Rückblenden auf die wirtschaftliche Entwicklung dieser Region im Osten Guayanas, wie sie im Zusammenhang mit den jüngeren Nutzungskonflikten um die Forstreserve Imataca immer wieder öffentlich in Zeitungen und Büchern skizziert wurden, nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies ist umso auffälliger, als die zeitlich zum Teil überlappende Historie des Goldbergbaus in der Region im selben Atemzug immer wieder öffentlich in Erinnerung gerufen wurde. Die Diskrepanz mag zumindest teilweise damit zusammenhängen, dass die Suche nach Gold bis heute eine wichtige Rolle in dieser Region spielt. Balata hingegen büßte ähnlich wie der Wildkautschuk Amazoniens mit dem Aufkommen der asiatischen Plantagenökonomie und der
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Entwicklung synthetischer Ersatzstoffe spätestens nach dem zweiten Weltkrieg seine (welt-)wirtschaftliche Bedeutung ein. Heute besitzt Balata allenfalls noch lokal einen begrenzten Gebrauchswert. In einigen Gegenden im Nachbarland Guyana haben sich beispielsweise indigene Gruppen mit handwerklich sehr kunstvollen Miniaturfiguren und -objekten, die sie aus Balata herstellen und an Touristen verkaufen, eine neue Marktnische geschaffen. Hauptakteure dieser als Nappi Balata Crafts bekannten indigenen Kunst sind die Makushi-Indianer aus den Kanukubergen im Landesinneren Guyanas, nach deren Siedlung Nappi die mittlerweile auch in anderen Regionen Guyanas boomende amerindianische Balatakunst benannt ist. Über diese lokalen Vermarktungsansätze hinaus spielt Balata als Naturgummi heute keine wirtschaftliche Rolle mehr. Auf guyanischer wie auf venezolanischer Seite wird jedoch das Holz, das als Bau- und Furnierholz geschätzt wird, kommerziell genutzt. Ob allein der wirtschaftliche Niedergang von Balata seine im Vergleich zu Gold deutlich geringere Präsenz im kollektiven Gedächtnis Venezuelas ausreichend zu erklären vermag, erscheint jedoch fraglich. Eine abschließende Erklärung wird wohl auch das vorliegende Kapitel schuldig bleiben müssen, da meine Ausführungen zu Balata nicht zuletzt aus diesen Gründen eine vorläufige und fragmentarisch bleibende Rekonstruktion einer ›Leerstelle‹ bleibt. Die Existenz und Bedeutung dieser Ressource in der Geschichte der Region Imataca erschloss sich erst spät im Forschungsprozess. Zunächst gab es da nur eine tropische Baumart, die von den Kari’ña »Parax’ta« genannt und von ihnen auf vielseitige Weise genutzt wurde: das Holz – widerständig und hart – als Baumaterial; die latexartige Milch dieser Bäume als Dichtungsmaterial und Klebstoff, etwa um Löcher in Gummistiefeln, Flaschen oder Planen abzudichten, oder auch bei der Jagd nach Papageien, die mit Hilfe des Klebstoffs an die Bäume ›geleimt‹ werden und so lebendig gefangen werden können; nicht zuletzt waren die schmackhaften Früchte dieses im venezolanischen Volksmund gemeinhin als purguo bekannten Baumes als Nahrungsmittel geschätzt. Die Milch des Baumes war also zunächst nur eine Waldressource unter vielen in der indigenen Subsistenzkultur der Kari’ña. Erst nach und nach kristallisierte sich während meiner Recherchen vor Ort heraus, dass genau dieser Stoff im frühen 20. Jahrhundert wohl unter fast gleichlautendem Namen als begehrtes Naturprodukt für die europäische und nordamerikanische Industrie hoch im Kurs stand. Wie bei Kautschuk dürfte auch der Name Balata dabei selbst unmittelbar der Kari-
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bensprache der Kari’ña entlehnt worden sein (vgl. Gosling 1990: 489). Eine erste Ahnung von der Bedeutung dieses Rohstoffbooms und seinen Auswirkungen auf die Region vermittelte mir eine kleine Festschrift, die 1988 anlässlich des 200jährigen Bestehens des Städtchens Tumeremo in kleiner Auflage herausgebracht worden war. Für das schmale Bändchen war eine Fülle an historischem Material – Fotos, Textfragmente und Auszüge aus alten Lokalzeitungen und Büchern über die Region, Notizen und Erinnerungen berühmter Zeitzeugen und Schriftsteller – zusammengetragen worden, die wichtige Ereignisse und herausragende Persönlichkeiten in Geschichte von Tumeremo dokumentierten. Bei allem lokal-anekdotischem Anstrich lieferte die Chronik interessante Einblicke in das soziale, politische und wirtschaftliche Leben dieser Region während der vergangenen zwei Jahrhunderte. Neben dem auch hier allgegenwärtigen Goldbergbau als prägende Aktivität in der Region fand ich vereinzelte Hinweise auf ein sogenanntes Zeitalter des Balata in Tumeremo, die mein Interesse weckten. Eine Rubrik in der Jahreschronik von 1910-1911 etwa führte Namen von Personen und Unternehmen auf, die 1917 eine Konzessionsfläche zur Gewinnung von Balata im Bezirk von Tumeremo beantragt und erhalten hatten. Etwa fünfzig Namen waren aufgelistet, die zusammen über 160 Balatakonzessionen besaßen, darunter auch zwei Großkonzessionäre, die allein über zwanzig der in der Regel 1250 ha großen Konzessionen bewirtschafteten (Hernández/Herrera 1988). An anderer Stelle waren einige Angaben über Menge und Wert des aus Venezuela exportierten Balata zwischen 1896 und 1944 zusammengestellt. Trotz der Spärlichkeit der Daten ließ sich erahnen, welche Bedeutung diesem Rohstoff zumindest in den Boomzeiten zwischen 1910 und 1925 zugekommen sein musste. Besonders interessant in diesem Zusammenhang war ein Verweis auf die »Explotación irracional del Purguo«. Offenbar wurden für die Gewinnung des begehrten Latex über viele Jahre hinweg die Bäume einfach gefällt, so dass, wie es in einem in der Festschrift veröffentlichten Auszug aus einer 1948 erschienenen Abhandlung zur Wirtschaftsgeographie des Bundesstaates Bolívar hieß, »die Wälder der ›Boca del Monte‹ und ›Las Mulas‹, im Gerichtsbezirk von Upata, die Waldgebiete von El Palmar im gleichnamigen Bezirk, die von Usupamo, Avechica, La Becerra im Bezirk Pedro Cova, die Wälder von Miamo und Nuria im Verwaltungsbezirk Salom, sowie von Botanamo, Avenamo am Oberlauf des Cuyuni in den Kreisbezirken Tumeremo und Dalla-Costa etc. von Bäumen übersät waren,
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die den Äxten der Purgüeros zum Opfer gefallen waren« (ebd.: 26). Dies erklärt vielleicht auch die Tatsache, dass im Feld nur wenige Purguobäume Spuren einer früheren Nutzung aufwiesen, also jene v-förmig verlaufenden Einkerbungen an den Stämmen, wie wir sie auch aus historischen Fotos über die Kautschukgewinnung in Amazonien kennen. Zugleich macht das hier angedeutete Ausmaß der ökologischen Eingriffe in die Wälder der Sierra Imataca deutlich, wie sehr gerade diese im öffentlichen Diskurs so wenig beachtete Ressource Balata die ökologisch-materiellen Grundlagen dieser Waldgebiete Guayanas verändert haben muss. Die folgenden Ausführungen sind nur ein erster Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte des Balata in Guayana – eine erste Annäherung an diese ›vergessene‹ oder ›verdrängte‹ Ressource in der Geschichte Guayanas und seiner indigenen Bewohner. Gerade mit Blick auf die Rolle und Situation der indigenen Bevölkerung in den Balatagebieten Guayanas bleiben Fragen offen, die einer systematischen Aufarbeitung des Balatabooms in Guayana, auch unter Berücksichtigung der oral history der Kari’ña und anderer lokale Bewohner harren (zur schwierigen Quellenlage, s. Grimmig 2007). Meine Annäherung an die Geschichte des Balata in Guayana erfolgt in drei Schritten. Im ersten Schritt werde ich zunächst knapp wirtschaftliche Vorgänge und Entwicklungen in der Region Imataca im unmittelbaren Vorfeld der Ende des 19. Jahrhunderts beginnenden Balata-Ära skizzieren. Im Mittelpunkt stehen Konzessionsprojekte, die venezolanische Machthaber Ende des 19. Jahrhunderts in der Region an ausländische Investoren, vor allem aus den Vereinigten Staaten vergaben, um die Integration und Kolonisierung dieser in ihren Augen so ›zivilisationsfernen‹ Naturräume in der Peripherie Venezuelas herbeizuführen. Diese zum Teil gigantischen Konzessionsprojekte setzen nicht nur die territorialen und ideologischen Rahmenbedingungen, innerhalb deren sich die Gewinnung von Balata entfaltet, sondern zeichnen auch spätere staatliche Versuche vor, diesen Raum zu erschließen. Im zweiten Teil rückt die eigentliche Boomzeit der Ressource Balata von 1895 bis 1935 in den Mittelpunkt. Ausgehend von einer Beschreibung der Ressource und ihrer Verbreitungsgebiete, werden Verlauf und Umfang des Handels mit diesem Rohstoff in Venezuela nachgezeichnet, sowie das komplexe Geflecht von Akteuren, Interessen und Machtbeziehungen analysiert, welches Gewinnung und Handel von Balata in Venezuela strukturierte. Der Teil schließt mit einer Diskussion der ökologischen Auswirkungen dieses Booms, die nicht unerheblich waren, da die Balatabäume in der Regel für
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die Gewinnung des Naturgummis gefällt wurden. Für diesen ›Raubbau‹ werden in der Regel wirtschaftliche und technische Gründe verantwortlich gemacht, die unter anderem mit physischen Eigenschaften der Ressource zusammenhängen. Dies kann meines Erachtens aber keine hinreichende Erklärung liefern. Interessant erscheint mir hier gerade auch die Frage nach den sozialen und politischen Voraussetzungen, die einen solchen ›irrationalen‹ Umgang mit der Ressource plausibel machen. Im dritten Teil wird die Situation der indigenen Bevölkerung während des Booms in den Blick genommen, auch die der Kari’ña in Imataca, einem der Hauptsammelgebiete der Balataindustrie in Guayana. Gab es hier ähnliche Strukturen von Zwang und Ausbeutung wie sie während des Kautschukfiebers vielerorts in Südamerika und Afrika bekannt und dokumentiert wurden? War die Geschichte des Balata in Guayana auch hier in erster Linie eine Geschichte der Repression und Verfolgung, des Leids und Terrors für indigene Gruppen in den Gebieten, wie sie etwa die österreichischamerikanische Schriftstellerin Vicki Baum in ihrer literarischen Aufarbeitung des Kautschukbooms The Weeping Wood (1945) so schonungslos beschrieb? Gab es gar vergleichbare Gewaltexzesse wie sie aus Putumayo in Peru bekannt und international angeprangert wurden? Diese Fragen lassen sich aus den Quellen nur teilweise beantworten. Meine Beschreibung und Annäherung an die lokalen Verhältnisse und Arbeitsbedingungen im Siedlungsgebiet der Kari’ña in dieser Zeit baut daher stark auf Indizien, Analogien und Vermutungen auf. Doch lassen sich unter Einschluss von Analysen des Arbeitssystems in der Kautschukgewinnung und Berichten aus angrenzenden Regionen gewisse Rückschlüsse über die Situation in den Balatawäldern von Guayana ziehen. Hierzu können auch literarische Zeugnisse der Kautschuk- bzw. Balata-Ära in Venezuela herangezogen werden. Zum einen spielt der berühmte, 1924 erstmals erschienene Roman des Kolumbianers José Eustasio Rivera (1889-1928), El Vorágine, auf dramatische Ereignisse zur Zeit des Gummibooms im südwestlichen Venezuela an. Von seinen geographischen Bezügen noch relevanter ist der Roman Canaima von Rómulo Gallegos, einem der bedeutendsten venezolanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der unmittelbar in den Balatawäldern um Tumeremo spielt und auf persönlichen Eindrücken und Erlebnissen des Autors aus verschiedenen Recherchereisen in Guayana beruht. Erschienen 1935 – kurz nach dem Zenit des Balatabooms – enthält der Roman detaillierte Schilderungen über die Arbeit der balateros, die auch in der literari-
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schen Verarbeitung Einblicke in damalige Arbeits- und Lebenswelten der indigenen und nicht-indigenen Balatazapfer erlauben. Insgesamt geht es in dem Kapitel auch um den Versuch, eine Erklärung für den offenbar prekären Status von Balata in der nationalen Erinnerungskultur in Venezuela zu finden. Welche spezifischen Faktoren und Gründe könnten für seine auffällige Verdrängung aus dem öffentlichen Diskurs verantwortlich sein? Diese Fragen bilden Anfangs- und Endpunkt meiner Beschäftigung mit der Geschichte des Balatabooms in Guayana – sie sind der rote Faden meiner Herangehensweise und theoretischen Überlegungen. Vor allem zwei Argumentationslinien erscheinen mir hier aufschlussreich. Die eine hat mit dem im Produktionsregime von Kautschuk und Balata offenbar geradezu inhärent angelegten Gewaltpotenzial zu tun. Die Produktion von Kautschuk beruhte bekanntlich vielerorts auf einem äußerst repressiven und gewaltsamen Arbeitsregime. Eine Region, die es in diesem Zusammenhang zu besonders unrühmlicher Bekanntheit brachte, war das bereits erwähnte Putumayogebiet an der Grenze zwischen Peru, Kolumbien und Ekuador. In diesem »Devil’s Paradise« (Hardenburg 1912) fand eines der schlimmsten Verbrechen an der Menschlichkeit statt, die im 20. Jahrhundert an der indigenen Bevölkerung Amazoniens verübt wurde – die brutale Ermordung und Versklavung von tausenden Witoto-, Bora- und Ocaina-Indianern durch die Hand eines britisch-peruanischen Kautschukunternehmens, dessen unternehmerischer Profit auf einem beispiellosen Terrorregime gegen die ansässige indigene Bevölkerung gründete (siehe u. a. Taussig 1987; 1984; Hvalkof 2000; Stanfield 1998). Ganz ähnliche Gräueltaten wurden aus den Kautschukgebieten im Belgisch-Kongo bzw. Freistaat Kongo während der Herrschaft des belgischen Königs Leopold II. bekannt, einem Despoten, der Ressourcen und Menschen des Landes rücksichtslos ausbeuten ließ (ausführlich dazu: Hochschild 2000; vgl. Italiaander 1964). Im Versuch, die Gräuel von Putumayo zu erklären sind, sich die meisten Autoren darin einig, dass es sich hier keineswegs um die singuläre Tat eines verrückten Unternehmers handelte, sondern dass die Gewalt systematisch in den Produktionsbedingungen und Eigenschaften der Ressource selbst angelegt war. Zur Gewalt kam als zweites charakteristisches Attribut oder Motiv dieses Ressourcenfeldes das ›Scheitern‹ hinzu. Es war ein Scheitern auf verschiedenen Ebenen. Zunächst einmal manifestiert sich in der Gewalthaftigkeit dieser extraktiven Ressourcenwirtschaft etwas, was ich ›Scheitern
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der Zivilisation‹ nenne. Nach dem politischen Selbstverständnis der befreiten Länder in Südamerika bedeutete das System von Gewalt, das mit dem Kautschukboom einherging, einen prekären Rückfall in die Barbarei, die diese Länder eigentlich mit der Befreiung vom kolonialen Joch zu überwunden erhofft hatten. In einer perfiden Umkehrung waren es hier schließlich die vermeintlich aufgeklärten und zivilisierten Modernisierer selbst – europäische und hispanische Eliten und Unternehmer – die die Gewalt und den Barbarismus in jene ›zivilisationsfernen‹ Regionen mit ihren ›wilden Bewohnern‹ brachten, deren Zähmung und Zivilisierung gemeinhin und im Einklang mit der damals vorherrschenden positivistischen Ideologie als wesentliche Voraussetzung für Entwicklung und Fortschritt im eigenen Lande gesehen wurden. Diese Bedingung galt umso mehr für die Balataregionen in der Peripherie Guayanas. Vor dem Hintergrund alter kolonialer Raumbilder und langwährender Grenzstreitigkeiten waren hier besonders prekäre und hochideologische räumliche Symbolisierungen wirksam. Entsprechend hohe Dringlichkeit maß der junge postkoloniale Staat Venezuela im ausgehenden 19. Jahrhundert der Eroberung und Entwicklung dieser grenznahen Region zu – eine Herausforderung, auf die venezolanische Staatsoberhäupter zunächst mit ehrgeizigen Konzessionsvergaben reagierten. Vor diesem Anspruch muss letztlich auch die Unternehmung Balata als gescheitert bewertet werden, trotz der singulären wirtschaftlichen Gewinne. Der Erfolg war schließlich ebenso kurzlebig wie prekär aus nationalstaatlicher Sicht. Ebenso wenig wie die Konzessionsvorhaben zuvor konnte der Balataboom nachhaltige Impulse für die Entwicklung und politische Integration dieser Peripherie innerhalb der Peripherie setzen. Vielmehr trug die Gewinnung von Balata Züge eines anarchischen Raubbaus, der weit davon entfernt war, die für den jungen Staat Venezuela so wichtig erachtete politische und wirtschaftliche Souveränität über Territorium, Ressourcen und Bevölkerung herzustellen. Im Gegenteil: die Schwäche oder das Scheitern des postkolonialen Staates manifestierte sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in politischer Instabilität, wirtschaftlicher Krisenanfälligkeit und nicht zuletzt – mit dem Verlust des sogenannten Essequibogebietes – in schmerzvoller territorialer Desintegration. Die Entwicklung von Guayana wurde fortan als zentrale nationale Herausforderung festgeschrieben, der sich Venezuela insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – diesmal ausgestattet mit den Einkünften einer prosperierenden Ölindustrie – erneut mit großem Einsatz stellen sollte (s. Kap. 5).
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In Anbetracht dieser Zusammenhänge liegt die Vermutung nahe, dass das prekäre Zusammenspiel von Gewalt, politischer Schwäche und spezifischen räumlichen Symbolisierungen verantwortlich dafür ist, dass sich die Ressource Balata in Venezuela schlecht oder jedenfalls schlechter als andere Ressourcen ›denken lässt‹. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die wissenschaftliche Repräsentation dieser Region. Viele in der Region forschende venezolanische Wissenschaftler haben auffallend wenig Kenntnisse über die Geschichte dieser extraktiven Ressourcenwirtschaft und seinen massiven ökologischen Auswirkungen. Die bis heute vorherrschende Sicht auf die einstigen Balatawälder in der Peripherie Guayanas als ein wenig berührter Naturraum bleibt so weitgehend unangetastet.
G UAYANA
IM
K OLONISIERUNGSWAHN
Die Karriere von Balata als industriell verwertbarer Rohstoff begann Mitte des 19. Jahrhunderts. Erste Proben der Substanz gelangten 1859 aus Britisch-Guiana nach Europa, wo sie auf ihren industriellen Nutzen untersucht wurden, zunächst mit mäßigem Ergebnis. Auf der internationalen Industrieausstellung in London im Jahr 1862 erregte Balata erstmals größeres Interesse als ein Stoff, der offenbar ähnliche Qualitäten wie das asiatische Gutta-Percha aufwies, ein Naturlatex, das aufgrund seiner plastischen und isolierenden Eigenschaften und seiner Robustheit gegenüber Wasser zunehmend kommerziell nachgefragt war (Rodway 1912). In Venezuela erfolgten erste Erschließungsversuche der noch jungen Ressource Balata zunächst im Rahmen größerer Entwicklungs- und Konzessionsvorhaben, die in den 1880er Jahren von der venezolanischen Regierung an ausländische, vornehmlich US-amerikanische Investoren im Osten und Süden Venezuelas vergeben wurden. Balata war dabei nur eine (und anfänglich eher nebensächliche) Ressource in diesen ambitionierten und ehrgeizigen Kolonisierungsvorhaben in der Region Guayana. Andere in dem Gebiet vorhandene oder dort vermutete Ressourcen wie Eisen, Gold, und Holz standen zunächst im Visier der ausländischen Investoren. Die Vergabe von Konzessionen an ausländische Unternehmen war im 19. Jahrhundert in vielen südamerikanischen Ländern eine weit verbreitete Praxis, um die Erschließung und Integration peripherer Landesteile voranzutreiben. Vielen der gerade unabhängig gewordenen Länder fehlte es an Kapital und Mitteln, diese
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Aufgabe selbst in die Hand zu nehmen. Venezuela befand sich Mitte des 19. Jahrhunderts nach lang anhaltenden politischen Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Caudillofraktionen in einem desolaten Zustand. Viele ländliche Regionen in Venezuela waren im Zuge der sogenannten Förderalkriege praktisch ausgestorben, nachdem ihre Bewohner zum Schutz vor den wütenden Truppen in die Städte geflüchtet waren. Heimgesucht von Chaos, Zerstörung und Epidemien von Cholera und Gelbfieber »war der zivilisierte Teil des Landes tatsächlich am Schrumpfen« (Nava 1965: 528). Für viele südamerikanische Nationen wie Venezuela lagen die Herausforderungen in der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts daher oft mehr in einer »internen denn externen Eroberung« (Sommer 1990: 86). Der heroische Militarismus der kolonialen Befreiungskriege, der einst die Unabhängigkeit von Spanien brachte, war nun zu einem Hindernis für die Modernisierung und Entwicklung geworden: »What America needed now were civilizers, founding fathers, not fighters« (ebd.). Antonio Guzmán Blanco, der aus dem Kräftemessen zwischen konservativ-zentralistischen und liberal-föderalen Kräften als dominante Führungsfigur hervorging und in den 1870er und 1880er Jahren die politischen Geschicke Venezuelas bestimmte, schickte sich an, die Rolle eines solchen Zivilisationsbringers und nationalen Gründungsvaters zu übernehmen. El ilustre Americano, als der Guzmán Blanco für seine Verdienste in der Befriedung und Modernisierung des Landes in die Geschichte einging, war ein schwärmerischer Bewunderer von sowohl »Yankee industriousness« als auch französischer Kultur (Nava 1965: 528). In diesem Sinne bemühte sich Guzmán Blanco, den Geist des Fortschritts und des nationalen Bewusstseins in Venezuela zu verankern und das Land entsprechend den europäischen Vorbildern und Vorstellungen von Fortschritt und Zivilisation zu formen. Unter seiner Ägide entstand ein flächendeckendes Netz von Telegrafenleitungen, Straßen und Eisenbahnlinien. Mit dem infrastrukturellen Fortschritt festigte Guzmán Blanco auch seine politische Macht und die zentralstaatliche Kontrolle der Regierung über die Machenschaften regionaler Caudillos entscheidend. Militär, Handel und Verwaltung wurden restrukturiert und modernisiert und ein öffentliches Schulsystem eingeführt. Guzmán Blanco rehabilitierte Simón Bolívar als nationale Identifikationsfigur. Büsten mit seinem Abbild schmückten fortan alle öffentlichen Plätze. Paris als Vorbild vor Augen, investierte Guzmán große Energien in die städtebauliche Umgestaltung der Hauptstadt Caracas, um aus der engen und
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verschlafenen Kolonialstadt eine moderne Metropole zu machen. Breite Boulevards und Plätze entstanden, umrankt von Gärten, Brunnen und pompösen Denkmälern; eine Reihe prunkvoller öffentlicher Bauten wie etwa das Kongressgebäude des capitolio, das Nationalpantheon und das teatro gehen auf diese Zeit zurück. Caracas sollte zum »nationalen Vorzeigeprojekt des materiellen Fortschritts« werden und zugleich als sichtbares Symbol für die Überlegenheit urbaner Zentren in der Wissensproduktion über die moderne Welt dienen (ebd.: 536, vgl. a. Gerdes 1992). Obgleich ein Großteil von Guzmán Blancos Energien und finanziellen Mitteln in die Modernisierung der städtischen Gebiete, allen voran die Metropole Caracas, flossen, war Guzmán Blanco auch mit Blick auf die Entwicklung des peripheren Hinterlands von Venezuela nicht untätig. Unter dem Einfluss positivistischen Gedankenguts galt die systematische Kolonisierung des Landes unter zentralstaatlicher Kontrolle als ein wichtiger Gradmesser für Fortschritt und Zivilisation. Im Blickpunkt standen hier vor allem die östlichen und südlichen Landesteile, die sogenannte Provinz Guayana – bestehend aus den heutigen Bundesstaaten Delta Amacuro, Estado Bolívar und Territorio Federal de Amazonas. Die dünn besiedelten und abgelegenen Waldregionen rückten in den 1880er Jahren ins Visier einer ehrgeizigen nationalstaatlichen Kolonisierungs- und Entwicklungsstrategie. Um diese in der Tat »fabelhaften Pläne des Guzmán Blanco« (Ugalde 1994: 489) zu verwirklichen, wurden ausgedehnte Landkonzessionen zu großzügigen Bedingungen an ausländische Investoren und Unternehmer vergeben. Diese wiederum verpflichteten sich im Gegenzug dazu, alle Anstrengungen zu unternehmen, um das ihnen anvertraute Gebiet wirtschaftlich und infrastrukturell zu erschließen und die Besiedlung der Region voranzutreiben. Wie viele politische Vertreter seiner Zeit sah Guzmán Blanco das Erfolgsrezept für eine produktive Entwicklung vor allem in drei Dingen begründet: »ausländischem Kapital, europäischen oder nordamerikanischen Siedlern und der Eisenbahn« (Ugalde 1994: 481). Auch europäische Nationen, allen voran Deutschland suchten nach neuen Machtsphären und Wirtschaftsmärkten im überseeischen Raum und traten in Venezuela als großzügige Kreditgeber und umtriebige Investoren auf. So sicherten sich deutsche Unternehmen die exklusiven Rechte im vielleicht bedeutendsten infrastrukturellen Projekt jener Zeit – dem Bau der sogenannten Gran Ferrocarril de Venezuela (vgl. Walter 1980). Wie im Warenhandel, so auch im auf-
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kommenden Balatahandel, konnten sich deutsche Kaufleute und Handelshäuser eine Vormachtstellung sichern. Das Projekt Manoa Die umtriebigsten Jahre in Guzmán Blancos Konzessionspolitik waren die letzten Jahren seiner zweiten, von insgesamt drei Amtszeiten, dem sogenannten quinquenio der Jahre 1879-1884. Wie viele Konzessionen, an wen und in welcher Größe Guzmán Blanco in dieser Zeit vergab, lässt sich aus den Quellen nur unvollständig eruieren. Nicht nur haben viele der Konzessionen im Laufe ihrer Existenz mehrfach den Besitzer gewechselt. Darüber hinaus schlossen diese wiederum in vielen Fällen Unterverträge über Teilgebiete oder bestimmte Ressourcen mit dritten Personen ab, die wieder ihre eigenen Erschließungsfirmen gründeten, so dass die Situation insgesamt sehr komplex und undurchsichtig war. Sicher ist jedoch, dass Guzmán Blanco »ein riesiges und unbekanntes Ausmaß der staatlichen und ›fast unbewohnten‹ (wie es in den Verträgen heißt) Staatsländereien, den baldiós nacionales, für jegliche Art von Kolonisierungs- und Ressourcennutzungsplänen zur Verfügung stellte« (Barandiarán 1999: 335). Im südlichen Teil der einstigen Provinz Guayana, im heutigen Bundesstaat Amazonas, wurden verschiedene Konzessionen an französische und italienische Investoren vergeben, vor allem zur Kautschuk- und Sarrapiagewinnung. Interessant für unsere Zusammenhänge sind vor allem drei 1883 vergebene Konzessionen, die zusammen fast die ganze Guayanaregion abdeckten. Den Auftakt machte Mitte September 1883 ein Konzessionsvertrag mit einem nordamerikanischen Investor namens Horacio Hamilton zur Erschließung der Asphaltvorkommen und anderer Rohstoffe nördlich des Deltas (vgl. Carreras 1987: 30-79).1 Größer und ehrgeiziger war ein zweiter, nur wenige Tage später mit dem US-Amerikaner Cyrenius C. Fitzgerald ausgehandelter Vertrag. Hier ging es um ein gigantisches Konzessionsgebiet von fast sechs Millionen Hektar, dessen Grenzverläufe im Norden quer durch das Delta den Orinoko entlang bis zur Insel Tortola im Westen führten, im Süden der Serranía
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Der Asphalt war klares Indiz auch für die Möglichkeit von Ölvorkommen in der Region. Genau dreißig Jahre später wurden an diesem Ort erste erfolgreiche Ölbohrungen durchgeführt (Tinker-Salas 2009: 41f.).
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Imataca bis hin zur allerdings nicht näher bestimmten Landesgrenze mit Britisch-Guiana folgten, und im Osten bis zum Atlantik reichten. Teil der Konzession war auch die Insel Pedernales, die nicht mit dem Rest der Konzession verbunden war, aber wahrscheinlich wegen ihrer reichhaltigen Asphaltlagerstätten hinzugefügt wurde. Als Bergbauingenieur viele Jahre in führender Stellung für das britische Goldbergbau-Unternehmen El Callao tätig, war Fitzgerald mit der Region gut vertraut. Der Vertrag gab Fitzgerald das exklusive Recht zur Nutzung aller im Gebiet vorhandenen Ressourcen und Güter und gewährte ihm freie Schifffahrt auf allen Flüssen und Wasserwegen. Neusiedlern wurde eine Befreiung von Steuerabgaben für zwanzig Jahre zugebilligt. Fitzgerald für seinen Teil verpflichtete sich dazu, »die notwendige Infrastruktur zu errichten, die Rohstoffe der Konzession zu fördern, und die Immigration sowie die Zivilisierung der Indianer voranzutreiben« (Carreras 1987: 107). Fitzgerald suchte in den USA Investoren und Kapital für sein Projekt. In einer Broschüre, die er in einflussreichen Geldgeberkreisen und unter potenziellen Auswanderergemeinden zirkulieren ließ, pries er die wirtschaftlichen Möglichkeiten in seinem Konzessionsgebiet in den schillerndsten Farben: er erzählte von wunderbaren Häfen, von günstigen klimatischen Bedingungen und riesigen Wäldern, die einen blühenden Handel mit Holz erwarten ließen; von fruchtbaren Böden, die sich bestens eigneten, um Zuckerrohr, Kakao und viele andere tropische Produkte anzubauen, vom gutem Weideland und nicht zuletzt von reichhaltigen Gold- und Kohlevorkommen, die Fitzgerald in der Region zu finden hoffte. Fitzgerald endete seine Lobeshymne mit den salbungsvollen Worten: »An einem vielleicht nicht allzu fernen Tag wird dieses Gebiet der Garten Südamerikas sein, was Schönheit und industrielle Bedeutung angeht« (zit. n. Carreras 1987: 108). Vor seinem inneren Auge sah Fitzgerald – wohl ebenso wie seine venezolanischen Auftraggeber – eine blühende Kolonie entstehen, die Anklänge an die alte Fantasie von Eldorado heraufbeschwor. Und tatsächlich spielte Fitzgerald – ob nun strategisch oder tatsächlich von solchen Fantasien beseelt – direkt auf diesen Mythos an, indem er sein Unternehmen, das er 1884 mit Investoren in New York gründete, »Manoa« nannte, in Anlehnung an jene mythische Stadt Manoa, die Sir Walter Raleigh in seinem berühmten Reisebericht als prunkvolle Kultstätte des Goldlandes entworfen hatte. Auch die ›Hauptstadt‹ von Fitzgeralds neu zu schaffender Kolonie sollte diesen Namen tragen, und eine kleine so benannte Siedlung wurde dann
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auch – zunächst als Basislager des Unternehmens – im Orinokodelta gegründet. Ein Ort desselben Namens ist bis heute auf venezolanischen Landkarten zu finden. Fitzgeralds Unternehmungen schienen zunächst vielversprechend anzulaufen. Bereits Mitte 1884 war das Unternehmen Manoa in verschiedenen Bereichen tätig geworden, hatte ein Dampfschiff erworben, Sägemühlen und andere Maschinen in das Gebiet bringen lassen. Trotz ernsthafter Bemühungen in der Erschließung von Asphalt, dem Anbau von Zuckerrohr und dem Aufbau einer Viehzucht, waren die wirtschaftlichen Aktivitäten nicht von nachhaltigem Erfolg gekrönt. Von allen Manoa-Projekten noch vergleichsweise am erfolgreichsten war der Holzhandel, aus dem die Firma ihre größten Einnahmen bezog. Im Holzgeschäft rekrutierte sich ein Großteil der Arbeitskräfte aus der ortsansässigen indigenen Bevölkerung. Auch für die Asphaltgewinnung und andere Arbeiten wurden indigene Kräfte eingesetzt. Mit »fünf Pfund gesalzenem Fisch und einem Kassavabrot für fünfzehn Männer als Tageslohn« (Jackson 1960: 28) bildeten sie schließlich keinen allzu großen Kostenfaktor. Von Anfang an hatte Manoa mit chronischen Finanzierungsproblemen zu kämpfen. Als man in den Imatacabergen auf bedeutende Eisenlagerstätten stieß, war das Unternehmen nicht in der Lage das Eisen zu fördern. Auch die Pläne für den Bau einer Eisenbahnlinie quer durch das Konzessionsgebiet zu den Goldfeldern des Yuruari, über die man mit britischen Investoren verhandelte, wurden nie in die Tat umgesetzt. Bereits ein paar Jahre nach dem Erwerb der Konzession war absehbar, dass Fitzgerald seinen Entwicklungsauftrag nicht würde einhalten können. Im Jahr 1886 musste er schließlich die Konzession an einen konkurrierenden Investor aus New York abtreten, George Turnbull, der sich bereits die Rechte an den Asphaltlagerstätten in der Konzession Manoa gesichert hatte (Carreras 1987). Es waren nicht allein ökonomische Gründe, die den venezolanischen Präsidenten Guzmán Blanco zu diesem Schritt veranlassten, sondern auch geopolitische Kalküle. Die langwährenden Konflikte um die Grenzlinie mit Britisch-Guiana waren an einem Höhepunkt angelangt. Mit immer stärker werdendem Unmut hatte Venezuela verfolgt, wie Britisch-Guiana seit den Goldfunden am Yuruari in den 1860er Jahren seinen Einflussbereich stetig nach Westen in die venezolanischen Goldregionen ausdehnte. Die ungeklärte Grenzfrage behinderte auch die Aktivitäten des Manoa-Unternehmens, das immer wieder mit »britischen Rebellen« in der Region zu kämpfen hatte (Carreras 1987: 110). Venezuela hoffte da-
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her auf eine baldige Klärung der leidigen Angelegenheit und setzte dabei verstärkt auf die Hilfe der USA, um den in ihren Augen unrechtmäßigen »imperialistischen Expansionsbestrebungen« der Briten in ihr Hoheitsgebiet endlich Einhalt zu gebieten (Almecija 1987). Mit der Weitergabe der Konzessionsrechte an Turnbull, der enge Beziehungen zum US-amerikanischen Präsidenten Cleveland pflegte, verband Guzmán Blanco die Hoffnung auf ein verstärktes Engagement der USA im Grenzstreit mit Britisch-Guiana (Ugalde 1994: 589; Jackson 1960: 21). Der schwelende Grenzkonflikt mit Britisch-Guiana ist insgesamt als eine wichtige politische Rahmenbedingung zu sehen, vor deren Hintergrund die Konzessionspolitik von Guzmán Blanco wie auch die seines Amtsnachfolgers Joaquín Crespo zu sehen ist. Die geplante Erschließung und Kolonisierung dieser Gebiete war schließlich auch als ein klares geopolitisches Signal zu verstehen, das Venezuelas Anspruch auf dieses Territorium unterstreichen und vor den Expansionsbestrebungen der Engländer sichern sollte. Ähnlich beurteilte auch die damalige Nationalpresse die Situation. Auch sie unterstrich die Wichtigkeit einer Kolonisierung dieser peripheren Gebiete, »umso mehr wenn man vom politischen Standpunkt aus bedenkt, dass die Regionen, um die es sich handelt, die Grenzen der Republik mit benachbarten Ländern bilden« (Opinion 14.7.1884; zit. n. Ugalde 1994: 589). Spätere venezolanische Geschichtsschreibung betitelte diese Strategie hingegen als »schlichtweg absurd« (Almecija 1987: 162). Was auch immer Guzmán Blanco und andere venezolanische Machthaber bewog, solch riesige Landkonzessionen an ausländische Unternehmer zu vergeben, sie sahen dies offenbar nicht im Widerspruch zu geopolitischen Interessen der territorialen Verteidigung und Grenzsicherung. Die Konzessionen waren vielmehr angesichts fehlender eigener Kapazitäten und Ressourcen eine Möglichkeit, die Kolonisierung dieser geopolitisch sensiblen und wenig gesicherten Peripherie voranzutreiben. Darüber hinaus hatte sich Venezuela während der langjährigen kriegerischen Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert im Ausland hoch verschuldet, so dass die Provinz Guayana mit ihren reichhaltigen Ressourcen insgesamt zu einem attraktiven Ressourcenpool wurde, um mit den Gläubigerstaaten über die während der Unabhängigkeitskriege angehäuften Schulden zu verhandeln (Barandiarán 1999: 335). Beide Kalküle Venezuelas gingen letztlich nicht auf. Weder gelang es mittels der Konzessionen die Gebietsansprüche im Osten zu verteidigen,
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noch konnte das Grenzproblem befriedigend gelöst werden. Auf Intervention der USA, die sich in dieser Auseinandersetzung u.a. auf die Monroedoktrin berief, wurde zwar die Klärung des Grenzstreits zwischen Venezuela und Britisch-Guiana einem internationalen Schiedsgericht übergeben, welches 1899 in Paris zu mehrwöchigen Verhandlungen zusammenkam. Das Urteil des Tribunals war für Venezuela jedoch bekanntlich wenig erfreulich: Venezuela, das ja – sich auf die alten kolonialen Grenzen des venezolanischen Generalkapitanats vor der Unabhängigkeit berufend – das Gebiet bis zum Essequibofluss im Osten als sein rechtmäßiges Territorium reklamierte, musste ein Großteil des Essequibogebietes an Britisch-Guiana abtreten. Als schwache und politisch relativ instabile Nation, blieb Venezuela zunächst nichts anderes übrig, als diese Entscheidung zu akzeptieren. Auch in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht war die Konzessionspolitik letztlich ein Misserfolg. Die ausländischen Investoren konnten die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen. Auch die Bemühungen von Fitzgeralds Nachfolger in Guayana fruchteten nicht, so dass Joaquín Crespo nach seiner erneuten Übernahme des Präsidentenamts, die Konzession 1895 wieder an Fitzgerald zurückgab, der sich darum im Verbund mit einer Unternehmensgruppe aus Minnesota bereits bemüht hatte (Carreras 1987). Die nächsten Jahre waren in der insgesamt sehr bescheidenen Unternehmensbilanz der Manoa-Konzession, die nun unter dem Management der Minnesota-Gruppe als Orinoco Company geführt wurde, wohl noch am erfolgreichsten. Fortan konzentrierte sich das Unternehmen auf wissenschaftliche Explorationen und Kolonisierungsprogramme. Potenzielle Auswanderer aus den USA wurden vor allem mit den reichhaltigen Eisenlagerstätten und den Balatabeständen gelockt, die wirtschaftlich an Bedeutung gewannen. Über dreihundert Kolonisten aus den USA ließen sich in den Jahren 1896 und 1897 im Konzessionsgebiet nieder, die meisten in der Umgebung der heutigen Ortschaft Santa Catalina, wo die Orinoco Company ihr Hauptquartier errichtet hatte (Dorr 1995). Der Ort Santa Catalina dürfte damit zu den wenigen Hinterlassenschaften dieser ehrgeizigen Kolonisierungsprojekte im ausgehenden 19. Jahrhunderts in Guayana gehören. Nur wenige der Siedler blieben, soweit bekannt, dauerhaft in Venezuela; die meisten zog es – ernüchtert von den harten Bedingungen, die sie in dem vermeintlichen Paradies angefunden hatten – schon bald wieder in die Heimat zurück. Letztlich musste auch die Orinoco Company vor der Bürde dieser gewaltigen Kolonisierungsaufgabe kapitulieren. Das Ende kam
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schneller und anders als erwartet. 1900 annullierte Cipriano Castro, der nach dem gewaltsamen Tode von Crespo im Jahr 1898 zum Präsidenten gewählt worden war, alle bestehenden Konzessionsverträge mit ausländischen Unternehmen, auch die anfangs erwähnte Asphaltkonzession des Investors Hamilton. Diese Annullierung sorgte nicht nur in den USA für große Missstimmung. Auch andere europäische Nationen, darunter Deutschland, hatten Venezuela zum Teil sehr großzügige Kredite gewährt und kostspielige Investitionen im Land getätigt. Durch Castros eigenwillige, nationalistische Androhung, alle Ausländer des Landes zu verweisen und die Zahlung säumiger Auslandsschulden auszusetzen, sahen sie ihre wirtschaftlichen Interessen derart massiv bedroht, dass sie sich zu einer gemeinsamen militärischen Intervention entschlossen. Die Schuldenkrise fand Ende 1902 in der sogenannten Kanonenboot-Affaire einen gewaltsamen Höhepunkt, als deutsche, britische und italienische Kriegsschiffe vor der Küste Venezuelas aufliefen, um Venezuela zur Zahlung säumiger Schulden zu zwingen (Herwig 1986). Weit davon entfernt die wirtschaftliche und politische Souveränität zu festigen, endete die Episode der Konzessionen für Venezuela somit mit einem Vorfall, der im Grunde als klassischer Fall einer imperialistischen Intervention des späten 19. Jahrhunderts gewertet werden kann. In den anschließenden, langjährigen Schuldenverhandlungen mit Venezuela war der Fall Manoa nur einer von vielen Entschädigungsklagen ausländischer Investoren, die vor Gericht ausgetragen wurden. Erst unter der Regierung von Gómez (1907-1935) konnte schließlich ein Kompromiss mit den insgesamt drei Klägerparteien der Manoa-Konzession ausgehandelt werden. Die Geschichte der Konzession Manoa kam damit nach über 18 Jahren zu einem Ende. Der leere/volle Raum Die ehrgeizigen Konzessionsprojekte brachten Venezuela nicht den erwünschten Fortschritt, allenfalls ein wenig Erfahrung im Umgang mit ausländischen Unternehmen, von der man später bei den Verhandlungen mit ausländischen Ölfirmen profitieren konnte. Für Ugalde (1994) liegt das Vermächtnis dieser Konzessionspolitik vor allem in der Herausbildung einer auf persönliche Bereicherung und kurzfristige Ausplünderung natürlicher Ressourcen basierenden ökonomischen Mentalität, die nach Einschätzung des Historikers in Venezuela bis heute weit verbreitet ist. Aus diskurs-
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theoretischer Perspektive muss jedoch gerade auch das Scheitern selbst als eine der nachhaltigsten Wirkungen dieser Projekte gesehen werden. Zum einen verfestigte die gescheiterte Kolonisierung einmal mehr die alte koloniale Vorstellung von der ›Leere‹ und der ›Wildheit‹ dieser Region, die sich bis in heutige postkoloniale Repräsentationen von Guayana fortschreibt. Je widerständiger sich Guayana gegenüber Zähmungs- und Zivilisierungsversuche zeigte, umso stärker traten diese Eigenschaften hervor und umso dringlicher erschien es gleichzeitig, die ›Wildheit‹ und ›Barbarei‹ dieser zivilisationsfernen Räume zu überwinden. Im positivistischen Denkmodell jener Zeit galt schließlich insbesondere der Urwald als Antipode der Zivilisation, als Ort der ungebändigten und rohen Natur, dem eine entwicklungshemmende Wirkung, ja Krankheit bescheinigt wurde, die nur durch den heilsamen Eingriff der überlegenen weißen Rasse bekämpft werden konnte (vgl. Hölz 2001; auch Stabb 1967). Eigene Eingriffe und Interventionen in diese Naturräume konnten in diesem Sinne immer auch als zivilisatorische Mission legitimiert werden. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die vielfach problematisierte Leere des Raums in einem Prozess der Entleerung erzeugt wurde. Die Leere ist schließlich keine vorsoziale Eigenschaft des Raums, sondern eine auf vielschichtige Weise in diesen Entwicklungen hergestellte Eigenschaft. Dies äußerte sich auf der rechtlichen Ebene beispielsweise in der Erlassung neuer Landrechtgesetze im Venezuela des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die u.a. indigene Gruppen und Siedlungsgebiete – sogenannte resguardos indígenas – nur noch im Amazonasgebiet, am oberen Orinoko und in der Guajiraregion anerkannte. Indigenen Gruppen und Gemeinden, die außerhalb dieser Gebiete lebten, wurde damit in gewisser Weise ihr Existenzrecht abgesprochen. Mit diesem Gesetz wurden große Teile der Region Guayana de facto zu tierras baldías – zu unbewohntem Brachland, das naturaliter dem Staat zufiel. Dies schuf zugleich die rechtliche Voraussetzung für die staatliche Vergabe der Konzessionen (s. Kuppe 1987). Aber auch eine Anerkennung indigener Präsenz hätte aus Sicht der herrschenden Eliten kaum das Problem der Leere dieser Räume mindern können. Eine gesunde Entwicklung und produktive Teilhabe an den Errungenschaften der Zivilisation war nach Ansicht venezolanischer Eliten durch die in archaischen Lebensgewohnheiten verhafteten indigenen Bewohner nicht zu leisten. Eine solche Entwicklung und Heilung bedurfte, wie u.a. Wright (1993) in seiner Studie herausstellt, der tatkräftigen Hilfe weißer, europäischer Siedler. Nur durch
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einen bevölkerungspolitischen Prozess des blanqueamiento, so das gängige Credo positivistischer Gelehrter, konnte die Rückständigkeit und ›Krankheit‹ der Naturräume überwunden werden. Auch César Zumeta, einer der einflussreichsten venezolanischen Gelehrten jener Zeit, sah den lateinamerikanischen Kontinent umfassend ›erkrankt‹ und verordnete in seinem Werk El continente enfermo (1909) dem erkrankten Patienten die positivistische Heilsdoktrin von »Freiheit, Ordnung und Fortschritt«, die über die Erziehung und Transformation der Umwelt von den europäischen auf die lateinamerikanischen Räume zu übertragen sei. Eine solche zivilisatorische Erneuerung und industrielle Modernisierung des Landes sah er wie viele andere Gelehrte dieser Zeit nur durch eine gezielte Rekrutierung europäischer Siedler und entsprechend ausgestaltete Immigrationspolitik gewährleistet. Parallel mit der Entleerung, die sich vor allem auf die faktische und symbolische Auslöschung der indigenen Bevölkerung bezog, wurde der Raum in diesem Prozess auch voller gemacht – und zwar voller gemacht mit Rohstoffen und Ressourcen, deren Spektrum und Wertpotenzial durch die Explorationstätigkeiten von Fitzgerald, Turnbull usw. beträchtlich erweitert wurden. Die gescheiterten Kolonisierungs- und Erschließungsversuche im ausgehenden 19. Jahrhundert schürten nicht zuletzt einmal mehr kollektive Fantasien und Vorstellungen über die materiellen Reichtümer dieses leeren/vollen Raums, dessen Erschließung und Besiedlung fortan als eine der zentralen nationalen Herausforderungen festgeschrieben wurde: »Guayana ist unsere Reserve und Zukunft. Beutet sie aus, General, und weder das Glück noch die Geschichte wird jemals Ihren Namen vergessen«, riet der eben erwähnte César Zumeta 1900 dem venezolanischen Präsidenten Castro in einem Brief aus Paris (zit. n. Ewell 1984: 17). Weder Castro noch ihm nachfolgende Präsidenten konnten Zumetas Rat wirklich Folge leisten. Doch zeichnete sich mit dem Aufkommen von Balata eine Entwicklung ab, die sich anschickte, jene wirtschaftliche Erschließung von Guayana herbeizuführen, die venezolanische Machthaber sich erträumt hatten. Im Unterschied zu den früheren Erschließungsversuchen war die aufstrebende Balatawirtschaft ein nachfragegetriebener Ressourcenboom und nicht das Ergebnis strategischer und populistischer Machtfantasien einzelner Despoten. Die Erschließung von Balata war vor diesem Hintergrund weitaus mehr als frühere Versuche der Rohstoffgewinnung in Guayana von einer externen und gewissermaßen modernen Marktlogik bestimmt. Dies
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bedeutete allerdings nicht zwangsläufig eine rationale, marktgesteuerte Entwicklung, wie folgende Ausführungen über Balatagewinnung und -handel nur allzu deutlich machen.
I MATACA
IM
B ALATAFIEBER
Mit ersten, noch geringen Exporten markiert das Jahr 1896 den Beginn des Balatabooms in Venezuela. Die Entwicklung verläuft rasant, schon im folgenden Jahr 1897 hatte sich die Ausfuhrmenge von den anfänglichen 75.000 kg auf 295.000 kg nahezu vervierfacht. Bereits in den Jahren 1900 und 1901 war die Einmillionenmarke (resp. 1000 t) erreicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte Venezuela die Führung unter den balataproduzierenden Ländern in Südamerika übernommen. Balata avancierte neben Kakao und Kaffee, den seit dem 18. Jahrhundert mit Abstand wichtigsten Exportgütern im bis dahin stark agrarisch geprägten Venezuela, zum bedeutendsten Handelsprodukt in dieser Zeit. Die Hauptsammelgebiete von Balata in Venezuela erstreckten sich vor allem entlang der südlichen Flanke des unteren Orinoko, in den Einzugs- und Quellgebieten von Caroní, Yuruari und Cuyuni über die Serranía de Imataca hinweg bis hin zur Grenze im Osten. Ein beträchtlicher Teil dieser Gebiete lag damit innerhalb der Konzessionsgebiete des besagten US-amerikanischen Konzessionsunternehmens Manoa, das zunächst auch den Handel mit Balata in Venezuela dominierte. Zum regionalen Zentrum der Balataindustrie entwickelte sich das kleine Städtchen Tumeremo in der Region Roscio am Yuruari, nicht unweit der berühmten Goldfelder von El Callao gelegen, von dem heute die Zufahrtspiste durch die Forstreserve Imataca zu den indigenen Siedlungen der Kari’ña von Imataca ihren Ausgang nimmt. Tumeremo, so heißt es in einem der damals typischen landeskundlichen Kompendien zu Venezuela, »rückt zusehends als das Zentrum der Balataindustrie in den Vordergrund« (Dalton 1912: 218). Das in den Wäldern gesammelte Balata wurde über Fußpfade und Wege der Indigenen und Sammler, sogenannte picas, auf dem Rücken von Mauleseln nach Tumeremo gebracht. Von Tumeremo ging es mit Ochsenkarren oder Eseln weiter nach San Felix, von wo aus die Balatablöcke mit Booten nach Ciudad Bolívar weitertransportiert wurden. Ciudad Bolívar war wichtigster Handels- und Umschlagsplatz für alle aus dem venezolani-
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schen Hinterland kommenden Güter, Rohstoffe und Waren und auch Knotenpunkt im transatlantischen Handel mit Europa und den Vereinigten Staaten. Die alte Kolonialstadt verfügte über einen großen und strategisch wichtigen Binnenzollhafen, über den der größte Teil des Überseehandels mit Balata abgewickelt wurde. Von hier nahmen regelmäßig mit vielerlei Rohstoffen und Waren beladene Dampfschiffe ihre Fahrt über Trinidad in Richtung Europa auf, wo sie alle größeren Frachthäfen – Rotterdam, Le Havre, Amsterdam, London, Hamburg u.a. – anliefen. Ein Großteil des Balata wurde nach Hamburg verschifft. Deutschland zählte mit zu den wichtigsten Abnehmern des venezolanischen Balata, was vor allem auf die starke Handelsposition deutsch-hanseatischer Unternehmer in Venezuela zurückzuführen war. Sie dominierten neben den Korsen das Handels- und Bankenwesen in Cd. Bolívar in jener Zeit (Cabrera Sifontes 1981; vgl. Walter 1997, 1990). Eines der einflussreichsten Handelshäuser gehörte dem 1834 vom Lübecker Kaufmann Georg Blohm gegründeten Familienunternehmen Blohm & Co., das Ende des 19. Jahrhunderts an den wichtigsten Plätzen des venezolanischen Handels, so auch Ciudad Bolívar, mit eigenen Niederlassungen vertreten war (Walter 1980: 66). Wie alle damals großen Handelshäuser in Ciudad Bolívar am prachtvollen Paseo an den Ufern des Orinoko gelegen, übernahm das Handelshaus Blohm als »Banca del Balatá« eine führende Rolle im florierenden Handel mit diesem neuen Produkt (Cabrera Sifontes 1981: 38). Das Haus kaufte beträchtliche Mengen Balata von Zwischenhändlern auf. Mit Zahlungsvorschüssen für Ernte- und Transportkosten sowie langfristigen Kreditvergaben gelang es dem Unternehmen zahlreiche Händler an sich zu binden und seine Handelsposition in diesem Geschäft auszubauen. Die aufstrebende Balatawirtschaft bescherte der Handelsstadt am Orinoko neuen Aufschwung und Wohlstand, nachdem ihre wirtschaftliche Entwicklung durch die seit einigen Jahren stagnierende Goldproduktion in den Minen von El Callao einen Dämpfer erlitten hatte. Produktion und Handel von Balata waren ähnlich organisiert wie beim Naturkautschuk. Auch hier bildeten sich komplexe Abhängigkeiten und Hierarchien heraus, wie sie vielfach unter dem Begriff des aviamentoSystems beschrieben wurden (s. u.a. Barham/Coomes 1996; Weinstein 1983). Wie Kautschuk durchlief Balata unter normalen Bedingungen eine Reihe von Stationen auf seinem Weg von den tropischen Wäldern Guayanas nach Europa oder die USA, wo der Stoff wegen seiner robusten und
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äußerst wasserbeständigen Elastizität vor allem bei der Herstellung von Unterseekabeln, Telefonleitungen und Treibriemen für Dynamos sowie als Isoliermaterial bei elektrischen Geräten und für die Herstellung von medizin- und zahntechnischen Apparaten nachgefragt und gebraucht wurde. Zu zentralen Akteuren in diesem Feld zählten die sogenannten patrones – Besitzer von Erschließungsfirmen, die über Nutzungsrechte zur Gewinnung von Balata meist in Form von Konzessionen verfügten. Allein Jahr 1917 wurden im Distrikt Roscio etwa hundertsechzig Konzessionen zur Gewinnung von Balata vergeben. Die meist ca. 1.500 Hektar großen Konzessionen umfassten insgesamt eine Fläche von etwa 200.000 Hektar und damit einen Großteil des Distrikts mit den Gemarkungen Guasipati und Tumeremo (Hernández/Herrera 1988). Die Zahlen illustrieren nicht zuletzt eindrücklich die herausragende Stellung von Tumeremo und Umgebung bei der Gewinnung dieses begehrten Naturgummis. Zur Organisation, Herkunft und Arbeitsweise der Balataunternehmen geben die Quellen nur spärlich Auskunft. Erwähnt wird ein englisches Unternehmen namens Dick Balata Ltd., das zeitweise »faktisch ein Monopol in der Region etablieren konnte« (Fernandéz 1995: 123). Dies war insofern bemerkenswert, als in ökonomischen Analysen des amazonischen Kautschukbooms immer wieder auf fehlende monopolistische Strukturen in der Produktion dieses Rohstoffes verwiesen wird. Offenbar haben die Weitläufigkeit der Sammelgebiete, die dezentrale Organisation und die Offenheit des Marktzugangs die Herausbildung von Handelsmonopolen auf dem Weltkautschukmarkt verhindert (vgl. Barham/Coomes 1996: 34f.). Die erwähnte Monopolstellung der Dick-Balata Ltd. könnte in diesem Zusammenhang einen Hinweis auf Unterschiede in den materiellen Produktionsbedingungen dieser beiden Ressourcen geben. So waren die Balatabestände weitaus weniger weitläufig im Raum verteilt, sondern konzentrierten sich in Häufungen an bestimmten Plätzen und waren insgesamt auch auf einige wenige überschaubare Regionen in Venezuela verteilt, die außerdem noch recht zugänglich waren, jedenfalls im Vergleich mit großen Teilen des Amazonasgebietes. Eine Firma gleichen Namens fand wiederholt auch in den damals einschlägigen Handelszeitschriften der Branche Erwähnung, so etwa in der in New York veröffentlichten India Rubber World, die über alle wichtigen Ereignisse und Entwicklungen auf dem internationalen Gummimarkt informierte. Demnach handelte es sich um eine schottische Riemenfabrik, die als bedeutender Großabnehmer der (venezolanischen) Bala-
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taexporte aus Südamerika größere Aufmerksamkeit in der Branche auf sich zog. Venezuela zeigte sich auch weiterhin großzügig gegenüber solchen ausländischen Investoren, wenn diese behaupteten, die wirtschaftliche Entwicklung der betreffenden Regionen insgesamt fördern zu wollen (Pearson 1911). Des Weiteren gab es die sogenannten regatones und mañoqueros. Regatones waren Zwischenhändler, deren Geschäft darin bestand, Waren und Lebensmittel an die barracas balateros, die Lager der Balatazapfer in den Wäldern, zu verkaufen oder gegen Balata einzutauschen. Der gleichen Aktivität widmeten sich im Prinzip auch die mañoqueros, die allerdings – wie der Name schon andeutet – hauptsächlich Maniok bzw. Maniokfladen, ein Grundnahrungsmittel der Arbeiter, feilboten. Beide Gruppierungen waren für ihre ›Halsabschneidereien‹ berüchtigt. Am unteren Ende der Hierarchie stand die Gruppe der Gummizapfer. Sie bildeten das schwächste Glied im Produktionssystem. Dies galt wohl im besonderen Maße für indigene Bevölkerungsgruppen, die in Venezuela wie in anderen Kautschukgebieten Amazoniens eine wichtige Quelle lokal verfügbarer Arbeitskräfte bildeten, auf die Kautschuk- und Balataunternehmer notfalls auch unter Anwendung von Gewalt zurückgriffen. Die Frage der spezifischen Bedingungen, unter denen indigene wie nicht-indigene balateros in Venezuela arbeiteten, wird uns im Verlauf des Kapitels noch ausführlicher beschäftigen. Im folgenden Abschnitt stehen zunächst technisch-materielle Aspekte der Arbeit im Vordergrund: wie wurde das Balata vor Ort genau gewonnen, wie weiterverarbeitet und welche ökologischen Effekte resultierten daraus?
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In jüngeren Debatten um den Schutz tropischer Wälder Tropenwälder gelten diejenigen Menschen, die heute noch von der Kautschuksuche leben, meist als nachhaltige Nutzer des Waldes. Schließlich lässt sich dieser Rohstoff gewinnen, ohne die Wälder zu zerstören oder nachhaltig zu beschädigen, wie das Beispiel der brasilianischen serengueiros zeigt (Hecht/Cockburn 1989). Ähnliches erwartet man wohl für Balata. Umso erstaunter ist man daher, die Gewinnung von Balata als »irrationales System« (OxfordLópez 1948: 162), als »Raubbau im Walde« (Sievers 1921: 26) oder gar »primitiv und barbarisch« (Morisse 1901a: 43) beschrieben zu finden. Al-
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lem Anschein nach galt dies insbesondere für Venezuela, wo in den Worten Cabrera Sifontes (1981: 35) »die vorherrschende Art, das Balata zu gewinnen, darin bestand, diesen stattlichen Baum von härtestem, rötlichfarbenem Holz (...) mit der Axt zu fällen«. Das Fällen der Balatabäume war in den ersten zwei Dekaden des Balatabooms die vorherrschende Gewinnungsmethode in Venezuela. In den drei Guiana-Ländern und im Nordosten Brasiliens – neben Venezuela die führenden Erzeugerländer für Balata in jener Zeit – setzte sich hingegen schon früh eine ressourcenschonendere Technik durch: hier wurde das Balata in der Regel am stehenden Baum gezapft. Auch diese Methode garantierte allerdings keinesfalls das Überleben der Ressource, sondern führte oft zu irreparablen Schäden und letztlich zum Absterben der Bäume. Dies hing u.a. mit baumphysiologischen Besonderheiten zusammen, vor allem hinsichtlich Tiefe und Verlauf der Milchgefäße. Anders als bei den kautschukliefernden Hevea-Bäumen (vor allem Hevea brasiliensis, Hevea benthamiana) eigneten sich die Balata-Bäume (Manilkara bidentata) nur bedingt für regelmäßiges und wiederholtes Zapfen. Diese Eigenschaft teilten sie im Übrigen mit der Gattung Castilloa (C. elastica, C. ulei), einer neben Kautschuk und Balata dritten wichtigen Handelsklasse von Gummi. Auch hier wurden die Bäume für die Gewinnung des Gummis gefällt und am Boden ›ausgeblutet‹. Die Verbreitungsgebiete der Castilloa lagen vor allem im oberen Amazonasgebiet, in einem weitgespannten Bogen, der von Kolumbien durch Ekuador und Peru nach Bolivien reichte und auch das Putumayogebiet umschloss, wo – wie erwähnt – die indigene Bevölkerung unter extrem grausamen Bedingungen zur Sammelarbeit gezwungen wurde. Dies ist insofern von Interesse, als die soziale Organisation der Gummigewinnung je nach Typ und Klasse des gesuchten Kautschuk variieren konnte, d.h. auch davon abhängig war, in welcher Form die Ressource materiell vorlag (Barham/Coomes 1996). Wie bei der Castilloa mussten sich die Wunden der Balatabäume erst vollständig wieder verschließen, um erneut produktiv zu sein. Diese Regenerations- oder Ruhephase konnte – hier variieren die Angaben – zwischen vier und zehn Jahre dauern. Erst dann produzierte der Baum wieder kommerziell lohnende Mengen von Latex – falls der Baum die erste Nutzung überlebt hatte. Wurde der Baum rundherum wie beim Kautschuk angezapft, so trocknete die Rinde schnell aus und der Baum starb ab. Um den Erhalt der Balatabestände zu sichern, wurden in den damaligen Kolonien Britisch-Guiana und Holländisch-Guyana deshalb
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schon früh Regelungen erlassen, die die Art der Zapfmethode genauestens festlegten. So durften die Bäume nur auf der einen Seite des Stammes gezapft werden. Auch Form, Tiefe und Verlauf der Einschnitte wurden genau bestimmt, ebenso wie Umfang und Größe, die ein Baum haben musste, um gezapft zu werden, sowie Dauer der Ruhephase zwischen den Ernten. Man ging davon aus, dass unter diesen Bedingungen die Bäume ihre Vitalität und Produktivität innerhalb von vier bis fünf Jahre zurückgewinnen würden und damit die Kontinuität der Balataindustrie gesichert wäre. In der Praxis bestätigten sich diese Annahmen jedoch nur zum Teil. Man schätzte, dass mindestens 50 Prozent der Bäume, die nur auf einer Seite gezapft wurden, vor dem zweiten Zapfen eingingen. Hinzu kam wohl, dass viele der überlebenden Bäume beim zweiten Zapfen weniger Latex lieferten, so dass sich ein erneutes Zapfen kaum lohnte. »Wiederholtes Zapfen wurde daher auch wenig versucht«, so das Fazit von Joubert (1899: 293). In Venezuela war die Sorge um den Erhalt der Ressourcenbestände weniger umgreifend. Zwar gab es auch hier Bemühungen, der Zerstörung der Balata-Bäume Einhalt zu bieten, die jedoch wenig Wirkung zeigten. Das Fällen der Bäume war eigentlich arbeitsaufwändiger und mühsamer. Diese Gewinnungsmethode erbrachte jedoch die höchsten Erträge pro Baum. Nach Angaben von Joubert (1899) konnten so sechs- bis acht Mal höhere Erträge erzielt werden als durch das Zapfen am stehenden Baum. Schätzungen anderer Autoren waren etwas konservativer und gingen meist von einer durchschnittlich etwa vier Mal höheren Ertragsmenge aus. Konnten durch das Zapfen an gefällten Bäumen durchschnittlich zwischen zehn und zwölf, in vielen Fällen sogar sechzehn bis zwanzig Liter Latex gewonnen werden, was etwa fünf bis sechs Kilogramm bzw. acht bis zehn Kilogramm getrockneten Gummi entsprach, so galten in Britisch-Guiana, wo das Zapfen auf eine Seite des Stammes beschränkt war, bereits anderthalb bis zweieinhalb Kilogramm Gummi als zufriedenstellende Menge. Die Ertragsleistung einzelner Bäume war nicht nur abhängig von der Zapftechnik, sondern auch vom Alter und Standort der Bäume, von der Bodenqualität und nicht zuletzt auch von den Wetterbedingungen während der Gewinnung. Alles in allem konnten die Erträge einzelner Bäume erheblich schwanken, wiewohl das Fällen der Bäume – zumindest vom Standpunkt der Produktivität – sicherlich die günstigsten Ergebnisse lieferte, zumindest kurz- oder mittelfristig, wofür man in Venezuela offenkundig die Zerstörung der Ressourcenbasis in Kauf nahm. Entsprechend wurden von dort die höchsten Erträge
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gemeldet. Viele zeitgenössische Autoren entschuldigten das unvernünftige Wirtschaftsverhalten der Venezolaner mit dem Verweis auf die schier unerschöpflichen Ressourcenreichtümer Venezuelas, die zur Verschwendung einluden. Eine solche aus dem Überfluss geborene ökonomische Mentalität der Verschwendung mochte ein Grund sein, der die Sorglosigkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen in Venezuela erklärte. Darüber hinaus deutete die zerstörerische Gewinnungspraxis auch auf eine politische Schwäche des venezolanischen Staates hin, der offenbar Mühe hatte, politische Regelungen im Umgang mit Ressourcen durchzusetzen und diese – gerade in den peripheren – Gewinnungsgebieten zu kontrollieren. Langfristig gesehen bedeutete die Zerstörung der Bäume einen beträchtlichen Verlust an Wertschöpfung. In einer 1922 erschienen Handelsbilanz bezifferte ein US-amerikanischer Handelsbeauftragter den Wertverlust durch den begangenen Raubbau der vergangenen zehn Jahre auf mehr als eine halbe Milliarde Dollar (Bell 1922: 315f.). Sichtbarer und wohl auch gewichtiger waren die ökologischen Auswirkungen der Balatagewinnung in den tropischen Wäldern Guayanas. Bereits ein kleines Rechenbeispiel illustriert die enorme Dimension dieser Zerstörung: Wenn wir davon ausgehen, dass pro fünf Kilogramm getrocknetem Balata durchschnittlich ein Baum in Venezuela gefällt wurde und wenn wir dies auf angegebenen Ausfuhrmengen von Balata hochrechnen, so heißt das, dass allein in den ersten zehn Jahren der Balataexploitation mehr als eine Million Bäume der Axt der balateros zum Opfer gefallen sein dürften. Diese Zahl potenziert sich noch um ein Mehrfaches, wenn wir die gesamte Dauer des über vier Jahrzehnte dauernden Booms berücksichtigen. Hinzu kommen Schäden an Bäumen und Pflanzen, die durch die umstürzenden, großen Balatabäume in Mitleidenschaft gezogen wurden. In einschlägigen Expertisen werden entsprechend noch höhere Zahlen genannt. Williams (o.J.: 23) beispielsweise ging davon aus, dass 1927 »bis zu 5.000.000 ausgebluteter Balata-Bäume auf dem Boden der Wälder südlich des unteren Orinokoflusses in Venezuela lagen«. Die Zeitschrift Der Tropenpflanzer berichtete 1919 von 36 Millionen gefällten Bäumen. Ähnlich hoch waren auch die Zahlen, die der venezolanische Intellektuelle, Schriftsteller und damalige Regierungsberater Arturo Úslar Pietri in einem berühmten politischen Kommentar zitierte, der als Leitartikel in der Zeitung Ahora erschien. Darin heißt es:
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»In der Region Cuyuní arbeiteten mehr oder weniger 3.000 Männer, die durchschnittlich 9.000 Bäume am Tag fällen. Im Monat sind dies 270.000 Bäume, in den sieben Monaten der jährlichen Erntezeit beläuft sich die Zahl [...] auf 1.890.000 pro Jahr. Multipliziert man diese letzte Summe mit der Anzahl der Jahre, in denen Balata gewonnen wurde, so erhält man eine ungeheuerliche Menge an gefällten Bäumen und man bekommt entfernt eine Idee davon, was Balata ist.« (Úslar Pietri 1936)
Úslar Pietri empfand dies als eine unerträgliche Verschwendung einer Ressource, die der modernen Idee einer gesunden und produktiven Entwicklung diametral widersprach. Für ihn besiegelte der Raubbau gewissermaßen »das Todesurteil von Balata, das bei anderem Verlauf einer der größten Reichtümer Venezuelas hätte sein können« (ebd.). Daraus waren notwendige Lehren für die wirtschaftliche Zukunft Venezuelas zu ziehen. In seinem ebenso kritischen wie vorausschauenden Kommentar ging Pietri hart mit der parasitären und korrupten Mentalität der venezolanischen Politik und Wirtschaft ins Gericht. Für ihn stand fest, dass andere Ressourcen, wie vor allem Öl, welches gerade im Begriff war, die Nachfolge von Balata als ›Boomressource‹ anzutreten, nicht das gleiche Schicksal erleiden durften. Úslar Pietri prägte hier seinen ebenso berühmten wie denkwürdigen Spruch vom »Aussäen des Öls« (sembrar el petróleo) – statt simpler Extraktion auf Rentenlogik plädierte er für eine nachhaltige und produktive Nutzung von Rohstoffen und natürlichen Ressourcen in Venezuela. Pietris mahnender Aufruf zum Aussäen des Öls hat die wirtschaftspolitischen Debatten in Venezuela nachhaltig beeinflusst (s. Kap. 5). Die schleichende Vernichtung der Balatabestände blieb international nicht unbeachtet, wobei hier weniger die ökologischen Schäden im engeren Sinne, als vielmehr die wirtschaftliche Verschwendung und Irrationalität eines Systems, das sich seiner eigenen Ressourcenbasis beraubte, im Blickpunkt der Kritik stand. Bereits fünfzehn Jahre nach Beginn der Balataexploitation waren die Folgen des Raubbaus deutlich sichtbar. Die zugänglicheren Waldgebiete waren bereits ›geplündert‹, so dass ein Vordringen in immer entlegenere Gebiete notwendig wurde. Große Flächen im Wald waren entwaldet, bedeckt von Unmengen gefällter Bäume, die »es einem Jäger erlaubten, große Strecken zu gehen, ohne den Boden zu berühren«, wie es Cabrera Sifontes in einem Artikel über Balatazapfer eindrücklich schildert (1981: 36). Bereits nach wenigen Jahren hatte sich das Zentrum der Balataindustrie von Guasipati weiter nach Südosten in Richtung Tumeremo ver-
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lagert. Im späteren Verlauf des Booms verschoben sich die Hauptsammelgebiete von Balata immer mehr in die unwegsame Peripherie Guayanas im Grenzgebiet zu Britisch-Guiana und Brasilien. Auch der ab Mitte der 1920er Jahren zu verzeichnende Rückgang in der Ausfuhr von Balata, »diesem wichtigsten Erzeugnis des Waldes« (Sievers 1921: 26f.), wurde auf eine zunehmende Verknappung der Ressourcen zurückgeführt. In gewisser Weise bedeutete der wirtschaftliche Niedergang der Balataindustrie in den 1940er Jahren die Rettung für die Wälder Guayanas, die sich, wie OxfordLópez (1948: 162) rückblickend schrieb, »von der unmenschlichen Ernte wieder erholen konnten«. Bei keinem der zeitgenössischen Autoren, die das zerstörerische System der Balatagewinnung anprangerten, stand das Wohl jener Menschen im Vordergrund, die am unmittelbarsten von den Auswirkungen des ökologischen Raubbaus betroffen waren: dort lebende indigene Gruppen wie beispielsweise die Kari’ña, deren Subsistenzkultur eng mit dem tropischen Wald verzahnt ist. Es ist schwierig über die unmittelbaren Folgen hinaus die längerfristigen Auswirkungen dieser ökologischen Eingriffe zu fassen (vgl. Perera 1993). Sicher ist jedoch, dass vor diesem Hintergrund Vorstellungen von einer ökologischen Unversehrtheit und ›Jungfräulichkeit‹ dieser tropischen Waldgebiete ad absurdum geführt werden, wie sie gerade im Zusammenhang mit den jüngeren Nutzungskonflikten um die Forstreserve Imataca wieder verstärkt zirkulierten. Nicht nur die indigenen Kari’ña wurden im Zuge ihrer Kontaktgeschichte mit extraktiven Ressourcenbooms immer wieder Veränderungsprozessen unterworfen. Gleiches galt auch für die Natur dieser tropischen Landstriche, die gerade mit der Expansion extraktiver Industrien im späten 19. Jahrhundert eine bis dato unbekannte Dimension ökologischen Wandels erlebte. Für David Cleary von The Nature Conservancy läutete der Gummiboom einen entscheidenden Wendepunkt in der Umweltgeschichte Amazoniens ein. Die ihn bedingenden wie prägenden revolutionären Fortschritte im Transport- und Kommunikationswesen – angespornt durch Goodyears zufällige Entdeckung der Vulkanisierung und der Einführung eines regelmäßigen Dampfschiffbetriebs – veränderten die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen Amazoniens derart grundlegend, dass Cleary in dieser Mitte des 19. Jahrhunderts beginnenden Phase des radikalen Umbruchs den Beginn des modernen Zeitalters für Amazonien verortet. Auch für indigene Gruppen dieser Regionen läutete der gegen Ende des 19. Jahrhun-
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derts beginnende Kautschuk- und Balataboom äußerst unruhige und schwierige Zeiten ein. Trotz der nur vergleichsweise kurzen Dauer dieses extraktiven Ressourcenbooms waren die Folgen nach Einschätzung von Historikern und Anthropologen für viele indigene Gruppen in den Sammelgebieten dramatisch. So kommt etwa Iribertegui in seiner Studie über die Kautschukgewinnung im Süden Venezuelas zu dem Schluss, dass die »Exploitation von Kautschuk unter den Ethnien der Region einen Akkulturations- und Vernichtungsprozess in Gang setzte, der die Auswirkungen der gesamten Kolonialzeit bei weitem übertraf« (Iribertegui 1987: 440).
»T HE W EEPING W OOD « – Z UR S ITUATION G RUPPEN WÄHREND DES G UMMIBOOMS
INDIGENER
Kautschuk ist dem indianischen Wort caa-o-chú entlehnt, das wiederum von Autoren, die sich mit der Geschichte dieser Ressource in Südamerika befassten, gerne mit »weinendem Holz« oder »der Baum, der weint« übersetzt wurde. Falls die Indianer Amazoniens damit ursprünglich auf die milchige Substanz anspielten, die beim Anritzen der Rinde wie Tränen aus den Bäumen zu fließen begann, so hat das Bild der Tränen spätestens nach dem Boom eine andere Bedeutung erhalten. Heute symbolisiert das Bild vom weinenden Baum vor allem auch das Unrecht und das Leid, das vielen Indigenen in der Zeit des Kautschukbooms in Südamerika (und Afrika) zugefügt wurde. Zur Popularisierung dieses Bildes hat vor allem die österreichisch-amerikanische Schriftstellerin Vicki Baum mit ihrem gleichnamigen Roman The Weeping Wood beigetragen, das, wie die Autorin, in der Einleitung schreibt, »einen Versuch darstellt, die Geschichte des Kautschuks als Sozialgeschichte zu schreiben. Was die Menschen mit dem Kautschuk gemacht haben, interessanter aber: was der Kautschuk mit den Menschen gemacht hat« (Baum 1945). Es ist hinlänglich bekannt, dass gerade auch Indigene vielerorts als Gummizapfer oder für andere anfallende Tätigkeiten in der Kautschukgewinnung rekrutiert wurden. Auch Kari’ña waren in der Balatagewinnung tätig, wenn auch sich das konkrete Ausmaß ihrer Beteiligung aus den verfügbaren Quellen nicht erschließen ließ. Es wird geschätzt, dass im Jahr 1900, also zu einem noch relativ frühen Zeitpunkt der Balatagewinnung, etwa 10.000 Männer als balateros oder purgueros, wie man die Balatazap-
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fer in Venezuela nannte, in den Wäldern am unteren Orinoko in der Balatagewinnung arbeiteten. Nach Morisse standen für die Balatagewinnung vor allem zwei Klassen von Arbeitern vor Ort zur Verfügung: einmal schwarze britische Untertanen, die vormals aus dem zirkumkaribischen Raum und Britisch-Guiana für die Arbeit in den Goldminen in die Region gekommen waren. Er beschreibt sie als »stark und widerstandskräftig«, die unter guter Führung »viel leisten« (Morisse 1901b: 50). Zeitgleich mit dem Beginn des Balatabooms war der venezolanische Goldbergbau in eine Krise geraten. Viele Goldminen, darunter auch die damals bereits legendäre Mine El Callao in Guayana mussten ihre Produktion einstellen. Dies war insofern ein günstiges Zusammentreffen als ein großer Teil der mehrheitlich schwarzen Minenarbeiterschaft plötzlich ohne Arbeit dastand und diese freigesetzten Arbeiter nun gezielt für die Arbeit in der aufstrebenden Balataindustrie herangezogen werden konnten. Zum anderen gab es den »peón vénézuélien«, den venezolanischen Lohnarbeiter, »eine noch im Entstehen begriffene und uneinheitliche Rasse, bisweilen rein indianisch, öfters jedoch gemischt aus überwiegend indianischen, weißen und ein bisschen schwarzen Anteilen« (Morisse 1901b: 51). »Weniger stark« als die schwarzen Engländer, weniger kräftig und sehr träge«, haben sie im Gegenzug dazu nach Morisse den Vorteil, »sanft, höflich, sogar ziemlich feinsinnig und weitaus weniger fordernd als die Schwarzen« zu sein (ebd.). Bei der Gummiarbeit könnten mit diesen Leuten gute Ergebnisse erzielt werden, schrieb Morisse, allerdings dürfe man in keinerlei Weise Zwang ausüben, da sie sich von Gewalt sofort abschrecken ließen. Auch würden sie sich Morisse’ Angaben zufolge harten und Erdarbeiten verweigern, so dass sie bislang vor allem als Boten und Führer, als Fuhrmänner und Mauleseltreiber etc. eingestellt werden konnten. Für die Arbeit als Balatazapfer aber erwiesen sie sich seiner Meinung nach qua ihres Naturells und gewisser kultureller Attribute in besonderer Weise geeignet, wobei Morisse (1901b: 51) hier wohl vor allem den péon indigener Herkunft im Kopf hatte: »Sie lieben den Wald, sind exzellent im Schlagen und Öffnen von Wegen, im Fällen von Bäumen, von Palmblättern und im Bauen von Häusern. Der Marsch, selbst der ausgedehnte, ist die einzige muskuläre Anstrengung, die ihnen gefällt. Die Natur dieser Vorlieben macht aus ihnen exzellente Gummisammler. Selbst der Indianer des oberen Orinoko, sonst für jede Arbeit ungeeignet, sammelt und bereitet den Kautschuk ausgesprochen gut«.
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Morisse äußerte sich in seinen Studien insgesamt positiv zur Verfügbarkeit und Qualität der Arbeitskräfte. Dabei gilt allerdings zu berücksichtigen, dass Morisse die ökonomischen Perspektiven dieser neuen Ressource im Auftrag der französischen Regierung begutachtete und offensichtlich bestrebt war, das Entwicklungspotenzial der venezolanischen Balatawirtschaft in ein positives Licht zu stellen. Gerade in der Frage der Arbeitskräfte waren andere zeitgenössische Beobachter weitaus skeptischer. In einem Bericht der India Rubber World wurde bereits früh die schlechte Arbeitersituation in der venezolanischen Balatawirtschaft angesprochen. Am Ende des Artikels, der sich bezeichnenderweise mit gewissen Aktivitäten französischer Balataunternehmer in Venezuela befasste, hieß es lapidar: »The available laborers, however, are most unsatisfactory« (India Rubber World 1903: 185). Dabei zielte die Kritik weniger auf die Verfügbarkeit von Arbeitskräften an und für sich, als auf die mangelnde Qualität der verfügbaren Arbeiter, die offenbar nicht die Leistungen brachten, die man sich erwünschte. Ähnlich negativ beurteilte auch der Handelsbeauftragte der Vereinigten Staaten in seinen Ausführungen zur venezolanischen Balataindustrie die Arbeitskräftesituation: »There is a lack of sufficient labor and the workers have long been accustomed to the free and easy exploitation of the forests in a haphazard manner, or to a more or less nomadic life following the gold diggings in the Guiana district.« (Bell 1922: 310)
Beklagt wurde vor allem eine mangelnde Disziplin und Zuverlässigkeit dieser »Abenteurerlegionen« (Gallegos 1961: 307), die – durch das Versprechen märchenhafter Gewinne angelockt – nach Guayana gekommen waren und an ein hartes, aber auch unstetes und vergleichsweise selbstbestimmtes Leben und Arbeiten im Busch gewöhnt waren. Gerade in der Goldsuche hatte sich abseits der großen Minen eine sehr dezentralisierte und mobile Arbeitskultur herausgebildet, in der das Gros der Wanderarbeiter fortlaufend den neuesten Entdeckungen und Gerüchten von vielversprechenden Goldfundorten – den bullas – nachzog, die sich jedoch meist ebenso schnell wieder verflüchtigten, wie sie entstanden waren. Eine in diesem Sinne besonders schlechte Arbeitsmoral wurde der indigenen Bevölkerung nachgesagt, die offenbar wenig Interesse zeigte, für die
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sogenannten racionales zu arbeiten, jedenfalls nicht für einen längeren Zeitraum oder so regelmäßig und zuverlässig, wie es beispielsweise die lokalen Unternehmer bzw. patrones in der Balatagewinnung forderten. Immer wieder wurde in zeitgenössischen Dokumenten auf die Schwierigkeit hingewiesen, Männer indigener Herkunft als Arbeitskräfte zu rekrutieren und dauerhaft in stabilen und längerfristigen Arbeitsverhältnissen zu binden. Der Ethnologe John Gillin, der Anfang der 1930er Jahre, also noch gegen Ende des Balatabooms bei den Kari’ña am oberen Baramagebiet forschte, kam nicht zuletzt auf Grundlage persönlicher Erfahrungen zum Schluss, dass »ein Karibe die einfache Einstellung [hat], dass es wenig Sinn macht für jemanden zu arbeiten, sobald er alles bekommen hat, was er sich wünscht« (Gillin 1936: 26). Ähnliche Erfahrung machte seiner Erfahrung zufolge jeder, der versuchte indigene Kari’ña im Baramagebiet für Lohnarbeiten anzuheuern: »Every gold digger, lumber operator, and balata bleeder who has traveled on the Barama will tell you of the difficulty he has in keeping his Indian boatmen and laborers at work. An Indian who will work only until he gets what he wants and then he will quit cold, is a common observation. Consequently, anyone who relies on a native crew must depend upon the personal relations which he establishes with his workmen to a larger extent than the trade goods which he can give them.« (Gillin 1936: 132)
Interessant ist hier die Bemerkung, wonach eine Stabilisierung des Arbeitsverhältnisses mit indigenen Kari’ña eher über die Beziehungsebene als über die ökonomische Tauschwertfunktion der Arbeit erreicht werden konnte. Demnach war den Kari’ña der Beziehungsaspekt wichtiger als der materielle Gewinn, den sie aus diesem Arbeitsverhältnis hätten ziehen können. Auch heute besitzt die Akkumulation von Gütern einen denkbar geringen Wert bei den Kari’ña und auch an ihrer Einstellung zur Lohnarbeit hat sich über die Jahre wenig geändert. Einer solchen gehen Kari’ña auch heute nur gelegentlich und sporadisch nach, wenn etwa Geld benötigt wird, um etwa Stoff für Kleidung, Patronen, Salz, Macheten etc. zu kaufen. Sie bleibt eine zeitlich beschränkte Nebentätigkeit neben der Subsistenzökonomie, die dominant bleibt und die Grundversorgung der meisten Kari’ñahaushalte in Imataca sicherstellt. Gleiches berichtete auch Kloos in seiner ethnographischen Studie über die Maroniflusskariben in Surinam, bei denen Lohnarbeit
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ebenfalls eine geringe Rolle spielte und deren Beziehung zur regionalen Ökonomie er als ausgesprochen informell charakterisierte. Bezeichnenderweise erwähnte er gerade das Zapfen von Balata als Beispiel einer »temporären Aktivität dieser Art«, d.h. der Lohnarbeit, die bei den Maronikariben in der Vergangenheit eine gewisse Rolle spielte (Kloos 1971: 63f.). Ein großes Problem im Zusammenhang mit der Aneignung der indigenen Arbeitskraft war demnach ihre ›Unzuverlässigkeit‹, die wiederum mit ihrer subsistenten Lebensweise zusammenhing. Die wenigsten indigenen Familien waren damals für ihre soziale Reproduktion auf Lohnarbeit angewiesen. Eine Möglichkeit, sich auf ›legale Weise‹ der indigenen Arbeitskraft zu bemächtigen, stellte laut Hvalkof (2000: 100ff.) das gerade in der Kautschuk- und Balatawirtschaft weit verbreitete sistema de avance o endeude dar, bei dem den Arbeitern Vorschüsse auf das Gummi bezahlt wurden, meist in Form von Naturalien, Werkzeugen und anderen für die Arbeit im Busch notwendigen Ausstattungsgegenstände, für die ihnen die sogenannten patrones meist unverschämt hohe Kosten in Rechnung stellten. Da in der Regel die Schulden mit der umgekehrt geringen Bezahlung, die die balateros für das von ihnen gesammelte Gummi bekamen, kaum jemals zurückzuzahlen waren, bedeutete dies für die Arbeiter meist den Beginn einer dauerhaften Schuldknechtschaft, der nur schwer wieder zu entrinnen war. Oft überdauerte die Schuld sogar den Tod des Schuldners, indem sie an Kinder oder andere nahestehende Familienangehörige weitergegeben wurde, was zu sklavenähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen führte. Ähnlich wie Hvalkof sehen viele Autoren in diesem Schuldensystem die Kernursache für die z.T. extremen Ausbeutungs- und Zwangsverhältnisse, wie sie vielerorts die Arbeitssituation der Zapfer während des Kautschukbooms prägten. Dies galt wohl im besonderen Maße für indigene Menschen, die oft besonderen Repressalien und Schikanen ausgesetzt waren. Eine Schuldabhängigkeit prägte dabei allerdings nicht nur die Beziehung zwischen Zapfern und ihren unmittelbaren Vorgesetzten. Letztere standen wiederum oft in der Schuld von Zwischenhändlern, diese wiederum verschuldeten sich bei Handelshäusern usw. Solche Schuldbeziehungen auf Basis von Darlehen und Krediten sowie die damit einhergehende hierarchische Struktur und Willkür bei der Festlegung der Preise für Provision und Gummi durchzogen das ganze komplexe System von Produktion und Handel in der südamerikanischen Kautschukindustrie. Umfassende Studien dieses sogenannten aviamento oder habilito-Systems wurden vor allem über
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Brasilien, Peru und Bolivien erstellt – den führenden Erzeugerländern des südamerikanischen Kautschukbooms. Die Autoren zeichneten hier im Allgemeinen ein sehr düsteres Bild von der Situation indigener Gruppen in den Kautschukgebieten, die von unterschiedlichen Graden der Abhängigkeit und Ausbeutung geprägt war (s.u.). Die Bandbreite reichte dabei von dem allgegenwärtigen System der Schuldknechtschaft bis hin zu offenen Treibjagden, Versklavung und Genozid. »Culture of Terror« – Der Fall Putumayo Zum Symbol geworden für die Gewaltexzesse des Kautschukbooms ist der »Fall Putumayo«: Er dokumentiert die Machenschaften der Casa Arana, einem peruanisch-britischen Kautschukunternehmen, das im oberen Putumayogebiet von Peru im Grenzgebiet zu Ekuador und Kolumbien ein beispielloses Terrorregime gegen die lokale indigene Bevölkerung errichtet hatte. Leidtragende des despotischen Gewaltregimes waren vor allem indigene Huitoto, Bora und Andoke, die bis heute die Erinnerung an diese Zeit der Gräuel wach halten (s. Hvalkof 2000). Schier unvorstellbar lesen sich die Verbrechen, die das nach außen hin so zivilisiert erscheinende Unternehmen unter Leitung eines gewissen Julio César Arana an der indigenen Bevölkerung beging und die eher zufällig an die Öffentlichkeit gelangten. Dies war vor allem einem jungen US-amerikanischen Ingenieur zu verdanken, Walter E. Hardenburg, der im kolumbianischen Caucatal beim Bau der Eisenbahn geholfen hatte und nach Beendigung seines Dienstes 1907 auf einer Schiffsreise mit einem Kollegen Perkins den Putumayofluss hinab in das Kreuzfeuer einer vom Unternehmen angeführten Attacke gegen kolumbianische Siedler geriet, die sich auf dem Konzessionsgebiet niedergelassen hatten. Die militärische Aktion, die offenbar auch von peruanischen Soldaten unterstützt wurde, stand im Zusammenhang mit nationalen Machtkämpfen zwischen Kolumbien und Peru um die Kontrolle und Sicherung dieser strategisch wichtigen Grenzregion und ihren Ressourcen. Hardenberg und Perkins entkamen nur knapp dem Tode und wurden als unliebsame Zeugen dieses nationalistischen Vorstoßes Perus im Basislager des Unternehmens, einem Ort namens El Encanto, als Gefangene festgehalten. Hier machte Hardenberg Beobachtungen, die ihn zutiefst erschütterten und die er nach seiner erfolgreichen Flucht und Heimkehr nach Europa publik machte. Sein später veröffentlichtes Material umfasste neben seinen persönlichen Be-
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obachtungen während des Aufenthaltes im Unternehmensgebiet und als Gefangener in El Encanto auch Interviews und Gespräche, die er vor seiner Rückkehr nach Europa mit verschiedenen Mitarbeitern der Firma sowie auch früheren Angestellten der Firma in Iquitos durchgeführt hatte. Hardenburgs Beschuldigungen der Firma Arana waren schwerwiegend. Seiner Anklage zufolge hatte sich das Unternehmen einer Reihe von schier unvorstellbaren Verbrechen und Gräueltaten an ihrer überwiegend indianischen Arbeiterschaft schuldig gemacht, die sich brutalen Misshandlungen, Vergewaltigungen und Quälereien, die nicht selten zum Tode führten, ausgesetzt sah. Hardenberg dokumentierte die Verbrechen und Mechanismen von Ausbeutung und Folter akribisch (Hardenberg 1912). Die Arbeiterschaft auf der Kautschukkonzession der Casa Arana, alias Peruvian Amazon Company, bestand hauptsächlich aus Huitoto-, Bora- und AndokeIndianer, die, wie Hardenberg berichtete, unermüdlich Tag und Nacht zur Arbeit angetrieben wurden, ohne dafür Lohn, oder zumindest Essen oder Kleidung zu bekommen. Offenbar aus reinem Vergnügen beraubte man sie ihrer Nahrungsmittel, ihrer Frauen und Kinder. Sie wurden wie Sklaven an Ketten gelegt und immer wieder grausam gefoltert. Hardenberg dokumentierte in seinem Bericht grausame Verstümmelungen von Gliedmaßen und Körperteilen, von Vergewaltigungen und willkürlichen Kindstötungen. Ein besonders abstoßendes Detail seiner erschütternden Dokumentation über die Verbrechen sind seine Berichte über die Verbrennungen und menschlichen Zielscheiben, die offenbar gerade an Feiertagen zur Unterhaltung des leitenden Unternehmenspersonals grausam inszeniert wurden. Der Tod der indigenen Zwangsarbeiter wurde bei all diesen Gräueltaten gewollt oder billigend in Kauf genommen. Nach seiner Rückkehr in Europa war es Hardenberg gelungen, das Interesse der Anti-Slavery and Aborigenes Protection Society in London für seinen Fall zu wecken. Die humanistische Zeitschrift The Truth veröffentliche Hardenbergs Material in einer Reihe von Artikeln. Peru und führende Köpfe des Unternehmens wiesen alle Anschuldigungen zurück; auch britische Anteilsbesitzer und Aufsichtsratsmitglieder der Firma wuschen sich in Unschuld. Auf öffentlichen Druck hin wurde 1910 eine Untersuchungskommission in England einberufen, deren Vorsitz ein gewisser Sir Roger Casement übernahm. Casement, ein britischer Diplomat und nationalistischer Ire hatte sich bereits große Verdienste in der Aufklärung ähnlicher Gräueltaten im Kongo erworben hatte (Hochschild 2001). Er bereiste die
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Region Putumayo und bestätigte den Wahrheitsgehalt von Hardenbergs Anschuldigungen in vollem Umfang. Sein Vertrauen in den politischen Willen von Justiz und Regierung in England wie Peru war wohl auch durch seine Erfahrungen aus dem Kongo mehr als bescheiden, so dass er eine Kopie seines Berichts der britischen Antisklaverei-Gesellschaft zukommen ließ. Dennoch gelang es den Tätern, den Fall nationalistisch und politisch zu vereinnahmen, so dass am Ende das Unternehmen und seine führenden Köpfen weitgehend ungeschoren davon kamen. Kolumbien und Ekuador nutzten die Geschichte, um moralische Überlegenheit und territoriale Ansprüche auf das Gebiet anzumelden. Arana selbst spielte geschickt auf der patriotischen Gefühlsklaviatur der Peruaner. Seine Argumentation war so einfach wie verlockend: Er präsentierte sich und seine Firma vor allem als eine starke zivilisierende Kraft in diesen wilden Dschungelregionen und als wichtiger Förderer von Perus nationalen Interessen und internationaler Stellung. Mehr in der Rolle eines nationalen Patrioten mit großen Verdiensten in der Verteidigung des nationalen Territoriums denn eines skrupellosen Verbrechers sahen ihn wohl auch die politischen Eliten und Teile der peruanischen Gesellschaft des Landes. Keiner der hochrangigen Firmenmitglieder wurde für die Verbrechen je verurteilt. Viele, auch Arana, bekleideten nach dem Ersten Weltkrieg hochrangige Ämter in der regionalen und nationalen Politik Perus (Hvalkof 2000: 97f.). Umfang und Ausmaß der Gräuel gestaltet die Suche nach plausiblen Erklärungen für diesen Genozid schwierig. Viele Autoren, die sich mit dem Fall beschäftigt haben, sehen den Terror und Zwang vor allem in der Knappheit der Arbeitskraft verursacht, die in Anbetracht der besonders schwierigen Produktionsbedingungen (abgelegene Grenzlage der Region, mangelnde Arbeitskräfte, minderwertige Qualität des Gummis, relativ teure Transportkosten etc.) das Unternehmen veranlasst habe, entsprechende ›Zwangsmaßnahmen‹ unter dem Deckmantel fiktiver Schuldknechtschaft zu ergreifen, um die Arbeitsdisziplin zu erhalten (s. Hvalkof 2000: 100ff.; Stanfield 1998; Casement 1913). Zugleich war vielen klar, dass der Boom nicht ewig dauern würde, so dass es auch darum ging, in der knappen Zeit und angesichts der immensen Nachfrage möglichst viel Gewinn zu machen. Das dem Boom inhärente Rauschhafte hat sicherlich seinen Teil zur Entstehung dieser Kultur des Terrors beigetragen. Auch hier wurde der Naturgummi vornehmlich an gefällten Bäumen gewonnen, so dass Hardenberg
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eine Erschöpfung der Ressourcenbestände innerhalb der nächsten vier Jahre prognostizierte. Der amerikanische Ethnologe Michael Taussig, der sich in seinem Buch Shamanism, Colonialism and the Wild Man: A Study of Terror and Healing (1987) eingehend mit dieser Geschichte befasst, bringt zusätzlich eine semiotische Komponente ins Spiel. Seiner Auffassung zufolge war es gerade das Fehlen warenförmiger Sozialbeziehungen, welches im Zusammenspiel mit dem extremen Druck der globalen Hysterie um Gummi zur Entstehung einer »Kultur des Terrors« beitrug: »Torture and terror in the Putumayo were motivated by the need for cheap labor. But labor per se – labor as a commodity – did not exist in the jungles of the Caraparaná and Igaraparaná affluents of the Putumayo. What existed was not a market for labor but a society and culture of human beings whom the colonist called Indians, irrationals, and savages, with their very specific historical trajectory, form of life, and modes of exchange. In the blundering colonial attempt to dovetail forcibly the capitalist commodity-structure to one or the other of the possibilities for rubber gathering offered by these modes of exchange, torture [...] took on a life of its own.« (Taussig 1984: 494-95)
Statt also auf Menschen zu treffen, die sich wie ›Arbeitskräfte‹ verhielten, trafen die Unternehmer auf Menschen, die sich nicht nur den Tausch- und Handelsgeschäften der Weißen verweigerten, sondern darüber hinaus noch im Ruf standen, rebellische und wilde ›Kannibalen‹ zu sein, die seltsame Rituale praktizierten. Nach Taussig waren es gerade solche unter weißen Kolonisten weit kursierenden Geschichten über die vermeintliche Wildheit und Barbarei der Indianer im Putumayogebiet, die »das unerlässliche Fundament in der Entstehung und Verbreitung kolonialer Vorstellungswelten während des Gummibooms im Putumayo bildeten« (ebd.: 493). Entscheidend war dabei nicht die Frage des Wahrheitsgehalts dieser Geschichten, sondern dass sie aus der Fiktion eine ungewisse Realität machten, eine albtraumhafte Realität, in der das unsichere Zusammenspiel von Wahrheit und Illusion zu einer sozialen Kraft von schrecklichem und fantasmatischem Ausmaß wurde. Nach Taussig bestand eine enge mimetische Verbindung zwischen der Wildheit, die den Indigenen von den Kolonialisten zugeschrieben wurde, und jener Wildheit, die die Kolonisten im Namen dessen verübten, was Julio César Arana, der Besitzer der Casa Arana, persönlich
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›Zivilisation‹ nannte. Im Verhör durch eine Sonderkommission des britischen Parlaments zum Fall Putumayo im Jahr 1913 gab Julio César Arana, die treibende Kraft hinter dem Unternehmen, zu verstehen, dass sich die Indigenen der Einführung von Zivilisation in ihren Gebieten widersetzten, dass sie dies schon viele Jahre getan hätten, und dass sie Kannibalismus praktizierten. Auf die Nachfrage, was er damit meinte, antwortete er: »What I meant by that, is that they did not admit of exchange, or anybody to do business with them – Whites, for example« (zit. n. Taussig 1984: 482). So verschieden die Akzente bei den Erklärungen für dieses Terrorregime gesetzt werden, allen gemeinsam ist die Überzeugung, dass es sich hier weder um ein singuläres Ereignis, noch die Tat eines Verrückten handelte oder das Ergebnis »eines teuflischen Cocktails unglücklicher und zufälliger Umstände« (Hvalkof 2000: 99) war, sondern vielmehr von Bedingungen hervorgerufen wurde, die systematisch in der politischen Ökologie der Ressource angelegt waren. Dazu gehörte die schwache staatliche Kontrolle und die extrem periphere Lage der Kautschukwälder ebenso wie die stark hierarchisierte, von Schuldbeziehungen geprägte Struktur des Gummimarktes, sowie die mit dem Boom einhergehende Hysterie nationaler und globaler Wirtschaftsinteressen und gewisse materielle Eigenschaften der Ressource selbst, die im komplexen Zusammenspiel mit prekären geopolitischen und kolonialen Symbolisierungen der Entstehung von Gewalt hier Vorschub leisteten. Balata symbolisiert in diesem Sinne auch das Scheitern von moderner Staatlichkeit und Zivilisation in der postkolonialen Peripherie. Ähnlich extreme Zustände sind auch für den Süden Venezuelas dokumentiert. Hier waren die Leidtragenden vor allem Angehörige der indigenen Ye’kuana, die nach Iribertegui (1987: 296) »am meisten für die Zapfarbeit herangezogen wurden«. Die Methoden der Rekrutierung waren in ihrem Fall besonders »drastisch und brutal« (ebd.) und offenbar von ähnlicher Grausamkeit geprägt wie in Putumayo (s. Barandarián 1979). Die schlimmste Zeit für die Ye’kuana – Barandarián spricht von einem Genozid – war die Gouverneurszeit von Tomás Funes (1913-1921), der offenbar ein der Casa Arana im Putumayogebiet vergleichbares Kautschukimperium am oberen Orinoko errichtet hatte. Dabei wurde Funes, der als regatón in San Fernando de Atabapo anfing und bald zu einem einflussreichen Händler und Anführer wurde, von vielen Bewohnern und Kautschukarbeitern der
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Region zunächst als Befreier begrüßt und gefeiert. Schließlich setzte er – wenn auch auf gewaltsame Weise – der Despotie seines Vorgängers im Gouverneursamt, einem gewissen General Roberto Pulido ein Ende, der seine politische Mission offensichtlich vor allem darin gesehen hatte, »für seine zügige und ungefährdete persönliche Bereicherung zu sorgen « (Perera 1993: 48). Pulido hatte den Handel mit Kautschuk in der Region weitgehend kontrolliert und eine ausbeuterische Preispolitik eingeführt, die für viele Händler und Arbeiter den Ruin bedeutete. Funes, der in einer »entsetzlichen Blutorgie« (Cabrera Sifontes 1981: 36) Pulido und seine Verbündete beseitigen ließ und die politische Macht in San Fernando de Atabapo übernahm, erwies sich jedoch als ein ebenbürtiger, wenn nicht schlimmerer Tyrann. Seine bewaffneten Truppen waren alsbald berüchtigt und gefürchtet in der Region, auf ihren Streifzügen »nach neuem Gummi, neuen Arbeitskräften und neuen Waffen, um sowohl für Probleme bei der Gewinnung von Kautschuk gewappnet zu sein, als auch für ungewünschte Interventionen von Regierungstruppen in seinem Territorium« (Barandarián 1979: 791). Die Zentralregierung setzte 1921 der Tyrannei des aufsässigen Gouverneurs im Amazonas schließlich durch resolutes militärisches Eingreifen ein Ende. Funes wurde zum Tod verurteilt und kurze Zeit später hingerichtet. Die Ye’kuana, von denen viele bereits seit Beginn der Kautschukära mit venezolanischen criollos in der Kautschuksuche zusammengearbeitet hatten, wurden von Funes zu immer höheren Sammelmengen gezwungen. Um seine Forderungen durchzusetzen, schreckte er vor extremer Gewaltanwendung und Folter nicht zurück. Für Barandarían begann damit die »systematische Vernichtung des Volkes der Ye’kuana«, ein Genozid, der abgesehen von der einen oder anderen, relativ milden Anklage eines Ethnologen bzw. einer Ethnologin (u.a. Arvelo-Jímenez 1974: 15-17) in der offiziellen Geschichtsschreibung Venezuelas kaum Erwähnung findet. Eine gewisse Bekanntheit erlangte die Figur des Tomás Funes in einem Roman, der gut zehn Jahre vor Gallegos’ Canaima erschien und wie letzterer zu den Hauptwerken der südamerikanischen Selva-Literatur gezählt wird: La Voragíne (dt.: Der Strudel) des Kolumbianers José Eustasio Rivera (18881928) aus dem Jahr 1924. Funes lebt hier als skrupelloser Kautschukbaron wieder auf, der seine Arbeiter auf unmenschliche Weise ausbeutet und versklavt. Während der Roman in der Literaturwissenschaft gewissermaßen als Prototyp des Urwaldromans vor allem auf seine Darstellung und Funktion
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der Natur hin interpretiert wird (Hölz 2001; vgl. Rusin 1981), lässt er sich auch als Kritik an den menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen, der gezielten Ausbeutung und weit verbreiteten Rechtlosigkeit in den Gebieten des oberen Orinoko und Amazonas lesen, die der Autor als Mitglied einer staatlichen Grenzkommission auf seinen Expeditionen in Venezuela und Kolumbien selbst beobachten konnte. Der Roman ist nicht zuletzt vom Autor als eine schockierende Dokumentation vom Elend der KautschukSammler in der Hölle des Urwaldes, wo sie den Gefahren, wie Rivera (1975: 184) im Einklang mit gängigen Tropen dieses Romangenres schreibt, einer »sadistischen und jungfräulichen« Natur ebenso ausgeliefert waren, wie kriminellen Händlern und Agenten. Auch Rivera war dabei der Hinweis wichtig, dass ›Funes‹ keine spezifische Person, kein Einzelfall war, sondern »ein System, ein Seelenzustand, es ist der Durst nach Gold, der dreckige Neid, die Gewalt und die Grausamkeit« (Rivera 1975: 223). Das besondere dramatische Schicksal der Ye’kuana in der Kautschukära wird in mündlichen Überlieferungen und Zeugnissen bestätigt, die Iribertegui (1987: 295-311) in seiner ethnohistorischen Aufarbeitung der Kautschukära im Süden Venezuelas von Indigenen und criollos dieser Regionen zusammentrug. So erinnerte sich einer seiner befragten Ye’kuana: »Unsere Großväter lebten am Caño Fewto. Von dort gingen sie zum Caño Yerebe in Richtung Carmelitas und sammelten Balata und Gummi für den Patrón Chicho González. Andere gingen zum Orinoko. Sie mussten die ganze Zeit arbeiten, weil sie den Chefs Ware schuldeten. So begannen die Probleme. Die Criollos misshandelten und schlugen die indigenen Arbeiter. Diese wiederum versuchten zu entkommen und aus ihren Dörfern zu fliehen. Die zwei Anführer, die die Arbeit während der Balatazeit kontrollierten, hießen Funes und Chicho González.« (Ebd.: 296)
Die Ye’kuana galten damals gemeinhin als ›unzivilisierte Indianer‹, als »indios-indios« im Vergleich zu den arawaksprechenden Indigenen der südwestlichen Gebiete, die unter den weißen criollos als »bereits zivilisierte« Arbeiter angesehen wurden (ebd.: 301). Die Unterscheidung zwischen »indio-indio« und »indio-civilizado« sowie die ebenfalls geläufige Unterscheidung zwischen »racionales« und »no-racionales« prägte nach Iribertegui in erheblichen Maße die kulturellen Begegnungen zwischen Weißen und Indigenen, von denen viele dieses rassistisch-ideologische Klassifikationsschema übernahmen. Auch unter zeitgenössischen Ethnologen war diese
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Unterscheidung in Gebrauch. Der deutsche Ethnologe und Venezuelaforscher Theodor Koch-Grünberg klärte in seinen venezolanischen Reiseberichten den Leser beispielsweise auf, dass »racionales: (wörtlich: Vernünftige) in Venezuela die ›Zivilisierten‹ [geheißen werden] im Gegensatz zu den ›Indios‹, den ›wilden‹ Indianern« (1917, S. 327, Fn.). Aus Sicht Iriberteguis beschleunigte dies den Prozess der Transkulturation enorm, da viele der indigenen Gruppen danach trachteten, ihren zivilisierten Status unter Beweis zu stellen, was ihnen offenbar einen gewissen Schutz vor Übergriffen durch Kautschukunternehmer und ihre Gefolgschaft bescherte. Gerade der Süden war nach Iribertegui eine Zone, »wo die ›Scham‹ der Indigenen und die Ideologie der Herrschenden die größten kulturellen Verwerfungen schuf, was die rasche Auflösung vieler indigenen Gemeinschaften zur Folge hatte« (Iribertegui 1987: 309). Nicht minder extremen Erfahrungen von Gewalt und Zwang waren die indigenen Piaroa in der Zeit des Kautschukbooms ausgesetzt, obgleich mündliche Überlieferungen ihrer Geschichte darauf hindeuten, dass, wie Mansutti (1990: 29) vermerkt, »die Beziehungen zwischen den Caucheros und den Piaroa zunächst exzellent waren, und dies nicht wenige Gemeinden dazu motivierte, sich an der Gewinnung von Kautschuk zu beteiligen«. Nach Mansutti könnte dies damit zusammenhängen, dass die Piaroa ebenso wie die Ye’kuana zunächst vor allem als zuverlässige Quelle für Nahrungsmittel oder als baquianos, als Führer dienten, und erst später zum Gummizapfen herangezogen wurden. Durch den bereits erwähnten Vorschuss an die Unternehmen gebunden, verschlechterten sich die Arbeitsbeziehungen gerade in der Ära Funes rapide, so dass viele Piaroa die ihnen zugewiesenen Arbeitszonen verließen und flohen. Dies zog härtere Repressalien von Seiten der Kautschukunternehmer nach sich, was wiederum den Widerstand der Indigenen gegen die Verrichtung dieser Arbeit erhöhte – ein Teufelskreis, der bei steigender Nachfrage nach dem Kautschuk und der fluchtbedingten Verknappung der Arbeitskräfte immer gewaltsamere Verfolgungsjagden auf die indigene Bevölkerung nach sich zog. Deutlich wird dies etwa im Kommentar eines Indigenen aus der Region Casiquiare-Río Negro: »Dies war auch eine Zeit, in der sie, wenn man zuhause war wie wir jetzt gerade, plötzlich kamen, um Leute zu holen. Das konnte zu jeder Zeit sein. Leute von uns wurden dann weggebracht, egal ob sie nun eine kranke Familie hatten oder nicht.
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Beim Balata war es noch schlimmer. […]. Unsere Leute waren fünf oder sechs Monate fort. Einige kamen zurück, andere nicht. Sie starben dort. Einige kamen zurück und trafen ihre Familien nicht mehr an…« (zit. n. Iribertegui 1987: 297)
Nicht überall waren die Auswirkungen des Balatabooms so drastisch zu spüren. Am meisten betroffen waren fraglos diejenigen Gruppen, die in den Hauptsammelgebieten, d.h. in den südlichen und südöstlichen Sektoren der heutigen Bundessstaaten Amazonas und Bolívar lebten. Neben den Ye’kuana gehörten dazu u.a. die Arawak-sprechenden Bare, Baniva, Puinave, Guarequena, Yabitero und verschiedene andere kleine Ethnien, die unter gewaltsamen Vertreibungen und Arbeitsrekrutierungen zu leiden hatten (Zent 1992: 68). In Guayana waren es vor allem karibensprachige Gruppen, so vor allem Kari’ñagruppen, die unmittelbar in den Hauptsammelgebieten von Balata in Guayana siedelten. Andere wiederum konnten sich dem gröbsten Zwang und Einfluss dieser Ökonomie durch stetigen Rückzug und Flucht entziehen. Forschungsreisende wie der Franzose Chaffanjon (1889) oder der Deutsche Koch-Grünberg (1917, I: 395f.), die zur Zeit des Kautschukbooms das südliche Venezuela bereisten, vermerkten, dass große Landstriche an den Flusssystemen des Rio Negro, Casiquiare und Ventuari, die einst von indigenen Gruppen bewohnt waren, aufgrund von Plünderungen und Zwangsrekrutierungen der ›zivilisierten‹ Gummihändler völlig entvölkert waren. Der Rückzug derjenigen, die sich dem Zwang der Gummihändler entziehen konnten, war dabei wohl nicht nur der Gewalt der Kautschukhändler im Umgang mit den indigenen Arbeitskräften geschuldet, sondern auch der Furcht vor Epidemien, die durchziehende Arbeiterund Händlerschaften mit sich brachten. Flucht, Tricks und Betrügereien Viele Indigene reagierten angesichts der rasch in ihre Siedlungsgebiete expandierenden Balataindustrie mit Flucht und Rückzug. Zwar gab es vereinzelte Belege für direkten Widerstand. So berichtete Holdridge (1933) beispielsweise aus der Region am Catrimanyfluss, einem Zufluss des Rio Branco im Grenzgebiet zwischen Venezuela und Brasilien, von regelmäßigen Überfällen der Indigenen auf die Camps der Balatazapfer. Solche gewaltsamen Widerstandsaktionen und Rebellionen waren jedoch selten. Wesentlich verbreiteter war der Versuch, sich durch Flucht aus bestehenden
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Zwangsarbeitsverhältnissen zu befreien, picurar, wie es umgangssprachlich hieß, anlehnend an das extreme scheue und für seine Schnelligkeit bekannte Nagetier Aguti bzw. picure (Dasyprocta sp.), das in den tropischen Waldgebieten Guayanas beheimatet ist. Die Entscheidung zu fliehen war nicht ohne Risiko, da man dafür hart bestraft werden konnte. Darüber hinaus war es nicht einfach, sichere Zufluchtsorte zu finden, da im Grunde der ganze Süden Venezuelas über die Grenzen hinweg zu Brasilien oder Kolumbien, Kautschukgebiet war. Gerade in der Zeit, in der Gouverneur Funes den Kautschukhandel dominierte, dürfte die Flucht ein gefährliches Unterfangen gewesen sein. Allerdings haben in diesem Zusammenhang Studien zum amazonischen Kautschukboom die gängige Sicht auf die Gummizapfer als ohnmächtige, ausgebeutete und durch permanente Schuld an den Unternehmer geknebelte Knechte relativiert (Stoian 2000; Barham/Coomes 1994; Weinstein 1983). Ihren Ergebnissen zufolge war die Beziehung zwischen Zapfern und ihren Arbeitgebern vielschichtiger als es das vorherrschende Bild vom ausgebeuteten Schuldknecht und übermächtigen Patron suggeriert. Zwar bestreiten auch diese Autoren nicht, dass die Zapfer mit Abstand das schwächste Glied in der hierarchischen Produktionsstruktur des aviamento-Systems bildeten. Wie Barbara Weinstein – eine der besten Historikerinnen des amazonischen Kautschukbooms – in ihrer Studie ausführt, war die Macht der Unternehmer über ihre Arbeiter bei weitem nicht so groß wie gewöhnlich angenommen. Erstens waren die Zapfer mehrheitlich zu mobil und zu weit vom Zugriff und der Kontrolle des patron entfernt, als dass die Schulden allein ein effektives Mittel der Kontrolle hätten sein können. Ein illegitimer Ausstieg aus dem Arbeits- und Schuldenverhältnis durch Flucht war durchaus eine Möglichkeit, die den Zapfern offen stand, zumal konkurrierende Unternehmer flüchtigen Arbeitern oft bereitwillig Schutz boten (Weinstein 1983: 23). Dies galt vor allem in Regionen, in denen keines der Unternehmen eine Monopolstellung erringen konnte, was wohl mit einigen Ausnahmen der Fall war. Zweitens gebe es, so Weinstein (1983: 60), wenig Hinweise darauf, dass die Schulden typischerweise der Unterwerfung dienten; »vielmehr scheinen sie das gebräuchliche Mittel gewesen zu sein, um eine Stammarbeiterschaft aufzubauen«. Die zugrunde liegende Logik war also, die Arbeiter an den Unternehmer oder Händler zu binden, und nicht so sehr die Ausübung von Zwang an und für sich. Ähnlich argumentieren auch Bar-
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ham/Coomes (1996; 1994) in ihren Arbeiten. Sie sehen die Entstehung dieses Systems von Schuldenbeziehungen in der Kautschukproduktion als eine Reaktion auf spezifische Produktionsbedingungen von natürliche Ressourcen in Regionen, die zwar reich mit entsprechenden Ressourcen wie Gummi ausgestattet waren, aber arm an Arbeitskräften, Infrastruktur und Kapital. In dieser Perspektive reflektierte das sogenannte aviamento-System das Ergebnis eines im Grunde wirtschaftlich rationalen Verhaltens im Kontext fehlender oder unvollständiger ausgebildeter Marktstrukturen und eines chronischen Geldmangels, der den bargeldlosen Tauschhandel mit Gütern und Naturalien zur quasi logischen Konsequenz hatte (Coomes/Barham 1994: 39). Das in der südamerikanischen Gummigewinnung allgegenwärtige Vorschusssystem knüpfte dabei nicht zuletzt an bereits bestehende indigene Traditionen und Formen des Tauschhandels an. Es lässt sich gewissermaßen als eine Form des verzögerten Tausches sehen, der nicht nur in Amazonien, sondern auch in vielen anderen indigenen Kulturen auf der Welt verbreitet ist. Die Möglichkeit einer verzögerten Gegenleistung oder eines Kredits beim Tausch ist eine Anpassung an die Bedürfnisse der beteiligten Parteien, die wesentlich zur Funktionalität und Flexibilität der Tauschhandelsbeziehungen beiträgt (vgl. Humphrey/Hugh-Jones 1992). Darüber hinaus waren die Unternehmer oft ebenso abhängig von den Zapfern wie umgekehrt, was erforderte, dass das institutionelle Arrangement ihrer Beziehung zumindest zu einem gewissen Grad auf dem Prinzip der Reziprozität beruhte und von gegenseitigem Interesse getragen wurde. Ihre Beziehung reichte damit über eine rein ökonomische Tauschbeziehung hinaus. Dies war vor allem dann der Fall, wenn das Verhältnis durch eine rituelle Verwandtschaft des compadrazgo zementiert wurde, die Verpflichtungen für beide Parteien beinhaltete (Stanfield 1998: 45). Schließlich war die Kontrolle einzelner Unternehmer oder Händler über einen bestimmten Waldbereich weniger absolut als vielfach angenommen. Hereindrängende Händler, die als river pirates bekannt wurden, stellten eine kontinuierliche Bedrohung und Konkurrenz dar (Weinstein 1986: 68). Da es kaum nennenswerte Zugangsbarrieren gab, die den interessierten Unternehmer bzw. Händler davon abhielten, in das Geschäft mit Kautschuk einzusteigen, war der Handel insgesamt, gerade in den weniger entlegenen Gebieten, eher von starker Konkurrenz, denn von monopolistischen Strukturen geprägt. Weinstein (1983: 23) schreibt, »dass die schlimmsten Vergehen in Gegenden auftraten, wo eine Handvoll Gummihändler so viel Macht hatten, dass sie
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sich nicht einmal die Mühe machen mussten, fiktive Schuldenbeziehungen zu erzeugen, um Disziplin bei den Arbeitern durchzusetzen«. Dies lässt sich trefflich sowohl im Fall von Funes im Süden Venezuelas, als auch am Beispiel der Verbrechen von Putumayo erkennen; in beiden Fällen war eine deutliche Vorherrschaft bzw. Monopolstellung einzelner Firmen oder Personen gegeben. Hinzu kommt, dass nicht alle Zapfer in ein Abhängigkeitsverhältnis gedrängt wurden, sondern es gerade in den frühen Jahren des Booms auch viele unabhängige Arbeiter gab (Hemming 1987). So konnten sich die Arbeitsbedingungen selbst von Station zu Station deutlich unterscheiden. Es gab Unternehmer, die für ihre schlechte Behandlung der Arbeiter bekannt waren, und solche, die sich durchaus um das Wohlergehen ihrer Zapfer sorgten. Dabei verstießen die Arbeiter gegen die Vereinbarungen des Vorschussvertrags mindestens ebenso häufig wie die patrones. Konflikte und Spannungen gab es auf allen Ebenen des aviamento-Netzwerkes, die in ihrer Intensität von kleinen Betrügereien bis hin zur offenen Gewalt reichen konnten, wobei der Gummisammler am unteren Ende der Kette sicherlich das zentrale Opfer solchen Betrugs und Missbrauchs war. Es gab jedoch auch eine Reihe von Möglichkeiten, wie sich die Kautschuk- oder Balatazapfer mit kleinen Tricks und Täuschungen zur Wehr zu setzen wussten. Üblicherweise wurden die Balateros nach Menge/Gewicht und auch Qualität des abgelieferten Produkts entlohnt. Besonders die Beschaffenheit und Qualität des Balata war vor Ort nur schwer kontrollierbar. Dies eröffnete den balateros diverse Möglichkeiten der Manipulation zu ihren Gunsten, etwa indem sie das Gewicht der Balatablöcke durch Beigabe von Steinen und anderen Gegenständen erhöhten. In den Balataregionen von Guayana beispielsweise manipulierten die Zapfer die Ware gerne, in dem sie dem Balata minderwertigen Gummi beimischten, was die Qualität und folglich auch den Marktwert der Erzeugnisse erheblich minderte. In Guayana wurde das Balata meist in Form des sogenannten Block-Balata gehandelt. Dabei wurde die Balatamilch in einem großen Kessel zum Koagulieren erhitzt. Die koagulierte, zähflüssige Masse wurde danach in quadratische Holzbehälter oder mit Blättern ausgelegte Gruben am Boden gefüllt bzw. gepresst, wo die Masse über mehrere Stunden zu einem festen Block erhärtete. Die Blöcke konnten in Größe und Gewicht variieren; ideal war ein Gewicht von etwa 25 bis 30 kg pro Block, so dass sie von balateros und Mauleseln noch getragen werden konnten. In den Guianas (Britisch-
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Guiana, Surinam und Französisch-Guyana) wurde die Form des SheetBalata bevorzugt, das aufwändiger in seiner Herstellung war, jedoch auch höhere Marktpreise erzielte. Ähnliche Strategien der irregulären Gewichtsvergrößerung kamen auch bei der Herstellung des Sheet-Balata zum Einsatz. Eine Technik, die die balateros in Surinam beispielsweise anwandten, um das Gewicht der Sheets zu erhöhen, bestand nach Joubert (1899: 295) darin, Teile der noch feuchten Seite der Schicht so einzuschlagen, dass sie von außen trocknete und den feuchten Teil in sich einschloss. Auf diese Weise konnte das Gewicht um 20 Prozent gesteigert werden, ohne dass die eingeschlossene Feuchtigkeit von außen erkennbar war. Solche Tricks und Kniffe stellten für die oft hochverschuldeten und abhängigen balateros eine der wenigen Möglichkeiten dar, ihre Situation aktiv zu ihren Gunsten bzw. zum Schaden ihrer Arbeitgeber zu manipulieren: Dies kann als Akt versteckten und alltäglichen Widerstands interpretiert werden, vergleichbar mit jenen »weapons of the weak«, wie sie Scott (1985) in einem anderen Zusammenhang beschrieb. Nach Morisse zeichneten sich insbesondere indigene Arbeiter in der Kunst des Betrügens aus: »Sie sind Experten in der Kunst des Stehlens und Täuschens« (Morisse 1901a: 10), wobei sich seine Ausführungen hier vor allem auf die Situation am oberen Orinokogebiet bezogen, wo Balata oft durch Beigabe von Kautschuk verunreinigt wurde. Dies war für Morisse besonders beklagenswert, da reines Balata seinen Angaben zufolge gut und gerne den zweifachen Preis erzielte als der beste Para-Kautschuk. Die Praxis des Fälschens trug dazu bei, dass die venezolanischen Produkte auf dem internationalen Markt in Verruf kamen und entsprechend niedrigere Preise erzielten. Wie beim Fällen der Balatabäume galt auch hier offenbar die Maxime der schnellen und sofortigen Rendite statt auf eine nachhaltige Ressourcennutzung zu setzen. Auch hier könnte man die These von der Verschwendung als Folge von Überfluss als mögliche oder sogar naheliegende Erklärung für dieses Verhalten anbringen. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf eine andere Möglichkeit lenken, die zugleich den Zusammenhang zwischen natürlichen Ressourcen und gesellschaftlichen Verhältnissen in den Blick nimmt. Vieles an der Art und Weise, wie die balateros vor Ort die Ressource behandelten und ihre Arbeit verrichteten – die Methode der einmaligen Extraktion der Milch am gefällten Baum, die schnelle und weniger aufwändige Form der Weiterverarbeitung zu Balatablöcken, die generell mangelnde
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Sorgfalt im Umgang mit der Ressource, die Betrügereien und Schwindeleien – all dies deutete im Grunde auf eine ›hit-and-run‹-Strategie hin. Das heißt mit anderen Worten, es ging vielen balateros offenbar vor allen Dingen darum, möglichst schnell und sofort Gewinn aus der Ressource zu schlagen, ohne Rücksicht auf spätere Folgen für sie oder die Ressource. Auch dies könnte man zunächst als Ausdruck einer spezifischen ökonomischen Mentalität deuten, in der schnelle Gewinne und sofortige Gratifikation mehr zählen als Nachhaltigkeit und langfristige Gewinnoptimierung. Interessanter als nur auf die wirtschaftliche Irrationalität dieses Systems zu verweisen, ist meines Erachtens die Frage nach den Bedingungen, unter denen solche Praktiken verständlich und plausibel werden. Vieles deutet hier auf extrem unsichere und ungeregelte Arbeitsverhältnisse in der Balatagewinnung hin, die ihrerseits wiederum auf das Fehlen von institutionalisierten oder zumindest halbwegs beständigen sozialen Organisationsstrukturen in der Produktion dieser Ressource rückschließen lassen. Gerade wenn man sich nicht sicher sein kann, dass man zu einem späteren Zeitpunkt wieder Zugriff auf die Ressource haben wird, oder dass Arbeitsbedingungen und Vermarktungschancen halbwegs stabil bleiben, macht die beschriebene Strategie des ›hit-and-run‹ Sinn. Zumindest erscheint es unter solchen Bedingungen der Unsicherheit und mangelnden institutionellen Verregelung der Arbeit plausibel, dass viele der in der Balatagewinnung tätigen Arbeiter dazu tendierten, die Bäume lieber zu fällen statt am Baum zu zapfen, um das Latex zu extrahieren und auch die Produktionsform des Balata-Blocks gegenüber der des Sheet-Balata bevorzugten, beides Verfahren, die kurzfristig gesehen produktiver waren und schnellere Gewinne abwarfen. So gesehen könnte die spezifische Form der Ressource Balata auch auf die sozialen und politischen Bedingungen ihrer Produktion verweisen. Vieles deutet auf einen ausgesprochenen Mangel verlässlicher politischer Rahmenbedingungen und Regelungen bei der Gewinnung von Balata in Guayana hin. Dies verwundert wenig, wenn man sich die politischen Verhältnisse in Venezuela in jener Zeit vergegenwärtigt. Die Hochphase des Balatabooms fällt in die späte Hochphase des caudillismo in Venezuela, der Regentschaft starker regionaler Anführer, die mit ausgeprägt personalistischem und klientelistischem Führungsstil das Land regierten. Ausnahmslos alle caudillos, denen es gelang die zentrale Macht in Caracas zu erringen, kamen aus dem Westen Venezuelas, den weiten Regionen der Llanos und Anden. Dies galt auch für die beiden Präsidenten der Balatazeit, Cipriano
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Castro, der von 1901 bis 1908 das oberste Regierungsamt innehatte und Juan Vincente Gómez, der 1908 die Macht an sich riss und bis zu seinem Tode 1935 das Land despotisch regierte. Guayana war von den regionalen Machtzentren dieser Führer weit entfernt, ihr Einfluss und Kontrolle über die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in dieser Region war entsprechend gering. Handel und Exportwirtschaft war insgesamt weitgehend von nordamerikanischen und europäischen Mächten dominiert, die der als wenig feinsinnige geltende und aufbrausende Castro immer wieder mit provokativen Äußerungen verärgerte. Vielen westlichen Experten wie beispielsweise dem deutschen Geographen Wilhelm Sievers galt Castro als zu rückständig und unmodern, um ein Land wie Venezuela zu regieren: »Ein kleiner Häuptling eines weltentlegenen Stammes kann zwar die Macht eines großen Reiches an sich reißen, aber er wird kaum je die Fähigkeit haben, einen bis in die kleinsten Teile empfindlichen Staatsorganismus mit seinen vielseitigen und nicht immer leicht zu überblickenden Beziehungen zum Ausland richtig zu pflegen und zu leiten« (Sievers 1921: 79). Diese Gemengelage von schwacher Zentralmacht und konkurrierenden ausländischen Interessen auf der einen Seite, Materialeigenschaften von Balata und peripheren Produktionsstandorten auf der anderen, kombiniert mit indigenen Traditionen von Mobilität und Autonomie bildete den größeren politisch-ökologischen Rahmen, der die Sammelarbeit von Balata in Guayana in seinen spezifisch begrenzenden und zerstörerischen, aber auch ermöglichenden Formen prägte. Dies führte im Ergebnis zu einer Situation, in der – mit den bereits genannten Ausnahmen – das politische und wirtschaftliche Machtgefüge in den Balatawäldern fragil und dynamisch blieb. Auch Zapfer und Händler waren durch ein Band von wechselseitigem Interesse und gegenseitiger Abhängigkeit miteinander verbunden, keiner hatte die absolute Macht über den anderen, da, wie Barham/Coomes (1994: 240) schreiben, »die Zapfer die Produktion, aber nicht den Handel kontrollierten, die Händler den Handel, aber nicht die Produktion kontrollierten«. Ermöglicht wurde dies nicht zuletzt auch durch die spezifische Materialität, in der die Ressource Kautschuk vorlag: So war es unter anderem die geringe Bestandsdichte der Kautschukbäume, die vielfach 2-3 Bäume pro Hektar nicht überstieg, die den Zapfern einen Grad an Autonomie garantierte, den sie auf einer Plantage nicht hätten verwirklichen können. Barham/Coomes (1994: 239) sehen in der »dauerhaften Zapfer-Händler-Allianz« einen Grund für das Scheitern
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der Bemühungen im Aufbau von industriellen Kautschukplantagen in Südamerika, wie sie später in Asien erfolgreich umgesetzt wurden. Denn diese in gewisser Weise vorkapitalistische Produktionsbeziehung erwies sich als hochgradig resistent gegen Veränderung und verhinderte die Herausbildung von effizienteren, d.h. kapitalistischen Arbeitsarrangements. Spurensuche bei den Kari’ña im Balatafieber Die bisherigen Schilderungen haben deutlich gemacht, dass die Arbeitssituation der (indigenen) Zapfer in der Kautschukindustrie keineswegs überall gleich war. Die Bandbreite bewegte sich zwischen den Extremen von Terror und Unterwerfung, wie das Beispiel Putumayo in Peru und Funes in Venezuela eindrücklich zeigten, und unterschiedlichen Graden von Autonomie und Freiräumen der Arbeiter, wie sie die zuletzt geschilderten Ausführungen zur Schuldbeziehung zwischen Zapfern und ihren patrones aus dem brasilianischen Amazonasgebiet nahe legten. Alle Indizien sprechen dafür, dass auch die Arbeitsbedingungen in der Balatagewinnung in Imataca, im Siedlungsgebiet der Kari’ña, zwischen diesen beiden Polen einzuordnen sind. Auszuschließen sind dabei weder einzelne Übergriffe, wie sie im Amazonasgebiet offenbar nicht singulär waren, noch im landläufigen Sinne geregelte Arbeitsbeziehungen, an denen sich Indigene beteiligten, ohne dass dafür physischer Zwang ausgeübt werden musste. Eine Situation von ähnlich systematischer und andauernder Brutalität wie in Putumayo oder am oberen Orinoko ist aus Guayana nicht bekannt. Dies entspricht auch Gillins Einschätzung, wonach eine »direkte Ausbeutung der indigenen Arbeitskraft nicht charakteristisch für diese Region« gewesen sei (Gillin 1948: 818). Direkte Verweise auf die Situation der indigenen Kari’ña in dieser Zeit sind in den Quellen rar. Es ist jedoch zu vermuten, dass – wie in den südlich gelegenen Kautschukregionen Venezuelas auch – die ansässige indigene Bevölkerung in größerem Umfang zur Arbeit herangezogen wurde. Schwerin (1966: 138) berichtete gar, dass Kari’ña aus Mamo im Estado Anzoátegui sich ab 1910 als Sarrapiasammler und Gummizapfer verdingten, einige von ihnen arbeiteten in der Nähe von Puerto Suapure am unteren Rio Caura, andere in den Balatawäldern von Guayana. Schon früh bildeten sich hier zirkuläre Migrationsmuster aus, die es den Kari’ña erlaubte »in sowohl traditionellen und industriell-marktorientierten Wirtschaftssystemen
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zu partizipieren« (Conaway 1977: 39). Mündliche Überlieferungen der Kari’ña in Imataca bestätigen diese Annahmen. So erinnern sich einige der älteren Kari’ña aus Botanamo gut an die Zeit des »Para’xta«, an die Zapfer und vor allem an die Maulesel, auf denen das Balata über kleine Waldpfade mühsam nach Tumeremo transportiert wurde. Cipriano, einer der Ältesten des Dorfes, war – wie er selbst schildert – als junger Mann viel unterwegs, wo er sich mal da und dort als Arbeiter verdingte. Er half neue Wege und Pfade durch die Wälder zu schlagen, die neben den Balateros auch von herumziehenden Goldsuchern und Schmugglern genutzt wurden. Er arbeitete als Mauleseltreiber und Jäger für diverse Patrones und Unternehmer in der Region und für kurze Zeit auch als Zapfer in der Balataindustrie, deren Ende sich jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits abzeichnete. Aus seinen Schilderungen lassen sich einige Anhaltspunkte über die Art der Beziehungen und Kontakte zwischen Kari’ña und Balataindustrie vor Ort herausfiltern. Zunächst fällt die Unstetigkeit der Beziehungen auf, die sich auch auf die Arbeitszusammenhänge übertragen lässt. Dies macht eine regelmäßige und systematische Aneignung oder gar Zwangsrekrutierung ihrer Arbeitskraft für die Gewinnung von Balata eher unwahrscheinlich. Plausibler bzw. naheliegender sind wiederholte kurzfristige Arbeitseinsätze der Kari’ña, die sicherlich auch von den ausgeprägten Hierarchien und Machtverhältnissen, die diese Ressourcenökonomie charakterisierten, durchdrungen waren. Direkte physische Gewalt lag den Arbeitsbeziehungen wohl in den meisten Fällen nicht zugrunde, wie auch Cipriano in seinen Erzählungen über seine Wanderjahre bestätigt. Dies dürfte weniger an der moralischen Zurückhaltung der Balatahändler und -unternehmer gelegen haben, als an der indigenen Kultur der Mobilität, die gerade den Kari’ña in Guayana immer wieder das Überleben in Rückzugs- und Zwischenräumen ermöglichte. Nicht zuletzt haben konkrete Gewalterfahrungen mit den sogenannten racionales die Kari’ña offenbar gelehrt, Distanz und Misstrauen gegenüber dem ›Anderen‹ zu wahren oder der »Zivilisation«, die, wie der Reverend Cooksey in seiner ethnographischen Skizze über die Kari’ña im Nordwest-Distrikt Guyana aus dem Jahr 1912 schrieb, »vor allem in Gestalt der Goldsucher und Balatazapfer, der Gemischtwarenhändler und ihren Angestellten kommt« (Cooksey 1912: 327). Über die Schwierigkeiten, gerade Kari’ña in dauerhafte oder zumindest regelhafte Lohnarbeitsverhältnisse einzubinden, wurde schon berichtet. Es mag dabei auch Versuche von Balataunternehmern gegeben haben, diese
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Schwierigkeiten mit Zwang und Gewalt zu überwinden, aber wie zeitgenössische Autoren beobachten konnten, zog dies in der Regel die sofortige Flucht der Indigenen nach sich. In Anbetracht der sozialen und ökologischen Verwerfungen, die mit dieser aggressiv sich ausdehnenden Balataindustrie einhergingen, war kollektiver Rückzug und Flucht gerade bei den Kari’ña in der Region eine nahe liegende Option, zumal dies an frühere Verhaltensmuster anknüpft. Ohne Zweifel hatten die Kari’ña Kunde von den Gräueln im Gebiet der Ye’kuana. Es ist gut vorstellbar, dass sich die Kari’ñagemeinschaften, die nicht schon während der vorangegangenen Kriegswirren im Verlauf des 19. Jahrhunderts nach Britisch-Guiana abgewandert waren, in dieser Zeit in entlegenere, von der Balataindustrie nicht oder allenfalls peripher erfasste Waldgebiete im Grenzgebiet zwischen Venezuela und Britisch-Guiana zurückzogen. Aber auch in den angrenzenden Regionen von Britisch-Guiana boomte das Balatageschäft, so dass es wohl schwer gewesen sein dürfte, sich dem Einfluss der Balataindustrie gänzlich zu entziehen. Darüber hinaus war hier in dieser nur schwer kontrollierbaren und umstrittenen Grenzregion zwischen Venezuela und Britisch-Guiana ein reger Schmuggelhandel mit Balata im Gange, bei dem es wohl immer wieder auch zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen venezolanischen und britischen Truppen kam. Als wichtigstes Export- und Handelsprodukt rückte Balata in den Mittelpunkt nationalistischer Kämpfe um Ressourcen und Souveränität (vgl. New York Times vom 19. August 1907). Eine weitgehende Isolation war bei allem Ausweichen und Distanzhaltens der Kari’ña nicht realisierbar, da auch entlegenere Regionen vom Sog des Balata- und Goldfiebers erfasst wurden. Gerade im Nordwest-Distrikt in Guyana – wichtigstes Rückzugsund Kernsiedlungsgebiet der Kari’ña in der nachkolonialen Zeit – fiel die Boomphase des Balata mit einem geradezu rauschhaft expandierenden Goldbergbau zusammen. Beides zusammen setzte offenbar eine derart dramatische Dynamik von Krankheit, Deprivation und Zerfall in Gange, dass die Kari’ña in einem Untersuchungsbericht aus den 1940er Jahren – also kurz nach dem Ende des Balatabooms – als »die ärmste und am meisten traumatisierte indigene Gruppe« in ganz Guyana herausgestellt wurden (Peberdy 1948: 74, vgl. Kap. 3). Malaria, Mangelernährung, Alkoholmissbrauch und körperliche Ausbeutung sowie das Fehlen jeglicher staatlicher Hilfen hatten ihre Zahl in dieser Zeit der unkontrollierten ökonomischen Belagerung ihres Gebietes durch Balata- und Goldsucher drastisch
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schrumpfen lassen, von 2500 auf weniger als 500, so die Schätzung von Peberdy (ebd.), der über den »morbiden Zustand der Kari’ña« geschockt war. Nach Erscheinen des Berichts wurden Programme zur Malariabekämpfung und anderweitige Hilfsaktionen bei den Kari’ña gestartet, um ihre soziale und gesundheitliche Situation verbessern. Ihre Zahl hat sich seitdem langsam, aber stetig wieder erholt (Forte 1988). Auch in dem Roman Canaima erscheinen die Indigenen als Getriebene, deren vielfache Wanderungen und Migrationen, wie Potelet (1991: 409) in ihrem Artikel Canaima, novela del Indio Caribe schreibt, »gewissermaßen das Ergebnis der von den Weißen mitgebrachten Übel sind«. Oder in den mythisch bevölkerten Worten des Poeten Gallegos: »Das waren die unerbittlichen Feinde der Eingeborenen, der Grund für die Wanderschaften ihrer Stämme: die Schwindsucht, die sie dezimierte, und der Kautschuksammler, der sie ausbeutete und tyrannisierte, das war der Tod, dem sie die Churuata überlassen mussten, wenn er sie betreten hatte, mit der unbestatteten Leiche des Opfers in einem Cutumari, und der sie zwang, ihre Churuata woanders aufzustellen. Oberer Padamu, unterer Padamu, Stromschnelle von Tencua; viele schauerliche Meilensteine, unbeerdigte Gebeine in verlassenen Wohnstätten zeigten die Wanderschaften von Ponchopires Stamm an, verfolgt vom Katarrh, der fürchterlichsten aller Gestalten, die Canaima annehmen kann. Auf der großen Savanne, wo Marcos Vargas ihn jetzt gefunden hatte, schien endlich ein Hauch von Cajuna dem Guten zu wehen, von ihm, der Gesundheit schenkt und reichlichen Fischfang und den Indianer aus den Klauen der Zivilisierten befreit und ihn dahin führt, wo der Kautschukbaum nicht wächst.« (Gallegos 1961: 322)
In diesem Zitat scheint auch ein Aspekt auf, der im Kern dieses Kapitels steht: es ist das Paradox einer sich selbst als zivilisiert erachtenden Gesellschaft von racionales, die nicht nur kläglich in ihrem Vorhaben scheitern, die in ihren Augen so wilden Naturräume und ihre nicht minder wilden Bewohner an den Errungenschaften ihrer Zivilisation teilhaben zu lassen, sondern die sich im Grunde als die eigentlichen Barbaren und Wilden herausstellen. Ähnlich wie die im ersten Teil des Kapitels geschilderten Kolonisierungsprojekte verpuffte der Rausch um Balata so schnell wie er entstanden war. Eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung setzt er in der krisengebeutelten Region Guayana nicht in Gang. Im Gegenteil: wie Hanson, der Anfang der 1930 Jahre den Süden Venezuelas bereiste, beklagte,
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brachte das Ende des Booms der Region eine umfassende soziale und ökonomische »regression«, wie er es nennt, die in seinen Augen vor allem für die zurückbleibende indigene Bevölkerung einen tiefgreifenden Einschnitt bedeutete. Mit dem »Rückzug der Weißen« waren die Indigenen zur Rückkehr in die Wildnis gezwungen, was ethnologisch vielleicht ein äußerst interessantes Schauspiel abgebe, »da hier eine brandneue primitive Kultur im Entstehen dokumentiert werden könne« (Hanson 1933: 588). Insgesamt, so Hansens düsteres Fazit, läutete das Ende des Balatabooms jedoch einen bedauernswerten Rückschritt in der Entwicklung der Region und ihrer Menschen ein. Auch wenn man sich dem Bedauern nicht anschließen mag, zeigt Hanson hier doch ein deutliches Bewusstsein für die historischen Prozesse, die zur Entstehung einer neuen, sekundären Wildheit von Natur und ihren indigenen Bewohnern geführt haben, ganz im Gegenteil zu Gillin, der fast genau zur selben Zeit, die Kari’ña als zurückgezogene, weitgehend traditionell lebende Waldkultur beschreibt.
5 Schwarzes Gold – die Nation des Erdöls
»Mit dem Öl ändert sich alles.« (VENEZOLANISCHES SCHULBUCH, LACUEVA TEUREL 1991)
Das moderne Venezuela ist ohne Öl nicht denkbar. Nach den ersten erfolgreichen Bohrungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts avancierte Öl rasch zur ökonomisch wichtigsten und bald auch zur zentralen identitätsstiftenden Ressource in Venezuela. So ist die Entwicklung der Ölindustrie eng verbunden mit der Rekonfigurierung und Festigung nationalstaatlicher Identität, wie dies insbesondere Fernando Coronil in seinem viel beachteten Buch The Magical State (1997) herausgearbeitet hat. Darin beschreibt er anschaulich, wie sich der venezolanische Staat im Zuge der Erschließung der Ölreichtümer als zentrale Autorität in einer »vorgestellten Gemeinschaft« neu erschaffen und legitimieren konnte, die wesentlich durch die kollektive Teilhabe am neuen Ölreichtum geformt und zusammengehalten wurde. Der Prozess war insofern ›erfolgreich‹ zu nennen, als er zumindest während einiger Jahrzehnte eine ökonomische und politische Befriedigung und Befriedung weiter Teile der venezolanischen Gesellschaft und ihres Territoriums erreichen konnte. In diesem Sinne verkörpert Öl eine Antithese zur Ressourcengeschichte des Balatá, die eine solche Gemeinschaft nur als gescheiterte Vision hervorzubringen vermochte. Mit beeindruckenden Wachstumsraten und einer für lateinamerikanische Verhältnisse außergewöhnlich stabilen Demokratie galt Venezuela lange Zeit als Musterland. Der Schlüssel dafür, so schien es, waren eine Reihe von Bündnissen zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen, die sich nach dem Fall der Diktatur von Marco Pérez Jiménez im
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Jahre 1958 auf demokratische Spielregeln und einen begrenzten Pluralismus unter Ausschluss radikaler Alternativen einigten. Es war jedoch kein Geheimnis, dass sich das Funktionieren dieser »pacted democracy« (Hellinger 2000) nicht zuletzt einem besonderen Umstand verdankte: den außergewöhnlich hohen Einkommen Venezuelas durch die Ölexporte. Sie sorgten für eine hohe Akzeptanz und Unterstützung der existierenden Rollenverteilung zwischen Parteien, Staat und den Ölfirmen. Schließlich ging es in Venezuela weniger um Umverteilung, denn um Verteilung der reichhaltigen Ölrente, die – zumindest in Zeiten des Überflusses – systemgefährdende Konflikte erfolgreich verhinderte. Demokratische Verhältnisse waren in diesem System von Vorteil, da sie institutionell gesicherte und verlässliche Einflusskanäle zur Verfügung stellten. Mit der in den 1980er Jahre einsetzenden Schuldenkrise bekam das Bild vom lateinamerikanischen Musterland erste Risse. Spätestens nach den gewaltsam niedergeschlagenen Volksaufständen 1989 und den zwei gescheiterten Putschversuchen im Jahr 1992 schien die Frage nicht unberechtigt, ob der Ölreichtum sich für das Land nicht eher als Fluch denn als Segen erwiesen habe. In der nationalen Krise, so waren sich viele Venezuela-Experten einig, offenbarten sich nun zwangsläufig die Schattenseiten einer einseitig auf dem Export von Öl basierenden Volkswirtschaft. Unter dem Schlagwort der ›holländischen Krankheit‹ werden diese Probleme als geradezu endemisches Dilemma vieler sogenannter »natureexporting societies« (Coronil 2007: 7) beschrieben, die in die eng gefasste Rolle des Erzeugers von Rohstoffen für den globalen Markt gedrängt wurden. Die ›Krankheit‹ manifestiert sich dabei vor allem in einer aus den Exportbooms resultierenden Überbewertung der Währung, die zu weitreichenden Import- bzw. Exportverzerrungen und hoher Inflation führt und die Entwicklung in anderen Wirtschaftszweigen hemmt. Sie erfasst auch das politische und kulturelle Gefüge, indem sie Korruption und klientelistischer Mentalität Vorschub leistet, in der das politische, ökonomische und soziale Leben wesentlich um die Aneignung und Verteilung der Ölrente organisiert wird. Die amerikanische Politologin Karl hat diesen Prozess in ihrem Buch Paradox of the Plenty (1997) für Venezuela anschaulich dargelegt. Während Vertreter dieser neoliberalen Erklärungsrichtung wie Karl die wirtschaftlichen Strukturprobleme in Venezuela vor allem auf eine gescheiterte nationale Politik zurückführen, sieht Coronil auch internationale Kräfte und Interessen des globalen Kapitals dafür verantwortlich, die von der Struktur-
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schwäche konventioneller Wirtschaftszweige in Venezuela profitierten (Coronil 1997: 285; vgl. Hellinger 2000). Der Staat konnte sich hier als zentrale Verteilungsinstanz der Ölrenten gegenüber dem privaten Kapital behaupten, wodurch ihm in Boomzeiten geradezu magische Kräfte zu eigen schienen. Die Kontrolle über die Naturschätze verschaffte ihm schier omnipotente Möglichkeiten, um das mit dem Öl früh schon verbundene Versprechen von Modernisierung und Fortschritt für das Land einzulösen. In der populären Maxime »das Öl auszusäen« verdichtete sich diese Erwartung. So legitimierte sich die Liquidierung des Naturkapitals für die wechselnden Regierungen im Laufe des 20. Jahrhunderts stets auch als nationales Projekt mit dem Ziel, den »nicht erneuerbaren natürlichen Körper der Nation mit erneuerbaren Formen sozialen Reichtums zu füllen« (Coronil 1997: 391). Trotz zum Teil spektakulärer Ergebnisse und Zeugnisse diesen Willens, war dem Projekt bisher kein nachhaltiger Erfolg beschieden, wie nicht zuletzt der dramatische Rückgang des Lebensstandards und die prekäre Sicherheitslage in Venezuela in den vergangenen zwei Jahrzehnten eindrücklich vor Augen führen. Nach Coronil brachte der Tauschhandel zum großen Teil nur die Illusion von Produktion, bei der zwar moderne Produkte und Fabriken entstanden, die letztlich aber nur eine »truncated modernity« (Coronil 1997: 391) – eine beschränkte oder unvollständige Modernität – generierten, da sie auf Pump vom Ölgeld gekauft waren und kaum auf wirklichen produktiven Leistungen beruhten. In gewisser Weise revitalisierten damit die Gewinne – die Ölrente – in einem der zweifellos dynamischsten und fortschrittlichsten Sektoren im Land Vorstellungen aus der Zeit der spanischen Entdeckung und Kolonisierung, die Reichtum und Wert weniger als Ergebnis produktiver Arbeit, sondern vor allem als Belohnung und Folge von Eroberung und Plünderung sahen (Coronil 1997: 390). Seine zentrale Bedeutung für Fragen von Identität, Nationalismus und Modernisierung macht Öl zu einer interessanten Ressource, wenn es darum geht, Zusammenhänge zwischen natürlichen Ressourcen und kultureller Differenz auszuloten – auch wenn es in der Region Guayana selbst keine Ölvorkommen gibt. Die Ölvorkommen liegen allesamt im Norden und Westen des Landes. Südlich des Orinoko im Allgemeinen und in Imataca im Besonderen sind bisher keine Ölvorkommen entdeckt worden und nach derzeitigem Kenntnisstand auch kaum zu erwarten. Die hier lebenden Kari’ña stehen also nicht direkt mit diesem Rohstoff in räumlichen Kontakt.
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Allerdings lebt eine weitaus größere Gruppe von Kari’ña in den Savannen der nördlich angrenzenden Bundesstaaten Anzoátegui und Monagas. Ihre jüngere Geschichte ist in hohem Maße durch die Entdeckung von Öl geprägt, das dort seit den 1930er Jahren gefördert wird (s. Abb. 3). Zugleich wird auch die ökonomische Erschließung von Guayana, wie sie sich seit den 1960er Jahren in mehreren Wellen beobachten lässt, erst vor dem Hintergrund des Erdölbooms in ihrer Dynamik verständlich. Abbildung 3: Erdölvorkommen und Fördergebiete
Auf den folgenden Seiten sollen daher zwei Aspekte oder Momente schlaglichtartig beleuchtet werden, die beide unterschiedliche Facetten eines übergeordneten und meines Erachtens zentralen Themas in der ›Begegnung‹ zwischen Öl und Kari’ña konturieren. Der erste Moment führt uns in die Zeit der 1940er und 1950er Jahre. Im Blickpunkt stehen einige Aspekte der Geschichte jener Kari’ña in Monagas und Anzoátegui, die von dem venezolanischen Ethnologen Fleury Cuello in einem Artikel 1953 Indios petroleros, »Ölindianer«, tituliert worden sind. In einer spezifischen historischen Situation gelang es einigen Kari’ñagruppen Ende der 1940er Jahre, eine direkte Teilhabe an den Gewinnen aus den Ölvorkommen in ihrer Re-
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gion auszuhandeln, im Rückblick gesehen ein beachtlicher Erfolg, der nicht nur grundlegende Bedeutung für die weitere Entwicklung der territorialen Landrechtssituation und kulturellen Anerkennungskämpfe der Kari’ña besitzt, sondern spezifische Widersprüche und Ambivalenzen staatlichen Handelns und Denkens gegenüber indigenen Minderheiten offenbart. Der zweite zentrale Moment führt uns wieder zurück zu den Kari’ña in Imataca. Im Fokus stehen die Entwicklungen in der weiteren Region Guayana in den 1960er und 1970er Jahren, die erst in ihrem Bezug zum Öl verständlich werden. Sie lassen sich als nachgelagerte Effekte des Ölbooms in der Peripherie verstehen. In dieser Zeit unternahm der venezolanische Staat großangelegte Anstrengungen, die mit der Ölrente finanzierten Modernisierungserfolge, die in den nördlichen Landesteilen erzielt wurden, auch auf den Süden auszuweiten und damit auf die Regionen des Landes, in denen die indigene Präsenz weitaus am stärksten ist. Dabei wurden Versuche unternommen, auch die indigene Bevölkerung in diesen Gebieten produktiv einzubinden. Im Scheitern dieser Integrationsbemühungen enthüllt und rekonfiguriert sich nicht zuletzt die Macht historischer Sichtweisen auf diesen Raum, die überhaupt erst die Legitimation und Grundlage für seine Vereinnahmung im ökonomischen und politischen Nationalprojekt schufen. Solche historischen Raumbilder prägen auch die gegenwärtigen Konflikte in der Region Guayana in hohem Maße. In beiden Momenten spielt die produktive Beziehung zwischen Öl und nationaler Staatlichkeit eine wesentliche Rolle. Wie bereits angedeutet, legte Öl den Grundstein für die Herausbildung eines starken, ja magischen Staates, der seine Bürger über die Verteilung der Ölrente an sich band. In dem Maße wie Öl an Bedeutung gewann, begannen auch Venezolaner und Venezolanerinnen sich mehr und mehr als Bürger einer modernen Ölnation zu sehen und die totalisierende Sicht zu übernehmen, die den Staat als einzigen Repräsentanten eines vereinten Volkes festschrieb (Coronil 1997: 84; vgl. Tinker Salas 2009) Welchen Platz nahmen indigene Gruppen wie die Kari’ña in diesen Diskursen um Nation und Modernisierung ein? Welche Rolle und Erwartungen wurde ihnen in diesem nationenbildenden Prozess zugeschrieben? Und wie war es gerade um jene indigenen Gruppen bestellt, die unmittelbar mit der Präsenz der Ölindustrie konfrontiert wurden, also in Regionen lebten, in denen Öl gefunden wurde? In vielen dieser Fragen, denen ich im Folgenden nachgehe, geht es direkt oder indirekt um ›Teilhabe‹ und Anerkennung. Mehr als alle anderen Ressourcen evoziert Öl schließ-
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lich als zentrales Agens in der Herstellung einer nationalen Identität die Frage nach den Möglichkeiten, Bedingungen, aber auch Grenzen der Artikulation kultureller Differenz in einem sich konsolidierenden venezolanischen Nationalstaat bzw. in jener ›nationalen Gemeinschaft‹, die das Öl hervorgebracht hat. Diese Frage berührt damit das Thema der politischen Mobilisierung und Rechte der Indigenen ebenso wie das komplexe Feld staatlicher Indigenenpolitik, die sich in indirekter, aber enger Verbindung zur Ölpolitik vollzieht (Aguilar Castro 2004).
I NDIOS P ETROLEROS – Ö LRENTE TERRITORIALE A NSPRÜCHE
UND
Im Blickpunkt des folgenden Teils steht die Geschichte der »Ölindianer« in der Mesa de Guanipa in Anzoátegui. In den Jahren 1946 und 1947 gewährten die Ölfirmen Mene Grande Oil (zur Gulf Oil gehörig) und Socony Vacuum Oil (später Mobil Oil) der Kari’ña-Gemeinde Cachama im Staat Anzoátegui eine wenn auch niedrige Zahlung bzw. Entschädigung für die Nutzung ihres Gebiets. In den Verträgen wurde eine Summe von 0,75 Bolívares für jeden Hektar gepachtetes Land jährlich festgelegt, vier Bolívares pro Hektar waren zudem für die Fläche zu entrichten, auf der tatsächlich gearbeitet wurde, und zusätzliche Zahlungen waren für seismographische Arbeiten fällig. Insgesamt ergab dies einen Betrag von ca. 30.000 Bolívares (damals ca. 8.000 US-Dollar) pro Jahr, der von den Ölfirmen an die Kari’ña-Gemeinde gezahlt wurden (Fleury Cuello 1953: 82ff.; Schwerin 1966: 258-267). Diese Regelung entsprach im Wesentlichen den Festlegungen, wie sie im ley de hidrocarburos formuliert worden waren und prinzipiell allen Grundeigentümern zukamen. Während über den subsuelo, d.h. die unterirdischen Bodenschätze grundsätzlich der Staat verfügte, wie schon das erste Ölgesetz von 1922 unmissverständlich klargestellt hatte, kam den jeweiligen Grundeigentümern ein Zugangs- oder Wegerecht (derecho de servidumbre) zu, welches zu einer geringen Flächenrente in der genannten Höhe führte (Brito Figueroa 1996: 380). Ein ähnliches Angebot wurde der benachbarten Kari’ña-Gemeinde San Joaquín de Parire (Mapiricure) unterbreitet. Eine Ölfirma bot ihnen insgesamt 65.000 Bs für Wegerecht und infrastrukturelle Nutzungsrechte auf ihrem kommunalen Land. Interessant ist an diesem Fall, dass die indigenen Repräsentanten dieser Gemeinde die
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Vertragsunterzeichnung an die Bedingung einer juristischen Klärung und Festlegung ihrer Gebietsgrenzen und offizielle staatliche Anerkennung derselben knüpften (Fleury Cuello 1953: 64f; Boletín Indígenista Venezolano 1958: 31-37). Sie nutzten damit die Gelegenheit, die ihnen die vermittelte Anerkennung ihrer Landansprüche durch die Ölfirmen bot, um ihre Landrechte auch vor dem Staat einzuklagen. Dies erwies sich im Rückblick als geschickter Schachzug angesichts der generell sehr unsicheren Landrechtssituation, an der nicht zuletzt die seit den 1930er Jahren voranschreitende Expansion der Ölindustrie Anteil hatte. Die Geschichte der indios petroleros ist bemerkenswert, weil hier zum ersten Mal indigene Gruppen direkt an der gewinnbringenden Nutzung einer natürlichen Ressource beteiligt wurden, und zwar nicht irgendeiner Ressource, sondern derjenigen, die zu diesem Zeitpunkt bereits den überwältigenden Teil der nationalen Produktion ausmachte. Angesichts einer sehr konfliktreichen ersten Phase der Ölförderung im Westen des Landes, wo an eine indigene Beteiligung am Ölboom vorerst nicht zu denken war, aber auch angesichts der Rolle, die indigenen Gruppen bis zu diesem Zeitpunkt bei der Ausbeutung des Goldes oder bei der Kautschukgewinnung zugekommen war, scheint dies ein beachtlicher, fast erstaunlich wirkender Erfolg, der nach Erklärungen verlangt. Für mich stellte sich im Besonderen die Frage, wie es zu dieser Kooperation zwischen Kari’ña und Ölfirmen kam und wie dieser Akt der ›Teilhabe‹ gerade mit Blick auf die Frage der kulturellen Anerkennung zu deuten und zu bewerten ist. Drei Faktoren sind hier zu nennen, die den Rahmen einer Antwort abstecken und somit Betrachtung verdienen: erstens der ökonomisch-politische Kontext der Ölindustrie, insbesondere die Rolle der Ölfirmen als Teil eines größeren, nationalen Projekts, zweitens die (ethno-)historische Entwicklung der Landnutzung in dieser Region, und drittens die Veränderungen der staatlichen Indigenenpolitik, die in den 1940er Jahren Gestalt annahmen. Der Wandel Venezuelas zur Ölnation – Konflikte und Kontroversen Die kommerzielle Ölproduktion setzte in Venezuela in nennenswertem Umfang mit dem Ersten Weltkrieg ein. Nur zwei Jahrzehnte später, am Ende der langen Ära Gómez (1908-1935) war das Land nach den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bereits drittgrößter Erdölproduzent und füh-
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render Erdölexporteur der Welt sowie strategisch entscheidender Lieferant des britischen Empires. Bis heute ist Venezuela einer der wichtigsten Ölexporteure geblieben und größter Exporteur außerhalb der arabischen Welt. Der Ölboom, der dieser Entwicklung zugrunde liegt, zeigte besonders in den 1920er und 1930er Jahren einen beeindruckenden und rasanten Aufstieg. Mit Royal Dutch Shell, Jersey Standard Oil und Gulf Oil kontrollierten drei ausländische Firmen zu diesem Zeitpunkt über 90 Prozent der venezolanischen Produktion. Mit der raschen Entwicklung gingen schon bald soziale Verwerfungen einher, zunächst vor allem sorgte er für beträchtliche Wanderungsbewegungen in den Bundesstaat Zulia im Westen aus den angrenzenden Bundesstaaten Falcón und Trujillo, aber auch von der Isla Margarita, Trinidad und anderen karibischen Inseln. Der Bedarf an Arbeitskräften in der eigentlichen Ölförderung blieb dabei gering und wurde in den gehobenen Positionen vor allem durch ausländische Fachkräfte aus den USA gedeckt, die in modernen Enklaven lebten; größere Zahlen von Arbeitskräften kamen in den nachgelagerten Konsumbereichen wie Restaurants, Läden usw. unter. Dabei entstanden schon frühzeitig heftige Konflikte zwischen den einheimischen Arbeitern in den Niedriglohnbereichen und dem großenteils ausländischen qualifizierten Personal der Ölkonzerne, bald aber auch generell zwischen Gruppen verschiedener ethnischer und nationaler Zugehörigkeit (Tinker Salas 2009: 107ff.). Die erste Erschließungswelle im Gebiet des Maracaibosees war insgesamt schnell und chaotisch, gekennzeichnet von unzähligen Konflikten um Land und Landenteignungen und sie führte nicht zuletzt zu erheblichen ökologischen Schäden. In diesem Zuge wurden auch indigene Gruppen erstmals von der Ölerschließung in Mitleidenschaft gezogen: Insbesondere Yukpa und Barí, die im Südwesten des Sees lebten wurden durch die Zerstörung ihrer Jagdgebiete in die Enge getrieben. Nachdem sie bereits in den ersten Jahren der Erschließung verschiedentlich Ölcamps attackiert hatten, sandte Gómez ab 1926 Truppen in die Region, um die Indigenen weit nach Westen zurück zu treiben und dabei physisch zu dezimieren. Doch gelang es über viele Jahre nicht, die Region ganz zu befrieden. Vertreter der Ölbranche forderten verschiedentlich drastische militärische Maßnahmen, vom Niederbrennen der indigenen Siedlungen über die systematische Vertreibung nach Kolumbien bis zur physischen Ausrottung. Trotz erbittertem Widerstand verloren Barí und Yukpa rasch beträchtliche Teile ihrer Territorien und »mussten sich immer noch weiter in die Bergregionen zurückzie-
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hen und die Gebiete den Ölfirmen und Landräubern überlassen« (Alcarcón Puentes 2005: 50; vgl. Haller et al. 2007: 235ff.). Die verschiedenen Konflikte, die aus der kaum geregelten Ölerschließung im Verbund mit Zensur und militärischer Repression durch die gomecistas erwachsen waren, entluden sich nach Gómez’ Tod 1935 in großen Unruhen und Ausschreitungen, gefolgt von landesweiten Streiks, die bis in den Januar 1937 andauerten. Ein Großteil der Auseinandersetzungen bezog sich dabei in der einen oder anderen Form auf den Ölsektor, der schon längst zum wichtigsten Bereich der Nationalökonomie aufgestiegen war. Und offenbar herrschte nun ein breiter Konsens zwischen linken, liberal-demokratischen und konservativen Gegenspielern der alten Gómez-Riege dahingehend, dass der Ölsektor zukünftig stärker im nationalen Interesse zu regulieren sei. Zwischen 1919 und 1936 hatte der venezolanische Staat nur kümmerliche sieben Prozent aus den Gewinnen der Ölindustrie erhalten, eine »Situation, deren Fortbestand 1936 nur noch wenige Menschen zu tolerieren bereit waren« (Blank 1984: 38). So machten sich offenbar auch Teile der Administration unter General López Contreras (1936-1941) die Aufgabe zu eigen, den beherrschenden Ölkonzernen jetzt etwas striktere Bedingungen aufzuerlegen und sie im Sinne staatlicher Einkünfte auch finanziell stärker zu belasten. In diese Zeit wurde auch jene bereits erwähnte Leitdevise von der »Aussaat des Öls« formuliert, eine Formel, die bis heute in Venezuela weithin zitiert wird und quer durch die politischen Lager große Zustimmung findet: der Staat, so die in der Formel enthaltene Forderung, solle das Öl aussäen (»sembrar el petroleo«), um aus dieser Saat eine gesunde, produktive und moderne Nation erwachsen und erblühen zu lassen. Die Maßnahmen unter Lopez Contreras, besonders aber die der nachfolgenden, etwas liberaleren Regierung Medina Angarita (1941-1945) standen unter günstigen Vorzeichen. Mit der zunehmend angespannten internationalen Lage stiegen Nachfrage und Preis des Erdöls, zudem wuchs der politische Wunsch der Vereinigten Staaten, ein kooperatives Klima in der »westlichen Hemisphäre« zu wahren, um den Einfluss der Achsenmächte in Lateinamerika zu begrenzen. Die Nationalisierung der Erdölvorkommen in Mexiko 1938 hatte das Ihrige dazu getan, die wenigen weltweit operierenden Ölkonzerne offener für die Teilhabewünsche derjenigen Nationen zu machen, die die Erdölvorkommen beheimateten. Wie Tinker Salas in seiner kürzlich erschienen Studie über »Öl, Kultur, und Gesellschaft in Venezuela« detailliert darlegt, waren führende britische und amerikanische Ölfir-
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men in dieser Zeit offensiv darum bemüht, ihre Aktivitäten und Interessen als Teil eines größeren ökonomisch-nationalen Projektes darzustellen, das vor allem ein Ziel hatte: die Entwicklung und Modernisierung der venezolanischen Gesellschaft herbeizuführen. Die Idee, dass ihre Interessen mit nationaler Entwicklung und Modernisierung quasi konform waren, wurde in zahlreichen PR-Kampagnen gezielt und öffentlichkeitswirksam verbreitet. Viele der einflussreichsten Ölfirmen, wie Creole und Shell, finanzierten Radiosendungen und veröffentlichten Kulturzeitschriften und Ratgeberliteratur zu Erziehungs- und moralischen Fragen, die Werte und Einstellungen insbesondere in den entstehenden Mittelklassen in Venezuela stark beeinflussten und mit ihren attraktiven kulturellen Angeboten eine zunehmend wichtige soziale Funktion ausübten. Im Kern macht Tinker Salas hier das Bemühen der firmeneigenen PR-Abteilungen aus, den »venezolanischen Charakter umzuformen – ein westliches Konzept von Zeit, Arbeit und Management zu propagieren und die Venezolaner von jenen ›negativen Zügen‹ zu befreien, die stereotypisch mit lateinamerikanischer Kultur verbunden wurden« (Tinker Salas 2009: 195). Venezuela war nach der Nationalisierung der mexikanischen Ölindustrie das einzige Land in Lateinamerika, das ausländischen Ölfirmen Zutritt zu ihren Ölressourcen gewährte. Umso wichtiger war es für amerikanischen Ölfirmen, ihre Beteiligungen und Investitionen in der venezolanischen Ölproduktion zu wahren. Sie taten dies unter anderem, in dem sie sich selbst – wie Tinker Salas ausführlich argumentiert – als Teil und Förderer der venezolanischen Nation inszenierten und betätigten (Tinker Salas 2009: 195ff.). Die 1940er Jahre – also jene historische Phase, in die der etwas überraschende Einbezug von indigenen Gruppen in die Verteilung der Ölrente fiel – sind insgesamt als eine Zeit zu betrachten, in der die internationale Konstellation für die Verhandlungsposition Venezuelas gegenüber den im Lande tätigen Ölkonzernen außerordentlich günstig war und zugleich der politische Wille vorhanden, diese Position auch zur Aushandlung einer akzeptablen, nationalen Ölrente zu nutzen. Des Weiteren standen die internationalen Ölkonzerne unter extremem Druck und einem gemäßigten Interessensausgleich nicht im Wege. Der deutliche Anstieg staatlicher Besteuerung während dieser Zeit konnte schließlich durch die wachsende Produktion und Rentabilität venezolanischen Öls mehr als wettgemacht werden. Mit dem Ölgesetz von 1943 wurden höhere Tantiemen und Steuern dauerhaft festgeschrieben, im selben Atemzug wurden jedoch große Konzessionsgebiete
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zusätzlich ausgewiesen oder formal für vierzig Jahre erneuert. Allein in den Jahren 1944 und 1945 wurden mehr als sechs Millionen Hektar an Konzessionsfläche neu vergeben und damit etwas mehr als in den dreißig Jahren zuvor unter Gómez und Lopez Contreras (Betancourt 1979: 87). Dabei standen nun auch große Gebiete im Osten des Landes zur Vergabe, in den Bundesstaaten Anzoátegui und Monagas, wo die Ölförderung erst in den 1930er Jahren in größerem Maßstab begonnen hatte. Was bewog nun amerikanische Ölfirmen gerade dort lebende indigene Gruppen als rechtmäßige Grundbesitzer anzuerkennen und diese entsprechend für die Nutzung ihrer Gebiete zu entschädigen? Ich komme heute vor dem Hintergrund neuerer Recherchen und Überlegungen zu einer etwas anderen Bewertung als in Grimmig (2007), wo ich vor allem die Begrenztheit der indigenen Teilhabe an der modernen Ölnation herausstellte. Das Entscheidende erscheint mir nun nicht so sehr die Tatsache, dass hier eine indigene Gruppe mit prekärem kulturellen Status in der venezolanischen Gesellschaft eine ökonomisch vermittelte Anerkennung über den Umweg der Ölfirmen erlangte. Nicht allein wegen ihres indigenen Status wurden sie zu indios petroleros, sondern gerade weil diese Kari’ña von den Konzernen bereits als Teil oder zumindest gut denkbarer Teil der entstehenden venezolanischen Ölnation gesehen wurde. Die Ölfirmen behandelten sie ähnlich wie andere Grundeigentumsbesitzer auch, die Besitzansprüche auf Land in Ölfördergebieten geltend machen konnten und entsprechend für die externe Nutzung des Gebietes entschädigt wurden. Das heißt nicht, dass der indigene Status ihrer Vertragspartner gänzlich unbedeutend gewesen wäre. Sowohl die Ölfirmen als auch die Kari’ña selbst agierten im vollen Bewusstsein dieser Tatsache. Die ökonomische Teilhabe der indigenen Gruppen war in der Intention jedoch nicht als Akt der kulturellen Anerkennung gemeint, sondern vielmehr als ein in die Zukunft gerichtetes Integrationsversprechen, welches die Ölfirmen in ihrer Selbstinszenierung als Komplizen des venezolanischen Staates, quasi stellvertretend für diesen, ausübten. Die Kari’ña boten sich für diese Rolle sehr gut an. Schließlich handelte es sich bei den Kari’ña petroleros um indigene Gemeinschaften, die sich – zumindest äußerlich und territorial – bereits stark der Lebensweise venezolanischer criollos in diesen Regionen angenähert hatten. Sie gehörten zu einer Gruppe, die Fleury in den 1950er Jahren als »desheredados de la fortuna« kategorisiert, als die vom Glück Verlassenen, weil sie im Unterschied zu den »unzugänglichen Indigenen« im Süden Venezuelas, die nach seiner
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Einschätzung weitgehend unberührt von jeglicher Zivilisation ihre kulturellen Traditionen und ihr Land bewahren konnten, kontinuierlich den Einfluss europäischer Konquistadoren zu spüren bekommen hatten und wie andere nördlich des Orinoko lebenden indigenen Gruppen bereits stark mestizisiert waren (Fleury 1953: 69). Auch zu späteren Gelegenheiten wurden diese Kari’ña immer wieder gerne als Alibi oder Beweis für die Integrationsfähigkeit des ›Anderen‹ herangezogen, gerade weil sie in vielerlei Hinsicht schon eingeschlossen waren. In dem Maße, wie Öl die Modernisierung und Entwicklung der nördlichen Regionen in Venezuela vorantrieb, schienen auch sie in der sich transformierenden criollo-Gesellschaft aufzugehen und Teil jener integrativen Vision einer undifferenzierten nación de mestizaje zu werden, die das nationale Selbstbild Venezuelas im frühen 20. Jahrhundert stark geformt hat (Skurski 1994; Wright 1993).1 Und umso größer musste im selben Zuge die Distanz zu jener Mehrheit der Indigenen erscheinen, die zurückgedrängt in peripheren Randlagen der Gesellschaft lebten, wie beispielsweise jene anderen Kari’ña in Imataca. Dies trug zur weiteren Polarisierung des Blicks auf Venezuelas Territorium und indigene Bevölkerung bei, wie er in Fleury Cuellos Gegenüberstellung von Indigenen mit intensiver Kontaktgeschichte und solchen ohne diese Geschichte deutlich zum Ausdruck kommt. Der polarisierte, zweigeteilte Blick fügt sich geschmeidig ein in eine bis heute weit verbreitete Repräsentationsfigur von Venezuela als Land des Gegensatzes. Der mächtige Orinokostrom fungiert dabei als physisch wie symbolisch wirksame Scheidelinie zwischen einem zivilisierten, modernen und urban geprägten Norden und einem wilden, naturwüchsigen und unterentwickelten Süden (Belton 1998). Die große Landnahme Das Ende der kolonialen Herrschaft brachte für Venezuelas indigene Bevölkerung entgegen aller Versprechungen zunächst wenig Positives. Statt-
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Die Erinnerung und vielleicht auch die Sehnsucht nach dem alten, vorindustriellen bäuerlichen und indigenen Leben lebt jedoch bis heute in einem um diese Zeit in Caicara in Monagas entstandenen Kult, dem sogenannten »Day of the Monkey«, der dort jedes Jahr am 28. Dezember gefeiert wird, als ritueller Akt fort (Guss 2000).
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dessen sahen sie sich mit einem umfassenden Prozess der Landprivatisierung und -konzentration konfrontiert, in dessen Zuge auch ein Großteil indigenen Landes enteignet wurde. Besonders betroffen waren Regionen im Zentrum und Osten des Landes, wo viele der sogenannten resguardos indígenas von Großgrundbesitzern usurpiert oder in Brachland (tierras baldías) umgewandelt wurden. War das Land einmal als solches Brachland definiert, so fiel es automatisch dem venezolanischen Staat zu, der es ggfs. neu verteilen konnte. Die kommunalen Landrechte in den resguardos indígenas waren ihrerseits von der spanischen Krone großenteils erst nach der Abschaffung des encomienda-Systems im frühen 18. Jahrhundert verliehen worden. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden auf diese Weise mehr als 300 indigene Gemeinden in den zentralen und östlichen Teilen des Landes mit Landtiteln ausgestattet, was aber schon bald zu erheblichen Konflikten mit den Großgrundbesitzern der criollo-Elite führte. Der Landtitel, auf dem der Vertrag mit den zwei Ölfirmen in Cachama beruhte, wurde bereits im Jahr 1783, also noch zu spanischen Zeiten ausgestellt. Im Jahr zuvor hatte der spanische König einen Beauftragten der Audienz von Santo Domingo, Luis de Chávez y Mendoza, in die Provinzen Nueva Andalucía und Nueva Barcelona beordert, vor allem um in die dortigen Landkonflikte vermittelnd einzugreifen. Im Falle der Kari’ña in Cachama war der Anlass der Klagen, dass sie in den Jahren zuvor aus dem Gebiet der Mission Chamariapa an diesen Ort am Rande der Mesa de Guanipa verdrängt worden waren und sich auch dort schon wieder in ihrer Landnutzung eingeschränkt sahen. Die Mission – heute heißt der Ort Cantaura – war 1740 von Franziskanern für die Zusammenführung und Missionierung der Kari’ña in der Region gegründet worden; schon bald jedoch wurde die resguardo mit ihren vergleichsweise guten Böden schrittweise von Kreolen übernommen, die sich in der Nähe ansiedelten. Nach einer Ortsbesichtigung und Vermessung am 21. Oktober 1783 wurde dem Wunsch der Kari’ña von Cachama entsprochen und ihnen zwei leguas Land des ehemaligen resguardo zusätzlich übertragen. Mit dem zumindest teilweise zugelassenen Rechtspluralismus und Rechtschutz der indigenen Ländereien unter den leyes nuevas der spanischen Kolonialherrschaft war es nach der Unabhängigkeit rasch vorbei. In der neuen Republik wurden die resguardos schrittweise aufgelöst. Entgegen republikanischen Versprechen und Dekreten wurden sie jedoch nicht durch neue Landtitel für die indianischen Gemeinden ersetzt. Mit einer
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Vielzahl gleichsinniger Gesetze, die zwischen 1811 und 1936 erlassen wurden, sollten die Indigenen stattdessen im liberalen Sinne in die Gemeinschaft der Nation integriert werden, so jedenfalls die Begründung während großer Teile des 19. Jahrhunderts, indem ihnen individuelle Landtitel aus den aufgeteilten kommunalen Ländereien zugesprochen würden. De facto bestanden solche Umwandlungen aber fast nur auf dem Papier und die Gesetze bewirkten allesamt eine fortschreitende Zerstückelung und Enteignung der bisherigen resguardos, die »verheerende Folgen für die territoriale Organisation der meisten indigenen Gruppen« zeitigte (Schulz 1994: 39; vgl. a. Kuppe 1987). Weiterbestehen durften nach einem Gesetz aus dem Jahre 1882 lediglich die resguardos indígenas in der Guajira, dem Amazonasgebiet und dem oberen Orinoko. Existenz und Sonderrechte der indigenen Bevölkerung waren in Venezuela damit zumindest formal und offiziell auf periphere Randlagen im Süden und Westen von Venezuela beschränkt. In der neuen Rechtsordnung schlug sich der wachsende politische und ökonomische Einfluss von Grundbesitzern nieder, die für ihre Dienste im Befreiungskampf Land zugesprochen bekamen. Die landbesitzenden Klassen wurden zu einflussreichen politischen Eliten in der jungen Republik während indigene Gruppen und Mestizen, deren militärische Beteiligung auf Seiten der Patrioten in den Unabhängigkeitskriegen maßgeblich zum Sieg beitragen hatten, sukzessive ihrer Landbasis beraubt wurden. In einem umfassenden und unvergleichlichen »Prozess der Usurpation […], der in jeder nur denkbaren Weise die geltende Ordnung der Landaufteilung im kolonialen Venezuela in den Schatten stellte« gelang es den latifundistas große Teile des kultivierbaren Landes in Venezuela auf sich zu vereinen (Brito Figueroa 1996: 475). Nach 400 Jahren conquista war die indigene Bevölkerung in fast allen nördlichen und zentralen Teilen Landes praktisch ›ausgestorben‹, und ihre vollständige territoriale und soziale Integration bzw. Auslöschung erzielt. Diesem Prozess der »systematischen Vertreibung indianischer Gemeinden und des Landraubs« waren im Landesinneren »wie durch ein Wunder« überhaupt nur die Kari’ña in Anzoátegui und Bolívar sowie die Yaruro in Apure in relevanten Teilen entgangen (Schulz 1994: 50). Die erhalten gebliebenen Kari’ña-Gebiete hatten jedoch wenig mit ihren präkolonialen Territorien gemein, sondern waren aus den alten kolonialen resguardos hervorgegangen (Amodio 1991: 304; vgl. Civrieux 1976). Amodio (1991) hat diesen Prozess für die Kari’ña im venezolanischen Osten näher untersucht und gezeigt, wie konflikthaft die entsprechenden
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Abläufe hier waren, wobei es verschiedentlich zu Klagen und sogar zu offenen Aufständen kam. Unterstützung hatten die indigenen Gruppen dabei nur in seltenen Fällen von den örtlichen Eliten zu erwarten, da diese häufig selbst Großgrundbesitzer waren oder in diesen ihre Machtbasis fanden. Zumindest in einigen Fällen gelang es ihnen jedoch, effektive Allianzen zu bilden, so etwa in der damaligen Provinz Barcelona mit den föderalistisch orientierten Generälen Monagas während der blutigen Kriegsjahre 18591863 (ebd.: 292, vgl. Civrieux 1976). Viele der Kari’ñafamilien überlebten den Ethnozid, indem sie das meist karge Land zwischen den einzelnen Viehzuchtbetrieben bearbeiteten oder sich auf weniger zugängliches und unwirtlicheres Terrain zurückzogen, das sie zu bewirtschaften lernten. Dazu zählten beispielsweise sumpfige Morichepalmstände, sogenannte morichales, die sie mittels eines elaborierten Grabensystems entwässerten und die ein charakteristisches Kennzeichen ihrer subsistenten Wirtschaftsweise wurden (Denevan/Schwerin 1980: 5f.). Nicht selten verrichteten Männer aus den Familien Lohn- und Fronarbeit auf den Haziendas. Es entstand eine Art Doppelleben zwischen Siedlungen und Haziendas, in dem Amodio eine wesentliche Ursache dafür sah, dass sich ein »Minimum an sozialer Kohäsion und Selbstidentifikation erhalten konnte, der die Basis bildete für den indigenen Widerstand, sich nicht vollständig assimilieren zu lassen« (ebd.: 291). Diese Form der zirkulären Migration hat sich bis in die heutige Zeit erhalten (vgl. Conaway 1977). Im Gegenzug für ihre ökonomischen Dienste auf den Haziendas wurde ihnen eine kleine Parzelle für Landwirtschaft sowie eine gewisse soziale und kulturelle Autonomie im Alltag gewährt, die den Großgrundbesitzern wiederum durch gute und zuverlässige Arbeit ›gedankt‹ wurde. Das indigene conuco entstand hier also in veränderter Form wieder; es fungierte nun primär als Lohnersatz für Arbeitsaufwand in den Haziendas und als Mittel, um Arbeitskräfte an den Ort zu binden. Im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern bedeutete dies eine gewisse Umkehr in der Entwicklung, insofern in Venezuela semifeudale Haziendas den kolonialen Plantagen erst nach der Unabhängigkeit folgten. Im Unterschied zu verschiedenen Migrantengruppen, die gerade im Sog der Ölindustrie vermehrt in die Gegend kamen, standen die überlebenden indigenen Familien damit auch nicht in Konkurrenz zur lokalen KreolenBevölkerung (ebd.). Mit dem Vormarsch der Ölindustrie ab den 1930er Jahren geriet diese prekäre Nischenstellung der Kari’ña weiter unter Druck. Durch das Öl stieg
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der Wert von Land beträchtlich, was zu zahlreichen Konflikten und Auseinandersetzungen führte und die ohnehin unsichere territoriale Basis der Kari’ña weiter gefährdete. Bereits Anfang der 1930er Jahre verloren die späteren Ölindianer, die Kari’ñagemeinde von Cachama, ein Viertel ihres Landes über einen Mittelsmann an just jene Ölfirma, die ihnen später vertraglich eine Ölrente zusicherte. Auch nach Abschluss des Vertrags gelang es ihnen nicht, dieses Land zurückzugewinnen (Schwerin 1966: 26; vgl. Morales Méndez 1983: 5). Sowohl vor als auch nach der vertraglichen Zugangsregelung war die Geschichte der indios petroleros in Anzoátegui und Monagas demnach konfliktiver als der Akt selbst zu signalisieren scheint. Ähnlich prekär schien es um ihre ›Kultur‹ bestellt. So beschrieb der venezolanische Ethnologe Walter Dupouy, der Fleury Cuello auf seinem Besuch der Kari’ñasiedlungen Cachama und San Joaquín in der Mesa de Guanipa im Januar 1953 begleitete, zusammenfassend als eine indigene Gruppe mit »einer Kultur analog oder ähnlich wie die des venezolanischen Kleinbauers, was sich durch den langen Kontakt mit dem criollos erklärt, von dem er Teil der ländlichen Armutskultur, die an sich schon eine Mischung [mestizada] darstellt, übernommen oder adaptiert hat« (Dupouy 1953: 95). Ihr Besuch stand auch im Zusammenhang mit ihrer Funktion als Mitglied der ersten in Venezuela eingerichteten staatlichen Stelle für indigene Angelegenheiten, der 1947 gegründeten Comisión Indígena Nacional, in derem Auftrag sie die Kari’ña über strittige Landrechtsfragen und Probleme im Umgang mit den Ölfirmen befragten. Indigene als ›Integrationsproblem‹ – Herausforderungen und Mobilisierungen Die Einrichtung der Comisión Indígena Nacional im Jahre 1947 läutete eine Wende in der venezolanischen Indigenenpolitik ein, die bis dahin eigentlich nur aus finanziellen Zuwendungen an Missionen der katholischen Kirche bestanden hatte. Vor allem Gómez hatte den seit dem Ende der spanischen Herrschaft verbannten Missionen schrittweise wieder weitreichende Befugnisse in den peripheren Gebieten des Landes eingeräumt, weniger wohl motiviert durch religiöse Ansinnen als durch den Wunsch, »dem Vordringen der Engländer und Brasilianer in den Grenzregionen eine Kraft entgegenzusetzen« (Schneider 1994: 46). Bereits in der ley de misiones von 1915 wurde hierzu der Grundstein gelegt, indem den Missionen explizit
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und exklusiv die Aufgabe zugeteilt wurde, die indigene Bevölkerung dieser Regionen zu »konzentrieren und zu zivilisieren« (reducir y civilizar). In mehreren Richtlinien und Regulationen der folgenden Jahre wurde an sie praktisch die »gesamte staatliche Gewalt [abgegeben], sowohl in Belangen der Rechtsprechung als auch der Verwaltung, des Erziehungswesens und faktisch auch weitgehend die Verwaltung der wirtschaftlichen Nutzung der Regionen übertragen.« (Ebd.) Erst in den 1940er Jahren zeigte der venezolanische Staat zaghafte Schritte, selbst aktiv zu werden. Den Anstoß zu dieser Entwicklung gab wohl die Gründung des Instituto Indigenista Interamericano im mexikanischen Pátzcuaro 1940, an der auch eine venezolanische Delegation teilgenommen hatte. Im Zentrum dieser von Mexiko ausgehenden neuen Betrachtungsweise waren die Wahrnehmung und das Begreifen der indigenen Bevölkerung als gesellschaftliches ›Problem‹, in dem sich zwar auch ein gewandeltes und weniger diskriminierendes Verständnis dem indigenen Gegenüber niederschlug. Die Lösung des Problems sah man jedoch weiterhin in der wohlmeinenden, doch letztendlich nicht weniger diskriminierenden Integration der indigenen Gemeinschaften in die entsprechende nationale Gesellschaft. Der Auftakt dieser neuen indigenistischen Politik mit ihrem integrationistischen Ansatz stand in engem Zusammenhang mit einem stärker werdenden Selbstbewusstsein lateinamerikanischer Nationen, die sich gegenüber einer immer stärker vernetzten, kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung oft erst noch finden mussten, wie auch die Kämpfe um die Verteilung der Ölrente zwischen amerikanischen Ölfirmen und der venezolanischen Regierung in dieser Zeit anschaulich machten. Auf der Konferenz in Mexiko hatte die venezolanische Delegation zunächst noch jegliche Existenz eines Indigenenproblems in ihrem Land bestritten, mit dem Verweis, dass es in Venezuela überhaupt keine nichtakkulturierten Indigenen mehr gebe (Heinen 1994). Erst während des kurzen demokratischen Aufbruchs in der Zeit des trienio entstanden klar erkennbare staatliche Strukturen, die sich direkt mit indigenen Angelegenheiten befassen sollten. Die Konvention von Pátzcuaro wurde 1946 ratifiziert und in der Folge wurden die Comisión Indigenista Nacional (1947) sowie das Oficina de Migraciones y Colonización (1948) gegründet, aus dem später das nationale Agrarinstitut (IAN) hervorging. Bis Ende der 1950er Jahre blieb die generelle Vorherrschaft der Missionen in den peripheren Regionen allerdings unangetastet und wurde unter dem Diktator Pérez Jiménez
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(1950-1958) sogar erneut gestärkt. So ergab sich die geradezu skurrile Situation, dass die bestehende Comisión Indigenista ihre Zuständigkeiten zunächst nur außerhalb der Missionsgebiete wahrzunehmen hatte, also nur in den Gebieten, in denen definitionsgemäß keine Indigenen lebten – bis auf die wenigen, oben genannten Reste von Kari’ña und Yaruro. ArveloJiménez (1984: 110) nennt eben diese Konstellation als Grund dafür, dass die Indigenenkommission ihre Anstrengungen auf die rechtliche Situation und insbesondere die Landtitel der Kari’ña konzentrierte. Die politische Aufmerksamkeit staatlicher Behörden war den Kari’ña im Bundesstaat Anzoátegui Ende der 1940er Jahre jedenfalls gewiss, und man kann hierin einen Grund dafür annehmen können, dass sich die Ölfirmen 1947/48 mit den oben skizzierten Verträgen um ein bisher ungekanntes Arrangement mit indigenen Gruppen bemühten, welches sie wenige Jahre zuvor noch nicht für nötig gehalten hatten (und in den peripheren Regionen des Westens auch weiterhin nicht für nötig hielten). Die Kari’ña in den östlichen Llanos blieben auch in den nächsten Jahren im Fokus staatlicher Bemühungen, Zivilisierung und Integration der Indigenen voranzutreiben. Nach Amodio sind sie »eine der indigenen Gruppen Venezuelas mit den intensivsten Beziehungen zu staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen« (Amodio et al. 1991: 34). Umgeben von landhungrigen Viehzüchtern und Ölfirmen blieb die Sicherung von Land und Landrechten eine der zentralen Herausforderungen. Schließlich waren in den seltensten Fällen Gebietsgrenzen fest fixiert, sondern wurden in einem kontinuierlichen Kräftemessen mit privaten, staatlichen und anderen gesellschaftlichen Akteuren immer wieder aufs Neue austariert, oft zuungunsten der Kari’ña. Auch die Kari’ña selbst verharrten nicht notwendigerweise fest an ihrem Ort, wie klassische ethnische Landkarten gerne suggerieren. Orte, Größe und Zusammensetzung ihrer Siedlungen sind dynamische soziale und demographische Strukturen, die wiederum veränderte territoriale Bedürfnisse nach sich ziehen können. Es überrascht nicht, dass gerade unter dem Einfluss der Ölindustrie verstärkt Umbrüche und Veränderungen in der sozialen und territorialen Organisation der Kari’ña beobachtet wurden. Schwerin (1966) hat die Gemeinde Cachama Anfang der 1960er Jahre in einer Kulturwandelstudie untersucht. Er sah dabei eine Reihe von Veränderungen in Zusammenhang mit dem Aufkommen der Ölindustrie, darunter auch eine »steigende Tendenz sich in den Gebieten zu sammeln, wo legale Titel in den Händen der Karinya Gemeinschaft verbleiben«. Als eine der
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ersten Comunidades, die reguläre Gelder von den Ölfirmen einstrich, traf dies in besonderer Weise auf die Gemeinde Cachama zu, auf deren Territorium eine Reihe neuer Nachbarschaften und Weiler entstand, wodurch das kultivierbare Land in dieser ohnehin schon kargen Gegend zunehmend knapp wurde. Schwerin beobachtete zudem zahlreiche Konflikte und Fraktionenbildungen in der größer werdenden Gemeinde, die für ihn zu den auffälligsten Erscheinungen und Effekten der Ölindustrie gehörten (ebd.: 28, 101f., 225f.). Die Gruppenbildung war dabei eng an die Residenzmuster gebunden, die sich aber von einer verwandtschaftlichen Ordnung zunehmend abgelöst hat: die matrilineare Ordnung mit ihrem matrilokalen bzw. (mit Schwerin) ›matrivicinalen‹ Siedlungsmuster wurde zunehmend durch virilokale Residenzmuster überlagert, die mit stärker ortsteilbezogenen sozialen Identifikationen einhergingen. Entlang der Grenzen dieser Ortsteile bzw. Nachbarschaften verliefen dann auch die Linien tiefer Zerwürfnisse bzw. nachgelagert eine politische Fraktionenbildung. Schwerin ließ kaum einen Zweifel daran, dass diese Zerwürfnisse letztlich auf den rapiden Einbruch der Ölindustrie zurückzuführen waren, der »fast explosionsartig« über den Ort kam (ebd.: 229). Dieser von Schwerin diagnostizierte Prozess der sozialen Auflösung und Fragmentierung in Cachama, den er unmittelbar in Verbindung bringt mit dem Status der Kari’ña als erste indigene Rentiers des venezolanischen Ressourcenreichtums, weist verblüffende Parallelen auf mit der gegenwärtigen Situation der Kari’ña im Südosten Guayanas, insbesondere wie sie im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Goldmine Fangol in Imataca geschildert wurden. Auch hier bezahlten die Kari’ña für ihre Beteiligung an den Gewinnen einer Goldmine auf ihrem Territorium einen hohen sozialen Preis (s. Kap. 3). Nach dem Sturz der Diktatur von Pérez Jiménez (1950-1958) kam neue Bewegung in die staatliche Indigenenpolitik. Vor dem Hintergrund der Kubakrise und verstärkten Guerillaaktivitäten im eigenen Land verabschiedete die neu gewählte demokratische Regierung der Acción Democrática (AD) unter Rómulo Betancourt 1960 ein Agrarreformgesetz, das damals einem Meilenstein in der venezolanischen Indigenenpolitik gleichkam. Zum ersten Mal nach der Unabhängigkeit schrieb es Rechte der indigenen Bevölkerung auf Nießbrauch der Ländereien, Wälder und Gewässer fest, die sie gewohnheitsmäßig bewirtschafteten, ohne dass ihre Rechte als venezolanische Staatsbürger davon berührt wurden. In der Konzeption und Durchführung
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war das Gesetz jedoch stark auf die bäuerliche criollo-Bevölkerung zugeschnitten und ließ Sensibilität für ethnische Besonderheiten – in der Art der Landnutzung, der Organisation von Produktion, den Eigentumsvorstellungen vermissen. De facto bedeutete dies, dass Ländereien, die nicht den eng gesteckten gesetzlichen Vorgaben einer produktiven, wirtschaftlichen Nutzung entsprachen, aber in anderer Form eine kulturelle Bedeutung für die Indigenen hatten, ihren Status als tierras baldías behielten. Rechtlich ungesichert blieben auch Gebiete indigener Gruppen in den sogenannten Sonderverwaltungsgebieten wie Nationalparks und Forstreserven und anderen Schutzgebieten und damit natürlich auch die gesamten Siedlungsgebiete der Kari’ña in der Forstreserve Imataca in Guayana. Gerade in den südlich gelegenen Bundesstaaten, wo Venezuelas indigene Bevölkerung mehrheitlich lebt, nehmen solche Sonderverwaltungsgebiete beträchtliche Ausmaße an. Das Agrarreformgesetz und die fast zeitgleich verabschiedete demokratische Verfassung Venezuelas von 1961 waren durchdrungen von einer sichtlichen Ambiguität staatlichen Denkens und Handelns gegenüber der indigenen Bevölkerung. Einerseits wurde konform mit westlicher Fortschrittsideologie deren Zivilisierung und Integration in die Nation angestrebt, andererseits aber besaßen diese anerkanntermaßen ethnische Besonderheiten, die sie – zumindest rhetorisch – durchaus auch behalten sollten. Am Beispiel der anhaltenden Landkonflikte bei unseren Ölindianern in Anzoátegui lässt sich diese Ambivalenz der staatlichen Indigenenpolitik anschaulich verfolgen. Außergewöhnlich viele Kari’ña-Comunidades in den Ölfördergebieten der Mesa de Guanipa kamen in den Genuss zumindest provisorischer Landtitel durch das IAN (Amodio et al. 1991: 44-52; Morales Méndez 1983). Mit ihrer kleinbäuerlichen Lebensweise waren ihre Landnutzungsmuster und territorialen Ansprüche offenbar besonders mit der Logik staatlicher Territorialität kompatibel. Umgekehrt barg ihre zumindest äußerliche Anpassung an bäuerliche Lebensformen jedoch die Gefahr, dass ihnen eine eigenständige indigene Identität und Kultur abgesprochen wurde, an die indigene Sonderrechte wie Landrechte oder kulturelle Autonomie historisch eng geknüpft wurden. Einige Kari’ña-Comunidades, darunter auch unsere Ölindianer von Cachama, mussten immer wieder um die Anerkennung ihrer kolonialen Landtitel kämpfen und beschritten dabei neue juristische Wege, die sie in den 1970er Jahren bis vor den Obersten Gerichtshof führte. In allen Fällen wurde die Klage mit dem juristischen
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Hinweis abgewiesen, dass es in diesen Regionen keine Indigenen mehr gebe (Fernández 1981). Gerade von konservativen politischen Eliten in Venezuela wurde die Legitimität indigener Sonderrechte gerne an dem Fortbestehen äußerlich sichtbarer Traditionen und kultureller Lebensweisen festgemacht – eine Engführung ethnischer Identität, die im Zusammenhang mit der Ökologisierung der indigenen Völker in den letzten Jahrzehnten in anderer Form wieder politischen Aufwind erfahren hat. Solche Vorstellungen und Argumentationen, wonach Menschen indigener Herkunft, die zum Beispiel als Goldsucher arbeiten, oder sonst wie moderne Techniken, Ressourcen, Produktionsweisen und Organisationsformen in ihr Leben integriert haben, ›keine Indigenen mehr sind‹ und damit ihr Recht auf Sonderbehandlung verlieren, sind auch im heutigen Venezuela durchaus verbreitet. Sie spiegeln nach Mosonyi (1993) ein historisch tief verankertes evolutionistisches Denken in Venezuela wider, das kulturelle Identität vor allem an sozioökonomischen Standards und Praktiken misst und insgesamt stark auf Integration und Mestizisierung gesellschaftlicher Gruppen abzielt. Die Ressourcenkonflikte der Kari’ña in Anzoátegui, die sich äußerlich kaum von der bäuerlichen Gesellschaft unterscheiden, waren demnach immer auch Kämpfe um Anerkennung, in denen Bedeutungen, Bedingungen und Definitionen des Indigenen-Seins ausgefochten wurden. Dass die Kari’ña diesen Spagat zwischen Anpassungsdruck und Differenzanspruch bislang ohne Verlust einer wie auch immer gearteten, indigenen Identität durchhalten konnten, ist vielleicht ihr größter politischer Erfolg. Auch in Chávez’ bolivarianischer Republik mit »plurikulturellem Charakter« bleibt eine gewisse Doppeldeutigkeit im Umgang mit kultureller Differenz erkennbar. Auch hier bestätigt sich einmal mehr die besondere Rollenzuschreibung der Kari’ña in den östlichen Llanos als Legitimation und Affirmation des vollzogenen Schulterschlusses mit dem indigenen Volk. Von den wenigen bisher tatsächlich umgesetzten Demarkationen und Titulierungen von Land sind sie bislang überproportional begünstigt worden (Leal González 2006: 214; Scholz/Mansutti 2008). Offensichtlich werden auch in Chávez’ Republik vor allem solche indigenen Gemeinden rechtlich begünstigt, die sich in Lebensstil, Wirtschaftsweise und territorialer Organisation weitgehend an die lokale Landbevölkerung angepasst haben. Weniger kompatibel mit nationalistischem Diskurs und ökonomischem Interesse scheinen dagegen größere zusammenhängende Gebietsansprüche
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indigener Gruppen im ressourcenreichen Guayana und Amazonas. Hier zeigt sich die Regierung von Chávez bei aller positiven Symbolpolitik de facto bislang wenig bereit, ihr Versprechen von ethnischer Selbstbestimmung und territorialer Autonomie einzulösen.
D ER MAGISCHE S TAAT UND EROBERUNG DES S ÜDENS
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In jene südlich des Orinoko gelegenen Regionen Venezuelas führt uns nun der zweite Teil unserer Geschichte vom Öl und den Kari’ña. Guayana ist das Zauberwort – hier sollte das Öl, das in der Nordhälfte des Landes gefunden wurde, in den 1960er und 1970er Jahren »gesät« werden, um, wie es hieß, den Süden zu erobern. Es war eine Zeit des Aufbruchs in Venezuela. Mit der Regierung von Rómulo Betancourt (1958-1963) begann 1958 nach langjähriger Militärdiktatur nicht nur eine neue, bis heute andauernde demokratische Ära in Venezuela, sondern auch eine Phase umwälzender wirtschaftlicher und politischer Reformen, die als nationalistischer Feldzug für Demokratie, Souveränität und Modernisierung inszeniert wurden. In Bildbändern jener Zeit wird uns ein Venezuela vorgeführt, das offenbar mit allen Kräften den Anschluss an die Moderne und den Fortschritt sucht. Und es konnte in der Tat bereits beachtliche Erfolge vorweisen: allen voran die unaufhaltsam wachsende Hauptstadt Caracas, wo sich der materielle Fortschritt, den die Öldevisen ermöglichen, in gut ausgebauten Straßen, schicken Einkaufszentren, schmucken Plätzen und Repräsentationsbauten aus Beton und Glas einen immer beeindruckenderen Anstrich von moderner Funktionalität verschafft. Und natürlich manifestiert sich der Fortschritt auch in jenem Sektor, auf dem er maßgeblich beruht: der Ölindustrie, wo modernste Technologien und Produktionsmittel zum Einsatz kommen, aber auch in dem gigantischen Schwerindustriekomplex, der gerade im Bundesstaat Guayana aufgebaut wird. Aus dem relativ rückständigen Agrarland, das es zu Beginn des Jahrhunderts gewesen war, ist ein »Wirtschaftstraumland [geworden], dessen prosperierende städtische Zentren mit einer Flut von Importen unversehens Zugang zu allen Errungenschaften des Fortschritts erhielten« (Gerdes 1992: 128). Dieses Bild von Venezuela als aufstrebendes Entwicklungsland hat weit über die Landesgrenzen hinaus gewirkt: Nicht umsonst lässt auch Max Frisch in seinem berühmtesten Roman
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einen Vertreter der technischen Elite Europas, Walter Faber, in die Metropole Caracas reisen, um dort mit seinem know-how am Modernisierungsprozess mitzuwirken – und es ist hier auch durchaus passend, dass der Homo Faber in seiner Hybris schließlich von einem ebenso realen wie metaphorischen Urwald eingeholt wird (vgl. Langlo 2000: 181f.). Der unbändige Wille zum Fortschritt und der fast grenzenlose Glaube daran haben nirgendwo außerhalb Caracas so sehr ihren Ausdruck gefunden wie in der Region Guayana. Sie wurde mit Beginn der 1960er Jahren zur Schlüsselregion eines ambitiösen, in seinen Ausmaßen wahrhaft gigantischen Entwicklungs- und Industrialisierungsvorhabens, welches in seiner visionären Größenordnung selbst amerikanische Ökonomen zu beeindrucken vermochte (vgl. Friedmann 1966: 123ff.). Mit »exzellenten Aussichten für die Viehwirtschaft und der Exploitation riesiger Forstreserven«, mit »fantastischen Eisenlagerstätten«, mit »bedeutenden Vorkommen von Mangan, Nickel, Chrom, Gold und Diamanten«, und nicht zuletzt dem »enormen Potenzial an Wasserenergie« (Jones 1963: 180), wurde der Region eine vielversprechende Zukunft vorhergesagt, die schon in Bälde den weltweit führenden Industriestandorten in nichts nachstehen würde, wie der amerikanische Ökonom H. Jones in einer Eloge über Guayana schwärmte: »Hence, it is against this background that we draw our conclusions, emphasizing the great material and spiritual significance which the development of Guayana holds for the people of Venezuela. It is reasonable to predict that within a span of a few years the Guayana region shall be for Venezuela, relatively speaking, what Pittsburgh is to the United States, the Ruhr is to Germany, and the Urals are to the Soviet Union. This great industrial complex will not only furnish the growing needs of the nation, but will definitely make Venezuela a strong and vigorous participant in the Latin American Common Market, as well as other related markets of the world.« (Jones 1963: 191)
Beeinflusst von der um sich greifenden Planungseuphorie jener Zeit machte sich die junge demokratische Regierung unter Betancourt mit beherzten Schritten daran, ihr neues ›Guayana‹ aufzubauen. 1958 wird die bis heute wichtigste, und sehr einflussreiche, nationale Planungsbehörde, das Oficina Central de Coordinación y Planificación (CORDIPLAN), eingerichtet und mit der Aufgabe betraut, im Rahmen sogenannter planes de nación – nationaler Entwicklungspläne – die Ressourcennutzung zu optimieren und zu ra-
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tionalisieren« sowie ein harmonisches und ausgeglichenes Wirtschaftswachstum zu verwirklichen. CORDIPLAN war dabei weit mehr als nur eine technische Planungsbehörde. Trotz zunächst bescheidener Erfolge gelang es der Institution, eine breite Öffentlichkeit für ihre Projekte zu begeistern. Sie war »Werbefachmann und Verkäufer des ›Mythos Entwicklung‹« zugleich (Levy 1968: 120) und sorgte für Legitimität und Akzeptanz bei wichtigen politischen Entscheidungen in der Regionalentwicklung. Schon im ersten plan de nación, einem klassischen Vierjahresplan, der 1960 vom Kongress präsentiert wurde, sind die Ressourcen von Guayana – vor allem Eisen, Mangan, Bauxit und Wasser – als »Stütze und wesentliche Triebfeder für die Industrialisierung des Landes« genannt (CORDIPLAN 1960). Und dort machte man sich nun auch zügig an die Umsetzung der Pläne und Visionen. Zunächst wurde 1960 mit der Gründung der para-staatlichen Corporación Venezolana de Guayana (CVG) die institutionelle Grundlage für die Planung und Ausgestaltung des anvisierten ›Entwicklungspols Guayana‹ geschaffen. Neben der wissenschaftlichen Erforschung und Inventarisierung des natürlichen Ressourcenpotenzials der Region bestand eine prioritäre Aufgabe darin, das hydroelektrische Potenzial des Caroní durch den Bau eines Staudamms (Guri) nutzbar zu machen, der zu den größten der Welt zählen sollte, um mit der dort gewonnenen Energie den Aufbau einer indústria básica, einer Schwerindustrie, bestehend vor allem aus der Verhüttung von Eisenerzen und Aluminium, zu realisieren. Bereits Mitte der 1950er Jahre hatten US-amerikanische Firmen begonnen, die reichen Eisenerzvorräte der Region abzubauen, so dass der Ausbau hier zumindest stellenweise auf eine bereits vorhandene Infrastruktur zurückgreifen konnte (Lieuwen 1961: 118f.). Die Zielsetzungen in Guayana gingen jedoch weit über den Aufbau industrieller Großproduktionsanlagen hinaus. Es sollte »eine gänzlich neue Region tief im Inneren des Landes geschaffen werden, wo nur ein paar Jahre früher noch buchstäblich unbewohntes Gebiet gewesen war«, schrieb John Friedmann vom Massachussets Institute of Technology (MIT), der das ›Projekt Guayana‹ in den ersten zwei Jahren wissenschaftlich begleitete (Friedmann 1966: 157). Eine Stadt sollte dabei der zentrale Ausgangspunkt für eine Reihe zusammenhängender Industriekomplexe werden, die nach dem Konzept des trickle-down den strategischen Ressourcenreichtum der Region in einen stetig wachsenden Lebensstandard für die lokale Bevölkerung transformieren würden. Nach vorherrschender regionalplanerischer
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Doktrin versprach man sich damals vor allem von Städten entscheidende Entwicklungs- und Modernisierungsimpulse. Bereits 1960 konnte die offizielle Gründung der auf dem Reißbrett entworfenen und quasi aus dem Nichts entstandenen Industriestadt Ciudad Guayana in einer aufwändig inszenierten Zeremonie von Präsident Betancourt gefeiert werden (s. Coronil 1994). Wenig später folgte die Gründung von EDELCA (Electrificación del Caroní) und SIDOR (Siderúrgica del Orinoco), die sich als Subunternehmen der federführenden CVG spezifisch um die Entwicklung der Wasserenergiereserven respektive die Verhüttung der Eisenerzvorkommen kümmern sollten. Das Guayanaprojekt fügte sich ausgezeichnet in die politischen Ziele und Diskurse der neuen demokratischen Ära ein; ›Guayana‹ sollte Vorzeigeprojekt eines neuen regionalen Designs in der nationalen Wirtschaftspolitik werden, die zum ersten Mal gezielt auf die Entwicklung provinzieller Ressourcen setzte, statt sich alleine auf die Akkumulation von Reichtum und Macht in Caracas zu konzentrieren, ein durchaus fundamentaler Richtungswechsel, wenn man bedenkt, dass die zentrale Sorge der Regierungen in der Vergangenheit vor allem auf die Zentralregion Caracas ausgerichtet war. Allerdings verblieb auch hier alle Entscheidungsmacht letztlich bei den Öl-Eliten in der Metropole Caracas. Das urbane Zentrum Ciudad Guayana war als zentrale Zugangspforte in diese neue Entwicklungsregion im Landesinneren konzipiert, wo nach und nach die Saat des Öls, die sich die regierende Acción Democrática so sehr auf die Fahnen geschrieben hatte, aufgehen sollte. Hier sollte sich fortan, mit Coronil (1997: 230) gesprochen, jene »alchemistische Macht des Staates, flüssigen Reichtum in zivilisiertes Leben zu verwandeln« verwirklichen. Eine wesentliche Funktion kam dabei den reichhaltigen, natürlichen Ressourcen vor, die als neues wirtschaftliches Standbein neben der übermächtigen Ölindustrie vor allem zur Stärkung der nationalen Produktivkraft und Industrie beitragen sollten, um so nicht nur der ersehnten wirtschaftlichen Diversifizierung näher zu kommen, sondern auch um sich von den neokolonialen Fesseln ausländischer Märkte und Interessen zu befreien. Wohlfahrtseffekte für die breite Bevölkerung würden sich dann quasi von alleine ergeben (Hellinger 1991: 101ff.; vgl. Levy 1968). Diese Guayanapolitik wurde auch von den folgenden Regierungen Rául Leoni (19641968) und Rafael Caldera (1969-1974) fortgesetzt. Nicht zuletzt aus Sorge um die Verteidigung der Grenzen und der nationalen Souveränität angesichts Brasiliens Vormarsch in die angrenzende Amazonasregion erfuhren
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die südlichen Landesteile insbesondere unter der christdemokratischen Regierung von Caldera nochmals eine umfassende Aufwertung. Unter der Ägide der neu geschaffenen Entwicklungsbehörde CODESUR begann Anfang der 1970er Jahre eine weitere, großangelegte Kolonialisierungs- und Entwicklungsinitiative, die wegen ihrer aggressiven und technokratischen Ausrichtung in einer populären Rückübersetzung des Akronyms gemeinhin als conquista del Sur bezeichnet wurde. Es war die Blütezeit des desarrollismo in Lateinamerika, in der entwicklungspolitische Regierungsprogramme technokratischer Art weithin das Bild bestimmten. Da knapp die Hälfte dieser Gebiete von Indigenen besiedelt war, war eine Auseinandersetzung mit ihnen unvermeidbar. Schließlich war klar, dass CODESUR schon bald mit indigenen Angelegenheiten zu tun haben würde und tatsächlich schlossen die Zielsetzungen von CODESUR »das ›Erwachen‹ einer nationalen Gesinnung unter den Bewohnern der betroffenen Gebiete ein, sowie eine fortschreitende Anhebung des soziokulturellen und ökonomischen Standards durch Erziehungsprogramme und wirtschaftliche Entwicklungsplanungen« (Schulz 1994: 61-62). Diese in den 1960er Jahren vollzogene Abkehr von der bloßen militärischen Grenzsicherungsdoktrin hin zur geopolitischen Strategie der Entwicklung und Kolonisierung von Grenzräume stand auch im Zusammenhang mit der 1961 von der USA initiierten »Allianz für den Fortschritt«, die aufgeschreckt durch die Revolution in Kuba weitere revolutionäre Aktivitäten in Lateinamerika mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Eine ähnliche Argumentation wurde in der Indigenenfrage gefahren, die es so zu entwickeln und zu integrieren galt, dass sie eine reale und dynamische Grenze bildeten (Braveboy-Wagner 1984: 191). Mit Hilfe sogenannter promotores indígenas, im Allgemeinen zweisprachige, in Missionsinternaten erzogene junge Männer, die als Vermittler zwischen Regierungsstellen und Vertretern indigener Gemeinden fungierten, sollte die sozio-ökonomische Entwicklung der Indigenen gefördert werden. Gleichzeitig versuchte man über ein Radioprogramm, das von einem Sender in San Juan de Manapiare im Bundesstaat Amazonas in mehreren indigenen Sprachen ausstrahlte, die weit verstreute und sehr heterogene indigene Bevölkerung dieser Regionen über Ackerbau, Viehzucht, Gesundheit, Hygiene, Geschichte und Recht zu informieren und ›aufzuklären‹ (vgl. Henley 1982).
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Empresas indígenas und selektive Integration 1970 wurde eine nationale Grenzkommission im venezolanischen Außenministerium eingerichtet. Sie war für die »ordentliche Besiedlung der ›leeren‹ Räume in Grenzregionen zuständig« (Heinen 1984: 369). Mit ihrer Einrichtung reagierte die venezolanische Regierung unmittelbar auch auf die Aufstände im angrenzenden Guyana im Januar 1969, in die indigene Bevölkerungsgruppen stark involviert waren und die einen großen Zustrom indigener Flüchtlinge nach Venezuela verursachten (s. nächstes Kapitel). Der Rat setzte sich hauptsächlich aus Delegierten verschiedener Regierungsbehörden zusammen und wurde von einem kleinen festen Mitarbeiterstab unterstützt. Erstmals wurde hier eine kohärente Vorstellung davon formuliert, wie indigene Integration zu erreichen ist, nämlich über einen staatlich gelenkten Prozess der »selektiven Integration«. Hinter dem von venezolanischen Ethnologen ausgearbeiteten Konzept der selektiven Integration stand gewissermaßen die Idee eines produktiven, sich gegenseitigen ergänzenden Kulturkontakts, der alle »menschlichen, kulturellen, geistigen Werte der betroffenen Bevölkerung einschließt, während er gleichzeitig die Assimilation der wichtigsten und ursprünglichen Werte der venezolanischen Nation vorantreibt.« (Art. 5,2 Consejo Nacional de Fronteras 1970; vgl. Heinen/Coppens 1986: 369). Im Gegensatz zu den sogenannten desarrollistas, für die die indigene Bevölkerung eher ein Hemmnis in der Entwicklung der Grenzräume darstellten, versuchte man hier die kulturelle Differenz der Indigenen zu einer produktiven Synthese mit nationalen Interessen zu bringen. Wie der Begriff der selektiven Integration aber schon andeutet, war und blieb das Primat des Staates unantastbar – es waren vor allem seine Interessen und Bedürfnisse, an denen die produktiven Leistungen und Rechte der Indigenen letztlich gemessen wurden und sich zu bewähren hatten. Auch im nationalen Agrarinstitut (IAN), hauptverantwortliche Instanz für die Durchführung der Landreform, wurde in den frühen 1970er Jahren ein Programm für indigene Entwicklung begonnen, das von ähnlichen Prinzipien getragen wurde und eine neue Phase indigenistischer Politik in Venezuela einläutete – den sogenannten nuevo indigenismo. Ausgehend von der Konferenz in Barbados (1971) wollte sich dieser neu entstehende Diskurs in Lateinamerika kritisch mit den kolonialen und neokolonialen Beziehungen zwischen Nationalstaaten und den indigenen Gruppen auseinan-
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dersetzten und sich für eine selbst bestimmte Entwicklung der Indigenen stark machen (IWGIA 1971; vgl. Arvelo-Jiménez/Perozo 1983). In Venezuela fanden die Ideen des neuen Indigenismus bei einer Gruppe von jungen Aktivisten der christdemokratischen Linken großen Rückhalt, die vom Agrarinstitut aus mit drei Basisstrategien der zum Teil offenen antiindigenen Strömung in der öffentlichen Verwaltung entgegentreten wollten: erstens der Vergabe kollektiver Landtitel an indigene comunidades, zweitens der Gründung und Organisation von sogenannten empresas indígenas, kollektiven Produktionseinheiten, die unterstützt von Krediten und technischen Hilfen die wirtschaftliche Entwicklung der indigenen Gemeinschaften fördern sollten, sowie drittens der Gründung regionaler, multiethnischer Indigenenorganisationen in den Bundesstaaten, ein erster formaler Versuch, die indigene Bevölkerung politisch zu organisieren. Bei aller positiven Rhetorik fiel die Bilanz dieser neuen indigenistischen Politik in Venezuela im Rückblick gesehen ziemlich mager aus. Von den über achtzig indigenen Kooperativen beispielsweise, die die neue indigenistische Politik gründete und in Betrieb setzte, schaffte es nur eine einzige, ein gewisses Maß an produktiven Leistungen zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Alle anderen funktionierten nicht und das »trotz der Bemühungen, die jahrelang in die Planung und Durchführung der ruralen Entwicklungsprogramme eingeflossen sind, trotz der Beteiligung von Anthropologen, Soziologen und Agrarökonomen und trotz der teilweise enthusiastischen Unterstützung der Programme durch die betroffenen Indianer selbst« (Schulz 1994: 115). Gründe für das Scheitern lagen wohl vor allem darin, (wie selbst verantwortliche Ethnologen später einräumten), dass die soziokulturellen Strukturen und Organisationsformen, Eigentums- und Rechtsvorstellungen der Indigenen zu wenig berücksichtigt wurden (Heinen 1984). Statt wirtschaftliche und politische Entwicklung und Selbstorganisation zu fördern, generierten die Projekte vielfach gravierende soziale Ungleichheiten und neue ökonomische Abhängigkeiten. Zugeschnitten auf bäuerliche Lebens- und Arbeitswelten und durchdrungen von kapitalistischen Vorstellungen von Produktion, Akkumulation, Arbeit und Eigentum geriet das, was als emanzipatorische Politik für die Indigenen gedacht war, gar zur subtilen herrschaftslegitimierenden Politik, »die der Eroberung dieser marginalen Territorien und Grenzräume Legitimität verschaffte«, wie es Arvelo-Jiménez (1984: 112), eine der vehementesten Kritikerinnen dieses Ansatzes, formulierte. Ähnlich kritisch rechnete auch Morales Méndez mit
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der Politik des nuevo indigenismo in Venezuela ab (Morales Méndez 1983: 113), »eine Theorie, die keinesfalls befreiend wirkte, sondern sich in der Praxis letztlich als neokoloniale Politik der Unterdrückung und des Ethnozids darstellte«. Seine Kritik und Analysen sind auch deshalb interessant, weil sie auf langjährigen ethnologischen Untersuchungen in just jenen Kari’ñagemeinschaften beruhen, die wir bereits im ersten Teil des Kapitels als indios petroleros kennen gelernt haben. Auch in Cachama organisierte das IAN in den 1970er Jahren landwirtschaftliche Kooperativen und vergab Kredite, um über die »bloße Subsistenz« hinaus die Produktion von Überschüssen und neuen Erzeugnissen für den Markt anzukurbeln – mit katastrophalen Folgen, so das düstere Fazit seiner Untersuchungen. Mit Krediten und Versprechungen von großartigen ökonomischen Gewinnen geködert, zwang man den Kari’ña eine kollektiv organisierte und marktorientierte Wirtschaftsweise auf, die nicht nur die familiäre Basis ihrer sozialen und kulturellen Organisation aushöhlte, sondern auch den Respekt für kulturelle Wissenspraktiken vermissen ließ, wie sie etwa in der elaborierten Bewirtschaftung und Vielfalt ihrer conucos und morichales zum Ausdruck kamen (vgl. Denevan 1978). Die Folge: wachsende Abhängigkeit von Saatgut, von technischer Beratung, aber vor allem auch von laufenden Zahlungen und Krediten, der Ölrente sozusagen, die sie nun vermittelt über die Projekttöpfe des IAN als schwache, abhängige Rentiers empfingen, ohne selbst Kontrolle über die wirtschaftliche Produktion zu haben. Auch in sozialer und politischer Hinsicht blieben die empresas weit hinter ihren emanzipatorischen und befreienden Zielsetzungen zurück; vielmehr schürten sie, wie Morales Méndez zeigt, massive interfamiliäre Spannungen und soziale Spaltungen innerhalb der Gemeinden, die den Prozess der sozialen Auflösung und Zersplitterung, wie ihn Schwerin in Cachama bereits Ende 1960er Jahren im Zusammenhang mit dem Vormarsch der Ölindustrie beobachtete, weiter verschärften. Zugleich verminderte dies die Chancen der Kari’ña auf selbstbestimmte politische Einflussnahme. All dies waren Gründe für Morales Méndez (1983: 222), die vermeintlich befreiende Politik des IAN als »effiziente Herrschaftspraxis, die totale Auslöschung der Indigenen schnell und ohne großen politischen Skandal zu erreichen«, zu verurteilen. Für die venezolanische Regierung dagegen waren die Entwicklungsprogramme des IAN, wie kritische Beobachter feststellten, politisch gesehen durchaus ein Erfolg, der vor allem der Mehrheitsgesellschaft der criol-
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los Vorteile verschaffte. Durch die Vergabe von Landtiteln, wenn auch viele nur provisorisch, konnte der wachsende Unmut und Protest der Indigenen angesichts aggressiver Landinvasionen und illegitimen Landraubs durch Viehzüchter, Ölfirmen und andere Kolonisten eingedämmt werden (Arvelo Jímenez 1984: 113). Spontane Mobilisierungen von Indigenen wurden über die Gründung und Organisation der regionalen Indigenenverbände in friedliche und kontrollierbare Bahnen gelenkt. Ein Korps von Entwicklungshelfern, Krankenschwestern, technischen Beratern und Lehrern kümmerte sich unterdessen vor Ort um die Entwicklungsprobleme und Nöte der Indigenen. All diese »bilden das Sprachrohr des Indigenen, was letztlich das Eindringen des Staates in die angestammten Territorien der Indigenen erleichterte und rechtfertigte […]« (Arvelo-Jiménez 1984: 116). Räumliche Mestizaje Entwicklung, Integration und Herstellung von Staatlichkeit in den peripheren, aber ressourcenreichen Grenzräumen waren in der Tat neuralgische Punkte auf der politischen Agenda Venezuelas in den 1970er Jahren. Die mit der Ölkrise 1973 exorbitant in die Höhe schnellenden Ölpreise stellten Venezuela schier unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung, diese Ziele nun endlich tatkräftig anzugehen, wie die skizzierte Politik des nuevo indigenismo und der conquista del Sur in Guayana eindrücklich unter Beweis stellten. An dieser Stelle soll nur ein Punkt noch etwas vertieft werden, der mir im Zusammenhang mit dem gerade skizzierten ›Entwicklungsgegenstand Guayana‹ interessant erscheint, nämlich die rekonfigurierte Rolle von Guayana als Projektionsfläche und Bestimmungsraum kolonialer und nationaler Entwicklungsfantasien. Dieses Thema hat die Geschichte dieser Region im Grunde seit frühester, kolonialer Zeit geprägt, wie das schon Sir Walter Raleighs Ende des 16. Jahrhunderts verfasste Abhandlung über das ›sagenhafte Goldland Guayana‹ vorwegnimmt, die viele der später auftauchenden Projektionen und Tropen zu Guayana enthält (vgl. Kap.2). Auch im postkolonialen Venezuela bleibt Guayana ein Symbol für die noch unvollständige und unausgebeutete Zukunft Venezuelas, dessen Unabhängigkeit und wahres Wesen sich erst mit der erfolgreichen Besitzergreifung dieser jungfräulichen Ländereien entfalten könne. Auf sehr eindrückliche und poetische Weise kommt dies beispielsweise in einem Text von Alberto Adriana, einem Modernisierer der ersten Jahrhunderthälfte, zur
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Sprache: »In Guayana wird sich die Vermischung unserer verschiedenen und beinahe entgegengesetzten Regionaltypen stattfinden, und der genuine Venezolaner wird auftauchen«, heißt es dort. Und der Autor fährt geradezu beschwörend fort: »Unsere Unabhängigkeit [ist] nicht gesichert bis zu dem Tag, an dem unsere Patrioten den Orinoko beherrschen werden [...]. Unsere Hoffnung ist, dass dort eines Tages die erste Nation des tropischen Amerika emporsteigen wird [...]. Kurz gesagt: das Venezuela unserer Träume wird erst dann Wirklichkeit werden, wenn wir Guayana bevölkert und in unserer Vaterland eingegliedert haben werden.« (Zit. n. Friedmann 1966: 174)
Ähnliche Kommentare finden sich in vielen von venezolanischen Autoren verfassten Abhandlungen zu Guayana während der gesamten Zeit nach der Unabhängigkeit des Landes, und diese verschiedenen Aussagen und Kommentare erhärten schon im späten 19. Jahrhundert die eminente Rolle Guayanas für das nationale Selbstverständnis, wie sich dies lange zuvor bereits andeutet. Friedmann (1966: 174) hat diese verbreitete Sichtweise in dem Wunsch zusammengefasst, »dass in der Entwicklung Guayanas irgendwie der wahre nationale Geist entdeckt und ein Gefühl von nationaler Identität gewonnen werden würde«. Dies erinnert an die berühmte Vorstellung einer manifest destiny, wie sie im Bezug auf den nordamerikanischen Westen im 19. Jahrhundert entstanden ist. Wie Susanna Hecht (1998) zeigte, fand die von Turner in seinen Thesen zur Pionierfront gefasste Vorstellung einer notwendigen Mission später als Topos der legitimen Intervention auf weite Teile der südamerikanischen Tropen Anwendung. Präziser und historisch weniger verfänglich scheint mir die Formulierung von Sarah Radcliffe (1998: 279) zu sein, die eine ähnliche Raumfunktion am Beispiel der ekuadorianischen Region Oriente, des amazonischen Tieflandes im Osten Ekuadors, als defining national space gefasst hat, d.h. als eine für die Bestimmung des Nationalen kritische Region. Wenn das venezolanische Guayana auch schon länger den Status eines nationalen Bestimmungsraums in diesem Sinne besaß, so gab es mit den Entwicklungsbemühungen der 1960er Jahre doch auch einen entscheidenden Bruch, eine Veränderung und Vertiefung dieser Perspektive. Die früheren Anläufe der ›Eroberung Guayanas‹ waren entweder vollständig im Bereich des Fantastischen geblieben oder über das Niveau lokaler Plünderung bzw. kurzlebiger
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Zyklen der Ressourcennutzung nicht hinausgekommen. So dokumentieren sie mindestens so sehr das Scheitern der oben skizzierten Utopien wie deren Erfüllung. »Das neue Guayana« jedoch sollte gerade »mehr sein als nur die flüchtige Ressourcenfront, als die es begonnen hatte, ebenso wie auch die Wirtschaft des Landes auf eine stabilere Basis als das Öl gestellt werden sollte [...]. Guayana war vollständig als dauerhafter Bestandteil in das Leben der Nation zu integrieren«, wie Friedmann (1966: 177) in seiner Begleitforschung schrieb. Dahinter lässt sich das umfassendere Ziel ausmachen, die Gegensätze Venezuelas zu überwinden und einen kohärenten nationalen Raum zu formen, bei dem die geographischen und kulturellen Unterschiede zwar nicht vollständig getilgt, aber doch zu einem gegenseitig befruchtenden und befreienden Ganzen zusammengebracht werden sollten. Als eine Art ›räumliche Mestizaje‹ des natürlichen und sozialen Kapitals könnte man diese Vision analog zur Ideologie der kulturellen Mestizaje beschreiben. Tatsächlich sichern erst die Entwicklungen der 1960er Jahre eine produktive, systematische und dauerhafte Integration Guayanas in die venezolanische Nation, eine Aufgabe, die nunmehr mit den erheblichen Mitteln angegangen werden konnte, welche in Form der staatlichen Ölrente bereitstanden. Neu oder anders im Vergleich zu den früheren Versuchen der Entwicklung und Kolonisation von Guayana, wie sie etwa in den riesigen Konzessionsvergaben des ausgehenden 19. Jahrhundert zum Ausdruck kamen, war also der Wille, den Beteuerungen von der Wichtigkeit Guayanas als nationalem Bestimmungsraum nun systematische, staatlich gelenkte Taten folgen zu lassen, deren Erfolge und Folgen alsbald sichtbar werden sollten. Eine besondere Stellung nahmen dabei die weiter südlich gelegenen Teile Guayanas ein, in denen große Teile der indigenen Bevölkerung lebten und leben. Hier entstand eine neue, ökonomisch und sozial nur halb eingeschlossene Lage, eine Peripherie der Peripherie, wenn man so will. An die industriellen Entwicklungen, die sich vor allem entlang des Orinoko ausbreiteten, waren dieser Raum und seine Bewohner nur sehr bedingt angeschlossen. Zwar verdingten sich auch einige Indigene aus der weiteren Region als Arbeitskräfte in den neu entstehenden Industrien. Doch kamen hierfür zunächst nur relativ nahe siedelnde Gruppen in Betracht, so etwa die wenig nördlich des Orinoko lebenden Kari’ña von Mamo (vgl. Schwerin 1966). Direkte und indirekte Effekte der Entwicklung ergaben sich aber
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auch für die weiter südlich siedelnden Gruppen. So wurde mit großen Baumaßnahmen wie dem Guri-Staudamm riesige Flächen direkt in Anspruch genommen; zugleich wurden die Prospektions- und Inventarisierungsarbeiten in der ganzen Region systematisch verstärkt, zunächst vor allem mit Blick auf Eisen und Bauxit, später jedoch auch erneut für Vorkommen von Gold und Diamanten. Einschneidend war für viele Indigene die Ausweisung riesiger Forstreserven, die im nächsten Kapitel ausführlich thematisiert wird. Der Staat sicherte sich über diese juristische Figur seinen zukünftigen Zugriff auf diese von Indigenen bewohnten tropischen Waldgebiete als Reserven der nationalen Holzindustrie. Indigene Territorialansprüche wurden dadurch von vornherein ausgehebelt. Ein unmittelbarer, lokal spürbarer Effekt dieser Ausweisung war zunächst der vermehrte Wegebau: So wurde im Zuge der Waldinventuren bereits 1967 etwa der einstige Waldpfad, der von Tumeremo nach Bochinche führt, zu einer befahrbaren Piste ausgebaut, wovon einige Beteiligte aus den Kari’ñasiedlungen mir noch zu berichten wussten. Ehe wir uns im nächsten Kapitel diesen Prozessen vor Ort näher zuwenden soll hier der kurze Blick auf die zwei verschiedenen Momente in der Erschließung der Ressource Öl noch einmal mit Blick auf die Kari’ña zusammengefasst werden. Zunächst blieben die südlich des Orinoko lebenden Kari’ña (wie die dort lebenden Indigenen überhaupt) von dem Ölboom in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz abgeschnitten, und zwar in mehrerer Hinsicht. Das Öl kam dort nicht vor und der direkte Bedarf an einheimischen Arbeitskräften in der Ölindustrie war insgesamt zu gering, um entsprechende Arbeitsmigrationen auszulösen. Indirekte ökonomische Effekte, etwa durch die Lohnkonkurrenz in der Landwirtschaft wie im westlichen Zulia, strahlten nicht weit genug aus, um die mehrere hundert Kilometer südlich lebenden Indigenen ernstlich zu berühren. Schließlich ist es auch die Verfasstheit der Ressource selbst, die einen direkten Einfluss auf die indigene Ökonomie ähnlich dem Gold oder dem Balatá unmöglich macht. Denn anders als bei diesen gibt es beim Öl keine dezentrale und handwerkliche Gewinnung, die funktionale Nischen bietet, in die indigene Gruppen mehr oder weniger freiwillig einzubinden wären. Eine Teilhabe ist daher nur vermittelt über große international operierende Firmen oder den Staat möglich, sowie über den Besitz des jeweiligen Territoriums, oder jedenfalls die Präsenz auf dem entsprechenden Territorium, wie dies bei den Kari’ña in den nördlich gelegenen Bundesstaaten Anzoátegui und Monagas
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der Fall war. Die Kari’ña von Imataca hingegen werden bis in die 1960er Jahre hinein von den Entwicklungen im Ölsektor faktisch wenig berührt. Wohl aber verengt der vom Öl eingeleitete Nationalisierungsdiskurs den Raum der kulturellen Differenz maßgeblich auf einen linearen Pfad nachholender Entwicklung und Integration. Außerhalb dessen bleiben hilfsbedürftige und orientierungslose Indigene zurück, deren Kontrolle gerade vor dem Hintergrund der geopolitischen Bedeutung ihrer Siedlungsgebiete im Grenzraum zu Guyana besondere Dringlichkeit bekommt. Erst mit der Aussaat des Öls, mit der zunehmenden Entwicklung Venezuelas zu einem Rentenstaat, der sich schließlich die gesamte Ölrente aneignet und zeitweise erhebliche Teile hiervon in große Entwicklungsprojekte in den peripheren Landesteilen investiert, gerät auch das südliche Guayana in den Einfluss der Ölökonomie. Der zunehmende Straßenbau, die Entwicklung der städtischen Zentren mit ihrer wachsenden Nachfrage nach landwirtschaftlichen Gütern, die Intensivierung zunächst der Prospektion und Inventarisierung, später dann der Ausbeutung von mineralischen und biotischen Ressourcen sowie der Bau von großen Wasserkraftwerken erzeugen rapide und umfassende Veränderungen bis in die letzten Siedlungen hinein. Dabei wird der venezolanische Südosten insgesamt wie nie zuvor an die nördlichen Landesteile angebunden, zunächst vor allem politisch und rhetorisch, doch bald, und von da an in stetig wachsendem Maße, auch ökonomisch, sozial und ökologisch. Damit entstehen einerseits neue Artikulationsmöglichkeiten selbst für marginale Akteure aus den peripheren Gebieten. Im Falle der Kari’ña ergibt sich im Zuge dessen auch ein begrenzter Austausch mit den nördlichen Vertretern der Ethnie, die die Erfahrungen aus den historisch ganz anders verlaufenen Auseinandersetzungen mit dem venezolanischen Staat einbringen, Erfahrungen, die sie nicht zuletzt in der Auseinandersetzung um die Teilhabe an den Ölressourcen seit Ende der 1940er Jahre gesammelt haben. Andererseits schlagen mit der stärkeren Anbindung an die nördlichen Landesteile nun nicht nur die Erfolge der Modernisierung, sondern auch die nationalökonomischen Krisenerscheinungen der letzten Jahre in weiten Teilen Guayanas in vollem Umfang durch. In diesem ambivalenten Sinne wirkt das Öl hier schließlich tatsächlich als eine ›Saat‹, als eine Meta-Ressource der problembeladenen Erschließung Guayanas, die auch heute noch in vollem Gange ist.
6 Holz – widerspenstige Grenzgänger
»Most niches of national space left to be exploited are also those inhabited by indigenous peoples.« RICHARD HOWITT ET AL. (1996)
Momentaufnahme – Botanamo, später Nachmittag im Juni 1997: Drei Kari’ñakinder haben sich auf der vom Regen der letzten Nacht noch schlammigen Straße versammelt. Auf beiden Seiten der Piste sind offene Palmdachhütten inmitten von zugewucherten Feldern und gerodeten Waldflächen erkennbar. In ihren Händen halten die Jungen kleine Holzautos, die sie sich aus Holzstücken, herumliegenden Zweigen, Schnüren, und anderem gerade verfügbaren Material kunstvoll zusammengebaut haben. Eines davon ist mit bunten Blechstücken einer alten Konservendose verziert. Die Jungen schieben ihre Holzautos entlang der ausgefahrenen Spurrillen, veranstalten Rennen, beladen ihre Laster mit Holzstückchen und Steinen und entladen sie wieder an anderer Stelle. Beim beliebten ›Lastentransport mit Hindernissen‹ werden die beladenen Spielautos an einer Schnur gezogen. Dabei gilt es sie über ausgesuchte Hindernisse wie aufgetürmte Furchenränder hinweg oder durch schlammige Pfützen und Schlaglöcher hindurch zu manövrieren, ohne dass der Wagen umkippt oder die Last verloren geht – eine überaus knifflige Aufgabe, denn der zu befahrende Parcours zeigt sich oft tückischer als vermutet. Über die Tücken dieser Straße wissen auch die Fahrer der ›echten‹ Holztransporter einiges zu erzählen und sie sind es offenkundig auch, denen die Kari’ñajungen mit ihren selbstgebauten Autos im Spiel nacheifern.
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Die kleine Straßenszene enthält bereits einige zentrale Themen, denen ich in diesem Kapitel über das Holz nachspüren möchte. Wie im Spiel kreuzen sich hier die Wege von kleinen und großen Akteuren mit höchst unterschiedlichen praktischen und kulturellen Vorstellungen von Holz, vergegenständlicht durch die Spielautos der Kinder und versinnbildlicht durch die großen Holzsattelschlepper, denen die kleinen Spielautos nachgebildet sind und auf deren Spuren sie spielerisch wandeln. Selbst aus Holz angefertigt, lassen sich auch die Spielautos als eine konkrete Form der Holznutzung begreifen. Die Herstellung von Spielzeugen ist dabei nur ein Beispiel unter vielen, wie Holz in der materiellen Kultur der Kari’ña Verwendung findet. Schon ein flüchtiger Blick auf Häuser, Hausrat und viele andere Gegenstände der materiellen Kultur bei den Kari’ña macht deutlich, dass Holz eine grundlegende Ressource ihrer materiellen und wirtschaftlichen Reproduktion darstellt. Dass Wert und Nutzen solch sogenannter natürlicher Ressourcen wie Holz von höchst unterschiedlichen Standpunkten her bestimmt werden kann, wird schnell einsichtig, wenn man auf der anderen Seite das betrachtet, was staatliche Forstbeamte und Holzkonzessionäre unter Holznutzung verstehen. ›Ihre‹ Ressource Holz unterscheidet sich beträchtlich von derjenigen, die die Kari’ña als solche wertschätzen und für nützlich erachten. Holz ist also nicht einfach Holz, ist nicht einfach als Ressource da. Was jeweils als Ressource klassifiziert wird, ist vielmehr in hohem Maße vom kulturellen Kontext, aber auch vom technologischen Wissensstand abhängig. Darauf verweist Judith Rees (1989: 365) in ihren theoretischen Überlegungen zu natürlichen Ressourcen, wenn sie diese als »dynamische kulturelle Konzeptionen« definiert. Ihre Definition beruht auf der einfachen Beobachtung, dass »Menschen ihre natürliche Umwelt bewerten und dabei solche Substanzen, Organismen und physische Eigenschaften als Ressourcen klassifizieren, die sie technisch nutzen können und die gewünschte Güter und Dienste liefern« (ebd.). Im Spiel kreuzen sich die Wege zwischen großen und kleinen Holztransportern auch im konkreten, geographischen Sinne, auf der Straße nämlich, die den Kari’ñajungen als Spielplatz für ihre Holzautos und den Holzbetrieben als Haupttransportweg dient, um die gefällten Stämme aus den Wäldern heraus – oder zur Holzernte notwendiges Gerät und Personal hineinzubringen. Die Siedlungen der Kari’ña liegen in einem Gebiet, das zu den wichtigsten Zonen industrieller Tropenholznutzung südlich des Orinokos in Venezuela zählt. Die Sattelschlepper, die die Kari’ña nahezu täglich
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an ihren Siedlungen vorbeifahren sehen, stehen im Dienste von insgesamt fünf Holzunternehmen, deren jeweils 125.000 bis 180.000 ha umfassende Konzessionen sich nahtlos auf beiden Seiten der Straße aneinanderreihen. Die Aktivitäten der Holzbetriebe hinterlassen dabei freilich nicht nur Spuren auf der Straße, wenn auch diese einschließlich der Piste selbst zu ihren sichtbarsten Effekten gehören. Nach den sichtbaren und weniger sichtbaren Spuren der industriellen Holznutzung für die Kari’ña möchte ich in diesem Kapitel fahnden. Dabei geht es nicht so sehr darum, die Gegensätzlichkeit, ja Unvereinbarkeit von kommerziellem Holzeinschlag und indigener Lebensweise unter Beweis zu stellen. Interessanter und aufschlussreicher ist meines Erachtens die Suche nach den mehr versteckten und subtilen Machteffekten und Bedeutungen im Zusammenspiel von Forstwirtschaft und indigener Kultur in diesem Tropenwaldgebiet. Räumliche Aspekte stehen dabei im Vordergrund. Die besondere Bedeutung von Territorialität ergibt sich nicht nur daraus, dass hier indigenes Siedlungsgebiet und industrielle Holznutzung räumlich zusammenfallen. Darüber hinaus ist die tropische Forstwirtschaft generell eine sehr raumgreifende Unternehmung, die großflächige Interventionen in den Wald notwendig macht. Dies liegt nicht zuletzt an der materiellen Verfasstheit der Ressource Holz selbst, die sich gleichmäßig und weit im Raum verteilt, schon gar, wenn es sich, wie in diesem Fall, um einen in seiner Struktur und Artenzusammensetzung äußerst heterogenen Tropenwald handelt und das kommerzielle Interesse der Holzfirmen sich nur auf vergleichsweise wenige, ausgewählte Werthölzer richtet. Ein wichtiger Ausgangspunkt meiner Spurensuche ist dabei die Frage, warum gerade die venezolanische Forstwirtschaft vergleichsweise wenig hörbare Kritik auf Seiten der Kari’ña wie der weiteren Öffentlichkeit zu mobilisieren vermag. Trotz einer Reihe manifester Probleme wird die forstliche Nutzung dieses Tropenwaldgebietes in der venezolanischen Öffentlichkeit tendenziell als eine im Kern nachhaltige, und mit der Präsenz der Indigenen grundsätzlich vereinbare Nutzung wahrgenommen. Erste Anhaltspunkte für eine Antwort ergeben sich hier in einer historischen Rekonstruktion räumlicher Entwicklungen und Vorstellungen. Diese macht deutlich, dass die weitere Region Guayana nicht nur schon früh als ein Gebiet der Verheißungen gesehen wurde, von dem gewissermaßen die zukünftige Entwicklung und der Wohlstand des ganzen Landes abhängig gemacht wurde. Sie war zudem ein Gebiet von besonderer geostrategischer Bedeu-
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tung im ökonomischen und politischen Projekt der Nationenbildung Venezuelas. Beide Vorstellungen tragen wesentlich zur Legitimität des staatlichen Zugriffs auf diesen Raum und seine Ressourcen bei, sowohl in den außenpolitischen Konflikten, in denen die Region eine große Rolle spielt, als auch in der inneren Rechtfertigung des staatlichen Zugriffs auf die von Indigenen bewohnten Gebiete. Dabei kann schließlich gezeigt werden, wie gerade die Ressource Holz Teil einer andauernden, paradoxen Entleerung des Waldes wird, die die Voraussetzungen einer nationalstaatlichen Einschreibung in diese tabula rasa sicherstellt. So spielt bei der prekären Aufgabe der Herstellung von Staatlichkeit in diesen peripheren Grenzgebieten die Forstwirtschaft eine zentrale Rolle.
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IM V ISIER FORSTWIRTSCHAFTLICHER I NTERESSEN Venezuela verfügt über beträchtliche Tropenwaldgebiete. Wie touristische Landes- und Reiseführer gerne zu betonen pflegen, ist nahezu die Hälfte der Landesfläche mit Wald bedeckt, so vor allem die südlich des Orinokos liegende Region mit den Bundesstaaten Amazonas und Bolívar. Trotz der immensen Holzvorräte hat der Forstsektor in dem vom Öl dominierten Land volkswirtschaftlich gesehen bislang eine geringe Rolle gespielt. Der Beitrag des Sektors zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt unter einem Prozent (Bevilacqua et al. 2002). In den Boomjahren der Ölindustrie war es offenbar weder notwendig noch opportun, Investitionen in großem Stil in den heimischen Forstsektor und den Aufbau einer nationalen Holzindustrie zu tätigen. Was an Holzprodukten gebraucht wurde, wurde aus dem Ausland importiert. Erst mit der Ankündigung ernsthafter wirtschaftlicher Krisenanzeichen Mitte der 1980er Jahre gewann die industrielle Nutzung von Holz unter der Regierung von Luis Herrera Campins einen höheren Stellenwert. Dies schlug sich auch in den nationalen Entwicklungsplänen nieder. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde darin die Forstwirtschaft explizit als wichtiger, entwicklungsfähiger Sektor genannt, dem auch für notwendige wirtschaftliche Reform- und Diversifizierungsbemühungen eine Schlüsselrolle zugewiesen wurde (CORDIPLAN 1995). Im Blick standen dabei vor allem die Wälder südlich des Orinoko. Damit verschob sich der geographische Schwerpunkt der forstlichen Aktivitäten, die sich bislang auf den Westen
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des Landes konzentriert hatten. Bereits in den 1950er Jahren waren in den westlichen Bundesstaaten Barinas und Portuguesa sogenannte Forstreserven (reservas forestales) ausgewiesen worden – Staatswälder, die als dauerhafte Holzproduktionsstätten dazu bestimmt waren, den nationalen Bedarf an Holz nachhaltig zu sichern. Nach über vierzig Jahren Nutzung sind die Waldareale dieser älteren Forstreserven im Westen des Landes (u.a. Ticoporo/Barinas und Turén/Portuguesa) stark degradiert und auf klägliche Reste dezimiert (Centeno 1995). Für die massiven Entwaldungsraten in den Forstreserven im Westen des Landes werden v.a. illegale Invasionen landloser Campesinos verantwortlich gemacht, die einen großen Anteil der Waldflächen in Weideflächen umgewandelt haben (s. Aicher 2001; Wunder 2003). Insgesamt gibt es in Venezuela heute zehn Forstreserven; die flächenmäßig größeren davon befinden sich im Süden des Landes. Das Jahr 1961 sticht bei der Ausweisung von Forstreserven in Venezuela besonders heraus. Allein vier neue Forstreserven wurden in diesem Jahr neu ausgewiesen, darunter eine Reserve, die zunächst einmal mehr den programmatischen Namen »El Dorado« trug und wenig später erweitert und in Forstreserve Imataca umbenannt wurde. Damit wurde erstmals auch ein Waldgebiet südlich des Orinoko für die kommerzielle Holznutzung reserviert. Lage und Größe dieser Forstreserven markierten eine neue Dimension in der venezolanischen Forstwirtschaft. Mit Flächen zwischen einer und fünf Millionen Hektar übertreffen diese südlichen Forstreserven – Imataca, El Caura, Sipapo u.a. – die Dimensionen der Forstreserven im Norden und Westen des Landes um ein Vielfaches. Mit einer Fläche von über 3,2 Millionen Hektar (32.000 qkm) entspricht allein die Reserve Imataca in etwa der Größe des Bundeslandes Baden-Württemberg und hat die dreifache Ausdehnung aller Forstreserven nördlich des Orinoko zusammengenommen. Bereits Mitte der 1990er Jahre kamen 40 Prozent der nationalen Holzproduktion aus diesem Gebiet, das zugleich Siedlungsgebiet mehrerer indigener Gruppen ist, darunter auch die Protagonisten dieses Buches: die Kari’ña von Imataca. Wie schon in den flächenmäßig sehr viel kleineren und seit Anfang der 1970er Jahre genutzten Forstreserven der westlichen Llanos, beruht auch hier die forstliche Nutzung auf einer unternehmerischen Erschließung und selektiven Holzernte im Konzessionsverfahren, mit dem Unterschied allerdings, dass Flächen und Laufzeiten der Holzkonzessionen hier beträchtlich ausgeweitet bzw. verlängert wurden. Über zwei Millionen Hektar Waldflä-
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che sind seit Mitte der 1980er Jahre im venezolanischen Bundesstaat Bolívar an Holzkonzessionäre vergeben worden, weitere acht Millionen Hektar sollen mittel- und langfristig folgen. Ein Großteil dieser Flächen wird dabei auch in Zukunft im Gebiet der Forstreserve Imataca liegen. Mit anderen Worten: im unmittelbaren Siedlungs- und Lebensumfeld der Kari’ña. Allein fünf von zwölf gegenwärtig in der Forstreserve Imataca produzierenden Holzkonzessionen erstrecken sich unmittelbar entlang jener in Richtung an die Grenze zu Guyana führenden und quasi im Nichts endenden Stichstraße, der wir in der einleitenden Spielszene begegnet sind. Fast alle Ansiedlungen der Kari’ña einschließlich Botanamo liegen innerhalb forstlicher Konzessionsflächen. Die Holzunternehmen konzentrieren sich bei ihrer Ernte auf nur wenige kommerziell interessante Werthölzer, die einen hohen Marktpreis erzielen, allen voran Mureillo (Erisma uncinatum), Cedro (Cedrela sp.), Puy (Tabebuia serratifolia), Algarrobo (Hymenaea courbaril), Zapatero (Peltogyne porphyrocardia), Purguo (Manilkara bidentata), Baramán (Catostemma commune), Pardillo (Cordia alliodora) und Tampipio (Couratari sp.), viele davon werden auch von den Kari’ña als Bau- und Nutzhölzer geschätzt. Im Durchschnitt werden pro Hektar Wald 6 bis 10 Festmeter Holz in einem Produktionszyklus geerntet, das entspricht etwa fünf Bäumen, wobei die Zahl der aus einem Hektar Waldfläche entnommenen Bäume zwischen nur einem bis maximal zehn oder gar fünfzehn Stämmen schwanken kann (Centeno 1990). Im Vergleich mit mitteleuropäischen Standards, wo selbst der gewöhnliche Buchenwald diese Menge in einem Jahr abwirft, erscheinen diese Werte verblüffend niedrig, umso mehr als man gemeinhin von tropischen Wäldern doch eher größere Wachstumsraten erwarten würde. Gerade die hohe Heterogenität und Vielfalt dieser Wälder, die Biologen und Naturforscher zu begeistern vermag, entpuppt sich für die tropische Forstwirtschaft als Erschwernis, denn wie es im forstlichen Management eines Holzunternehmens in der Region heißt: »mit einer großen Zahl von Spezies zu arbeiten ist immer problematisch« (CODEFORSA 1986: 261). Ein Ziel forstwirtschaftlicher Maßnahmen liegt daher auch darin, eine größere Homogenisierung des Waldes zu erreichen. Aus forstwissenschaftlicher Sicht wird vor diesem Hintergrund denn auch eine »Unternutzung des forstlichen Potenzials der Region beklagt, was Ertrag und Anzahl der Arten angeht« (MARNR 1997: 138). Julio Centeno, der sich mit seinen Analysen international einen Ruf als Experte des venezolanischen Forstwesens er-
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worben hat, sieht gerade in dieser geringen Ausnutzung und Wertschöpfung der Wälder eines der zentralen Probleme venezolanischer Konzessionspraxis, welche er im Einklang mit gängigen ökonomischen Erklärungsmodellen tropischer Waldzerstörung als Folge unvollständiger Märkte, verzerrter Preispolitik und irrationaler Subventionen erklärt. Damit ist er Anhänger einer Diskurstradition, die Susanna Hecht (1998) für uns in mehrfacher Hinsicht passend als »Allegorie des Eldorado« gekennzeichnet hat. Leitmotiv dieser Denktradition ist die Vorstellung, dass die verborgenen (Ressourcen-)Schätze nur marktgerecht gehoben werden müssen, um ihre richtige und volle Produktivität zu entfalten. Während die eigentliche Holzernte hier mit einigen wenigen Bäumen pro Hektar Waldfläche sehr bescheiden anmutet, spiegelt dies freilich bei weitem nicht das ganze Ausmaß der Eingriffe der Holzkonzessionsbetriebe wider. Unternutzt ist der Wald zunächst natürlich nur aus der eingeschränkten, unternehmerischen Sicht der Konzessionäre. Gravierender und folgenreicher für die Dynamik von Waldzerstörungsprozessen sind schließlich, wie einschlägige Studien wiederholt festgestellt haben, die vielfältigen indirekten Effekte kommerzieller Holznutzung in den Tropen: zu allererst die vielverzweigten Pisten und Wege, die im ganzen Konzessionsgebiet zum Abtransport der Holzstämme angelegt werden. Die Forstwirtschaft hat damit oft die Wirkung eines ›Türöffners‹, in dessen Sog Neusiedler und andere Gruppen in die Wälder eindringen, um ein in diesem Zusammenhang häufig genutztes, wenn auch nicht unproblematisches Bild zu verwenden. Auch abseits der Straßen und Wege sind in unserem konkreten Fall die Spuren der Holzfirmen deutlich sichtbar, vor allen Dingen natürlich in den gerade oder erst kürzlich genutzten Parzellen der Konzession. Großflächigere Rodungen sind beispielsweise für die Sammelplätze notwendig. Auf diesen, im Fachjargon auch Polterplätzen genannten, Rodungsflächen inmitten der Wälder werden die geernteten Baumstämme gelagert, bevor sie später mit Sattelschleppern aus dem Gebiet zur weiteren Verarbeitung in den Sägemühlen abtransportiert werden. Beträchtliche Flächen nehmen auch die Baumschulen ein, die viveros, in denen junge Baumsetzlinge bis zur Auspflanzung gezogen werden, sowie die verschiedenen Arbeitercamps des Konzessionsbetriebs. Bei Erkundungsgängen durch die Forstkonzessionen, wie ich sie oft in Begleitung von Kari’ña unternommen habe, erkennt man nach und nach auch die weniger augenscheinlichen Spuren forstlicher Nutzung: von Raupenschleppern beim Transport einzelner Baumstämme
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eingeschlagene Rückewege (picas), längere und kürzere Schneisen, diverse Markierungen an Bäumen und entlang einzelner Nutzungsparzellen, die auf eine durchgeführte Inventur hinweisen, aber auch sogenannte fajas de enriquecimiento, wörtlich als Anreicherungsstreifen zu übersetzen – das sind Linienpflanzungen mit jungen Setzlingen von Werthölzern, die in der Absicht angelegt werden, den Anteil der nutzbaren Forstmasse mit Blick auf zukünftige Erntezyklen zu erhöhen. Hinzu kommen die nicht beabsichtigten, aber offensichtlich hingenommenen Schäden an verbleibenden Bäumen. Schätzungsweise 30 bis 40 Prozent des übrigen Baumbestandes, so wiederum Centeno (1990), werden selbst bei einem selektiven Holzeinschlag, wie er in Imataca praktiziert wird, in irgendeiner Weise geschädigt. Die ökologischen Folgen der Forstwirtschaft schätzen venezolanische Umweltexperten im Vergleich zum Goldbergbau in der Region geringer ein. Allerdings sind durch die Holznutzung ungleich größere Waldflächen betroffen, so dass das Ausmaß der Interventionen im Raum beträchtlich ist (Bevilacqua et al. 2002). Neben Veränderungen der mikroklimatischen Verhältnisse, einer fortschreitenden Bodenverarmung und einseitigen Entnahme wertvoller Baumarten wird nicht zuletzt ein merklicher Rückgang in den Wildtierbeständen mit der Präsenz der Holzunternehmen in Verbindung gebracht (s.u.). Oft folgt am Schluss dieser Ökobilanz noch der pauschale Hinweis auf die Folgen für die indigenen Gemeinschaften: »Zu diesen [genannten Problemen] muss noch die Störwirkung der forstwirtschaftlichen Aktivitäten auf die indigenen Gemeinschaften hinzugezählt werden«, heißt es beispielsweise in einem Umweltgutachten (Franco 1997: 23), ohne dies jedoch weiter auszuführen. Die Aussagen über die sozialen und kulturellen Auswirkungen bleiben damit oft ähnlich abstrakt wie die im engeren Sinne als ökologisch klassifizierten Probleme. Was aber sind die Folgen der Forstwirtschaft aus der Perspektive derjenigen Menschen, die in ihrer Lebensweise als einzige Gruppe vor Ort tatsächlich von einem mehr oder weniger intakten Tropenwald abhängen? Wie lebt es sich inmitten der Forstkonzessionen? Wie beeinflussen die Tätigkeiten der Holzunternehmen das Leben der Kari’ña?
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F RAGMENTIERTE R ÄUME Die Beziehung zwischen Holzfällern und indigenen Kari’ña in dieser Zone ist, so lässt sich zunächst einmal festhalten, keineswegs von ständigem Kampf und feindseliger Konfrontation geprägt. Vielmehr drängt sich der Eindruck eines prekären Arrangements zwischen zwei ungleichen, aber dennoch irgendwie miteinander kooperierenden Akteursgruppen auf. Vielleicht ist es schlicht die Einsicht des Schwächeren, die die Kari’ña dazu bringt, sich mit einer Situation zu arrangieren, die erst einmal wenig beeinflussbar scheint. Dabei sind die Spuren der Holzfirmen, wie bereits angedeutet, allgegenwärtig, wenn wir an die vielen Wege, Schneisen und Rodungen denken, die von Forstunternehmen zu Transportzwecken, für Arbeitercamps und Baumschulen usw. angelegt werden und die das Terrain der Kari’ña systematisch ›durchschneiden‹. Daraus ergeben sich zwangsläufig Begrenzungen und Beeinträchtigungen für die traditionellen Subsistenzaktivitäten der Kari’ña, die sich in diesem zerklüfteten Terrain bewegen und in diesem einrichten müssen. Dies gilt beispielsweise für ihre Brandrodungsfelder, die regelmäßig neu angelegt werden. Um eine hohe Produktivität der neuen Felder zu gewährleisten, werden hier möglichst geschlossene und intakte Waldflächen bevorzugt, die von Holzfirmen bislang verschont und zumindest länger nicht genutzt worden sind. Die Präsenz der Holzfirmen schränkt den Raum hierfür stark ein, zumal viele Kari’ñafamilien auch die Nähe zur Straße nicht missen wollen. So liegen viele Gehöfte der Kari’ña in der Nähe der Hauptpiste, auf der große Sattelschlepper täglich Tropenholz aus dem Gebiet abtransportieren. Die mit der Straße einhergehende infrastrukturelle Anbindung an den Ort Tumeremo, an die Welt der criollos, mit ihren Lebensmittel- und Getränkeläden, Krankenhaus und Kirche etc. ist von den Kari’ña also durchaus gewollt. Auch bei der Verlegung ihrer Häuser und Gehöfte bewegen die Kari’ña sich zwangsläufig innerhalb der Grenzen und Nischen forstlicher Nutzung. Hier gilt eine ähnliche Devise, wie sie der Ethnologe Descola (1981: 637) bei den Achuar in Ekuador formuliert hat: »Um glücklich zu leben, muss man etwas im Verborgenen leben«. Die Kari’ña wahren nicht nur innerhalb der Gruppe, sondern auch zu den Arbeitszonen der Holzfirmen gerne eine gewisse räumliche Distanz. Besonders beeinträchtigend wirkt sich die Präsenz der Holzfirmen auf die Jagd aus, die bei den Kari’ña eine große soziale und wirtschaftliche Be-
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deutung spielt. So klagten Männer, dass die Jagd heute viel schwieriger und zeitaufwändiger geworden sei, dass bestimmte Tiere, die früher offenbar weit verbreitet waren, heute nur noch schwer aufzutreiben seien, Tapire zum Beispiel und kleinere Nagetiere, die als Nahrung geschätzt werden. Ein merklicher Rückgang dieser Wildtierbestände in der Forstreserve Imataca wird in wildbiologischen Untersuchungen bestätigt. Insbesondere der venezolanische Biologe José Ochoa, zugleich Vorsitzender der einflussreichen venezolanischen Naturschutzorganisation ACOANA, hat mit seinen Arbeiten auf diese Entwicklung in den Konzessionsgebieten in Imataca aufmerksam gemacht, die er in einem direkten Zusammenhang mit den Aktivitäten der Holzfirmen sieht. So zeigen seine langjährigen Forschungen in der Region Bochinche, also im unmittelbaren Siedlungsumfeld der Kari’ña, dass die kommerzielle Holznutzung vor Ort nicht nur beträchtliche Veränderungen in der Zusammensetzung und Verbreitung bestimmter Tierpopulationen verursacht, sondern auch zu einem merklichen Rückgang bestimmter Arten geführt hat, wie etwa von Tapiren, deren Verschwinden auch die Kari’ña schon bemerkt haben. Als wesentliche Ursache hierfür macht er insbesondere die räumliche Zerschneidung der natürlichen Habitate und Wege der Tiere durch die forstlichen Wegenetze und Schneisen im Wald verantwortlich (Ochoa 1997, 1998). Ähnlich wie die Kari’ña sieht sich also auch die Fauna mit dem Problem eines fragmentierten und zerschnittenen Territoriums konfrontiert. Während die bedrohten Tierarten in dem Biologen mit seiner Forderung nach sogenannten Biodiversitätskorridoren, die den betreffenden Tierpopulationen artgerechte Mobilität und Habitat sichern sollten, einen lautstarken Verbündeten fanden, wurde den Mobilitätserfordernissen und Bedürfnissen der Kari’ña weitaus weniger Sorge getragen. Dabei ist das eine von dem anderen nur schwer zu trennen. Schließlich verlaufen die angedachten Biodiversitätskorridore nicht nur kreuz und quer durch die von Kari’ña gegenwärtig genutzten und besiedelten Gebiete. Darüber hinaus bestehen hier enge, produktive Bezüge zwischen Fauna und indigener Subsistenzkultur, die sich wechselseitig auf die Dynamik in beiden Sphären auswirken dürften. Felder, aber auch junge Aufforstungen der Holzunternehmen werden gerne von bestimmten Tieren bei der Suche nach Futter aufgesucht. Dies gilt beispielsweise für die in größeren Herden herumziehenden Akuris (Dasyprocta aguti), wo ihnen die Kari’ña auflauern. Kari’ña halten sich die vom Verschwinden bedrohte Nagetiere gelegentlich auch als semi-domestizierte
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Nutztiere zum späteren Verzehr. Auch in wissenschaftlich-theoretischer Hinsicht ist also eine solche ostentative Ausblendung von sozialen und kulturellen Faktoren in der Beschreibung von ökologischen Prozessen und der Konzeption entsprechender Schutzmaßnahmen fragwürdig. Im vergleichsweise jungen Ressourcen- und Politikfeld der biologischen Vielfalt – Gegenstand des nächsten Kapitels – führen solche Fragen direkt in den Kern der Problematik. Die Kari’ña, so scheint es, haben gelernt, sich in Nischen und Zwischenräumen der Holzkonzessionen mit seinen Einschränkungen, aber auch Möglichkeiten einzurichten. So bietet das vergleichsweise stabile Management und überschaubare Personal der Holzfirmen vor Ort hier mehr Raum für geregelte und langfristige Formen der Begegnung und Beziehung. Deutlich wird dies nicht zuletzt in den zwar wenigen, aber umso bemerkenswerteren Fällen von langfristigen Verbindungen zwischen venezolanischen Forstarbeitern und Kari’ñafrauen. Die stärkere Sichtbarkeit solcher Allianzen führt hier allerdings zu einer gewissen Sexualisierung des gesamten Beziehungsfeldes (s. Grimmig 2007). Dies mag damit zusammenhängen, dass es hier im Unterschied zum Goldsektor mit seinen relativ offenen, dezentralen und heterogenen Produktionsstrukturen kaum Möglichkeiten für Kari’ña gibt, selbst am Wertschöpfungsprozess der Ressource teilzuhaben. Dabei können die Kari’ña durchaus auf eine Tradition als Holzfäller zurückblicken. Vor allem in Britisch-Guiana waren indigene Bevölkerungsgruppen, allen voran die Kari’ña im 19. Jahrhundert geschätzte woodcutters. Koloniale Rechtsprechungen billigten der indigenen Bevölkerung gewisse Sonderrechte bei der Nutzung natürlicher Ressourcen zu und begünstigten so die Herausbildung dieser Tradition (Menezes 1977: 13f.). Viele Kari’ña arbeiteten nur sporadisch und unabhängig; andere in direktem Auftrag von regionalen Bezirksaufsehern, die den rechtlichen Sonderstatus der Indigenen allerdings oft zum eigenen Profit ausnutzten. Unter veränderten Bedingungen setzte sich diese Holzfällertätigkeit im angrenzenden Guyana bis in die jüngere Gegenwart fort. Eine solche direkte Beteiligung am Holzhandel ist in Imataca heute nicht denkbar. Zum einen ist den Kari’ña die kommerzielle Vermarktung von Holz verwehrt. Sie verfügen über keine uneingeschränkten Ressourcenrechte, sondern lediglich Nutzungsrechte, wie sie im Rahmen traditionellen Subsistenzerhalts notwendig werden. Ohne Motorsägen und entsprechendes Gerät sind solche Versuche auch ökonomisch nicht rentabel, zumal das Holz anders als im
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angrenzenden Nordwest-Distrikt in Guyana nicht über Flüsse, sondern über Land abtransportiert werden muss. Kari’ña arbeiten gelegentlich als Hilfsarbeiter für die Holzunternehmen. Männer säubern junge Aufforstungen, helfen bei der Instandsetzung von Baumschulen oder werden für die Arbeit des baquiano, des Baumkenners, angeheuert, dessen Aufgabe darin besteht, »in all der Vielfalt diejenigen Bäume ausfindig zu machen, die kommerziellen Wert haben« (Aicher 2001: 114). Hier profitieren Holzunternehmen nicht zuletzt vom reichhaltigen Wissen der Kari’ña über lokale Flora und Fauna. Die Arbeitsbeziehungen bleiben nichtsdestotrotz sporadisch und unregelmäßig. Das Gros des regulären Forstpersonals vor Ort stellen criollos und campesinos aus der weiteren Region, vor allem aus dem etwa 140 km entfernten Ort El Palmar, wo sich mit den großen Waldinventuren seit den 1960er Jahren eine gewisse forstwirtschaftliche Arbeitertradition herausgebildet hat. Der zentrale Nexus zwischen kulturellen und ökonomischen Prozessen in diesem Ressourcenfeld ist also nicht so sehr die Arbeitskraft oder die Frage der ökonomischen Teilhabe, wie wir es bei Balata oder Öl vorgefunden haben. Es ist zunächst vor allem das geteilte Territorium in seiner darliegenden Flächigkeit, in der die besondere Reibung in der Begegnung von natürlichen Ressourcen und kultureller Differenz sich hier bemerkbar macht.
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EINER ERFOLGLOSEN
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Trotz ihrer flächenintensiven Eingriffe in die Natur sowie anderer manifester Probleme deutet vieles darauf hin, dass es auf der nationalen Ebene bisher gelungen ist, ein Bild der staatlichen und privaten Holzexploitation aufrecht zu erhalten, in dem diese den Anschein eines rationalen und nachhaltigen Entwicklungsvorhabens hat. Dabei kann die venezolanische Konzessionswirtschaft in Imataca gemessen an ihren eigenen formulierten Ansprüchen als Motor einer nachhaltigen Regionalentwicklung bislang wenig Erfolge aufweisen, wie internationale und selbst staatlich beauftragte Gutachten einräumen müssen. Eine Studie der ältesten Forstfakultäten Lateinamerikas an der Universidad de los Andes (ULA) in Mérida (Venezuela) kam zum Ergebnis, dass zwischen dem Forstsektor und der lokalen Bevölkerung kaum Verbindungen bestehen: »In den vielen Interviews, die die Kommission geführt hat, fand sich nicht eine Person, die irgendeine Form des Bei-
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trags der Forstwirtschaft für die Entwicklung in Tumeremo erkennt«, so das unmissverständliche Fazit der Studie. Der lokalen Bevölkerung bleibe daher, wie es an anderer Stelle noch deutlicher heißt, »meist nicht mehr an Gewinnen als der Staub, den die mit Stämmen und Brettern beladenen Lastwägen aufwirbeln« (Franco 1997: 24, 54). Umso deutlicher sind vor diesem Hintergrund ihre symbolischen Erfolge zu sehen. So scheint gerade die Figur der Forstreserve als solche kaum hinterfragt, sondern vielmehr als eine Art natürlicher Referenzpunkt zu dienen, an dem sich alle anderen Nutzungsansprüche in diesem Gebiet zu messen und zu legitimieren haben. Auch mit Blick auf die jüngeren Auseinandersetzungen um die Nutzung dieses Gebiet wurde die forstwirtschaftliche Funktion der Wälder, wie sie implizit im Status der Forstreserve seit den 1960er Jahren verankert ist, eigentlich nie in Frage gestellt. Vielmehr stand im Vordergrund, ob andere Nutzungen, wie etwa der industrielle Bergbau mit dem Status dieses Gebietes als Forstreserve kompatibel seien oder ob diese nicht vielmehr eine »unrechtmäßige Entfremdung der Reserve« bedeuten (Cover 1999: 50). Ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Bewertung und Kritik zukünftiger staatlicher Nutzungsvisionen für dieses Gebiet war demnach ihre Vereinbarkeit mit dem Status der Forstreserve und den darin festgeschriebenen Nutzungsansprüchen der industriellen Forstwirtschaft, so als wäre es schon immer die natürliche Bestimmung dieser Wälder gewesen, eine Stätte der nationalen Holzproduktion zu werden. In Anbetracht der Tatsache, dass Venezuela mit über einen Prozent eine der höchsten Entwaldungsraten in Lateinamerika aufweist und der kommerziellen Holznutzung gemeinhin auch eine hohe Symbolkraft als Zerstörer von Tropenwald und indigenem Lebensraum zukommt, ist dieses positive Bild der Forstwirtschaft in Imataca erstaunlich. Schließlich beeinflusst dies ganz entscheidend auch Bedingungen und Durchsetzungschancen für alternative Geographien, wie sie sich im Rahmen kultureller und territorialer Anerkennungskämpfe seitens der dort ansässigen indigenen Bevölkerungsgruppen verstärkt zu artikulieren versuchen. Im Folgenden wird den Gründen hierfür zunächst in einer historischen Rekonstruktion der territorialer Entwicklungen und Diskurse nachgespürt, um dann im Anschluss das Feld indigener Territorialität auszuloten: Was bedeutet es heute vom ›Territorium der Kari’ña‹ zu sprechen? Diese Frage schließt auch die Betrachtung der politischen Kämpfe indigener Gruppen um Landrechte ein, ein Kampf, der mit Hugo Chávez’ ›bolivarianischer Revolution‹ und sei-
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nem Entwurf einer plurikulturellen Gesellschaft neue Dynamik gewonnen hat (Leal González 2006; vgl. Scholz/Mansutti 2008).
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ALS
» NATIONALER B ESTIMMUNGSRAUM «
Welche Erklärungen gibt es für diese Erfolgsgeschichte der Reserve Imataca als Stätte industrieller Holzproduktion? Für eine Antwort auf diese Frage erscheint mir die Spurensuche auf zwei Ebenen lohnend. Eine erste Ebene der Erklärungen erschließt sich durch eine Analyse der diskursiven Repräsentation der forstlichen Praktiken in Venezuela. In seinem Artikel Romancing Colonial Forestry weist Raymond Bryant (1996) auf die Notwendigkeit hin, nicht nur die Praktiken kolonialer Forstbeamten in den Blick zu nehmen, wie es bisher der Schwerpunkt der meisten Arbeiten jedenfalls zur kolonialen Forstwirtschaft gewesen sei, sondern auch die »diskursiven Repräsentationen solcher Praktiken zu untersuchen«. Ausgehend von der Feststellung von Schmink/Wood (1987: 51), dass »Ideen [...] niemals unschuldig [sind], sondern jeweils bestehende soziale und wirtschaftliche Arrangements bestärken oder herausfordern«, plädiert Bryant dafür, »forstwirtschaftliche Berichte und Erzählungen als eine Art von Diskurs zu sehen, in welchem bestimmte Themen (kommerzielle Nutzung, staatliche Waldkontrolle) als der ›natürliche‹ Schwerpunkt forstlichen Managements präsentiert wurden, während andere (Subsistenznutzung, lokale Waldkontrolle) an den Rand gedrängt wurden«. (Bryant 1996: 170)
Seine Forderungen sind nicht nur für Untersuchungen der kolonialen Forstwirtschaft in British Burma wichtig, die er in seinem Artikel analysiert. Sie können gewinnbringend auch auf die Betrachtung der forstwirtschaftlichen Praktiken in Venezuela angewandt werden. Auch hier lohnt es der Frage nachzugehen, in welchen diskursiven Zusammenhängen die Forstwirtschaft steht – eine Frage, die in bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen zur venezolanischen Forstwirtschaft wenig Beachtung fand. Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Aicher (2001, 2004) dar. Aicher arbeitet in seiner Analyse vier grundlegende Themen bzw. story lines in der Repräsentation des venezolanischen Forstwesens heraus. Allgegenwärtig ist erstens das Thema von Fortschritt und Entwicklung, wobei Entwicklung
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hier v.a. mit großskaliger, »geplanter Industrialisierung« (Aicher 2001: 193ff.) gleichgesetzt wird. Diese anzutreiben wird gewissermaßen als natürliche Bestimmung der Forstwirtschaft gesehen. Zweites präsentiert sich die venezolanische Forstwirtschaft als hochgradig rationales und wissenschaftliches Sujet, was u.a. den Eindruck entstehen lässt, als stünde sie jenseits jeglicher politischen Auseinandersetzung. Drittens wird die Forstwirtschaft in einen engen diskursiven Zusammenhang mit »staatlicher Raumkontrolle« gestellt, und mit Ordnung und nationaler »Souveränität über Land und Ressourcen« verbunden (ebd.: 217). Solchermaßen konnotiert werden die forstlichen Konzessionspraktiken als positive, moderne Errungenschaften der Anarchie eines Raubbaus an der Natur gegenüber gestellt, wie sie frühere, koloniale Ressourcennutzungen oftmals geprägt hat und heute vielfach noch dem Goldbergbau der minería pequeña vorgehalten wird. Im vierten und letzten Diskursstrang schließlich wird die Rolle der aktuellen Forstwirtschaft als ein Vehikel der »Rentenkonservierung« gekennzeichnet, die, scheinbar am Gemeinwohl orientiert, dafür sorgt, dass die produktiven Ressourcen gewinnbringend erhalten bleiben (ebd.: 224ff.). Es lässt sich an Aichers Analyse kritisieren, dass sie, wie der Untertitel der Arbeit Vom Misserfolg einer erfolgreichen Politik schon ankündigt, die venezolanische Forstwirtschaft zu sehr als Geschichte eines (praktischen) Misserfolgs zu verstehen sucht. Im Anschluss an Ferguson (1994) ist jedoch auch gerade danach zu fragen, was dieses Handeln trotz seines Scheiterns bewirkt, welche materiellen und diskursiven Effekte im Zuge des ›Machens‹ entstehen, ganz unabhängig vom Erreichen der erklärten Ziele. Besonders zwei der genannten Diskurse – die »geplante Industrialisierung« und die »staatliche Raumkontrolle« – erscheinen mir hier von Bedeutung. Sie tragen wesentlich zum positiven Bild der Holzwirtschaft als Keimsaat einer nachhaltigen Regionalentwicklung in Imataca bei. Da nämlich die kommerzielle Holzwirtschaft in Imataca ausschließlich von nationalen Unternehmen betrieben wird, und trotz enormen Flächenanspruchs relativ geordnete und überschaubare Produktionsstrukturen aufweist, wird sie zum besonders geeigneten Vehikel staatlicher Raumsicherungs- und Entwicklungspolitik. Sehr deutlich formuliert findet sich dies in dem zweibändigen und preisgekröntem Buch Venezuela y su espacio fronterizo, in der die Entwicklung des Forstwesens als eine grundlegende Aktivität in dieser Grenzregion beschrieben wird, auf deren Basis sich die Besiedlung und Entwicklung der Region vollzieht (Sequera de Segnini 1987: 226ff.).
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Ähnlich wie Öl hat Holz eine identitätsstiftende Bedeutung, im Unterschied zu Öl allerdings nicht so sehr bezogen auf die soziale Gemeinschaft der vorgestellten Nation, sondern bezogen auf die territoriale Verfasstheit bzw. das territoriale Fundament der venezolanischen Nation. Während die Institutionen, Praktiken und Ideologien, die im Zuge der Kämpfe um die Regulation der Ölproduktion und Kontrolle über die Ölrente entstanden, eine wichtige Rolle bei der Entstehung jener »imagined community« in Sinne Anderson (1984) spielten, die das soziale Band der modernen, venezolanischen Nation bilden sollte, sind die institutionellen, materiellen und diskursiven Praktiken im forstlichen Feld zutiefst mit der Konstruktion von dem verbunden, was man analog als »national imagined geographies« (Radcliffe 1996: 25) bezeichnen könnte. Nach Auffassung vieler Venezolaner und Venezolanerinnen leisten die Forstwirtschaft und kommerzielle Holznutzung einen wichtigen Beitrag zur territorialen Integrität: Über sie wird gewissermaßen Staatlichkeit in diesen peripheren Grenzzonen hergestellt und gleichzeitig die wirtschaftliche und soziale Anbindung der Peripherie zum Zentrum gefestigt. Es gelingt so über die Holznutzung einen nationalstaatlichen Zugriff auf den Raum festzuschreiben, der große Legitimität in Venezuela genießt, und das obwohl dieser völlig unabhängig von der lokalen Bevölkerung und den indigenen Bewohnern, wenn nicht sogar im Gegensatz zu diesen, erfolgte. In diesem Sinne ist Holz die Antithese zu Balata, welches das Scheitern des Nationalstaates in der Peripherie verkörpert. Um die hohe Legitimität dieses staatlichen Zugriffs zu verstehen, will ich hier den im vorherigen Kapitel bereits erwähnten Gedanken des »nationalen Bestimmungsraums« (Radcliffe) noch einmal aufnehmen. Dabei kann die der Region Guayana zugewiesene Bedeutung im nationalen Fortschritts- und Entwicklungsdiskurs nicht allein auf ihre besonders privilegierte Ausstattung mit natürlichen Ressourcen zurückgeführt werden. Solche »naiven Geographien« (Bridge 2001) verkennen die vielfältigen materiellen und diskursiven Praktiken, die Guayana als distinkte Region geformt und hervorgebracht haben. Wie in früheren Kapiteln dieser Arbeit zum Teil bereits angedeutet, wurde Guayana zum einen schon früh zum Inbild der ›goldenen Tropen‹, zum quasi magischen Ort der Versprechungen und Verheißungen, der gesegnet mit einer großen Vielfalt an natürlichen Ressourcen und Reichtümern immer wieder die ökonomischen Begierden auf sich lenkte. Angefangen von den kolonialen Expeditionen von Raleigh, Berrio und vielen anderen, die nach den fantastischen Schätzen des El Do-
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rado suchten, über die gigantomanischen Konzessionsprojekte des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis hin zu den nicht minder ehrgeizigen Programmen einer industriellen Großerschließung der Region, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts von wechselnden venezolanischen Regierungen in Angriff genommen worden sind – Guayana hat immer wieder die ökonomischen und politischen Fantasien beflügelt. Je länger das Vorhaben der produktiven Einverleibung und Entwicklung von Guayana auf sich warten ließ bzw. scheiterte, desto dringlicher und übermächtiger wurde diese Herausforderung. Zum anderen prägen geopolitische Konkurrenzen die Geschichte dieses Landstrichs seit frühen kolonialen Zeiten. Gerade wegen der hier vermuteten Reichtümer geriet diese Region an der Peripherie Guayanas früh in den Einflussbereich rivalisierender Kolonialmächte, die den Grundstein für einen der langwierigsten Grenzkonflikte in der Geschichte Lateinamerikas legten (Braveboy-Wagner 1984). Bereits im Rahmen der bourbonischen Reformpolitik im 18. Jahrhundert wurde die Sicherung der Waldgebiete am unteren Orinoko als zentrale geopolitische Herausforderung der spanischen Kolonialregierung in Venezuela genannt (Giraldo 1991). Hatten sich die Spanier bis dahin vor allem auf die »defensa natural« dieser ausgedehnten Waldregion verlassen, die in ihrer Unwirtlichkeit und Undurchdringlichkeit, so hoffte man, eine Art natürlichen Schutzwall bilden und das Eindringen feindlicher Mächten aus dem Osten verhindern würde, setzten sich Vertreter des »Reformismo Borbónico de frontera« (Giraldo 1991: 137) für eine konzeptionelle Neuausrichtung der Grenz- und Raumpolitik in Guayana ein. Diese sah eine effektive Verteidigung und Schutz dieser auch wirtschaftlich aufgewerteten Region nur gewährleistet, wenn das Gebiet entwickelt, besiedelt und ökonomisch genutzt wird, ein Gedanke, der sich bis zur heutigen Grenzpolitik Venezuelas durchzieht. Trotz ernsthafter Bemühungen und Versuche guayanischer Gouverneure wie Centurión (1766-1776) und Marmión (1784-1791), vor allem eine forstwirtschaftliche Nutzung dieser Wälder in Angriff zu nehmen, änderte sich offenbar de facto in der Fläche wenig, so dass Guayana auch nach 1810 aus forstlicher Sicht die »unkultivierte und brachliegende Region« blieb, die es seit jeher gewesen war (Giraldo 1991: 144-145). Die Bedeutung des Zusammenhangs von Entwicklung und Souveränität wurde Venezuela mit dem bereits erwähnten Verlust des Essequibogebietes an Britisch-Guiana schmerzlich vor Augen geführt. Bereits in den Grenz-
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verhandlungen war die Frage der Besiedlung des Gebiets ein wichtiger Indikator für die Rechtmäßigkeit der Eigentumsforderungen. Die Engländer konnten hier offenbar stichhaltigere Beweise ihrer ›faktischen Präsenz‹ in den umstrittenen Territorien aufweisen (mit Karten, Bevölkerungsstatistiken, Kolonialberichten etc.), während Venezuela auf einem mehr politischsymbolischen Rechtsanspruch als ›Erstentdecker‹ dieser Region beharrte. Darin spiegeln sich auch unterschiedliche koloniale Traditionen und Riten in der Legitimation der Besitzergreifung in der Neuen Welt wider (Seed 1995). Für Venezuela ergab sich daraus eine schlichte, aber folgenreiche Erkenntnis, wie es am Schluss einer in Venezuela viel beachteten Abhandlung zur Geschichte des Grenzstreits zwischen Venezuela und BritischGuiana heißt: »Ein unbewohntes Land kann nicht als Saat partikularer Besitzansprüche herhalten. Das einzige Mittel, sein Territorium in Besitz zu nehmen, ist, es mit dem eigenen Schweiß zu befruchten. Und es ist sicher nicht gewagt zu behaupten, dass die vergangene und zukünftige Geschichte Venezuelas keine andere gewesen ist und sein wird als die seiner Kolonisation.« (Nuñez 1962: 144-145)
Die Abhandlung, der diese Passage entnommen ist, erschien zwischen 1944-1945 zunächst als Artikelserie in einer der führenden Tageszeitungen Venezuelas, El Nacional, und wurde 1962, offensichtlich auf Betreiben des venezolanischen Außenministeriums, in einem dünnen Buch unter dem Titel Tres Momentos en la Controversia de Limites de Guayana neu veröffentlicht. Dass Nuñez’ Arbeit gerade Anfang der 1960er Jahren aus den Tiefen des Zeitungsarchivs ausgegraben und in die öffentliche Erinnerung gerufen wurde, war kein Zufall. Nach langjähriger Diktatur wurde hier unter einem richtungsweisenden demokratischen Aufbruch zum erneuten Versuch einer äußeren und inneren Eroberung der südlichen Landesteile mobilisiert, einer conquista del Sur, die sich nunmehr mit den Mitteln des prosperierenden Ölstaates auf Guayana richtete (vgl. Kap. 5); zugleich wurde unter der Regierung Betancourts der alte Grenzstreit wiederbelebt. Im Zuge dieser Prozesse wurden zu Beginn der 1960er Jahre nicht zuletzt auch große Flächen in der Peripherie Guayanas ausgewiesen und für einen späteren, ökonomischen Zugriff reserviert, darunter das Gebiet der Forstreserve Imataca. Die Ausweisung der Forstreserve stand demnach in einem engen Zusammenhang mit der Grenzfrage, oder anders gesprochen mit der Notwen-
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digkeit, die aus der Perspektive nationalstaatlicher Souveränität prekäre ›Leere‹ dieses Raumes mit ›Venezolanität‹ zu füllen. Deutlich formuliert wird dieser Zusammenhang in dem bereits erwähnten Buch über Venezuelas Grenzräume: »Ein wichtiger Aspekt in der regionalen Geopolitik von Guayana ist die Umwandlung von peripheren Zonen in Schlüsselgebiete gewesen [...]. Die physische Präsenz [des Staates] ist in diesen peripheren Regionen mittels der Einführung juristischer Figuren wie der Forstreserve, des Nationalparks und der Schutzzone gelungen. Dies bedeutet, dass der Staat, zumindest rechtlich, große und kaum bevölkerte Regionen erobert hat.« (Alarcón 1987: 202)
Die Autoren lassen dabei keinen Zweifel an der Angemessenheit und Notwendigkeit dieser Form der staatlichen Raumaneignung, die, wie sie bemerken, in vielen Fällen zwar zunächst »mehr deklaratorischen und rechtlichen als realen Charakter besaß, die aber zweifelsohne als ein positiver Schritt in der territorialen Eroberung zu bewerten ist, insofern sich vernachlässigte Räume in Gebiete von nationalem Interesse verwandelt haben« (ebd.). Auch der Zeitpunkt der Ausweisung der Forstreserve Imataca legt geopolitische Kalküle nahe. Die Reserve Imataca in ihrer aktuellen Ausdehnung wurde im Januar 1963 offiziell durch eine ministeriale Resolution ausgewiesen. Zwei Monate zuvor, im November 1962, hatte Venezuela vor einem Sonderausschuss der Vereinten Nationen in New York offiziell Einspruch gegen die 1899 von einem internationalen Schiedsgericht festgelegte Grenze zu Britisch-Guiana erhoben und die Wiederaufnahme von Grenzverhandlungen gefordert (Briceño 1962; vgl. Braveboy-Wagner 1984). Eine spezifische Verkettung internationaler und nationaler Entwicklungen und Ereignisse ließ Anfang der 1960er Jahre eine Situation entstehen, die die politische Reaktivierung des alten Grenzdisputs für die damalige Regierung ebenso notwendig wie opportun erscheinen ließ. So kündigte sich mit dem Zerfall des britischen Kolonialreiches auch die Unabhängigkeit der überseeischen Kolonien in der Karibik und im Pazifik an, darunter auch das im Osten an Venezuela angrenzende Britisch-Guiana. Zum anderen erreichte nach der erfolgreichen Revolution in Kuba der anti-kommunistische Kampf der USA einen Höhepunkt, die in der venezolanischen Reformregierung Betancourts (1958-1963) einen wichtigen Verbündeten fanden. Auch die venezolanische Regierung sah sich mit einer zunehmend
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aktiven, kommunistischen Guerillabewegung im eigenen Lande konfrontiert. So diente der wiederbelebte Grenzkonflikt nicht zuletzt als eine »nützliche Ablenkungstaktik« (Braveboy-Wagner 1984: 248) im Bezug auf die innenpolitischen Zerwürfnisse im Land. Der Streit um den Grenzverlauf im Osten ist bis heute ein hochemotionales Thema in Venezuela, das im Geschichtsunterricht in den Schulen, in den Medien und öffentlichen Debatten wachgehalten wird. Seit der offiziellen Klage gegen die Festlegung der alten Grenze hat Venezuela immer wieder mit provokanten Aktionen und einer aggressiven Grenzpolitik auf sich aufmerksam gemacht: 1965 tauchten erste Landkarten mit einer markierten zona en reclamación auf, später Briefmarken, auf denen historische Landkarten aus der kolonialen und frühen republikanischen Zeit abgebildet waren, die allesamt den Essequibofluss als Venezuelas Ostgrenze verzeichneten; eine weitere Serie reproduzierte eine Karte, auf der die sukzessiven, imperialistischen Vorstöße der Briten in das ›venezolanische‹ Territorium dargelegt waren. Venezuela bediente sich hier zweier »politisch-kartographischer Herrschaftsnarrative«, die nach Anderson seit dem späten 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle in der Legitimierung kolonialer und nationaler Territorialansprüche spielten. Zum einen ist es der Versuch, mittels historischer Landkarten eine Eigentumsgeschichte des betreffenden Raums von möglichst umfassender historischer Tiefe zu rekonstruieren. Das verschaffte den europäischen Kolonialmächten, die sich durchaus ihres Status als fremde Eindringlinge in den Tropen bewusst waren, den Anstrich quasilegitimer Erben der von ihnen unterworfenen Länder. Zum anderen ist es der Rückgriff auf wirkungsmächtige, symbolische Effekte der »Emblematisierung« des nationalen Territoriums durch die Verbreitung dessen, was Anderson (1998: 151) »die Landkarte als Logo« nennt, d.h. einfache, schematische Abbildungen der Territorien, die jegliche erklärende und wegweisende Funktionen verloren haben. Solche Logo-Karten, die ihre Ursprünge in der Praxis der imperialen Staaten haben, ihre Kolonien auf der Landkarte mit einer imperialen Färbung kenntlich machen, sind »kein Führer mehr zur Welt« sondern »reines Zeichen«. Sofort erkennbar, beliebig reproduzierbar und verfügbar für die Übertragung auf Plakate, offizielle Siegel, Briefmarken, Briefumschläge usw., »drang das Logo tief in das öffentliche Bewusstsein ein und erschuf den antikolonialen, zum Leben erwachten Nationalismen ein machtvolles Emblem« (ebd.: 152). Auch in Venezuela hat die im Jahr 1965 erstmals auf einer offiziellen Landeskarte
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markierte zona en reclamación mittlerweile ihren fest umrissenen Platz in der nationalen Kartographie und territorialen Ikonographie erobert. Abbildungen des nationalen Territoriums von Venezuela, sei es in Schulbüchern, auf T-Shirts, Plakaten, Aufklebern oder auch Briefmarken beziehen stets das reklamierte Essequibogebiet im Osten des Landes mit ein. Das derart markierte Staatsgebiet ist zu einem inoffiziellen Nationalsymbol geworden, das die Erinnerung in der venezolanischen Bevölkerung an die ›verstümmelte Natur‹ ihrer geographischen Identität wach hält. Gerade vor dem Hintergrund dieser prekären Souveränität wird der Forstwirtschaft eine produktive Rolle in der Herstellung von Staatlichkeit in diesem einerseits leeren, aber gleichzeitig vollen Ressourcenraum zugewiesen, in dem die Indigenen nur als versprengte Reste vorkommen, die wenig Spuren hinterlassen: »Las comunidades que habitan Guayana eran las más atrasadas del país, su población particularmente nómada dejó pocas huellas de su paso«, schreibt Alarcón (1987: 126) in einem geographischen Standardwerk zu Guayana. Als grenzüberschreitende Gruppe erscheint deren Loyalität zur Nation darüber hinaus fraglich, was ihre Bedeutung weiter schmälert. Solange dieses Bild noch breit durchgesetzt bleibt, wird nicht nur der Zugriff des Staates auf dieses Gebiet und seine Ressourcen legitimiert, zugleich haftet den indigenen Ansprüchen und Forderungen nach kultureller und territorialer Autonomie unweigerlich der Makels eines antinationalen Partikularismus an. In der Diskussion um indigene Landrechte, einen der umstrittensten Punkte der neuen Verfassung von 1999, wurde dies auf sehr unmissverständliche Weise von Kritikern deutlich gemacht (vgl. Mansutti 2000).
P REKÄRE T ERRITORIALITÄT – W ER SPRICHT FÜR DEN W ALD ? Die geographische Vorstellungswelt, die Guayana und Imataca als vergleichsweise dünn besiedelten Raum mit enormem Ressourcenpotenzial sieht, bleibt nicht ohne Folgen für Bedingungen und Möglichkeiten alternative Ansprüche auf diesen Raum anzumelden und durchzusetzen, wie sie in den Forderungen nach Land und Landrechten indigener Bewohner dieser Region zum Ausdruck kommt. Was aber heißt es heute, von einem indigenen Territorium zu sprechen? Und mit welchen Schwierigkeiten und Hin-
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dernissen sehen sich indigene Bewohner wie die Kari’ña in ihren Landrechtsforderungen konfrontiert angesichts der geschilderten Wirkungsmacht staatlicher Diskurse um Entwicklung und Souveränität in diesem Grenzgebiet? Die Fragen spiegeln unterschiedliche Facetten der indigenen Landrechtsproblematik wider. Einmal geht es um die Frage, wie sich die territoriale Gebunden- und Verbundenheit der Kari’ña zu diesem Ort darstellt vor dem Hintergrund der geschilderten Zusammenhänge von räumlicher Repräsentation und forstwirtschaftlicher Durchdringung. Wie artikuliert sich ihre kulturelle Differenz räumlich? Die Frage nach der Bedeutung von Räumen, von Orten in kulturellen Identitätspolitiken ist gerade in Zeiten virulent, in denen immer mehr Menschen »in a generalized condition of homelessness« leben, wie es der bekannte Vordenker des Postkolonialismus Edward Said (1979: 18) einmal formulierte. Flüchtlinge, Migranten, Vertriebene und staatenlose Volksgruppen sind vielleicht diejenigen, die diese Realitäten gegenwärtig in ihrer größten Radikalität erfahren und leben. Das Problem ist jedoch allgemeiner in einer globalisierten Welt, in der Menschen, Bilder, Ideen, Kulturprodukte und Waren in immer schnellerem Tempo um die Welt zirkulieren (Appadurai 1990). In dem Maße, wie die Grenzen zwischen dem ›hier‹ und ›dort‹, den verschiedenen Orten und Kulturen verschwimmen, bricht auch die Illusion von einer natürlichen und wesentlichen Beziehung zwischen Ort und Kultur weg, wie sie konventionellen Kartierungen der Welt in verschiedene Nationen und Kulturregionen zugrunde liegt. Dies gilt für indigene Kulturen ebenso, wo dieser Naturalismus offenbar besonders ausgeprägt ist, wenn wir uns die Routine in der Ethnologie vergegenwärtigen, die Beziehung zwischen einer kulturell homogenen Gruppe – einem Stamm, einer Ethnie – und ihrem Territorium als mehr oder weniger natürlich und gegeben zu betrachten. Dies mag unter anderem daran liegen, dass indigene Gruppen wie etwa die Kari’ña in Imataca im Vergleich zu vielen anderen sozialen Akteuren in dieser Region weitaus stärker ortsgebunden scheinen, doch auch hier ist ihre Beziehung zum Territorium dynamisch, umkämpft und nicht zuletzt auch prekär. Von diesen grundlegenden Reflexionen über die Beziehung zwischen Raum und kultureller Differenz ist die juridische Dimension der indigenen Landrechtsproblematik zu unterscheiden. Der Prozess der Demarkation und Absicherung indigener Territorien im nationalen Recht folgt einer eigenen Logik, die nur bedingt mit dem zusammenfällt, was man in Anlehnung an Lefebvres (1974) Pionierarbeit zur Produktion des Raums als »gelebten
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Raum« umschreiben könnte. Es ist einsichtig, dass indigene Territorien kartographisch und kulturell klar markiert und identifiziert sein müssen, um die Bedingungen für eine formale Demarkation und Zuweisung von Landtiteln zu erfüllen, allesamt Eigenschaften, die den gelebten Raum als historisch geformtes und diskursiv umkämpftes Terrain nicht auszeichnen. Mit Blick auf die Kari’ña zeigt sich, dass beides – sowohl ihre dezentral gelebte Territorialität wie auch die zum Teil damit zusammenhängenden rechtlichpolitischen Probleme – ihre Fähigkeiten des »countermapping« (Peluso 1995) erheblich untergraben. Auf formaler Ebene zeigt sich dies zunächst einmal in der banalen, aber folgenreiche Tatsache, dass fast alle der in Imataca lebenden Kari’ña in einer Forstreserve leben, eine juristische Figur, in der eine wirkungsmächtige, abstrakte Verfügungsmacht über den Raum festgeschrieben wird, die nicht nur primär an staatliche und externe ökonomische Kalküle gebunden ist, sondern auch alternative Landrechtsforderungen erschwert. Forstreserven gelten als sogenanntes Staatsland, dessen Wälder und Ressourcen im nationalen Interesse zu verwalten und zu nutzen sind. Als solche waren sie zumindest in der alten Verfassung rechtlich von der Vergabe privater oder gar kollektiver Landtitel ausgeschlossen. Hinzu kommt die hohe Legitimität dieser Reserve im symbolisch-politischen Diskurs, die eine Grundsatzkritik an solchen Sonderverwaltungsgebieten in Venezuela oft schon im Keim erstickt, obgleich diese Gebiete in vielen Fällen mit genau jenen Territorien zusammenfallen, in denen indigene Gruppen mehrheitlich siedeln, wie ein Rechtsexperte des venezolanischen Umweltministeriums in einem Interview etwas verwundert bemerkt: »Nun ist es so, dass in jenen Gebieten, in denen die Exekutive jüngst Interesse zeigte, den Indigenen Landtitel zu verleihen, dass es sich hier also herausstellte, dass diese Gebiete zufällig, ich weiß nicht warum, aber es muss seinen Grund haben, dass die Gebiete, in denen heute die indigenen Gemeinschaften leben, genau die Gebiete sind, die zu Nationalparks und Forstreserven erklärt worden sind. In den Nationalparks und Forstreserven ist Privateigentum sehr eingeschränkt. Es sind Gebiete der öffentlichen Hand, der Nation, so dass diejenigen, die dort leben, keinen Anspruch auf Landtitel haben. Sie können die Gebiete nutzen. Das ist alles«. (Hernández 1997)
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Mit der neuen bolivarianischen Verfassung, die im Jahre 1999 zu Beginn der ersten Regierungszeit von Hugo Chávez verabschiedet wurde, hat sich die rechtliche Situation der indigenen Bevölkerung in Venezuela entscheidend verändert. Schließlich garantiert ihnen die neue Verfassung nicht nur weitreichende Rechte kultureller Autonomie und selbstbestimmter Entwicklung, sondern auch territoriale Rechte über die »Habitate und Ländereien«, die sie bewohnen. Auch die im Jahr 2001 erfolgte Unterzeichnung der ILO-Konvention 169, ohne Zweifel eines der wichtigsten existierenden Rechtsinstrumentarien für indigene Völker, die neben einer Vielzahl indigener Grundrechte auch das Recht auf Land garantiert, bekräftigt zunächst diese positive Wende in der venezolanischen Indigenenpolitik. Gleiches gilt für das lang geforderte und umkämpfte ley orgánica de pueblos y comunidades (LOPCI)«, das 2005 in Kraft trat und u.a. Richtlinien für die Demarkation indigener Territorien festlegt (Arias 2007). Zumindest formalrechtlich hat Venezuela damit eine erstaunliche Kehrtwende von einer auch im lateinamerikanischen Vergleich sehr rückständigen Minderheitenpolitik, das der indigenen Bevölkerung lange Zeit nur das »Recht zur Integration« zuerkannte, hin zu einem fortschrittlichen, multiethnischen und plurikulturellen Staat gewandelt, der die kulturelle Differenz seiner indigenen Bevölkerung formal anerkennt und auch ihre politische Partizipation fördert (Kuppe 2006; Van Cott 2010). Die konkrete Lebenssituation der indigenen Minderheit hat dies jedoch nach Einschätzung von venezolanischen Menschenrechtsorganisationen bislang kaum verbessert: Diskriminierung, Missachtung von Rechten und Landnutzungskonflikte setzen sich in vielen indigenen Siedlungsgebieten fort und auch an ihrer prekären Gesundheitsversorgung und Schulbildung hat sich trotz der in Verfassung garantierten interkulturellen Gesundheitsdienste und bilingualen Schulerziehung offenbar wenig geändert (PROVEA 2006; Scholz/Mansutti 2008) . Ernüchternd fällt auch die Bilanz mit Blick auf die Ausweisung und Absicherung indigener Territorien aus. Über zehn Jahre nach Verabschiedung der bolivarianischen Verfassung und trotz des Versprechens einer zügigen Abwicklung ist der Prozess der Demarkation indigener Ländereien nicht sehr weit fortgeschritten. Nur eine kleine Minderheit der über 2000 indigenen Gemeinden hat bislang Landtitel erhalten, darunter auch einige Kari’ñasiedlungen in den Bundesstaaten Monagas und Anzoátegui (vgl. Arias 2007). Begünstigt wurden offensichtlich gerade solche comunidades, die sich in Lebensstil und Wirtschaftsweise weitgehend
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an die lokale Kreolen-Bevölkerung angepasst haben und entsprechend auch kleinere Gebiet beanspruchen. Dagegen deutet vieles darauf hin, dass die Regierung Chávez bei aller positiven Symbolpolitik wenig Bereitschaft zeigt, größere, zusammenhängende Territorien als indigen anzuerkennen: schließlich »bin ich dazu verpflichtet, die Einheit von Venezuela zu bewahren; wir können Venezuela nicht in Stücke teilen« so Chávez unmissverständliche Botschaft an die versammelten Indigenen bei einer festlichen Übergabezeremonie von Landtiteln im August 2005, um dann weiter klar zu stellen: »Bittet mich nicht um Eigentumstitel für unendlich große Territorien. Bittet mich nicht um Rechte für die Gewinnung von Gold, für die Förderung von Öl. Das eines klar ist, an erster Stelle steht die nationale Einheit« (zit. n. Leal González 2006: 214).
Auch die Hoffnungen der fünf in der Forstreserve Imataca lebenden indigenen Gruppen nach gesicherten Landrechten wurden nachhaltig gedämpft. Im neuen Nutzungsplan, der 2004 das alte und heftig umstrittene Dekret 1850 für die Reserve ersetzte, bleibt die Landrechtsfrage der Indigenen ungelöst. Statt indigener Territorien werden sogenannte Ressourcennutzungszonen für indigene Gruppen ausgewiesen, in denen der dort siedelnden indigenen Bevölkerung ein sogenanntes Konsultationsrecht und gegebenenfalls auch ökonomische Beteiligung zugebilligt wird. Allerdings bleibt unklar, wie dies zum Wohle der Indigenen umgesetzt werden kann. Kritiker befürchten vielmehr, dass Dritte sich auf Kosten der Indigenen an den vorhandenen Ressourcen bereichern, schließlich dürfte es kein Zufall sein, dass zwei Drittel der für den Goldbergbau vorgesehenen Fläche mit indigenen Zonen zusammenfallen (Centeno 2004). Auch nach der neuen Verfassung behält der Staat sich die Verfügungsrechte über Forstreserven und anderen Sonderverwaltungsgebieten vor, die immerhin über 80 Prozent des Bundesstaates Bolívar ausmachen. Noch wichtiger vielleicht: auch die Nutzungsrechte der Bodenschätze, inklusive derjenigen, die in den wenigen, bislang zugesprochenen indigenen Territorien verborgen sind, verbleiben unter staatlicher Kontrolle. Dieses in den meisten lateinamerikanischen Ländern unangefochtene Eigentumsrecht des Staates auf seine unterirdischen Rohstoffe schränkt die territoriale und kulturelle Autonomie indigener Gruppen selbst in formal anerkannten indigenen Gebieten stark ein und
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so wundert es nicht, dass gerade in solchen Ländern indigene Aktivisten sich strategisch neu ausrichten und die direkte Konfrontation und Verhandlung mit Öl- und Bergbaukonzernen suchen, wie etwa das Beispiel der Huarani und anderer amazonischer Tieflandgruppen in Ekuador zeigt (Feser 2000; Radcliffe/Westwood 1996) Wie überall in Amazonien bedienen sich indigene Gruppen in Venezuela des Mittels der mental maps, um den Prozess der Demarkation ihrer Territorien voranzutreiben. Sie kartieren ihr Territorium selbsttätig auf eine Weise, die nicht nur ihre Landansprüche geographisch genau identifiziert, indem Grenzen, Siedlungsorte, Jagd- und Nutzgebiete genau markiert werden, sondern auch kulturelle und historisch bedeutsame Artefakte und Orte visualisiert. Ziel ihrer Bemühungen ist es, das von ihnen bewohnte Gebiet zu einem ›kulturellen Produkt‹ zu machen, welches vorherrschende staatliche Repräsentationen dieser Räume als leer und brachliegend irritiert und herausfordert. Obwohl einige indigene Gruppen inzwischen unter großer Anstrengung eigenständige Demarkationen ihrer Territorien durchgeführt haben, sind alle darauf basierenden Landvergabe, etwa seitens der Ye’kuana oder Piaroa, bislang ohne Erfolg geblieben (Freire 2003; Scholz/Mansutti 2008). Vor dem Hintergrund der allgemeinen Aufbruchstimmung unter den venezolanischen Indígenas seit Chávez Machtübernahme und ihrem starken Engagement im Prozess der Demarkation, fällt die fast schon scheue und beinahe unmotiviert anmutende Zurückhaltung der Kari’ña in Imataca in dieser Angelegenheit auf. Nun treten Kari’ña aus der Region Imataca generell nicht als lautstarke Kämpfer in eigener Sache in Erscheinung. Oft waren es externe Aktivisten und Führer, die sich in den vergangenen Jahren ›ihrer Problematik‹ annahmen und in Konflikten das Wort für sie ergriffen – eine nicht unproblematische Tendenz, wie die in einem vorherigen Kapitel geschilderten Konflikte um die Goldmine Fangold deutlich gemacht haben. Auch alle bisherigen Versuche, einen Prozess der Ausweisung indigener Territorien bei den Kari’ña in dieser Region anzuregen, sind von außen gekommen. Ende der 1980er Jahre engagierte sich zunächst ein katholischer Priester in dieser Sache. Unter seiner Führung wurden Areale für die einzelne Kari’ñasiedlungen abgesteckt und angeblich auch im Feld mit Grenzsteinen markiert, wie mir Kari’ña aus Botanamo berichteten. Rechtlich zwar völlig irrelevant, besaßen solche Aktionen dennoch große symbolische Wirkungskraft. In den 1990er Jahren trat die regionale Federación de
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Indígenas del Estado Bolívar (FIB) an die Kari’ña heran, um sie über ihre bundesweite Initiative der Demarkation aller indigenen Territorien im Estado Bolívar zu informieren (FIB 1996, 1992). Vor Ort wurden in diesen Jahren immer wieder Versammlungen mit den capitanes der Kari’ñasiedlungen einberufen, um das weitere Vorgehen zu besprechen und wichtige Rechtsfragen zu klären. Eine grundlegende Frage war natürlich die nach der Lage und Größe des zu demarkierenden Territoriums der Kari’ña, und ob jede Siedlung ihre eigene Demarkation bekommen oder für alle Siedlungen ein zusammenhängendes größeres Gebiet ausgewiesen werden soll. Während die FIB sich offenbar aus pragmatischen Gründen vor allem für kleinere kommunale Demarkationen aussprach, wurde von dritter Seite zur gleichen Zeit die Forderung nach einer 200.000 qkm großen reserva indígena für die Kari’ña propagiert. Dieses Projekt war vor allem mit einer Person verbunden – José Vidal, einer ausgesprochen schillernden Person. Angeblich kolumbianisch-indianischer Herkunft lebte er lange Jahre bei den Kari’ña. Als capitán der comunidad Matupo trat er in den 1990er Jahren immer wieder als lautstarker und provokanter Wortführer der Kari’ña in der Öffentlichkeit auf. Die letzten beiden Initiativen waren während meines längsten Aufenthalts bei den Kari’ña über das Jahr 1997 aktuell, so dass ich die Reaktionen der Kari’ña in dieser Frage unmittelbar beobachten konnte. Insgesamt war die Stimmung eher verhalten, viele Kari’ña – gerade in Botanamo, wo ich hauptsächlich war, zeigten sich irritiert und verwirrt angesichts der unterschiedlichen Projekte, in denen immer wieder fremde Leute auftauchten, die über die große Bedeutung von Landtiteln, von Katastern, Karten, GPS und Grenzmarkierungen sprachen. Zugleich hatte sich schon eine gewisse Ernüchterung und Skepsis breit gemacht, die wohl auch mit der wiederholt gemachten Erfahrung zusammenhing, dass die Leute in der Regel alsbald wieder verschwanden, und meist nichts weiter passierte während Holzfirmen und Goldsucher unbeirrt ihren Aktivitäten nachgingen. Stattdessen wurden durch die z.T. konkurrierenden Initiativen interne Spannungen und Zerwürfnisse zwischen den einzelnen Siedlungen geschürt, die letztlich dazu geführt haben, dass viele Kari’ña sich heute gegenüber externen Hilfsangeboten, so wohlmeinend sie auch sein mögen, extrem skeptisch und misstrauisch zeigen. Zugleich bereitete es den Kari’ña offensichtlich Mühe ›ihr‹ Territorium zu benennen, und sie zeigten sich auch generell eher unengagiert und unmotiviert, dieser Frage nachzugehen oder gar eine eigene
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Demarkation in die Wege zu leiten, wie es viele andere Gruppen der Region getan haben bzw. tun. Die Schwierigkeiten der Kari’ña über ihr Territorium zu sprechen, schon gar nach außen hin klar zu artikulieren, haben wohl auch damit zu tun, dass sie sehr wenig an die politische Bewegung der Indigenen in Venezuela angebunden sind und eigentlich keinen jener selbstbewussten Indígena-Aktivisten in ihren Reihen vorweisen kann, die sich aktiv in die Belange regionaler und nationaler Politik einmischen und die Basis auf der politischen Bühne vertreten. Wie eben schon erwähnt, kamen die wenigen hörbaren Interventionen dieser Gruppe meist von externen Fürsprechern. Doch schienen mir die Schwierigkeiten grundlegender und tiefgründiger zu sein, als dass sie einfach mit einer schwachen politischen Repräsentation zu erklären wären. In ihnen spiegelt sich, so meine These, eine spezifische territoriale Situation wider, in der einerseits ihre enge Ortsgebundenheit auffällt, die sich aber offenbar nicht in die eng gefassten Grenzen eines lokal definierten Territoriums packen lässt. Anderseits scheint ihre territoriale Gebundenheit zugleich so prekär zu sein, dass das Sprechen darüber grundlegend erschwert ist.
»S HEER K ARI ’ ÑA
ALL THE WAY «
Orte und Regionen, in denen man aufgewachsen ist und einen großen Teil seines Lebens verbringt, sind für viele Menschen mit besonderen Gefühlen und Bedeutungen verbunden. Viele sprechen von »Heimat«, um diesem Gefühl der Nähe, des Vertrautseins, des Heimisch-Seins mit und in dieser heimatlichen Landschaft Ausdruck zu verleihen. Es ist vielleicht bezeichnend, dass eher selten von Heimat die Rede ist, wenn über die Beziehungen indigener Gruppen zu ihren Territorien gesprochen wird. Das mag natürlich zum Teil auch dem nicht ganz unproblematischen Begriff selbst geschuldet sein. Dennoch lässt sich der Eindruck nicht ganz verwehren, dass Indigene weniger eine ›Heimat‹ haben, als einen Lebensraum, und ihre Bindung dazu weniger in emotionalen und kognitiven Bindungen verankert ist, als in quasi naturhaften und funktionalen Abhängigkeiten. Vor allem indigene Gruppen, die – wie die Kari’ña in Imataca – bei allen Verwerfungen dennoch weitgehend subsistent in und vom Wald leben, laden zu solchen Betrachtungen ein. Nicht zufällig wird in venezolanischen Verfassungstexten
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jüngst auch der aus der Biologie kommende Begriff des Habitats verwendet, um auf indigene Siedlungsgebiete zu rekurrieren. Nun ist es sicherlich in der Tat so, dass die Kari’ña in Imataca materiell und kulturell auf sehr existenzielle Weise an das Territorium gebunden sind. Oft dient diese enge Bindung und Abhängigkeit von der physischen Umwelt als zentraler Marker, an dem die kulturelle Differenz indigener Gruppen, insbesondere von solchen, die in tropischen Waldgebieten wohnen, festgemacht wird. Das Gefühl der Fremdheit, das in exotisierenden Bildern von indigenen Kulturen hier gerne vermittelt wird, lebt mindestens so sehr auch von der ›fremden und un-heimlichen‹ (Um-)Welt, der wir hier begegnen. Vieles von dem, was als ›kulturelle Differenz‹ bei den Kari’ña heute beschreibbar ist – ihr zurückgezogenes Leben an der Peripherie, ihre soziale Organisation in kleinen, verstreuten Gruppen, ihre geringe Anbindung an lokale und regionale Märkte, ihr traditionelles Beharrungsvermögen – ist im Zuge einer intensiven und wechselhaften Kontaktgeschichte mit natürlichen Ressourcen koproduziert worden. Auch die Beziehung zu ›ihrem‹ Territorium ist keineswegs so isomorph und eindeutig, wie es gängige Redewendungen vom »angestammten Territorium« oder »hier leben seit eingedenk« suggerieren. Bereits vor über zwanzig Jahren hat Appadurai auf die problematische Tendenz in ethnologischen Kulturbeschreibungen aufmerksam gemacht, den Ureinwohner »räumlich einzukerkern« (Appadurai 1988). Auch im Fall der Kari’ña dürfte bereits deutlich geworden sein, dass sie in einem Gebiet wohnen, das in vielerlei Hinsicht durch koloniale und nationale Interessen und Praktiken markiert und geformt wurde. Das Bild von einem klar umrissenen, nun bedrohten und immer mehr beschnittenen Territorium, wie es in aktuellen Erzählungen über bedrohte indigene Tropenwaldgruppen gerne gemalt wird, ist also kaum geeignet, um sich der komplexen Struktur und Vielschichtigkeit dieses materiell-semiotischen Terrains, in dem sich die Kari’ña bewegen, angemessen zu nähern. Eine unmittelbare Ahnung von der Vielschichtigkeit dieses materiellsemiotischen Raums gewann ich sehr eindrücklich auf einer mehrtägigen Wanderung, die ich zusammen mit zwei Brüdern, Richard und Rinaldo Díaz aus Botanamo im Sommer 1997 über die Grenze nach Guyana unternahm, wo wir ihre Eltern und weitere Verwandte besuchen wollten. Das Brüderpaar war zusammen mit einem dritten, älteren Bruder Ende der 1980er Jahren nach Venezuela migriert, weil sie sich hier – wie sie erzählten – bessere Lebensbedingungen versprachen. Ihr Vater – ein venezolani-
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scher criollo – kam als Mitglied des Militärs in den frühen 1970er Jahren in Kontakt mit den Kari’ña im Grenzgebiet. Heute lebt er zusammen mit seiner Kari’ñafrau und fünf weiteren Geschwistern der drei Brüder aus Botanamo in einer kleinen Kari’ña-Comunidad namens Big Creek nördlich von Matthews Ridge, einem alten Bergbauort im Nordwest-Distrikt von Guyana. Dies war das Ziel unserer Reise. Etwa drei bis vier Tage, so schätzten die beiden, würde die Wanderung dauern. Die Wanderung führte uns von Botanamo zunächst nach Prestamo am östlichen Ende der Straße, wo wir die Nacht bei einem Cousin der Brüder verbrachten. Hier endet die zumindest in der Trockenzeit befahrbare Piste quasi im Nichts – unweit eines letzten venezolanischen Grenzpostens. Von dort ging es am nächsten Morgen zu Fuß weiter auf einem schmalen Pfad, der sich durch dicht bewaldetes und immer hügeliger werdendes Gelände in Richtung Osten schlängelte. Nach einer ersten feuchtkalten Nacht im ›Busch‹ in einem von meinen Begleitern schnell zusammengezimmerten Unterstand ging es am nächsten Morgen weiter über die Berge in Richtung Grenze. Der Pfad wurde immer schlechter und verlor sich zusehends im Gestrüpp und Unterholz des Waldes, so dass wir tatsächlich vom Weg abkamen und unfreiwillig in einem Minenort namens Las Pavas landeten. Während meine Kari’ñabegleiter die Goldmine schon in Guyana wähnten, liegt der Ort tatsächlich noch auf venezolanischer Seite und diente früher als venezolanischer Militär- und Grenzposten. Hier trafen wir auf Kari’ña aus Matupo, die hier – etwas abseits vom Rest der Goldsucher – nach Gold schürften. Darunter befand sich auch ein Bruder zweier Schwestern aus Botanamo, die beide mit dem vicecapitán der comunidad verheiratet waren. Ihm eilte der Ruf voraus ein großer und erfolgreicher Minero zu sein, der es in Guyana zu Wohlstand und Reichtum gebracht habe. Das Bild vom erfolgreichen Goldgräber stand jedoch im eklatanten Gegensatz zu den dreckverschmierten und armselig wirkenden Gestalten, die wir hier antrafen und die sich hier unter großem körperlichem Einsatz das Gestein nach Spuren von Gold durchsuchten. Die Ausbeute war bislang schlecht, so erzählten sie uns, aber trotzdem wollten sie noch weiter mit ihren Familien ausharren. Neben den Kari’ña arbeiteten schätzungsweise weitere hundert bis hundertfünfzig venezolanische mineros an diesem abgelegenen Ort, der nur zu Fuß erreichbar ist, regelmäßig jedoch von Hubschraubern angeflogen wird. So gerne ich selbst hier die Nacht im ›Komfort‹ einer trockenen Hütte verbracht hätte, meine zwei Begleiter zog es unweigerlich weiter und, wie es
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schien auch, fort von den venezolanischen Goldsuchern, in deren Nähe sie sich offenkundig unwohl fühlten. Nur wenig später schlugen wir das Nachtlager im Busch auf. Unterkunft bot uns diesmal eine alte Hütte am Rande eines früheren Goldgräbercamps, dessen kaputtes Dach meine Begleiter notdürftig instand setzten, um uns vor den zu dieser Jahreszeit ausdauernden Regenfällen zu schützen. Auch hier zeugten tiefe Schächte und Gräben, verrostete Maschinen und Benzinkanister, und eine ziemlich verschlammte und etwas suspekt aussehende Lagune von früheren Goldschürfaktivitäten an diesem Ort. Nach unfreiwilligem Bad in einer Schlammgrube endlich wieder trocken in meiner Hängematte liegend begann einer der Brüder im vom »Amerindian bushlife« zu erzählen, wie er sein Leben als Kari’ña nicht ohne Stolz charakterisierte. Er erzählte davon, wie er früher mit seinen Brüdern oft bis zu fünf Tage andauernde Jagdzüge unternommen hat und wie wichtig es sei, als Kari’ña im und vom Wald überleben zu können und unabhängig zu sein. Er erzählte von nützlichen Busch-Kenntnissen, welches Holz am besten fürs Feuermachen taugt, welche Früchte besonders schmackhaft sind, oder dass die Milch des purgo blanco gut als Klebstoff taugt, im Gegensatz zum ähnlich aussehenden purgo negro, der früher das begehrte Balata lieferte. Auf unserem Fußmarsch nach Guyana wurde mir diese Fähigkeiten, in und mit dieser Natur zu leben immer wieder eindrücklich vor Augen geführt: der allabendliche, improvisierte Bau einer Hütte aus verfügbaren Ästen und Palmblättern; das Feuern mit ausgesuchten, ganz und gar nassen Hölzern; das ›Lesen‹ kleinster Spuren und Zeichen im Wald zum Finden von Schildkröten, Jagdwild und versteckten Wegen, während ich oft nur undefinierbares Grün um mich herum sah. Immer wieder unterbrachen die beiden Brüder unseren ansonsten eher schweigsamen Marsch mit Hinweisen auf frühere Bewohner und alte, verlassene Kari’ñasiedlungen, wie etwa den Ort El Cedro bzw. Cedar östlich von Las Pavas, an dem wir vorbeikamen und wo viele der heute in Matupo lebenden Kari’ña zuvor gewohnt hatten. Sie erzählten vom Schmuggel- und Tauschhandel, der früher hier im Grenzgebiet zwischen Guyana und Venezuela florierte und bei dem meist venezolanisches Gold gegen guyanischen Rum, dem sogenannten high wine getauscht wurde oder auch von einem alten Mann namens Mundo aus Tumeremo, der hier lange gewohnt und nach Gold gesucht hatte und bei dem man die Nacht verbringen konnte, wenn man in der Gegend unterwegs war.
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Auch am nächsten Tag stießen wir wieder – scheinbar im Nichts des Waldes – auf ein Kari’ñagehöft direkt an einer kleinen Flussbiegung gelegen, wo Verwandte von Kari’ña aus Matupo und Prestamo wohnen sollen, wie mir meine Begleiter erzählten. Die Hütte schien verlassen, ein Bündel überreifer Bananen gammelte auf einem Tisch vor sich her. Richard und Rinaldo vermuteten, dass die Bewohner zu einer Mine aufgebrochen waren, um dort zu arbeiten. Nach einer ebenso spektakulären wie gefährlichen Überquerung des Barima, der jetzt zur Regenzeit ein reißender Fluss war, kamen wir nach Tagen, in denen wir so gut wie niemandem begegnet waren, langsam in eine Gegend, in der sich die Anzeichen von menschlicher Aktivität und Präsenz wieder verdichteten: die Wege waren deutlich ausgetretener und wiesen frische Fußspuren auf, die meine Begleiter auch neugierig studierten, um herauszufinden, ob es sich um das Profil von Gummistiefeln handelt, die bevorzugt von Kari’ña getragen werden oder um festeres Schuhwerk, das wohl eher für nicht-indigene Guyaner sprechen würde. Wie immer, wenn es Anzeichen dafür gab, dass es sich nicht um Indigene handelte, versuchten meine Begleiter einen direkten Kontakt möglichst zu vermeiden. Nur widerwillig ließen sie sich von mir überreden, den Minenort Turtle Creek zu durchqueren, statt ihn zu umgehen, wie es ihr Plan war. Nach mehreren Stunden Fußmarsch, ohne etwas gegessen zu haben, schien mir dies ein geeigneter Ort für eine Rast. Meine zwei Kari’ñabegleiter allerdings zeigten sich nicht gewillt, länger als notwendig hier zu verweilen und drängten zum zügigen Weitermarsch. Nach weiteren zwei Stunden mühseliger Wanderung auf einem extrem morastigen und zum Teil steil ansteigenden Weg, auf dem wir immer wieder unglaublich schwer beladenen Männern begegneten, die als sogenannte Träger arbeiteten und die hier verstreuten Minenorte mit Brennstoff und Vorräten versorgten, waren wir endlich am ersten Etappenziel angelangt: Cinco Estrellos bzw. Five Stars, das sich geradezu idyllisch auf beiden Seiten einer Biegung des Barimaflusses entlang erstreckte. Auf der einen Seite befanden sich Unterkünfte überwiegend afro-guyanischer Goldsucher, sogenannte pork-knocker, und Händler, die mit allem Handel treiben, was hier in dieser abgelegenen Goldregion von Nöten und nachgefragt ist: Nahrungsmittel, Kleidung, Geräte, Taschenlampen, Hängematten usw. bis hin zu Drogen, die hier in den letzten Jahren offenbar immer mehr in Umlauf kamen. Auf der anderen Seite des Flusses befanden sich mehrere Kari’ñagehöfte, darunter auch das große Haus eines Onkels von Richard und Rinaldo, der uns überrascht, aber herzlich will-
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kommen hieß. Nach und nach verbreitete sich die Kunde unseres Besuchs und immer mehr Cousins und Vettern trafen ein, um die Ankunft der zwei Brüder aus Venezuela zu feiern – mit hochprozentigem Rum, was letztlich in einem zwei Tage dauernden Besäufnis und einem fast ebenso langen Rauschschlaf aller Beteiligten endete. Erst einige Tage später waren meine Begleiter wieder in der Lage unsere Reise fortzusetzen. Nach längerer Bootsfahrt den Barima hinab und einem letzten Zweistundenmarsch, der uns auf frisch angelegten, und entsprechend aufgeweichten Forstwegen durch eine offenbar intensiv genutzte Holzkonzession führte, kamen wir schließlich in der Siedlung ihrer Eltern an. Auch hier also liegen viele Kari’ñasiedlungen inmitten riesiger Holzkonzessionen, die seit Mitte der 1980er Jahre an meist asiatische Holzfirmen vergeben wurden, wie etwa an die Barama Company Ltd., ein malaysisch-koreanisches Konsortium, das Anfang der 1990er Jahre große Flächen des Kernsiedlungsgebiets der Kari’ña im Nordwesten Guyanas zur industriellen Holznutzung zugesprochen bekam und das zu Bedingungen, die, wie Marcus Colchester vom World Rainforest Movement in seinem Buch über Guyana kritisch vermerkte, allzu deutlich zeigte, »wie weit die Regierung Hoyte bereit war zu gehen, um ausländische Investoren anzulocken« (Colchester 1997: 102). Viele Kari’ña hatten nur vage Vorstellungen von den Aktivitäten der Holzindustrie, die sich in ihrem Territorium breit gemacht hatten und viele hatten überhaupt erst durch internationale NGOs und die nationale Amerindian Peoples Association, die schon früh gegen die Missachtung der zum Teil schon zugesicherten indigenen Landtitel bei der Vergabe dieser Barama-Konzession öffentlich mobil machte, davon erfahren, dass sie nun in einer Forstkonzession wohnten (vgl. Colchester 1997). Noch deutlicher als auf venezolanischer Seite, so schien es mir, drückte sich hier dem Gelände der Stempel der Holzfirmen auf: egal wohin ich die Kari’ña begleitete, zu ihren zum Teil weit entfernten Maniokfeldern, zu Häusern von Verwandten oder zu einem der vielen kleinen Goldgräbercamps in der Region, immer wieder kamen wir an frisch gerodeten Waldstücken mit aufgestapelten Holzstämmen vorbei und überquerten frisch planierte, vom Regen extrem aufgeweichte Forstwege, auf denen die Spuren von Lastern und Jeeps des Firmenpersonals sich deutlich abzeichneten. Ohne wirklich zu begreifen, was all diese Entwicklungen kurz-, mittel- oder langfristig für sie bedeuten, machen die Kari’ña offenbar einfach weiter so gut es geht, immer bereit, ihre kleinen Funde an Goldkörnern für eine gute
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Zeit mit Rum und Zigaretten an einer der Lebensmittelbuden vor Ort einzutauschen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Eindrücke, die sich mir während unserem gemeinsamen Fußmarsch und Aufenthalt im Nordwesten Guyanas bot, so lassen sich doch ein paar rote Fäden erkennen, die mir im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage nach der sozialräumlichen Dynamik bei den Kari’ña interessant erscheinen. Wie so oft sind es gerade die vermeintlichen Widersprüche und Ungereimtheiten, die sich als besonders aufschlussreich erweisen. Die Wanderung durch den Wald führte mir zunächst deutlich vor Augen, wie stark die Kari’ña historisch und gegenwärtig mit dieser ausgedehnten Grenzregion zwischen Venezuela und Guyana verbunden und in ihr verankert sind. Spuren ihrer Präsenz sind im Gebiet allgegenwärtig: das verschlungene Netz alter Handelswege, das sich auch heute noch durch die hügeligen Wälder der Sierra Imataca zieht und die weitläufig verstreuten Kari’ñasiedlungen miteinander verbindet, gibt davon ebenso Zeugnis wie die vielzähligen, wenn auch für Außenstehende wie mich anfangs nur schwer erkennbaren Artefakte indigener Kultur: alte, längst zugewucherte Felder mit Fruchtbäumen, frühere Siedlungsorte, die als geographische und zeitliche Orientierungspunkte auf ihren Wanderungen dienen, baufällige Unterstände, die als Nachtlager auf Jagdzügen verwendet werden und vieles mehr. All dies gepaart mit profunden Kenntnissen der Kari’ña über Flora und Fauna, und vielen Erinnerungen an vergangene Geschichten vermitteln den Eindruck von einem »sheer Kari’ña all the way«, wie Forte diese spürbare kulturelle Einschreibung der Kari’ña in die Region treffend umschrieben hat. Bei allen vergangenen und gegenwärtigen Vorstößen und Besitzergreifungen durch Außenstehende haben die Kari’ña bis heute eine starke materiell-symbolische Besetzung des Gebiets aufrechterhalten können. Zugleich handelt es sich hier um eine Territorialität, die auf vielfältige Weise durch vergangene koloniale/nationale Nutzungen und Besitzergreifungen gebrochen, überlagert und transformiert wurde. Ihre gegenwärtigen sozialräumlichen Beziehungsmuster lassen sich als ein Zusammenspiel von intensivem Kontakt bei gleichzeitiger markanter Trennung beschreiben, das in seinen Regeln schwer zu fassen ist. Am ehesten ist die territoriale Situation der Kari’ña vielleicht mit dem Bild einer ›Bewegung in Zwischenräumen‹ zu vergleichen, einem unsteten Hin- und Herwandern zwischen und in den Nischen der ökonomischen Erschließungsfronten von Gold- und Holzindustrie und der nicht-indigenen Welt, deren Einfluss und Sog sich
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die Kari’ña zwar nicht gänzlich entziehen können und wollen, zu der sie aber eine gewisse räumliche Distanz aufrecht zu erhalten suchen, und sei es auch nur in Gestalt eines Flusses, der die Siedlungen von den Goldsucherund Holzfällercamps trennt. Es ist zugleich ein Oszillieren zwischen zwei verschiedenen politischen Fronten – Venezuela und Guyana, ein Leben als widerspenstige Grenzgänger, der an sich schon das Brüchige, Widersprüchliche und Hybride verkörpert. Für postkoloniale Theoretiker wie Homi Bhabha oder Ulf Hannerz sind solche Borderlands nicht als unbedeutende und periphere Landstriche zwischen zwei ansonsten stabilen Räumen abzutun. Sie konstituieren vielmehr eine »interstitial zone of displacement and deterritorialization that shapes the identity of the hybridized subject« (Gupta/Ferguson 1992: 18). Auch in historischer Perspektive ist eine solche Bewegung in Zwischenräumen, eine Besetzung von Fugen und Nischen kolonialer Machtfelder erkennbar. Im Spannungsfeld konkurrierender kolonialer Einflusszonen bot die politische wie imaginäre Grenzlinie für die Kari’ña immer auch die Möglichkeit des Rückzugs und der Flucht, wenn die Situation vor Ort gefährlich wurde, wie etwa während der venezolanischen Unabhängigkeitskriege oder in Zeiten des ersten Goldbooms, als viele Kari’ña sich in weniger zugängliche Zonen an oder über die Grenze zurückzogen. Grenzüberschreitende Migrationen prägen bis heute das Mobilitätsverhalten der Kari’ña in diesem Gebiet. Bis heute bestehen zwischen Kari’ña der beiden Ländern enge verwandtschaftliche Beziehungen und persönliche Kontakte. In gegenseitigen Besuchen wird dieses Netzwerk an sozialen und kulturellen Beziehungen aufrechterhalten. Für viele der heute in Imataca lebenden Kari’ñafamilien, vor allem in den Orten Matupo und Km 50 lassen sich solche grenzüberschreitenden Migrationsgeschichten rekonstruieren, die sie in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten, oft etappenweise, vom Nordwest-Distrikt Guyanas über den Guarampín schließlich nach Imataca in Venezuela geführt haben. Viele Kari’ña der älteren Generation sprechen zumindest rudimentär Englisch. Dies gilt zum Beispiel auch für Charles, ein mittlerweile vielleicht sechzigjährigen Kari’ña, der mit seinen Frauen und Kindern heute in Matupo II lebt. In pidginähnlichem Englisch erzählte er mir, dass er in einer kleinen Comunidad in der Nähe des heutigen Minenortes Five Stars geboren und aufgewachsen ist, und später – wohl auch als Reaktion auf den beginnenden Goldboom in der Region – mit einer Gruppe verwandter Familien eine neue
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Siedlung namens Cedar in unmittelbarer Nähe der Grenze gründete, von wo sie in den späten 1980er Jahren schließlich an ihren jetzigen Standort Matupo migrierten. Der Ort Cedar taucht auch in der Monographie der britischen Ethnologin Kathleen Adams über die Kari’ña am Barama auf. Es ist in theoretischer Perspektive interessant zu sehen, dass Adams diese Gruppe gerade wegen ihrer isolierten Lage als untypisch für die allgemeine Situation der Kari’ña klassifiziert und entsprechend in ihrer Kulturwandelstudie nicht weiter berücksichtigt (Adams 1972: 46). Vor dem Hintergrund der geschilderten Migration bedarf ihre Einschätzung einer Neubewertung. Schließlich ist die vergleichsweise isolierte Existenz der Kari’ña in Cedar der Erfahrung von Kontakt und Kulturwandel nicht vorgelagert. Nicht weil sie isoliert leben, werden sie von externen Entwicklungen und vom breiteren kulturellen Wandel weniger tangiert, wie Adams meint. Vielmehr muss ihre Migration nach Cedar gerade auch als Reaktion auf ihre Erfahrungen mit eindringenden Goldsuchern, Prospektoren und Holzfällern gesehen werden, d.h. als Teil einer aktiven Rückzugsbewegung, der bereits eine lange, sedimentierte Kontaktgeschichte vorausgeht. Die hier vertretene Sicht lässt sich auch mit den Befunden der Amerindian Lands Commission untermauern, die Ende der 1960er Jahre die Region bereiste. Ihren Erkenntnissen zufolge reagierten viele indigene Gruppen im NordwestDistrikt auf die jüngere Invasionswelle von Goldsuchern und Prospektoren zunächst mit einem Rückzug und suchten Zuflucht in den abgelegensten Teilen des Waldes, die sie finden konnten (Amerindian Lands Commission 1969: 200). Verstärkt wurde diese Aufbruchstimmung und Unruhe unter der amerindianischen Bevölkerung im Hinterland Guyanas auch durch ein Ereignis, das die sozialräumliche Situation der indigenen Bevölkerung diesseits wie jenseits der Grenze nachhaltig veränderte. Im Januar 1969 probte eine Gruppe von Farmern und Amerindians in Lethem eine offene, schnell scheiternde Revolte gegen die guyanische Zentralregierung, die weitreichende politische Turbulenzen nach sich zog. Was genau die Aufständischen mit ihrer Revolte zu erreichen hofften, ist bis heute nicht ganz geklärt. Die Autorität der guyanischen Zentralregierung ablehnend hatten sie offensichtlich die Errichtung einer eigenen abtrünnigen Republik Rupununi im Sinn, welche, wie sie hofften, von der venezolanischen Regierung unterstützt werden würde, die ja zur gleichen Zeit energisch ihren Anspruch auf das gesamte Gebiet westlich des Essequiboflusses in Guyana verfolgte. Ei-
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nigen Berichten zufolge wusste die venezolanische Regierung nicht nur vorab von der geplanten Revolte, sondern hatte die aufständischen Farmer und Amerindians mit Waffen und militärischem Training im Vorfeld sogar aktiv unterstützt (Braveboy-Wagner 1984: 161-162). Der guyanische Premierminister Burnham beschuldigte die venezolanische Regierung öffentlich der Anstiftung zu diesem Aufstand, um »unter dem Deckmantel von Subversion und Terrorismus ihre eigenen windigen Territorialansprüche voranzutreiben« (Burnham 1969; zit. n. Nascimento/Burrowes 1970: 171f.). Eine kritische Aufarbeitung dieser Geschichte steht noch aus, so dass auch über die Rolle der Indigenen in diesem Aufstand wenig gesicherte Informationen vorliegen. Aus den Erzählungen eines unmittelbar involvierten Kari’ña, Philip Sampson, heute capitán der südlich von El Dorado gelegenen Kari'ñasiedlung Waruma Patte, ließen sich einige Anhaltspunkte gewinnen. Eine verbindende Klammer in der Allianz zwischen Ranchern und Indigenen war demnach das gemeinsame Interesse an größerer Autonomie und Landsicherheit – mit dem Unterschied freilich, dass es den Viehzüchterfamilien dabei wohl vor allem um die Wahrung ihrer Land- und Machtbasis ging, den Indigenen um ihren zukünftigen Status in der jungen Nation. Beide Interessenlagen ließen sich dabei, wie es scheint, anknüpfen an das ebenso kühne wie utopische Projekt eines politisch autonomen, von Venezuela protegierten Essequibogebietes, wie es die Aufständischen im Rupununi nach Ansicht von Sampson im Visier gehabt hätten. Anklang fand diese Vorstellung offensichtlich auch bei ihm selbst, der in seinem Rückblick auf die damaligen Ereignisse deutliche Sympathien für die Bewegung der Rupununi-Leute und deren Ziel offenbart, »das Essequibogebiet für die indigene Bevölkerung zu befreien«, wie er es formulierte (vgl. Grimmig 2007 für eine ausführlichere Darstellung seiner Geschichte). Viele Aufständische suchten nach der gescheiterten Revolte Zuflucht in Venezuela, wo sie als neue Bürger willkommen geheißen und mit venezolanischen Pässen, Geld und Land ausgestattet wurden. Im Kielwasser des Aufstandes sahen sich insbesondere Mitglieder der indigenen Bevölkerung aus der Rupunni-Region in großer Zahl zur Flucht über die Grenze nach Venezuela (zum Teil auch nach Brasilien) gezwungen. Nach Angaben des venezolanischen Außenministeriums kamen allein im Jahr 1970 über 600 Indigene aus dem Essequibo nach Venezuela (MRE 1970: 315). Sie wurden an neuen Orten auf der venezolanischen Seite der Grenze angesiedelt. Der Aufstand in Rupununi führte so zu einschneidenden Veränderungen der
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demographischen und räumlichen Siedlungsstrukturen innerhalb der indigenen Bevölkerung in dieser Grenzregion, deren Bedeutung bei der Rekonstruktion indigener Territorialität nicht unterschätzt werden darf. Die heutigen Siedlungsmuster der Indigenen im Südosten des Bundesstaates Bolívar lassen sich ohne die Ereignisse in Rupununi nicht verstehen. Die Mehrheit grenznaher Siedlungen in dieser Region wie San Martín de Turumbán, San Ignacio de Yuruani und Las Claritas/St. Lucia de Inaway gehen auf diese Ereignisse zurück. Sie alle wurden Anfang der 1970er Jahre für die nach Venezuela geflüchteten ›Amerindians aus Guyana‹ mit staatlicher Unterstützung gegründet. Auch viele Siedlungen der Pemon, Kari’ña, Akawaio und Warao entlang der Verkehrsachse von El Dorado nach Santa Elena de Uairén an der brasilianischen Grenze, so auch die oben erwähnte Kari'ñaComunidad Waruma Patte, sind im Sog dieser Ereignisse entstanden. Schließlich war die Situation für die indigene Bevölkerung im Hinterland von Guyana nach dem Aufstand extrem schwierig. Das Menetekel einer Sezession stand im Raum und die nationale Loyalität der Amerindians wurde offen infrage gestellt. Die guyanische Regierung fuhr nach dem Aufstand eine aggressive Integrationspolitik gegenüber der indigenen Bevölkerung und lancierte ein ehrgeiziges Besiedlungs- und Entwicklungsprogramm für das ›abtrünnige Hinterland‹. »Unser Motto jetzt und in den Jahren, die folgen, muss sein: Vorwärts! Auf nach Westen! Auf nach Süden! Auf zum Land!«, so die deutlichen Worte des damaligen Präsidenten Burnham in seiner Rede zur Nation (zit. n. Spinner 1984: 137). Der Aufstand bedeutete zugleich einen schwerwiegenden Rückschlag in der Frage indigener Landrechte. In Erfüllung der im Unabhängigkeitsvertrag festgeschriebenen Rechte auf Land für die indigene Bevölkerung Guyanas war 1966 die bereits erwähnte Amerindian Lands Commission eingerichtet worden. Der Bericht der Kommission wurde 1969 in den unmittelbaren Nachwehen des Rupununiaufstands fertig gestellt und der Regierung präsentiert. Dies spiegelte sich deutlich in seinen Ergebnissen und Empfehlungen wider, die generell weit hinter den Forderungen der indigenen Gemeinschaften zurück blieben. In vielen Fällen, insbesondere in sensiblen Grenzdistrikten, wie etwa im Nordwest-Distrikt (Arawaken, Warao und Kari’ña), am oberen Mazarunifluss (Akawaio und Arekuna), im südlichen Rupununi (Wapishana) und nördlichen Rupununi (Makushi) fielen die empfohlenen Areale nun erheblich kleiner aus als ursprünglich gefordert. Für eine Reihe zerstreuter Gemeinschaften an den Unterläufen des Mazaruni, Cuyuni und
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Demerara, sowie in wichtigen Bergbaudistrikten, wie etwa jenen am mittleren Mazaruni und in der Barama-Kaituma-Region – letztere ein traditionelles Siedlungsgebiet der Kari’ña – wurde keine Vergabe von Landtiteln empfohlen (Amerindian Lands Commission 1969; vgl. Colchester 1997). Der gescheiterte Aufstand in Rupununi lieferte der Regierung einen guten Vorwand, die Vergabe von Landtiteln für die Amerindians hinauszuzögern. Stattdessen wurde die militärische Präsenz im Hinterland verstärkt. Auch als 1976 schließlich die ersten Landtitel an indigene Gemeinschaften verliehen wurden, über zehn Jahre nach der Unabhängigkeit Guyanas, blieben strategisch wichtige Grenz- und Wirtschaftszonen davon ausgespart – vielfach genau jene Gebiete, in denen heute massive Landnutzungskonflikte zwischen Indigenen und Holzfällern, Goldsuchern und/oder Viehzüchtern bestehen. Zugleich behielt sich die guyanische Regierung das Recht vor, Landtitel zu annullieren, falls Anzeichen von »Verrat« oder »Rebellion« unter den Indigenen erkennbar würden (Colchester 1997; vgl. Menezes 1988). Der Nordwest-Distrikt – ein Kernsiedlungsgebiet der Kari’ña – fand im erwähnten Vergabeprozess von Landtiteln an die Indigenen keine nennenswerte Berücksichtigung. Erst nach zähen Kämpfen wurde 1977 ein sogenannter Amerindian District für die Kari’ña etabliert. Jedoch verwehrte man den dort lebenden Kari’ña weiterhin und in Verletzung des Unabhängigkeitsabkommens formale Eigentumstitel (Forte 1993). Die schlechte Landrechtssituation der Kari’ña mag damit zusammenhängen, dass sie – ähnlich wie in Venezuela – auch in Guyana offenbar nur eine Randstellung in der aufkeimenden indigenen Bewegung nach der Unabhängigkeit hatten. Dies jedenfalls lässt sich den Schilderungen des eben schon erwähnten capitán von Waruma Patte entnehmen, der darin die Bemerkung von Adams (1972) bestätigt, wonach die Kari’ña im oberen Baramagebiet kaum oder gar keine Kenntnisse von diesen politischen Vorgängen hatten. »Mit Bezug auf die obere Baramaflussregion wurden denn auch keine Ansprüche auf Landtitel gestellt.« (Adams 1972: 32) Ansatzweise findet sich in diesen Geschichten die aktuelle Situation der Kari’ña in Imataca vorweggenommen: auch diese ist geprägt von einer auffallenden Rand- und Nischenstellung in vielen Bereichen – kulturell und sozial, politisch und territorial. Es ist ein Leben am Rande und doch mittendrin, hüben wie drüben im Zentrum nationaler Gold- und Holzindustrien, deren Konzessionen heute von beiden Seiten bis an die Landesgrenze
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vorstoßen. Die Konzessionen haben tatsächlich die ›Leere‹ gefüllt, und in dem Maße wie der Mangel an Staatlichkeit, an Grenzsicherheit und ›Zivilisation‹ nun schwindet, werden die Zwischenräume weiter transformiert und verengt, in denen sich die Kari’ña von Imataca bisher eingerichtet hatten. Aber gerade diese Fähigkeit, am Rande und in der selbstbestimmten Marginalität zu überleben, ist vielleicht zugleich der größte Triumph ihrer kulturellen Beharrung oder Resilienz. Es spiegelt sich darin eine Widerständigkeit wider, die sich nicht so sehr öffentlich artikuliert, etwa in lautstarken Forderungen nach Land und kultureller Autonomie, sondern vielmehr im Hintergrund, in einem äußerlich reduzierten, aber sehr hartnäckigem Eigensinn deutlich wird. In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass die Grenzregion zwischen Venezuela und Guyana auch in Zukunft zumindest ein Stück weit ›ihr Land‹ bleibt.
7 Grünes Gold – biologische Vielfalt und hyperreale Indigene
»A distinctive feature of this frontier regionality is its magical vision; it asks participants to see a landscape that doesn’t exist, at least not yet. It must continually erase old residents’ rights to create its wild and empty spaces where discovering resources, not stealing them, is possible. To do so, too, it must cover up the conditions of its own production.« ANNA TSING (2000)
Im Verlauf des Jahres 1997 erlebte der Begriff der biologischen Vielfalt in Venezuela eine erstaunliche Karriere im öffentlichen Diskurs. Er schmückte Protestbanner auf Demonstrationen in Caracas, prägte Titelschlagzeilen in der nationalen und regionalen Presse, war Thema zahlreicher wissenschaftlicher Diskussionen und politisches Motto indigener Kongresse und Arbeitsgruppen. Verantwortlich für diese neue Sichtbarkeit und Brisanz eines Themas, für das sich die weitere Öffentlichkeit in Venezuela zuvor nur wenig interessiert gezeigt hatte, war ein Konflikt, der das Siedlungsgebiet der Kari’ña in Imataca schlagartig ins Rampenlicht heftiger, politischer Kontroversen rückte. Auslöser für die Konflikte war ein neuer, von der Regierung per Dekret verabschiedeter Raumordnungsplan für die Forstreserve Imataca. Der Plan, der die Landnutzung in Imataca neu zonierte, war stark
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von einer Liberalisierung der Nutzung natürlicher Ressourcen geprägt, vor allem des industriellen Goldbergbaus, dessen Flächen fast verdreifacht werden sollten. Gegen diese ganz im Zeichen der apertura minera stehende Neuausrichtung staatlicher Ressourcenpolitik formierte sich binnen kurzer Zeit eine breite und in Venezuela bis dahin einzigartige Protestbewegung. Quasi über Nacht wurde der »Fall Imataca« zum nationalen Politikum, ja zur nationalen Schicksalsfrage, der Gegner wie Befürworter programmatische Bedeutung für Venezuelas zukünftigen Entwicklungskurs beimaßen. Scharf kritisiert wurde das sogenannte Decreto 1850, wie es in der venezolanischen Debatte meist knapp hieß, von nationalen wie internationalen Umweltgruppen, die ökologische Bedenken gegen die Ausweitung des industriellen Goldbergbaus in diesem ökologisch wertvollen, wenn nicht gar einzigartigen Tropenwaldgebiet anmeldeten, das nicht nur eine Vielzahl ökonomisch wertvoller Baumarten, sondern auch eine außergewöhnlich hohe Vielfalt endemischer Arten sowie und eine Reihe fragiler Ökosysteme aufweist und daher zu den noch verbliebenen frontier forests der Erde gezählt wird (WRI 1997; UCV/MARNR 2002). An vorderster Front der Widerstandsbewegung standen auch indigene Organisationen und Gruppen aus der Region, die die staatlichen Entwicklungspläne als direkten Angriff auf ihr Leben und als grobe Missachtung ihrer kulturellen und politischen Rechte verurteilten. Proteste kamen zudem von diversen politischen Gruppierungen, meist dem linken Spektrum zugehörig, die in der staatlich vorangetriebenen Liberalisierung des extraktiven Ressourcenmarktes einen »neo-imperialistischen Ausverkauf« ihres Landes und seiner Ressourcen an profitgierige westliche Großkonzerne argwöhnten. Diesen Gruppierungen standen mächtige Interessenskoalitionen aus Wirtschaft und Politik gegenüber, die in der anvisierten Industrialisierung und Liberalisierung des Bergbausektors in Guayana wiederum eine der Voraussetzungen dafür sahen, das wirtschaftlich und politisch arg gebeutelte Land endlich aus der Krise zu führen. Von den Segnungen des Goldes, so ihr vollmundiges Versprechen, würden über kurz oder lang alle Menschen in Venezuela profitieren. Der Konflikt um die Nutzung der Forstreserve Imataca galt schon wenige Jahre später als einer der »gesellschaftlich wichtigsten Umweltkonflikte« (García-Guadilla 2001) in Venezuela. Das Schicksal der Forstreserve Imataca mobilisierte die venezolanische Zivilgesellschaft wie kein anderes Umweltthema zuvor: Die Gegner des Dekrets organisierten regionale und landesweite Demonstrationen, führten Protestaktionen vor Ort durch, lan-
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cierten ihre Kritik in der regionalen und nationalen Presse und im Internet und erkämpften sich schließlich vor dem Obersten Gerichtshof eine vorläufige Annullierung des Dekrets. Nicht weniger aktiv waren die Befürworter, allen voran leitende Funktionäre in Ministerien und Bergbaukonzernen, die keine Mühen scheuten, den Nutzungsplan für Imataca als nachhaltiges Entwicklungsprojekt von nationalem Interesse gegenüber den fanáticos ecologistas zu verteidigen. Im Kern des Imatacakonflikts ging es um einige grundlegende Fragen darüber wie die zukünftige Entwicklung und Nutzung dieser tropischen Waldregion aussehen soll: welche Ziele sollten verfolgt werden? Mit welchen Mitteln? Für welche soziale Gruppe? Mit welchen Folgen und Kosten? Unter wessen Autorität und mit welcher Legitimität? Vor allem in den Monaten nach der folgenreichen Verkündigung der Nutzungspläne wurden diese Fragen von einer großen Anzahl von Leuten innerhalb und außerhalb der staatlichen Systems, von Bewohnern in der Region und Außenstehenden sowohl abstrakt als auch im Detail des spezifischen Falles diskutiert. Ausbruch und Hochphase der Kontroverse fielen in die Zeit meines Forschungsaufenthalts in Venezuela von Oktober 1996 bis November 1997. Mit meinem Interesse für natürliche Ressourcen und indigene Gruppen in Imataca berührte meine ethnologische Forschung neuralgische Punkte des Konflikts, den ich entsprechend mit großer Spannung und Neugierde verfolgte. Im Verlauf des Konflikts wurde eine Fülle von Texten produziert und zirkuliert – Zeitungsartikel, Berichte, öffentliche Stellungsnahmen und größere wissenschaftliche Studien, die neben Interviews mit zentralen Akteuren und teilnehmenden Beobachtungen vor Ort reichlich Material zur Analyse der zentralen Konflikt- und Diskurslinien bot. Mein Interesse galt dabei natürlich insbesondere der indigenen Bevölkerung, die eine wichtige Rolle in dem Konflikt spielte. Als eine der wenigen lokal verankerten Gruppen tangierten sie die realen wie geplanten Entwicklungen in der Forstreserve Imataca ganz unmittelbar und existenziell. Ihre hohe Sichtbarkeit und Präsenz im Konflikt um Imataca erstaunte zunächst wenig, wenn man bedenkt, wie sehr indigene Gruppen, insbesondere indigene Bewohner tropischer Wälder mit dem Aufstieg des Umweltthemas und der Sorge um tropische Wälder in den 1990er Jahren in das Rampenlicht von Medien, Umweltgruppen und internationaler Umweltpolitik katapultiert worden waren. Auch in Venezuela lässt sich am Verlauf der Debatten zeigen, wie die Verknüpfung zwischen indigenen Belangen und Anliegen des internationa-
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len Naturschutzes, die in der globalen Umweltdebatte bereits Anfang der 1990er Jahre kodifiziert wird, schrittweise immer stärker die konkreten Auseinandersetzungen um die Raumordnung im venezolanischen Südosten prägte. Das Siedlungsgebiet der Kari’ña in den Wäldern von Imataca transformierte sich im Zuge dieses Prozesses immer mehr zur ›globalisierten Umwelt‹, die als hotspot biologischer Vielfalt nicht nur ökologisch aufgewertet, sondern auch zur ökonomischen Ressource im Blick aufstrebender biotechnologischen Industrien wurde. Zugleich stellte der diskursive Zusammenhang von biologischer und kultureller Vielfalt den Indigenen selbst bedeutende symbolische und politische Ressourcen in ihren Organisationsund Artikulationsbemühungen zur Verfügung. Ausgehend von den konkreten Auseinandersetzungen um Imataca werden im Folgenden einige zentrale Dimensionen dieses neuen diskursiven Zusammenhangs zwischen Biodiversität und Indigenen aufgeblättert. Ich beginne zunächst mit einigen kurzen Ausführungen über die Entwicklung des Diskursfeldes um die ›biologische Vielfalt‹, ein Begriff, der im Laufe der 1990er Jahre rasch zum neuen Zauberwort der globalen Umweltdebatte wurde, zum »metaphorischen Magneten, der die Naturschutz-, Wissenschafts- und Geldgebergemeinschaften aufrüttelt« (Zerner 1996: 72). Während die Entstehung des Diskurses um biologische Vielfalt sich vor allem in globalen Zusammenhängen vollzog, richtet sich mein Blick danach zurück auf die Situation vor Ort, auf die Kari’ña in Imataca, deren kulturelle Traditionen und indigene Wissenspraktiken vor dem Hintergrund ihrer zugewiesenen Rolle im Politikfeld der biologischen Vielfalt neu betrachtet und reflektiert werden. Die Bedeutung von Vielfalt im politischen Diskurs um Imataca steht im Mittelpunkt der anschließenden Analyse der politischen Positionen und Strategien indigener Organisationen im Konfliktfall Imataca. Deutlich zeigt sich hier die mobilisierende Kraft dieses Diskursfeldes, der indigenen Akteuren auch in den Auseinandersetzungen bemerkenswerte Sicht- und Hörbarkeit verleiht. Dies gilt für die Kari’ña jedoch nur bedingt, da sie weitgehend außerhalb globaler umweltaktivistischer Netzwerke, nationaler Parteipolitik und indigener Bewegung stehen. Ernüchterung stellt sich darüber hinaus ein, wenn abschließend die konkreten Regelungen und Planungen betrachtet werden, wie sie bislang in Venezuela zum Schutz und der Nutzung biologischer Vielfalt im Siedlungsgebiet der Kari’ña angedacht und durchgeführt worden sind. Die symbolischen Terraingewinne, die indigene Völker mit und durch ihren Einschluss in die globale Umwelt-
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politik errungen haben, bleiben in der Umsetzung vor Ort enttäuschend unkonkret und abstrakt, sowohl im Hinblick auf klare Nutzungsregelungen, als auch auf die kulturellen und territorialen Rechtsansprüche indigener Bewohner, beides wichtige Ziele angesichts der umkämpften Ressourcen in Imataca, wo die biologische Vielfalt nur eine neben vielen anderen Ressourcen darstellt.
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Die biologische Vielfalt ist wie kaum eine andere Ressource in einem internationalen Kontext entstanden, wenn man ihre Konstitution als Gegenstand wissenschaftlicher, technischer und naturschutzorientierter Bemühungen betrachtet. Grundlage der wissenschaftlichen und politischen Debatten in diesem Feld ist zunächst die Diagnose einer globalen Umweltkrise. Als umfassende ökologische Problembezeichnung verweist die Rede von der biologischen Vielfalt auf die fortschreitende Erosion der Vielfalt natürlicher Lebensformen, der grundlegende Bedeutung für das menschliche Überleben und der ökosystemischen Prozesse zugesprochen wird. In der Öffentlichkeit wird der Verlust biologischer Vielfalt dabei in erster Linie an der alarmierenden Rate aussterbender Tier- und Pflanzenarten festgemacht. Während in die Zukunft gerichtete Befürchtungen zunehmend den Klimawandel betreffen, rangiert heute nach wie vor die Abholzung tropischer Regenwälder ganz oben auf der Liste der Ursachen. Nicht nur im populär-ökologischen Diskurs gehören Regenwälder zu den wenigen verbliebenen Orten, wo Natur sich (noch) in ihrer wahren, ursprünglichen und nahezu unberührten Gestalt offenbart – ein »letzter Vorposten des Paradieses« (Hecht/Cockburn 1989: 8). Auch die vergleichsweise nüchterne biowissenschaftliche Systematik vermutet hier wenigstens die Hälfte aller heute lebenden Arten (Gardner et al. 2009). Verstärkt durch Klimawandel, Versauerung des Ozeans, der Ausdünnung der Ozonschicht und anderer anthropogener Umweltprobleme ist der Schutz und die nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt zum weithin anerkannten Imperativ und Ziel globaler Umweltpolitik geworden. Kernstück dieser Bemühungen war und ist die internationale Übereinkunft über die biologische Vielfalt, kurz CBD, die 1992 auf der Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung verabschiedet wurde und aufgrund ihres rechtsver-
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bindlichen Charakters, raschen Inkrafttretens und den mittlerweile über 190 Ratifikationen als einer der größten Erfolge dieser Konferenz galt. Im Zusammenhang mit indigenen Belangen hat dabei die Tatsache größte Aufmerksamkeit gefunden, dass erstmals in einem internationalen Umweltabkommen die besondere Rolle explizit gewürdigt wird, die indigenen Völkern in diesem Kontext von Fachleuten seit langem zugebilligt wird. Im Rahmen der von der CBD anvisierten dreifachen Zielsetzung – erstens der Schutz, zweitens die nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt, sowie drittens die gerechte Verteilung der aus ihrer Nutzung resultierenden Gewinne – soll den indigenen Gemeinschaften Anerkennung gezollt werden für ihre Rolle als ›Wächter biologischer Vielfalt‹ und ›Träger wertvollen Biowissens‹. Dies hat zum Teil zu geradezu euphorischen Reaktionen bei Ethnologen geführt. So sah ein US-amerikanischer Forscher die indigenen Völker (Lateinamerikas) in diesem Zusammenhang »zum ersten Mal seit 500 Jahren auf Seiten der Gewinner« (Greaves 1994: Vorblatt). Andere Ethnologen haben weit zurückhaltender reagiert, so dass sich mittlerweile eine differenzierte Debatte ausgeformt hat, in der die Effekte dieser neuen rechtlichen Verknüpfung von Indigenen- und Umweltpolitik in allen Details ausgeleuchtet werden (Becker 2011; Chatty/Colchester 2009; Brand et al. 2007). Die enorme Konjunktur des Begriffs Biodiversität ist jedoch nur zum Teil ein Ausdruck der globalisierten Sorge um den gefährdeten Zustand der Artenvielfalt und die fortschreitende Zerstörung von Biotopen. Ein weiterer wichtiger Grund für das wachsende Interesse an der organismischen Vielfalt liegt in ihren ökonomischen und politischen Bezügen, die schon bei der Prägung des Begriffs in den 1980er Jahren virulent waren (Flitner 1999). Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie haben im selben Zeitraum die Möglichkeiten zur Verwertung der biologischen Vielfalt enorm gesteigert. Diese biologische Vielfalt (oder, um präziser zu sein, die genetische Vielfalt, die neben der Unterscheidung von Arten gerade auch innerartliche Differenzen wichtig werden lässt, ist zu einem wertvollen Rohstoff für die Pharma- und Agrarindustrien geworden, zu einem globalen Genpool, in dem heute kostbare Ressourcen ›geschürft‹ werden können. Die Tatsache, dass sich in den Tropen und Subtropen pharmakologisch und industriell interessante Stoffe organismischer Herkunft in großer Zahl finden lassen, hat nun nicht erst im 20. Jahrhundert die interessierte Aufmerksamkeit von Forschern und Unternehmern gefunden. So hat auf die ökonomische Bedeutung der sekundären Stoffwechselprodukte tropischer Pflanzen etwa
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schon Alexander von Humboldt im Bericht seiner Südamerikareise in hellsichtiger Weise hingewiesen: »Je mehr die Pflanzenchemie in der heißen Zone erforscht wird, desto mehr wird man in irgendeinem abgelegenen, jedoch dem europäischen Handel zugänglichen Ort Erzeugnisse, die wir ausschließlich dem Tierreiche zugehörend glauben oder die wir nur durch ein künstliches Verfahren erhalten, in Pflanzenorganen schon zur Hälfte zubereitet entdecken. Bereits sind das Wachs, welches den Palmbaum der Anden von Quinío überzieht, die Seide des Palmbaums von Mocoa, die nährende Milch des pato de vaca, der afrikanische Butterbaum, der käseartige Stoff, welcher aus dem fast animalisierten Saft der Carica papaya gewonnen wird, bekannt. Diese Entdeckungen werden sich vervielfältigen, wenn, wie es der politische Zustand der Welt heute anzuzeigen scheint, die europäische Zivilisation großenteils in die Äquinoktialländer des neuen Kontinents übergeht.« (Humboldt 1997 [1815-1832], Bd. II, 2: 368).
Die vielfältigen Entdeckungen, die Humboldt prognostiziert, haben das Bild der Natur hier tatsächlich in den folgenden zwei Jahrhunderten tiefgreifend transformiert, wie sich am Beispiel der Balatagewinnung zeigen ließ, – die sich zudem, ganz wie vorhergesagt, an »abgelegenen, aber dem europäischen Handel zugänglichen Ort[en]« vollzog. Nicht zu erahnen war damals freilich, dass es eines Tages der ursprünglichen Organismen selbst gar nicht mehr dauerhaft bedürfen würde, um diese und andere Produkte auf quasi-natürliche Art herzustellen. Genau dies wird jedoch mit den heutigen Verfahren der Zell- und Gentechnik möglich, die es erlauben, die Produktion erwünschter Stoffe aus der tropischen Natur zunehmend in die Labore biotechnischer Firmen zu transferieren. Im Unterschied zur ökonomischen Erschließung etwa der Gold- und Holzressourcen, die relativ stabile Produktions- und Machtstrukturen vor Ort voraussetzt, gehorcht die Prospektion biologischer Ressourcen einer anderen Logik. Im Grunde nämlich genügt für die industrielle Inwertsetzung eine einmalige Aneignung des genetischen Materials, die auf physisch nahezu unschädliche Weise möglich ist. Gerade diese neue und kaum spürbare Form der Gewinnung macht biologische Ressourcen und das ihnen eingeschriebene indigene Wissen sehr anfällig für einen Diebstahl und damit die Debatte um geistiges Eigentum so virulent. Mit dieser Verschiebung in der wissenschaftlich-technischen Erschließung ergeben sich nun auch ganz neue Aspekte und Prob-
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leme für diejenigen, die über die attraktiv gewordenen Ressourcen seit jeher verfügen, entweder, weil sie um bestimmte Eigenschaften der Organismen wissen, oder schlicht, weil sie in den Gebieten leben, wo diese vorkommen. Dass viele indigene Gruppen gerade in solchen Gebieten leben, die heute als hotspots biologischer Vielfalt gefeiert werden, ist dabei kein Zufall, sondern gewissermaßen konstitutiv. So begründete sich der Einschluss indigener Völker in dieses in den 1990er Jahren entstandene Ressourcenfeld gerade in der Beobachtung einer erstaunlichen Übereinstimmung zwischen den Zentren der biologischen Vielfalt und den Gebieten, in denen die kulturelle Vielfalt am Größten ist (Görg 2001). Diese Übereinstimmung spiegelt jedoch keine quasi-natürliche Ordnung kulturökologischer Systeme wider. Sie ist vielmehr, wie am Beispiel der historischen Entwicklungen in Imataca bereits deutlich geworden sein dürfte, in einem komplexen Zusammenspiel politischer, kultureller und ökonomischer Prozesse erzeugt worden. Die besondere Vertrautheit mit der naturräumlichen Umgebung, die indigenen Völkern zugeschrieben wird, hat in vielen Fällen wenig mit der traditionellen Lebensform dieser Menschen zu tun. Viele dieser indigenen Kulturen wurden längst aus ihren angestammten Territorien vertrieben oder in der Ausübung ihrer Lebensweise erheblich eingeschränkt. Wie Görg (2001: 109) betont, haben wir es »in vielen Fällen mit marginalisierten sozialen Gruppen zu tun, deren Schicksal es ist, mit den ebenfalls marginalisierten naturräumlichen Gebieten zu koexistieren, die heute als Zentren der Biodiversität zum Gegenstand globaler Interessen geworden sind«. Dies trifft, wie wir wissen, auch für die Waldgebiete der Sierra Imataca in größerer Zeitperspektive zu. Auch hier verdankt sich der Erhalt der Wälder in der Region Imataca nicht zuletzt der Tatsache, dass diese Gebiete zu einem peripheren Rückzugsgebiet der Kari’ña und anderer versprengter indigener Gruppen wurden, die mit ihren sozialen Lebens- und Nutzungsformen nicht unwesentlich zum Fortbestand dieser Wälder und ihrer biologischen Vielfalt beigetragen haben. Unabhängig davon, ob die ökonomische Wertschöpfung aus Bioprospektion wirklich das ›grüne Gold‹ der Zukunft darstellt, wie vielfach prophezeit, werden die heilkundlichen Kenntnisse indigener Völker als bedeutsames Potenzial in diesem expandierenden Markt gesehen. Viele im Auftrag von Pharmafirmen tätigen Forscher nutzen bei ihrer Suche nach neuen Wirkstoffen das indigene Wissen als zeit- und kostensparenden ethnobota-
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nischen Filter, durch den die Bioprospektoren wertvolle Hinweise auf interessante Pflanzenarten, ihre wirksamen Bestandteile und medizinischen Eigenschaften generieren. Ein einst hochrangiger venezolanischer Regierungsexperte auf diesem Gebiet drückte diesen Zusammenhang zwischen indigenem Wissen und dem Wert biologischer Ressourcen schlicht so aus: ihr Wissen »hilft, potentiellen Wert schneller in realen Wert, also Geld, umzuwandeln«. Biologisch reiche Länder wie Venezuela sind sich durchaus bewusst, dass sie im indigenen Biowissen eine wertvolle Ressource besitzen, welche sie auf dem internationalen Biodiversitätsmarkt (sprich: Unternehmen und Forschungseinrichtungen der Ersten Welt im Besitz der biotechnologischen Produktionsmittel) anbieten können, auch wenn die derzeitige entwicklungspolitische Praxis in Venezuela eher darauf ausgerichtet ist, eben diese Wissensressourcen zu zerstören. Zu dieser beunruhigenden Erkenntnis gelangte jedenfalls der bereits erwähnte Experte des venezolanischen Umweltministeriums. Mit Blick auf die aggressiv vorangetriebene Erschließung der Bodenschätze wie auch der kommerziellen Holznutzung in der Forstreserve Imataca erklärte er mir am Rande einer 1998 in Madrid stattfindenden UN-Konferenz besorgt: »Nun, wir sprechen hier von einem Waldgebiet, das über drei Millionen Hektar umfasst. Aber durch die Entwicklung werden derzeit vielleicht zwei Prozent dieses Ökosystems beeinträchtigt. Das, was am meisten gefährdet oder fragil ist, ist also nicht die natürliche Umwelt, sondern vielmehr die indigene Bevölkerung, die dort lebt. Ich meine damit die Veränderungen, die man unweigerlich bei ihnen auslöst, wenn man diese Konzerne dort hin bringt und Straßen anzulegen beginnt, und Hospitäler zu bauen beginnt, und Medizin zu verkaufen beginnt und dann kommt der Strom an, kommt dies und jenes an, folglich ist die Zerbrechlichkeit dieser Kultur natürlich ein großes Problem. Daher besteht nicht nur ein Interesse an der biologischen Vielfalt, sondern auch an dem sozialen Wissen dieser Gemeinschaften. Das heißt, man muss eben nicht nur die Biodiversität schützen, sondern ebenfalls ihre, sagen wir mal, soziale Komponente«. (Hernández 1998)
Sein Kommentar macht auf eine interessante Spannung im Einschluss der Indigenen im Diskurs um biologische Vielfalt aufmerksam. Denn das, was vom Markt nachgefragt wird, das Wissen in diesem Fall, beruht zum großen Teil gerade auf der Tatsache, dass die Träger dieses Wissens am Rand oder außerhalb globaler Marktprozesse und dominanter gesellschaftlicher
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Strukturen leben. Das sogenannte indigene Wissen wird also erst über externe Interessen hergestellt, die zugleich und paradoxerweise die sozialen und kulturellen Grundlagen seiner Entstehung zerstören (vgl. Zent/Zent 2008). Galten die Indigenen in der Hochzeit eines ungebrochenen Modernisierungsglaubens als primitiv und rückständig, stellt sich heute in umgekehrter Blickrichtung schärfer denn je die Frage, wie das kulturelle Erbe und die bewahrenden Praktiken indigener Völker erhalten und geschützt werden können. Im Speziellen wird dabei diskutiert, welche Rolle in diesem Zusammenhang der Schutz geistigen Eigentums spielen kann und soll, ein Schutz, der unter ganz anderen Vorzeichen im Zuge der Industrialisierung geprägt worden ist (Bardi et al. 2011; Lewinsky 2009). Schützenswert gelten Indigene dabei, so geben kritische Stimmen zu bedenken, vornehmlich in einer eng ausgelegten utilitaristischen Funktion als potentielle Dienstleistungsanbieter im Rahmen ökologischer Modernisierungsprozesse und weniger als subalterne Subjekte, die eine von umweltpolitischen Aufgabenzuweisungen unabhängige politische Solidarität verdienen. Der Anspruch auf kulturelle Anerkennung und politische Selbstbestimmung wird dabei ebenso verfehlt wie das Recht auf eine eigenständige Gestaltung ihrer Naturverhältnisse (Görg 2001).
V IELFALT ALS KULTURELLE (Ü BER -)L EBENSSTRATEGIE Die Kari’ña entsprechen auf den ersten Blick nur sehr unvollständig dem Indigenenbild, wie es in internationalen Umweltnetzwerken, Medien, Wissenschaft und Politik weithin produziert und zirkuliert wird. Gerade die Aspekte, die weite Sympathien und Anerkennung zu mobilisieren vermögen – die Bilder der Selbstbestimmung, der kulturellen Stärke und der ökologischen Weisheit sind hier nicht ohne Weiteres zu finden oder zu entschlüsseln. Zumindest bei oberflächlicher Betrachtung bleiben die Kari’ña in einem diffusen Opferstatus befangen, welcher auch ihr desolates Bild nach außen maßgeblich prägt. Mit diesem Bild wurde ich bereits im Vorfeld meiner Forschung vielfach konfrontiert. Selbst bei sozialen Einrichtungen und kommunalen Organisationen, die in der Region Hilfsprojekte für indigene Gruppen anbieten, gelten die Kari’ña als besonderer Problemfall. Und ähnlich fällt das Urteil indigener Aktivisten der Region über die
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Kari’ña aus, die als Gruppe wenig politisches Selbstbewusstsein und Stärke nach außen artikulieren. Und so können in der Tat leicht Enttäuschungen und Irritationen entstehen, wenn man sich allzu sehr von Erwartungen und Rhetoriken des ökologischen Indigenendiskurses leiten lässt. Wie sehr man selbst unwillkürlich von solchen Vorstellungen durchdrungen ist, wurde mir während meines ersten Besuchs bei den Kari’ña in Imataca bewusst. Ich interessierte mich für ihre Subsistenzpraktiken und Waldnutzung, fragte nach Pflanzen und Früchten, die sie auf ihren Feldern anbauen und im Wald sammeln, nach Tieren und Fischen, die sie jagen und kennen. Ich hatte nicht vor, eine vollständige Erhebung der genutzten Pflanzen und Tiere sowie der darauf bezogenen Praktiken zu machen, noch gar eine Analyse der Klassifikationspraktiken oder dergleichen. Es ging schlicht darum, sich mit der kulturellen und materiellen Lebenswelt der Kari’ña ein Stück weit vertraut zu machen, die noch weitgehend subsistenzorientiert und von einer engen Beziehung zum Wald geprägt schien. Dies war ein ebenso mühevoller wie lehrreicher Einstieg. Zum Teil waren es erwartbare Mühen bei der Herstellung einer Beziehung zu einer Gruppe, die sich generell sehr reserviert, distanziert und wortkarg gegenüber ortsfremden Leuten zeigt. Wie mir später klar wurde, empfand ich den Einstieg aber auch deshalb als besonders schwierig, weil die Kari’ña sich und ihre Subsistenzpraktiken so ganz und gar nicht auf eine Weise präsentierten, wie ich erwartet hatte und wie dies wohl – zumindest ansatzweise – dem Diskurs über indigenes Wissen entsprach. Statt selbstbewusster und engagierter Experten ihrer Natur, traf ich auf Menschen, die in vielen Fällen mein Interesse für ihre gewöhnlichen Felder und Praktiken eher mit Verwunderung quittierten: schließlich gäbe es da qualifiziertere Leute, wie etwa die Besitzer landwirtschaftlicher fincas im Umfeld von Tumeremo, für die sie gelegentlich arbeiteten. Dies lässt ein wenig an jene Geschichte der »failed primitives« aus Indonesien denken, von denen Ethnologen sich irritiert und enttäuscht abwandten, weil die betreffenden Gruppen ihre Praktiken nicht mittels des erwarteten und bekannten Diskursfeldes ›indigenes Wissen‹ artikulierten (Li 1999). Man kann sich leicht vorstellen, wie simplistische Vorstellungen und Stereotypen jenen Raum ausfüllten, wo Respekt und Anerkennung für indigenes Wissen und die Vielschichtigkeit lokaler Lebensgrundlagen hätten sein können. In diesem Sinne sensibilisiert wage ich mich nun in das verminte Feld indigenen Wissens bei den Kari’ña vor.
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Vermischtes – von wilden Feldern und unordentlichen Dingen Bei einem Besuch in einem der Kari’ñadörfer in Imataca drängen sich einem immer wieder zwei leicht widerstreitende Eindrücke auf, von Traditionalität und Kontinuität auf der einen, sowie Fragilität und Zerrüttung auf der anderen Seite. Die einfachen Hütten, der spärliche und verwahrlost wirkende Hausrat, die vielen am Boden verstreuten Gegenstände und Utensilien in um die Hütten herum, vermitteln einerseits ein Bild prekärer Armut und Verwahrlosung. Der hohe Alkoholkonsum und das apathisch wirkende Herumhängen vieler Kari’ña in ihren Hütten unterstreichen diesen Eindruck weiter. Auf der anderen Seite lassen sich viele typische Elemente einer klassischen ›Karibenkultur‹ erkennen, wie etwa die Formen und Materialien ihrer Häuser, die zerstreute Siedlungsweise in kleinen Weilern, die auf eine relative Autonomie individueller Haushalte hindeuten, die prominente Rolle des Bittermaniok in ihrer Subsistenz, und auch die regelmäßigen Trinkfeste, die gegenwärtig das vielleicht wichtigste soziale Ritual bei den Kari’ña darstellen. Diese Merkmale haben sich offensichtlich seit vielen Jahren erstaunlich wenig verändert, jedenfalls wenn man zum Vergleich die beiden einschlägigen älteren Beschreibungen heranzieht, die Gillin (1936) und Adams (1972) über die Barama River Caribs im nahen Grenzgebiet auf guyanischer Seite verfasst haben. Vor allem in ökonomischer Hinsicht ist eine bemerkenswerte kulturelle Resilienz erkennbar. Viele Kari’ñafamilien in Imataca leben auch heute noch in erster Linie von ihren Brandrodungsfeldern, der Jagd und dem Fischfang, ergänzt durch das Sammeln wilder Früchte. Wie bei anderen Karibengruppen stellt Bittermaniok eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel dar. Aus den Knollen stellen Frauen in einem aufwändigen Verfahren die sogenannten areepa her – große, runde Brotfladen, die getrocknet einige Zeit vorgehalten werden können. Nicht minder wichtig ist das kashiiri – das selbst gegärte ›Maniokbier‹, das bei den Kari’ña große Wertschätzung genießt und in beträchtlichen Mengen konsumiert wird. Entsprechend viel Platz nehmen die bis zu zwei Meter hohen Maniokstauden auf den weit verstreuten Brandrodungsfeldern außerhalb der Siedlungen ein. Etwa zwei Drittel der Fläche der etwa ein halben bis ganzen Hektar großen conucos sind mit Stauden verschiedener Manioksorten,
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einschließlich nicht-bitterer Varianten bedeckt. Dazwischen und auf den restlichen Flächen entdeckt man nach und nach, in einem scheinbar wilden Durcheinander, eine Vielzahl anderer Feldfrüchte und Anbauprodukte: Tabakpflanzen, Mais, Yams und Süßkartoffeln, Bananenstauden, Kürbisse, Melonen, Baumwolle, Agaven, Ananas, Papayastauden, Onotobüsche, Guavenbäume, Zuckerrohr und Pfefferschotensträucher verschiedener Art, um nur einige der gebräuchlichsten zu nennen. Bemerkenswert ist dabei zunächst die Zahl unterschiedlicher Arten, die auf einem Feld angebaut werden. Der übliche Mischanbau macht sich die Mikroumweltbedingungen zunutze, die durch das kleinräumige Relief, die variierenden Böden, die unterschiedliche Strahlungsexposition und andere Faktoren entstehen. Adams beschreibt dieses Verfahren plastisch anhand einiger Beispiele, die auch aus dem heutigen Botanamo stammen könnten: »For example, sugar cane plants may be located to take advantage of a few square feet along a creek bed. Pineapples may be placed in an ash line. Young tobacco plants may be located to be partially shaded by a stump until mature enough to tolerate the sun.« (Adams 1972: 10)
Bemerkenswerter als das Spektrum der angebauten Arten ist die ausgeprägte Sortenvielfalt, bei Bananen etwa, von denen mindestens zehn verschiedene Sorten auf den Feldern zu finden sind, und im Vergleich zu unseren Standardsorten ein ebenso köstliches wie reichhaltiges Spektrum an Größen, Farben und Geschmacksrichtungen bieten. Aber auch Knollenfrüchte wie Yams, Taro, Süßkartoffeln oder Maniok sind mit zahlreichen Sorten vertreten, deren unterschiedliche Qualitäten geschätzt und deren Vielfalt nicht zuletzt durch den steten Austausch von Saat- und Pflanzgut unter den Kari’ña aufrechterhalten wird. So wurde mir verschiedentlich berichtet, diese oder jene Person verfüge über gutes Pflanzgut von Süßkartoffeln, über ertragreiche Mais- oder Paprikasaat, und offensichtlich wird dieses Vermehrungsmaterial auch freigiebig geteilt. Die gegenwärtige Nutzpflanzenvielfalt bei den Kari’ña wäre also nur sehr ungenügend charakterisiert, wenn man sich dabei auf die Arten beschränkte. Nicht alle Kari’ñafamilien wertschätzen und pflegen ihre Brandrodungsfelder gleichermaßen, dennoch ist und bleibt das Feld ein Mikrokosmos erstaunlicher Vielfalt, die es in Diskussionen über Biodiversität zu würdigen gilt, auch wenn es sich hier größtenteils nicht um wilde, sondern um kultivierte Viel-
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falt handelt. Allerdings zeigt sich, dass klare Trennlinien zwischen wild und kultiviert, zwischen Wald und Feld, zwischen Ernten und Sammeln für das Verstehen der genutzten Vielfalt bei den Kari’ña wenig hilfreich sind. Alte Felder verwildern, mit Fruchtbäumen, die einst gepflanzt, oder später aus achtlos hingeworfenen Samen wild gewachsen, und die noch lange nach Aufgabe der Felder aktiv geschont und mehr oder minder regelmäßig und sorgfältig bepflückt werden, und so zum Teil einer Landschaft werden, die sich als vielschichtiges Mosaik von angereicherten Altwaldbeständen, gepflegten Sekundärwaldflächen, Feldern in verschiedenen Nutzungsstadien und nicht zuletzt von durchforsteten Konzessionsflächen darstellt, wie sie die seit über dreißig Jahre im Gebiet tätige Holzindustrie hinterlassen hat und weiter hinterlässt (vgl. Rodríguez 2005). Tsing hat in einem ähnlichem Zusammenhang über die Waldlandschaft der Meratus Dayak auf Borneo den Begriff der »weediness« geprägt, um den unordentlichen, verwilderten und hybriden Mischmaschcharakter dieser Landschaft zu unterstreichen. In der positiven Anerkennung dieser weediness eröffnen sich fruchtbare Perspektiven insofern, als sie die Aufmerksamkeit auf wirkungsmächtige Leerstellen in der Betrachtung von Natur und Kultur, von Wald und Feld, von Naturschutz und menschlicher Subsistenz lenken, die uns, wie Tsing (2005: 175) schreibt, »davon abhalten, die historische Formation und Geschichte sozial-natürlicher Landschaften zu würdigen« (vgl. Barney 2009; Heckenberger et al. 2007; Miller 2007). Die Erkenntnis, dass biologische Vielfalt nicht als eine von menschlichen, sozialen und kulturellen Systemen unabhängige Größe betrachtet werden kann, beginnt sich langsam auch unter venezolanischen Naturwissenschaftlern gerade mit Blick auf die Waldgebiete der Forstreserve Imataca in Guayana zu verbreiten, die auf eine lange Geschichte menschlicher Besiedlung und Nutzung zurückblicken können. Im Rahmen eines internationalen und interdisziplinären Forschungszusammenhangs entwickelten sie jüngst das integrative Konzept der »biocomplexity«, um sowohl die enge Verbindung natürlicher und sozialer Systeme im Bereich der biologischen Vielfalt als auch die Komplexität des Systemzusammenhangs zu unterstreichen (Callicott et al. 2007). Die Forstreserve Imataca ist dabei einer der untersuchten »biodiversity hotspots«, wo die Forscher eine besonders starke Verbundenheit zwischen Mensch und Natur feststellen, in materiell-existenzieller Hinsicht wie auch in spiritueller, symbolischer und ästhetischer. Dies gilt im besonderen, wenn auch unterschiedlichem Umfang, für die
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fünf indigenen Ethnien in der Forstreserve, darunter die Kari’ña, die die organismische Vielfalt ihrer unmittelbaren Umwelt intensiv nutzen und in ihrer Lebensweise in hohem Maße auf die Natur angewiesen sind. Sie liefert den Grundstock der materiellen Kultur, der Ernährung, der Kleidung und medizinischen Versorgung. So gibt es bei den Kari’ña kaum ein körperliches Leiden, zu dessen Bekämpfung nicht irgendein Kraut, eine Rinde, eine Wurzel, Frucht oder Blüte genutzt würde: Aus den Nüssen des Ka’rapaBaums (Carapa guianensis) beispielsweise lässt sich ein Haut- und Wundöl herstellen; mit der Rinde des Araya (Duguetia lucida) kann ein Extrakt zubereitet werden, der gegen Schlangenbisse hilft; ein Blätteraufguss der Sasasara (Cecropia sp.) hilft bei Bronchialbeschwerden, die in dem feuchten Klima und den empfindlich kühlen Nächten in Imataca die Kari’ña besonders häufig plagen. Besonders vielfältig sind die Einsatzmöglichkeiten einer Liane (Bauhinia guianensis), die, wohl aufgrund ihrer wellenartigen Form, als ›Sitz der Schildkröte‹ (Wayamu’patek) bezeichnet wird. Der Sud aus der geraspelten und aufgekochten Rinde findet bei Durchfall, bei grippeähnlichen Erkrankungen und auch bei Malariaanfällen Verwendung. Der Rinde eines weiteren Baumes, von den Kari’ña Tu’kusiwókuru genannt (Brownea grandiceps), wiederum wird blutstillende und menstruationsregulierende Wirkung zugeschrieben, wobei die Rinde von unten nach oben vom Stamm abzulösen ist; in umgekehrter Richtung abgezogen soll der gegenteilige Effekt bis hin zum Abort bewirkt werden können. Diese fast beliebig genannten Beispiele ließen sich mit einer systematischen Untersuchung vervielfachen. Hinzu kommen eine große Anzahl wilder Fruchtbäume, wie etwa Xasipui (Protium sp.), Ara’takuwe (Brysonia coriacea), Waipui (Couroupita guianensis) und Mope (Spondias mombin), sowie Früchte von Bäumen der besonders wichtigen Gattung Inga, die so sprechende Namen tragen wie »Hundeschwanz«, »Augenbraue«, oder »kratziges Fell«, um nur einige der von den Kari’ña meist genutzten Sammelfrüchte zu nennen. Andere Bäume wiederum liefern Harze, die gelegentlich noch zur Herstellung einer Lasur für Tongefäße, Materialien für die Instrumente, Fasern und Schnüre, die beim Hausbau gebraucht werden, oder auch Papier für Zigaretten, die Kari’ña gerne während ihrer Trinkfeste rauchen. Aus der Rinde des Kalá-Baums (Enterolobium cyclocarpum) wiederum wird eine weithin als Seife gebräuchliche Substanz gewonnen, während aus den schwarzen und roten Samen des Anakoko (Ormosia sp.) gerne Halsketten für die Kinder gemacht werden; nicht zu vergessen die wichtigs-
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te Färbepflanze, Kuseeve (Bixa orellana), bekannter unter dem spanischen Namen Onoto, aus deren Samen ein roter Farbstoff gewonnen wird. Mit dem Extrakt, dessen Nutzung unter den indigenen Völkern im gesamten Orinokogebiet weit verbreitet ist, können Nahrungsmittel gefärbt werden, ihm wird aber auch heilende Wirkung bei Verbrennungen und Schürfungen zugesprochen, vor allem aber dient er der Körperbemalung, bei den Kari’ña in Botanamo in erster Linie der Kinder. Ebenso vielfältig ist der Nutzen der Fauna – vor allem kleinere Säugetiere, Vögel und Fische, die neben Nahrung auch diverse nützliche Materialien (Leder, Federn etc.) liefern (vgl. Grimmig 2007). Dieses umfassende ›Leben von der Natur‹ entspricht durchaus den Erwartungen an die indigenen Bewohner des südamerikanischen Tieflands und ist in der Literatur vielfach dokumentiert worden. Während viele der indigenen Gruppen nur sehr limitierten Zugang zu regionalen Märkten und importierten Ressourcen haben, trifft dies bei der lokalen criollo-Bevölkerung weniger zu, und trotzdem befriedigen auch sie einen Großteil ihrer Bedürfnisse über lokal verfügbare Ressourcen aus der Natur, die sie mit einer Vielzahl von Medizinalpflanzen, Früchten und anderen Nahrungsmitteln wie Jagdwild und Fische, sowie anderen Materialien ›versorgt‹ (Calliott et al. 2007: 326f.). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass eine substanzielle Anzahl der von criollos genutzten Waldprodukte einst aus anderen Regionen eingeführt worden ist. Auch dies unterstreicht die Fluidität und Verworrenheit sozial-ökologischer Prozesse, in denen weder biologische Ressourcen und ihre Eigenschaften, noch die sozialen Gemeinschaften mit ihrem indigenen/lokalen Wissen sich zu jenen diskreten, stabilen und ordentlichen Paketen schnüren lassen, wie es die politischen und ökonomischen Interessen im Feld der biologischen Vielfalt erfordern und machtvoll durchzusetzen versuchen. Die Probleme, die sich daraus etwa für die zugesicherte Beteiligung der Indigenen an ökonomischen Gewinnen aus ihrem Wissen ergeben, habe ich an anderer Stelle am Beispiel eines Fischgiftes ausführlicher dargestellt (Grimmig 1999; vgl. Franklin 2006; Hayden 2003). Dementsprechend macht es wenig Sinn, von der biologischen Vielfalt an sich zu sprechen, als hätte sie eine eigenständige Materialität, die unabhängig von den gesellschaftlichen Formen der Wahrnehmung und Bearbeitung existierte und zugänglich wäre, wie es ja z.B. in den Bemühungen um eine taxonomisch-inventarisierende Erforschung tropischer Regenwäl-
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der implizit zum Ausdruck kommt. Der Objektcharakter, der der biologischen Vielfalt oftmals zugesprochen wird, macht vor dem Hintergrund der Lebensweise der Kari’ña wenig Sinn. Schließlich lässt sich die Vielfalt hier kaum als ein Ensemble von Komponenten verstehen, das auf die reine Summe seiner Elemente oder gar auf deren genetische Aspekte zu reduzieren wäre. Denn mit den genannten physiologischen und ökotrophologischen ›Funktionen‹ der lebendigen Umwelt sind instrumentelle, mechanische, ästhetische und im weiteren Sinne symbolische Dimensionen vielfach unmittelbar verknüpft. Dabei geht schon die Zahl der genutzten Komponenten in die Hunderte. So ist das Leben der Kari’ña in dieser oder ähnlicher Form konkret schlechterdings undenkbar ohne diese Vielfalt: Sie wird schon in einer knappen Darstellung wie der vorliegenden als so umfassende Reproduktionsgrundlage und ›Welt‹ der Gruppe erkennbar, dass ihre summarische Verdinglichung (und damit auch Subtrahierbarkeit) nicht vorstellbar ist, ohne zugleich jenes Dasein als Zusammenhang gedanklich preiszugeben. Auch dem was gemein als indigenes Wissen bezeichnet wird, kann man sich nur angemessen nähern, wenn man es – wie u.a. Haraway (1995), Agrawal (1995), Hayden (2003) gezeigt haben – als ein im hohen Maße situiertes und über die Jahrhunderte angesammeltes Erfahrungswissen anerkennt, das vielfältigen Formen der Herrschaft und Hybridisierung unterworfen ist und auch innerhalb den möglicherweise sehr heterogenen indigenen Gemeinschaften als politisch und sozial fragmentierte Wissensbestände vorliegen kann. Darüber hinaus haben marginalisierte indigene und lokale Bevölkerungsgruppen in vielen ländlichen Gebieten gelernt, pragmatisch zu sein und hybride Wissensformen entwickelt, die sich immer wieder innovativ auf veränderte politische, ökonomische, und ökologische Bedingungen einlassen (Silitoe 2007; Briggs 2005). Auch das ›ethnobiologische‹ Wissen der Kari’ña liegt also nicht als kompakter, klar definierbarer und geschlossener Schatz vor, den es lediglich zu heben und zu entschlüsseln gilt. Dabei scheint das Wissen über Pflanzen, Tiere und mögliche Nutzungsweisen in der Gruppe zwar relativ weit verbreitet, wenn auch nicht gleichmäßig verteilt. So gab es nach übereinstimmenden Angaben einige ältere Mitglieder, die über weitergehende Kenntnisse verfügten, in Botanamo beispielsweise ein altes Paar, das am Rande der Siedlung lebte: Dem Mann wurden verschiedene traditionelle Kenntnisse und praktische Fähigkeiten attestiert, der Frau auch magisches Wissen unter anderem im Zusammenhang mit dem Schadenszauber eines
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Kanaimà zugesprochen, eine schamanistische Figur und Vorstellung, die unter vielen indigenen Gruppen vor allem im Hochland von Guyana weit verbreitetet ist (Whitehead 2002). Einen Priester/Heiler, Piaiyen, wie ihn Gillin (1936: 169) beschreibt, gab es jedoch in Botanamo oder den umliegenden Weilern nicht mehr; allein die Älteren wussten davon noch zu berichten. In Botanamo spielte bei dieser ungleichen Verteilung offenbar das Alter eine Rolle, doch bleibt hier offen, ob und wie weitere Faktoren oder Prozesse systematisch wirksam werden. Wie Zent (2001) bei anderen indigenen Gruppen im venezolanischen Amazonasgebiet festgestellt hat, ist auch hier ein Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Wandel und einem Rückgang oder Verlust ethnobotanischen Wissens nicht auszuschließen. Zwar ist bemerkenswert, wie verbreitet und solide das Wissen über die organismische Vielfalt in dem untersuchten Gebiet ist, überraschend jedenfalls angesichts des dispersen und zerrütteten Eindrucks, den die Gruppe in mancher Hinsicht hinterlässt, und im Besonderen angesichts der überhaupt geringen Ausprägung bzw. Erhaltung kultureller Ausdrucksformen. Es drängt sich jedoch gleichzeitig der Eindruck auf, dass vor allem der unmittelbare Kernbereich sozioökonomischer Reproduktionsarbeit – Anbau und Pflege der Bittermaniokfelder, Kenntnisse über Fauna und Flora, wie sie für das (Über-)Leben im Wald notwendig sind – sich vergleichsweise robust gegenüber den historischen und sozialen Verwerfungen zeigt, denen die Kari’ña in verschiedenster Form ausgesetzt waren. Dies heißt nicht, dass die beschriebene Nutzung einfach als letztes Relikt vorhandener Wissensbestände gedeutet werden kann. So bedarf etwa die Aufrechterhaltung der Sortenvielfalt einer stetigen, aktiven Pflege, und ähnliches gilt für viele der ›halbwilden‹ Nutzungsformen. Schließlich weist auch die Ausweitung des genutzten Artenspektrums in einigen Aspekten auf eine fortlaufende Entwicklung hin. Die heutige Nutzung der ›biologischen Vielfalt‹ durch die Kari’ña von Imataca muss daher als Ausdruck einer Kontinuität verstanden werden, die allen Widrigkeiten zum Trotz lebendig und dynamisch geblieben ist. Sie gewährleistet nicht zuletzt eine Art grundlegende Sicherheit in der Welt, sowie eine Form von »subsidy from nature« (Hecht et al. 1988; Hecht/Saatchi 2007), die es den Kari’ña erlaubt, bei aller Bedrängung und Veränderung einen hohen Grad an kultureller Autonomie aufrecht zu erhalten. Die Fähigkeit, unter widrigen Bedingungen in und vom Wald überleben zu können, wird von vielen Kari’ña auch heute noch hoch bewertet. Ein
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»richtiger Amerindian«, gab mir einmal Rinaldo Díaz, ein damals etwa dreißigjähriger Kari’ña aus Botanamo auf unserer gemeinsamen Wanderung nach Guyana zu verstehen, »weiß von dem Wald zu leben, weiß welche Pflanzen und Tiere im Wald wie zu nutzen sind, um im Busch zu leben und zu überleben«. Viele dieser Kenntnisse gingen jedoch auch bei den Kari’ña immer mehr verloren. Sich selbst bezeichnete er in diesem Zusammenhang als »mixed child«, womit er einerseits wohl auf seinen quasi kindlichen Wissens- und Entwicklungsstand in Dingen des bushlife anspielen wollte. Andererseits wollte er damit auch seine eigene kulturelle Hybridität betonen, die sich für ihn vor allem in seiner Abhängigkeit von Waren und Gegenständen der venezolanischen Gesellschaft manifestierte. Gemessen am Ideal eines »real Amerindian« jedenfalls bedeutet dies ein Stück weit die Preisgabe seiner Autonomie und Unabhängigkeit. Dies könnte zunächst wie eine romantische Einlassung eines Indigenen gegenüber einer dafür aufgeschlossenen Ethnologin klingen, wären da nicht gleichzeitig die allgegenwärtigen Zeichen sozialer Auflösung und Krise bei den Kari’ña, die einem romantische Anklänge geradezu absurd erscheinen lassen. Schließlich ist die heutige isolierte Lebensweise der Kari’ña bereits vielfach ein »Produkt des expansionistischen Staates« (Adams 1982: 172) und auch sind die Kari’ña, wie bereits angedeutet, bislang nicht – wie manch andere Gruppen – als strategisch versierte Selbstdarsteller in jenem Sinne hervorgetreten.
V IELFALT
IM POLITISCHEN
D ISKURS
UM I MATACA
Im Vergleich mit anderen amazonischen Nationen hat sich Venezuela bis vor kurzem bemerkenswert erfolgreich gezeigt, seine megadiversen Tropenwälder im Süden des Landes zu erhalten. Dies lag einerseits daran, dass sich Bevölkerung, Industrie, Städte und Handel historisch vor allem in der nördlichen Hälfte des Landes konzentrierten. Venezuelas Transformation vom Agrarland zur führenden Ölnation im frühen 20. Jahrhundert bewirkte bis in die 1950er Jahre sogar eine Zunahme der Waldflächen auf ehemals landwirtschaftlich genutzten Gebieten, während es immer mehr Leute in die Städte zog, um von den neuen ökonomischen Chancen zu profitieren, die sich durch den plötzlichen Ölreichtum auftaten (Wunder 2003). Die Marginalisierung der südlichen Regionen und seiner vorwiegend indigenen Bevölkerung innerhalb der nationalen Ökonomie erlaubte es dem venezolani-
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schen Staat anderseits wiederum relativ unangefochten, seine Kontroll- und Besitzansprüche über diese riesigen und scheinbar unbewohnten Frontierwälder durch die Einrichtung von Nationalparks, Forstreserven und anderen Schutzgebieten zumindest formal durchzusetzen. Solange die Ölgelder flossen, konnte Venezuela daher eine vergleichsweise fortschrittliche Waldund Umweltpolitik für diese peripheren Räume verfolgen, deren Kernstück ein weites Netz sogenannter Sonderverwaltungsgebiete (ABRAEs) bildet, die unterschiedlich strengen Nutzungs- und Schutzbestimmungen unterworfen sind und über 70 Prozent der südlichen Guayanaregion bedecken. Viele dieser Schutzzonen überlappen sich bekanntlich mit indigenen Territorien. Die indigenen Bewohner selbst wurden bei der Einrichtung dieser Schutzund Sonderverwaltungsgebiete weitgehend ignoriert. Um den Schutz seines vielfältigen kulturellen Erbes hat sich der venezolanische Staat historisch weitaus weniger bemüht, sondern im Gegenteil gezielt die Transformation und Integration der Indigenen in die venezolanische Gesellschaft gesucht. Die gleiche Marginalität ist nun zum Kennzeichen eines ökologischen Profils geworden, das Indigene und ihre Territorien in das Zentrum internationaler Umweltpolitik katapultiert und indigenen Bevölkerungen zugleich eine neue strategische Waffe in den gegenwärtigen Kämpfen um Ressourcen und Bedeutungen in Imataca in die Hände gibt. Auch die Forstreserve Imataca ist Teil dieses Schutzsystems, wenngleich hier nicht nur ökologische Interessen im Spiel sind, sondern diese zunächst vor allem zur forstlichen Nutzung bestimmt ist, die den Erhalt und Wert der Wälder langfristig erhalten soll. Wie in dem vorherigen Kapitel gezeigt, ist die Realität in den Forstreserven oft eine andere. Gerade in den letzten Jahrzehnten ist die Entwaldungsrate in der Region Guayana dramatisch in die Höhe geschnellt, so dass sie mittlerweile zu den höchsten in Südamerika gehört (Bevilacqua et al. 2002). Diese alarmierende Entwicklung wird im engen Zusammenhang mit der in den 1980er Jahre einsetzenden Krise Venezuelas gesehen, in deren Verlauf sich der Nutzungsdruck gerade auf die südlichen Wälder und ihre Ressourcen massiv erhöht hat, wie die im vorherigen Kapitel geschilderten Entwicklungen in der Forstreserve Imataca und Siedlungsgebiet der Kari’ña nachdrücklich gezeigt haben. In diesem Kontext von nationaler Krise und politischer Restrukturierung brach sich der Streit um den neuen Nutzungsplan für die Forstreserve Imataca Ende der 1990er Jahre Bahn. Die Auseinandersetzungen wurden
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mit ungewöhnlich großer ideologischer und emotionaler Intensität geführt, was in Venezuela zum Teil mit Verwunderung quittiert wurde (Kornblith 1997). Schließlich schien es wenig naheliegend, warum gerade die vorgesehene Ausweitung des Goldbergbaus in einer so peripheren Forstreserve im Süden des Landes eine derart heftige Reaktion und starken Widerstand in der venezolanischen Zivilgesellschaft auszulösen vermochte, zumal diese bereits leidgeprüft in Sachen neo-liberaler Strukturanpassung war und Themen des Waldschutzes und der indigenen Rechte bis dahin nicht gerade im Blickpunkt des öffentlichen Interesses standen. Im Gegenteil – gerade mit Bezug auf die Entwicklung und Anerkennung indigener Rechte zeigte sich das alte, vorchavistische Venezuela noch in den 1990er Jahren im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Ländern als ausgesprochen konservativ und rückständig (Van Cott 2010). Der indigenen Bevölkerung, die mit ihren knapp drei Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung so oder so von offizieller Seite tendenziell als zu vernachlässigende Minderheit wahrgenommen wurde, wurde lange Zeit im Grunde vor allem das Recht zur Integration zugebilligt. Eine Anerkennung kultureller und territorialer Sonderrechte für die indigene Bevölkerung, wie sie auch in Venezuela immer mehr von den Indigenen selbst gefordert wurde, schien offenbar mit dem die nationale Ideologie des 20. Jahrhunderts so prägenden Willen zur Modernisierung und Entwicklung wenig kompatibel. Dies zeigte sich immer wieder in einer ausgesprochen indigenenkritischen Haltung der venezolanischen Regierung in internationalen Zusammenhängen, etwa wenn über internationale Tropenwald- und Biodiversitätsschutzmaßnahmen und die Rolle indigener Akteure dabei verhandelt wurde. Auch der Nutzungsplan für die Forstreserve Imataca war weitgehend ohne Beteiligung und Berücksichtigung indigener Interessen entstanden. Zwar wurde darin die dauerhafte Anwesenheit der Indigenen in der Region ausdrücklich gebilligt, deren Kultur und Lebensweise »eng mit der Ökologie des Gebietes verbunden« seien (Art. 56). Entsprechend wurden auch die »traditionellen« Nutzungen und im Besonderen solche der Subsistenz in Verbindung mit den Siedlungen in der Forstreserve von dem generellen Landwirtschaftsverbot ausgenommen (Art. 29). Doch eine Ausweitung dieser Aktivitäten sollte ausdrücklich begrenzt werden (Art. 64 Par. 2), während ansonsten das Dekret von einer Liberalisierung der Nutzungsweisen geprägt war, die vor allem zugunsten des industriellen Bergbaus ausfiel und damit ganz im Zeichen der apertura minera stand. Die Bereiche, in denen die Kari’ña siedeln, wurden zu großen
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Teilen einer Zone zugeschlagen, in der neben der forstlichen Nutzung sowie der Siedlung, dem Tourismus, der Industrie, der Wissenschaft und der Landesverteidigung auch der umstrittene Bergbau ausdrücklich vorgesehen war (Art. 3 u. 8). Erst in der Kritik dieses Dekrets, zu der sich binnen Kurzem eine Vielzahl nationaler und internationaler Akteure vereinten, spielten die Aspekte Biodiversität und indigene Nutzung dann ein zentrale Rolle. Zu einer öffentlichen Konsultation im September 1997 in der Stadt San Félix erschienen die angekündigten Vertreter staatlicher Organisationen großenteils nicht, umso zahlreicher dagegen NGO-Vertreter aus den Bereichen Umwelt und Menschenrechte sowie eine Gruppe von etwa 30 Indigenen, unter ihnen mehrere capitanes einzelner Siedlungen in der RFI, Funktionsträger der Indigenenverbände und auch ein Repräsentant der Kari’ña von Bochinche. Der neue Raumordnungsplan wurde von den mehr als 200 Anwesenden mit überwältigender Mehrheit scharf verurteilt. Im Ergebnisbericht zu dem Treffen wird mehrfach auf den mangelnden Schutz der Biodiversität in der Region Bezug genommen und dem Plan unter anderem seine »Nichterfüllung der Verpflichtungen aus der Konvention über die biologische Vielfalt« vorgeworfen (Comisión Permanente de Ambiente 1997: 7). Vor allem aber wird die Situation der Indigenen in der Region umfassend debattiert und direkt zur biologischen Vielfalt in Bezug gesetzt. So heißt es etwa in einer programmatischen Passage des Dokuments, die indigenen Konzepte und Praktiken seien Ausdruck einer »ganzheitlichen und ökologischen Vision« der Welt und hätten das Überdauern solcher »Gebiete wie Imataca in unserem Land erst möglich gemacht, in denen die Biodiversität dank ihrer naturschützerisch tätigen Bewohner erhalten blieb« (ebd.: 12). In den Redebeiträgen auf dem Treffen wurden ähnliche Sichtweisen sowohl von Vertretern der Umweltgruppen wie von den Indigenen selbst vielfach vorgetragen. »Wir zerstören die Natur nicht« oder »Wir haben die Umwelt hier erhalten«, hieß es etwa von Seiten indigener Vertreter, und verschiedentlich war von einem »Leben in Harmonie mit der Natur« die Rede, das den Bedrohungen der Forstreserve oder gar des Planeten Erde insgesamt gegenüber gestellt wurde. Zumindest auf Seiten der indigenen Verbandsvertreter (u.a. Federación Indígena de Bolívar, FIB) ließ sich erkennen, dass Elemente eines internationalen Naturschutzdiskurses direkt aufgenommen und in den Dienst der eigenen Sache gestellt wurden. Zu Kronzeugen der eigenen Rolle für den Erhalt der Natur wurden dabei u.a.
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die Weltbank, die UNESCO und der WWF (World Wide Fund for Nature) erhoben. Im Gegenzug erhielt diese ›indigene Wende‹ in der venezolanischen Debatte über das Imataca-Gebiet bald weiteren Rückenwind von internationalen Organisationen und Netzwerken. Der Fall Imataca tauchte nun in den Rundbriefen und Internetseiten zahlreicher Umweltorganisationen in den Vereinigten Staaten und Westeuropa auf, und verschiedene internationale Organisationen nahmen sich des Falls an. Zunächst kritisierte insbesondere das Washingtoner World Resources Institute in Zusammenarbeit mit venezolanischen Wissenschaftlern den Raumordnungsplan im Detail (WRI 1997; Miranda 1998). Dabei wurde auch ein erneuerter Entwurf für einen Primärwaldkorridor ins Gespräch gebracht. Zugleich wurde nun aber auch ein spezieller Zonentypus für indigene Gemeinschaften gefordert und die Anerkennung von indigenen Landrechten stark nahe gelegt. So verstärkte sich in der Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen die Verknüpfung zwischen dem Erhalt der frontier forests (WRI 1997) und ihrer Biodiversität mit den Lebensweisen und territorialen Ansprüchen der indigenen Gruppen in der Region. Weiter vertieft wurde dieser Nexus, als sich schließlich auch die Weltbank des Themas mit zwei eigenen Missionen annahm (World Bank 1999). Der Fall Imataca wurde hier explizit als ein Testfall gesehen, in dem sich die Fragen von nachhaltiger Entwicklung und Menschenrechten in Venezuela exemplarisch verdichten. Ausgiebig analysiert die Weltbankstudie die rechtliche und soziale Lage der Indigenen in Venezuela und schlägt einen sehr kritischen Ton gegenüber dem bisherigen Planungsprozess bezüglich der Forstreserve an. Bisherige Regierungen hätten die betroffenen Indigenen aktiv ausgegrenzt und die fragmentierte indigene Bewegung im Land nach Möglichkeit weiter zu schwächen gesucht, so dass heute teilweise kaum mehr die Voraussetzungen für eine politischen Partizipation gegeben seien. Der Fall Imataca habe »strukturelle Probleme der Ressourcenplanung und der Indigenenpolitik in Venezuela offenbart«, heißt es in den Schlussfolgerungen, die jetzige Debatte sei eine Gelegenheit, »längst überfällige Reformen voranzutreiben« (ebd.: 43). Die konkreten Empfehlungen, mit denen die Studie schließt, räumen wiederum indigenen Belangen und der Biodiversität jeweils einen großen Stellenwert ein. Erneut werden Landrechte und zusätzlich Ressourcennutzungstitel ins Gespräch gebracht; darüber hinaus müssten indigene Gemeinschaften und Organisationen systematisch unterstützt und geschult
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werden, und zwar nicht nur in rechtlichen und ökonomischen Fragen, sondern auch in »nachhaltiger Ressourcennutzung« (ebd.: 45). Damit wird schon deutlich, dass die Weltbank-Gutachter die berühmten »traditionellen Nutzungsweisen« und das zugehörige »indigene Wissen« nicht automatisch mit nachhaltiger Nutzung gleichsetzen. Doch bringen auch sie diese Figuren in die Empfehlungen zur Biodiversität ein: vor allem gehe es hier darum, die Biodiversität genauer zu erforschen und zu bewerten, wobei »traditionelles Wissen und Praktiken« einbezogen werden müssten, so u.a. »als ein wichtiger Input für die Planung eines Primärwaldkorridors«. Schließlich sollten auch Kosten-Nutzen-Kalküle für alternative Nutzungsweisen durchgeführt werden, so etwa Ökotourismus und Bioprospektion (ebd.: 44). Als die Regierung Chávez antritt, so lässt sich zusammenfassen, ist der Raumordnungsplan des Decreto 1850 bereits massiver Kritik aller Art im In- und Ausland ausgesetzt, wobei die Kritiker von indigenen Gruppen bis hin zu Weltbank reichen. Weithin geteilt wird dabei die Ansicht, dass die hohe Biodiversität der Region nicht hinreichend berücksichtigt werde und dass die dort lebenden Indigenen im Planungsprozess sträflich vernachlässigt wurden. Von vielen Kritikern werden diese zwei Punkte sogar unmittelbar in Beziehung gesetzt: die Indigenen werden dann zu Hütern der Vielfalt, deren vergangene und gegenwärtige Präsenz positiv mit der Inwertsetzung der Biodiversität verknüpfbar scheint. Die ›Philosophie‹ der internationalen Konvention über die biologische Vielfalt, so könnte man sagen, hat sich in dieser Hinsicht bereits ganz durchgesetzt. Wendepunkte und neue Allianzen des Widerstands Drei Aspekte hoben den Fall Imataca von früheren Konflikten und Mobilisierungen mit Umweltbezug in Venezuela ab: erstens die breite Beteiligung der sehr heterogenen Umweltbewegung in Venezuela, bei der sich nahezu alle in diesem Bereich tätigen Gruppen und Organisationen engagierten und die Themen Ökologie, Tropenwaldschutz und biologische Vielfalt, aber auch indigene Rechte in das Bewusstsein der weiteren Öffentlichkeit rückten; zweitens die aktive und sichtbare Rolle der indigenen Bewegung unter Federführung der Pemon, die zusammen mit den Umweltgruppen eine bemerkenswert schnelle Reaktionsfähigkeit zeigten; und drittens die Tatsache selbst, dass der Fall Imataca eine so intensive und breite Debatte auslöste und insgesamt ungewöhnlich große Bedeutung auf der politischen Agenda
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erlangte. Dazu hatten auch die Medien beigetragen, die dem Konflikt erstaunlich viel Aufmerksamkeit schenkten und ihn immer wieder in Schwerpunktreportagen, Artikeln und TV-Sendungen diskutierten (Soza 1999: 87ff.). Die öffentliche Diskussion war dabei von einigen wiederkehrenden Themen geprägt. Ein wichtiger Themen- und Streitpunkt waren natürlich die ökologischen Folgen des neuen Nutzungsplans für Imataca, in dem viele einen »Ökozid« für die tropischen Wälder sahen. In zahlreichen Beschreibungen wurde dabei auf die Schönheit und Fragilität dieser Wälder mit ihrer hohen endemischen Artenvielfalt hingewiesen, die nicht zuletzt Lebensraum für den Harpyie bietet, weltweit eine der größten Greifvogelarten, die auf der roten Liste gefährdeter Tierarten der IUCN steht, den nicht minder bedrohten großen Ameisenbären, oder auch die rötlichen Brüllaffen, deren beeindruckendes Gebrüll man nachts durch die Wälder von Imataca schallen hört (vgl. Berroterán 2003: 85f.). Auf solche »charismatische Großfauna« wird in der Debatte um biologische Vielfalt ja gerne rekurriert, wenn es darum geht, eine breitere Öffentlichkeit für das fortschreitende Artensterben zu sensibilisieren. Den Ausführungen über Schönheit und Schätze der Natur wurden oft Bildern gegenübergestellt, die die allgegenwärtige und fortschreitende Zerstörung dieser Natur vor allem durch die Goldsucher eindrücklich und plastisch werden ließ: Bilder von kahl geschlagenen Waldflächen, von Schächten und Gruben, von schlammverschmierten Pisten und Männern, die mit Hochdruckstrahler die Erde und Flüsse aufwühlten, von verseuchten Flüssen und Bächen usw. Ein nicht minder kraftvolles Schlagwort in den Debatten um Imataca war »Ethnozid«, ein Begriff, der in der öffentlichen Debatte nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich eng mit dem Thema Ökozid in Imataca verknüpft wurde. Schließlich bot die Forstreserve Imataca auch, wie es immer wieder hieß, den ›Lebensraum‹ für fünf verschiedene indigene Gruppen, deren kulturelle Vielfalt durch die Entwicklungspläne der Regierung ähnlich bedroht schien, wie die der der Pflanzen und Tiere. Das Bild einer ›vom Aussterben bedrohten Art‹ wurde auch von indigenen Führern und Aktivisten in ihren öffentlichen Protesten gegen das Dekret 1850 gerne bemüht, um auf die prekäre Lebenssituation ihres Volkes in Guayana aufmerksam zu machen (El Bolívarense 8-7-1997; vgl. Soza 1998: 95). Darüber hinaus machten sie sich auch die oftmals idealisierte Beschreibung indigener Kulturen als ökologie- und umweltfreundlich zunutze, und akzentuierten ihre kulturelle Differenz, in dem sie sich beispielsweise mit Körper-
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bemalung und ›traditioneller Kleidung‹ auf den Demonstrationen im fernen Caracas präsentierten. Während das Thema Ökologie und Indigene einerseits den grundlegenden Rahmen des Konflikts absteckte, berührte es zugleich eine Reihe weiterer gesellschaftspolitischer Fragen und Probleme, die wesentlich zur hohen Brisanz und Bedeutung des Konflikts beitrugen. Für viele Kritiker des Nutzungsplans stand hier nicht nur die Zukunft eines ökologisch einzigartigen Waldsystems und das kulturelle Erbe der indigenen Bewohner auf dem Spiel, sondern auch grundlegende Regeln politischer Regierung und Demokratie in Venezuela. Bereits im Verlauf der ökonomischen Krise hatte das alte auf Verteilung und Verhandlung basierende politische System als Mittel für gesellschaftliche Gruppen, Ressourcen vom Staat – dem zentralen Rentenverteiler – zu bekommen an Glaubwürdigkeit verloren. Eine generelle Unzufriedenheit mit den politischen Parteien und anderen traditionellen politischen Akteuren, massiver Vertrauensverlust in das Rechtssystem und zunehmend aggressiver werdende soziale Proteste waren die Folge. In dem Maße, wie sich politische Regeln und Allianzen verschoben wuchsen Unsicherheit und Chaos, aber auch das Potenzial und die Spielräume zivilgesellschaftlicher Kräfte, die sich im alten, stark parteidemokratisch bestimmten Renten- und Klientelsystem nur wenig entfalten konnten (Machado 1997). Anschaulich lässt sich dies im Konfliktverlauf um Imataca zeigen. Die politische Legitimitätskrise verband sich hier mit einer zunehmend selbstbewussten Zivilgesellschaft, die sich nun gemeinsam – in einer breit gefächerten Koalition aus Indigenen, Studenten, Umweltaktivisten, Professionellen und Wissenschaftlern – gegen die staatlichen Entwicklungspläne in Imataca stellten. Misstrauen und Kritik am staatlichen Handeln wurde vor allem im Bezug auf die staatliche Bergbaupolitik in Imataca geäußert, die, so das Urteil der Kritiker, nur als chaotisch, inkompetent und planlos bezeichnet werden konnte. Als Symbol einer ökologisch und sozial stigmatisierten Lebensform hatten es gerade die kleinen Goldsucher schwer, bei allem Verständnis, das für ihre Nöte und Interessen gezeigt wurde, eine positive Nische im ökologiedominierten Diskurs um Imataca zu besetzen. Dagegen wurde die indigene Bevölkerung in Imataca als positives Beispiel einer nachhaltigen, die Natur und das Leben schätzenden Lebensweise gefeiert, deren kulturelles Überleben durch das neue Dekret massiv gefährdet schien. Es ist interessant zu sehen, dass in den Auseinandersetzungen in Imataca einerseits dieser klassische Opferdiskurs noch stark präsent war,
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anderseits – gerade mit zunehmender Internationalisierung des Konflikts – die beiden Komponenten Wälder und indigene Gruppen zunehmend in einen optimistischeren Diskurs der ›Vielfalt‹ eingebunden wurden. Hier sind sie weniger Opfer, denn Teil eines schützenswerten globalen ökologischen Guts. Gerade mit Blick auf die ökonomischen Interessen des Staates, die sich bislang ausschließlich auf herkömmliche Ressourcen in Guayana – Holz, mineralische Rohstoffe und Wasser – richteten, versuchten Umweltgruppen wie ACOANA, Ecodesarrollo und Provita den Blick für den ökonomischen Wert der Biodiversität zu schärfen, dessen Potenzial auch für touristische Verwertung in Venezuela völlig unterentwickelt sei. Sie argumentieren damit ganz in der Logik der internationalen Biodiversitätspolitik, deren Ansatz heute kaum noch in Frage gestellt wird, nämlich den Schutz der biologischen Vielfalt insgesamt möglichst eng an die marktförmige Inwertsetzung einzelner Komponenten der belebten Welt zu koppeln (vgl. Nevins/Peluso 2008). In der indigenen Protestbewegung im Konflikt um Imataca avancierte ›Biodiversität‹ zum viel benutzten Kampfbegriff und Slogan. Der Begriff wurde in einer sehr umfassenden Bedeutung gebraucht, er stand symbolisch für das Leben, für die Menschheit schlechthin, und für die Zukunft des Planeten, dessen Schicksal eng mit dem eigenen Schicksal in Imataca in Beziehung gebracht wurde. Ihren persönlichen Kampf gegen die Zerstörung der Wälder in Imataca präsentierten die Indigenen selbstbewusst als Einsatz für eine Entwicklung, die die Vielfalt der Natur und der kulturellen Lebensformen würdigt und respektiert. Ihre Position als ›Verteidiger der biologischen Vielfalt‹ leitet sich also weder aus der abstrakten Vorstellung einer ›bedrohten Natur‹, noch aus der Sorge um den Verlust ökonomisch wertvoller genetischer Ressourcen ab, sondern aus einer engen, gelebten Beziehung zur Vielfalt als Schutzhülle für ihren elementaren Überlebenskampf, der nun vor dem Hintergrund der globalen Umweltkrise strategisch in seiner positiven Signalwirkung und globalen Tragweite herausgestellt wird (vgl. Hecht/Cockburn 1989). Zwickmühlen indigener Repräsentation Wie von verschiedenen Autoren bereits kritisch vermerkt, ist diese auch im Konflikt um Imataca erkennbare Ökologisierung des indigenen Diskurses auf nationalen und internationalen Bühnen eng an neue Formen des kol-
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lektiven Ausdrucks und der Selbstrepräsentation gekoppelt, die anschlussfähig sein müssen an Konzepte und Bilder, wie sie von anderen Akteuren generiert werden (Nadasdy 2005; Flitner 2000). Umweltgruppen gehören heute zu den wichtigsten Produzenten solcher Bilder in einer zunehmend globalisierten Medienlandschaft, und so bieten sich für die Indigenen prekäre Allianzen an, die sich auf dem dünnen Grat zwischen Retraditionalisierung und strategischem Essentialismus bewegen. Indigene Gruppen reartikulieren vielerorts ihre Identitäten und kosmologischen Systeme in Begriffen wie ›Bewahrer der Biodiversität‹ und ›Respekt für Mutter Erde‹ in dem Versuch, ein geschmeidiges Bild zu schaffen, das auf traditionelle Elemente und Symbole zurückgreift und sich doch gut mit westlichen Vorstellungen verbinden lässt. Dabei werden nicht nur Anschlüsse zu exotistischen und primitivistischen Denkfiguren riskiert, sondern zugleich eine an ethischen und ökologischen Kriterien ausgerichtete Hierarchie »kultureller Reinheiten« (Conklin 1997: 722) erzeugt, die besonders dann sichtbar wird, wenn Indigene nicht dem an sie herangetragenen Bild entsprechen. So lösten etwa die Geschäfte der indigenen Kayapó mit Holzunternehmen nach ihrem Bekanntwerden in der internationalen Öffentlichkeit Empörung und Enttäuschung aus. Der mediale Druck auf indigene Aktivisten, Natürlichkeit und Authentizität zu verkörpern, zwingt sie demnach zugleich dazu, ›inauthentisch‹ zu handeln. Dies ist vielleicht die bittere Ironie dieser proindianischen Wende in der globalen Umweltpolitik, schlussfolgerte Conklin (1997) in ihrer Analyse der Situation in Amazonien. Ähnlich schwierig gestaltete es sich für indigene Gruppen in der Region Imataca, ökonomische und soziale Interessen offensiv für sich zu vertreten, die nicht so leicht in die ökologische Nische passten, die ihnen zugebilligt wurde. Gerade unter den in der Protestbewegung sehr aktiven Pemon arbeiteten viele in den umliegenden Goldminen, einige comunidades hatten gar eigene Minenkooperativen gegründet. Auch unter den Kari’ña in Imataca spielt ja – wie bereits gezeigt – die Goldsuche eine zunehmend wichtige Rolle. Für viele konservative Politiker des Umwelt- und Forstministeriums war dies Grund genug, die ökologische Rhetorik der Indigenen als Doppelzüngigkeit zu entlarven, und es bestätigte einmal mehr ihr Misstrauen gegenüber dem, was sie als importiertes und hochromantisches Bild der Indigenen empfanden. Solche Widersprüche und Reibungen zwischen symbolischem Diskurs und gelebter Wirklichkeit führten dazu, dass die international geprägte Debatte um indigene Rechte vor der chavistischen Wende in
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Venezuela staatlicherseits generell kritisch rezipiert wurde, und besonders kritisch in Umweltbelangen. Nicht selten wurden entsprechende internationale Entwicklungen sogar als perfider Angriff ›öko-imperialistischer‹ Kräfte auf den nationalen Souverän gewertet. Diese kritische Grundhaltung kam auch in der Aussage eines venezolanischen Delegierten auf einer UNKonferenz über Indigenes Wissen zum Ausdruck, der mir – über das Konferenzgeschehen reflektierend – freimütig zu verstehen gab: »Viele der Indigenen sind manipuliert worden; dies alles hier ist das Ergebnis einer Strategie, in der die Indigenen von Gruppen aus der Ersten Welt aufgewiegelt werden. [...]. Das Einzige, was in diesen internationalen Foren klargestellt wurde, ist, dass angesichts der vielen Paragraphen, in denen über eine besondere Behandlung der Indigenen verhandelt wird und Begriffe wie indigene Gemeinschaften oder indigene Völker diskutiert werden, die Verhandlungsergebnisse immer mit unserer nationalen Rechtsprechung kongruent sein müssen. Das ist alles. Wir können uns deshalb nicht auf diese Begriffe beziehen, weil das venezolanische Volk ein Einziges ist und die Indigenen nicht getrennt von der venezolanischen Nation gedacht werden können.«
Es sind solche Reibungen im Zusammenwirken von internationalen Diskursen, nationalen Ideologien und lokalen Lebenswelten, die die politische und kulturelle Artikulation der Indigenen in Venezuela maßgeblich beeinflussen. Einerseits eröffnen sich ihnen durch den Bezug auf internationale Debatten wie der biologischen Vielfalt in den aktuellen Konflikten politische Artikulationsmöglichkeiten, die vom klassischen Opferdiskurs wegführen, der seine Kraft vor allem aus der drohenden Vernichtung indigener Kulturen bezog. Andererseits aber liegt die Gefahr hier nahe, dass eine sehr begrenzte und funktionalistische Berechtigung indigener Kulturen neu festgeschrieben wird, dass kulturelle Differenz sich in erster Linie in einem »bioökonomischen Paradigma« (Ellen 1996) neu legitimiert. Über die politische Konstruktion einer vereinten indigenen Stimme gerät außerdem leicht das aus dem Blick, was den eigentlichen Kern indigener Identität ausmacht, nämlich die kulturelle Differenz im Spezifischen. Auch im globalen Umweltdiskurs wird kulturelle Differenz ja vor allem als allgemeine aufgewertet, und eine Art »hyperrealer Indianer« (Ramos 1994) geschaffen, der nicht nur wenig mit der Lebenssituation der indigenen Gruppen zu tun hat, sondern auch bestehende soziokulturelle Differenzen innerhalb der indigenen
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Bevölkerung gänzlich verwischt. Die Kari’ña selbst bewegen sich weitgehend außerhalb globaler umweltaktivistischer Netzwerke, nationaler Parteipolitik und pan-indigener Bewegung. Gerade im Vergleich zu anderen indigenen Gruppen der Region sind sie auffallend wenig politisiert und organisiert. Sie wissen wenig mit dem Begriff der biologischen Vielfalt anzufangen, geschweige denn von den komplexen Debatten um Eigentumsrechte und indigenes Wissen, die damit verbunden sind. Der Wirbel um ihr Siedlungsgebiet ist natürlich auch an ihnen nicht unbemerkt vorbei gegangen, waren sie doch begehrtes Anschauungsmaterial für die nicht wenigen Journalisten, Wissenschaftler und Umweltaktivisten, die den beschwerlichen Weg nach Imataca auf sich genommen haben, um sich ein Bild über die Lage vor Ort zu machen. Unter diesem Einfluss mag sich bei einigen zaghaft ein Bewusstsein über ihre Rolle und ihre Rechte in diesem Feld zu entwickeln beginnen. Insgesamt jedoch überwiegt auch hier der Eindruck einer inneren Abwehr und irritierenden Distanzhaltung, die sich im historischen Rückblick als prägendes kulturelles Muster bei den Kari’ña durchzieht. In diesem Sinne könnte man dieser oftmals problematisierten und allumfassenden Marginalität auch eine positive Lesart abgewinnen, in dem man sie auch als aktive Widerständigkeit gegenüber materiellen und politischen Vereinnahmungen anerkennt, einschließlich der neuen Differenzangebote, die die globalen öko-kulturellen Allianzen und Diskurse um biologische Vielfalt ihnen bieten. Angesichts weit verbreiteter funktionalistischer und naturalistischer Verkürzungen in der Anerkennung kultureller Differenz wäre es leicht, das Interesse an indigenem Wissen als imperiale Geschichte von Unterwerfung und fremdbestimmten Zugriff auf indigene Kulturen und ihre Ressourcen fortzuschreiben. Und in der Tat gibt es viele Stimmen, die das neue Interesse internationaler Umwelt- und Entwicklungspolitik für indigene Gruppen kritisch sehen, und in ihm die Wiederholung alter postkolonialer Fantasien und Geschichten in neuem Gewand argwöhnen. Auch ich teile viele dieser Bedenken, wie sie etwa in der Ethnologie über die Revitalisierung kultureller Stereotypen und essenzialistischen Kulturvorstellungen (Conklin 1997), oder von Vertretern der politischen Ökologie über die disziplinierende Macht ökologischer Modernisierungsdiskurse auf ländliche und indigene Bevölkerungen geäußert wurden (Li 2007; Hvalkof 2000). Allerdings formen sie zusammen eine Art politischen Metadiskurs, in dem, wie Tsing gewohnt beherzt zu bedenken gibt, »nichts passieren kann – Gutes oder
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Schlechtes – sondern nur mehr vom Gleichen« (Tsing 2005: 161). Tsings Intervention regt an, das produktive und mobilisierende Moment, das sich trotz allem aus solchen »Reibungen« ergeben kann, nicht aus dem Blick zu verlieren (vgl. a. Hecht 2011). Und in der Tat ist nicht zuletzt durch die politischen Kontroversen um die Forstreserve Imataca viel in Venezuela in Bewegung gekommen.
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ALS REVOLUTIONÄRES
P ROJEKT
Bereits in der Hochphase des Konflikts um Imataca in den Jahren zeichnete sich ein radikaler Politikwechsel ab. Mit Hugo Chávez trat 1999 ein Mann an die Spitze des venezolanischen Staates, der bereits im Vorfeld der Wahlen eine radikale Neugründung der venezolanischen Nation angekündigt hatte, in der die indigenen und afroamerikanischen Elemente der venezolanischen Gesellschaft eine deutlich aufgewertete Position bekommen sollten (Scholz/Mansutti 2008). An der Ausarbeitung der neuen Verfassung, die noch im selben Jahr verabschiedet wurde, waren denn auch drei ausgewählte Vertreter der Indigenen direkt beteiligt. Die Verfassung, die nach schwierigen Verhandlungen zustande kam, räumt den Indigenen erstmals weitgehende Rechte ein, darunter auch das für die kulturelle Selbstbestimmung so existenzielle Recht auf Land. Mit der Anerkennung der multikulturellen Realitäten hat sich auch Venezuela von der Ideologie der Einheitsnation verabschiedet, die bisher jede Diskussion um indigene Sonderrechte unterdrückt hat. Mit dieser Kehrwende fügt sich Venezuela ein in eine in Lateinamerika insgesamt zu beobachtende Tendenz zur Ethnisierung des politischen Diskurses, die mit neuen Formen der indigenen Partizipation einhergeht, wie sie sich etwa in der direkten Beteiligung an der Regierungsarbeit oder auch in der Bildung ethnischer Parteien wie z.B. in Bolivien und anderen Andennationen manifestieren (Morrissey 2009). Interessant im Zusammenhang dieses Kapitels ist die Tatsache, dass die Verfassung auch die im neuen Ressourcenfeld der biologischen Vielfalt so prominente Frage des indigenen Wissens und seines Schutzes aufgreift. In Artikel 124 heißt es, das Wissen, die Technologien und die Innovationen indigener Völker würden als »kollektives geistiges Eigentum garantiert und geschützt«, die Patentierung genetischer Ressourcen und sich darauf beziehender Kenntnisse wird in diesem Zusammenhang kurzerhand verboten;
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stattdessen sollen »kollektive Vorteile« aus deren beider Nutzung gezogen werden (vgl. a. Mogollon-Rojas 2002: 537). Wenn in besagtem Artikel auch noch etwas wolkig bleibt, auf welche Weise die genannten Ziele erreicht werden sollen, so dürfte Venezuela damit jedenfalls wohl das einzige Land sein, dass derartig konkrete Belange der Biodiversität in den Stand von Verfassungsfragen erhoben hat. Etwas genauere Ausführungen finden sich in dem nationalen Gesetz über die biologische Vielfalt (LD% , das im Jahr darauf vom Kongress verabschiedet wurde. In einem eigenen Kapitel über die »Bewahrung der kulturellen Vielfalt« werden zunächst die angestammten Rechte (derechos patrimoniales) der indigenen Gemeinschaften an ihren Wissensbeständen noch einmal bekräftigt (LDB, Art. 39). Dabei wird jedoch eingeschränkt, dass diese Rechte nur insoweit geltend gemacht werden können, als die betreffenden Ressourcen materiell und immateriell der einzigartigen Identität (identidad única) einer traditionellen Gemeinschaft bzw. einer indigenen Gruppe oder eines indigenen Volkes zugehörig sind (Art. 41). Ist diese Bedingung gegeben, besteht das Recht der betreffenden Gemeinschaft in einer Ablehnungsmöglichkeit der Sammlung von biologischem Material und dem dazugehörigen Wissen durch Dritte in den Siedlungsgebieten der betreffenden Gruppe (Art. 43), also in einer Möglichkeit, wie sie in der internationalen Konvention über biologische Vielfalt analog für den zwischenstaatlichen Verkehr verankert ist (CBD, Art. 15, prior informed consent). Zugleich wird im venezolanischen Gesetz aber die Pflicht der entsprechenden Gemeinschaften betont, mit den einschlägigen öffentlichen Institutionen zu kooperieren. Zum »kollektiven Wohl des Landes« ist die Nutzung des traditionellen Wissens ausdrücklich vorgesehen (LDB, Art. 44 u. 45). Man kann in dieser Konstruktion eine merkwürdige Doppelbindung der venezolanischen Gesetzgebung erkennen, indem einerseits die Rechte indigener Gemeinschaften ausdrücklich anerkannt und symbolisch gestärkt werden, andererseits umgehend übergeordnete Zwecke wie das Wohl der Umwelt oder der Nation eingeführt werden, Zwecke, die jene ohnehin schwer durchsetzbaren Ansprüche in andere Bahnen lenken oder neuen Bedingungen unterwerfen. Diese doppelte Stoßrichtung wird auch in den einschlägigen Abschnitten über Zugang und Vorteilsausgleich sehr deutlich (LDB, Titulo VII). Einerseits wird hier in überraschender Klarheit festgehalten, dass biologisches Material nicht patentiert werden darf, welches illegal erworben wurde oder auf der Anwendung kollektiven Wissens indi-
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gener Bevölkerungsgruppen basiert (LDB, Art. 82). Gesetzesverstöße in dieser Hinsicht werden sogar explizit mit Haftstrafen bedroht (LDB, Art. 120). Andererseits wird das Recht, an den Vorteilen resp. Gewinnen kollektiv teilzuhaben, die sich aus der Nutzung dieses Wissens ergeben, explizit als eine Kompensation für den Erhalt der natürlichen Umwelt formuliert (LDB, Art. 84). Worin der Schutz bzw. die Rechte der indigenen Bevölkerung in diesem Punkt überhaupt bestehen, bleibt jedoch unklar, und die Beseitigung dieser Unklarheit wird schließlich auf zukünftig zu entwickelnde Programme übertragen (LDB, Art. 88). Es ist leicht ersichtlich, dass sich auch mit den nationalen Bestimmungen einige größere Umsetzungsprobleme ergeben: Zunächst dürfte es schon schwer fallen, spezifische heilkundlich genutzte Komponenten von Pflanzen einer »einzigartigen Identität« der Kari’ña zuzuordnen, denn oft werden sie auch von einer Reihe anderer Ethnien in der weiteren Region in ähnlicher Weise genutzt. Auch verfügen die Kari’ña einstweilen nicht über rechtlich gesicherte Territorien, die ohne Weiteres als die ihren zu behaupten wären – der einschlägige Artikel 43 spricht jedoch von der Möglichkeit der Ablehnung bestimmter Projekte durch indigene Gruppen ausdrücklich mit Bezug auf »ihre Territorien« (Art. 43). Weiter bleibt auch das vorgesehene Patentierungsverbot für extrahierte Substanzen, oft wirkungslos, weil viele Patente nicht in Venezuela, sondern in den USA und Europa angemeldet werden. Dagegen würden sich die Zugriffsmöglichkeiten des venezolanischen Staates auf solche Ressourcen noch erhöhen, denn hier besteht nun die neue gesetzliche Verpflichtung auf Seiten der Indigenen, zum Wohle der Nation mit staatlichen Einrichtungen zu kooperieren. Im Ergebnis ist die rechtspolitische Wende unter dem neuen Präsidenten Chávez in diesem Punkt also nicht ganz so radikal, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Die Rechtsansprüche der indigenen Gruppen bleiben in weiten Bereichen vage formuliert und an verschiedene Bedingungen gebunden, die in vielen denkbaren Fällen kaum erfüllt werden können. Dennoch zeichnen sich in der Gesamtbetrachtung zumindest die Konturen einer neuen Regelung dieses Feldes in Venezuela ab, die in drei Punkten bemerkenswert scheint: Erstens wird den indigenen Gruppen unter bestimmten Bedingungen ein Abwehrrecht gegen Projekte in ihren Gebieten eingeräumt; das ist in dieser Form neu. Zweitens wird die Stärkung der indigenen Positionen direkt an den Staat bzw. staatliche Aufgaben und das Gemeinwohl des Landes angekoppelt. Damit wird die lange Zeit in Venezuela
Abbildung 4: Raumordnungsplan RF Imataca (2004; Ausschnitt); eig. Darstellung
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vertretene Sichtweise aufgegeben, wonach es in diesen Fragen ein Nullsummenspiel gebe, bei dem jede Stärkung indigener Rechte quasi automatisch mit einem Verlust nationaler Souveränität einhergeht. Drittens wird die akademisch und politisch kontrovers diskutierte Frage, inwieweit geistige Eigentumsrechte das geeignete Instrument seien, um die indigenen Wissensbestände zu schützen, jedenfalls für Patente klar negativ beantwortet. Die indigenen Wissensbestände werden hier sogar aktiv von der Patentierbarkeit ausgeschlossen. Mag die Umsetzung dieser Positionen auch noch beträchtliche praktische Probleme aufwerfen, so werden insgesamt die Ansprüche indigener Gemeinschaften doch zumindest auf der politischsymbolischen Ebene ganz erheblich gestärkt. Allerdings sind die Erfolge bei der Etablierung indigener Nutzungsrechte, sowohl in dem Gebiet als auch im weiteren rechtlichen Rahmen, bisher noch kaum auf die Probe gestellt worden, weil die ökonomische Nutzung der Biodiversität in dem Gebiet selbst noch in den Anfängen steckt. Konflikte und Probleme scheinen jedoch eher die Regel als die Ausnahme, wie die ersten Initiativen und Forschungsprojekte in Venezuela zeigen. Wegen massiver Konflikte über die Verfügungsrechte von erhobenen ethnobotanischen Daten und Materialien in einem großen Forschungsprojekt in Zulia haben indigene Gruppen mittlerweile ein Moratorium aller wissenschaftlichen Projekte und Anträge in diesem Forschungsfeld verfügt (Zent/Zent 2008). Auch im Konfliktfall Imataca versprach Chávez eine Lösung, die die Interessen und Rechte der indigenen Bevölkerung stärker berücksichtigen würde. Im September 2004 erließ Präsident Chávez ein (bereits bei Regierungsantritt angekündigtes) neues Dekret zur Nutzung der Forstreserve (Decreto 3110). Darin sind zumindest rhetorisch zahlreiche Komponenten enthalten, die bisher von den Kritikern gefordert worden waren: So gibt es unter den Zonentypen nun nicht nur explizite »Genreservoire« (Zona de Reservorio de Genes), sondern gleich drei Arten von Gebieten, die durch den Zusatz »mit einer hohen Präsenz von indigenen Gemeinschaften« speziell auf die Verhältnisse indigener Bewohner zugeschnitten sind.1 Der
1
Diese sind bezeichnet als »[...] 6. Zona de Manejo Especial Forestal von Alta Presencia de Comunidades Indígenas [...] 8. Zona de Manejo Especial Forestal – Minero con Alta Presencia de Comunidades Indígenas [...] 10. Zona de Manejo Especial Agroforestal con Alta Presencia de Comunidades Indígenas« (Decreto 3110: Art. 7; vgl. Abb. 4, vorhergehende Seite).
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dauerhafte Erhalt der indigenen Völker und Gemeinschaften im Gebiet der Forstreserve wird sogar als grundlegendes Ziel des Planes genannt (Art. 80). Auch wird den Indigenen zumindest in einigen Zonen ein Mitspracherecht in der Ressourcennutzung eingeräumt. Im Vergleich mit früheren Landnutzungs- und Naturschutzplanungen in der Region ist dies zweifellos ein Fortschritt. In den bisherigen von wissenschaftlicher und staatlicher Seite angedachten Schutzmaßnahmen, die ihr Siedlungsgebiet unmittelbar betrafen, wurden diese nämlich bisher gar nicht oder allenfalls am Rande erwähnt. Dies galt vor allem für die Mitte der 1990er Jahre immer wieder angedachte Einrichtung sogenannter ökologischer ›Korridore‹ und ›Genreservoire‹, durch welche die Artenvielfalt im Gebiet bzw. deren genetische Grundlage bewahrt werden sollte (vgl. Ochoa 1994, 1995; MARNR 1995). Allerdings finden sich im neuen Plan bezüglich des Gebietes, in dem die Kari’ña überwiegend leben, kaum Beschränkungen in der (bisherigen) Nutzung; vor allem wird die Vergabe der Holzkonzessionen hier in keiner Weise eingegrenzt. Ein genauerer Blick auf die Flächenzuteilung in dem neuen Raumordnungsplan zeigt, dass die ursprünglichen Konflikte keineswegs etwa insgesamt zugunsten der Umweltverbände oder der Indigenen gelöst worden wären (s. Abb. 4). Tatsächlich hat sowohl die Fläche, die für den Bergbau vorgesehen ist, als auch die Fläche für kommerzielle Holzkonzessionen gegenüber dem ursprünglichen Dekret 1850 sogar noch zugenommen (Centeno 2004; Chiappe 2004). Der Schutz bzw. die Beteiligung der Indigenen an diesen Projekten ist bisher jedoch so wenig konkret geregelt wie die Landrechtsfrage, die ebenfalls – gerade in so ressourcenreichen und umkämpften Gebieten wie der Forstreserve Imataca – eher zögerlich in Angriff genommen wird. Dementsprechend haben sich auch gegen das neue Dekret vielfache Bedenken artikuliert und die Kritik an der aktuellen Landnutzung in der Forstreserve wird auf absehbare Zeit kaum verstummen. Es lässt sich die Prognose wagen, dass jedenfalls die Konstitution einer ›globalisierten Umwelt‹ dabei kaum mehr zurückzudrehen ist, und ihre enge Verknüpfung mit der Rolle indigener Gemeinschaften, die manche Autoren als eine »Revolution in der internationalen Umweltpolitik« (Beckenridge 1992: 745) erachten. Der Streit um die Raumplanung im Fall Imataca verdeutlicht, dass die behaupteten Zusammenhänge zwischen indigener Nutzung und Biodiversität sehr abstrakt bleiben können und dennoch ihre Wirkung entfalten. So findet sich an keiner Stelle in der mir zur Verfügung stehenden Literatur
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genauere Angaben darüber, wie die Landnutzung der Indigenen denn vor Ort überhaupt tatsächlich aussieht, d.h. konkret welche Flächen mit welchen Methoden bearbeitet werden, welche Pflanzen und Tiere in welchem Umfang genutzt werden, usw. Dieser Mangel an Konkretheit birgt das Risiko, dass die unverkennbaren Fortschritte, die sich hier im Einbezug der Indigenen bzw. der Kari’ña erkennen lassen, kaum in sinnvolle Nutzungsregeln umgesetzt werden können. Da aber nicht alle tatsächlich praktizierten Nutzungsformen automatisch mit naturschützerischen Zielsetzungen konform gehen, scheinen neue Konflikte vorprogrammiert. Dabei könnten die symbolischen Terraingewinne der abstrakten Indigenen letztlich mit einer Zurückdrängung der konkreten Kari’ña vor Ort einhergehen. Solche Befürchtungen wurde von der Koordination der Amazonas-Indianer (COICA) bereits vor fünfzehn Jahren geäußert: die Biodiversität, hieß es in deren Zeitschrift Nuestra Amazonia, eröffne nur »ein weiteres Kapitel in dem Zugriff auf Amazonien und seine Ressourcen, der am Anfang dieses Jahrhunderts mit der Kautschukausbeutung begann« (Nuestra Amazonia 8/1996: 2).
8 Schlussbetrachtungen
»Resource-supply zones are, therefore, selectively emptied (rather than empty) spaces, spaces about which the ability to tell stories about who and what is in them is a means through which control is exercised.« GAVIN BRIDGE (2001)
In den vorausgehenden Kapiteln wurde der Versuch unternommen, die Produktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayana mit besonderem Blick auf die Region Imataca und die dort lebenden indigenen Kari’ña zusammen zu denken. Wie wir sahen, haben natürliche Ressourcen die Begegnung der indigenen Bewohner dieser tropischen Waldregionen mit der ›Außenwelt‹ maßgeblich bestimmt. So spannten sich die oftmals global verknüpften Netzwerke, in welche die Kari’ña im Laufe ihrer kolonialen und postkolonialen Kontaktgeschichte eingebunden wurden, mehrfach um bestimmte, wechselnde natürliche Ressourcen auf, die quasi einen materiellen Ankerpunkt der Netzwerke vor Ort bildeten. Im Zuge der aufeinander folgenden Erschließungswellen von natürlichen Ressourcen wurden die Kultur der Kari’ña und die Landschaft Imatacas beide immer wieder transformiert und neu gestaltet. Für die Analyse dieser zusammenhängenden Prozesse wurde von mir die Perspektive der Koproduktion eingenommen. Sie rückt die wechselseitigen Beziehungen, Abhängigkeiten und Reibungen in den Vordergrund, die sowohl von der Materialität und Verfasstheit der Ressourcen beeinflusst werden, wie von den beteiligten sozialen Subjekten. Die betrachteten Pro-
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zesse der Koproduktion verliefen entsprechend keineswegs gleichförmig, sondern nahmen historisch und ressourcenabhängig jeweils spezifische Formen und Verläufe an. Ihre Dynamik und Ausgestaltung in der Region Imataca wurde dabei von vielfältigen Faktoren beeinflusst, die zum Teil weit jenseits der Region und in globalen Kontexten ihre Antriebskräfte und Ausgangspunkte hatten. In meiner Analyse konzentrierte ich mich jedoch bewusst auf die lokalen Dynamiken, wie sie sich in den Begegnungssituationen im Siedlungsgebiet der Kari’ña in der Sierra Imataca artikulierten. Als eine Art Kontaktzone bildete dieses Gebiet den Brennpunkt meiner Untersuchung, in dem sich spezifische ökonomische, kulturelle und historische Bezüge verdichten und bündeln. Zugleich war damit ein Standort der Perspektive verbunden, von dem aus ein durchaus gewollt partieller und situierter Blick auf die untersuchten Prozesse und Begegnungen geworfen wurde, einer, der die Geschichte weniger vom Zentrum aus als vielmehr vom Rand her zu erzählen sucht – aus der Warte derjenigen, die normalerweise nicht als geschichtsmächtige Akteure oder gar Geschichtsschreiber in Erscheinung treten. Meine solchermaßen situierte Geschichte der Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz begann mit der Beschreibung, wie Gold die spezifische Kontaktgeschichte der Kari’ña mit europäischen Kolonialmächten im Südosten Venezuelas geprägt hat. Im kolonialen Kontext stand dabei die Rolle des Goldes als Gegenstand und Generator kollektiver Fantasien im Vordergrund, die im verbreiteten Mythos von El Dorado ihren narrativen Rahmen und kontinuierlichen Antrieb fanden. Schon den ersten Schritten, die die frühen Konquistadoren in Guayana unternahmen, waren in hohem Maße Vorstellungen über die Indigenen und ihr Wissen eingeschrieben. Gerade weil Gold selbst flüchtig blieb, wirkte es als stetiges und mächtiges Agens der kolonialen Expansion und Eroberung jener Region am Orinoko, die bereits auf den Globen des frühen 16. Jahrhunderts durchgängig und fest als Land der wilden und menschenfressenden Kariben gebrandmarkt war. Für die spanische Kolonialmacht wurden die rebellischen Kariben/Kari’ña zur Inkarnation einer kulturellen Differenz, die unversöhnlich mit eigenen moralischen Werten schien und eine gewaltsame Unterwerfung rechtfertigte. Die ethnischen Kategorisierungen der Europäer spiegelten dabei weniger reale kulturelle Unterschiede und Gruppierungen innerhalb der indigenen Bevölkerung wider, als vielmehr spezifische koloniale Begegnungssituationen, in denen sich politische und kulturelle Werte
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der Europäer in einer Weise artikulierten, die oftmals die Reaktion der ›Anderen‹ auf die eigene Präsenz bereits enthielt. Mit ihrem langen, erbitterten Widerstand gegen die Spanier wurden die Kari’ña ihrer Zuschreibung auch gerecht, die sie in eigener Sache mobilisierten, wie meine Schilderungen über die interethnischen Machtverschiebungen und Kriege im kolonialen Guayana im zweiten Kapitel deutlich zeigten. Die Bezüge und Interdependenzen in der Herstellung kolonialer Macht und ethnischen Formationen wurden als komplexes System von Dialog, Kooperation, Herrschaft und Widerstand herausgearbeitet, in dem gerade die Kari’ña sich durch geschicktes Taktieren und strategische Allianzbildungen eine Vormachtstellung sicherten. Erst in dem Maße, wie die Kari’ña an Bedeutung für die politische Ökonomie der kolonialen Handelsmächte verloren und ihnen Kriege und Krankheiten zusetzten, wurden sie zunehmend an den Rand einer kolonialen Gesellschaft zurückgedrängt, die ohne ihre Hilfe so nicht hätte entstehen können. Während im kolonialen Kontext Gold zunächst vor allem als Fantasie und kulturelle Konstruktion seine Wirkung entfaltet, widmete sich das dritte Kapitel den Auswirkungen des realen, baren Goldes, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Siedlungsräumen der Kari’ña diesseits wie jenseits der venezolanisch-guayanischen Grenze einen ersten Boom erlebte. Im Kapitel spürte ich der besonderen Affinität, aber auch den spezifischen Widersprüchen und Ambivalenzen in den Bezügen zwischen Kari’ña und Gold nach. Einerseits hat auch bei den Kari’ña die Suche nach Gold an Bedeutung gewonnen, umso mehr als der unstete und dezentral orientierte Habitus der Goldsucher, der sich in diesen peripheren Grenzräumen herausgebildet hat, den in ihrer eigenen Kultur verankerten Wertschätzungen von Mobilität, Rückzug und Autonomie entgegen kommt. Andererseits liegt gerade in dieser Unkontrollierbarkeit und Ungeregeltheit ihrer Produktion auch das besonders zerstörerische und transformative Potenzial dieser Ressource. So forcierten die ersten Kontakte mit dem Goldboom den bereits im Zeichen des fantastischen Goldes begonnenen Prozess der kulturellen und politischen Zersplitterung bei den Kari’ña in einem Maße, dass ihre Kultur auf ein völlig von politischen und kulturellen Attributen entkleidetes, nacktes Leben reduziert werden konnte. Das moderne ethnographische Bild der Kari’ña als fragmentierte, isolierte Kleingruppen findet hier seinen Ursprung. Auch mit Blick auf die aktuellen Konflikte um Gold in der Region Imataca bleibt diese Ambivalenz spürbar. So stellt Gold zwar eine der
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wenigen Ressourcen dar, die eine direkte und zumindest teilweise selbstbestimmte Teilhabe schwacher Akteure wie der Kari’ña erlaubt. Andererseits aber schwächt der Sog der Goldsuche die ohnehin prekäre soziale und politische Kohäsion der Gruppe weiter. Als mineros indígenas laufen sie zugleich Gefahr, den Anspruch auf ›kulturelle Authentizität‹ zu verlieren, die im heutigen ökologiedominierten Indigenendiskurs ihr vielleicht wichtigstes kulturelles Kapital darstellt. Während Gold bis heute eine wirtschaftlich bedeutende Rolle in der Region spielt, rückte im vierten Kapitel mit Kautschuk bzw. Balata eine vergangene und in Venezuela auch weitgehend vergessene Ressource in den Mittelpunkt, deren Gewinnung jedoch – wie sich zeigte – die ökologische und kulturelle Landschaft grundlegend veränderte. Balata setzte einen ersten wirklich nachfragegetriebenen Ressourcenboom in Imataca in Bewegung, bei dem die globalen Verstrickungen zwischen industriellen, wirtschaftspolitischen und technologischen Entwicklungen in den Fortschrittszentren der europäisch-westlichen Welt und lokalem Wandel in der Peripherie südamerikanischer Urwälder in besonderer Weise deutlich wurden. Nachgefragt wurde der Rohstoff dabei gerade von jenen wachsenden europäischen Industrien (Treibriemen, Kabelherstellung usw.), welche die Grundlagen der heute so viel beschworenen Globalisierung schaffen, nämlich Mobilität und Kommunikation. Die Produktion vor Ort basierte dagegen im Wesentlichen auf einer primitiven Sammelwirtschaft, die in ein ebenso komplexes wie gewalttätiges System sozialer Organisation eingelassen war und auf der systematischen Aneignung und Ausbeutung der indigenen Arbeitskraft beruhte. Der Produktion von Kautschuk und Balata waren Gewalt und Konflikt im besonderen Maße eigentümlich, gerade weil hier extrem wirkungsmächtige globale Kräfte und Diskurse auf besonders schwierige lokale Bedingungen und Widerstände trafen. Dabei wurden Mechanismen unkontrollierter Gewalt in Gang gesetzt, die sich insbesondere gegen die ›unzivilisierten‹, indigenen Bewohner der Regionen richteten, die ihrerseits wenig Interesse zeigten, für die Kautschukbarone zu arbeiten. Wenn auch die Kari’ña in Imataca wohl nicht zu den zentralen Opfern dieser Gewalt gehörten, wurden auch ihre Siedlungsgebiete vollständig vom Fieber dieser Ressourcenökonomie erfasst. Mit der Gewinnung von Balata waren massive Eingriffe in die Natur verbunden, da die milchliefernden Bäume in der Region in kaum vorstellbarer Zahl einfach gefällt wurden. Schon aus diesem Grund kann man in Imataca nicht von einem primären,
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ökologisch unversehrten Tropenwald sprechen, vielmehr zeigt sich die Natur als gemachte oder ›produzierte Natur‹. Paradoxerweise ist mit Balata jedoch gerade diejenige Ressource in den heutigen Debatten um Waldschutz und nachhaltige Entwicklung in Venezuela gänzlich aus dem Blick verschwunden, die insgesamt die gravierendsten Auswirkungen auf Landschaft und Menschen in Imataca gehabt hat. Diese Ausblendung hängt damit zusammen, so meine These, dass die hier zur Geltung kommende Verbindung von Fragen nationalstaatlicher Souveränität und zivilisatorischem Fortschrittsglauben mit ruchloser wirtschaftlicher Ausbeutung kaum mit dem Selbstbild späterer venezolanischer Eliten in Einklang gebracht werden kann. Ganz anders ist dies beim Öl, das als einzige der betrachteten Ressourcen in der Region Imataca selbst gar nicht vorkommt. Sein Einbezug erschien mir jedoch aus mehreren Gründen wichtig: erstens hat Öl das Leben der in Venezuela mehrheitlich in den nordöstlichen Savannenlandschaften von Anzoátegui und Monagas siedelnden Kari’ña seit den 1930er Jahren stark beeinflusst. Zweitens werden die Entwicklungsdynamiken in der Region Imataca, wie sie sich insbesondere seit den 1960er Jahren in mehreren Wellen beobachten lassen, nur vor dem Hintergrund des Erdölbooms verständlich; sie sind insgesamt ohne Weiteres als ›Saat des Öls‹ zu interpretieren. Und ganz allgemein schließlich kommt der Ressource Öl eine herausragende materielle wie identitätsstiftende Rolle in Venezuela zu. Sie hat Gesellschaft, Politik und Wirtschaft des Landes während des 20. Jahrhunderts geprägt wie keine andere. Am Beispiel der indios petroleros wurde gezeigt, wie der vom Öl eingeleitete Nationalisierungsdiskurs den Raum der kulturellen Differenz vor allem als Recht nachholender Entwicklung und Integration konturiert hat. Dies schlug sich in der territorialen Rechtssprechung ebenso nieder wie in den konkreten Konzepten und Programmen, die der venezolanische Staat seit den 1940er Jahren der indigenen Bevölkerung angedeihen ließ. Während die Kari’ña im Norden mit ihrer Anpassungsfähigkeit ungewollt immer mehr zum Sinnbild einer zumindest äußerlich erfolgreichen Integration wurden, galt die Sorge der zuständigen Behörden zunehmend jenen ›zurückgebliebenen‹ Indigenen in den südlichen Landesteilen, deren Kontrolle und Integration vor dem Hintergrund der in den 1970er Jahren neu erwachenden geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen für die südlichen Landesteile besondere Dringlichkeit annahm. Mit der Überwindung des Entwicklungsgefälles zwischen Norden
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und Süden war eine Vorstellung räumlicher mestizaje verbunden, von der man sich offenbar revitalisierende Impulse für die Entwicklung des ganzen Landes erhoffte. Im sechsten Kapitel spürte ich den Einschränkungen, Schwierigkeiten, aber auch produktiven Möglichkeiten nach, die das Leben in einer intensiv bewirtschafteten Forstreserve für die Kari’ña mit sich bringt. Der Blick richtete sich dabei besonders auf die territoriale Situation und Absicherung der Kari’ña, die angesichts der großräumigen Eingriffe und Veränderungen durch die kommerzielle Holzwirtschaft in diesem tropischen Waldgebiet besonders prekär und bedroht erscheint. Dies gilt umso mehr als über die forstliche Nutzung ein nationalstaatlicher Zugriff auf den Raum festgeschrieben wird, der nicht nur unabhängig von den indigenen Bewohnern erfolgte, sondern auch große Legitimität in Venezuela genießt. Die Gründe dafür wurden in einer Rekonstruktion der territorialen Entwicklungen und Diskurse deutlich. Die Waldregionen der Sierra Imataca wurden schon früh vor allem als leerer und geopolitisch verwundbarer Raum konzipiert, in dem die Indigenen nur als versprengte Reste vorkommen, deren Loyalität als grenzüberschreitende Gruppe zur Nation darüber hinaus fraglich scheint. Der Grundstein für die Rechtmäßigkeit – und in Anbetracht der strittigen Grenzfrage mit Guyana im Nachhinein auch: die Notwendigkeit – staatlicher Verfügungsrechte über diese Wälder war in dieser Konstruktion eines leeren Grenzraums implizit verankert. Im Namen von Entwicklung und nationaler Souveränität bleibt damit der staatliche Anspruch auf diesen Raum und seine ausschließliche Einbindung in nationale Kalküle in weiten Teilen der venezolanischen Gesellschaft bis heute durchgesetzt. Gerade weil die kommerzielle Holzwirtschaft in Imataca ausschließlich von nationalen Unternehmen betrieben wird und trotz enormen Flächenanspruchs relativ geordnete und überschaubare Produktionsstrukturen aufweist, wird sie als besonders geeignetes Vehikel nationaler Raumsicherung gesehen. Dies schränkt den politischen Raum für alternative Raumansprüche, etwa in Form indigener Landrechte, von vornherein stark ein – formal und ideologisch, da diesen immer auch der Makel des antinationalen Partikularismus anhaftet. Aus der Nähe der gelebten Beziehung heraus wurde jedoch zugleich eine Landschaft sichtbar, in der die Kari’ña eine starke materielle und symbolische Besetzung aufrecht erhalten haben. Fernab politischer Bühnen und Konflikte ist es den Kari’ña gelungen, eigene Rückzugsräume in den Nischen und Zwischenräumen staatlicher und wirtschaftlicher Macht
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zu bewahren. Darin spiegelt sich, so meine These, auch eine aktive Widerständigkeit wider. Im siebten und letzten Kapitel untersuchte ich die komplexen Zusammenhänge zwischen biologischer und kultureller Vielfalt. Der Einschluss indigener Völker in dieses in den 1990er Jahren entstandene globale Politikfeld gründete auf der Beobachtung, dass die Zentren der biologischen Vielfalt meist auch gerade mit den Gebieten zusammenfallen, in denen die kulturelle Vielfalt besonders groß ist. Am Beispiel des Konflikts um Imataca wurden verschiedene Dimensionen und Probleme einer biotechnologischen Inwertsetzung tropischer Wälder beleuchtet, in der indigene Wissenspraktiken als globales (Schutz-)Kapital fungieren. Eine Betrachtung der genutzten Vielfalt in der Subsistenz der Kari’ña machte einerseits die naturalistischen und funktionalistischen Verkürzungen deutlich, die die Wahrnehmung und Konzeptionalisierung des Zusammenhangs zwischen Biodiversität und indigenes Wissen in den politischen Debatten oft kennzeichnen. Ein wesentlicher Teil der Diskussionen um die Bedeutung des indigenen Wissens zielt schließlich auf dessen Indienstnahme für die Zwecke des Naturschutzes und des globalen Ressourcenmanagements (›Erhaltungsarbeit‹) einerseits, und als Ressource für nationale Entwicklungsstrategien andererseits. Ein Anspruch auf politische und kulturelle Selbstregierung ist damit meist ebenso wenig verbunden wie das Recht auf eine selbstbestimmte Gestaltung ihrer Naturverhältnisse. Andererseits hat der globale Biodiversitätsdiskurs, wie in den Ausführungen im Kapitel deutlich wurden, zu unverkennbaren Fortschritten in der Anerkennung indigener Rechte in internationalen wie nationalen Konventionen und Vertragswerken geführt. In der neuen ›bolivarianischen‹ Verfassung Venezuelas sind den Indigenen mittlerweile weitreichende Rechte eingeräumt wurden, die in diesem Maße ohne den globalen Umweltdiskurs kaum zustande gekommen wären. Erst recht sind die Zugeständnisse an indigene Positionen im neuen Gesetz über Biodiversität zumindest rhetorisch geradezu verblüffend. Gleichzeitig zeigte jedoch ein Blick auf die wenigen biodiversitätsbezogenen Initiativen und Programme am Ort der biologischen Vielfalt selbst, also in den Wäldern der Sierra Imataca, dass die Zusammenhänge zwischen indigener Nutzung und Biodiversität sehr unkonkret bleiben und so die symbolischen Terraingewinne der abstrakten oder ›hyperrealen‹ Indigenen der globalen Welt letztlich mit einer Zurückdrängung der konkreten Kari’ña vor Ort einhergehen können. Einmal mehr
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kann dies mit den spezifischen Eigenschaften der Ressource in Zusammenhang gebracht werden. Schließlich beruht die Produktion pharmazeutisch nützlicher Komponenten nicht notwendig auf einem wiederholten Zugang zum stofflichen Substrat der biologischen Ressourcen, so dass es im Grunde auch der Arbeit der Indigenen an ihrer Herstellung und Aufrechterhaltung nicht dauerhaft bedarf. Doch scheint es gar nicht plausibel, dass die bisherige Zurückhaltung der Kari’ña, eine neue Rolle als Wächter biologischer Vielfalt zu suchen oder zu beanspruchen, solchen Kalkülen geschuldet ist. Viel näher liegt die Annahme, dass ein entsprechender Positionswechsel gar nicht vorstellbar oder jedenfalls außerordentlich schwierig ist. Die karge, staatsferne, und in mancher Hinsicht geradezu xenophobe Sozialität der Kari’ña scheint dies kaum zuzulassen – und sie war ja überhaupt der Ausgangspunkt meines Versuchs einer Annäherung über jene historischen Verstrickungen, die mit dem Begriff der Koproduktion bezeichnet wurden. In dieser kurzen Zusammenfassung der einzelnen Kapitel wurden die ressourcenspezifischen Unterschiede und die charakteristischen Reibungspunkte in dieser Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in den Vordergrund gestellt. Dabei war es in vielen Fällen zunächst das geteilte Territorium, der Ort, über den sich ein Zusammenhang formierte. Die spezifischen Ausformungen und Effekte wurden im weiteren Verlauf jedoch ebenso von materiellen Eigenschaften und kulturellen Bedeutungen der Ressourcen beeinflusst, wie von den spezifischen Aspekten des Indigenen (mythisches Wissen, indigene Handelswaren, indigene Arbeitskraft, Heilwissen, usw.), welche die Dynamik von Einschluss und Ausschluss in den einzelnen Ressourcenfeldern strukturierte. So sehr die einzelnen Kapitel vor allem als fragmentarische, punktuell vertiefte Einblicke in spezifische historische Erfahrungen der Kari’ña zu lesen sind, dürften in dieser knappen Gesamtbetrachtung doch auch die vielfältigen Bezüge zwischen den einzelnen Koproduktionsgeschichten deutlich geworden sein. Eine wichtige Erkenntnis ist schließlich, dass die aktuellen Konflikte um Ressourcen und Natur in Imataca, in deren Mittelpunkt die Kari’ña stehen, auf einem materiell-semiotischen Feld ausgetragen werden, das in vielerlei Hinsicht von kolonialen und nationalen Tropen, Diskursen und Praktiken durchdrungen ist, die in den gegenwärtigen staatlichen Institutionen und Regelungen der Grenzsicherung, Ressourcen- und Indigenenpolitik bis heute spürbar bleiben. Auch der politische Raum für kulturelle Differenz bleibt
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davon nicht unberührt, wenn wir uns die aktuellen Schwierigkeiten der Kari’ña vor Augen halten, alternative Rechtsansprüche auf das Territorium und seine Ressourcen hörbar und erfolgreich zu artikulieren.
T ROPEN
DER
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Lässt man die historischen Erfahrungen der Kari’ña mit externen Ressourceninteressen noch einmal als Ganzes Revue passieren, so wäre es durchaus denkbar, die Momente der Begegnung, die hier herausgegriffen wurden, in eine größere, zusammenhängende Erzählung über die machtvolle Expansion des globalen Kapitalismus mit seinen immer schneller und weiter zirkulierenden Ressourcen- und Warenströmen einzubinden. Zwar waren mit Ausnahme von Balata die entscheidenden Antriebskräfte der Ressourcenentwicklung nicht ausschließlich im globalen Kontext zu finden, sondern mindestens so sehr in spezifischen regionalen und nationalen Zusammenhängen; dennoch führten Weg und Bedeutung dieser Ressourcen auch hier weit über den lokalen Ort ihrer Erschließung hinaus. Die Konfrontation mit machtvollen globalen und nationalen Ressourceninteressen haben auch in Guayana die Handlungsspielräume dortiger Bewohner und Bewohnerinnen eher eingeschränkt, denn erweitert. Im Ergebnis jedenfalls lässt sich auch die Kontaktgeschichte der Kari’ña im Lichte ihrer Erfahrung mit kapitalistischen Verwertungsinteressen als einen Prozess der Herstellung kultureller Marginalität nachzeichnen. Dabei wurden bisweilen Kräfte von großer zerstörerischer Wirkung in Gang gesetzt, wenn wir an die schockierenden Beschreibungen von dem kulturellen Zustand der Kari’ña nach ihrem Kontakt mit Gold und Balata in den 1940er Jahren denken. Doch bedeutet auch dies nicht gleichzeitig eine Auslöschung ihrer kulturellen Differenz. Wie aber ist es möglich, dass die tiefe Verstrickung in die Genese und Form der Ausbeutung einer ganzen Reihe auch weltweit bedeutsamer Ressourcen die kulturelle Differenz trotz der genannten Asymmetrien nicht zum Verschwinden bringt? Mit der Koproduktionsthese wird eine konzeptionelle Antwort auf diese Frage formuliert. Hier ist dabei noch einmal hervorzuheben, dass sich die Bedeutung der Ressourcen, die hier in Frage standen, nicht in ihrem abstrakten, ökonomischen Wert erschöpft. Mindestens ebenso bedeutsam, wenn nicht wichtiger, waren ihre symbolisch-politischen Gehalte und Wir-
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kungen, die sie als Teil machtvoller politischer und nationaler Diskurse entfalteten. Dadurch wurden oft mehr Dinge, Prozesse und Menschen in Bewegung gesetzt als durch die ökonomische Wertschätzung dieser Ressourcen. Dies wird zuerst schon beim ›fantastischen Gold‹ deutlich, das ja allein als Vorstellung und kulturelles Konstrukt wirkte. Aber auch beim Holz zeigt sich die besondere Wirkungskraft im Symbolischen, wenn wir an die grundlegende Bedeutung denken, die der ökonomisch vergleichsweise uninteressanten Forstwirtschaft bei der Herstellung nationaler Souveränität und Staatlichkeit an der Peripherie des Raums zukommt, eine Aufgabe, die wiederum gerade vor dem Hintergrund der besonderen symbolischen Bedeutungszuschreibung an den Raum Guayana als nationaler Bestimmungsraum Venezuelas ihre Dringlichkeit gewinnt. Schon allein diese Beobachtungen machen deutlich, dass natürliche Ressourcen keineswegs nur abstrakte Produkte und Waren sind, sondern immer auch machtvolle kulturelle Vorstellungen beinhalten, die ihrerseits politisch wirkungsmächtige Diskurse über Nation, Fortschritt und Identität mobilisieren können. Daher sind auch ihre Wirkungen keineswegs nur einebnend oder gleichförmig. Dies spricht zugleich gegen eine quasi teleologische Lesart der historischen Entwicklung bestimmter Lokalitäten im Weltgeschehen. Nicht erst im Lichte dieses Buches ist die Vorstellung von einer erfassbaren Mikrowelt fragwürdig geworden, die in einer größeren (und ebenso erfassbaren) Makrowelt einfach eingepasst wäre, und mit ihr verliert auch die wirkungsmächtige Allegorie ethnographischen Denkens ihre Anziehungskraft, in der kultureller Wandel stets entweder als Widerstand oder aber als Auflösung daher kommt (vgl. Clifford 1986). In der Differenz des Lokalen liegt womöglich weder ein privilegierter Ort des Widerstands, noch verdichtet sich darin einfach die Ohnmacht eines räumlich definierten und traditionsverhafteten Lebenszusammenhang gegenüber globalen Wirkungskräften. Deshalb wurde in dieser Studie auch gerade die komplexe räumliche Verankerung ökonomischer und kultureller Prozesse deutlich gemacht, die im Einzelnen erst das vermeintlich oder tatsächlich ›Lokale‹ (bzw. ›Globale‹) konstituiert. Selbst die betrachteten Ressourcen in diesem Buch waren ja per se nicht global oder lokal, sondern in soziale Beziehungen und ökonomische Netzwerke von unterschiedlicher Reichweite und Bedeutung eingebettet, die sich im Siedlungsgebiet der Kari’ña überkreuzten und neu ausrichteten. Mit Ausnahme von Öl waren alle Ressourcen vor und jenseits ihrer Entdeckung
SCHLUSSBETRACHTUNGEN
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als nationale oder globale Ressource auch in lokale und indigene Handelsund Produktionssysteme eingebunden. Dabei wurden die Verwerfungen und Verdrängungen im Zusammentreffen der verschiedenen Systeme und Netzwerke ebenso deutlich wie die produktiven Verzahnungen und Mobilisierungen. In Anlehnung an neuere Arbeiten in der Ethnologie und politischen Ökologie scheint es mir wichtig, bei aller Wirkungsmacht globaler Ressourcenströme, gerade dieses mobilisierende und eigenwillige Moment von kultureller und lokaler Differenz nicht aus dem Blick zu verlieren. Wie Tsing (2009) in ihrem inspirierenden Artikel über die komplexen Verflechtungen in der globalen, nachfragegetriebenen Ressourcenkette für die aromatischen Matsutake-Pilze anschaulich zeigt, kann das ökonomische System nicht nur Nutzen aus ökologischen und kulturellen Unterschieden ziehen, sondern diese unter Umständen sogar stimulieren. Auch in meiner Studie lassen sich Beispiele für die ökonomische Funktionalität und Kreativität von Differenz finden. Im Fall der biologischen Vielfalt ist es ja gerade die ökologische und kulturelle Differenz selbst, die zur globalen Ressource wird. Im Goldbergbau profitieren große Unternehmen ebenfalls von der sozialen und kulturellen Heterogenität des Feldes, indem sie sich die Früchte der Prospektionsarbeit weniger mächtiger und illegaler Goldsucher aneignen. Die Versuche einer funktionalistischen Vereinnahmung von Differenz haben im Zuge der globalen Umweltkrise eine neue Dimension erreicht. Doch haben sich die indigenen Kari’ña in Imataca im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte mit machtvollen Ressourceninteressen immer wieder als erstaunlich widerständige und eigensinnige Subjekte gezeigt, die sich einer vollständigen Kontrolle entziehen. Trotz der dabei vielfach produzierten ›Natur‹ ihrer kulturellen Differenz, hat diese einen gewissen Eigensinn bewahrt. Dieser artikuliert sich nicht so sehr im landläufigen Sinne politisch, in selbstbewussten und emanzipatorischen Kämpfen für Natur und soziale Gerechtigkeit, wie sie Hecht und andere Vertreter der politischen Ökologie jüngst für Amazonien beschrieben haben (Hecht 2011; Vadjunec et al. 2011). Vielmehr manifestiert sich ihre Widerständigkeit eher im Subtilen und Subpolitischen, in vielen alltäglichen Praktiken und Verhaltensweisen, die sich in der Fähigkeit und dem Willen bündeln, bei allem Anpassungsdruck und Stress ein zwar kulturell reduziertes und marginalisiertes, aber zugleich auch recht selbstbestimmtes und subsistentes Leben im Wald aufrecht zu erhalten.
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Janne Mende Begründungsmuster weiblicher Genitalverstümmelung Zur Vermittlung von Kulturrelativismus und Universalismus September 2011, 210 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1911-9
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