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German Pages 324 Year 2017
Martin Bez Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«
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Germanistische Forschungen Neue Folge Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller
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Martin Bez
Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« Aggregat, Archiv, Archivroman
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D.30 ISBN 978-3-11-031429-8 e-ISBN 978-3-11-031434-2 ISSN 0440-7164 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Satz: epline, Kirchheim unter Teck Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Für Franz Borgias Bodenmüller † in Liebe und Dankbarkeit.
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Inhaltsverzeichnis I
Einleitung 1
II 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 3
Forschungsüberblick 4 Zum Stand der ›Wanderjahre‹-Forschung 4 Das Archiv in der ›Wanderjahre‹-Forschung 9 ›Archivfiktion‹ 9 ›Lenardos Tagebuch‹ 10 ›The Novel as Archive‹ & ›Archivroman‹ 13 ›Archivpoetik‹ 17 Folgerungen aus dem Forschungsüberblick 18
Archivkonzepte 22 Goethezeitliches Archiv 23 Das Archiv als ›Volltext-Datenbank ohne Indices und ohne Links‹ 26 2.1 Zur (Nicht-)Unterscheidbarkeit von Archiv, Sammlung, Bibliothek und Museum 38 3 Goethes Archivverständnis 39 3.1 ›Archiv des Dichters und Schriftstellers‹ 42
III 1 2
IV Aggregat, Aggregation: ›Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren‹ 51 1 Das Aggregat im Kontext 52 2 Das Aggregat bei Goethe 57 3 Zur angeblichen Nichtanalysierbarkeit des Aggregats 66 4 Exkurs: Karl Philipp Moritz’ Roman ›Anton Reiser‹ 73 5 Aggregat & Archiv 77 V 1 2 3 4 5 6 7 8
›Wer ist der Verräter?‹ 80 Forschung zur ›Verräter-Erzählung‹ 81 Der Titel der Erzählung und seine Genese 83 Informationsverweigerung/-lenkung auf inhaltlicher Ebene 84 Die Positionierung der Erzählung im Haupttext 93 Die im ›Verräter‹ verhandelten Archive 97 Faszikel und Faszination 103 Unverknüpftes als Strukturelement 104 Exkurs: Katzengold 105
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Inhaltsverzeichnis
VI
Pluralität als Faszinosum 111
VII
Das Wort Archiv in den ›Wanderjahren‹ 114
VIII
Exkurs Ordnungsphantasie I: Quecksilber 117
IX Das Sprechen über Archive 120 1 Das Archiv als ›ordentlich eine mitspielende Person‹ 120 2 Der Traum vom Archiv – oder: welches Bild entwirft der Text vom Archiv? 124 3 Fazit 130 X 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 3 4 5 6
Typologie von Archivarten 131 Reihe 131 Aufzählung 135 Die Aufzählung von Dingen 139 Die Aufzählung von Immateriellem 143 Die attributive Aufzählung 144 Aufzählen, um dann zu subsumieren 148 Aufzählen, nachdem die Gesamtheit genannt wurde 150 Die Aufzählung als poetische Reflexion 151 Die Aufzählung als erzählerisches Mittel 155 ›Bilanz‹ Aufzählung 157 Liste 158 Sammlung 164 Erzählte Archive 173 Exkurs Ordnungsphantasie II: Magazin 177
XI Zur Thematisierung von Archivierung und zum Umgang mit dem Archiv in den ›Wanderjahren‹ 188 XII Archivalisches Erzählen und Archivalisches Schreiben 196 1 Archivalisches Erzählen 196 1.1 Das Auslassen 197 1.2 Das Zusammenfassen 201 1.3 Das Auswählen 203 1.4 Auf Unwissenheit hindeutende Redaktorbemerkungen 204 1.5 Redaktorbemerkungen zu den Kapitelanfängen 206 1.5.1 Hinweise auf die technische Seite von Archivierung 208 1.5.2 Hinweise auf Unentscheidbarkeiten in der Perspektive 213
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Inhaltsverzeichnis
IX
Fazit Archivalisches Erzählen 214 Archivalisches Schreiben 214 Fehlende Überleitungen: ›Das Archiv sind die Lücken‹ 215 Blinde Motive 218 Narrative Pathologie: unmotivierte Perspektivwechsel 220 Nichtausgewiesenes Zitieren 222 Realiter Archiviertes: historische Personen 228 Eingeschaltete Texte 231 Die Erzählungen 233 Die Gedichte 235 Fazit Archivalisches Schreiben 253
1.6 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.6.1 2.6.2 2.7 XIII 1 2 3
Archivroman 255 Rekapitulation der Textbefunde 255 Enzyklopädisches Erzählen 258 Überlegungen zu einer Definition des Archivromans 264
XIV 1 1.1 1.2 2
Ça veut dire quoi? 267 Leben und Unendlichkeit 269 Leben 269 Unendlichkeit 273 Der Archivroman als Experiment 276
XV
Ausblick 279
XVI
Bibliographie 288
XVII 1 2
Register 300 Stichwortregister 300 Namen-/Werkverzeichnis 308
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I. Einleitung Die selbstverständliche Indienstnahme des zur festen Wendung avancierten Begriffs ›Wilhelm Meister‹ wirkt zuweilen irritierend. Die vorliegende Analyse gilt explizit Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagen den‹ von 1829. Es scheint nicht überflüssig, dies zu betonen. Allzuoft wird undif ferenziert über ›Goethes Meister‹ oder ›den Wilhelm Meister‹ diskutiert und dabei nolens volens all das eingeebnet, was die Romane ›Lehrjahre‹ und ›Wanderjahre‹ (die ›Theatralische Sendung‹ nicht zu vergessen) voneinander unterscheidet. Nicht nur verbietet es sich, die genannten Werke in eins zu setzen. Genauso unzu träglich wäre es, das eine lediglich als die stringente Fortführung des andern anzusehen.1 Meine Studie geht davon aus, daß die bisherige Narratologie für die Analyse eines Texts vom Format der ›Wanderjahre‹ nicht die hinreichenden Werkzeuge zur Verfügung stellt. Sie entwickelt Beschreibungskategorien, die eine schlüssige Lesart für den gesamten Text ermöglichen. Arbeiten, die sich dadurch auszeich nen, ihm immer wieder neue Beschreibungsmodi und -topoi zu entnehmen und um prominente ›Wanderjahre‹-Themen (z. B. Wandern, Auswanderung, Medizin, Entsagung, Pädagogik oder das Postulat der Einseitigkeit) gravitieren, entpup pen sich vor diesem Hintergrund als defizitär. Die einzelnen Topoi sollten viel mehr nicht überstrapaziert werden, denn sie erweisen sich als innertextuell-per spektivisch begrenzt. Derart gelagerte Ansätze kranken daran, daß sie nur für Teile des Texts gültig sein können. Markus Zenker verwahrt sich gegen solche »›Einwegthesen‹-Arbeiten, welche glauben, die ganzen ›Wanderjahre‹ einer Grundidee zuordnen zu können.«2 Ohne ein überarbeitetes und ergänztes Instrumentarium der Textanalyse, so die Prämisse, ist ein adäquater Umgang mit den ›Wanderjahren‹ nach wie vor nicht gewährleistet. Ich entwickle ein solches, führe vor, wie es sich erstens aus dem Text gewinnen und aktivieren läßt, wo es zweitens im zeitgenössischen
1 Wiethölter hingegen verwahrt sich gegen die »stillschweigend etablierte Unart einer Solitär lektüre« (Wiethölter, Waltraud: … was nicht entschieden werden kann, bleibt im Schweben – Zum Verhältnis von Erzählung und Moral in Goethes Wilhelm Meister-Projekt. In: Greiner, Bernhard und Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kontingenz und Ordo: Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit. Heidelberg 2000. S. 161–175. Hier: S. 161). 2 Zenker, Markus: Zu Goethes Erzählweise versteckter Bezüge in ›Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden‹. Würzburg 1990. S. 7.
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Einleitung
Diskurs verankert ist und wie es sich drittens mit modernen Archivkonzepten theoretisch fundieren läßt. Damit ist der zentrale Begriff gefallen: der des Archivs. Für einen Zugriff auf die ›Wanderjahre‹ bietet sich das Archiv aus mehreren Gründen an. Erstens arbei tet der Text auf inhaltlicher Ebene selbst explizit mit Archiven, d. h. er registriert unterschiedliche Archivierungsformen sorgfältig. Zweitens existieren bereits einige archivorientierte Vorarbeiten zu Texten Goethes, an die sich anknüpfen läßt. Drittens schließlich hat die Forschung zum Archiv und zur Archivtheorie in den letzten Jahren einen enormen Schub erfahren, der jedoch bislang von der Literaturwissenschaft insgesamt und der ›Wanderjahre‹-Forschung im besonde ren nur unzureichend gewürdigt wurde. Die Arbeit dokumentiert die Affinität des Texts zu Archiven nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf struktureller Ebene und erstellt eine Typologie der im Text vorhandenen Archive. Das Archiv oder das dahinterstehende Archiv verständnis ist dabei erst zu historisieren. Erst dann läßt sich das ihm inhärente innovative Potential ausmachen. Natürlich könnte man nun einwenden, auch eine Studie, die sich auf das Archiv konzentriert, sei eine ›Einwegthesen‹-Arbeit. Dabei ist jedoch zu beachten, daß das Archiv, anders als andere Topoi, den ganzen Text beschäftigt und auch narratologisch von Bedeutung für die ›Wan derjahre‹ ist.3 In einem Zwischenschritt gehe ich auf verschiedene Ordnungsphantasien ein, welche in den ›Wanderjahren‹ thematisiert werden. Meine Untersuchung zeigt, daß der Text das Sprechen über unterschiedliche Ordnungskonzeptionen gleichzeitig einübt, relativiert, teils wieder zurücknimmt und marginalisiert. Die Analyse geht von einer grundsätzlichen Interdependenz von Pluralität, Unord nung und Ordnung sowie Hilfsmitteln zur Ordnungsgenerierung in Goethes ›Wanderjahren‹ aus. Sie führt vor, daß man dort permanent auf Thematisierun gen einer Pluralität stößt, deren Tragfähigkeit als literarisches Konstruktionsprin zip ausgelotet wird. Als den Garanten einer größtmöglichen Freiheit in der Anord nung bei minimaler Ordnung etabliert sie Goethes vielzitierte, aber nie genau auf ihre Implikationen hin befragte Idee des Aggregats. Eine Klärung des Aggregat konzepts ist umso lohnender, als der Begriff in den Kern von Goethes Verständnis von Archiv führt. Ersteres lese ich als Instrument zur Beziehungsvermeidung,4 das
3 Der Rekurs auf das Archiv erlaubt zudem, die Erkentnisse und Deutungsangebote aus den schon bestehenden Studien zu berücksichtigen, sie nebeneinander stehen zu lassen. Er hat also ganz dezidiert eher einen integrativen denn einen exklusiven Charakter. 4 Vgl. Geulen, Eva: Serialization in Goethe’s Morphology. Manuskript. S. 10 [Vortrag gehalten am 7. April 2011 in Chicago. Titel der Tagung: Comparative Epistemologies of Literature. Erscheint in der Zeitschrift ›compara(i)son‹].
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eine Darstellbarkeit von Disparatem in der literarischen Praxis erst gewährleis tet. Im darauffolgenden Analyseschritt arbeite ich das Dilemma heraus, dem sich die ›Wanderjahre‹ stellen. Es geht ihnen um eine Verlebendigung von Ordnung einerseits und um ein Generieren von Lebendigkeit durch das Experimentieren mit Ordnungsmodi andererseits. Ich erfasse ihr Schwanken zwischen der Darstel lung einer Vielfalt, die auszuufern droht, und dem Versuch, dem zugleich wieder mit Mitteln der Domestikation zu begegnen. Diese beiden auf den ersten Blick widersprüchlichen Funktionen vermag das Archiv zu vereinen und die daraus resultierende, ihm als terminus technicus innewohnende Ambivalenz nicht nur auszuhalten, sondern geradezu als Konstituens im Schilde zu führen. Ich demonstriere, daß selbst das Archiv nicht neutral ist und schon das goethezeit liche konventionalisierte Archivverständnis facettenreich war. Noch deutungs bedürftiger wird das ›Konzept Archiv‹ jedoch, wenn sich ein literarischer Text dafür interessiert. Dann ist es weder statisch noch starr, sondern von einer vom Text forcierten Eigendynamik und Ambivalenz, die es zum Spielmaterial präde stiniert, so meine zentrale These. Man wird es also auch auf narratologischer Ebene mit einem Archiv zu tun haben, das sich als Erzählinstanz sowohl insze niert als auch verstehen läßt und die Bedingungen des Erzählens zugleich reflek tiert. Nicht zuletzt deshalb ist es an der Zeit, endlich konsequent über das Archiv und seine Rolle in den ›Wanderjahren‹ nachzudenken, zumal sich ausbaufähige Ansätze dazu schon ausmachen lassen. Die ausgelegten Fäden zusammenführend, wird eine archivtheoretisch fun dierte Definition des in der Forschung häufiger vorzufindenden, aber noch nie genauer explizierten Begriffs Archivroman pointiert herausgearbeitet.
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II. Forschungsüberblick 1. Zum Stand der ›Wanderjahre‹-Forschung Mit Adolf Muschg kann man die ›Wanderjahre‹ als eine »abseitige und unpopuläre Arbeit« Goethes bezeichnen, »deren großartiger Eigensinn«1 noch zu entdecken sei. Ihnen ist schwer beizukommen, weil sie, neben anderem, die unterschied lichsten Themen, Textsorten und Erzählperspektiven umfassen. Diese Einsicht darf als Konsens der ›Wanderjahre‹-Forschung gelten.2 Markus Zenker zeigt in seiner Untersuchung der ›Wanderjahre‹, daß der Text zwar Disparatheit kommuniziere, jener gleichzeitig aber immer auch ein Ganzes entgegenhalte. Diese Ganzheit sei von Goethe ausdrücklich intendiert gewesen und in den Text implementiert worden; sie lasse sich über versteckte Bezüge erschließen.3 Zenkers Erkenntnisinteresse liegt darin, »Sinngehalte zu erschlie ßen«, die sich durch den Text hindurch stringent nachweisen lassen und aus gehend davon die grundlegende Frage zu beantworten, ob die ›Wanderjahre‹ »überhaupt nach Anlage, Idee und Sinn ein bleibendes Zentrum aufweisen.«4 Problematisch an seinem Ansatz ist der wiederholte argumentative Rekurs auf einzelne Aphorismen an Gelenkstellen seines Forschungstextes.5 Henriette Herwig betont den Vorrang des »Nebeneinander« vor dem »Nach einander«,6 der für das Verständnis der ›Wanderjahre‹ wichtig sei. Um die Anlage
1 Beide Zitate: Muschg, Adolf: ›Bis zum Durchsichtigen gebildet‹. ›Wilhelm Meisters Wander jahre‹. In: Ders.: Goethe als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grünen bei einem alten Dichter. (= stb 1287). Frankfurt am Main 1986. S. 105–143. Hier: S. 108. 2 Es geht hier vor allem darum, Anschlußmöglichkeiten aufzuzeigen, Vollständigkeit ließe sich nur inszenieren. Einen Forschungsüberblick bis ins Jahr 1988 bietet: Zenker: Zu Goethes Erzähl weise, S. 7–36. Die jüngere Forschung findet Berücksichtigung bei Schößler, Franziska: Goethes Lehr- und Wanderjahre: Eine Kulturgeschichte der Moderne. Tübingen/Basel 2002. S. 189–196. 3 Vgl. Zenker: Zu Goethes Erzählweise, S. 44. 4 Beide Zitate: Zenker: Zu Goethes Erzählweise, S. 47. 5 Man könnte kritisch fragen, ob Zenker sich mit der Berufung auf einen Aphorismus aus einer der Spruchsammlungen nicht eine methodische Inkonsequenz leistet. Es ist nicht unproblema tisch, einen der Sprüche isoliert als ›Arbeitsanweisung‹ zu zitieren; zumal es Zenkers eigenem Diktum widerspricht, man könne den Text nicht auf eine gesonderte Aussage hin lesen. 6 Herwig, Henriette: »Wilhelm Meisters Wanderjahre«: Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. 2. Aufl. Tübingen/Basel 2002. – Dieser ›überarbeitete‹ Text Herwigs ist identisch mit dem der ersten Auflage. Ausgenommen die ergänzte Bibliographie, die Ände rung des Titels und das ›Vorwort zur zweiten Auflage‹, das auf das ›Goethe-Jubiläumsjahr 1999‹ reagiere … (vgl. Herwig, Henriette: Das ewig Männliche zieht uns hinab: »Wilhelm Meisters Wan
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Zum Stand der ›Wanderjahre‹-Forschung
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der ›Wanderjahre‹ zu erfassen, beruft sie sich auf Goethes »Gattungsbezeichnung«7 des Texts als Aggregat. Ihre knappen Ausführungen dazu gehen vom lateini schen Wortsinn aus, ziehen eine Äußerung Kants in Betracht, um schließlich beim physikalischen Begriff des Aggregatzustands anzulangen. Letzterer sei die »Zustandsform eines Stoffes«, welche abhänge von »Druck und Temperatur«8 und verschiedenartigen Anordnungen der Moleküle. Das Aggregat bedeutet in Herwigs Lesart nun eine gewollte Fokussierung der »Text-Leser-Relation«.9 Wo Herwig das Aggregat vornehmlich von der Seite der Physik her angeht, möchte ich es aus einer anderen Perspektive fassen. Wendet man den Blick ab von den Aggregatzuständen und richtet ihn auf die ganz basale materiale Voraussetzung für ein Aggregat, dann gelangt man zu einer Anhäufung von Einzelteilen, einer merkwürdig formlosen Formierung. So verstanden liegt jedem Aggregat zuerst einmal eine Menge zugrunde. Dieser und ihrer ästhetischen Inszenierung ebenso wie scheinbar kontingenten Ordnungsmustern und deren Bedeutung für den Text gilt meine Aufmerksamkeit. Franziska Schößlers Analyse konzentriert sich auf Tendenzen der Innovation und der Restauration in den ›Lehr-‹ und ›Wanderjahren‹. Als innovativ zu apost rophieren sei etwa die Auffassung von Kunst, welche die ›Wanderjahre‹ verträten. Jene affiziere den »Interpretationsprozeß des Romans selbst«.10 Die »völlige Sub jektivierung von Interpretation« und die »Tendenz zur Verwissenschaftlichung«11 im Oheimbezirk etwa präsentiere der Text nun aber nicht dogmatisch. Der Rati onalität des Oheims und seinem Archivierungsspleen widerspreche Hersilie, die für das Vergessen eintrete; den Innovationen halte der Text restaurative Pro zesse entgegen, erhebe »Einspruch gegen den Fortschritt«. Felix beispielsweise demonstriere die »Mechanismen und Grenzen der neuartigen pädagogischen Konzepte«.12 Schößler zeigt restaurativ und innovativ grundierte Gedankenspiele des Texts auf. Aus diesen sich gegenüberstehenden und nicht synthetisierbaren Positionen resultiere letztlich auch die kontroverse Forschungsdebatte um die ›Wanderjahre‹.13
derjahre«. Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. Tübingen/Basel 1997). 7 Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 24. 8 Beide Zitate: Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 24. 9 Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 25. 10 Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 356. 11 Beide Zitate: Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 356. 12 Beide Zitate: Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 356. 13 Vgl. Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 359.
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Forschungsüberblick
Safia Azzouni führt die ›Wanderjahre‹ (1829) mit Goethes Heften ›Zur Morpho logie‹ eng. Sie geht von der Rezeptionsgeschichte des Romans aus, die ihn als pro blematisch ausweise. Diesen »Problemcharakter« des Texts nimmt sie ernst und möchte ihn »als formal konstitutiv«14 verstanden wissen. Der Kern davon sei das »Problem des Kollektiven, das das Sammeln und das Vereinigen von Gesammel tem umfaßt«.15 Hier ist die Schnittstelle, an der die ›Wanderjahre‹ nach Azzouni Ähnlichkeiten mit Goethes naturwissenschaftlichen Schriften aufweisen. Neben der parallel laufenden Arbeit am Roman und an den ›Heften‹ eine die beiden Pro jekte, daß auch die ›Hefte‹ disparat wirkten und ihrer Leserschaft eine beträcht liche Bürde auferlegten: Zusammenhänge und Bezüge der Einzelteile seien nur schwer ausfindig zu machen. Außerdem gebe sich Goethe in den ›Heften‹, ähnlich wie der Erzähler in den ›Wanderjahren‹, als Redakteur von Material aus.16 Für die ›Wanderjahre‹ möchte Azzouni zeigen, was es dort mit dem Erzählen auf sich hat. Sie interessiert sich dafür, wer es verantwortet, »wieviel Instanzen den Roman erzählen, welche Funktion der Redaktor« einnimmt und »inwiefern es sinnvoll ist, bei einer Untersuchung des Textes von einem Erzählen auszugehen, das auf Erzählprinzipien beruht.«17 Azzounis Arbeit ist hochgradig anschlußfähig, da sie das Sammeln und das Verständnis von ›collectiv‹ als konstitutiv für Texte des späten Goethe erkennt.18 Sie geht darauf bzw. auf die Repräsentanz des ›collectiven‹ im Text jedoch nicht en détail ein. An diesem Punkt kann man anschließen, indem man die ›Wan derjahre‹ auf Sammeln, Zusammentragen und Aggregieren hin genauer in den Blick nimmt und indem man eine Lektüre der Sammelstrategie des Texts daran anknüpft.19 Azzouni betont außerdem, der Text scheine dem »Erzählen Vorrang vor dem Erzähler zu geben« und stellt fest, das Erzählen in den ›Wanderjahren‹ sei deshalb aber dennoch kein »erzählerloses Erzählen.« Vielmehr gebe es dort
14 Beide Zitate: Azzouni, Safia: Kunst als praktische Wissenschaft. Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre und die Hefte Zur Morphologie. Köln/Weimar/Wien 2005. S. 11. 15 Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 11. 16 Vgl. Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 11. 17 Beide Zitate: Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 12. 18 Vgl. Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 33. 19 Ulrich Breuer moniert in einer Rezension, Azzouni habe in ihrer Arbeit »Anschlüsse an ak tuelle Theoriefelder wie […] die Phänomenologie des Sammelns […] eher blockiert als freige schaltet.« (Breuer, Ulrich: Gesammelte Form. Typus und Kollektiv in Goethes Wanderjahren. URL: ; Absatz 8; Datum des Zugriffs: 6. 6. 2013). Er regt dazu an, Manfred Sommers Text ›Sammeln‹ in die Lektüre mit einzubinden (ebda., Fußnote 6). Dies leiste ich in Kap. X.4.
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Zum Stand der ›Wanderjahre‹-Forschung
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»sehr viele, man möchte sagen, viel zu viele Erzähler.«20 Auch auf diese Erkennt nis kann man aufbauen. Wo eine allwissende Erzählinstanz derart demontiert erscheint und sich in vielfältige Einzelperspektiven zerstreut, stellt sich die Frage nach dem zugrundeliegenden Prinzip des Arrangements. Im Verbund mit den Befunden zum Sammeln im Text, so möchte ich als forschungsleitende These über Azzouni hinausgehend formulieren, bietet sich als Grundidee eines solchen zugleich erzählerlosen und erzählerüberreichen Texts das Archiv an. Jutta Heinz strebt explizit eine »kulturtheoretische[ ] Interpretation«21 der ›Wanderjahre‹ an. Diese seien ein »Aggregat verschiedener ›Einzelnheiten‹, die jedoch, jede für sich, als Gleichnis und Bild des allgemeinen Lebens zu verste hen sind.«22 Zu den formalen Eigenheiten des Texts merkt Heinz an, er arbeite »mit Lücken, gezielten Auslassungen, Geheimnissen und Andeutungen.«23 Heinz zufolge entsage zum einen der »Romanautor«, der kein abgeschlossenes Werk liefern könne, sondern »auf die archivarische Funktion verpflichtet«24 werde. Zum andern entsage auch der Leser des Texts, denn er habe es mit einem Aggre gat zu tun, das zum Leben zu erwecken sei. Stefan Blechschmidt konzentriert sich auf Goethes ›lebendiges Archiv‹. Dar unter versteht er dessen ›zweite Autobiographie‹,25 die »unmittelbar aus seiner archivalischen Aufarbeitung der Wissenschafts- und Kunstgeschichte sowie seiner Tagebücher hervor«26 gehe. Er bringt die Ergebnisse seiner Studie mit Überlegungen zu den ›Wanderjahren‹ zusammen. Seine Erkenntnisse führen demnach zu einer »neue[n] Sichtweise«27 auf den Roman. Blechschmidt stellt fest, daß die »Redaktorfiktion«28 nicht nur eine Distanz zum Geschehen, sondern
20 Alle drei Zitate: Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 70. Eine Untersuchung der Erzählinstanzen und -situationen des Texts, so Azzouni, könne zu »keiner angemessenen Erklä rung der Erzählweise des Romans führen« […] »Deshalb soll hier [in ihrer Habilitationsschrift] nicht weiter versucht werden, den Wanderjahren auf dem erzähltheoretischen Weg zu begeg nen.« (Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 71. Kursivierung im Original). 21 Heinz, Jutta: Narrative Kulturkonzepte. Wielands Aristipp und Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. Heidelberg 2006. S. 322. Kursivierung im Original. – Auslassungen einzelner Buchsta ben in Zitaten kennzeichne ich mit [ ], solche ganzer Wörter mit […]; eckig Geklammertes ist, sofern nicht anders angegeben, mein Text. M. B. 22 Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 472. 23 Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 455. 24 Beide Zitate: Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 496. 25 Vgl. Blechschmidt, Stefan: Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte. Heidelberg 2008. S. 32. 26 Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv, S. 53. 27 Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv, S. 58. 28 Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv, S. 321.
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Forschungsüberblick
auch zum ›Helden‹ Wilhelm generiere. Dieser bewege sich als »blueprint seiner selbst« lediglich »in einem Archiv«, werde so als Identifikationsfigur für den Leser unmöglich und gerate zum schieren »Funktionsträger, der die Bezirke des Romans miteinander verbindet«,29 zu einem »zur Archivexistenz herabgestimm ten Romanhelden«.30 In Blechschmidts Lesart haben sich die ›Wanderjahre‹ von dem Glauben, die nachvollziehbare Entwicklung eines Subjekts erzählen zu können, verabschiedet. Sie übereignen die verschiedensten Schilderungen in unterschiedlichen Textgattungen »der interessierten Nachwelt als Archiv.«31 Hier gilt es wiederum anzuknüpfen, d. h. auszuführen und weiter zu verfolgen, was Blechschmidt im Fazit seiner Arbeit zu Goethes autobiographischen Schriften lediglich als Ausblick formuliert hat. Christian Mittermüller stellt eine allgemein um sich greifende Sprachskepsis schon in der ›Sattelzeit‹ um 1800 fest; eine solche sei auch bei Goethe auszuma chen. Die Forschung habe sich jedoch auf dessen theoretische Schriften kapri ziert. Daß es auch eine »Entfaltung der Sprachthematik«32 in Goethes Dichtun gen gebe, sei hingegen bislang nicht zum Gegenstand einer näheren Betrachtung avanciert. Goethes »sprachskeptische Grundhaltung«33 führe sowohl in den ›Wahlverwandtschaften‹ als auch in den ›Wanderjahren‹ zur »Herausbildung einer Konzeption des offenen Kunstwerks«34 nach Eco. Mittermüller weist das »Prinzip semantischer Polyvalenz«35 als Grundlage der ›Wanderjahre‹ nach, um ihnen eine grundsätzliche »sprachskeptische Stoßrichtung«36 von poetologischer Dimension zu attestieren. Prononciert man die Goethesche Sprachskepsis derart, so muß man sich fragen, weshalb er überhaupt noch geschrieben und seine Pro duktion nicht eingestellt hat.37 Aus dieser tour d’horizon zur ›Wanderjahre‹-Forschung lassen sich die fol genden wichtigen Punkte destillieren: Zenker hat den Blick auf die ›versteckten
29 Alle drei Zitate: Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv, S. 322. Kursivierung im Original. 30 Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv, S. 330. 31 Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv, S. 334. 32 Mittermüller, Christian: Sprachskepsis und Poetologie: Goethes Romane »Die Wahlverwandt schaften« und »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. Tübingen 2008. S. 4. 33 Mittermüller: Sprachskepsis, S. 5. Diese resultiere aus »einer unhintergehbaren Polyvalenz und einer signifikativen Defizienz der Worte« (ebda.). 34 Mittermüller: Sprachskepsis, S. 5. 35 Mittermüller: Sprachskepsis, S. 178. 36 Mittermüller: Sprachskepsis, S. 192. 37 Schneider plädiert dafür, »die schriftskeptischen Äußerungen des Autors« nicht überzu bewerten. Dies gelte gerade »bei einem Menschen, der zeitlebens vor allem geschrieben hat.« (Beide Zitate: Schneider, Steffen: Archivpoetik. Die Funktion des Wissens in Goethes ›Faust II‹. Tübingen 2005. S. 33. Fußnote 43).
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Das Archiv in der ›Wanderjahre‹-Forschung
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Bezüge‹ gelenkt. Er registriert die Bedeutung einer scheinbar defizitären Informa tionspraxis, die sich bei genauem Hinsehen als eine vom Text betriebene Infor mationsdosierung darstellt. Herwig zieht das Aggregat mit ins Kalkül, betont aber vor allem die Abhängigkeit des Aggregatzustands von Druck und Tempe ratur; Heinz sieht im Aggregat die Entsprechung für die Form der ›Wanderjahre‹ als ›Kulturkosmos‹. Die Frage nach dem Aggregat als (Un-)Ordnungskonzept bleibt sowohl bei Herwig als auch bei Heinz offen. Azzouni führt eindrücklich vor, wie eine Lektüre der ›Wanderjahre‹ sich an Goethes naturwissenschaftlichen Schriften orientieren kann. Der Text stelle sich dem Problem des Kollektiven, so Azzouni. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Sammlungen im Text oder mit dem Sammeln des Texts führt sie nicht; sie liefert damit die Vorlage dafür, ihn konkret auf Sammeln, Zusammentragen und Aggregieren hin zu untersuchen. Blechschmidt schließlich gibt in einem Ausblick zu den ›Wanderjahren‹ die Anre gung, über die ›Funktionslogik des Archivromans‹ nachzudenken. Die genannten, für das Verständnis der formalen Anlage des Texts wichtigen Erkenntnisse möchte ich mit Archivkonzepten bzw. Ideen zum Archiv zusam menbringen. Deshalb beschäftigt sich nachstehendes Kapitel mit den Arbeiten, die um das Archiv in den ›Wanderjahren‹ zentrieren. Durch die Diskussion dieser Texte wird erstens der status quo der dem Archiv verpflichteten ›Wanderjahre‹Forschung deutlich gemacht. Zweitens werden jene Punkte markiert, an die sich anschließen läßt.38 Drittens schließlich wird aus ihnen das Desiderat einer Begriffsklärung des Terminus ›Archivroman‹ hergeleitet.
2. Das Archiv in der ›Wanderjahre‹-Forschung 2.1 ›Archivfiktion‹ Volker Neuhaus hat den Nachweis erbracht, daß es nicht ausreicht, die vermeint liche Gestaltungsschwäche des alten Goethe als Erklärung für die lose Fügung der ›Wanderjahre‹ heranzuziehen. Auch verwahrt er sich gegen die »unbedenkli che Gleichsetzung des Herausgebers mit Goethe«,39 die auf eine lange Tradition
38 Damit wird einem Forschungsdesiderat entsprochen, das Mahoney so gefaßt hat: Die »kraß entgegengesetzte[n] Auffassungen zum Gehalt des Romans lassen erkennen, daß der Interpret, der den ›Wanderjahren‹ den Charakter eines einheitlichen Kunstwerks nicht absprechen will, die Aufgabe hat, ein Strukturmodell vorzuweisen, das einzelne Stellen in einen größeren Zusam menhang einordnet.« (Mahoney, Dennis F.: Der Roman der Goethezeit (1774–1829). Ausklang. Goethe: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Stuttgart 1988. S. 159). 39 Neuhaus, Volker: Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren. In: Euphorion. Zeit
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in der Forschung zurückblicken könne. Der in den ›Wanderjahren‹ immer wieder erwähnte und sich zu Wort meldende Redaktor sei durchweg und eindeutig als fiktiv zu verstehen. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Archiv sei das Form prinzip der ›Wanderjahre‹, so Neuhaus, und was die Einzelteile auf kunstvolle Weise zusammenhalte sei das erzählerische Mittel der Redaktor- oder Archivfik tion. Der Text, den der Leser in Händen halte, sei eine bearbeitete Zusammenfas sung von Schriftstücken. Eine solche habe auch dem als vermittelnde Erzählin stanz fungierenden Redaktor zur Verfügung gestanden.40 Als Konsequenz für die Erzählperspektive ergibt sich, daß der Herausgeber nur das wiedergeben kann (wenn auch in abgeänderter Form, in anderem Umfang), »was sein Archiv enthält oder was er auf genau mitgeteiltem Wege zusätzlich erfahren konnte.« Dem Redaktor habe Wilhelms Tagebuch vorgelegen, das er aus dem »Ich-Bericht in eine Er-Erzählung«41 transformiert habe. Diesem »Hauptbestandteil« des Archivs, seien »die verschiedensten anderen Dokumente im Original oder in Abschriften« beigefügt worden.42 Darin sieht Neuhaus den »äußerst geschickte[n] Kunstgriff«, der es ermögliche, »die Archivfiktion streng und lückenlos durchzuhalten«.43
2.2 ›Lenardos Tagebuch‹ Klaus-Detlef Müller weist an den ›Lenardos Tagebuch‹ betreffenden Textstellen nach, daß Goethe durchaus eine »ästhetische Integration« vermeintlich »reine[r] Sachprosa« geleistet habe.44 Er möchte aufzeigen, daß die ›Wanderjahre‹ sich von ihrer »immanenten Poetik her als Roman verstehen lassen […].«45 Dies sei
schrift für Literaturgeschichte. 62. Band. Hgg.: Gruenter, Rainer & Arthur Henkel. Heidelberg 1968. S. 13–27. Hier: S. 16. Fußnote 30. 40 Vgl. Neuhaus: Archivfiktion, S. 17. 41 Beide Zitate: Neuhaus: Archivfiktion, S. 18. 42 Beide Zitate: Neuhaus: Archivfiktion, S. 23. 43 Neuhaus: Archivfiktion, S. 19. Gidion relativiert Neuhaus’ Ausführungen zur Archivfiktion, indem sie feststellt, der Erzähler benutze die »Redaktor-Fiktion höchst lässig und unverbind lich« (Gidion, Heidi: Zur Darstellungsweise von Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Göt tingen 1969. S. 60). 44 Müller, Klaus-Detlef: Lenardos Tagebuch. Zum Romanbegriff in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. DVJS Nr. 53, 1979. S. 275–299. Hier: S. 298. 45 Müller: Lenardos Tagebuch, S. 299. Quod erat demonstrandum? … Auch Reiss weist in seiner Arbeit an exponierter Stelle darauf hin: »Gewiß ist doch wohl eines: man kann die Wanderjahre als Roman lesen, wenn man es so will.« (Reiss, Hans: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Der Weg von der ersten zur zweiten Fassung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Hgg: Richard Brinkmann & Hugo Kuhn. Bd. 39. Stuttgart 1965. S. 34–57.
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möglich durch einen Erzähler, der »nicht ein Erzähler im gewöhnlichen Sinne [ist], sondern die fiktive Figur eines Redaktors, der als Gestalt den Roman aller erst ermöglicht.«46 Damit bewegt sich Müller im Gefolge von Neuhaus’ Argumen tation, die er dann aber anders akzentuiert. Er konzentriert sich auf die Frage, wie das vorgefundene Material »unter dem ästhetischen Gesichtspunkt romanhafter Komposition«47 angeordnet wurde. Die Besonderheit der ›Wanderjahre‹ liegt für ihn darin, daß die Redaktorinstanz dort expressis verbis keinen Authentizität erheischenden Bericht schreibt, sondern daß es ihr darum geht, einen Roman vorzulegen.48 Dieser Roman hegt nach Müller den Anspruch auf epische Totalität – jedoch nicht durch die Vielfältigkeit der verhandelten Gegenstände, sondern durch das Vorhandensein unterschiedlichster Arten der Präsentation von Inhal ten. Die Erzählinstanz greife wiederholt auf das zurück, »was bereits schriftlich fixiert ist, wie das im Archiv vorliegende Material.«49 Wie man sich ein solches inszeniertes Archiv aber vorzustellen hat, bleibt bei Müller offen, seine Hinweise aufs Archiv sind eher spärlich gesät.50 Müllers Analyse ist denn auch rein auf den »vielleicht problematischsten Komplex der Sachprosa«51 zugeschnitten und wie derholt mehrfach, daß es ihr »nicht um eine Beschreibung der Verfahrensweise im Roman als ganze[m]«52 gehe. Sowohl Neuhaus als auch Müller konzentrieren sich in ihren Ausführungen weitgehend, mir scheint zu weitgehend, auf die Figur des Redaktors und ihre Fähigkeiten.53 Müller sieht den Redaktor »mit den Figuren seines Berichts in einer Wirklichkeitsebene verbunden.«54 Dem ist beizupflichten. Aber gerade dadurch, daß er sich auf derselben Ebene wie die anderen Figuren bewegt, könnte man ihn
Hier: S. 57. Kursivierung im Original). Diese Ansicht vertritt er auch 28 Jahre später in einem leicht veränderten Artikel (vgl. Reiss, Hans: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Der Weg von der ersten zur zweiten Fassung. In: Ders.: Formgestaltung und Politik. Goethe-Studien. Würzburg 1993. S. 102–122. Hier: S. 122). 46 Müller: Lenardos Tagebuch, S. 279. 47 Müller: Lenardos Tagebuch, S. 280. 48 Vgl. Müller: Lenardos Tagebuch, S. 281. 49 Müller: Lenardos Tagebuch, S. 281. 50 Vgl. Müller: Lenardos Tagebuch, S. 284. 51 Müller: Lenardos Tagebuch, S. 298. 52 Müller: Lenardos Tagebuch, S. 299. 53 Düntzer hingehen klassifiziert den Redaktor als eine Verlegenheitslösung: »Wenn bei We r t h e r der Dichter sich mit Recht als bloßer Herausgeber aufgefundener Papiere darstellen konnte, so ist dies hier [in den ›Wanderjahren‹] ganz ungehörig, soll bloß den Mangel künstleri scher Abrundung entschuldigen.« (Düntzer, Heinrich: Goethes Werke. Bd. 18, Wilhelm Meister’s Wanderjahre. Nationalbibliothek sämmtlicher deutscher Klassiker. Berlin 1870. S. XXI. Sperrung im Original). 54 Müller: Lenardos Tagebuch, S. 280.
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doch – anders perspektiviert – ebenso als einen vom Text verhandelten Topos unter anderen Topoi verstehen. Meine Analyse wird daher zeigen, inwiefern der Beitrag des Redaktors zum Gelingen des Romans zu relativieren ist. Denn, und das ist meine Lesart, der Text verhandelt die Rolle des Redaktors lediglich als eine – nicht einmal prominente – Archivalie in einer ganzen Reihe anderer.55 Die Hypostasierung des Redaktors jedenfalls liegt in der Archivfiktion begründet. Einer der wenigen, die das registrieren, ist Gonthier-Louis Fink. Er schreibt, Müller habe, indem er auf Neuhaus’ Ausführungen aufbaue, »Haltung und Anteil des Redaktors […] m. M. n. überbewertet.«56 Die Überbewertung der Redaktorfigur verstellt die Sicht auf die Beschaffenheit und die Logik des Archivs. Letztere bleibt bei Neuhaus und Müller deshalb unerörtert. Meine Lesart versteht den Redaktor als eine Figur unter anderen, die Archivfiktion nimmt sie zwar ernst, sieht in ihr aber nicht das den gesamten Roman durchgängig strukturie rende Formprinzip, sondern betrachtet auch sie wiederum lediglich als einen Teil des Texts. Wenn Neuhaus formuliert »Diesen [in der Lago Maggiore-Episode ver handelten] Bildern kommt die gleiche Realität zu wie dem ganzen Archiv – die poetische Realität der Kompositionen Adrian Leverkühns«,57 dann werden die Konturen seiner Sicht von Archiv deutlich. Leverkühns Kompositionen sind nun einmal nur im Manns Text ›Doktor Faustus‹ real, so Neuhaus’ Argument, außer halb des Romans sind sie nicht existent.58 Das ist, wie dargelegt, aus der Sicht der Archivfiktion nachvollziehbar. Doch dabei möchte ich nicht stehen bleiben. Es ist zu klären, wer – oder evtl. was – die Textorganisation zu verantworten hat. Zieht man die Betonung von der Silbe ›-fiktion‹ einmal ab und läßt sie der Silbe ›Archiv-‹ angedeihen, wird es möglich den Text konkret nach Archiven, nach
55 Auch Redaktoren haben ihre historischen Konjunkturen: »Der Herausgeber, der in den Wanderjahren als fiktive Gestalt auftritt, hatte seine große, freilich von Ironisierungen bereits nicht freie Zeit in den Briefromanen des 18. Jahrhunderts.« (Strobel, Jochen: Genealogie eines Archiv romans: Die Korrespondenz Goethe/Zelter – oder: Was ist ein Briefautor? In: Ders.: Vom Ver kehr mit Dichtern und Gespenstern: Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006. S. 99–135. Hier: S. 117. Kursivierung im Original). 56 Fink, Gonthier-Louis: Tagebuch, Redaktor und Autor. Erzählinstanz und Struktur in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Recherches Germaniques. Revue annuelle publiée avec le concours du CNRS. No. 16. Strasbourg 1986. S. 7–54. Hier: S. 9. Auch Azzouni zeigt, »daß der Re daktor nicht der Kopf, sondern schlicht ein Teil [des] Ganzen ist.« (Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 65). 57 Neuhaus: Archivfiktion, S. 16. 58 Eventuell ist das ein unglücklich gewähltes Beispiel. Thomas Mann hat immerhin Theodor Wiesengrund Adorno bemüht, ihm bei den Musikpassagen im ›Faustus‹ beratend zur Seite zu stehen (vgl. Mann, Thomas: Doktor Faustus. Die Entstehung des Doktor Faustus. Frankfurt am Main 2001. S. 704).
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Das Archiv in der ›Wanderjahre‹-Forschung
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Archivierungsarten zu befragen, ihn auf Archivdiskurse und auf Spielarten des Sprechens über das Archiv hin zu lesen. Nur so lassen sich auch die bei Neuhaus offenbleibenden Fragen beantworten: Was hat es konkret mit dem Archiv im Text auf sich? Wo und wie handelt der Text von Archiven? Was darf man als Archiv verstehen? Kann man überhaupt mit dem heute üblichen Archivverständnis vom Archiv in der Goethezeit reden? Insofern ist das Archiv zuerst einmal nicht als integratives Gesamtdeutungsschema zu denken, sondern historisch konkret. So verstanden wäre es nicht nur eine ›Interpretationsmasche‹, sondern als etwas materialiter Vorhandenes zu untersuchen. Wenn man sich nicht mit Mutmaßungen zufrieden geben möchte, stellen sich außerdem noch folgende Fragen: Woher kommen die Gedichte ›Vermächtnis‹ und ›Im ernsten Beinhaus war’s …‹? Wie sind sie zum Text in Beziehung zu setzen? Gleiches gilt für die beiden Spruchsammlungen (›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ und ›Aus Makariens Archiv‹).
2.3 ›The Novel as Archive‹ & ›Archivroman‹ In einem ausführlichen Artikel zu den ›Wanderjahren‹ im ›Goethe Handbuch‹ geht Ehrhard Bahr auch auf das Archiv und dessen Bedeutung für die Lektüre des Texts ein. Dort heißt es: »Das für die Interpretation wichtige Archiv-Konzept und der Archiv-Begriff stammen aus derselben Zeit«.59 Wie jedoch ein solcher zeitge nössischer Archivterminus aus dem Jahr 1828 sowie ein diesem zugrundeliegen des Archivkonzept aussehen könnte, bleibt bei Bahr unerläutert. Für Erstaunen sorgen nun die Überschriften: »Erzählstruktur und Archivroman«60 und »Die Funktion des Lesers im Archivroman«61 – betreiben sie doch eine erstaunlich selbstverständliche Indienstnahme des Begriffs Archivroman, der bestenfalls ansatzweise definiert ist. Bahr fährt fort, »mit der zweiten Fassung erfolgt der Schritt zum Archivroman.«62 Bis zu dieser Stelle könnte man annehmen, der
59 Bahr, Ehrhard: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Artikel in: Goethe Handbuch. Band 3. Prosaschriften. Hgg. Bernd Witte, Peter Schmidt und Gernot Böhme. Stutt gart 1997. S. 186–231. Hier: S. 194. Das wiederholt Bahr später noch einmal (vgl. Bahr: Modern Wanderjahre Scholarship, 1913–1996. In: Ders.: The Novel as Archive. The Genesis, Reception, And Critizism Of Goethe’s Wilhelm Meisters Wanderjahre. Columbia 1998. S. 12). 60 Bahr: Wanderjahre-Artikel in: Goethe Handbuch, S. 206. Hervorhebung: M. B. 61 Bahr: Wanderjahre-Artikel in: Goethe Handbuch, S. 208. Hervorhebung: M. B. 62 Bahr: Wanderjahre-Artikel in: Goethe Handbuch, S. 206. Hier verfälscht Bahr Neuhaus, der explizit schreibt: »die Archivfiktion [findet sich] in beiden Fassungen […].« (Neuhaus: Archiv fiktion, S. 21).
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Begriff sei geklärt. Doch hier irrt Bahr, denn Neuhaus, auf den er sich bezieht, bezeichnet die ›Wanderjahre‹ in seinem Aufsatz nirgends und mit keinem Wort als Archivroman. Er führt den Begriff zwar an, erklärt oder positioniert ihn jedoch in keiner Hinsicht – weder theoretisch noch historisch-konkret. Der Terminus taucht in genanntem Text nur genau ein Mal auf und wird zudem ganz allgemein verwendet. Neuhaus bezieht sich dabei auf den Redaktor als eine »fiktive Gestalt, wie sie […] zum festen Bestandteil des Brief- und Archivromans wurde und wie Goethe selbst sie in den Leiden des jungen Werther verwandt hat.«63 Was nun aber ein solcher Archivroman sein soll, bleibt bereits bei Neuhaus vage, denn sein argumentatorischer Aufwand gilt der Archivfiktion – von einem »Modell des Archivromans«, das Neuhaus laut Bahr bereits 1968 »entwickelt«64 habe, kann folgerichtig nicht die Rede sein. Bahrs Paraphrase von Neuhaus’ Text referiert also nicht, wie er glauben macht, dessen Verständnis von Archivroman, sondern vielmehr exakt das, was Neuhaus als Archivfiktion einführt. Wahrscheinlich etikettiert Bahr die Archivfiktion unbewußt in Archivroman um.65 Auch in seinem Text ›The Novel as Archive‹ operiert Bahr ähnlich mit dem Terminus Archivroman, verwendet ihn synonym zur Archivfiktion. Vor allem der Titel, den man wohl mit ›Der Roman als Archiv‹ zu übersetzen hat, macht das an prominenter Stelle sichtbar. Der folgende Abschnitt möchte die eben angedeutete Begriffsüberschneidung Archivroman/Archivfik tion problematisieren sowie einen Ausweg aus dieser Gleichsetzung aufzeigen. Daß es eine 1971 erschienene Studie von Neuhaus über multiperspektivisches Erzählen gibt, in der dem Archivroman sogar ein eigener kleiner Abschnitt gewid met ist, entging nicht nur Bahr, sondern der gesamten im Rahmen dieser Arbeit gesichteten ›Wanderjahre‹-Forschung – mit Ausnahme der Analyse Wolfgang Bunzels.66 Neuhaus handelt die ›Wanderjahre‹ in seiner Dissertation in einem
63 Neuhaus: Archivfiktion, S. 15. Kursivierungen im Original. 64 Beide Zitate: Bahr: Wanderjahre-Artikel in: Goethe Handbuch, S. 206. Ebenso taucht der Be griff Archivroman in einem weiteren Aufsatz Bahrs auf (vgl. Bahr, Ehrhard: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. In: Goethes Erzählwerk. Hgg.: Michael Lützeler und James E. McLeod. (= RUB 8081). Stuttgart 1985. S. 363–396). 65 Auch Schneider verwendet den Begriff ohne eingehendere Problematisierung (vgl. Schnei der: Archivpoetik, S. 57, S. 63). Gleiches gilt für Strobel (vgl. Strobel: Genealogie eines Archivro mans. Sowie: Ders.: Von der Zettelwirtschaft zum Archivroman. Goethe ediert Briefe. In: Golz, Jochen & Manfred Koltes: Autoren und Redaktoren als Editoren. Tübingen 2008. S. 299–314). Auf die Studie ›Von der Aktenführung bis zur Archivpolitik [!]: Goethes Archivroman ›Wilhelm Meis ters Wanderjahre‹‹ von Kayo Yamamoto in: Goethe-Jahrbuch. Bd. 50. Tokyo 2008. Hg.: GoetheGesellschaft in Japan c/o Nippon Universität. S. 41–59 konnte ich mir keinen Zugriff verschaffen. 66 Bunzel, Wolfgang: »Das ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen«. Die Vorab drucke einzelner Abschnitte aus Goethes ›Wanderjahren‹ in Cottas ›Taschenbuch für Damen‹.
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Unterkapitel des Kapitels ›Archivroman‹ ab, wenn auch nur auf einer dreiviertel Seite. Interessant ist nun, daß er sie dort wiederum nicht als Archivroman betitelt. Er orientiert sich vielmehr strikt an der Terminologie seines Aufsatzes von 1968 und hält damit die Frage offen, inwiefern genau die ›Wanderjahre‹ als Archivro man zu verstehen sein könnten.67 Daraus läßt sich zweierlei schließen: Entweder ist ein Archivroman für Neuhaus schlichtweg ein Text, in dem die Archivfiktion am Werk ist – dann hätte Bahrs synonyme Verwendung der Begriffe durch die Hin tertüre doch noch eine Rechtfertigung erfahren – oder aber Neuhaus’ Verständnis vom Archivroman ist nach wie vor recht unbestimmt. In beiden Fällen ist eine Herleitung des Begriffs ein Forschungsdesiderat. Da es in den ›Wanderjahren‹, wie bereits erwähnt, Textstellen gibt, deren Herkunft oder Erzählhaltung sich nicht erklären lassen, läßt sich die Archivfiktion gerade nicht ›lückenlos‹ durch halten. Es ist also eine Untersuchungseinheit notwendig, die über die Archivfik tion hinausgeht und die Archivroman heißen soll. Es gilt herauszufinden, was der Archivroman spezifisch auf die ›Wanderjahre‹ angewendet bedeuten könnte. Der Begriff soll aus dem Text heraus entwickelt werden unter Einbeziehung der Archivfiktion Neuhaus’ sowie seiner Gedanken zum Archivroman. Daher wird zunächst geklärt, was Neuhaus – unabhängig von den ›Wanderjahren‹ – unter einem Archivroman versteht. Nach dieser Bestandsaufnahme wird gefragt, wie der Begriff erweitert werden kann, um die ›Wanderjahre‹ damit in toto ausloten zu können. Da eine detaillierte Aussage dazu, was überhaupt ein Archiv ist, bei Neuhaus sowohl 1968 als auch 1971 ausbleibt, wird auch zu fragen sein, was denn die Komponente ›Archiv‹ im Kompositum ›Archivroman‹ für einen Text aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts heißen kann. Neuhaus denkt das Archiv zunächst rein inhaltlich als materielle Grundlage, die dem Erzählen vorgängig ist. Der Rekurs auf unterschiedliche Dokumente, Akten oder Archive erweitere die Gestaltungsmöglichkeiten des Autors, da nun – anders als beim Briefroman, wo er auf Briefe zurückgreife – »auch Zeitungs ausschnitte, Tagebücher, Protokolle, amtliche Erlasse und dergleichen zu seinem Material gehören können.«68 Im Archivroman sieht er grundsätzlich einen Her ausgeber am Werk. Wie der Titel von Neuhaus’ Arbeit verrät, soll der kleinste gemeinsame Nenner der analysierten Texte das multiperspektivische Erzählen sein. Anders als bei den anderen von ihm untersuchten Texten scheint es sich mir jedoch mit den ›Wanderjahren‹ zu verhalten und ihre Einordnung unter die
In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Hg.: Christoph Perels. Tübingen 1992. S. 36–68. 67 Vgl. Neuhaus, Volker: Typen multiperspektivischen Erzählens. (= Literatur und Leben. Hgg.: Richard Alewyn und Herbert Singer. Neue Folge. Bd. 13). Köln 1971. S. 96. 68 Neuhaus: Typen multiperspektivischen Erzählens, S. 75.
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Rubrik Archivroman zwar zunächst einleuchtend, aber nicht eindeutig gerecht fertigt zu sein. Auch in den ›Wanderjahren‹ gibt es zwar unterschiedliche Erzähl perspektiven, diese fokussieren aber differierende Sachverhalte, konzentrieren sich nicht auf einen alleine. Der Text ›benötigt‹ eigentlich gar kein multiperspek tivisches Erzählen, denn er handelt schon von vielen verschiedenen Inhalten, im Gegensatz zu den anderen von Neuhaus untersuchten Erzählungen, die sich auf einen Inhalt kaprizieren und mehrere Perspektiven dazu einnehmen. Der Archivroman scheint das Paradigma zu sein, das den ›Wanderjahren‹ von ihrer Gestalt her am nächsten kommt. Es fällt jedoch auf, daß Neuhaus’ Ver ständnis des Archivromans hauptsächlich auf inhaltliche Komponenten und auf die Beglaubigung des Erzählten, auf eine Inszenierung von Evidenz abstellt. Eine Präzisierung des Begriffs erweist sich nicht zuletzt deshalb als notwendig, da die ›Wanderjahre‹ das Archiv in nachdrücklicher Weise auch narratologisch reflek tieren. Dabei kann man sich an Neuhaus’ Erkenntnissen orientieren: Das Vorhan densein eines Redaktors sowie, als conditio sine qua non, die Nachweisbarkeit der Archivfiktion, die auch das Zugrundeliegen eines Archivs (sei es nun real oder fiktiv) voraussetzt, sind Komponenten, die ich übernehmen möchte. Sie lassen sich zusammenzuführen mit den Befunden aus der Textarbeit an den ›Wander jahren‹. Im Verlauf dieser Studie ist zu klären, welchen Texteigenschaften der adjustierte Begriff Rechnung tragen muß, um die ›Wanderjahre‹ mit Fug und Recht als Archivroman bezeichnen zu können. Eine weitere wichtige Forderung im Lastenheft für eine Neufassung aber ist die, daß der Begriff auch solche Texte zu erfassen erlauben soll, die nicht unbedingt multiperspektivisch erzählen.69 Zusammenfassend möchte ich dafür plädieren, die Verfahrensweise umzu kehren, d. h. die ›Wanderjahre‹ nicht in ein ›Korsett Archivroman‹ einzuzwängen, in das sie augenscheinlich nicht recht passen wollen, sondern umgekehrt, sie als Ausgangspunkt für die Begriffskonstitution heranzuziehen. Der Text ist so diffizil, daß sich aus ihm heraus ein differenzierteres Verständnis von ›Archiv roman‹ als das bisherige gewinnen läßt. Begreift man die Komplexität des Texts als Chance, anstatt sie um der Terminologie willen zu beschneiden, so kann man ihn befragen, was er – über die von Neuhaus etablierte Archivfiktion hinaus – an Ideen und Problembewußtsein zum Archiv, zur Archivierung und zur Romanform anzubieten hat.
69 So schließt Neuhaus z. B. Texte Jean Pauls aus, da ihnen ein »nicht mehr multiperspektivisch[es] Verfahren« eigentümlich sei, das angebe, »einer Darstellung lägen Dokumente zugrunde, ohne daß diese im Roman selbst erscheinen.« (Neuhaus: Typen multiperspektivischen Erzählens, S. 76). Genau das trifft teils auch auf die ›Wanderjahre‹ zu – man denke nur an die den Leser vertröstenden Äußerungen des Redaktors, er werde ihm Vorliegendes nachreichen, was dann im Verlauf des Texts jedoch nie geschieht.
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Das Archiv in der ›Wanderjahre‹-Forschung
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2.4 ›Archivpoetik‹ Steffen Schneiders Arbeit zur Archivpoetik setzt sich eigentlich mit der Funktion des Wissens in Goethes ›Faust II‹ auseinander. Man findet dort aber nicht nur instruktive Ideen zum Archiv, sondern auch ein Kapitel, das eine exemplarische Lektüre von Stellen aus den ›Wanderjahren‹ dokumentiert.70 Diesem zufolge hat Goethe in diesem Roman zuerst »Archivstrukturen stärker in den Vordergrund«71 gerückt, da er das poetologische Potential erkannt habe, das sich damit erschlie ßen lasse. Die Archivpoetik definiert Schneider als den »Bezug auf vorliegende Texte« auf der einen »und deren Transformation«72 auf der anderen Seite.73 Sein Interesse gilt dem zeitgenössischen Wissen und dessen Recodierung, wodurch der Begriff des Archivs als Ordnungsfunktion letztlich unterreflektiert bleibt.74 Vom Wissen zum Archiv gelangt Schneider, indem er behauptet: »Die Frage nach der Funktion des Wissens im Faust betrifft also das Verhältnis dieser Dichtung zum ›Archiv‹ im Sinne Foucaults und der Diskursanalyse […].«75 Damit verpflichtet er sich neben dem eher abstrakten Archivverständnis Foucaults einer relationalen Zugangsweise zum Archiv. Die Arbeit des Redaktors, so Schneider, lasse sich durchaus als Manipulation lesen, wodurch einerseits die »Kontingenz des Erzäh lens« herausgestellt und andererseits jegliches »Totalitätsbegehren« von Seiten des Lesers untergraben werde.76 Letztlich – und das ist ein zentraler Punkt, an dem ich über Schneides Ansatz hinausgehe – scheint auch er den Redaktor und seinen Beitrag zum Gelingen des Romans zu ernst zu nehmen; er läßt sich die
70 Vgl. Schneider: Archivpoetik, S. 44–69. 71 Schneider: Archivpoetik, S. 43. 72 Beide Zitate: Schneider: Archivpoetik, S. 18. 73 Ernst fragt in anderem Zusammenhang kritisch: »Gibt es eine Poetologie des Archivs, oder stellt das Archiv nicht gerade die diskrete, non-diskursive Alternative zu literarischen Formen der Vertextung von Daten dar?« (Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Un ordnung. Berlin 2002. S. 47). 74 In einer Fußnote versteckt Schneider wichtige Argumentationslinien, die vom Archiv zum Wissen et vice versa führen. Dort heißt es, Sammlung und Archiv unterscheiden sich »durch ihre Gegenständlichkeit: Das Archiv dient Goethe als Zwischenlager für die Weiterbearbeitung von Schriftstücken (in der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit ebenso wie im Austausch mit anderen) und nicht von Anschauungsgegenständen. Das Archiv operiert im Unanschaulichen. Beide haben allerdings gemeinsam, daß die gespeicherten Materialien vor allem für Zwecke der Kommunikation aufbewahrt werden und daß daher die Untersuchung ihres Aufbaus Aufschlüs se über Wissensordnungen zuläßt.« (Schneider: Archivpoetik, S. 21). 75 Schneider: Archivpoetik, S. 4. Hier scheint Neuhaus anzuklingen, der ja schon vom »Verhält nis« zwischen Redaktor und Archiv als Formprinzip der ›Wanderjahre‹ redete (Neuhaus: Archiv fiktion, S. 17). 76 Beide Zitate: Schneider: Archivpoetik, S. 50.
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Chance entgehen, wirklich einmal das Archiv als narratologisches Grundmuster, als Textverfahren heranzuziehen. Ich möchte die These aufstellen, daß auch der Redaktor keineswegs eine alles ordnende Erzählinstanz ist. Es ist vor diesem Hintergrund nur konsequent zu behaupten, der Erzähler der ›Wanderjahre‹ sei ein Archiv bzw. etwas abge flachter, das Archiv (und nicht Goethe und auch nicht der Redaktor) sei die kon zeptionelle Grundlage des Erzählens in den ›Wanderjahren‹. Daraus folgt eine weitere Grundthese meiner Arbeit: auch der Redaktor wird vom Archiv erzählt, ist selbst ein erzählter. Er mag sich noch so sehr anstrengen, sich als wichtigen Textproduzenten in Szene zu setzen, letztlich hat er sich als Archivalie unter anderen einzuordnen in das Sammelsurium, das die ›Wander jahre‹ nun einmal darstellen.77 Erst mit dieser Erkenntnis macht man den Blick frei auf das Archiv als den ›Hauptakteur‹ des Texts.
3. Folgerungen aus dem Forschungsüberblick Es geht nun nicht mehr nur um eine andere Nuancierung der Perspektive, sondern um eine deutliche Akzentverschiebung. Vor lauter Konzentration auf die Archiv poetik droht das Archiv aus dem Blickfeld zu verschwinden. Deshalb schlage ich vor, die Bewegung, die ihren Ausgang mit Neuhaus nahm, welcher den Blick abzog von der bisherigen Konzentration auf Goethe und ihn dem Redaktor zuwandte, konsequent fortzusetzen. Die Studie weist das Archiv als den medialen Subtext der ›Wanderjahre‹ aus und kann so die Konstruktion des Texts durch schaubar und verständlich machen. D. h. das Augenmerk ist nun vom Redaktor abzuziehen und hinzuwenden auf das konkrete Archiv. Azzouni hat für diesen Punkt eine gute Vorarbeit geleistet; sie listet die Erzähler der ›Wanderjahre‹ und die von ihnen zu verantwortenden Textteile tabellarisch auf.78 Dabei sticht ihr ins Auge, daß es einige Textpartien gibt, denen sie keinen Sprecher zuordnen kann.79 Sie fragt, wem der Stoff des Buches gehorche und antwortet: »Zumindest nicht in erster Linie dem Redaktor.«80 Außerdem erwähnt sie im Kontext des Erzählens
77 »[D]ie ›Wanderjahre‹ sind doch ein hoch-müde, würdevoll sklerotisches Sammelsurium« schreibt der auch nicht mehr ganz junge Thomas Mann am 8. April 1945 in einem Brief an Hesse. (Zit. nach: Mann, Thomas: Selbstkommentare: ›Doktor Faustus‹ ›Die Entstehung des Doktor Faustus‹. Hg.: Hans Wysling. Frankfurt am Main 1992. S. 57). 78 Vgl. Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 52 ff. 79 Vgl. Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 56. 80 Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 66.
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Folgerungen aus dem Forschungsüberblick
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eine »Instanz«,81 die namenlos bleibe. Mir scheint, es spricht nichts dagegen, dieser Instanz nun einen Namen zu geben und zu behaupten: Das Erzählen gibt sich hier eine Rolle: die Rolle des Archivs. Untenstehendes Schaubild zeigt die Richtung auf, welche die Forschung damit einschlüge: Ältere Forschung:
Neuere Forschung:
Aktuell:
Goethe, teilw. in eins gesetzt mit dem Redaktor (Trunz, Staiger)
Redaktor, der ein Archiv verwendet (Neuhaus, Müller, Bahr, Schneider)
Archiv, das den Text verwaltet
Daraus geht hervor, daß es eines konkreten Archivbegriffs bedarf, der einen adäquaten Zugriff auf den Text erlaubt. Gefordert ist also ein solcher, der sowohl die im Text auftauchenden Sammlungen aller Art als auch dessen formale Anleh nung ans Archiv, verstanden als Textverfahren, berücksichtigt – und den Begriff gleichzeitig theoretisch und historisch fundiert. Damit wird nicht zuletzt eine unterkomplexe Lesart des Archivs als Indikator für ein diffuses Verständnis ›modernen Erzählens‹ vermieden.82 Anstatt wie Schneider von einer »Datenexplosion«83 um 1800 als Ausgangs lage für ein Nachdenken über und Experimentieren mit Archivierung auszuge hen, schlage ich vor, Gerhard Neumann zu folgen. Dieser situiert das von ihm untersuchte ›Projekt der Moderne‹ ebenfalls in der Nähe eines nachweisba ren Einschnitts. Es geht um eine Zäsur, gekennzeichnet durch einen Umbruch in zwei Schüben. Erstens durch einen »Paradigmenwechsel«, der sich von der französischen Aufklärung herschreibe, zweitens »durch die Auseinandersetzung Goethes und der deutschen Romantik mit diesem aus Frankreich bezogenen Aufklärungsmuster.«84 Eine solche »Modernisierung im Kontext dieses Umbruchs
81 Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 62. 82 Daß die ›Wanderjahre‹ modern erzählen, wie Voßkamp meint, will mir nicht einleuchten (vgl. Voßkamp, Wilhelm: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Ders. (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 3. Stuttgart 1982. S. 227–249. Hier: S. 243). Der Text ist vielmehr durchgängig flankiert von der angestrengten Bemühung, Anschlußfähigkeit und Kompatibilität zu gewährleisten. Aller Fragmenthaftigkeit wird der Gedanke eines übergreifenden Ganzen ent gegengehalten. Vgl. auch Geulen, deren Analyse dafür plädiert, die eingefahrene Opposition von Formung einerseits und Entformung, Formlosigkeit (als Erkennungsmerkmale einer vermeintli chen Modernität) andererseits hinter sich zu lassen und abseits dieser Vereinfachung zu operie ren (Geulen: Serialization, S. 1). 83 Schneider: Archivpoetik, S. 18. 84 Neumann, Gerhard: Naturwissenschaft und Geschichte als Literatur. Zu Goethes kultur
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Forschungsüberblick
um 1800«, so Neumann, bedeute nun aber nicht etwa eine Überarbeitung des vorhandnenen Wissens, sondern eine »Umordnung von Wissensstrukturen.«85 Genau das scheint mir die entscheidende perspektivische Wende zu sein. Von Interesse sind eben nicht vordergründig die Wissensbestände, sondern die Wis sensstrukturen. Dieser Argumentation folgend kann man auch für die Untersu chung der ›Wanderjahre‹ den Blick abziehen vom Wissen im inhaltlichen Sinn und ihn hinwenden zum Wissen um Wissensanordnung, um Organisationsprin zipien. Hierin liegt die Legitimation und die Motivation, ausdrücklich einen der »Randdiskurse«,86 nämlich das Archiv, ins Blickfeld der Untersuchung eines lite rarischen Texts zu rücken. Eine Archivtheorie, die für die ›Wanderjahre‹ gültig sein soll, hat folgendes zu berücksichtigen: Die theoretische Fundierung des verwendeten Archivbegriffs muß der Entscheidung für denselben als Paradigma für die Textarbeit obligato risch vorangehen. Man kann nicht länger einfach selbstverständlich von Archiv sprechen ohne geklärt zu haben, ob der goethezeitliche Archivbegriff wirklich vereinbar mit unserem heutigen ist. Es ist die Frage zu stellen, was es mit den Sammlungen auf sich hat, die der Text thematisiert; die Archivtheorie darf nicht blind sein für die frappierende Präsenz von Archiven im Text. Auch ist von Inter esse, inwiefern sich der Text als Archiv lesen läßt (dies bleibt auch bei Bahr offen – dem Titel seiner Arbeit ›The Novel As Archive‹ zum Trotz). Das Schibboleth für eine gelungene, ›erfolgreiche‹ Lesart ist auch immer: kann eine Theorie die beiden Gedichte und Spruchsammlungen integrieren? Bislang gelang das nicht; kommende Lektüren werden sich daran messen lassen müssen.87 Schließlich darf die zu erarbeitende Archivtheorie nicht hinter Neuhaus’ Archivfiktion zurückbleiben, vielmehr soll sie dieselbe in ihr Theoriegebäude mit
poetischem Projekt. In: MLN 114. (= Modern Language Notes). Baltimore 1999. S. 471–502. Hier: S. 471. 85 Alle drei Zitate: Neumann: Naturwissenschaft und Geschichte, S. 472. Kursivierung im Ori ginal. 86 Neumann: Naturwissenschaft und Geschichte, S. 472. 87 Die Gedichte sind zu untersuchen, weil sie die wunden Punkte der Archivfiktion darstellen. Sie stehen an exponierten Stellen des Texts ausdrücklich kraft Goethes Weisung. Reiss formuliert dieses Desiderat contre coeur: »Ein besonderes Problem ergibt sich für die Wanderjahre durch die Einfügung der Spruchsammlungen und der beiden Gedichte ›Vermächtnis‹ und ›Im ernsten Beinhaus‹. Hier muß mit Recht die Frage aufgeworfen werden, ob man diese Spruchsammlungen und Gedichte überhaupt als zu den Wanderjahren gehörig bezeichnen kann.« (Reiss: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1965, S. 52. Kursivierungen im Original). Ähnlich äußert sich Zenker, der »eine gewisse Nebensächlichkeit für Fragen nach der Komposition, z. B. die Frage nach der Zu gehörigkeit der beiden Aphorismensammlungen« feststellt – die beiden Gedichte erwähnt er gar nicht (Zenker: Zu Goethes Erzählweise, S. 269).
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Folgerungen aus dem Forschungsüberblick
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aufnehmen können. Zuerst wird daher der Archivbegriff präzisiert (mit Baßler, Foucault und Derrida) und dann definiert, was im Rahmen dieser Arbeit unter Archiv verstanden werden soll. Daraufhin wird das Archiv goethetextspezifisch kontextualisiert und wenn nötig wird der Begriff modifiziert. Mit der herausge arbeiteten Definition von Archiv läßt sich der Archivroman anschließend definie ren und analysieren.
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III. Archivkonzepte Als Ausgangspunkt, um einen Archivbegriff zu erarbeiten, der es erlaubt, den Text explizit als Archiv zu lesen und den Terminus ›Archivroman‹ später mit einer Definition zu versehen, dient eine Studie Moritz Baßlers.1 Auf Baßlers pragmati sches und anschlußfähiges Archivverständnis greife ich aus zwei Gründen zu. Einerseits um seiner ›Kulturpoetik‹ folgend vorzuführen, wie das Goethesche Aggregat historisch konkret zu verstehen ist und wie es funktioniert (Kap. IV) und um den ›Suchbefehl‹ ›Archiv‹ für den Text der ›Wanderjahre‹ formulieren und ausführen zu können (Kap. VII). Andererseits, weil ich den Baßlerschen Ansatz – wenn auch gegen seine Intention – nutzen will, um zu einem Archiv verständnis zu kommen, das für die Textanalyse im allgemeinen und für die der ›Wanderjahre‹ im besonderen taugt. Ich verwende seine Arbeit einschließlich der daran vorzunehmenden Modifikationen als Theoriegrundlage, um (1) jeg liche Art von Sammlung innerhalb der ›Wanderjahre‹ als Archiv bezeichnen zu können und um (2) den Begriff ›Archivroman‹ historisch und systematisch zu fundieren. Davor jedoch wird auf das goethezeitliche Archivverständnis einge gangen, welches dezidiert auf Exklusivität aus ist, sich verschwiegen gibt und sich durchgängig im Schatten des Offiziösen bewegt.2 Ein solcher Archivbegriff wäre nur bedingt tauglich für die Textarbeit. Um dieser konzeptionellen Enge des Archivverständnisses aus der Zeit um 1800 zu steuern, ziehe ich Baßlers Archiv ideen heran, mit denen sich der zeitgenössische Begriff erweitern läßt. Baßlers Verständnis von Archiv ist indes sehr umfassend. Man könnte einwenden, hier herrsche zwar eine ausgeprägtere konzeptionelle Breite, aber eben auch Belie bigkeit vor, da Baßler alles, was vertextet sei, als ein Archiv oder Teile des Archivs auffasse. Diese beiden Extreme wird das Goethesche Archivverständnis vermit teln können, auf das ich zum Schluß des Kapitels eingehe. Mit ihm wird der Baß lersche Archivbegriff präzisiert.3 Am Ende des Kapitels steht dann ein Archivbe
1 Die vor allem kulturwissenschaftlich ausgerichteten Arbeiten zum Archiv sind inzwischen Legion (vgl. z. B.: Pompe, Hedwig & Leander Scholz: Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln 2002; Ebeling, Knut & Stephan Günzel: Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. (= Kaleidogramme Band 30). Berlin 2009). 2 Flach bringt den offiziellen Sprachgebrauch auf folgenden Nenner: »Durch hundert Jahre hin durch, von Zedler bis hin zu Rotteck und Welcker, im Jahrhundert Goethes also, ist demnach die allgemeine Auffassung vom Wesen des Archivs als einer territorialstaatlichen Angelegenheit im Grunde die gleiche geblieben.« (Flach, Willy: Goethes literarisches Archiv. In: Archivar und His toriker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner. Berlin 1956. S. 45–71. Hier: S. 47). 3 Damit kann man auch der Kritik Ernsts begegnen, der behauptet, der Terminus Archiv sei »zu
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griff, mit dem man am Text arbeiten kann. Dieser erlaubt es ebenso Sammlungen und Bibliotheken als Archive zu bezeichnen, wie er es ermöglicht, den Text selbst als einen archivalischen Behälter zu fassen.
1. Goethezeitliches Archiv Mit dem Begriff des Archivs korreliert im zeitgenössischen Kontext um 1800 haupt sächlich die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Was aus einem Archiv stammt, hat Autorität und kann sogar vor Gericht bestehen: Schrifften und Brieffschafften, die aus einem öffentlichen Archiv genommen werden, […] verdienen völligen Glauben. […] und werden alle Schrifften, so im Archiv gefunden werden, in dubio pro authenticis gehalten, so lang ein widriges nicht probiret wird. […] Eine alte Copia im Archiv probire so viel, als das Original. […] Gewiß ist es, daß man denen PrivatScripturen und Registern, welche in dem Archiv angetroffen werden, auch bey dem Kayser lichen Cammer-Gericht Glauben zustellet.4
einer kulturtechnischen Universalmetapher avanciert, zu einer Begriffsmünze, die durch lau ter Gebrauch bis zu Unkenntlichkeit abgegriffen ist.« (Ernst: Rumoren der Archive, S. 7). Diese Aussage hat selber nur Gültigkeit für einen bestimmten Zeitabschnitt. Historisiert man aber das Verständnis von Archiv, so zeigt sich, daß es zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Möglichkeiten gibt, über das Archiv zu sprechen, den Begriff zu fassen. Diese sind konkret re konstruierbar und benennbar. Ebenso verhält es sich mit den von den jeweils herrschenden Vor stellungen ›devianten‹ Spielarten von Archiv. 4 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universallexikon. Bd. 2, An–Az. Repr. d. Ausg. Halle, Leipzig 1734. – 1961. Sp. 1242 f. Daß private Archive »bei Zedler lediglich als ›Re gistraturen‹ wahrgenommen werden, beeinträchtigt mithin die Glaubwürdigkeit des archivier ten Bestandes.« (Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv, S. 28). Blechschmidt übersieht das kardinale Unterscheidungsmerkmal zwischen Archiv und Registratur, das ein temporales ist. Die goethezeitliche Archivwissenschaft legte Wert darauf, die beiden klar auseinanderzuhal ten: »Der ganze Unterschied erscheint bei einem flüchtigen Blicke gering; er beschränkt sich darauf, daß die Archive den Verwaltungszustand der Vergangenheit darstellen, die Registraturen dagegen der heutigen Administration angehören. Dieser Unterschied aber ist so intensiver Art, daß er eine unübersteigliche Scheidewand zwischen beiden Institutionen aufführt, welche in der That nur dem Auge des Unkundigen nicht sichtbar ist.« (Medem, Friedrich Ludwig Baron von: Über die Stellung und Bedeutung der Archive im Staate. In: Jahrbücher der Geschichte der Staatskunst. Hg.: Karl Heinrich Ludwig Pölitz. Leipzig 1830. Zweiter Band. S. 28–49. Hier: S. 30. Hervorhebungen: M. B.). Wenn die Registratursachen veralten, werden auch sie dem Archiv ein verleibt. Das Verhältnis der Registratur zum Archiv ist also eines der zeitlichen Vorgängigkeit des ersteren vor dem letzeren. Der Unterschied ist gerade nicht wie Blechschmidt im Rekurs auf Zedler wähnt, der, daß Registraturen nur Privates und Archive nur Offizielles bergen. In einer Schrift von 1777 wird der Archivar von Berufswegen ausdrücklich dazu animiert, »Sammlungen
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Archivkonzepte
Selbst bei zweifelhaften Archivalien (›in dubio‹), so der Textauszug, verbürgt der Aufbewahrungsort ihre Echtheit. Liegen solche in einem Archiv, so sind sie schon deshalb als echt (›pro authenticis‹) zu erachten, auch wenn es sich um Kopien handelt. Ein Zweifler etwa sähe sich mit der Beweislast konfrontiert. Er müßte nicht nur die Archivalie, sondern mit ihr gleich die Ehrwürdigkeit des ganzen sie aufbewahrenden Archivs in Frage stellen oder widerlegen. Allgemein stellt Zedler fest: »Mit eins: Archiv heißt ein Behältniß von Sachen und Brieffschafften, welchen man, des Ortes halben, Glauben beyzulegen [hat].«5 Man kann es offen sichtlich drehen und wenden wie man will. Aus dem Zirkel ›amtliche Schrift, deshalb glaubwürdig und deshalb im Archiv‹ oder ›Schrift, der man Glauben zuschreibt, weil sie im Archiv liegt‹ gibt es kein Entrinnen. Interessant an Zedlers Eintrag zum Archiv ist darüber hinaus aber auch, daß er es als Behälter (›Behältniß‹) beschreibt. Damit nicht genug: er gesteht ihm zu, nicht nur ›Brieffschafften‹ aufzubewahren, sondern auch ›Sachen‹. Man sieht: die ›Beglaubigungsfunktion‹ des Archivs ist im zeitgenössischen Verständnis fest verankert. Auf die Frage dagegen, was denn im Archiv niedergelegt wird, scheint die Antwort keineswegs eindeutig auszufallen. Das Archiv, das in den ›Wanderjahren‹ auch namentlich erwähnt wird,6 könnte, legte man eben skizziertes Archivverständnis zugrunde, als Garant für die Evidenz des dort Niedergelegten fungieren. In Zedlers Universallexikon läßt sich jedoch auch eine Einschränkung nachlesen, die widersprüchlich ist. Dort heißt es, Bruchstücke oder unvollständige Schriften, die im Archiv lagern, seien nicht glaubwürdig. Hier greift die Rede von der Reliabilität, die immer gegeben sei, weil etwas im Archiv verwahrt werde, nicht mehr: Etwas kann unglaubwürdig sein, obwohl es im Archiv deponiert ist. Der Grund hierfür liegt in der Beschaffen heit der Archivalien: Wären aber Fragmenta und blosse Stücke von Scripturen im Archiv zu finden, die weder Anfang noch Ende haben, so ist denselben, besonders in wichtigen Sachen, kein Glaube beyzumessen.7
Dieser Hinweis stößt seine Leser regelrecht auf die Frage, weshalb das Fragmen tarische denn überhaupt ins Archiv gekommen ist obwohl man ihm nicht traut.
von Privat=Personen« zu erkaufen, sofern sie zur Erhellung der »vatterländischen Geschichte« beitragen. (Beide Zitate: Spieß, Philipp E.: Von Archiven. Halle 1777. S. 24). 5 Zedler, Bd. 2, Sp. 1244. Hervorhebung: M. B. 6 Z. B. »Aus Makariens Archiv« (497). Die namentliche Nennung des Archivs ist für einen litera rischen Text aus dem 19. Jahrhundert keine Nebensächlichkeit. 7 Zedler, Bd. 2, S. 644, Sp. 1243.
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Der Zedlersche Lexikoneintrag entlarvt das Archiv. Das Abstellen auf das Offi zielle entpuppt sich als eine historisch kontingente Funktion. Es könnte auch Zeiten gegeben haben, in denen das Archiv anders gehandhabt wurde, sonst müßte man nicht auf Archivalien hinweisen, denen trotz ihres Aufbewahrungs ortes keine Verläßlichkeit zugestanden wird. Demzufolge geht es nicht immer um Glaubwürdigkeit und Offizielles, sondern auch – und dies gibt der Lexikonein trag ex negativo preis bzw. würde es am liebsten verschweigen – um reine Aufbe wahrung, neutrale Speicherung. Die ›Fragmenta und blosse[n] Stücke von Scripturen‹ aus dem Lexikonein trag verweisen indes auf die ›Wanderjahre‹, deren Themen und Formkonstituen ten eben Fragmenthaftigkeit, Stückwerk sowie das Fehlen von Anfang und Ende sind. Dazu kommen noch die im Text genannten Sammlungen, Akten, Faszikel, Rubriken und Spruchsammlungen. Der Text ist durchsetzt von, sagen wir bis zur weiteren Präzisierung vorläufig, Ansammlungen verschiedenster Art, er ist angetan von Verfahren des Sammelns und Anhäufens. Daß der Begriff Archiv im Text explizit fällt – und dazu noch im Kontext privaten Sammelns –, steht offen bar im Widerspruch zum eben referierten zeitgenössischen Archivbild. Denn um etwas überhaupt nur Archiv nennen zu dürfen, sind nicht zuletzt personale Vor aussetzungen zu erfüllen: Wer also ein Recht oder Amt hat, dem man trauen und glauben solle, (persona publicae fidei) der kan auch dem Ort, wo er seine Papiere hinleget, dergleichen Glauben machen.8
Wer hingegen diese Qualifikationen nicht vorweisen kann, ist nicht berechtigt, einen solchen Ort auch nur als Archiv zu bezeichnen: »Weil aber die blosse Richter oder eintzele [sic] Menschen ihre Papiere, wo sie wollen, verwahren; so wird ihnen dieses Wort [›Archiv‹] billig verweigert.«9 – Die Machtfrage beginnt also schon beim Begriff Archiv und nicht erst bei der Institution. Es geht nun darum, als Archiv zu deklarieren bzw. als Bestandteil(-e) von Archiven faßbar zu machen, was als Sammlung in den ›Wanderjahren‹ auftaucht. Der zu erarbeitende Archivbegriff muß breiter angelegt sein als der eben skiz zierte zeitgenössische. Er ist, wie erwähnt, im Text der ›Wanderjahre‹ bereits latent vorhanden, denn dieser nennt Sammlungen ein Archiv, die das damals kurrente Archivverständnis als solche zu benennen nicht zugelassen hätte. Ich werde also ein Archivverständnis entwickeln, das sich nicht als Legitimations strategie versteht und das nicht auf Evidenz der Archivalien, das Amtliche, das Vollständige abstellt. Vielmehr soll es den Schwerpunkt auf die Tatsache legen,
8 Zedler, Bd. 2, S. 644. Sp. 1244. 9 Zedler, Bd. 2, S. 644. Sp. 1244.
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daß etwas niedergelegt und gesammelt wurde. Darüber hinaus soll es sich von der obligatorisch papiernen Konsistenz der Archivalien lösen und auch andere (ihrerseits natürlich textuell vermittelte) Sammlungen als Archiv zu benennen erlauben. D. h. es muß sich zwangsläufig auch auf die Objekte, die Art ihrer Auf bewahrung und vor allem ihre Materialität konzentrieren – damit wären wir nun bei den expliziten Archivtheorien angelangt.
2. D as Archiv als ›Volltext-Datenbank ohne Indices und ohne Links‹ Baßler bezeichnet den Charakter seiner Theorie als den »eines Organons, eines Werkzeugs« und führt aus, »genau das war von Beginn an die Absicht unseres Theoretisierens: ein analytisches Instrument so weit wie nur irgend möglich zu schärfen.«10 In praxi exemplifiziert wird seine ›Kulturpoetik‹ dann freilich nicht. Schuld daran sind letztlich die schiere Größe des zu untersuchenden Feldes, sprich: des Archivs und damit einhergehend das Problem eines adäquaten Zugriffs auf eben dieses. Vonnöten wäre eine umfassende Datenbank, die alle verfügbaren Texte einer Zeit digitalisiert enthielte. Baßler legitimiert die Ausrich tung seiner Arbeit am Archiv wie folgt: Die Idee ist letztlich höchst einfach: Weil Texte per definitionem nicht nur lesbar, sondern immer wieder lesbar sind, ist es möglich, sie immer neu zu kontextualisieren, das heißt: sie mit anderen Texten zu vergleichen, die ebenfalls immer wieder lesbar sind. Die Archiv analyse, in die man damit eintritt, ist keine Erweiterung der Lektüre, sie macht nur explizit, was immer schon Bedingung der Lektüre war und ist. […] Eine solche durchaus immanente Lektüre kann sich aber nicht auf die Sequenz beschränken, sie muß auf das Archiv ausge dehnt werden.11
Vor allem liegt ihm daran, ›Kultur‹ ans Textuelle rückzubinden, was aus seiner Sicht die Voraussetzung dafür ist, daß der Literatur- bzw. Kulturwissenschaftler sie überhaupt erst zu untersuchen vermag. Damit ist Baßler bei dem für die vor liegende Arbeit zentralen Punkt angelangt: beim Archiv. Es sei hier einer einge henderen Betrachtung unterzogen, da seine Eigenschaften die Grundlage bilden sollen für meinen Archivbegriff. Der »Clou« seines Textualitätsmodells besteht für Baßler darin,
10 Beide Zitate: Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwis senschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005. S. 362. 11 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 363 f.
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Das Archiv als ›Volltext-Datenbank ohne Indices und ohne Links‹
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daß man zwar das Korpus (das Archiv, die Datenbank) als materielles und begrenztes fixie ren kann, die semantische Dimension des Einzeltextes, als Funktion der möglichen Para digmenbildung und Vernetzung zwischen den Texten dieses Korpus, jedoch offenbleibt.12
Eine offenbleibende semantische Dimension ist nun deshalb problematisch, weil sie als ins Unendliche bzw. – horribile dictu vor allem für Hermeneuten – ins Beliebige ausufernd (miß-)verstanden werden könnte. In einem eigenen Kapitel widmet sich Baßler daher der Frage »Wie weit darf man gehen?«13 Auf jeden Fall, so Baßler, weiter, als es sich der Autor eines Texts träumen ließe, denn dieser könne den »Sinn, die semantische Streuung seines Textes nicht kontrollieren«,14 da es sich eben nicht mehr um Kommunikation handle, sondern um einen Text. Prinzipiell verliere sich die Reichweite intertextueller Verbindungen nicht von vornherein ins Uferlose; sie sei vielmehr rein vom Text selbst abhängig und damit (wenn auch nur potentiell) begrenzt: »Das Maß der angemessenen Semiose ist allein der Text (wohlgemerkt: Syntagma und Paradigma).«15 Auf die Frage, was denn nun ein Text sei, antwortet Baßler zunächst allge mein, ein Text sei eine Repräsentation, die man analysieren könne. Und ana lysieren bedeute, daß man ihn »lesen und wiederlesen kann, daß man auf ihn zurückkommen kann, daß er aufgezeichnet, gespeichert und somit potentiell zugänglich ist.«16 Nachdem mit Baßler die Materialität, d. h. die Textualität des Archivs stark gemacht wurde, wird nun auf seine Auseinandersetzung mit den Archivent würfen Foucaults und Derridas eingegangen.17 Das geschieht zum einen, um seinen Standpunkt zu akzentuieren. Zum andern ist es notwendig, um auf Fou caults und Derridas Überlegungen später zurückgreifen zu können, wenn es um die Lektüre von Textstellen zum Archiv in den ›Wanderjahren‹ geht, die Macht und Zugriffsfragen explizit thematisieren. Foucault formuliert seinen Archivge danken so: All diese Aussagensysteme (Ereignisse einerseits und Dinge andererseits) schlage ich vor, Archiv zu nennen. Mit diesem Ausdruck meine ich nicht die Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen
12 Beide Zitate: Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 88. 13 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 79–85. 14 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 80. 15 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 84. Kursivierung im Original. 16 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 111. 17 Hier ist nicht der Ort, eine extensive Foucault-/Derrida-Lektüre und -Diskussion zu betreiben. Es geht lediglich darum, die Schwerpunktsetzungen bzw. verschiedenen Paradigmen der unter schiedlichen Archivkonzeptionen sichtbar zu machen.
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Identität bewahrt hat; ich verstehe darunter auch nicht die Einrichtungen, die in einer gege benen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren, die man im Gedächtnis und zur freien Verfügung behalten will. […] Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzel ner Ereignisse beherrscht.18
Unter ›Dingen‹ versteht Foucault Aussagen zu Dingen, unter ›Ereignissen‹ dagegen im Entstehen begriffene Aussagen.19 Allgemein läßt sich konstatieren: Bei Foucaults Archiv handelt es sich um die Voraussetzungen für das Entstehen, Vorhandensein und wieder Entschwinden von Aussagen in einer Kultur.20 In dieser Hinsicht hat es weniger materiellen als vielmehr performativen Charakter. Es präformiert die Bedingungen für die Aussagbarkeit von Dingen genauso, wie es das nicht Sagbare ausschließt.21 Die vielzitierte Schlüsselsequenz Foucaults zum Archiv lautet: »Es ist das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen.«22 Für Foucault ist das Archiv also weder Tradition noch Universalbibliothek; es ist ausdrücklich auch nicht ›die Summe aller Texte‹. Da seine Bestimmung in dieser Hinsicht recht vage bleibt, ist es für die Textarbeit
18 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. (= stw 356). Frankfurt am Main 1981. S. 186 f. An der Uneindeutigkeit dieser Beschreibung stößt sich Ernst: »So attraktiv diese Formulierung als Befreiung des Begriffs aus seiner eng archivwissenschaftlichen Umklammerung erscheint, so gegenstandslos ist er auf den zweiten Blick. Denn nirgendwo gibt Foucault dieses Dispositiv, wie es bei ihm an anderer Stelle auch heißt, in seiner Positivität an.« (Ernst, Wolfgang: Zwischen Imagination und Gedächtnis. Bildarchive der Goethezeit. In: Theile, Gert (Hg.): Das Archiv der Goethezeit. Ordnung – Macht – Matrix. München 2001. S. 83–116. Hier: S. 83). 19 Vgl. Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon. Entwicklung, Kernbegriffe, Zusammenhänge. Paderborn 2007. S. 71. Petra Gehrings Bemühungen um den Begriff machen deutlich, wie schwer er zu fassen ist: »Eine Aussage muss einen Korrelationsraum haben, sie ist singulär, aber sie stellt […] Bezüge her. Foucault definiert die Aussage mit Sorgfalt als weder substanzielle noch semantische noch logische noch auch pragmatische (also Handlungs-) Einheit, sondern allein als eine wirkliche Einheit, als etwas das existiert, als eine ›spezifische Existenz‹ […].« (Gehring, Petra: Foucault – Die Philosophie im Archiv. Frankfurt am Main/New York 2004. S. 56. Kursivie rung im Original). 20 Vgl. Ruoff: Foucault-Lexikon, S. 71 f. 21 Ernst schreibt: »Die Unmöglichkeit, das Archiv gleichzeitig zu denken und zu schreiben, do kumentiert Foucault, der in seiner Archäologie des Wissens das Archiv theoretisch behauptet, es in seiner Histoire de la folie aber nicht expliziert. Das Archiv ist gerade im Verborgenen (gleich sam positiviert in der gleichnamigen Formatierungsoption der laufenden Textverarbeitungspro gramme) am Werk, analog zu Foucaults paranoider Machttheorie, der er hier selbst unterliegt.« (Ernst, Wolfgang: Im Namen von Geschichte. Sammeln – Speichern – Er/Zählen. Infrastruktu relle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses. München 2003. S. 45. Kursivierungen im Original). 22 Foucault: Archäologie des Wissens, S. 188. Kursivierungen im Original.
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nur schwer fruchtbar zu machen. Baßler kritisiert an Foucaults Archiv, die dort angeführten Diskurse23 seien eben nur »als Regularitäten gedacht, die die histo rischen Ereignisse und ihre Streuung steuern.«24 Bei Foucault fehle, so bringt es Baßler auf den Punkt, ein Textbegriff; er spreche selbst dann »von Aussagen, […] noch in hermeneutischer Begrifflichkeit, wenn er längst von Textbefunden spre chen sollte«.25 Baßler entwickelt sein Diskursverständnis daher in Abgrenzung zu dem Foucaults: Diskurse als Textkorpora – das haben wir so nicht gelernt, klingt jedoch zunächst einmal sympathisch konkret und kompatibel mit unserer Bestimmung des Archivs als Textkorpus.26
Baßler stellt den Diskurs, wenn man so will, auf textuelle Füße. Daher kann er formulieren: »Ein Diskurs ist (oder ist analysierbar nur als) ein intertextueller Zusammenhang.«27 Das schließt aber nicht aus, »daß man in der Praxis nie alle Texte, die einmal einen Diskurs ausmachten, zu fassen geschweige denn analy siert bekommt«28 – was grundsätzlich auch gar nicht intendiert sein wird. Der Forscher hat sich in der empirisch gegebenen Datenmenge immer zu bescheiden, z. B. indem er intersubjektiv nachvollziehbare Einschränkungen bei der Auswahl dessen angibt, was in seiner Untersuchung nun unter den Diskursbegriff fällt und was nicht; denn sonst wäre eine Analyse aufgrund der schieren Datenmenge nicht möglich. Ähnliches legt Ecos Begriff der ›Narkotisierung‹ von Teilen des (bei Eco: semantischen) Archivs nahe.29 Dies sieht auch Baßler:
23 Foucault selber spricht von der »Uneindeutigkeit« seines Diskursbegriffs (Foucault: Archäo logie des Wissens, S. 156). Vgl. zum Foucaultschen ›Diskurs‹, der Schwierigkeit seiner Definition und der nichtsdestotrotz bis zur Beliebigkeit reichenden Verwendung desselben: Ruoff: Fou cault-Lexikon, S. 91–101. 24 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 29. 25 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 97. 26 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 185. Hervorhebungen: M. B. Er bezieht sich auf: Busse, Dietrich & Wolfgang Teubert: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Me thodenfrage der historischen Semantik. In: Dies. & Fritz Hermanns: Begriffsgeschichte und Dis kursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opla den 1994. S. 10–28. 27 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 197. 28 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 188. 29 Vgl. Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München 1990. S. 89 und S. 107 f.
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Archivkonzepte [Das] Unterdrücken der im Archiv vorhandenen anderen diskursiven Möglichkeiten, der alternativen Paradigmen und Kontexte eines Ausdrucks, ist Bedingung für jede pragma tisch-diskursive Beschränkung von Sinn […].30
Baßler kommt zu dem Schluß: »Ein Diskurs im oben definierten Sinne ist eine Äquivalenzstruktur in einem Archiv«.31 Baßlers Kritik an Foucault zusammenfas send, kann man festhalten: Foucaults Archiv ist ein »systemisches Set kulturel ler Regeln«, ein »ideelle[r] Datenträger, ein quasi-göttliches Speichersystem«.32 Baßler stört sich daran, daß es keinen Ort hat, nirgends greifbar ist und fragt darum: »Wo und was ist das Archiv?«,33 um gegen Foucault zu dem Standpunkt zu kommen, ein Archiv ohne Grundlage, ohne Träger sei undenkbar. Wohlge merkt: Baßler braucht etwas, das sich fassen und damit auch analysieren läßt, deshalb streicht er die Textualität so nachdrücklich heraus – er behauptet nicht etwa, Foucault irre sich grundsätzlich. Gleiches gilt für Derridas Archivkonzept. Im Gegensatz zu Foucault bezieht Derrida den Datenträger zwar ab ovo in sein theoretisches Kalkül mit ein – gilt ihm doch jede Art von Aufzeichnung bereits als Archivierung.34 Damit scheint sein Archivverständnis auf den ersten Blick recht nahe an der Baßler so wichtigen Materialität des Archivs situiert zu sein. Für Derrida sind ans Archiv jedoch immer Fragen nach der Auswahl und Anwendung gekoppelt, eng verknüpft mit der Aufmerksamkeit auf das Archiv aus seiner Sicht eben nicht nur tangierende, sondern es dominierende Traditions- und Machtfragen: »Kein Archiv ohne einen Ort der Konsignation, ohne eine Technik der Wiederholung und ohne eine gewisse Äußerlichkeit. Kein Archiv ohne Draußen.«35 Archiv ist für Derrida auch das, was den Ursprung, die arché,36 verwaltet, also
30 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 194. 31 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 197. 32 So Baßler an Boris Groys anschließend (Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 177). 33 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 176. 34 Vgl. z. B. Derridas Rede vom »Träger« des Archivs, auf dem etwas ›eingeschrieben‹ werden könne. (Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997. S. 12 f. & pas sim). 35 Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 25. Kursivierungen im Original. 36 Ob der von Derrida postulierte »Doppelcharakter des Archivs als Anfang und Gebot (arché)« ein etymologisch gegebener ist, oder nur »etymologisierend hergestellt[ ]« wurde, möchte Baßler nicht entscheiden. – Ich auch nicht. (Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 179. Kursivierung im Original). Vgl. dazu auch Günzels Einwand, »die Annahme einer notwendigen etymologi schen Reflexion setzt voraus und spielt gleichermaßen mit der Möglichkeit, daß sich die Bedeu tung durch die Zeit hindurch erhalten hätte und also auch von allen heutigen Archiveinrich tungen in vergleichbarer Weise Macht ausgeht wie von den antiken Orten. Das mag freilich in einigen Fällen so sein, doch liegt dies nicht in dem Wort oder dem Ursprung begründet, sondern in der jeweiligen institutionellen Praxis, von der die Dekonstruktion – geradezu unhistorisch –
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auch Autorität, und, »mit Walter Benjamins Worten spielend, errichtende und erhaltende Gewalt«.37 Diese Fragen sind »auf der performativen Achse angesie delt, nicht auf der textuellen. Gerade dadurch wird aber«, laut Baßler, »der Blick auf das materiell tatsächlich vorliegende Archiv wieder verstellt.«38 Dazu kommt noch, und das erwähnt Baßler nicht, daß Derrida explizit gar keinen klar umris senen Archivbegriff gibt oder geben will: Wir haben keinen Begriff, bloß eine Impression, eine Reihe von mit einem Wort verknüpften Impressionen. Ich stelle hier die Strenge des Begriffs dem Vagen oder der offenen Unge nauigkeit, der offenen Unbestimmtheit einer solchen Annahme gegenüber. ›Archiv‹ ist nur eine Annahme, eine mit einem Wort verknüpfte Impression, für die […] wir keinen Begriff haben.39
Baßler versucht sich von Derrida abzugrenzen, der ein Archiv propagiert, das immer schon vorsortiert ist – als Folge einer Auswahl, als Machtinstrument, als Verwaltungswerkzeug, als ein schon geordnetes, hierarchisiertes. Aus Baßlers Perspektive überspringen Derridas Überlegungen zum Archiv schlicht den »Objektbereich Text«, ohne ihn in Frage zu stellen.40 Mit Baßler kann man Archivtheoretiker wie Foucault und Derrida dahinge hend kritisieren, daß sie den Fokus auf die Peripherie der Archive richten, d. h. auf Wissensdispositive, Macht- und Zugriffsfragen sowie das Performative. Inso fern sind sie nicht die richtigen Gewährsmänner für ein Archivkonzept, wie es Baßler vorschwebt.41 In Abgrenzung zu ihnen entwickelt dieser nun das seiner ›Kulturpoetik‹ zugrundeliegende Archivverständnis. Das Archiv möchte Baßler unter Rückgriff auf eine Formulierung von Boris Groys verstanden wissen als »real existierendes« und »durch die Zerstörung bedroht und deswegen endlich, exklusiv, begrenzt«.42 Dabei ist zu betonen, daß Zerstörung in diesem Zusammen hang keineswegs als ein mit emphatischer Entrüstung zu mißbilligender Vorgang mißverstanden werden darf. Es geht schlichtweg darum, daß etwas, das als Material vorhanden ist, eben auch immer implizit seine potentielle Auflösung in sich
absieht.« (Günzel, Stephan: Archivtheorie zwischen Diskursarchäologie und Phänomenologie. In: Ebeling & Günzel (Hgg.): Archivologie, S. 153–162. Hier: S. 153). 37 Fohrmann, Jürgen: »Archivprozesse« oder über den Umgang mit der Erforschung von ›Archiv‹. In: Pompe, Hedwig & Leander Scholz: Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Einleitung. Köln 2002. S. 19–23. Hier: S. 20. 38 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 178. 39 Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 55. Kursivierungen im Original. 40 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 179. 41 Der ein Abdriften der Diskussion des Archivbegriffs in Machtfragen etc. nur deshalb vermei den möchte, um die ganz konkrete Konstitution des Archivs nicht aus den Augen zu verlieren. 42 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 178.
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trägt. Damit wird noch einmal der unprätentiöse Zug der Materialität deutlich, der für den Baßlerschen Archivgedanken so wichtig ist. Wie sieht das Archiv, das er als die »Ausgangsbedingung jeder kulturwissenschaftlichen Arbeit«43 bezeich net, nun aber genau aus? Zuerst geht Baßler »vom Archiv als einer bloßen Sammlung der gegebenen Untersuchungsobjekte«44 aus. Er konzediert zwar, daß »im wirklichen Leben die Texte immer schon irgendwie rubriziert, eingeordnet und bewertet auf uns« kommen, bleibt aber dabei, daß das kulturwissenschaftliche Archiv »sämtliche Texte, zu denen der Einzeltext in Beziehung gesetzt werden kann, aber noch nicht diese Beziehungen selbst«45 enthalte: Das Archiv, um das es mir geht, darf ja gerade kein hierarchisch geordnetes, bereits mit Indices des Verstanden-Habens versehenes sein, sondern müßte zunächst rein nebenordnend ange legt werden und die unterschiedlichsten, bei seiner Anlage nicht antizipierten Suchbefehle zulassen. Zugespitzt wäre es also durchaus ›sans ordre et sans ordre‹ zu denken.46
Unter ›sans ordre et sans ordre‹47 versteht Baßler, daß es nicht hierarchisch geordnet und auch »nicht indexikalisiert oder strukturiert« ist.48 Die strukturelle Anlage (falls hier überhaupt von einer Struktur gesprochen werden kann) müsse vielmehr eine des Nebeneinander sein, um den Möglichkeitsraum zu schaffen für die vielfältigsten, »bei seiner Anlage noch nicht antizipierten Suchbefehle«.49 Es geht Baßler dabei ausdrücklich um ein rein an der Achse der Textualität ori entiertes Archiv, und der Rest (nicht ins Archiv Aufgenommenes, Machtmecha nismen, Ausschlußprinzipien) interessiert ihn nicht – oder nur in ihrer Eigen schaft als sekundäre, dem Archiv nachgeordnete Phänomene, denn erschlossen werden könnten diese ja wiederum nur durch den Umweg über Texte aus dem Archiv. Wenn er vom Archiv als einer »Volltext-Datenbank ohne Indices und ohne Links«50 spricht, meint Baßler:
43 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 181. 44 Baßler, Moritz: Was nicht ins Archiv kommt. Zur Analysierbarkeit kultureller Selektion. In: Die Szene der Gewalt. Bilder, Codes und Materialitäten. Hg. v. Tyradellis, Daniel & Burkhardt Wolf. Frankfurt am Main u. a. 2007. S. 61–75. Hier: S. 66. Hervorhebungen: M. B. 45 Beide Zitate: Baßler: Was nicht ins Archiv kommt, S. 67. 46 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 179. 47 Baßler zitiert hier Derrida (vgl. Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 73). 48 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 182. 49 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 179. 50 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 182.
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Als Archiv bezeichnen wir, wie oben entwickelt, die Summe aller Texte einer Kultur, die einer Untersuchung zur Verfügung stehen. Im Archiv sind diese Texte einander gleich- und nebengeordnet zugänglich. Das Archiv ist ein Textkorpus. Innerhalb dieses Korpus können, sozusagen per Suchbefehl, Stellen markiert werden, die untereinander äquivalent sind […]. Diese Stellen ergeben eine intertextuelle Äquivalenzstruktur […]. Als Funktion eines Korpus ist auch diese Äquivalenzstruktur nur synchron zu denken. Das Korpus aller Texte, in denen sich Okkurrenzen dieses Diskurses finden, nennen wir Diskurskorpus […], es kann bestimmt werden als eine Teilmenge des Archivs, die über einen bestimmten Suchbefehl und die jeweilige Einheit ›Einzeltext‹ definiert ist.51
Dieses Archiv ist so groß, daß Belesenheit nicht mehr ausreicht, um kulturell bedeutsame Diskurse in der ihnen eigenen Vielfältigkeit herausarbeiten zu können. Baßler redet vom Volltext und vom Suchbefehl nicht nur metaphorisch, sondern im Hinblick auf eine tatsächlich zu erstellende digitale Datenbank, die – im Idealfall – alle Texte einer Kultur enthielte. Dazu müßte jedoch eine innovative Suchmaschine mitentwickelt werden, um sinnvolle Suchbefehle jen seits der bloßen Schlagwortsuche formulieren und ausführen zu können.52 Für unser Archivverständnis ist dieses Desiderat der Digitalisierung nicht weiter von Bedeutung. Grundlegend jedoch ist die Einsicht, daß im Archiv Dinge (konkret: Texte) so gespeichert sind, daß man wiederholt auf sie zugreifen kann. Es ist eine reine Sammlung von Untersuchungsobjekten und ist so gesehen eben gerade noch nicht, wie andere Archive, das Resultat einer ihm vorgängigen genauen Selektion. Seltsamerweise nimmt Baßler hier eine weitere Unterscheidung vor. Er grenzt dieses eben hergeleitete Archiv als ein rein der »textualistischen Kulturtheorie« angehöriges ab von jedem »konkrete[n] Archiv« und »jede[m] konkrete[m] Text«,53 denen zugrunde immer schon Selektion, Macht, Instrumentalisierung etc. lägen. Das scheint mir nach all dem theoretischen Aufwand nicht ganz nachvollziehbar. Ein Text hätte dann ja folglich eine Art Doppelstatus: einmal
51 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 196. Kursivierungen im Original. »Diskursive Einhei ten, Okkurrenzen, Treffer eines entsprechenden Suchbefehls können genau all jene Elemente sein, die innerhalb eines Archives zueinander äquivalent sein können.« (Baßler: Die kulturpoe tische Funktion, S. 196). 52 Vgl. dazu Baßler: ›Volltext-Datenbanken in der kulturwissenschaftlichen Praxis‹ in: Ders.: Die kulturpoetische Funktion, S. 321–332. Daß die zu projektierende Volltextdatenbank wieder um auf das Archiv zurückwirken könnte, entgeht Baßler. Derrida sieht dies, wenn er notiert »die technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft. Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet.« (Derrida: Dem Archiv verschrie ben, S. 35. Kursivierungen im Original). 53 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 181.
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als materiale Entität, ein andermal als etwas seltsam Schwebendes, umschwirrt von Macht-54 und Zugriffsfragen (im Sinn Foucaults). Könnte man hier nicht – mit Baßler gegen Baßler – geltend machen, daß der Text, durchaus und gerade wie bei Baßler gelernt, zunächst materiell gegeben sein muß, um wahrgenommen, untersucht, gelesen werden zu können. Und ihm andererseits gleichzeitig zwar das ihn Umschwirrende zugestehen, aber ebenfalls immer unter dem Vorbehalt, daß dies selbst eben auch materialiter zu denken ist. Denn auch Indices, Hierar chisierungen, Ordnungen sowie Verbote jeder Art hinterlassen ja ›Spuren‹, sind selber wiederum als Texte lesbar (auch und gerade dann, wenn versucht wird, sie dem Archiv vorzuenthalten, ihm zu entreißen, sie auszustreichen oder unkennt lich zu machen).55 Das nähert das Baßlersche Archiv dann der oben referierten Position Foucaults doch wieder an. An anderer Stelle argumentiert Baßler: »Aber etwas wird überhaupt erst zum Text oder als Text lesbar durch seine Beziehung zu anderen Texten, intertextuell«56 – dem möchte ich hinzufügen, so banal es klingen mag, daß etwas erst geschrieben werden muß, um zum Text zu werden – und so werden eben auch die Archive zum Text. Das Vertexten, egal mit welcher Intention, gleich, ob es sich um einen Kassenzettel handelt oder um ein Gedicht, ist die Grundvoraussetzung eines Texts. Das impliziert Baßler wahrscheinlich stillschweigend, wenn er von der unabdingbaren textuellen Beschaffenheit des Archivs redet. Genau damit ziehen dann aber doch wieder, gleichsam durch die Hintertüre, Fragen nach den Auswahlkriterien mit ins Baßlersche Archiv ein. Es gibt so gesehen noch eine Ebene unterhalb der, auf der Foucault und Derrida argumentieren, die ja immer dann von Selektionskriterien und Machtdispositi ven sprechen, wenn es z. B. darum geht, was ins Archiv aufgenommen wird, wer darauf zurückgreifen, wer es verwalten darf.57 Doch dem ist wie gesagt vorgän
54 Beispielsweise: »Die (Macht-)Praxis des Archivs heißt also Datenlöschung – eine Funktion, die gegenüber dem öffentlichen Diskurs kaschiert wird, wo erfolgreich die Konnotation von Archiv und Bewahrung installiert ist.« (Ernst, Wolfgang: Das Archiv als Gedächtnisort. In: Ebe ling, Knut & Stephan Günzel (Hgg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. (= Kaleidogramme Band 30). Berlin 2009. S. 177–200. Hier: S. 188). 55 Das meint auch Ernsts Feststellung, »Zensur ist die sicherste Garantie für Archivierung« (Ernst: Rumoren der Archive, S. 76). In einer späteren Arbeit weist Baßler auf das versuchte Lö schen aus dem Archiv und dessen Vergeblichkeit, ja geradezu im Gegenteil, dessen zwangsläu fige Produktivität und Sich-Bemerkbarmachen hin. Damit impliziert er auch die Materialität der Neukategorisierungsversuche, der Indices, des Ausstreichens (vgl. Baßler: Was nicht ins Archiv kommt, S. 74.). 56 Baßler: Was nicht ins Archiv kommt, S. 67. 57 »Darüber hinaus liegt das Fehlen mancher Dinge nicht nur darin begründet, daß sie von Anfang an nicht als archivwürdig und bewahrenswert galten; seit dem 19. Jahrhundert ist das Aussondern und Vernichten von Archivbeständen, die sogenannte Kassation, Bestandteil archi
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gig, daß überhaupt jemand sich die Mühe macht, etwas zu verschriftlichen – und auch das dokumentiert bereits eine Auswahl. Man kann Baßler also nicht vor werfen, Macht finde bei ihm keine Erwähnung oder spiele keine Rolle.58 Baßlers Text bleibt in dieser Hinsicht ambivalent und scheint den (zugegeben gewagten) Sprung nicht so recht tun zu wollen, seinen textualistischen Archivbegriff auch für das, was gemeinhin als ›reales Archiv‹ (z. B. Bibliothek, Sammlung, Zettelkas ten) bezeichnet wird, geltend zu machen. Zur Beschreibung solcher Archive, so Baßler, »taug[e] er freilich nicht.«59 Genau so, wie man in einer Enzyklopädie etwa das Lemma Enzyklopädie nachschlagen kann, ermöglicht eine dem Archiv verschriebene Kulturpoetik à la Baßler, daß man den Suchbefehl ›Archiv‹ in einen Text schickt, um damit dann all das zu erfassen, was man ihr zufolge als ein Archiv verstehen darf. Zumal, wenn man nachweisen kann, inwiefern diese Form von Archiv (jegliche Art von vertexteter Sammlung) nicht willkürlich gewählt ist, sondern sich historisch in der Nähe des zu analysierenden Texts bereits vorbereitet und ankündigt. Als Annäherung an einen solchen pragmatischen Archivbegriff dient die Betrachtung eines »Die Keyserliche Bibliothec«60 überschriebenen Stiches.
varischer Alltagsarbeit. Dennoch sind die Kriterien und Wertmaßstäbe, die dabei gelten, eher selten dokumentiert und nachvollziehbar.« (Rieger, Monika: Anarchie im Archiv. Vom Künstler als Sammler. In: Ebeling, Knut & Stephan Günzel (Hgg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. (= Kaleidogramme Band 30). Berlin 2009. S. 253–269. Hier: S. 255). 58 ›Macht‹ heißt hier: was wird textualisiert, was nicht? Bereits der Übergang vom Medium der Handschrift zu dem des gedruckten Buchs verlangte Selektion – noch lange, bevor es etwa um Fragen der Archivierung der Druckerzeugnisse selbst ging. Dabei spielte eine Rolle, daß beim Medienwechsel gar nicht alles in die neue (Buch-) Form transformiert wurde (vgl. Eybl, Franz M.: Vom Sammeln alter Bücher oder Das Einzigartige und die Masse. In: Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg.: Eder, Thomas, Samo Kobenter, Peter Plener. Wien 2010. S. 320–334. Hier: S. 322). 59 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 182. Genau dazu werde ich ihn weiter unten – ent gegen der Intention seines Schöpfers – heranziehen: zur Definition von jeglicher Art von Samm lung, die im ›Wanderjahre‹-Text vorkommt als ein Archiv. Das in der ›kulturpoetischen Funktion‹ dargelegte Archiv wird als theoretischer Gewährsmann extrahiert und modifiziert. 60 Das Bild ist entnommen aus: Zedelmaier, Helmut: Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkas ten. In: Pompe, Hedwig und Leander Scholz (Hgg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln 2002. S. 38–53. Hier: S. 39. Ich gebe nur einen Ausschnitt wieder (die schein bar bucklichten Figuren sind solche natürlich nicht, sondern verbeugen sich ›unterthänigst‹ vor dem – von mir weggeschnittenen, da für meine Diskussion unwichtigen – herannahenden Kai ser). Im Bild findet sich der Schriftzug »Die Keyserliche Bibliothec.« Interessant ist, daß ebendie ses Bild in einem anderen Kontext auch auftaucht, wo diese Beschriftung fehlt. Dafür wurde es dort von einem Zeitgenossen untertitelt mit: »Die Keyserliche Bibliothec und Raritäten Kamer.« (Brown, Edward: Durch Niederland/Teutschland/Hungarn/Serbien/Bulgarien/Macedonien/ Thessalien/Oesterreich/Steirmarck/Kaernthen/Carniolen/Friiaul etc. [!] gethane gantz sonder
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Abb. 1: Die Keyserliche Bibliothec. Ausschnitt aus: Zedelmaier, Helmut: Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkasten.
Lassen wir einmal beiseite, daß der Zugang zu diesem Archiv wohl limitiert war, daß der Kaiser es beeinflußt haben mag, und konzentrieren wir uns darauf, wie Archivierung hier dargestellt wird, was archiviert ist und was als marginal insze niert wird. Bei dieser Fokussierung sticht ins Auge, daß eine regelrechte Bücher wand das Bild dominiert. Hinter dem bogenförmigen Durchbruch jedoch eröffnet sich die Perspektive auf Zettelkästen und, an der Wand hinter jenen, auf eine Rari tätensammlung, eine Sammlung von Dingen also. Diese sind teils fein säuberlich an die Wand genagelt, teils lagern sie auf den Zettelkästen, teils sind sie an der
bare Reysen. Nürnberg 1685. Ad. S. 242. [übrigens wird hier der Buchtitel selbst zur Liste …]). Auf das X. Kapitel, in dem der Stich abgebildet ist, folgt das ›XI. Kapitel. Eigentliche und genaue Beschreibung der kayserlichen Schatzkammer. Erzehlung etlicher trefflicher Raritäten in diesem kayserlichen Cabinet.‹ Bibliothek und Sammlung stehen also auch in Browns Text direkt neben einander (vgl. ebda. S. 247 ff.).
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Decke aufgehängt. Der Kronleuchter übrigens hängt genauso dort und würde von einem außenstehenden (d. h. über unsere Kultur ununterrichteten) Betrachter zweifelsohne auch als Archivalie gelesen werden. Grund dafür ist das kommen tarlose Nebeneinanderstehen/-hängen der einzelnen Objekte. Meist scheint es sich beim Dargestellten um Tiere oder Teile von solchen zu handeln, doch mitten darunter befindet sich auch etwas, das einer Rüstung ähnlich sieht. Außerdem sind technische Gegenstände auszumachen. Nur der Modus der Aufbewahrung eint diese völlig verschiedenen Dinge – abseits davon könnten sie als belanglos klassifiziert werden (Ketten, Kruzifixe, Tiere, Extremitäten, Torsi, Winkel; diese Reihe kann man fortsetzen mit den Engeln, den Kerzen am Kronleuchter und dem an diesem unten angebrachten Kreuz. Mit einer gewissen historischen Distanz könnte man sogar die Leitern mit einbeziehen).61 Hier läßt sich nicht nur das Phänomen des Nebeneinanderstehens verschie dener Dinge beobachten. Auch unterschiedliche Archivierungssorten stehen sich gegenüber und werden gleichsam ausgestellt. Obwohl die Sektionen eigentlich räumlich voneinander getrennt sind, ist das Bild doch so perspektiviert, daß sie alle auf einen Blick wahrgenommen werden können. Man kann einen Vierschritt ausmachen: ganz hinten, außerhalb des Torbogens und wohl auch außerhalb des Gebäudes, sieht man (1) auf die Straße, wo die Lebenswirklichkeit spielen mag. Dann werden (2) die von dort mitgebrachten Sehenswürdigkeiten in einer Art Vorhof abgeliefert, besprochen, um danach (3) im anschließenden Raum auf bewahrt zu werden (sei es nun an den Wänden oder in den Kästchen). Schließlich (4), so könnte man folgern, wird das daraus gewonnene Wissen verschriftlicht in der Büchersammlung im Vordergrund gesammelt. Der Betrachter wird also in den Stand versetzt, die Transformation von Archivierungsarten mit nachzuvoll ziehen. Das Bild selber ist natürlich auch ein Archivierungsmodus. Es archiviert die Bücherregale, die Zettelkästen, das Raritätenkabinett, den Kaiser, die abge bildeten Menschen in ihrer Funktion und selbst die Umwelt des Archivs über den dort hin durchlässigen Torbogen. Man könnte sogar behaupten, indem es den Schriftzug »Die Keyserliche Bibliothec.« auf der Bildfläche enthalte, archiviere es auch diese. Es stellt sicher, daß niemand etwa die Bildunterschrift verliere, indem es sie in sich einschreibt und damit dem anderen Archivierten gleichstellt. Sammeln läßt sich also ebenso als Archivieren verstehen, wie sich Sammlungen
61 Zum Topos der Kunstkammer nach wie vor unverzichtbar: Bredekamp, Horst: Antikensehn sucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunst geschichte. Berlin 1993. Sowie Ders.: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. (= Acta humaniora. Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie). Berlin 2004. S. 23–29.
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als Archive verstehen lassen. Ob man eine solche Übereinstimmung auch zwi schen Bibliothek und Archiv postulieren kann, klärt das nächste Kapitel.
2.1 Z ur (Nicht-)Unterscheidbarkeit von Archiv, Sammlung, Bibliothek und Museum Rien n’est moins sûr, rien n’est moins clair aujourd’hui que le mot d’archive (Jacques Derrida: Mal d’archive) »Und daher scheint es gar nicht so ungewöhnlich, wenn Bibliotheken immer wieder mit Archiven verwechselt werden.«62
Die vorrangige Funktion der Bibliothek63 ist nach Ernst die »Speicherung von Informationsträgern«.64 Bibliothek, Museum und Archiv hält er dennoch strikt auseinander, denn die unterschiedlichen Ordnungssysteme gehorchten jeweils eigenen Logiken.65 So einleuchtend diese rigorose Kategorisierung auf den ersten Blick sein mag so fraglich wird sie auf einen zweiten, der historische Besonder heiten berücksichtigt. Anders als Ernst bezeichnet nämlich Martin Schrettinger eine Bibliothek in seinem ›Handbuch der Bibliothek-Wissenschaft‹ (1834) ganz einfach als »eine beträchtliche Sammlung von Büchern«.66 Und Adelung spricht von mehreren Büchern als einem »Bücherschatz«.67 Ebenso scheut sich Goethe nicht, die Bibliothek im Positiven mit einer Schatzkammer und im Negativen mit einer Gerümpelkammer gleichzusetzen:
62 Mikoletzky, Lorenz: Archiv und Bibliothek – Eine ewige Begriffsproblematik. Sowie einige unmaßgebliche Gedanken zum Buch allgemein. In: Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg.: Eder, Thomas, Samo Kobenter, Peter Plener. Wien 2010. S. 390–394. Hier: S. 391. 63 »Im Mittelalter bezeichnete der Begriff ›Bibliothek‹ das Wissen überhaupt […]. ›Bibliothek‹ hieß sodann auch die Summe der Bücher insgesamt« (Eybl: Vom Sammeln alter Bücher, S. 321). 64 Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 757. 65 Vgl. Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 44. Später relativiert er diese Sichtweise, indem er eine konzeptionelle Nähe zwischen Museum und Archiv feststellt (vgl. Ernst: Im Namen von Ge schichte, S. 562). 66 Schrettinger, Martin: Handbuch der Bibliothek-Wissenschaft. Erster Theil, erster Abschnitt 1, §1. Neudruck der Ausgabe Wien 1834. Hgg.: Holger Nitzschner, Stefan Seeger & Sandro Uhlmann. Hildesheim 2003. S. 1. 67 Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mund art: mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Revidiert und berichtiget von Franz Xaver Schönberger. Wien 1808. Teil 1: A–E, Sp. 1001–1002.
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Eine große deutsche Bibliothek sah einer großen römischen ähnlich [1748, als Winckel mann als Bibliothekar gearbeitet hat]. Sie konnten mit einander im Besitz der Bücher wett eifern. […] Die Bibliotheken waren wirkliche Schatzkammern, anstatt daß man sie jetzt, bei dem schnellen Fortschreiten der Wissenschaften, bei dem zweckmäßigen und zweck losen Anhäufen der Druckschriften, mehr als nützliche Vorratskammern und zugleich als unnütze Gerümpelkammern anzusehen hat […].68
So wie Sammler sich gegenseitig ihr Gehortetes vorzeigen und in einem agonalen Verhältnis zueinander stehen können (›mit einander wetteifern‹), verhielt es sich laut Goethe mit den großen deutschen und römischen Bibliotheken. Sie waren Schatzkammern und somit Sammlungsraum. Jetzt, Goethe schreibt den Text 1805, seien sie verkommen zu negativ konnotierten ›zwecklosen Anhäufungen‹, ›unnützen Gerümpelkammern‹; er attestiert den Bibliotheken unübersehbar den Status von Sammlungen.69
3. Goethes Archivverständnis Goethes Archivverständnis unterscheidet sich ebenso von jenem seiner Zeitge nossen wie von unserem. Es wird dargelegt, um es vom damals kurrenten abgren zen und um es in Beziehung zu den ›Wanderjahren‹ setzen zu können. Schneider konstatiert: Goethes Verwendung des Archivbegriffs oszilliert zwischen dem strengen Gebrauch des Wortes, der im 18. Jahrhundert eigentlich ausschließlich der staatlichen Institution des Archivs vorbehalten war, und einer weit ausgedehnten Verwendung des Wortes.70
Allein ist Goethe mit dieser Praxis nicht. Buffon schreibt schon 1778 metapho risch von den ›Archiven der Erde‹, die man durchwühlen (›fouiller‹) solle: Comme, dans l’histoire civile, on consulte les titres, on recherche les médailles, on déchiffre les inscriptions antiques, pour déterminer les époques des révolutions humaines et cons tater les dates des événements moraux; de même, dans l’histoire naturelle, il faut fouiller
68 Goethe, Johann Wolfgang von: Winckelmann. In: Ders.: Werke. Insel Verlag. Bd. 6. Vermisch te Schriften. Frankfurt am Main 1965. S. 266–295. Hier: S. 281. 69 Auch Walter Benjamin bringt in seiner ›Rede über das Sammeln‹ Bibliothek (wenn auch Pri vatbibliothek) und Sammlung zusammen. Dies geschieht bereits im Titel: Benjamin, Walter: Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hgg.: Tiedemann, Rolf und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem: Bd. IV.1. Hg.: Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1972. S. 388–396. 70 Schneider: Archivpoetik, S. 24.
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les archives du monde, tirer des entrailles de la terre les vieux monuments, recueillir leurs débris, et rassembler en un corps de preuves tous les indices des changements physiques qui peuvent nous faire remonter aux différents âges de la nature.71
Auch Ernst Robert Curtius weist darauf hin, daß Goethes Gebrauch von Archiv vom zeitgenössischen Sprachgebrauch differiert.72 Er zeigt, daß Goethe die Archivterminologie recht ungezwungen verwendete auf Gebieten wie Amtsge schäft, Geschäft, Tagebuch, Brief, Natur73 und – darauf geht er nur ganz kurz ein – Dichtung.74 Goethe operiert mit Termini wie Sack,75 Tectur (Aktendeckel), Aktenfaszikel, Registratur, Entwurf, Notata (Notizen und Aktenvermerke), Repo situr, Privat-Acten und schließlich, »altfränkisch und lustig«: Lokulament.76 Schneider ergänzt zum einen, Goethe hätten Begriffe wie die eben angeführ ten als Metaphern gedient, um Aussagen anderer zu beurteilen und bewerten sowie dafür, Wichtiges von Unwichtigem und Aufbewahrungswürdiges von Aus schuß zu trennen. Andererseits habe ihm die Archivmetaphorik eine Abwehr von Positionen ermöglicht, die ihm nicht eingeleuchtet hätten.77 Außerdem erwähnt er Goethes Plan einer italienischen Kunstgeschichte und erklärt das Scheitern
71 Georges Louis Leclerc Comte de Buffon: Les Epoques de la Nature. Paris 1778. S. 1. Zit. n.: Fritscher, Bernhard: ›Archive der Erde‹. Zur Codierung von Erdgeschichte um 1800. In: Ebeling & Günzel: Archivologie, S. 201–219. Hier: S. 201. Hervorhebungen: M. B. 72 Curtius, Ernst Robert: Goethes Aktenführung. In: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur. 2. Aufl. Bern 1954. S. 57–69. 73 In einem Brief an Schiller vom 25. und 26. September 1797: »Nun soll es in einigen Tagen nach dem Vierwaldstädter See gehen. Die großen Naturscenen, die ihn umgeben muß ich mir, da wir so nahe sind, wieder zum Anschauen bringen, denn die Rubrik dieser ungeheuern Felsen darf mir unter meinen Reise-Capiteln nicht fehlen. Ich habe schon ein paar tüchtige Actenfascikel gesammelt, in die alles, was ich erfahren habe, oder was mir sonst vorgekommen ist, sich einge schrieben oder eingeheftet befindet, bis jetzt noch der bunteste Stoff von der Welt, aus den [sic] ich auch nicht einmal, wie ich früher hoffte, etwas für die Horen herausheben könnte. Ich hoffe diese Reisesammlung noch um vieles zu vermehren […].« (Schiller, Friedrich. Johann Wolfgang Goethe: Der Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Band 1: Text. Hg.: Oellers, Norbert. Stuttgart 2009. S. 483. Hervorhebungen: M. B.). 74 »Aber auch die Dichtung wird den Verwaltungsgeschäften angenähert. Ein Tagebuch-Eintrag verzeichnet: ›Redaction der Gedichte, der Museums-Acten‹ (15. Febr. 1815)« (Curtius: Goethes Aktenführung, S. 65). 75 Bedeutet Papiertasche, Umschlag und wird von ihm auch manchmal Kapsel genannt (vgl. Curtius: Goethes Aktenführung, S. 57). 76 Curtius: Goethes Aktenführung, S. 63. Ebendort heißt es: »Dieses Wort ist ein seltenes Pracht exemplar, ich kann es nur einmal belegen. Bei Seneca und Plinius bedeutet es Bücherregal, bei Goethe die Fächer eines Aktenschrankes.« – Wieder differiert Goethes Wortgebrauch vom über lieferten. 77 Vgl. Schneider: Archivpoetik, S. 23 f.
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des »Italienplan[s]« als den Auslöser für die »Reflexion auf das Archiv«.78 Der »enzyklopädische Optimismus«, d. h. die Überzeugung »das Gelesene und Gese hene zu einer abgeschlossenen Darstellung vereinigen zu können«79 sei letztlich verflogen. Übrig geblieben sei die Funktion der »Reduktion [der empirischen Datenmengen] durch die Technik des Archivierens«.80 Goethes privates Archiv habe den Reisenotizen so lange als Speicher gedient, bis sie zu einem späteren Zeitpunkt verarbeitet werden konnten, d. h. »[d]as Archiv läßt sich am besten als eine strukturierte Form der Vorläufigkeit verstehen.«81 Flach konnte zeigen, »daß Goethe neben solchen amtlichen Handlungen am Archiv in ganz privaten Angelegenheiten Interesse nahm.« Bevor er nach Italien abreiste, übergab er »zwei Kasten und ein Paket zur Aufbewahrung in das Archiv«.82 Sie enthielten Tagebücher, Manuskripte und nicht zuletzt Briefe, unter anderem an Frau von Stein, der er unter dem Datum vom 8. und 9. Dezember 1786 aus Rom mitteilte: Die Kasten auf dem Archive gehören dein, liebst du mich noch ein wenig; so eröffne sie nicht eher als biß du Nachricht von meinem Todte hast, so lang ich lebe laß mir die Hoff nung sie in deiner Gegenwart zu eröffnen.83
Hier wird die Diskrepanz von Goethes Archivverständnis zum damals kur renten zeitgenössischen überdeutlich. Nicht offizielle Akten werden nieder gelegt, sondern das Archiv dient als Aufbewahrungsort für höchst Privates. Goethe unterstreicht diese Sicht durch seine Bitte an Frau von Stein, die Kasten nicht vor seinem Tod zu öffnen, er appelliert an die Liebe der Adressatin, um sich ihre Loyalität zu sichern. Für solch intime Dinge, die in einem Archiv aufbewahrt werden sollen, braucht es anscheinend eine ihren persönlichen Eigenschaften entsprechende Absicherung – auf die üblichen Sicherheiten des Archivs allein scheint sich Goethe in diesem Fall nicht verlassen zu wollen. Als Belohnung für treues und nicht neugieriges Ausharren stellt er ein gemein
78 Beide Zitate: Schneider: Archivpoetik, S. 24. 79 Beide Zitate: Schneider: Archivpoetik, S. 27. 80 Schneider: Archivpoetik, S. 28. 81 Schneider: Archivpoetik, S. 29. 82 Beide Zitate: Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 50. 83 FA II 3, S. 183. Die einschlägigen Goethe-Ausgaben werden mit folgenden Kürzeln zitiert: Frankfurter Ausgabe: FA plus Abteilung, Band und Seitenzahl: z. B. FA I 10, S. 12; Münchner Ausgabe: MA plus Band und Seitenzahl: z. B. MA 17, S. 12; Hamburger Ausgabe: HA plus Band und Seitenzahl: z. B. HA XIV, S. 12; Weimarer Ausgabe: WA plus Abteilung, Band und Seitenzahl: z. B. WA IV 39, S. 171.
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sames ›Eröffnen‹ der Archivalien in Aussicht; von einem zweisamen Lesen der Materialien ist freilich keine Rede …
3.1 ›Archiv des Dichters und Schriftstellers‹ Ab 1822 beginnt Goethe damit, eine Sammlung seiner sämtlichen privaten schriftlichen Niederschläge zu veranstalten, die er ausdrücklich mit dem Begriff Archiv belegt. Die Planung und Ausführung der Gesamtausgabe seiner Werke ab diesem Zeitpunkt haben ihn zum gründlichen Nachdenken über die Anordnung und Zusammenfassung des Materials gebracht.84 Ein Jahr später erschien ein kleiner Aufsatz Goethes, der diesen Reflexionen gilt und einen bemerkenswer ten Titel trägt: ›Archiv des Dichters und des Schriftstellers‹. Er steht in der Mitte einer Aufsatz-Trias (1. ›Selbstbiographie‹, 2. ›Archiv des Dichters und Schriftstel lers‹, 3. ›Lebensbekenntnisse im Auszug‹), die 1822 entstanden und im ersten Heft von Band vier der Zeitschrift ›Kunst und Alterthum‹ erschienen ist. Der Titel taucht nicht als Überschrift auf, sondern ist ›nur‹ im Inhaltsverzeichnis auf dem Umschlag der Zeitschrift registriert.85 Diesem Aufsatz soll nun die Aufmerksam keit gelten. Er ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil sich an ihm belegen läßt, daß der ›Ausgabe letzter Hand‹ ganz dezidiert eine Art Goethescher Aufbewah rungstheorie zugrunde liegt. Goethe schreibt am 4. April 1825 an Sulpiz Boisserée über die Sammlung seiner Schriften: Das Archiv, worauf jetzt und künftig ein solches Werk [die ›Ausgabe letzter Hand‹] zu gründen ist, steht geordnet, jungen Männern, die es catalogirt haben, bekannt und so möchte der Klarheit und Sicherheit wohl nichts im Wege stehn.86
Das bedeutet für die ›Wanderjahre‹ von 1829, deren Erstveröffentlichungs ort besagte ›Ausgabe letzter Hand‹ ist, daß sie nicht nur Eingang in ein Archiv fanden, sondern daß sie ausdrücklich im Licht dieser Archivgedanken Goethes entstanden sind.87
84 Vgl. Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 45. 85 »Meistens findet man sie [die drei Aufsätze] gedruckt unter der Überschrift ›Entstehung der biographischen Annalen‹, wobei dann alle drei Aufsätze in einen zusammengezogen sind.« (Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 64. Fußnote 77). 86 Goethe: Briefe. November 1824 – Juli 1825. WA IV 39, S. 171. 87 Die erste Fassung entstand ja 1821, also vor der ›Ausgabe letzter Hand‹. Flachs Erkenntnisse sind daher vor allem deshalb interessant, weil sie sich auf Vorgänge beziehen, die zeitlich deut lich näher an der Entstehung der ›Wanderjahre‹ situiert sind und sogar direkt mit ihnen zu tun haben.
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Goethe überlegt im mittleren Teil ›Archiv des Dichters und Schriftstellers‹ der besagten Texttrias in einer Art biographischem Kassensturz mit darauffolgendem Ausblick in die Zukunft, »was ihm gelungen oder mißlungen sei« und was »ihm allenfalls zu thun noch obliege.«88 Er kann sich zwar beruhigt auf eine bereits bestehende Ausgabe seiner Werke berufen: »[I]ch sehe zwanzig Bände ästheti scher Arbeiten in geregelter Folge vor mir stehen«. Gleichzeitig aber antizipiert er den potentiellen Vorwurf der Unvollständigkeit, da er sich zeitlebens »bald hie, bald da versuchte und die Zeit, die man einem jeden auszuruhen vergönnt, mit vermannichfaltigtem Bestreben auszufüllen wußte.« Aus dieser Emsigkeit sei ein »Übel«89 entstanden, einige Vorhaben seien zum Stillstand gekommen, andere gar nicht erst ausgeführt worden: Ich enthielt mich, manches auszuführen, weil ich bei gesteigerter Bildung das Bessere zu leisten hoffte, benutzte manches Gesammelte nicht, weil ich es vollständiger wünschte, zog keine Resultate aus dem Vorliegenden, weil ich übereilten Ausspruch fürchtete.90
Die Gründe für das Übel des Unvollendeten scheinen in der wissenschaftlichen Redlichkeit des Forschers zu liegen. Gewissenhaft wollte er den Zeitpunkt abwar ten, an dem er über den augenblicklichen Wissensstand hinausgewachsen wäre (›bei gesteigerter Bildung das Bessere zu leisten‹), an dem die Sammlung ›voll ständiger‹ sei. ›Übereilte‹ Schlußfolgerungen ›aus dem Vorliegenden‹ wollte er vermeiden. Interessant ist nun, daß diese drei zuerst verschieden scheinenden Motivationsstränge auf genau ein Thema zulaufen: die Frage nach der richtigen (An-) Ordnung der Sammlung.91 Goethe reicht folgerichtig eine Bestandsauf nahme seiner Sammlungen nach: Er spricht von einer »großen Masse, die vor mir lag«. Diese befindet sich offenbar in einem Schwebezustand zwischen Ordnung und Unordnung, das Niedergeschriebene sei »theils geordnet, theils ungeordnet, theils geschlossen, theils Abschluß erwartend«.92 Die Feststellung des unbe
88 Beide Zitate: Goethe, Johann Wolfgang von: Archiv des Dichters und Schriftstellers. In: Ders.: Über Kunst und Alterthum. Mittheilungen im vierten bis sechsten Bande. 1823–1832. WA II 41, S. 25–28. Hier: S. 25. 89 Alle drei Zitate: Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 26. 90 Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 26. Vgl. in ähnlichem Duktus auch das Vor wort von ›Dichtung und Wahrheit‹ (Goethe: Werke. Insel Verlag. Bd. 5. Dichtung und Wahrheit. Frankfurt am Main 1965. S. 5–7). 91 Denn die geforderte ›gesteigerte Bildung‹ kann ebenso aus einem gut sortierten Archiv resul tieren wie die Erfüllung des Wunsches nach ausgeprägterer Vollständigkeit des Gesammelten und die Überprüfung des ›Ausspruchs‹ über das ›Vorliegende‹, bevor er getätigt wird. 92 Beide Zitate: Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 26. – Genau diese Ausgangs lage scheint sich verallgemeinern zu lassen als epochenübergreifender Initialfunke zur Einrich
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stimmten Zustands (›theils … theils‹) läßt Goethe zur Folgerung kommen, auf diese Weise sei es unmöglich […], in späteren Jahren alle [!] die Fäden wieder aufzunehmen, die man in frü herer Zeit hatte fallen lassen, oder gar solche wieder anzuknüpfen, von denen das Ende verschwunden war.93
Diese Situation habe ihn in »wehmütige Verworrenheit versetzt«. Ausdrücklich vermerkt er, er habe sich daraus »auf eine durchgreifende Weise zu retten«94 ver sucht. Das im Lauf seines Lebens Liegengelassene und die unproduktive Anord nung desselben scheint ihn in seiner Person zu bedrohen. Aus dieser Lagebestim mung kondensiert Goethe die zu bewältigende Aufgabe: Die Hauptsache war eine Sonderung aller der bei mir ziemlich ordentlich gehaltenen Fächer, die mich mehr oder weniger, früher oder später beschäftigten; eine reinliche ordnungsge mäße Zusammenstellung aller Papiere, besonders solcher, die sich auf mein schriftstelle risches Leben beziehen, wobei nichts vernachlässigt noch unwürdig geachtet werden sollte.95
Erstaunlicherweise kommt Goethe nicht etwa zu der Schlußfolgerung, der weiter oben erwähnten ›großen Masse‹ seien Konzessionen zu machen, um sie wieder überschaubar zu machen – etwa indem man sie ausdünnt. Vielmehr betont er in dem eben zitierten Abschnitt über die zu erledigende ›Hauptsache‹, es gehe um die Neuanordnung der Gesamtheit seiner Archivalien (›aller Fächer‹, ›aller Papiere‹), wobei explizit nicht zugestanden wird, daß etwa etwas unter den Tisch falle (›nichts vernachlässigt noch unwürdig geachtet‹). Vergleicht man diese Rede über das Verfahren der Sammlungsorganisation mit jener Goethes über den Vorgang des Sammelns selbst, so kann man eine Parallele feststellen. Sowohl das Sammeln per se als auch die spätere Reorganisation der Sammlung duldet keine Geringschätzung oder gar Auslassung von Daten. Dies ist eine markante Eigen schaft von Goethes Sammlungs- und Archivierungsverständnis. Der Umfänglich keit und empirische Breite verbürgende Begriff ›alles‹ ist sowohl für die Tätig keit des ersten Notierens von zu Archivierendem als auch für die nachherige Überarbeitung des Gesammelten in Anschlag zu bringen. D. h. die Tendenz des
tung eines Archivs: »Am Beginn jeder Sammlung steht das Trauma eines Verlusts, am Ursprung jeder Ordnung die Erfahrung von Kontingenz.« (Raulff, Ulrich: Sie nehmen gern von den Leben digen. Ökonomien des literarischen Archivs. In: Ebeling & Günzel (Hgg.): Archivologie, S. 223– 232. Hier: S. 230). 93 Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 26 f. 94 Beide Zitate: Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 27. 95 Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 27. Hervorhebungen: M. B.
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Goetheschen Archivierungsdenkens geht selbst noch in der zweiten Überarbei tungsphase des Niedergelegten96 auf Ganzheit aus und nicht, wie man annehmen könnte, auf die Verkleinerung der Datenmengen als weitaus einfacheres Mittel der Komplexitätsreduktion. Die ›durchgreifende Maßnahme‹ der ›Sonderung‹ der ›ziemlich ordentlich gehaltenen Fächer‹ bedeutet wahrscheinlich eine erneute Überprüfung und klare Trennung der vorhandenen Rubriken oder Ordnungskategorien. Die ›ordnungs gemäße Zusammenstellung‹ der Schriften will wörtlich sagen: ›einer Ordnung gemäß‹ – dieses Ordnungsmuster, das wird einen Satz später klar, ist ausdrück lich das »Archiv«.97 Folgerichtig rekrutiert Goethe für die Neuordnung seiner Bestände auch Fachpersonal. Er hat den Archivar Kräuter angestellt, der erreicht habe, daß nicht allein Gedrucktes und Ungedrucktes, Gesammeltes und Zerstreutes vollkommen geordnet beisammen steht, sondern auch die Tagebücher, eingegangene und abgesendete Briefe in einem Archiv beschlossen sind.98
Kräuter hat aber nicht nur Ordnung geschaffen, sondern diese auch noch doku mentiert. Über besagtes ›Archiv‹ hat er ein »Verzeichniß« angelegt, »nach allge meinen und besondern Rubriken, Buchstaben und Nummern aller Art«,99 das, so Goethe über den Nutzen desselben, vor mir liegt, so daß mir sowohl jede vorzunehmende Arbeit höchst erleichtert, als auch den Freunden, die sich meines Nachlasses annehmen möchten, zum besten in die Hände gearbeitet ist.100
Das formulierte Ziel scheint erreicht, das Gesammelte ließ sich ordnen, es wird nun Archiv genannt. Erhofft hat sich Goethe neben einem geordneten Nachlaß
96 Die erste war das Abfassen von Rubriken bzw. das Anlegen von Fächern und das sukzessive teilweise Einordnen des Gesammelten, die zweite besteht in der nun anstehenden Überarbei tung und Reorganisation. 97 Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 27. 98 Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 27. Ernst nutzt diese Textstelle um festzu stellen, Goethe verwende hier »den Begriff Archiv nicht metaphorisch, sondern mit Fachtermini wie Repertorium und Repositur im Sinne der zeitgleich ausformulierten staatlichen Institution Archiv für eine Gesamtheit von Papieren […].« (Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 554. Kursi vierung im Original). 99 Beide Zitate: Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 27. 100 Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 27. Zum Verhältnis von Archiv und Nach laß vgl. die Ausführungen im Kontext der Gedichte ›Vermächtnis‹ und ›Im ernsten Beinhaus war’s …‹ in Kap. XII.2.6.2 vorliegender Arbeit.
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eine signifikante Arbeitserleichterung auf allen Gebieten (›jede vorzunehmende Arbeit‹) – das gilt wohl auch für die Revidierung der ›Wanderjahre‹.101 Der Text ›Archiv des Dichters und Schriftstellers‹ endet mit der Ankündigung »[d]en näheren ausführlichern Inhalt jenes bibliothekarisch-archivarischen Verzeich nisses lege ich nach und nach in diesen Heften vor«102 – damit postuliert Goethe eine Offenheit des Archivs. Nicht nur auserwählte Archonten erhalten Einblick, sondern der Inhalt des Verzeichnisses wird sogar ohne Restriktionen publiziert. Die einzige Zugangsvoraussetzung besteht darin, daß man Leser der Zeitschrift ›Kunst und Alterthum‹ zu sein hat. Man kann Goethes ganz eigenen Archivbegriff aus dem bisher Gesagten genauer konturieren. Zunächst dient er als eine Ablage von ›allem‹; darüber hinaus wird sein Archiv in Ordnung gebracht und dieser Vorgang dann auch schriftlich fixiert; schließlich soll das Niedergelegte öffentlich zugänglich sein. Sein ›literarisches Archiv‹ ist ausdrücklich nicht als Geheimarchiv konzipiert.103 Goethes Verwendung des Begriffs Archiv affiziert indes sogar dessen Bestand teile: Auch seine Elemente bezeichnet Goethe als Archive. In dieser Bedeutungs variante verwendet er das Wort Archiv z. B. in der Einleitung zum Historischen Teil der ›Farbenlehre‹, wo er sich dafür rechtfertigt, »Auszüge«104 geliefert zu haben. Der Grund dafür liege in der zum Teil schweren Zugänglichkeit der ver wendeten Texte: Die Bücher, welche hier zu Rate gezogen werden mußten, sind selten zu haben, wo nicht in großen Städten und wohlausgestatteten Bibliotheken, doch gewiß an manchen mittlern und kleinen Orten, von deren teilnehmenden Bewohnern und Lehrern wir unsre Arbeit
101 Vgl. auch Te Heesen und Spary in anderem Zusammenhang: »Goethes Sammelwerk war semipublik und semiprivat, und abgesehen davon, daß Mineralien in seiner Lyrik immer wie der auftauchen [nicht nur dort …], war auch sein schriftstellerisches Werk schon zu Lebzeiten planmäßig auf seine ›Gesammelten Werke‹ hin ausgelegt.« (Te Heesen, Anke & Emma C. Spary: Sammeln als Wissen. In: Dies.: Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsge schichtliche Bedeutung. Göttingen 2002. S. 7–21. Hier: S. 17). 102 Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, S. 27 f. 103 Im dritten Aufsatz ›Lebensbekenntnisse im Auszug‹ demonstriert Goethe, wie er sich einen fruchtbaren Umgang mit seinem Archiv vorstellt. Er möchte Anfragen über die Entstehung seiner Dichtungen oder über sein Leben nicht länger aus vager Erinnerung, sondern aus dem Archiv he raus beantworten, »wozu mir denn ausführlichere Tagebücher erwünscht und hülfreich erschie nen; nun liegen nicht allein diese, sondern so viel andere Documente nach vollbrachter archiva rischer Ordnung auf’s klarste vor Augen.« (Goethe, Johann Wolfgang von: Lebensbekenntnisse im Auszug. In: Ders.: Über Kunst und Alterthum. Mittheilungen im vierten bis sechsten Bande. 1823–1832. WA II 41, S. 29–31. Hier: S. 30). 104 Goethe, Johann Wolfgang von: Einleitung zum Historischen Teil der Farbenlehre. In: Ders.: Zur Farbenlehre. Das gesamte Hauptwerk von 1810. FA I 23/1, S. 516.
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geprüft und genutzt wünschten. Deshalb sollte dieser Band eine Art Archiv werden, in welchem niedergelegt wäre, was die vorzüglichsten Männer, welche sich mit der Farben lehre befaßt, darüber ausgesprochen.105
Hier benennt Goethe ein Buch als ein ›Archiv‹. Die wichtigste Eigenschaft dieses Archivs ist wiederum nicht das stille, vielleicht gar geheime Verwahren von Wissen, sondern genau das Gegenteil. Besagter Band der ›Farbenlehre‹ soll es all denjenigen ermöglichen, der wissenschaftlichen Diskussion zu folgen, die keine Möglichkeit haben, an schwer zugängliche Exemplare heranzukommen. Dieses Archiv definiert sich nicht über eine Zugangsbegrenzung, sondern dient dezidiert der Ermöglichung der Einsicht in die Akten der die ›Farbenlehre‹ begleitenden Auseinandersetzungen. Es hat den Charakter einer Materialsammlung. Der Nachweis, daß neben dem offiziellen in Lexika verzeichneten Verständ nis von Archiv auch noch ein anderes kursierte – man könnte auch von einem Goetheschen Archivdiskurs sprechen – wurde hiermit erbracht. Wie gesagt: es ging erst einmal darum, zu zeigen, daß es durchaus seine Berechtigung hat, Sammlungen als Archive zu deklarieren. Dazu darf man, wie die Äußerungen Schrettingers und Goethes nahelegen, auch Bibliotheken und Museen rechnen. Darüber hinaus möchte ich noch weitergehen und mit Baßler prononcieren – und damit das hier abgebildete Sammlungsverständnis erwei tern – daß jede Art von Sammlung als Archiv verstanden werden kann, sofern sie materialiter vorhanden ist, mit einem Wort: sofern sie die Eigenschaft der Textua lität besitzt. Dazu zählen auch Gegenstände und Sammlungen von solchen – und zwar ausnahmslos alle, z. B. auch »Bananen« sofern man sie »zum Ausgangs punkt kultursemiotischer Lektüren mach[t].«106 Einem solchen unprätentiösen, da pragmatischen Sammlungs- und damit auch Archivbegriff ist auch Goethe zugeneigt. Ohne den Terminus Archiv explizit anzuführen, äußert er in einem Brief an Schiller im August 1797: Ich gewöhne mich nun alles wie mir die Gegenstände vorkommen und was ich über sie denke aufzuschreiben, ohne die genauste Beobachtung und das reifste Urtheil von mir zu fordern, oder auch an einen künftigen Gebrauch zu denken.107
Er thematisiert das Vertexten von Gegebenheiten, auch und gerade von Margina lien (›alles‹), gerade so, wie sie ihm begegnen – also ohne Hierarchisierung. Die Phänomene, Beobachtungen und Erfahrungen werden gesammelt, müssen aber
105 FA I 23/1, S. 516. Hervorhebungen: M. B. 106 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 112. 107 Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 1, S. 438.
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gar nicht unbedingt eindeutig er- oder geklärt sein und die Frage nach der Glaub würdigkeit oder auch nur Vollständigkeit des schriftlich Fixierten stellt Goethe sich gar nicht. Einen Ausspruch mit wörtlichen Übereinstimmungen bekommt in den ›Wanderjahren‹ Lenardo in den Mund gelegt, um seine Archivierungstechnik zu umschreiben: Dabei hatte ich mir angewöhnt, alles aufzuzeichnen, es mit Figuren auszustatten und so, nicht ohne Aussicht auf künftige Anwendung, meine Zeit löblich und erfreulich zuzubrin gen. (367; Hervorhebungen: M. B.)108
Daß auch scheinbar Unnützes zu archivieren sei wird aus einer Bemerkung Goethes von 1795 zu einem Aufsatz in der Zeitschrift ›Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks‹ deutlich:109 »[W]enn ein Archiv Zeugnisse von der Art eines Zeitalters aufbehalten soll, so ist es zugleich seine Pflicht, auch dessen Unarten zu verewigen.«110 Damit befindet er sich in diametraler Opposition etwa zum oben angeführten Zedlerschen Archivbegriff – und nahe an demjenigen Baßlers. Um Texte einer Kultur zu kontextualisieren, so Baßler, sei es nötig, in einem ersten Schritt die verfügbaren Dokumente dieser Kultur nebeneinander auf den Tisch zu legen. Das, was dann auf dem Tisch liegt, nennen wir Archiv. […] Die Dokumente einer gegebenen Kultur sind zunächst zu kollationieren und nebeneinander anzuordnen. Dann erst kann es losgehen.111
Aus dieser Behandlungsart folgert sich auch die Nonlinearität des Archivgebildes: Man kann es nicht vorlesen, »oder vielmehr: im Vorlesen würde man [ihm] eine lineare Gestalt geben, die [seiner] tatsächlichen Ordnung, der Neben-Ordnung,
108 Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. Hg.: Ehrhard Bahr. (= RUB 7827). Stuttgart 2004. Zitate hieraus kennzeichne ich im folgenden mit der Seitenzahl im Fließtext in Klammern gesetzt, z. B.: (97). Aus den Spruchsammlungen ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer. Kunst, Ethisches, Natur‹ bzw. ›Aus Makariens Archiv‹ wird mit der Seitenzahl, dem jeweiligen Kürzel für die betreffende Sammlung (BSW bzw. AMA) und der Nummerierung des Spruchs zitiert. Z. B.: (310, BSW 11). 109 Zu zeitgenössischen Zeitschriften, die den Begriff ›Archiv‹ in ihrem Titel tragen vgl. Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 54 f. Eine Untersuchung solcher Zeitschriften, die fragt, welchen Ansprüchen sie mit dem Archiv als Namensgeber gerecht werden möchten bzw. wie sie dem Archiv in ihrem Titel etwa über die Anlage des Texts Rechnung zu tragen versuchen, steht noch aus. 110 Zit. n. Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 55. 111 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 181. Hervorhebungen: M. B.
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nicht entspricht.«112 Bei Baßler kann man also lernen, daß das Archiv einerseits nicht zwangsläufig entweder eine Bibliothek, eine Enzyklopädie oder eine andere Institution bzw. geronnene Form gesellschaftlicher Beziehungen sein muß und daß es andererseits auch nicht ›nur‹ aus abstrakten Dispositiven zu bestehen braucht: »jeder Text ist ein kleines Archiv«.113 Dieses Diktum Baßlers muß man nicht mehr metaphorisch verstehen, sondern darf es getrost beim Wort nehmen. Aus seiner Arbeit läßt sich nun ein spezifisches Verständnis von Archiv destillie ren, dessen Konstituenten sind: Ganz basal (1) die Materialität und Textualität des Archivs. Dabei soll (2) Text verstanden werden als eine Repräsentation, die man analysieren kann. Analysie ren bedeutet in diesem Zusammenhang, daß es möglich ist, ihn (2a) wiederzu lesen, d. h. daß er vorhanden ist im Modus des Aufgezeichnet- und GespeichertSeins und daß er zugänglich ist. Ein Archiv darf dann verstanden werden als (3) eine Sammlung, eine Summe von Texten.114 Diese sind (3a) nicht hierarchisch geordnet, sondern rein einander gleich- und nebenordnend angelegt.115 Wie sind nun aber die Eigenschaften eines solchen Archivs mit einem Text wie den ›Wanderjahren‹ zusammenzudenken? Zunächst sind die dort auftau chenden Archive allesamt vertextet. Auch vor diesem Hintergrund ist das Archiv für die ›Wanderjahre‹ von größerer Bedeutung, als noch Schneider meinte, der es wie auch den zeitgenössischen Wissensbestand als den zum Text gehörenden Kommentar bezeichnet.116 Erst jetzt, nach der Lektüre von Baßlers ›Kulturpoetik‹ und der Rekonstruk tion des Goetheschen Archivverständnisses, können wir formulieren, daß der Text ein Archiv ist und daß er Archive enthält. Man darf nach dieser theoretischen Fundierung von nun an auch das als ein Archiv titulieren, was auf (dauerhafte) Aufbewahrung abstellt und sich als Sammlung klassifizieren läßt. Darüber hinaus macht der ›Wanderjahre‹-Text sich auf formaler Ebene als ein Archiv kenntlich, ist er sich seiner Archivhaftigkeit sogar bewußt.117 Er läßt sich
112 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 200. 113 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 328. 114 Betont man die Materialität und konzentriert man sich auf ein pragmatisches Archivver ständnis, so darf man es durchaus als derart erweitert auffassen, daß das Nebeneinanderstehen von Verschiedenstem sowie Sammlungen und ›Summen‹ jeglicher Ausprägung auch als Archive verstanden und behandelt werden können. 115 Die Rede vom ›Analysieren‹ des Archivs, von den Konstituenten ›Summe‹, ›Nebenordnung‹, ›Hierarchielosigkeit‹ weist bereits mit erstaunlicher Deutlichkeit auf das weiter unten entwickel te Konzept des Aggregats voraus (vgl. Kap. IV. dieser Arbeit). 116 Vgl. Schneider: Archivpoetik, S. 4. 117 Dies gegen Schneider, der formuliert, es sei ein »Mißverständnis« zu glauben, »es handele sich bei den Texten Goethes selbst um Archive oder Speicher.« (Schneider: Archivpoetik, S. 18).
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als Archiv lesen, ist also mehr, als ›nur‹ transformiertes goethezeitliches Wissen. Auf der Figurenebene etwa thematisiert er seine eigene Verwaltung, das Archivie ren durch den Redaktor. Doch damit nicht genug. Der Redaktor selbst ist Teil eines Archivprojekts. Und zwar nicht als die souveräne, formgebende, den Text domi nierende Instanz, als die er sich zu gerieren versucht, sondern als eine Archivalie unter anderen.118 Der Text problematisiert über diese Figur Verfahren des Archi vierens und des Überarbeitens von Archivmaterial. Damit hat der Redaktor prin zipiell denselben Status inne wie etwa die beiden Gedichte ›Vermächtnis‹ und ›Im ernsten Beinhaus war’s …‹ oder die zwei Spruchsammlungen ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ und ›Aus Makariens Archiv‹.119 Nachdem die Argumente für die Archivhaftigkeit des Texts dargelegt wurden, soll nun in einem weiteren Schritt ein konkreter Zugriff auf ihn stattfinden. Der ›Suchbefehl‹120 laute jetzt »Archiv«, der ›Kontext‹ sei zum einen der goethezeit liche Archivbegriff und zum andern seien es die damit einhergehenden Diskurse, grob gesprochen die Kultur um 1800. Dort schlummert im Kontext des Archivs einigermaßen unbemerkt der Begriff ›Aggregat‹ vor sich hin. Diesem soll nun die Aufmerksamkeit zugewendet werden, um ihn dem Zustand des latenten Aushar rens zu entwinden und ihn als Inspiration fruchtbar zu machen für die Beschrei bung der den ›Wanderjahren‹ zugrundeliegenden Archividee.
118 Dies im Sinn Günzels, der den Archivar, wenn auch in anderem Zusammenhang, nämlich auf institutioneller Ebene, ausschließlich als »Teil des Archivsystems« versteht (Günzel: Archiv theorie, S. 154). 119 Bei aller Liebe zum Archiv gibt der Text nie eines ›eins zu eins‹ wieder. Es bleibt immer bei der Inszenierung: ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹, ›Aus Makariens Archiv‹, will hei ßen: bei Auszügen aus Archiven, Anspielungen auf Archive. N. b. im Titel der letztgenannten Sammlung steckt das Wort ›Archiv‹. Und die vollständige Überschrift der ›Betrachtungen‹ lautet: »Betrachtungen im Sinne der Wanderer [.] Kunst, Ethisches, Natur« (309), d. h. der die ›Betrach tungen‹ genauer spezifizierende Untertitel wird in Form einer Aufzählung gegeben. 120 Vgl. das Kapitel »Suchbefehl und poetische Funktion« in Baßler: Die kulturpoetische Funk tion, S. 206–235.
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IV. A ggregat, Aggregation: ›Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren …‹ Die Luftballone wurden entdeckt. Wie nah ich dieser Entdeckung gewesen. Einiger Verdruß es nicht selbst entdeckt zu haben. Baldige Tröstung. (Goethe) … oder daß zwischen der strengen encyclopädischen Theorie und der regellosen mechanischen Unordnung ein Mittelweg ist. (Christian Molbech: ›Über Bibliothekswissenschaft …‹, 1833)
Das vorliegende Kapitel betreibt historisch konkrete Archivpoetik, indem es den Begriff des Aggregats, der im Kontext der ›Wanderjahre‹ nicht etwa in einer zen tralen poetologischen Schrift Goethes, sondern in einer beiläufig scheinenden Äußerung auftaucht, aufgreift, ernst nimmt und untersucht.1 Dabei macht es nach Baßlers Kulturpoetik bewußt gerade die Marginalie, das bisher Übersehene beredt und zeigt, wie die Wahl dieses Begriffs eine Richtung für das Sprechen über den Text vorgibt. Außerdem werden sich Konzepte des Aggregats unter schiedlichster Provenienz und Couleur – weltgeschichtlicher bei Schiller, wahr nehmungstheoretischer bei Kant, naturwissenschaftlicher und ästhetischer bei Goethe und das Faszinosum des Haufens, der Herde bei Moritz – als ein um 1800 zu verortendes, virulentes, bislang von der ästhetischen Theorie übersehenes Diskursbündel verstehen lassen. Es wird nachgewiesen, daß die zur Klassifika tion der ›Wanderjahre‹ aufgestellte Terminologie weder willkürlich noch zufällig war, und daß es sich beim Aggregat ganz im Gegenteil um einen theoretisch fun dierbaren Ausdruck handelt, der keineswegs akzidentiell ist, wie häufig in der
1 Damit wird einem Forschungsdesiderat entsprochen, das z. B. Fink, wenn auch in leicht säu erlicher Rede und nur indirekt, aussprach: »Allzu oft hat die Kritik dies [daß die ›Wanderjahre‹ ein Aggregat seien] Goethe nachgesprochen und darüber die Einheit bei aller Vielfalt des Werkes übersehen.« (Fink: Tagebuch, Redaktor und Autor, S. 50. Fußnote 75). Vaget liest Goethes Äuße rung als eine Art Schutzbehauptung, mit der die ›Wanderjahre‹ vor falschen Lesererwartungen gefeit werden sollen. Der Text trage dem Aggregatgedanken zudem Rechnung, indem er Wil helm nicht mehr als Zentralfigur wie noch in den ›Lehrjahren‹ verhandle sowie dadurch, daß eine »konsequente Zerstückelung des Erzählzusammenhangs« stattfinde (Vaget, Hans Rudolf: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829). In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Stuttgart 1983. S. 136–164. Hier: S. 143).
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Aggregat, Aggregation: ›Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren …‹
Forschung behauptet.2 Das Aggregat zu untersuchen bedeutet nicht zuletzt, auf ein von Goethe unterbreitetes Angebot zum besseren Verständnis der ›Wander jahre‹ einzugehen.
1. Das Aggregat im Kontext Goethes Äußerung über die ›Wanderjahre‹, die Kanzler von Müller unter dem Datum vom 18. Februar 1830 notierte, lautet im Kontext: Bestimmte einzelne Mitteilung der durch die Wanderjahre empfangenen Eindrücke habe Rochlitz verweigert, statt dessen die alberne Idee gefaßt, das Ganze systematisch konst ruieren und analysieren zu wollen. Das sei rein unmöglich, das Buch gebe sich nur für ein Aggregat aus.3
So lapidar sich Goethes Bemerkung über Rochlitz’ deviantes Lektüreverhalten auch ausnehmen mag – es steckt Bedeutendes dahinter. Man hat es hier mit einem Wort zu tun, das seiner Vieldeutigkeit und Erklärungsbedürftigkeit zum Trotz in den deutschsprachigen zeitgenössischen Nachschlagewerken recht stief mütterlich behandelt wird. Goethe hat die Begriffe Aggregat4 und Aggregation synonym verwendet.5 Weder im Zedlerschen Universallexikon noch im Grimm schen Wörterbuch von 1854 ist der Ausdruck Aggregat bzw. Aggregation verzeich net.6 Erst in die völlige Neubearbeitung des Grimmschen Wörterbuchs ab 1986
2 Vgl. stellvertetend für viele Forschungstexte: »Mangels besserer Vorschläge [Beschreibungs kategorien für den Text] beruft man sich auf Goethes Aggregat […] – was immer das heißen mag.« (Wiethölter: ...was nicht entschieden werden kann, S. 162. Kursivierung im Original). 3 Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hg.: Mandelkow, Karl Robert. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. 4. Auflage. München 1988. Bd. 4. Briefe der Jahre 1821–1832, S. 628. Hervorhebungen: M. B. 4 Kluge schreibt unter anderem, der Begriff Aggregat sei »[m]it Substantivierung entlehnt aus dem Neutrum des PPP. von l. aggregāre ›anhäufen, sammeln‹, einer Präfixableitung zu l. grex (gregis) m. ›Herde, Schar‹ und l. ad- ›hinzu‹ […]. Als ›Zusammenstellung ohne inneren Zusam menhang‹ 18. Jh. […].« Intrikaterweise verweist Kluge den Leser in der 24. Auflage auf einen weiteren Artikel: »S. auch Kongregation.« (Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 24. Aufl. Berlin, New York 2002. S. 20. Kursi vierungen im Original). Man wird jedoch enttäuscht, denn dieses Lemma ist versehentlich nicht verzeichnet; sogar im Lexikoneintrag haftet dem Aggregat etwas Unvollständiges an. 5 Vgl. Goethe-Wörterbuch. Bd. I. A – azurn. Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaf ten der DDR, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978. Sp. 286. 6 Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. 1. Band. A – Biermolke. Leipzig 1854.
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Das Aggregat im Kontext
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wurde er aufgenommen.7 Schlägt man in D’Alemberts und Diderots ›Encyclopé die‹ (1751–1780) nach, so findet man unter dem Lemma Aggrégation diese Defi nition: en Physique, se dit quelquefois de l’assemblage & union de plusieurs choses qui composent un seul tout, sans qu’avant cet assemblage les unes ni les autres eussent aucune dépen dance ou liaison quelconque ensemble. [...] En ce sens un monceau de sable, un tas de décombres, sont des corps par aggregation.8
Aggregation, so die Enzyklopädisten, bedeute in der Physik mitunter die Ver sammlung und Vereinigung von mehreren Dingen, die zusammen ein Ganzes ergeben, ohne daß vor dieser Versammlung die einen oder die anderen eine Abhängigkeit oder Verbindung von- oder zueinander gehabt hätten.9 In diesem Sinn seien ein Haufen Sandes oder ein Trümmerhaufen Körper, entstanden durch Aggregation.10 Soviel zur Bedeutung des Begriffs. Doch wie wurde er verwendet? An Goethes Äußerung fällt auf, daß dem Wort Aggregat durch das ihm beigesellte Adverb ›nur‹ einerseits ein pejorativer Beiklang unterlegt wird.11 Andererseits kann das
Zedler verzeichnet die Begriffe »Aggregare, aggregieren, zur Heerde bringen, zusammen brin gen, oder sammlen [sic]«; »Aggregatio, die Aufnehmung in die Familie« und »Aggregatium, wird genennet eine Zahl oder Größe, die heraus kommet, wann man einige Zahlen oder Grö ßen von einerley Art zusammen setzet. Wird sonst die Summe genennet.« (Zedler, Bd. 1. A–Am, Sp. 779). 7 Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. 2. Band. Affront – Ansüszen. Neu bearbeitung. Hgg.: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Stuttgart/Leipzig 1998. 8 Diderot, Denis & Jean Le Rond D’Alembert: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des scien ces, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres. 1751–1780. 1. Aufl. Reprint Stuttgart 1966. S. 173. 9 Blanckenburgs Romantheorie nimmt für einen gelungenen Roman genau das Gegenteil in An spruch: »Der Dichter hat in seinem Werke Charaktere und Begebenheiten unter einander zu ord nen und zu verknüpfen. Diese müssen nun, nach den obigen Voraussetzungen, so unter einander verbunden seyn, daß sie gegenseitig Ursach und Wirkung sind, woraus ein Ganzes entsteht, in dem alle einzelne Theile unter sich, und mit diesem Ganzen in Verbindung stehen« (Blancken burg, Friedrich von: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965. S. 313 f. Hervorhebungen: M. B.). 10 Auch Adelung spricht von »Haufen« und »Haufwerk« (Adelung, Teil 1: A–E, Sp. 181 ff.). 11 Zur durch das Adverb ›nur‹ induzierten negativen Konnotation des Aggregats und damit des durch dasselbe beschriebenen ›Wanderjahre‹-Texts passt der Ausspruch »Es ist dies die Dich tung des Plunders« des Ich-Erzählers in Stifters ›Mappe meines Urgroßvaters‹. Dieser fährt fort: »jene traurig sanfte Dichtung, welche bloß die Spuren der Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit prägt«. Der pejorative, beinahe despektierliche Duktus scheint in Korrelation mit der Tatsache
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›nur‹ auch als ›ausschließlich‹ gelesen werden, dann wären die ›Wanderjahre‹ nichts anderes als ein Aggregat. In dieser Lesart hätte das Adverb dann einen pointierenden, präzisierenden, da unterscheidenden Charakter: ›Der Text ist ein Aggregat, daran führt kein Weg vorbei‹, scheint es auszusagen. Damit ist die Stoßrichtung für die Herangehensweise an den Text vorgegeben. Es ist zu klären, mit welchen Implikationen der Begriff aufgeladen ist und wie er sich auf einen Text anwenden lassen könnte. Mit dem Gebrauch des Begriffs Aggregat, um etwas Unfertiges, eventuell sogar Minderwertiges auszudrücken, begibt Goethe sich in kongeniale Gesell schaft. In seiner Antrittsvorlesung ›Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?‹ (1789) versieht auch Friedrich Schiller den Terminus mit einer negativen Konnotation: So würde denn unsere Weltgeschichte nie etwas anderes als ein Aggregat von Bruchstücken werden und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philo sophische Verstand zu Hülfe, und indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungs glieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammen hängendem Ganzen.12
Diese Äußerung fällt im Kontext von Überlegungen Schillers zum Christentum, dessen »Erscheinung das wichtigste Faktum für die Weltgeschichte«13 sei. Auf grund der mangelhaften Faktenlage lasse sich jedoch weder der Ort noch das Volk, bei dem die christliche Religion zuerst die Bühne betreten habe, zweifels frei historisch festmachen. Hier schlage, so Schiller, die Stunde des ›philosophi schen Verstands‹, der die lückenhaften Fakten per Analogieschluß in das richtige Verhältnis zueinander bringen und deuten könne. Ein solches Verfahren verhin dere, daß die Weltgeschichte zu einem Trümmerhaufen, einem ›Aggregat von
der Rechtfertigung einer außergewöhnlichen Form (›Wanderjahre‹) sowie eines ebensolchen In halts (›Mappe‹) aufzutauchen (beide Zitate: Stifter, Adalbert: Die Mappe meines Urgroßvaters. (= RUB 7963). Stuttgart 2006. S. 12). 12 Schiller, Friedrich von: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? In: Ders.: Werke. Band 2. Hgg.: Fricke, Gerhard und Herbert G. Göpfert. München 1966. S. 9–22. Hier: S. 20. – Im Kontext der Geschichtswissenschaft spielt das Aggregat in einem Textfragment Friedrich August Wolfs eine Rolle: »Die [alten] Völker werden hier [in ihrer Geschichte] nach Ent stehung, Leben u. Untergang, vorzügl[ich] in Ansehung ihrer politischen Eräugniße aufgeführt, nicht aber in dem Gesichtspunkt einer Universal-Geschichte, sondern eines Aggregats einzelner Völkergeschichten.« (Wolf, Friedrich August: Idee zur Anordnung einer Encyclopädie u. Metho dologie der Alterthums-Wissenschaft [undatiertes Fragment]. In: Markner, Reinhard & Guiseppe Veltri (Hgg.): Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie. Stuttgart 1999. S. 61–67. Hier: S. 65). 13 Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, S. 20.
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Das Aggregat im Kontext
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Bruchstücken‹ degeneriere. Zwar greift Schiller auf das Aggregat im Kontext der Geschichtswissenschaft zurück, doch auch dort, d. h. beim wissenschaftlichen Nachdenken über die fehlenden, nicht archivierten Zusammenhänge zwischen den Ereignissen, geht es um das gelingende Erzählen von Geschichte. Geglück tes Erzählen, das macht Schiller klar, begnügt sich nicht mit einem Aggregat, sondern muß versuchen, jenes als eine materialreiche Vorstufe imaginativ per Analogieschluß und narrativ qua Verknüpfung (›verketten‹) zu überwinden und zu einem ›vernunftmäßigen Ganzen‹ zu bilden. Schillers Aggregatsverständnis ist offensichtlich von Kant beeinflußt, der behauptet, Erfahrung sei keine »bloß empirische Zusammensetzung der Wahrnehmungen«,14 kein »bloße[s] Aggregat von Wahrnehmungen«.15 Das Aggregat fungiert hier zunächst als Negativbild, als etwas, was z. B. Erfahrung nicht ist. Den Gegenpart zum Aggregat wiederum sieht Kant im System.16 Diesem zugrunde liegt immer eine Ordnung: Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch densel ben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander a priori bestimmt wird.
Kant fährt fort: Die Einheit des Zwecks, worauf sich alle Teile […] unter einander beziehen, macht, daß ein jeder Teil bei der Kenntnis der übrigen vermißt werden kann, und keine zufällige Hinzusetzung oder unbestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori bestimmte Grenzen habe, stattfindet. Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio) […].17
Das Hauptunterscheidungsmerkmal zum Aggregat scheint zum einen im Prinzip der sicheren Verortbarkeit (›Stelle‹ im Sinn von Stellung) der Einzelelemente zu liegen; damit einher geht eine Gliederung derselben unter dem Dach einer Idee. Die Teile sind voneinander abhängig, stehen untereinander in Beziehung. Das Fehlen eines der Elemente, das wird aus der zweiten Passage deutlich, würde
14 Kant, Immanuel: Werke V. Schriften zur Metaphysik und Logik. Band 2. Hg. von Wilhelm Weischedel. Wiesbaden 1958. S. 177. 15 Kant: Werke V (1958), S. 177 f. 16 Vgl. Eisler, Rudolf: Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß. Berlin 1930. Nachdr. Hildesheim, Olms 1964, S. 5. 17 Beide Zitate: Kant, Immanuel: Werke IV. Kritik der reinen Vernunft. Band 2. Hg. von Wilhelm Weischedel. Wiesbaden 1956. S. 696.
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Aggregat, Aggregation: ›Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren …‹
auffallen. Zum andern wird eine ›zufällige Hinzusetzung‹ expressis verbis ausge schlossen, die Organisation wird außerdem per definitionem als ›gegliedert‹ und nicht als ›gehäuft‹ verstanden. Wie sähe nun im Umkehrschluß ein Aggregat, ein ›Haufen‹ aus? Die Ver ortbarkeit müßte wegfallen, d. h. die Einzelteile könnten beliebig angeordnet werden. Sie müßten nicht zwingend unter einer einzigen Idee subsumiert werden können und eine ›zufällige Hinzusetzung‹ wäre nicht grundsätzlich ausgeschlos sen. D. h. dem Aggregat kann nachträglich, wenn man den temporären Aspekt im Wort ›Hinzusetzung‹ mit in Betracht zieht, etwas hinzugefügt werden, ohne seine Gestalt im reinen Wortsinn über den Haufen zu werfen. Aus der nun folgenden Äußerung läßt sich die temporal gedachte Vorgän gigkeit der Teile vor dem Ganzen folgern, die für das Aggregat ebenfalls gilt. Hinsichtlich der Naturerkenntnis merkt Kant an, es sei wichtig, »daß unsere Erkenntnisse kein Aggregat, sondern ein System ausmachen; denn im System ist das Ganze eher als die Teile, im Aggregat hingegen sind die Teile eher da.«18 Kant reflektiert auch, was das Aggregat für Ähnlichkeiten mit Sammlungen aufweist. Er rückt es formal in die Nähe einer Sammlung, wenn auch in die einer ohne rechte Ordnung, ohne Rubriken (›bloß zusammengestellt‹). Die Dinge sind nur ›aneinander geordnet‹, d. h. nicht hierarchisch oder beispielsweise alpha betisch: Indessen dürfte man die Systeme der Natur, die bisher verfaßt sind, richtiger wohl Aggregate der Natur nennen […]. Eigentlich haben wir noch gar kein Systema naturae. In den ganzen sogenannten Systemen der Art sind die Dinge bloß zusammengestellt und aneinander geordnet.19
Das Aggregat ist – das offenbart die Begriffsgeschichte – so angelegt, daß es meist dann herbeizitiert wird, wenn keine bessere Beschreibungskategorie zur Verfügung steht. Das manifestiert sich auch an dem dem Begriff geradezu klet tenhaft anhängenden Adverb ›nur‹.20
18 Kant, Immanuel: Werke. Bd. IX. Logik. Physische Geographie. Pädagogik. Berlin und Leipzig 1923. Nachdr. 1972. S. 158. Kursivierungen im Original. 19 Kant: Werke (1923). Bd. IX, S. 160. Hervorhebungen: M. B. Hier läßt sich das Aggregat struk turell annähern an Baßlers Verständnis von einem Archiv als »Volltext-Datenbank ohne Indices und ohne Links« (Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 182). 20 Einer der wenigen, die das Aggregat nicht negativ besetzen oder als inferior behandeln, ist Friedrich August Wolf, der in seinem ›Museum für Alterthums-Wissenschaft‹ 1807 über die Auf gaben des ›Alterthums-Gelehrten‹ unter anderem schreibt: »Die Völker selbst werden nach Ent stehung, Daseyn und Untergang, jedes für sich, aufzuführen seyn, nicht nach der Manier einiger neuern ins Dramatische gearbeiteten Universal-Geschichten, sondern in Aggregaten der neben
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Das Aggregat bei Goethe
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Schiller weicht von Kants Aggregatsverständnis nun insofern ab, als er der Dichotomie Aggregat – System zumindest potentiell zugesteht, aufhebbar zu sein. Durch den Akt der Verkettung kann man das Aggregat zum System ›erheben‹, was wohl mit ›verwandeln‹ gleichgesetzt werden darf. Ist das ›vernunftmäßig zusam menhängende Ganze‹, das System, etabliert, wird das Aggregat bei Schiller als überwundene Zwischenstufe obsolet.
2. Das Aggregat bei Goethe Goethe verwendet den Begriff Aggregat außer im oben erwähnten Zusammenhang mit den ›Wanderjahren‹ noch in einem Tagebuch und in einem Brief an Schiller. Vor allem aber findet der Terminus Niederschlag in den naturwissenschaftlichen Schriften.21 Besagter Tagebucheintrag vom 26. 2. 1780 – am Tag davor heißt es: »Wilh. Meistr. gelesen.«22 – lautet: Den Rest des Tags […] gezeichnet. Es fängt an besser zu gehen […]. Das Detail wird sich nach und nach herausmachen. Auch hier seh ich daß ich mir vergebne Mühe geben [sic], vom Detail ins Ganze zu lernen, ich habe immer nur mich aus dem Ganzen ins Detail heraus arbeiten und entwickeln können, durch Aggregation begreif ich nichts, aber wenn ich recht lang Holz und Stroh zusammengeschleppt habe und immer mich vergebens zu wärmen suche, wenn auch schon Kohlen drunter liegen und es überall raucht, so schlägt denn doch endlich die Flamme in Einem Winde übers Ganze zusammen. […] Die Sachen haben kein Detail sondern jeder Mensch macht sich drin sein eignes. Manche könnens nicht und die gehn vom Detail aus, die andren vom Ganzen. Wenn man diesen Gedanken bestimmte und ihm nachginge eigentlich was er sagen will nicht was er sagt beherzigte, würde es sehr fruchtbar sein.23
und nach einander gereihten Völker-Geschichten, deren gesammten Inbegrif [sic] dann Gedächt niß und Verstand zu einem Ganzen nach Länge und Breite verbinden müssen.« (Wolf, Friedrich August: Museum der Alterthums-Wissenschaft. Erster Band. Berlin 1807. S. 53 f.). – Hier garan tiert das Aggregat so etwas wie Wertfreiheit bei der Betrachtung von geschichtlichen Ereignissen. Goethe dürfte diese Schrift gekannt haben. In einem Tagebucheintrag vom 19. April 1808 äußert er: »Abends Hofrat Meyer. Museum der Altertums-Wissenschaft 2. Heft.« (Goethe: Gesamtausgabe der Werke und Schriften in zweiundzwanzig Bänden. Zweite Abteilung Schriften. Elfter Band. Tagebücher Bd. I. 1770–1810. Hg.: Baumann, Gerhart. Stuttgart 1956. S. 809. Hervorhebungen: M. B.). Die Frankfurter Ausgabe registriert diese Äußerung nicht. 21 Vgl. Goethe-Wörterbuch, S. 286 f. 22 Goethe: Tagebücher 1770–1810, S. 124. Es handelt sich beim erwähnten ›Wilhelm Meister‹ dem Datum nach um die ›Theatralische Sendung‹. 23 Goethe: Tagebücher 1770–1810, S. 124. Hervorhebungen: M. B. In die Frankfurter Ausgabe wurde dieser Eintrag nicht aufgenommen (vgl. FA II 2).
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Aggregat, Aggregation: ›Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren …‹
Dieser Textausschnitt verkörpert eine Kippstelle zwischen einem naturwissen schaftlichen und einem produktionsästhetischen Modell, an der das Sprechen mit dem und durch das Aggregat eingeübt wird. Davon, daß terminologisches terrain vague betreten wird, zeugt die hier zu Tage tretende Ambivalenz. Die anvi sierte Verfahrensweise schlägt mehrmals in ihr Gegenteil um. Als Indikator für dieses Oszillieren mag die Art gelten, wie vom Detail und dessen Verhältnis zum Ganzen gesprochen wird. Diese Problematik24 erinnert an Goethes Ringen um einen Symbolbegriff in Abgrenzung zur Allegorie.25 Zuerst heißt es ja recht zuver sichtlich, es gehe mit dem Zeichnen gut, das Detail werde sich schon ›heraus machen‹. Dann aber stellt Goethe fest, er habe sich ›vergebliche Mühe‹ gegeben, vom Detail zum Ganzen zu gelangen, der gangbare Weg für ihn sei eben viel mehr der umgekehrte, er müsse sich vom Ganzen ins Detail ›herausarbeiten‹: ›Durch Aggregation begreif ich nichts,‹26 darauf folgt das Bild vom Stroh-, Holzund Kohlehaufen, der sich unerwartet dann doch entzündet – entstanden ist er durch Aufhäufen, also eben durch genau jene Aggregation, die doch angeblich so nutzlos sein soll. Schließlich wird behauptet, es gebe gar keine Details per se in den ›Sachen‹, sondern ›jeder Mensch‹ schaffe sich ›darin‹ seine eigenen. Die das nicht vermögen, lassen sich in zwei Gruppen aufteilen: auf der einen Seite diejenigen, die vom Detail und auf der anderen diejenigen, die vom Ganzen aus gehen. Goethe ringt hier mit der sinnlich wahrnehmbaren Empirie und scheint sich mit einem erheblichen Gestaltungsproblem konfrontiert zu sehen, das bei all der Beiläufigkeit, mit der es angeschnitten wird, doch ernst zu nehmen und noch keineswegs erschöpft ist: ›Wenn man diesen Gedanken bestimmte und ihm nachginge eigentlich was er sagen will nicht was er sagt beherzigte, würde es sehr fruchtbar sein.‹ Es handelt sich hierbei um eine provisorische Reflexion über das Detail und das Ganze, um verschiedene Arten der Wahrnehmungsverarbeitung
24 Vgl. zum Einzelnen und Ganzen als ein »von der französischen Aufklärung in Geltung ge setztes strukturelles Muster«: Neumann, Gerhard: »Mannigfache Wege gehen die Menschen«. Romananfänge bei Goethe und Novalis. In: Hinderer, Walter: Goethe und das Zeitalter der Ro mantik. Würzburg 2002. S. 71–90. Hier: S. 74. Sowie Jutta Heinz: »Einheit in der Vielfalt ist ein klassischer Topos der Ästhetik.« (Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 11). 25 Die Begriffe Aggregat und Allegorie sind miteinander verwandt (vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 31). Vgl. zur Allegorie: Drügh, Heinz: Anders-Rede. Zur Struktur und historischen Systematik des Allegorischen. Freiburg i. Br. 2000. Zu Goethes Symbolbegriff: Berndt, Frau ke und Heinz Drügh: Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft. (= stw 1895). Frankfurt am Main 2009. S. 27–29 und S. 226–228. 26 In einem Brief an Schiller vom 16. und 17. August 1797 deutet Goethe diese Problematik an, indem er schreibt, »das Aufzählen eines Einzelnen [sei ihm] nun einmal nicht gegeben […].« (Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 1, S. 449). Das ›Aufzählen‹ verweist wiederum auf das Ag gregat als Summe, von dem Zedler unter dem Lemma Aggregatium spricht.
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und um die Rechtfertigung von Goethes Neigung zum Einzelnen, zum Detail bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit auf die Mannigfaltigkeit der Phänomene. Alle samt Themen, die bei aller versuchten Unterscheidung doch immer miteinander verquickt bleiben. Sie reichen bis in den Text der ›Wanderjahre‹ hinein. Dort ist ebenfalls die Rede von einem angezündeten »Holzstoß« (49): In der Mitte eines beschränkten Waldraums lag dampfend und wärmend der wohlgewölbte Kohlenmeiler, an der Seite die Hütte von Tannenreisern, ein helles Feuerchen daneben. Man [Wilhelm, Felix, Fitz und Jarno] setzte sich, man richtete sich ein. (47)
Ein Meiler ist eine »bestimmte Anzahl aufgeschichteter Holzstücke oder Eisenstangen«,27 der Begriff sei entlehnt aus lat. ›miliarius‹, »›tausend Stück‹ oder einer ähnlichen Form. Erst später zu ›Holzstoß des Köhlers.‹«28 Der Meiler enthält also sowohl die Anspielung auf den Holzstoß als auch eine solche auf eine große Anzahl (›tausend‹). Die Begriffe »Kohlenmeiler« (49) und »Holzstoß« (49) verwendet Jarno im »Gleichnis« (49) Wilhelm gegenüber dann erneut. Er benutzt das Bild vom Meiler als »vortreffliche[ ] Erziehungsanstalt« (49), als Anschauungsmaterial für seine Bildungsidee. Kurz darauf zieht Wilhelm, wie der Redaktor geheimniskrämerisch registriert »ich weiß nicht zu welchem Gebrauch, etwas aus dem Busen« (50): sein Arztbesteck. Der Kohlenmeiler, die damit einhergehende Verschränkung von Haufendis kurs und dem Diskurs der Menge, der Pluralität, wird an zentraler Stelle in die ›Wanderjahre‹ eingeschaltet.29 Außerdem ist er bildlich und sprachlich ganz in der Nähe der zitierten Tagebuchstelle über das Aggregat situiert, das an diesem Punkt über Kontexte bis in den Text hineingespiegelt wird. Neunzehn Jahre nach besagtem Tagebucheintrag, unter dem Datum vom 17. 8. 1799, geht es in einem Brief an Schiller interessanterweise um das Aggre gat wiederum im Zusammenhang mit darstellender Kunst. Der Kupferstecher Boettger, so Goethe, sei »ein bloßer Punctirer und aus einem Aggregat von Puncten entsteht keine Form.«30
27 Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 610. Die Frankfurter Ausgabe liest ihn hingegen als ein Symbol für Wilhelms gedämpfte Leidenschaft … (vgl. FA I 10, S. 1043). 28 Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 610. 29 Zentral, da im unmittelbaren Umfeld eine auf die Form der ›Wanderjahre‹ hinweisende Re daktorbemerkung (47), die Entsagungsverpflichtungen (47), Erziehungsideale für Felix (48) und eben das Wilhelms Berufswunsch figurierende Arztbesteck genannt werden – letzteres ebenfalls in Verbindung mit der für das Verständnis der Poetik des Texts wichtigen, Informationen dosie renden Rede des Redaktors (50). 30 WA IV 14, S. 156. Es handelt sich um die Stiche für den ›Musen-Almanach für das Jahr 1800‹ (vgl. Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 2: Kommentar. Hg.: Oellers, Norbert. Stuttgart 2009.
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Aggregat, Aggregation: ›Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren …‹
Weiter lassen sich in den naturwissenschaftlichen Schriften sieben Stellen ausmachen, an denen mit dem Aggregat gearbeitet wird. Im Rahmen einer Pflan zenbetrachtung, bei der Untersuchung eines Samenkernes, schreibt Goethe: »Der nackte Kern zeigt uns eine markige Substanz d. h. eine solche die ganz gleichar tig, durch keine Gefäße verbunden viel mehr ein Aggregat zu sein scheint.«31 Hier wird der Terminus Aggregat verwendet, um der Unverbundenheit Ausdruck zu verleihen. In dieselbe Schaffensepoche fällt untenstehender, zum Phänomen der ›Durchgewachsnen Nelke‹ verfaßte Passus: Ein □ ist ein Aggregat mehrerer □, welche alle nebeneinander existieren können wenn sie sich einander nicht aufheben. Wenn einige die andern aufheben wird das Aggregat zum Körper wenn sie einander noch ausschließlicher aufheben werden die Körper immer edler und es entstehen endlich die Individuen (vorher die Genera pp) das edelste Geschöpf ist wo sich die Teile am ausschließlichsten aufheben.32
Wichtig an diesem Abschnitt ist die dem Aggregat zugestandene Möglichkeit zur Metamorphose und damit einhergehend zur Steigerung der Daseinsform. Dafür jedoch muß es sich ›aufheben‹, durchaus im Sinn von Schillers ›erheben‹, also verwandeln zu verstehen. Auch hier ist das Aggregat ein Übergangsgebilde, das die Möglichkeit der eigenen Auflösung und damit Auslöschung zugunsten eines in teleologischer Hinsicht Höherstehenden bis hin zum formal Vollen deten in sich trägt. Goethes anscheinend rein naturwissenschaftlich (aristote lisch)33 geprägtes Aggregatsverständnis ist durchaus von Schillers (Kant modifi zierenden) philosophisch fundiertem Aggregatsverständnis affiziert. Es ist also in der Tat berechtigt, hier einen Schnittpunkt und eine Vermengung zweier
S. 464). Das Digitalzeitalter straft Goethe Lügen und gibt dem ›bloßen Punctiren‹ recht. Ernst schreibt über Bilder, konstituiert durch elektronische Pixel: »[A]uch auf der mikro-archivischen Ebene der Textbuchstaben in den Zwischenräumen, den Intervallen zwischen den Lettern auf dem Papier, [herrsche] keine Kontinuität, sondern eine leere, weiße Fläche. Genau das gilt radi kaler noch im digitalen Raum, der alle analogen Flächen in diskrete Punkte auflöst; dazwischen ist nichts.« (Ernst: Rumoren der Archive, S. 29. Kursivierung im Original). 31 FA I 24, S. 78. Über organische Naturen. Notizen aus Italien (1786–88). 32 FA I 24, S. 81. Über organische Naturen. Notizen aus Italien (1786–88): Durchgewachsne Nelke. Handschriften aus Goethes Nachlaß. Hervorhebungen: M. B. Die Weimarer Ausgabe schreibt »mehrere« (WA II 7, 2. Teil, S. 279). Der Kommentar der Frankfurter Ausgabe nimmt sich der beiden von Goethe handschriftlich notierten Quadrate nicht an, doch dies nur en parenthèse. 33 Seit »den auf Aristoteles zurückweisenden Kontroversen der Scholastik über das mixtum« wird ›Aggregat‹ meist verwendet, um eine äußerliche, akzidentielle (zufällige) Verbindung [!] von einander unabhängigen Substanzen zu benennen. (Mittelstraß, Jürgen, Siegfried Blasche et al.: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1: A–G. Mannheim/Wien/Zürich 1980. S. 52 f. Kursivierung im Original).
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Diskurse zu konstatieren. Dies läßt sich auch am nächsten Beispiel illustrieren: Am 6. 4. 1803 schickt Goethe einen Brief an Johann Friedrich Blumenbach. Er enthält unter anderem den kleinen Text ›Scheinbare Breccien‹ sowie drei dazu gehörige mineralogische Objekte (vulgo: Steine): Scheinbare Breccien Bei geologischen Untersuchungen sind mir scheinbare Breccien oft interessant gewesen. Ich nenne so verschiedene Steinarten welche beim ersten Anblick als ein Konglomerat erscheinen, deren Teile sich aber eigentlich aus einer mineralischen Masse bei ihrem frühen Ursprung sonderten, wie man wohl gewahr wird, wenn man ein dergleichen Gestein an Ort und Stelle und in der Folge seiner Übergänge beobachtet. Man findet dergleichen scheinbare Breccien die man bei näherer Betrachtung zu den Porphyren, zu ursprünglichem Kalk stein und zum Sandstein zu rechnen und ihre Entstehung chemisch nicht mechanisch zu erklären hat. Ein Sandstein welchen ich bei Lauchstädt angetroffen zeigt hievon ein auffal lendes Beispiel. Nr. 1. Sandstein von ziemlich grobem Korne. Nr. 2. Derselbe in welchem sich härtere Stellen zeigen. Nr. 3. Die härteren Stellen sind durch Verwitterung schon mehr abgelöst und isoliert und der Stein nähert sich dem Scheine nach dem Konglomerat. Nr. 4. Ein scheinbares Konglomerat, welches aber nur obiger Sandstein, mehr verwittert ist. Die weicheren Stellen sind weggeschwemmt und die härteren stehen isoliert als abgerundete Kiesel da. Beobachtet man dieses Phänomen im Steinbruche selbst, so bleibt kein Zweifel daß dieses letzte kein Aggregat sondern ein aus der Steinmasse chemisch Entstandenes sei.34
An diesem Absatz sticht zunächst ins Auge, daß es sich um ein Sprechen über (Gesteins-) Formationen handelt, aus dem sich eine weitere Eigenschaft des Aggregats herausdestillieren läßt. Es geht nicht um eine chemische, sondern um eine rein physikalische, d. h. mechanische und damit anorganische Entstehungs art. Penetrant beharrt der beobachtende Forscher darüber hinaus darauf, den ersten Eindruck nicht gelten zu lassen, und das ›Konglomerat‹, das synonym mit ›Aggregat‹ verwendet wird, näher zu betrachten. Es ist die Rede davon, daß die Steinarten ›beim ersten Anblick als Konglomerat erscheinen‹, davon, daß sich der Stein ›dem Scheine nach‹ dem Konglomerat annähere und schließlich von einem ›scheinbare[n] Konglomerat‹. Der Beobachter ist sich der zunächst rein visuellen
34 FA I 25, S. 518. Scheinbare Breccien. Hervorhebungen: M. B. In einer handschriftlichen Notiz folgert Goethe: »Aggregation der unorganischen Körper mit einer gewissen Affinität und Attrack tion verbunden. Formen der Mineralien daher.« (Paralipomenon 219, WA II 13, Nachträge zu Band 6–12. S. 214; die Frankfurter Ausgabe verzeichnet diesen Passus nicht). Ebenfalls in Abgrenzung zur »organischen Struktur« positioniert Goethe das »Phänomen der einfachsten [Struktur] die eine bloße Aggregation der Teile zu sein scheint, oft aber eben so gut durch Evolution oder Epi genese zu erklären wäre.« (›Betrachtung über Morphologie‹, FA I 24, S. 361).
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Natur seines Zugangs zum beschriebenen Phänomen bewußt. Manches, so darf man folgern, was bei oberflächlicher Betrachtung als Aggregat wahrgenommen werden kann, ist gar kein solches. Als Vorgehensweise lehren die ›Scheinbaren Breccien‹ daher implizit erstens das genaue Hinschauen, den zweiten Blick. Zwei tens ist das Augenmerk immer auch auf den Kontext des Phänomens zu richten, der in diesem Fall vom ›Steinbruch‹ figuriert wird. Das ist fast schon ein her meneutischer Zugang; das Phänomen will in seiner Umgebung richtig gelesen und verstanden werden. Erst dadurch lassen sich die Zweifel ausräumen, und es erweist sich, daß es sich (›Gott-sei-Dank‹, so der Duktus) nicht um ein Aggre gat handelt. Wiederum wird das Aggregat so als etwas Beiläufiges und Formloses inszeniert, als etwas wenn es irgend geht zu Vermeidendes. Das vorletzte Beispiel aus Goethes naturwissenschaftlichen Schriften stammt von 1822 und findet sich in der ›Farbenlehre‹. Dort steht eine in Klam mern gesetzte Aufzählung von durchweg nicht positiv besetzten Phänomenen, die in ihrer Beschaffenheit zwischen Stofflichkeit und Luft changieren: (Dunst, Dampf, Rauch, Staubwirbel, Nebel, dicke Luft, Wolke, Regenguß, Schneegestö ber sind sämtlich Aggregate, Versammlungen von Ungleichartigem, d. h. von Atomen und deren Vacuo […]).35
Der Regenbogen, der in der ›Farbenlehre‹ mehrfach verhandelt und teils durch aus mit Eigenschaften bedacht wird, die denen des Aggregats nahe kommen,36 wurde in die Reihe der optischen Erscheinungen, die ein Aggregat ›sind‹, nicht aufgenommen. Von Bedeutung sind zwei neu hinzugekommene Aspekte. Erstens die ›Versammlung[ ] von Ungleichartigem‹. Das widerspricht der Zedlerschen ›Vereinigung von Gleichem‹; in diesem Sinn ist Goethes Aggregatbegriff nicht nur ein Synonym für ›Summe‹. Zweitens kommt die Sprache im Kontext des Aggre gats an diesem Punkt auf ein weiteres wichtiges Konstituens desselben. Bisher war immer die Rede von einem ›Nebeneinander‹ der das Aggregat ausmachenden Teile. Hier jedoch läßt sich erst- und einmalig nachweisen, daß sich das Goethe sche Aggregat der Zwischenräume, die zwischen den Einzelteilen herrschen, und deren (potentieller) Beschaffenheit bewußt ist: ›Versammlungen von Ungleichar
35 FA I 25, S. 783: Farbenlehre nach 1810. Chromatik (1822). Physische Farben. § 27: Der Ausdruck Trüb. 36 Beispielsweise in Goethes ›Kritik vorstehender Preisaufgabe‹ [d. i.: ›Physikalische Preis-Auf gabe der Petersburger Akademie der Wissenschaften 1827‹]: »Von dem einfachsten Phänomen des blauen Himmels bis zu dem zusammengesetztesten des Regenbogens, die wir beide in der reinen Natur an der Himmelswölbung gewahr werden, ist ein unendlicher und verschlungener Weg, den noch niemand zurückgelegt hat.« (FA I 25, S. 832–838. Hier: S. 834 und passim. Hervor hebungen: M. B.).
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tigem, d. h. von Atomen und deren Vacuo‹. Vacuo bedeutet nun aber nicht, wie man intuitiv annehmen könnte, ein Vakuum, sondern Goethe umschreibt es so: »Licht und Finsternis haben ein gemeinsames Feld, einen Raum, ein Vakuum […]. Dieses Vakuum aber ist nicht die Luft, ob es schon mit Luft erfüllt sein kann.«37 Goethes Aggregat zeichnet sich also auch durch seine Sensibilität bzw. sein Sensorium für die es mitkonstituierenden Zwischenräume und Leerstellen aus.38 Dabei besticht die undogmatische Offenheit des Konzepts für die Beschaffenheit derselben: Sie sind nicht Luft, können aber mit Luft erfüllt sein. In dem wohl noch zu Lebzeiten Goethes zum Druck vorbereiteten aber erst postum erschienenen,39 für sein Wissenschaftsverständnis zentralen Aufsatz ›Analyse und Synthese‹ begegnet dem Leser wiederum das Bild des Aggregats.40 Dort heißt es, der Analytiker solle vor allem untersuchen, oder vielmehr sein Augenmerk dahin richten, ob er [es] denn wirklich mit einer geheimnisvollen Synthese zu tun habe, oder ob das womit er sich beschäftigt nur eine Aggregation sei, ein Nebeneinander, ein Miteinander […].
Eine »höhere Synthese«, so der Naturforscher weiter, sei ein lebendiges Wesen; und was haben wir uns mit Anatomie, Physiologie und Psycho logie zu quälen, als um uns von dem Komplex nur einigermaßen einen Begriff zu machen, welcher sich immer fort herstellt, wir mögen ihn in noch so viele Teile zerfleischt haben.41
Ein Aggregat ist also, so der Umkehrschluß, kein Lebewesen, es ist vielmehr etwas Totes oder war noch nie ›lebendig‹.42 Die Begriffe Aggregat und Aggregation werden hier in Opposition zum Begriff der Synthese positioniert. Eine Aggrega tion, so Goethe, lasse sich nicht analysieren, denn die Hauptsache sei, »daß jede Analyse eine Synthese voraussetzt.« Anschaulich spitzt er zu: »Ein Sandhaufen
37 FA I 25, S. 782. 38 Also für die Teile des Konzepts, die ›nichts‹ sind. Sie sind angeblich nicht wahrnehmbar und gleichzeitig die konstruktive Bedingung dafür, daß verschiedene Einzelelemente unverbunden nebeneinander stehen können. 39 Vgl. FA I 25, S. 926. 40 Zu den Verfahren der Analyse und der Synthese bei Goethe vgl. Heinz: Narrative Kulturkon zepte, S. 469. 41 Beide Zitate: Goethe: Analyse und Synthese. (FA I 25, S. 83–86. Hier: S. 85. Hervorhebungen: M. B.) Der Kommentar der Frankfurter Ausgabe erwähnt den Terminus Aggregation mit keinem Wort (vgl. FA I 25, S. 924 ff.). 42 Das deckt sich wieder mit den Ausführungen zu den ›Scheinbaren Breccien‹, wo Goethes Lesart der physikalischen Entstehung derselben das Anorganische, Leblose stark macht.
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läßt sich nicht analysieren […].«43 Dieser Passus klingt in besagtem Kontext depla ziert, da er sich im Kontrast zu den anderen in der Abhandlung vorkommenden Formulierungen recht lax ausnimmt, ja geradezu aus dem Text heraussticht. Das Substantiv ›Sandhaufen‹ stammt aber wohl aus dem oben zitierten EncyclopédieArtikel, in dem es ausgerechnet unter dem Stichwort ›Aggregation‹ auftaucht. Das Sandhaufen-Beispiel aus Goethes naturwissenschaftlicher Schrift ist augenscheinlich nicht willkürlich gewählt. Das Aggregat wird von Goethe samt seines lexikalischen Umfeldes (›Sandhaufen‹) in einer grundlegenden natur wissenschaftlichen Schrift (›Analyse und Synthese‹) erörtert, die dazu noch im Dunstkreis der Letztfassung der ›Wanderjahre‹ im Rahmen der ›Ausgabe letzter Hand‹ von Goethes Werken angesiedelt ist.44 Darüber hinaus aber, und das ist der bedeutendere Punkt, wird es als Formprinzip auf einen Roman appliziert.45 Daß Goethe im Zusammenhang mit einem literarischen Text auf eine naturwis senschaftlich eingefärbte Terminologie zurückgreift ist nichts Neues, man denke nur an die ›Wahlverwandtschaften‹.46 Wenn jedoch für die Beschreibung der ›Wanderjahre‹ ein für die Zeitgenossen verhältnismäßig abgelegenes Wort wie das Aggregat herbeizitiert wird, dann darf man getrost davon ausgehen, daß die damit einhergehenden Implikationen mitbedacht wurden.47
43 Beide Zitate: Goethe: Analyse und Synthese, S. 85. Hervorhebungen: M. B. 44 Daß ausgerechnet Sand später eine Grundlage für digitale Archive sein würde, konnte Goethe nicht vorausahnen: »Statt auf Erz aber bauen die Archive der Mikroelektronik heute auf Sand: Speicher aus Silizium, für digitale Sandkörner im Kornhaus der Bits« (Ernst: Rumoren der Ar chive, S. 41). 45 Vgl. auch Goethes Gedicht ›Atroismos‹ (Erstdruck 1820 in den ›Heften zur Morphologie‹ I 2, später als ›Metamorphose der Tiere‹ veröffentlicht). Im Kommentar der Frankfurter Ausgabe heißt es, der »Sinn des ursprünglichen Titels ist noch nicht aufgehellt. Das Wort bedeutet etwa Sammlung, Versammlung, auch Anhäufung, Aggregat. Ist er auf die Form des Gedichtes zu be ziehen (fragmentarische Gedanken-Anhäufung? Quintessenz?) oder auf den Gegenstand (das Tier als Aggregat)?« (FA I 2, S. 1089; vgl. auch Geulen: Serialization, S. 5). 46 ›Die Wahlverwandtschaften‹ spielen ja nicht nur im Titel mit naturwissenschaftlichem Voka bular. Darüber hinaus waren sie bekanntermaßen ursprünglich als Novelle für die ›Wanderjahre‹ geplant. (Vgl. Ritzenhoff, Ursula: Die Wahlverwandtschaften. Erläuterungen und Dokumente. (= RUB 8156). Stuttgart 1982. S. 85). Muschg spricht von Goethes »versuchsweise[r] Anordnung naturwissenschaftlicher Regeln und Gesetze auch auf literarische Gegenstände […].« (Muschg, Adolf: ›Der Mann von funfzig Jahren‹. In: Ders.: Goethe als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grünen bei einem alten Dichter. (= stb 1287). Frankfurt am Main 1986. S. 144–169. Hier: S. 147). 47 Ein solches Bewußtsein für die Terminologie spiegelt sich in folgender Äußerung Goethes aus dem Kontext des Aggregats wider: »Übrigens lassen Sie uns für alle Kunstwörter einen gleichen Respekt haben! Jedes zeigt [sic] von der Bemühung des Menschengeistes etwas Unbegreifliches zu begreifen. Laßen [sic] Sie uns die Worte Aggregation, Krystallisation, Epigenese, Evolution nach unsrer Bequemlichkeit brauchen, je nachdem eins oder das andere zu unsrer Beobachtung
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Die Zusammenschau der Ergebnisse macht es nun möglich, Goethes Aggre gatbegriff zu spezifizieren und ihn den anderen zeitgenössischen Aggregatskon zeptionen gegenüber zu positionieren: Das Goethesche Aggregat ist (1) ein Ganzes, bestehend aus unverbundenen Teilen (ganz in der Tradition des Begriffs). Diese Teile dürfen durchaus auch ›ungleichartig‹, also verschieden sein (dies steht im Widerspruch zu Zedler) und die ›Stelle‹ der Teile ist ohne Relevanz (vs. Kant). Sie existieren (2) nebeneinan der und dürfen einander nicht ›aufheben‹.48 Da (3) eine Steigerung grundsätzlich möglich ist, kann das Aggregat auch als Zwischen-, oder als Übergangsgebilde verstanden werden (sowohl in seiner Eigenschaft als ein Artefakt als auch tem poral; dann wäre es ein transistorisches Gebilde). Die Entstehungsart des Aggre gats ist keine chemische (4), sondern eine physikalische, d. h. mechanische. Es ist (5) negativ konnotiert, lieber ist es (auch als Begriff) zu vermeiden. Genaues bzw. wiederholtes Hinschauen zeitigt vielleicht doch ein erfreulicheres Ergebnis, etwas ›Höheres‹. Weiter steht das Aggregat (6) in Opposition zur Synthese. Es ist (7) nicht lebendig. Man kann es (8) als eine Art Form der Formlosigkeit interpre tieren, denn der Charakterzug des Chaotischen schwingt zumindest latent immer mit (Sandhaufen, Trümmerhaufen).49 Das Goethesche Aggregat, und nur dieses, weiß (9) um die es mitkonstituierenden Zwischenräume, und thematisiert sie auch.50
am besten zu passen scheint.« (WA II 13, Nachträge zu Band 6–12, S. 429) – Damit fällt der Beob achtung übrigens die Präponderanz zu, die Terminologie hat sich daran anzupassen. 48 Dem wohnt die Möglichkeit zur Steigerung inne: höben die Teile einander auf, so entstün de ein Körper. Dann wäre jedoch ein Diskurswechsel vonnöten: von der physikalischen Entste hungsart zur chemischen, wie weiter oben bei der Betrachtung der ›Scheinbaren Breccien‹ deut lich wurde. 49 Insofern trifft Dannebergs Behauptung, »zerlegte Ganzheiten als Aggregate lassen sich per definitionem restituieren«, auf Goethes Aggregatsverständnis nicht zu. (Danneberg, Lutz: Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Schönert, Jörg & Ulrike Zeuch (Hgg.): Mimesis – Repräsentation – Imagina tion. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin/ New York 2004. S. 241–282. Hier: S. 279). 50 Die anderen Definitionen sprechen zwar von fehlender ›dépendence ou liaison‹ (Encyclopé die), von ›Heerde‹, ›Summe‹ (Zedler), von ›Haufen‹ und ›Ganzen, welche wieder aus merklich verschiedenen Theilen bestehen‹ (Adelung), aber für die Zwischenräume, die für all das die conditio sine qua non sind, erweisen sie sich erstaunlicherweise allesamt als blind.
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3. Zur angeblichen Nichtanalysierbarkeit des Aggregats Sand- und Trümmerhaufen werden im zeitgenössischen Diskurs über den Umweg der Aggregation, deren Hauptmerkmal die Unverbundenheit der sie ausmachen den Teile ist, als Körper augenfällig gemacht – zunächst fernab jeglicher ästheti schen Reflexion. Es stellt sich die grundlegende Frage: Wenn der analysierende Zugriff auf Texte als ›zerstückelnd‹ wahrgenommen wurde51 – durchaus verstan den in Analogie zur Anatomisierung von Körpern – und dieses Zerstückeln die Texte angeblich um ›Geist‹ und ›Leben‹ bringt, was bedeutet es dann, wenn ein Text – ohne vorhergehende ›analysis‹ – als formlos, als zerstückelt, nämlich eben als Aggregat, in Szene gesetzt wird? Oder, anders formuliert: Wo liegt die Volte in Goethes Äußerung die ›Wanderjahre‹ »g[ä]be[n] sich nur für ein Aggregat aus«?52 Erstens wohl in seinem differenzierten Aggregatsverständnis. Die Untersuchung der zeitgenössischen Verwendung des Begriffs hat gezeigt, daß Goethes Wortge brauch von dem bis dahin konventionalisierten differiert. Dadurch offenbart sich sein Aggregatsbegriff selbst wieder als ein Aggregat (er vereint Unterschiedliches, nimmt Weiteres nachträglich ohne vorgefaßte Idee auf); zweitens im Betreten von terminologischem Neuland. Goethe übernimmt den Begriff aus den Sphären von Naturwissenschaft und Philosophie, um ihn in jene der Beschreibung einer ästhetischen Problemstellung zu implantieren; drittens in der Inszenierung der Aggregatform. Der entscheidende Passus lautet ja nicht, die ›Wanderjahre‹ seien ein Aggregat, sondern »das Buch gebe sich nur für ein Aggregat aus.«53 – Es gibt sich den Anschein (diese Terminologie ist noch aus den ›Scheinbaren Breccien‹ geläufig), ein Aggregat zu sein. Insofern darf das Aggregat sowohl als Deforma tions- als auch als Kontingenzinszenierung verstanden werden.54 Wenn sich ein Text für etwas ausgibt, dann ist das eine andere Sachlage, als wenn der Autor oder wer auch immer im nachhinein behauptet, ein Text ›sei‹ etwas. Denn das Sich-für-etwas-Ausgeben setzt Mittel wie etwa empirisch nachweisbare Verfah rensweisen und strukturelle Merkmale voraus – manchmal auch der Intention des Autors konträr verlaufende. Auf der Textebene bedeutet das, daß die fehlenden Informationen und das Vorenthalten von Kommunikation,55 das Unverknüpfte
51 Vgl. dazu z. B.: Danneberg: Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. 52 Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 628. 53 Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 628. Hervorhebungen: M. B. 54 Zur wechselseitigen Bedingtheit und Inszenierung von Kontingenz- und Ordnungssystemen vgl. Greiner und Moog-Grünewald (Hg.): Kontingenz und Ordo; Michel, Sascha: Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland – Jean Paul – Brentano). Tübingen 2006. 55 Zur problematischen Mitteilung in den ›Wanderjahren‹ vgl. Karnick, Manfred: »Wilhelm Meis
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und Befremdliche in den ›Wanderjahren‹ sich vorläufig lesen lassen als formale Prinzipien, die Goethes Aggregatsverständnis Ausdruck verleihen (indem sie z. B. die für dieses Aggregatkonzept konstituierenden Zwischenräume und Lücken figurieren).56 Ganz nebenbei wird dadurch eine strikte Abkehr vom klassischen Erzähler und vom klassischen Kunstideal initiiert, das sich an einem wie auch immer gearteten Vollkommenheitsdiskurs orientierte und mit den Topoi formaler Geschlossenheit sowie unversehrter Oberflächen sympathisierte.57 Diese Neuori entierung betrifft jedoch vor allem die diesem Ideal zugrundeliegende »norma tive Ganzheitsvorstellung«.58 Wie sähe nun ein Aggregat ins Positive gewendet aus, eines, mit dem man (am Text) arbeiten könnte?59 Goethes Aufsatz ›Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt‹ beschreibt implizit – vielleicht nolens volens – ein solches, ohne den Begriff jedoch zu verwenden:60
ters Wanderjahre« oder die Kunst des Mittelbaren. Studien zum Problem der Verständigung in Goethes Altersepoche. München 1968. S. 7; vgl. auch Mahoney: Roman der Goethezeit, S. 155–161. 56 Einen ›vorbildlichen‹ Roman hingegen macht nach Blanckenburg gerade seine Lücken losigkeit aus (vgl. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 315). Zum ›stückhaften Erzählen‹ in den ›Wanderjahren‹ und dessen Entsprechung im Historischen Teil der ›Farbenlehre‹ vgl. Schöne, Albrecht: Goethes Farbentheologie. München 1987. S. 46 f. 57 Muschg opponiert den Spätstil Goethes dem für die Klassik typischen Bemühen um Abrun dung. Goethe gebe den Anspruch auf Vollendung gelassen preis (vgl. Muschg, Adolf: Erfahrene Hoffnung – ein Vorwort. In: Ders.: Goethe als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grünen bei einem alten Dichter. (= stb 1287). Frankfurt am Main 1986. S. 7–24. Hier: S. 15). Herwig zufolge ›sprenge‹ Goethe mit den ›Wanderjahren‹ gar den klassischen Werkbegriff (vgl. Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 394). Man sollte sich jedoch vor einer vorschnellen Vereinnahmung der ›Wanderjahre‹ als dezidiert kontraklassisch in acht nehmen. Denn andererseits war das Klassi sche für Goethe die »ästhetisch gestiftete Einheit der Mannigfaltigkeit« (Gutjahr, Ortrud & Harro Segeberg: Vorwort. In: Dies. (Hgg.): Klassik und Anti-Klassik. Goethe und seine Epoche. Würz burg 2001. S. 3–4. Hier: S. 4). 58 Gutjahr & Segeberg: Vorwort, S. 4. Blanckenburg überschreibt den gesamten zweiten Teil sei nes ›Versuchs über den Roman‹ mit »II. Von der Anordnung und Ausbildung der Theile und dem Ganzen eines Romans.« (Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 245). 59 Die ›Wanderjahre‹ nennen den Begriff Aggregat nicht. Dennoch hören sich manche Stellen so an, als ›wüßte‹ der Text vom Aggregat oder als reflektiere er es. So spricht er in den Spruchsamm lungen vom Sondern und Verknüpfen (vgl. 327, BSW 115), von Korrelaten (vgl. 328, BSW 122), vom regel- und unregelmäßigen Anhäufen sowie vom »atomistische[n] Begriff« (514, AMA 109). 60 Entstanden 1792, Erstdruck 1823 in den ›Heften zur Naturwissenschaft überhaupt‹. Vgl. zum ›Versuch als Vermittler‹ äußerst instruktiv: Pethes, Nicolas: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. S. 323–330; sowie Förster, Eckart: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. (= Philosophische Abhandlungen Bd. 102). Frankfurt am Main 2011. S. 257–260.
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Aggregat, Aggregation: ›Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren …‹
[Die] Materialien müssen in Reihen geordnet und niedergelegt sein, nicht auf eine hypo thetische Weise zusammengestellt, nicht zu einer systematischen Form verwendet. Es steht alsdann einem jeden frei, sie nach seiner Art zu verbinden und ein Ganzes daraus zu bilden, das der menschlichen Vorstellungsart überhaupt mehr oder weniger bequem und angenehm sei [sic].61
Vor diesem Hintergrund läßt sich auch Goethes Aufforderung aus der Einleitung zum ›Entwurf einer Farbenlehre‹ lesen. Er verlangt, daß man sich »die Mühe [...] geben [solle], das Einzelne kennenzulernen und ein Ganzes zu erbauen.« Gleich zeitig ist es ihm ein Graus, »daß die Menschen lieber durch eine allgemeine theoretische Ansicht, durch irgendeine Erklärungsart die Phänomene beiseite bringen.«62 Das Einzelne, die Phänomene haben ebenso ihre Daseinsberechti gung wie das Ganze und brauchen vor diesem nicht zurückzutreten, auch dies ist ein Grundgedanke des Goetheschen Aggregats. Vom Leser wird erwartet, daß er nicht versucht, die Phänomene durch vorgefertigte Deutungsmuster ›beiseite‹ zu bringen. Der ›Versuch‹ hält fest: In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakta anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, daß sie isoliert seien, es ist nur die Frage: Wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser Begebenheiten?63
Es gehe an dieser Stelle, so Pethes, um die »Alternative zwischen einer ›Verman nigfaltigung‹ von Einzelversuchen und ihrer Zusammenfassung zu einer allge meinen Theorie.«64 Geulen hingegen argumentiert, Goethe schlage die Reihenbil dung hier nicht um der Verbindung willen vor, sondern, genau im Gegenteil, um Verbindungen außen vor zu lassen. Sein Anliegen sei eine Art Beziehungsvermeidung. Der Hauptzweck dabei sei, die isolierte und isolierende Natur des Versuchs
61 Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt. In: Ders.: Schriften zur Naturwis senschaft. Hg.: Michael Böhler. (= RUB 9866). Stuttgart 1977. S. 5–15. Hier: S. 15. Pethes spricht in diesem Zusammenhang von »Goethes Forderung nach Pluralisierung und Serialisierung« (Pe thes: Zöglinge der Natur, S. 325). 62 Beide Zitate: Goethe: Entwurf einer Farbenlehre. In: Ders.: Schriften zur Naturwissenschaft. Hg.: Michael Böhler. (= RUB 9866). Stuttgart 1977. S. 175–183. Hier: S. 176. Hervorhebungen: M. B. 63 Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, S. 12. Kursivierungen im Original. Vgl. zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften den nach wie vor lesenswerten Essay von Carl Friedrich von Weizsäcker: Einige Begriffe aus Goethes Naturwissenschaft. In: Goethe: Naturwis senschaftliche Schriften I, HA XIII, S. 539–555. 64 Pethes: Zöglinge der Natur, S. 327.
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herauszustellen, zu forcieren und zu radikalisieren. Damit wolle Goethe schiefe Analogien oder voreilige Folgerungen aus Experimenten unterbinden.65 Der Leser jedenfalls hat die Aufgabe, Verbindungen zu suchen aber solche keinesfalls gewaltsam herzustellen: Auf diese Weise wird unterschieden, was zu unterscheiden ist, und man kann die Samm lung von Erfahrungen viel schneller und reiner vermehren, als wenn man die späteren Versuche, wie Steine, die nach einem geendigten Bau herbeigeschafft werden, unbenutzt beiseite legen muß.66
Hier scheint ein letzter zentraler Punkt von Goethes Aggregatsverständnis auf. Es ist der Charakter des Provisorischen, die Möglichkeit des nachträglichen Hinzufügens.67 Diese Eigenschaft thematisiert Goethe in einem Schreiben vom 28. Juli 1829 an Rochlitz. Dort heißt es expressis verbis in Bezug auf die ›Wanderjahre‹: In diesem Sinne empfand ich dankbar: daß Sie mir die Stellen bezeichnen wollen welche Sie in den neuen Wanderjahren sich angeeignet. Eine Arbeit wie diese, die sich selbst als kollektiv ankündiget, indem sie gewissermaßen nur [!] zum Verband der disparatesten Ein zelnheiten [Aggregat] unternommen zu sein scheint, erlaubt, ja fordert mehr als eine andere daß jeder sich zueigne was ihm gemäß ist, was in seiner Lage zur Beherzigung aufrief und sich harmonisch wohltätig erweisen mochte. [...] Denn das darf ich wohl sagen: was ich in meinen Schriften niedergelegt habe [,] ist für mich kein Vergangenes, sondern ich seh es, wenn es mir wieder vor Augen kommt, als ein Fortwirkendes an, und die Probleme, die hie und da unaufgelöst liegen, beschäftigen mich immerfort, in der Hoffnung daß, im Reiche der Natur und Sitten, dem treuen Forscher noch gar manches kann offenbar werden.68
Damit ziehen Anschlußfähigkeit und Unabschließbarkeit (mit Goethe gesprochen: Unendlichkeit) mit ein in das Aggregat. Wie man solche Phänomene handhaben kann, zeigt ein Blick auf Goethes Umgang mit dem Problem des Verhältnisses von Einzelnem und Ganzem. Allgemein kann man zwei mögliche Wege ausmachen. Einmal läßt sich aus einem Ganzen eine Vielzahl von Einzelelementen herausprä parieren. Zum andern läßt sich ein Ganzes als konstruiert aus einer Vielheit verste hen. Man gelangt also entweder vom Ganzen zum Einzelnen oder aber von gehäuft auftretenden Einzelteilen zu einem Ganzen. Anders als Goethe in seinem Aufsatz ›Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt‹ nahezulegen scheint, braucht
65 Vgl. Geulen: Serialization, S. 10. 66 Goethe: Der Versuch als Vermittler, S. 15. 67 Dies entspricht Kants Rede von der einem System nicht schicklichen ›zufälligen Hinzuset zung‹ – was für das System ausgeschlossen werden muß, darf hingegen als Konstituens des Ag gregats verstanden werden. 68 Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 339. Hervorhebungen: M. B.
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man sich bei der Frage Teil oder Ganzes bzw. analytisches vs. synthetisch-geneti sches Verfahren aber nicht für eine Spielart zu entscheiden. Goethe selbst verwirft diese vieldiskutierten aber doch nur scheinbar unhintergehbaren Dichotomisie rungen. Er bescheidet sich gelassen mit einem Schaukelsystem: Es ist z. B. die Frage: ob man eine gewisse Einheit an der die Mannigfaltigkeit sichtbar ist aus schon vorhandenem Mannigfaltigen Zusammengesetzten erklären oder aus einer pro duktiven Einheit entwickelt ansehen und annehmen wolle. […] [G]enau besehen aber findet sich immer daß der Mensch dasjenige voraussetzt was er gefunden hat, und dasjenige findet was er voraussetzt. Der Naturforscher als Philosoph darf sich nicht schämen sich in diesem Schaukelsystem hin und her zu bewegen und da wo die wissenschaftliche Welt sich nicht versteht sich selbst zu verständigen.69
Folgendes Schaubild visualisiert das Schaukelsystem unter Verwendung von Terminologie aus den ›Wanderjahren‹: Einzelnes
Ganzes/Gehäuftes »was nicht entschieden werden kann, bleibt im Schweben«70 ○ »Problem«71
Das Schwanken als Erkenntnismittel thematisiert der Text explizit in einem Gespräch, das durch Frag’ und Antwort, durch Einwendung und Berichtigung sich gar löblich durch schlang und in mannigfaltigem Schwanken zu dem eigentlichen Zweck gefällig hinbewegte. (437; Hervorhebungen: M. B.)72
69 Goethe: Nachträge zur Metamorphose der Pflanzen (FA I 24, S. 700–714. Hier: S. 708. Her vorhebungen: M. B.). Handschriftlich notiert Goethe am Rand des Manuskripts: »Methode de Bascule/Schaukel System/Denn wie ich wenn ich schaukele gerade nicht aus dem Gleichgewicht komme sondern es erst recht betätige.« (FA I 24, S. 1178). Vgl. auch Geulen: Serialization, S. 2. 70 Vgl. den Ausspruch des Redaktors: »Hiemit wäre alles für den Augenblick berichtigt; was nicht entschieden werden kann, bleibt im Schweben.« (482). 71 »›Hier aber‹, versetzte Wilhelm, ›sind so viele widersprechende Meinungen, und man sagt ja, die Wahrheit liege in der Mitte.‹ – ›Keineswegs!‹ erwiderte Montan, ›in der Mitte bleibt das Problem liegen, unerforschlich vielleicht, vielleicht auch zugänglich, wenn man es darnach an fängt.‹« (287). 72 Die ›Wanderjahre‹ registrieren auch das Phänomen der Schaukel wörtlich: »Und so standen hier, in gehörigen Entfernungen zusammengeordnet, das große Schaukelrad, wo die Auf- und Absteigenden immer gleich horizontal ruhig sitzenbleiben, andere Schaukeleien, Schwungseile, Lusthebel, Kegel- und Zellenbahnen und was nur alles erdacht werden kann, um auf einem gro ßen Triftraum eine Menge Menschen verschiedentlichst und gleichmäßig zu beschäftigen und zu erlustigen.« (108 f.).
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Zur angeblichen Nichtanalysierbarkeit des Aggregats
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Zudem schwanken oder schaukeln auch die ›Wanderjahre‹ selbst. Wenn der Text ›Ordnung‹ sagt, sagt er immer auch ›Unordnung‹. Wenn er ›Unordnung‹ sagt, sagt er ›Ordnung‹. Wenn er ›Archiv‹ meint, meint er ›Menge‹. Wenn er ›Menge‹ meint, meint er ›Aggregat‹ und dann wiederum ›Aufbewahrung(-en)‹ und ›Archivie rung‹. Es geht im Text, dies meine These, um eine Verlebendigung von Ordnung, die nicht zuletzt in einem Schwanken zwischen verschiedenen Ordnungssyste men Widerhall findet.73 Grundsätzlich bedeutet das Aggregat also immer zweierlei. Zur Debatte steht ein Schwanken zwischen Unordnung einerseits und einem minimalen Ordnungs betrag andererseits. Die ›Wanderjahre‹ ›systematisch konstruieren und analysie ren zu wollen‹, ist trotz dieser Ambivalenz aber keine ›alberne Idee‹.74 Erinnern wir uns an Baßlers Diktum: »Ein Text ist eine Repräsentation, die man analysie ren kann.«75 Das Konzept des Aggregats alleine ist vielleicht in der Tat nicht hinreichend, um die ›Wanderjahre‹ angemessen zu erfassen, denn nicht nur in naturwissen schaftlicher Sichtweise, sondern auch und gerade in aestheticis, so könnte man sagen, ist es als Beschreibungskategorie per definitionem defizitär. Das erwies sich bei der Untersuchung des Begriffs. Der Rede vom Aggregat haftet durchgän gig ein pejorativer Duktus an. Dieser steht im Zusammenhang mit der damals noch immer virulenten Vollkommenheitsästhetik.76 Verwendet wurde das Aggregat wohl tatsächlich ad interim, weil ein besserer Terminus nicht zur Verfügung stand. Das 18. und 19. Jahrhundert hatte einfach
73 »Das ›Werk‹ [die ›Wanderjahre‹] steht vielmehr zwischen den Sammlungen ›vorher‹ und denen ›nachher‹; es geht aus Sammlungen hervor, die aus vielen Büchern stammen, und trägt seinerseits zu weiteren bei. Nicht nur Aufzählungen also sind Passagen zwischen Texten, son dern auch umgekehrt ist der Text selbst ein Zwischenzustand: eine Passage zwischen Aufzählun gen.« (Mainberger, Sabine: Die Kunst des Aufzählens: Elemente zu einer Poetik des Enumerati ven. Berlin/New York 2003. S. 317). 74 Nicht nur Goethe hielt eine Analyse für unmöglich. D’Aurevilly (1808–1889) spricht man chen Texten Goethes sowohl die Lesbarkeit als auch die Analysierbarkeit ab. Interessanterweise wegen eines dort vorherrschenden »Chaos von Wesen, die keine Figuren sind, die, man weiß nicht mehr recht in was eigentlich, kreisen, inmitten dieses Gewühls von Begriffen, Kenntnis sen und Theorien, die den Eindruck eines Narrenspektakels in einem umgekippten Trödelladen machen. Man braucht mit den Worten nicht zu fackeln: Wilhelm Meister und Die Wahlverwandtschaften sind Phänomene der Dummheit. Man würde seine Zeit und seine Ehre verlieren, woll te man sie analysieren.« (D’Aurevilly, Jules Barbey: Gegen Goethe. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Berlin 2006. S. 54 f. Kursivierungen im Original). 75 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 111. 76 Das gilt auch für die ›Wanderjahre‹-Forschung: »Wollte man die Wanderjahre ihrer ironischen Dimension entkleiden, bliebe nur ein Aggregat […].« (Fink: Tagebuch, Redaktor und Autor, S. 35. Kursivierung im Original).
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Aggregat, Aggregation: ›Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren …‹
noch kein passenderes Bild zur Hand für eine Textgestalt wie die den ›Wanderjah ren‹ eigene. Das erschwert es, das Aggregat als Beschreibungskategorie für einen literarischen Text stark zu machen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Aggregat wichtigen Eigenschaf ten des Texts Rechnung trägt. Diese sind: Leerstellen,77 Unverknüpftes, Unver bundenes einerseits und andererseits die diesen Phänomenen freilich ungeformt entgegenstehende Ganzheit des Texts. Dabei ist es im Stand, den scheinbar para doxen Hiatus zwischen Unverknüpftheit und Ganzheitsinszenierung auszuhal ten. Außerdem stellt es die Relativität der Einzelteile untereinander gut dar. Der Topos des nachträglichen Hinzufügenkönnens ist nicht nur für Goethes Aggregat bedeutsam, sondern darüber hinaus ein Konstituens der am Ende der vorliegen den Untersuchung stehenden Definition des Archivromans. Für einen Zugriff auf den Text der ›Wanderjahre‹ bietet das Aggregat zwei Her angehensweisen an – wohlgemerkt nicht als Alternativen zu verstehen, sondern parallel: sowohl die, vom Einzelnen zum Ganzen zu gehen als auch die, vom Ganzen aufs Einzelne zu schließen; das Aggregat enthält sich also der Tendenz zur Dichotomisierung, welche Goethes Symbol-/Allegoriediskussion dominiert. Das Aggregat ist mehrdeutiger, hält das (Beschreibungs-/Benennungs-) Problem in der Schwebe und zeichnet sich gerade dadurch aus, für keine der beiden scheinbaren Wahlmöglichkeiten (Detail oder Ganzes) Partei zu ergreifen. Mit Geulen lese ich das Aggregat als Instrument zur Beziehungsvermeidung,78 das eine Darstellbarkeit von Disparatem in der literarischen Praxis erst gewährleis tet. Das Aggregat hat mit der Reihe, mit der Geulen sich ja eigentlich beschäftigt, die fehlenden Übergänge zwischen den Einzelelementen gemein. Es unterschei det sich von ihr aber insofern, als es als Korpus, also dreidimensional gedacht werden kann, während die Reihe auf Lineares beschränkt bleibt.79 Wer mit dem Aggregat arbeitet, weiß, daß er keine Form erwarten bzw. nicht von einer solchen ausgehen kann, daß er ›nur‹ mit einem ›Haufwerk‹ zu schaffen hat. Definitionsgemäß bleibt das Aggregat ohne Abschluß und widersetzt sich jedweder Rhetorik von der geschlossenen oder vollendeten Form.80
77 Vgl. dazu: Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Aufl. (= UTB 636). München 1994. V. a. S. 284–301: ›Die Leerstelle als aufgesparte Anschließbarkeit.‹ 78 Vgl. Geulen: Serialization, S. 10. 79 Diese konzeptionelle Differenz zwischen Aggregat und Reihe hat übrigens auch Kant mehr fach markiert (vgl. z. B. Kant: Werke IV (1956), S. 404). 80 Und agitiert indirekt vielleicht auch gegen den Begriff des ›Kontur‹, wie er im Beschreibungs katalog klassischer Kunstbetrachtung verankert ist. Vgl. z. B. Pfotenhauer, Helmut: Winckel mann und Heinse. Die Typen der Beschreibungskunst im 18. Jahrhundert oder die Geburt der neueren Kunstgeschichte. In: Ders. & Boehm, Gottfried: Beschreibungskunst – Kunstbeschrei
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Exkurs: Karl Philipp Moritz’ Roman ›Anton Reiser‹
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Das Aggregat weiß um die es konstituierenden Zwischenräume, sagt aber über deren genaue Beschaffenheit nichts aus. Es liegt in der Logik des Begriffs, defizitär (ohne werten zu wollen) und undogmatisch angelegt zu sein, und gleichzeitig ist es sein Verhängnis, die Entsprechung hierzu in seiner oft nur bei läufigen Verwendung finden zu müssen. Meist wird er herangezogen um etwas Provisorisches oder Lückenhaftes anzudeuten, ohne wirklich ernst genommen zu werden. Trotzdem ist das Aggregat keine exzentrisch anmutende Trouvaille in abgelegenen und peripheren Goethetexten.81 Bei genauerer Untersuchung ent puppt es sich als ein Topos, der Texte um 1800 beschäftigt.
4. Exkurs: Karl Philipp Moritz’ Roman ›Anton Reiser‹ Das Aggregat fand oft unbewußt Eingang in Texte. Konzentriert man sich auf das mit dem Begriff einhergehende semantische Feld, so kann man leicht feststellen, daß und wie weit der Aggregatdiskurs ausgreift. An Karl Phillip Moritz’ Roman ›Anton Reiser‹ werden besonders die amorphen, formbedrohenden Eigenschaf ten des Aggregats deutlich. Der letzte Satz im ›Anton Reiser‹ lautet: »– Die Sp…sche Truppe war also nun eine zerstreute Herde.«82 Wie weiter oben ausgeführt wurde, übersetzt Zedler die Begriffe »Aggregare, aggregieren« mit »zur Heerde bringen, zusammen bringen, oder sammlen [sic].«83 Die ›zerstreute Herde‹, von der bei Moritz die Rede ist, kann geradezu als sinnbildlich verstanden werden für die vorhandene Form des Aggregats bei gleichzeitiger Disparatheit; Formierung und die Auflösung der Form schließen sich hier nicht aus, es kann noch von einer ›Herde‹ gesprochen werden, obwohl diese bereits ›zerstreut‹ ist. Im ›Anton Reiser‹ lassen sich weitere Textstellen ausmachen, in denen mit dem Aggregat verwandte Signalwörter und Assoziationen eine Rolle spielen. Das ist auch nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil Moritz’ Text in den ›Wander jahren‹ Resonanz findet. In der Erzählung ›Wer ist der Verräter?‹ wird er gleich zwei Mal erwähnt; der dortige Protagonist Lucidor fragt sich: »Was will denn der
bung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995. S. 313–341. 81 Das Aggregat ist noch immer im Dienst. Drügh etwa redet vom Erzähler in Grimmelshausens ›Simplicissimus‹ als einem »Ich-Aggregat« (Drügh: Anders-Rede, S. 41). 82 Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: Karl Philipp Moritz: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hgg.: Hollmer, Heide und Albert Meier. Frankfurt/M. 2006. (= Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. Band 8.) S. 85–518. Hier: S. 518. Hervorhebungen: M. B. 83 Zedler, Bd. 1. A–Am, Sp. 779.
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Anton Reiser mit Lucinden […]?« (104). Der eigentliche Name des vermeintlichen Nebenbuhlers lautet Antoni; Lucidor nennt ihn durchaus abschätzig kalauernd ›Anton Reiser‹, um dessen Weitgereistheit zu markieren, die im Gegensatz zur Häuslichkeit von Lucinde steht. An mehreren teils exponierten Stellen des Romans ›Anton Reiser‹ werden Fragen erörtert, die mit dem Phänomen der Häufung einhergehen. Bereits im Vorwort zum zweiten Teil etwa wird der »unendlichen Menge von Kleinigkeiten« gedacht, »die alle in dieser Verflechtung äußerst wichtig werden, so unbedeu tend sie an sich scheinen. –«84 und: Wer auf sein vergangnes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklo sigkeit, abgerißne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit ver liert sich allmählich, die abgerißnen Fäden knüpfen sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich – und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf. –85
Das genaue Hinschauen, das ja von Goethes ›Scheinbaren Breccien‹ schon bekannt ist, vermag das beängstigende Chaos ›aufzulösen‹ – man meint gera dezu Schillers Idee herauszuhören, wonach der Verstand, indem er verknüpft (Schiller: »verkettet«), »das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängendem Ganzen« »erhebt«.86 Von Belang ist auch, wozu das Chaos dann mutiert. Es wird zu ›Harmonie und Wohlklang‹ und wiederum tritt das semantische Feld des Aggregats auf den Plan, auf Goethes Äußerung über die ›Wanderjahre‹ verweisend, in der er vom Verband der disparatesten Einzelnheiten [spricht und davon, daß] jeder sich zueigne was ihm gemäß ist, was in seiner Lage zur Beherzigung aufrief und sich harmonisch wohltätig erweisen mochte.87
84 Beide Zitate: Moritz: Anton Reiser, S. 186. 85 Moritz: Anton Reiser, S. 186. Hervorhebungen: M. B. 86 Alle drei Zitate: Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, S. 20. 87 Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 339. Hervorhebungen: M. B. – Die Idee des Nebeneinanderstellens von Gesammeltem sowie einer daraus entspringenden Harmonie be schäftigt Moritz auch an anderer Stelle: »Nun wird aber dasjenige in der Nebeneinanderstellung oft zur Harmonie, was einzeln genommen, mißtönen würde […].« (Moritz, Karl Philipp: ›Vor schlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde‹. In: Ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hgg.: Hollmer, Heide und Albert Meier. (= Deutscher Klassiker Ver lag im Taschenbuch. Band 8). Frankfurt am Main 2006. S. 793–809. Hier: S. 801).
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Exkurs: Karl Philipp Moritz’ Roman ›Anton Reiser‹
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In Moritz’ Text ist außerdem die Rede vom »[Sich-]Verlieren unter der Menge«, von der »Menschenmasse«88 als Stoff. Menge und Masse, beides eher wertneu trale Begriffe, werden im weiteren Verlauf des Texts in der Wahrnehmung des Protagonisten gar zu ›Haufen‹:89 In einem Brief Anton Reisers an Philipp Reiser kann man lesen: »Wohl mir! einen Haufen erblick’ ich dort; Menschen, mir gleich, auch diese Wüste durchirrend –«90 und der auktoriale Erzähler schildert, daß sich Reiser »aufs neue unter dem ihn umgebenden Haufen wie verloren sahe – […].«91 Diese Beschreibung mündet schließlich in den Eindruck des Chaos‹: […] alles das sich durchkreuzende Gewimmel. – Alles schien ihm da, so dicht, so klein in einander zu laufen, wie der zusammengedrängte Haufen Häuser, den er noch in der Ferne sahe […].92
Reiser ›erblickt‹, ›siehet‹ die Haufen jeweils, d. h. eine kognitive (Fehl-)Leistung läßt sie in seiner Wahrnehmung entstehen. Er schafft es nicht, das ihn in Vielzahl Umgebende und Bedrängende etwa per Aufzählung mental auseinanderzuhal ten, zu ordnen, zu sortieren und damit zu entschärfen. Das Gesehene ›läuft‹ ihm ›ineinander‹. Daß die Häufung ex negativo durchaus einen Bezug zu geordneten Aufzäh lungen hat, erkennt Mainberger. Es gebe gar einen Übergang von der überborden den Aufzählung zur Anhäufung. Dabei ist interessant, daß Mainberger auch die Rezeption mit ins Spiel bringt (›erscheinen‹), die bei Reiser ja ebenfalls wichtig zu sein scheint: ›Häufung‹ meint einfach eine Vielheit, gleich welcher Art. Die übliche Verwendung von ›Haufen‹, ›häufen‹, ›Häufung‹ usw. erinnert indes daran, daß Aufzählungen mehr oder
88 Beide Zitate: Moritz: Anton Reiser, S. 307. 89 Genau als einen »Haufen mehrerer zusammen gebrachter Dinge« bezeichnet Adelung das Aggregat (Adelung, Teil 1: A–E, Sp. 181. Hervorhebung: M. B.). 90 Moritz: Anton Reiser, S. 317. 91 Moritz: Anton Reiser, S. 318. 92 Moritz: Anton Reiser, S. 319. Kursivierungen im Original. Das Verdichten und Klein-Ineinan derlaufen ist wiederum ein Bild, an dem Goethe im ›Nachtrag zu Philostrats Gemälde‹ sein Sym bolverständnis illustriert (vgl. Goethe: Nachtrag zu ›Philostrats Gemälde‹, in: Berndt & Drügh: Symbol, S. 246 f.). Dotzler betrachtet dieses Ins-Enge-Ziehen im Kontext des Symbolbegriffs Goethes als eine Art »Datenkomprimierung« (Dotzler, Bernhard J.: Big Number Avalanche und Weltliteratur. Medienwissenschaftliche Notizen zu Goethes Aktenführung. In: Münz-Koenen, Ingrid & Wolfgang Schäffner (Hg.): Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000. Berlin 2002. S. 3–14. Hier: S. 11).
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Aggregat, Aggregation: ›Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren …‹ weniger geordnet und im Extremfall als bloße Anhäufungen erscheinen oder in ihrem Verlauf in einen solchen Zustand übergehen können.93
Später umschwirren Reiser die Worte »Lücke«, »Reihe«, »Gedränge«, »mischen«, »Gewimmel«, »Haufen«, »Sande«, »Staubregen«, »Wüste« geradezu, um zu kul minieren in der Feststellung: »sein Dasein schien ihm ein Werk des schrecklichen blinden Ohngefährs. –«94 Der Haufendiskurs mündet im beängstigenden Chaos, herbeigeführt durch ein blindes Schicksal. Dies ist nicht die einzige Textstelle, wo ›Haufen‹ und ›blindes Schicksal‹ im Verein auftreten. So nimmt der kleine Anton etwa »Nesseln oder Disteln« als »viele feindliche Köpfe« wahr, und während er auf einer Wiese unterwegs ist, macht[ ] er eine Scheidung und [läßt] in Gedanken zwei Heere gelber oder weißer Blumen gegeneinander anrücken […] Dann stellt[ ] er eine Art von blindem Fatum vor, und mit zuge machten Augen hieb er mit seinem Stabe, wohin er traf.95
Anton variiert diese wohlinszenierten blindwütigen Zerstörungsorgien mehrfach. Auch über Kirsch- und Pflaumenkerne mußte ein blindes Schicksal walten, indem er zwei verschiedne Arten als Heere gegenein ander anrücken, und nun mit zugemachten Augen den eisernen Hammer auf sie herabfal len ließ, und wen es traf, den trafs.96
Diesen Sequenzen ist gemein, daß sie Haufen oder Heere von unterschiedlichster Beschaffenheit verhandeln: Neben den Nesseln und Disteln, gelben und weißen Blumen, Papierhelden, Kirsch- und Pflaumenkernen, werden »Fliegen mit der Klappe« totgeschlagen und papierne Städte in »Aschenhaufen«97 verwandelt. Es ist fast schon müßig, erneut festzustellen, daß es sich immer um Ansammlungen und Anhäufungen von Einzelteilen handelt – in unserer Terminologie: um Aggre gation. Nicht nur Anton als Romanfigur ist vom ›Prinzip Aggregation‹ begeistert, auch der Text spielt derart ausführlich mit dem Assoziationsfeld des Aggregats, daß es beinahe überflüssig erscheinen mag noch darauf hinzuweisen, daß der so oft auftauchende Begriff Heer laut Kluge dem mittelirischen ›cuire‹ verwandt ist, das wiederum ›Schar, Menge‹ bedeutet.98 Damit verhandelt der Text die weiter
93 Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 4 f. 94 Moritz: Anton Reiser, S. 320 f. 95 Alle drei Zitate: Moritz: Anton Reiser, S. 104. Hervorhebung: M. B. 96 Moritz: Anton Reiser, S. 105. 97 Beide Zitate: Moritz: Anton Reiser, S. 105. 98 Vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 399.
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Aggregat & Archiv
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oben nachgewiesene, dem Aggregat von Kant bis in die Gegenwart angehängte pejorative Konnotation geradezu performativ: Das ›blinde Schicksal‹ figuriert die auch dem Aggregat innewohnende Unsicherheit, die aus seinem Schwebe zustand zwischen Formierung und Formbedrohung resultieren mag. Auch sind jene Stellen, an denen Anton sich mit Aggregation konfrontiert sieht, allesamt negativ aufgeladen. Nur einmal im Text wird eine Ansammlung zerstreuter Ein zelteile vom Protagonisten als positiv empfunden. Beim Blick auf eine Wiese sieht Reiser »hin und her zerstreute[ ] […] Bäume […] mit großen und unregelmäßigen Zwischenräumen […].« Die Bäume sind nicht in einer erkennbaren Ordnung gepflanzt, und haben dazu noch einen »einsame[n] Stand«,99 bilden aber gleich zeitig, da die Wiese als Grundfläche, als Abgrenzung fungiert, ein Ganzes.100 An Moritz’ ›Anton Reiser‹ ließ sich exemplarisch nachweisen, daß das Fas zinosum des Haufens Texte um 1800 beschäftigt. Im Text ist ein ganzes Arsenal an Haufen aufgerufen. Der Begriff Aggregat fällt zwar nicht, doch seine Eigen schaften werden bis in die negative Konnotation hinein mittransportiert. Für die formale Anlage des Texts spielt es im ›Anton Reiser‹ freilich keine Rolle. Dies betreffend nehmen die ›Wanderjahre‹ eine Sonderstellung ein, wie noch gezeigt wird.
5. Aggregat & Archiv Zwischen Aggregat und Archiv lassen sich frappante Koinzidenzen ausmachen. Beide Konzepte werden ähnlichen formalen Forderungen gerecht. Zentral ist dabei, daß die ›Wanderjahre‹ auch bei der Wahl des ›richtigen‹ Ordnungssystems ins Schwanken geraten: Als ob sie dem oft als defizitär apostrophierten Aggregat nicht trauten, greifen sie zur Absicherung gegen die potentielle Verselbständi gung der Pluralität auf das Archiv zurück. Das für das Goethesche Aggregat fest gestellte Wissen um die es konstituierenden Zwischenräume findet bei Baßler dort eine auffällige Entsprechung, wo es um die Frage geht, was zwischen den Texten (inter textus), die der New Historicism miteinander vergleicht, eigentlich ist. Seine Antwort [die von Alan Liu] – »eine Verbindung des reinen Nichts« –
99 Beide Zitate: Moritz: Anton Reiser, S. 334. Kursivierungen im Original. 100 Solche Wälder verweisen wiederum auf die poetische Gattung der Sylven, wie sie Martin Opitz beschreibt. Jene ist über das Nebeneinander verschiedenster Themen definiert (vgl. Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey. (= RUB 18214). Stuttgart 2005. S. 32 f.).
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Aggregat, Aggregation: ›Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren …‹
konnten wir inzwischen durch eine plausiblere ersetzen, die da lautet: eine Äquivalenzbe ziehung, eine paradigmatische Verbindung.101
Die Pointe in Goethes Aggregatbegriff entspricht ziemlich genau Baßlers Äuße rung, das kulturwissenschaftliche Archiv enthalte »sämtliche Texte, zu denen der Einzeltext in Beziehung gesetzt werden kann, aber noch nicht diese Bezie hungen selbst«. Es geht auch hier um das Vorhandensein von Einzelteilen ohne die sie verbindenden Beziehungen. Auch die »strenge Nebenordnung – sans ordre et sans ordre«102 der Elemente nähert Baßlers Archivverständnis und das Goethesche Aggregat einander an. Insofern darf das Aggregat mit Recht als missing link zwischen dem erarbei teten Archivbegriff und den ›Wanderjahren‹ angesehen werden. In Baßlers For mulierung: »Das, was dann auf dem Tisch liegt, nennen wir Archiv. […] Die Doku mente einer gegebenen Kultur sind zunächst zu kollationieren und nebeneinander anzuordnen«103 liegt die Verbindung zu Goethes Äußerung vor. Das Aggregat, der Sandhaufen liegt ›auf dem Tisch‹. Nun soll die Erzählung ›Wer ist der Verräter?‹ auf das Archiv und dessen Implikationen hin befragt werden. Dabei wird auf die Tätigkeit und die Darstellungstechnik des Archivierens geachtet und gezeigt, wie beides in der Novelle literarisch entfaltet wird. Es gibt mehrere Gründe, weshalb die vorliegende Analyse der ›Wanderjahre‹ ausgerechnet mit dieser Textsequenz einsetzt.104 Erstens läßt sich die unscheinbare Erzählung als ein romaninternes Lehrstück in Sachen Kommunikation verstehen. D. h. sie spiegelt kommunika tive Besonderheiten wider, die für das Verständnis der ›Wanderjahre‹ von Belang sind. Sie kann als hochdifferenzierte Reflexion auf defizitäre, ausbleibende und fehlgeleitete Kommunikation verstanden werden, die als Effekt resultiert aus dem gezielten Einsatz des Lückenhaften und Unvermittelten und wiederum das an die Aggregation gemahnende Phänomen zeitigt, daß die Figuren, die sich ver binden sollen, zunächst einmal isoliert nebeneinander stehen. Die Lektüre des ›Verräters‹ ermöglicht es zweitens, verweigerte Kommunikation und das Vorent halten von Informationen sowie eine in der Forschung bisher übersehene, oder nie thematisierte ganz allgemeine Affinität des Texts zu Archiven als Konstitu enten der ›Wanderjahre‹ herauszuarbeiten.105 Das Vorenthalten von Kommuni
101 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 299. 102 Beide Zitate: Baßler: Was nicht ins Archiv kommt, S. 67. Kursivierungen im Original. 103 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 182. 104 Ich bin nicht der Ansicht, daß die ›Novellen‹ in den ›Wanderjahren‹ vor allem als Kontrastiv zu den im Text vorkommenden »Institutionen und gesellschaftlichen Zwängen« zu verstehen sind (Voßkamp: Utopie und Utopiekritik, S. 237). 105 Schneider folgert aus dem geplatzten Gespräch zwischen dem Mathematiker und Wilhelm:
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kation (nicht primär das von Wissen wie bei Schneider) kann als Hinweis auf die Archivartigkeit des Texts verstanden werden. Dann figurierte die verweigerte Kommunikation die Lücken, die sich zwangsweise zwischen archivierten Mate rialien finden.106 Die leitende These ist, daß die gesamten ›Wanderjahre‹ durch diese ganz spezifische Informationspolitik geprägt sind. Mit anderen Worten: Aus dem ›Verräter‹ lassen sich jene Grundlinien herauspräparieren, an denen sich die Analyse der ›Wanderjahre‹ in ihrem Fortgang orientieren wird.
»Die ungleiche Verteilung des Wissens, der verweigerte Einblick in die mathematischen Papiere […], finden ihre Entsprechung in der Struktur des ganzen Romans.« (Schneider: Archivpoetik, S. 57). Einen solchen Rückschluß aufs Ganze des Texts wird man auch von der ›Verräter-Erzäh lung‹ aus ziehen können. 106 So besehen stellten die ›Wanderjahre‹ nicht wie Schneider herausgearbeitet hat nur »einen Auszug« aus dem »geheimnisvolle[n] und unzugängliche[n] Archiv« dar (Schneider: Archivpo etik, S. 57), sondern lehnten sich selber strukturell an ein Archiv an, wären gar eine Art Archiv.
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V. ›Wer ist der Verräter?‹ Eine Skizze, weniger: ein kleiner Katalog müßte so entstehen, sehr unvollständig und wissentlich ungeordnet. Ein Katalog des Ausgelassenen … (Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit) I have always been for the underdog. (Golo Mann: Brief an Hans-Martin Gauger)
Das im vorigen Kapitel behandelte Konzept des Aggregats und die Erzählung ›Wer ist der Verräter?‹1 haben eine Gemeinsamkeit: beide werden falsch oder nicht genau genug gelesen, marginalisiert und nicht selten schlichtweg übersehen.2 Weiter oben ließ sich aus einer hingeworfenen Bemerkung Goethes (die ›Wan derjahre‹ als ein Aggregat) eine Strategie entwickeln und es wurde gezeigt, wie zentral das scheinbar Marginale sich verstehen läßt. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine erneute Lektüre der ›Verräter-Erzählung‹ als Desiderat: Eine Lektüre, die den Fokus abzieht vom glatten, gefälligen ›Image‹ des ihr in der Forschung erstaunlich einmütig zugeschriebenen Lustspielhaften3 um ihn auf das Refraktäre des Texts zu richten und damit zutage zu fördern, was bisher ver schütt gegangen ist. Deshalb soll hier die gleiche Losung gelten wie fürs Aggre gat, nämlich gerade das Marginale sprechend zu machen. Es wird gezeigt, daß
1 Ich bezeichne die Erzählung ungern als Novelle. Man darf die gewohnte Hierarchisierung ›Rahmen-, Binnenerzählung‹ insofern getrost beiseitelassen, als die Grenze zwischen Rahmen und Novellen sich als geradezu programmatisch durchlässig erweist. Schon früh sieht Karnick, daß hier »selbst die Begriffe ›Haupt-‹ und ›Nebenhandlung‹ ihren Sinn« verlieren (Karnick: Die Kunst des Mittelbaren, S. 182; vgl. auch: Beck, Andreas: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen: Goethe – Tieck – E.T.A. Hoffmann. Heidelberg 2008). 2 Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet unintendiert Bahr. Sein Text ist geradezu durchsetzt von Belegstellen, die sich auf die ›Verräter-Erzählung‹ beziehen. Er registriert nicht, daß er damit vielleicht einen Prototyp für das Erzählverfahren der ›Wanderjahre‹ zitieren könnte. Schon allein dieses unbemerkte gehäufte Auftauchen des ›Verräters‹ rechtfertigt eine Analyse der Erzählung (vgl. Bahr, Ehrhard: Die Ironie im Spätwerk Goethes »… diese sehr ernsten Scherze …« Studien zum ›West-östlichen Divan‹, zu den ›Wanderjahren‹ und zu ›Faust II‹. Berlin 1972. S. 103, S. 107 f., S. 112, S. 115, S. 118, S. 123). 3 In dieser Tradition vgl. z. B. den Kommentar der Hamburger Ausgabe (Goethe: Romane und Novellen III. HA VIII, S. 579) oder jenen der Münchner Ausgabe (MA 17, S. 1122).
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Forschung zur ›Verräter-Erzählung‹
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man die bisher wenig explorierte ›Verräter-Erzählung‹ genau lesen muß, um zu verstehen, wie das die ›Wanderjahre‹ konstituierende Archiv funktioniert und um vorführen zu können, daß der Text sich fasziniert zeigt vom Archiv und von Tech niken der Archivierung.4 Dies leiste ich nach einem kurzen Forschungsbericht sowohl inhaltlich als auch strukturell – also bezüglich des Titels der Novelle und dessen Genese, der Handlungsebene, der Positionierung der Novelle im Haupt text und den im Text verhandelten Archiven. Schließlich stelle ich die Frage, wie sich die Verwandtschaft des Unverknüpften, des Informationsmangels auf inhaltlicher Ebene mit der Struktur eines Archivs zusammendenken läßt.
1. Forschung zur ›Verräter-Erzählung‹ Im Gegensatz zu den anderen Novellen oder Spezialgebieten bzw. Teilbereichen in den ›Wanderjahren‹ existiert erstaunlich wenig Forschungsliteratur zur Erzäh lung ›Wer ist der Verräter?‹. Lediglich Gertrud Haupts Dissertation aus dem Jahr 1913 und Karl Pestalozzis kurzer Aufsatz nennen sie im Titel;5 ansonsten scheint es geradezu Tradition in der ›Wanderjahre‹-Forschung zu sein, sie bei Betrach tungen außen vor zu lassen oder ihr Marginalität zuzuschreiben. Begründet wird dies meist mit dem dort angeblich vorherrschenden Lustspielcharakter oder der vorgeblich fehlenden Eigenständigkeit der sich in der Fassung von 1829 über immerhin zwei Kapitel erstreckenden Novelle. So kann man paradigmatisch etwa bei Wiethölter nachlesen: »Ich überspringe die Geschichte Wer ist der Verräter?, die man als komödiantisches Pendant zur Novelle des Mannes von funfzig Jahren bezeichnen kann.«6 Durch diese Kategorisierung handelt sich die ›Wanderjahre‹Forschung einen blinden Fleck ein, denn die Komplexität der Novelle läßt sich so nicht erfassen. In Haupts Dissertation geht es vor allem um die Frage, inwiefern Erzählungen aus den ›Wanderjahren‹ als Novellen im Sinn Goethes bezeichnet werden kön
4 Eingehenderes zum Begriff der Faszination und seinen Verwendungskonjunkturen findet sich in: ›Faszination. Zur Anziehungskraft eines Begriffs‹. In: Hahnemann, Andy und Björn Weyand (Hgg.): Faszination. Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs. Frank furt am Main/New York 2009. S. 7–33. 5 Haupt, Gertrud: Goethes Novellen Sankt Joseph der Zweite, Die pilgernde Thörin, Wer ist der Verräther. Diss., Greifswald 1913; Pestalozzi, Karl: Versteckte Anspielungen in Goethes Novelle Wer ist der Verräter? in Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Wolfram Malte Fues und Wolfram Mau ser (Hg.): Verbergendes Enthüllen. Zu Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Festschrift für Martin Stern. Würzburg 1995. S. 197–206. 6 Wiethölter: ...was nicht entschieden werden kann, S. 171. Kursivierungen im Original.
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›Wer ist der Verräter?‹
nen.7 Für ›Sankt Joseph‹ und ›Die pilgernde Törin‹ kann sie eine solche Novellen haftigkeit stringent nachweisen. Bei der Erzählung ›Wer ist der Verräter?‹ stößt sie jedoch auf Schwierigkeiten. Genau hier wird ihre Analyse interessant. Haupts unbewußtes Verdienst ist es, das Befremdliche an der Erzählung zwar eher intuitiv zu erfassen, es aber immerhin zu benennen. Die Handlung im ›Verräter‹ erstrecke sich über sechs Tage, vom zweiten bis zum fünften, so Haupt, stehe sie jedoch still. Den Inhalt dieser Tage hätte Goethe auf wenigen Seiten abtun können. Auch die Lösung des Knotens wird unnötigerweise verzögert. Warum kann Lucinde nicht den Verräter nennen, warum muß Julie eine lange Fahrt mit Lucidor unternehmen und hier erst die Aufklärung geben?8
Diese Fragen kann sie nicht mit dem in ihrer Arbeit entwickelten Verständnis der Goetheschen Novellen vermitteln. Die hier aufscheinende, in der Erzählung vorherrschende kommunikative Problematik deutet Schößler zumindest an (wenn auch lediglich peripher in einer Fußnote und recht lakonisch).9 Da dieses Phänomen durch die Perspektivierung ihrer Arbeit auf das Zweierschema ›Restauration – Innovation‹ dann aber wieder untergeht, wird Wesentliches übersehen – denn Kommunikationslosigkeit, fehl geleitete und verweigerte, mißlungene und geglückte Kommunikation und deren Variationen scheinen doch wichtige Elemente der ›Verräter-Erzählung‹ zu sein, aus denen sich bedeutendes interpretatorisches Kapital für das Verständnis des ›Gesamtprojekts Wanderjahre‹ schlagen läßt. Als erste stellt Herwig der die Erzählung angeblich dominierenden Komik andere Lesarten nicht nur gegenüber, sondern gewichtet sie auch mindestens ebenso stark. Demnach übertrage Goethe in der Novelle das »Kipp-Phänomen des physikalischen Versuchs [aus der ›Farbenlehre‹] auf die Ebene der zwischen menschlichen Beziehungen.«10 Wichtig daran ist vor allem die Konstellation, d. h. die Veknüpfung eines naturwissenschaftlichen Verfahrens, einer konkreten Versuchsanordnung, mit einer angeblich so leichten Erzählung wie ›Wer ist der Verräter?‹
7 Haupt zitiert dazu die Novellendefinition aus den ›Wahlverwandtschaften‹ (!) (vgl. Haupt: Goethes Novellen, S. 17 f.). 8 Haupt: Goethes Novellen, S. 69. Die Handlung steht natürlich, so könnte man gegen Haupt argumentieren, nicht still, vielmehr fallen in diese fünf Tage die Lucidorschen Monologe, welche die Erzählung antreiben und ihr Herzstück ausmachen. 9 So findet sich dort die Formulierung »Für Lucidor ist Kommunikation prinzipiell ein Problem; er ist von Haus aus ein Schweiger.« (Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 264). 10 Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 132.
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Der Titel der Erzählung und seine Genese
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Die Skizze des Forschungsstandes legt nahe, daß eine Lektüre des ›Verräters‹ durchaus noch Brauchbares zu Tage fördern kann. Das beginnt schon beim Titel der Erzählung.
2. Der Titel der Erzählung und seine Genese Die Genese des Novellentitels ist gleichermaßen interessant wie aufschlußreich. In Goethes Tagebucheintragungen lautet er noch »Der Verräther sein selbst«, in der ersten Fassung des Romans11 dann »Wo stickt [sic] der Verräther?«. Erst für die Fassung von 1829 wurde die Bezeichnung in »Wer ist der Verräther?« geän dert.12 Haupt erwähnt nebenbei, daß es in der Novelle um ein »Rätsel« gehe, das Goethe »möglichst lange ungelöst lassen«13 wollte. Nicht zuletzt die Änderung des Titels von ›Der Verräther sein selbst‹ in ›Wer ist der Verräther?‹ trage dem Rechnung.14 Weiter führt sie ihren Gedankengang leider nicht aus. Um es zu betonen: Der Titel der Erzählung wird dezidiert in einen interrogativen transformiert und die Rätselproblematik damit geradezu plakativ voran gestellt. Ein Rätsel impliziert ja einen Mangel an Information. Dieser wird sogar noch verschärft. Wo der alte Titel (›Wo stickt …?‹) nur nach dem Aufenthaltsort eines Verräters fragt und das Subjekt selbst unhinterfragt bleibt, also klar zu sein scheint, macht der neue Titel, indem er ›Wer ist …?‹ fragt, deutlich, daß es darum geht, das dahinterstehende Subjekt zu finden. Hier liegt eindeutig mehr im Unklaren. Nicht nur ein Ort ist ausfindig zu machen, sondern ganz grundle gend eine Identität ist zu klären. Bereits die Genese des Novellentitels weist nicht nur eine Tendenz zum Vorenthalten von Informationen auf, sondern sogar noch eine solche zur Steigerung der Verschleierung.
11 Daß die zweite Fassung nicht nur eine Ergänzung der ersten ist, daß man vielleicht gar nicht von zwei Fassungen eines Texts reden sollte, weist Reiss nach. Seine noch zweifelnd formulierte Forderung, »[e]s wäre fast besser, von zwei verschiedenen Romanen zu sprechen« darf unein geschränkt angenommen werden. Er begründet sie damit, daß das Gestaltungsprinzip in den beiden Texten nicht dasselbe sei (Reiss: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1993, S. 109). 12 Vgl. FA I 10, S. 1066. Auf die Genese der Idee zur Novelle geht Herwig ausführlich ein (vgl. Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 121 ff.). 13 Beide Zitate: Haupt: Goethes Novellen, S. 70. 14 Vgl. Haupt: Goethes Novellen, S. 72.
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›Wer ist der Verräter?‹
3. I nformationsverweigerung/-lenkung auf inhaltlicher Ebene In ›Wer ist der Verräter?‹ erreicht Professor N., der Vater Lucidors, bei seinem Freund, daß dieser Lucidor einen Platz an einer »der guten Lehranstalten« (99) verschafft. Der Professor fühlt sich nun, da der Sohn aus dem Haus ist, einsam. Die zwei alten Freunde besuchen sich daher öfter, ersterer ist entzückt von den Töchtern (Julie und Lucinde) des letzteren und beide beschließen, Lucidor mit einer der beiden zu verheiraten sowie ihn zum Nachfolger des »künftigen Schwie gervaters« (99) heranzuziehen. Lucidor entwickelt sich vorerst wie gewünscht, studiert brav. Er ist so sozialisiert, daß er sein Leben in jene Richtung lenkt, welche man ihm anweist; diese Eigenschaft wird ihm im weiteren Verlauf der Erzählung zum Verhängnis, da man ihm nicht nur keinerlei Hilfestellung mehr gewährt, sondern ihn gezielt in die Irre führt. Als der Vater Lucidor eröffnet, er habe Julie für ihn auserkoren, stößt er zunächst auf keinen Widerstand. Erst als Lucidor einige Tage in der Nähe seiner Zukünftigen und ihrer Familie verbringt, stellt er fest, daß er gegen Julie ein Gefühl der »Entfremdung« (102) empfindet und sich gleichzeitig zu Lucinde hin gezogen fühlt. An diese Stelle gehört nun der verzweifelte Monolog Lucidors, den er in seinem Kämmerlein von sich zu geben schon am ersten Abend nicht umhin kommt, und mit dem die Erzählung in medias res eröffnet. Das ist – gemessen an der von Haupt zitierten Goetheschen Novellendefinition – ein Informations mangel. Die Exposition fehlt und der Leser muß sich gedulden, bis er über die näheren Umstände in Kenntnis gesetzt wird. Lucidor befindet sich in einer aus seiner Sicht aussichtslosen Lage. Er will sich dem Vater, dessen Freund und den von beiden für ihn ausgearbeiteten Hei ratsplänen nicht widersetzen, kann sich aber auch nicht in sein vermeintliches Schicksal finden, weil sein Innerstes sich gegen eine Heirat mit Julie auflehnt. Vorerst traut er sich schlichtweg nicht, sich und seine Not vor seinem Umfeld zu artikulieren: ›Nein! nein!‹ rief er aus [...]; ›nein! es ist nicht möglich! Aber wohin soll ich mich wenden? Das erstemal denk ich anders als er, das erstemal empfind ich, will ich anders. [...] Nein zu sagen! des Vaters liebstem, lange gehegtem Wunsch zu widerstreben! wie soll ich’s offenba ren? wie soll ich’s ausdrücken? (98)
Lucidor ringt um den der Lage angemessenen Sprachmodus. Interessant an der Konstruktion ist nun, daß er die Frage nach einer adäquaten Kommunika tionsform gleichzeitig thematisiert und beantwortet: Die ›wie-Frage‹ löst er per
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formativ, ohne es zu wissen, indem er sie vernehmbar artikuliert: ›es‹ wird ›qua Monolog‹15 ausgedrückt. Er fährt fort: Nein, ich kann Julien nicht heiraten. [...] Weh mir! – O ich wüßte wohl, wem ich diese Pein, diese Verlegenheit vertraute, wen ich mir zum Fürsprecher ausgriffe! Aus allen dich, Lucinde! und dir möcht’ ich zuerst sagen, wie ich dich liebe [...]. (98)
Dabei wird er belauscht und seine Mitmenschen setzen eine regelrechte Maschi nerie in Betrieb, die schließlich dazu führt, daß Lucinde seine Frau wird und daß Julie mit Antoni zusammenkommt. Was bewirkt, daß Lucidor sich in dieses für ihn alptraumhafte Szenario immer tiefer verstrickt? Einerseits ist seine Lage die Folge eines spezifischen Umgangs mit Informationen. Zum andern ist er Opfer seiner überzogenen bzw. fehlgeleiteten Einbildungskraft. Mit Haupt könnte man vorläufig formulieren: »Die seltsame Art und Weise, mit der Lucidors Geheimnisse verraten werden«,16 mache den ganz spezifischen
15 »Es sind nicht Monologe um des Zuschauers willen (wie im Lustspiel), sondern psycholo gisch motiviert durch Lucidors Enttäuschungen, Gehemmtheit, Ausdrucksbedürfnis.« (HA VIII, S. 578). Vgl. zu den Monologen Lucidors auch Karnick: Die Kunst des Mittelbaren, S. 104 sowie S. 115–119. 16 Haupt: Goethes Novellen, S. 72. Leider geht sie darauf nicht näher ein, da ihre Arbeit erstens eine ganz andere Stoßrichtung hat und sie diese Formulierung zweitens in Zusammenhang mit Ludwig Tieck einflicht, dem sie attestiert, ihm habe diese »seltsame Art und Weise« imponiert und vielleicht zu seiner Erzählung ›Die Verlobung‹ inspiriert. Im Gegensatz zu Schößler und Herwig erkennt und registriert Haupt die chronologische Abfolge richtig (vgl. Haupt: Goethes Novellen, S. 72). Weshalb sowohl Schößler als auch Herwig kommentarlos darauf verweisen, Goethe habe am 9. Februar 1823 Tiecks Novelle ›Die Verlobung‹ (1823) gelesen, die das Motiv des Selbstverrats variiere, ist nicht nachvollziehbar und ohne interpretatorischen Nutzen (Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 115; Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 263). – Die erste Fassung der ›Wanderjahre‹ erschien ja bereits 1821 und enthielt schon die ›Verräter-Erzäh lung‹ (vgl. FA I 10, S. 786 ff.). Auch in der zweiten Fassung von 1829 findet sich die Novelle völlig unverändert wieder (die Aufteilung in zwei Kapitel und den Titel ausgenommen). Tiecks Text nennt die ›Wanderjahre‹ sogar wörtlich. Er erwähnt die Debatte um die ›falschen Wanderjahre‹ Pustkuchens. Die Figur Graf Brandenstein bezeichnet Pustkuchens ›After-Wanderjahre‹ (MA 17, S. 986) als ein »verwirrte[s] und schwache[s] Buch[ ]«. (Tieck, Ludwig: Die Verlobung. In: Novel len von Ludwig Tieck. Erster Band. Die Gemälde. Die Verlobung. Die Reisenden. Musikalische Leiden und Freuden. In: Ludwig Tieck’s [sic] Schriften. Siebzehnter Band. Novellen. Berlin 1844. S. 101–168. Hier: S. 145 f.). Zum Verhältnis der ›Wanderjahre‹ Pustkuchens und Goethes vgl. Wolf, Thomas: Pustkuchen und Goethe. Die Streitschrift als produktives Verwirrspiel. Tübingen 1999.
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›Wer ist der Verräter?‹
Umgang mit Informationen in der Erzählung aus. Zunächst einmal ist es ja, wie bereits erwähnt, Lucidor, der sich nicht offen zu seinen Wünschen und Abnei gungen äußert und seinem Umfeld durch die unfreiwillige Preisgabe seines Selbstgesprächs erst die Möglichkeit bietet, ihn zu steuern. Er wird von den anderen Figuren durch die Geschichte gelotst – interessanterweise aber ex negativo. Niemand sagt dem zukünftigen Familienmitglied, wie er es anstellen soll, an sein Ziel zu kommen. Im Gegenteil. Man hat sich dahingehend abgesprochen, ihn seinen Weg selbst finden zu lassen und ihn wieder zurück zu holen, wenn er droht, aus diesem ernsten Spiel auszubrechen – wie schmerzhaft auch immer das für ihn sein mag. Am Morgen nach seinem ersten Monolog nimmt Lucidor sich zusammen, trifft auf Julie und unterhält sich mit ihr über seine Studentenzeit. Am darauffol genden Abend monologisiert er erneut und faßt den Entschluß, sich an seinen zukünftigen Schwiegervater zu wenden, um ihm zu eröffnen, daß sein Herz für Lucinde schlage: Warum aber seh ich diese Sache so verwirrt und verschränkt an? Ist der Oberamtmann nicht selbst der verständigste, der einsichtigste, liebevollste Vermittler? Du willst ihm sagen wie du fühlst und denkst [...]. (104)
Tags darauf ist der Oberamtmann dann aber »in Geschäften verreist« (105). Abends monologisiert und beschließt Lucidor auf ein Neues, sich jemandem mitzuteilen, diesmal dem alten Hausfreund, den er vor sich als den »Stell vertretenden beider Väter« (105) bezeichnet. Jedoch »[b]eim Frühstück fand sich der Greis nicht ein« (106). Begründet wird sein Ausbleiben damit, daß er »zuviel gesprochen, zu lange gesessen und einige Tropfen Wein über Gewohn heit getrunken« (106) habe. Am Abend dieses Tages, der Leser ist es schon gewohnt, monologisiert Lucidor wieder und kommt zu dem Schluß, er müsse sich nun Lucinde selbst eröffnen: »Das erste soll nun das letzte sein, und ich hoffe, zum Ziel zu gelangen.« (109) Am Morgen danach ist Julie genauso ver schwunden wie Lucinde. Des Weiteren hat sich der alte Hausfreund noch immer nicht blicken lassen und Antoni ist auf der Jagd. Nun faßt Lucidor Vertrauen zum ›lustigen Junker‹, der kurz darauf ebenfalls verschwunden ist. Lucidor kann sich schon wieder nicht mitteilen. Die ganze Zeit über wird ihm die Kom munikation verweigert, indem ihm die Gesprächspartner sukzessive entzogen werden. Während er den Junker sucht, stößt er auf Lucinde, deren Hand von Antoni vor seinen Augen »sehr feurig geküßt« (112) wird. Er interpretiert das Gesehene falsch und entsetzt sich, aber Lucinde verhält sich ihm gegenüber »freundlichst« und »unbefangen« (112), lädt ihn zu einem Spaziergang ein, um sich nach ein paar Schritten wieder von ihm zu beurlauben. Lucidor hält einen
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letzten Monolog17 und beschließt, da er nicht sehen kann, wie er noch reüssie ren könnte, sich Tags darauf zu einem Studienfreund zu flüchten. An diesem Punkt endet das achte Kapitel.18 Aus dem bis jetzt Angeführten sollte klar geworden sein, was es in diesem Zusammenhang mit dem Verweigern von Kommunikation auf sich hat.19 Lucidor wird nicht die geringste Möglichkeit eingeräumt, sich zu erklären, sich über seine Mitmenschen und deren Pläne klar zu werden. Jedes Mal, wenn er sich – zumeist nach hartem Ringen mit sich selbst – dazu entschließt, neues Vertrauen zu jemandem zu schöpfen, wird er durch den Entzug genau dieses potentiellen Gesprächspartners wieder vor den Kopf gestoßen. Direkte Gesprä che über sein Anliegen finden nicht statt. Höchstens im Allgemeinen wird von Heirat, von »Quetschungen des Lebens« (105) und den »Verirrungen in der Wahl eines Gatten« (105) gesprochen. Diejenigen, die mit Lucidor reden, halten in den Gesprächen bewußt Informationen zurück. Meist jedoch findet die Kommunika tion überhaupt nicht statt, da die jeweiligen Interaktionspartner sich schlichtweg vor ihm verstecken. Herwig konstatiert, Lucidors Monologe tauschen immer wieder nur einen möglichen Vermittler gegen den anderen aus […], schließlich kommt er auf den ersten Gedanken, Lucinde selbst um Beistand zu bitten, zurück; an der Strategie der Problemlösung ändert sich dabei nichts.20
Ni l’un, ni l’autre: Zum einen hat Lucidor keine Strategie, mit der er sein Problem lösen könnte. Als Opfer seiner mit schlafwandlerischer Sicherheit daneben- und viel zu weit vorausgreifenden Einbildungskraft kommt er gar nicht dazu, kühl zu kalkulieren. Zum andern tauschen nicht seine Monologe die Ansprechpart ner gegeneinander aus, sondern es ist Lucidors Umwelt, die ganz gezielt damit
17 Treffend vermerkt Herwig: das Zusammenspiel »von Ausdrucksbedürfnis und Entzug der Ansprechpartner [hat] den Anti-Helden mehrfach in den Monolog getrieben« (Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 114). Allerdings verursacht kein »Deus ex machina« diese Situation, wie Herwig behauptet (ebda., S. 113). Höchstens aus der eingeschränkten Sicht Lucidors ließe sich eine solche These verifizieren. Ausdrücklich die Figuren in der Erzählung sind ja mitverant wortlich für seine Lage. 18 Heinz bezeichnet dies als einen »Parforceritt von Unterhaltungen und Unternehmungen, die Lucidor kaum zu sich selbst bzw. immer zu spät zu Personen seines Vertrauens kommen lassen.« (Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 446). 19 Karnick konstatiert schon früh einen »durchgehende[n] Zug des Zurückhaltens und Zurück weisens, des Verdeckens und Versteckens in den ›Wanderjahren‹, der dem der Offenheit und Mitteilungsfreude gegenübersteht. Er zeigt sich, wenn man einmal aufmerksam geworden ist, auf Schritt und Tritt.« (Karnick: Die Kunst des Mittelbaren, S. 73). 20 Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 113.
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›Wer ist der Verräter?‹
beschäftigt ist, dies zu bewerkstelligen. Für ihn ist es eine handfeste Tatsache, daß sein Umfeld jedes Mal umstrukturiert ist, nachdem er sich zögernd ein Herz gefaßt hat, sich mit anderen zu beraten. Das Verhältnis von Monolog und Umweltaktivität ist vielmehr ein dialek tisches. Die Monologe Lucidors ermöglichen den Lauschenden zwar zu handeln, aber ihr Handeln beeinflußt ja auch die Fortführung der Monologe. Das Absurde an seiner Lage ist, daß er den anderen erst durch seine Selbstgespräche die Mög lichkeit zu dem oben beschriebenen Verhalten bietet, welches ihn dann erneut ins Monologisieren treibt.21 Jeder Monolog Lucidors trägt in diesem Sinn einen doppelt performativen Charakter, indem er Lucidors Realität verändert und sich so – über den Umweg der veränderten Realität und deren Wahrnehmung durch den Protagonisten – wieder auf den jeweils nächsten Monolog auswirkt. Darüber, daß der Monolog als literarisches Gestaltungsmittel eingesetzt werden kann, ist sich der Text der ›Wanderjahre‹ im klaren. Hersilie schreibt an Wilhelm: Mein Zustand kommt mir vor wie ein Trauerspiel des Alfieri; da die Vertrauten völlig erman geln, so muß zuletzt alles in Monologen verhandelt werden […]. (348)22
Auch im neunten Kapitel ergeht es Lucidor zunächst nicht besser. Früh morgens will er davonreiten, doch der listige ›lustige Junker‹ hat sein Pferd entwendet. Lucidor beschließt, sich zu Fuß auf den Weg zu seinem ehemaligen Studienkolle gen zu machen (114). Dabei trifft er auf den alten Hausfreund, läßt sich von ihm in dessen Behausung »hinaufziehen« (115), zufällig taucht der ›lustige Junker‹ wieder auf, führt Lucidor zurück nach Hause, putzt ihn und sich mit »festlichen Kleidungsstücken« (117) heraus, um ihn in der Kanzlei des Vaters einzuschließen.23 Als er ihn wieder freiläßt, spricht er aus:
21 Anders gewendet könnte man auch unterstellen, Lucidor registriere unbewußt, daß seine Monologe etwas bewirken (sie verändern jedesmal die Statisterie, die er morgens vorfindet). Eigentlich monologisiert er genau so lange, bis er ins Archiv des Amtmanns eingelassen bzw. eingeschlossen wird. Insofern ist der Monolog ein Mittel, um die gewünschte Konstellation zu erreichen. Man sieht, mit welchen vertrackten Mitteilungsmodi die Novelle operiert bzw. zumin dest kokettiert. 22 Vittorio Alfieri (1749–1803), gilt als Vorläufer Byrons und war der bedeutendste italienische Tragödiendichter des 18. Jahrhunderts. »[F]ür seine Dramen in streng klassizistischem Stil sind die geringe Zahl handelnder Personen und viele Monologe [!] charakteristisch.« (FA I 10, S. 1188; vgl. auch: Pongs, Hermann: Das kleine Lexikon der Weltliteratur. Stuttgart/Zürich/Salzburg o. J. S. 46). 23 Das Ein- und Abgeschlossensein behandelt auch der Lexikoneintrag zur Kanzlei (vgl. Adelung, Teil 2: F–L, Sp. 1495–1496); außerdem verweist Adelung den Leser unter dem Lemma Archiv nach der Erklärung des Wortes zum Lemma Kanzelley weiter.
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›Heute [...] soll uns die Langeweile vergangener Tage vergütet werden; gute Freunde, muntere Freunde sind angekommen, hübsche Mädchen, neckische, verliebte Wesen, und dann auch mein Vater, und Wunder über Wunder! Ihr Vater auch; das wird ein Fest werden, alles ist im Saale schon versammelt beim Frühstück.‹ (118 f.)24
Noch immer erbarmt sich niemand, Lucidor einzuweihen; nach wie vor hat er keinen Deutungsrahmen für das Verhalten seiner Mitmenschen. Bevor er sich äußern kann, wozu er sich kurzzeitig im Stande fühlt, drückt Julie ihm die Hand. Dadurch gerät er außer sich und flüchtet vor der Gesellschaft in den »großen Gar tensaal« (120), wo Lucinde zu ihm stößt. Diese eröffnet ihm: »Sie sind mein, ich die Ihre [...]. Ihr Vater ist alles zufrieden; Antoni heiratet meine Schwester.« (121) Die Erzählung endet mit einer Kutschfahrt Julies und Lucidors, auf der er voll ständig aufgeklärt wird. Nun erfährt er auch, daß man ihn bei seinen Selbstge sprächen belauscht hat. An dieser Stelle erst kann er sich ernstlich empören: Eine »solche beschämende Mystifikation tage- und nächtelang gegen einen unbefan genen Gast zu verüben ist nicht verzeihlich.« (125). Julie zufolge war Lucidors Vater ausschlaggebend für die Inszenierung, denn diesen galt es zu überzeugen, den Sohn die andere Schwester heiraten zu lassen. Der Vater hat sich Julien, seine Karten und Prospekte so zusammen gedacht [...]. Er muß[te] zuerst erfahren, was die Natur [Lucidors Neigung zu Lucinde] uns für einen Streich gespielt, da noch nichts eigentlich erklärt, noch nichts entschieden ist. Hierauf nahm er uns allen den feierlichsten Handschlag ab, daß wir Sie beobachten und, es geschehe was da wolle, Sie hinhalten sollten. (127)
Lucidor wird also die ganze Zeit über hintergangen, weil die Väter Zeit brauchen, sich an eine Abänderung ihres »verständigen Familien- und Ministerialplan[es]« (99) zu gewöhnen. Die Umstellung des Plans fiel den Vätern anscheinend auch deshalb schwer, weil einer der beiden die Braut in spe gedanklich schon mit seinen Archivalien verquickt hat. Ein weiterer näher zu betrachtender Aspekt ist Lucidors Art, mit seinem Umfeld, seinen Problemen fertig zu werden. Von ihm heißt es, er sei »von tiefem Gemüt« (103) und schweigsam. Andererseits besitzt er aber eine Gabe, der nicht nur in der romantischen Dichtung eine besondere Bedeutung zukommt. Es handelt sich um die Einbildungskraft.25 Zedler definiert ›Einbildungs-Krafft‹ als die »Krafft
24 ›Wunder über Wunder‹ nennt Arnim seine im ›Landhausleben‹ stehende Persiflage auf die ›Wanderjahre‹ (Arnim, Achim von: Wunder über Wunder. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hg.: Renate Moering. Bd. 4: Sämtliche Erzählungen 1818–1830. Frankfurt am Main 1992. S. 629–663). 25 Die Einbildungskraft darf als Fundament eines berühmten Archivs (Diderots und d’Alemberts ›Encyclopédie‹) verstanden werden. Bei Diderot ist die Rede vom Verstand des Menschen, der in
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›Wer ist der Verräter?‹
der Seelen, die Bilder derer äußerlichen und in die Sinne fallenden Sachen anzu nehmen, selbige zusammen zu setzen, und voneinander abzusondern.«26 Daß dieses Vermögen nicht nur positive Effekte haben kann, wird an Lucidor exem plarisch vorgeführt. Er nimmt die vermeintlich unausweichlichen Geschehnisse ständig vorweg, greift der Realität vor. Lucidor zeigt damit genau jene Symptome, die von Zedler als typisch für eine überzogene Einbildungskraft referiert werden. Demnach führt eine solche dazu, daß der Verstand des Betroffenen in denen Urtheilen nach der Wahheit verhindert wird. Und ist es aller Dings ein groß Unglück, wenn ein Mensch eine so starcke Imagination, schwaches Iudicum, und hefftige Leidenschafften in seinem Willen hat.27
Genau daran leidet Lucidor. Dabei wäre eine ›wohltemperierte‹ Einbildungskraft, auch für die Dichtkunst, unabdingbar: »Eine Erdichtung entsteht [...], wenn wir einige Theile verschiedener Einbildung nehmen, und sie in eine Vorstellung als ein Ganzes zusammen verbinden.«28 Dieser Primat des mentalen Zusammen fügens von Einzelteilen zu einem Ganzen erinnert wieder an das Aggregat. Während der Aufklärung ist das Bemühen, ein Überborden der Einbildungs kraft zu verhindern, allgegenwärtig.29 Die Forderung nach einer »Theorie über die Disciplin der Einbildungskraft«30 verleiht diesem Bestreben Ausdruck. Bemer kenswert ist in diesem Kontext eine Äußerung Gottfried Wilhelm Leibniz’, in der
drei wesentliche Vermögen (Gedächtnis, Vernunft und Einbildungskraft) aufgeteilt sei, denen wiederum drei Wissensgebiete zugeordnet werden (Geschichte, Philosophie und Dichtung; vgl. Diderot, Denis: Artikel ›Enzyklopädie‹. In: Ders.: Enzyklopädie. Philosophische und politische Texte aus der ›Encyclopédie‹. München 1969. S. 99). 26 Zedler, Bd. 8, E. Sp. 532. 27 Zedler, Bd. 8, E. Sp. 537. 28 Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften Bd. 2. Halle 1755. S. 485. Zur Einbildungskraft in der Frühromantik vgl. Menninghaus, Winfried: Die frühromanti sche Theorie von Zeichen und Metapher. In: German Quarterly 62 (1989). S. 48–58. 29 Es nimmt nicht wunder, daß in der Pädagogischen Provinz »die Einbildungskraft [als ein] ohnehin vages, unstetes Vermögen« (273) verstanden wird. Auch in BSW 68 thematisieren die ›Wanderjahre‹ die Einbildungskraft und eine Regulierung derselben: »Einbildungskraft wird nur durch Kunst, besonders durch Poesie geregelt. Es ist nichts fürchterlicher als Einbildungskraft ohne Geschmack.« (319). Kant zufolge bringt eine überreiche Einbildungskraft »in ihrer gesetzlo sen Freiheit nichts als Unsinn hervor, die Urteilskraft ist aber das Vermögen, sie dem Verstande anzupassen.« (Kant, Immanuel: Werke X. Kritik der Urteilskraft und naturphilosophische Schrif ten. Band 2. Hg. von Wilhelm Weischedel. Wiesbaden 1957. S. 421). 30 Johann Gebhard Ehrenreich Maass: Versuch über die Einbildungskraft. Halle/Leipzig 1792. Verbesserte Ausgabe 1797. S. 117.
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Informationsverweigerung/-lenkung auf inhaltlicher Ebene
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er erörtert weshalb er ausgerechnet Sammlungen als Heilmittel, gar als Prophy laxe gegen eine ausschweifende Einbildungskraft versteht: Damit die Imagination oder Phantasie in gutem Zustand erhalten und nicht ausschweifend werde, muss man all seine Einbildung auf einen gewissen Zweck richten und sich bemühen, die Dinge nicht nur obenhin zu bedenken, sondern stückweise zu betrachten, soweit es für unsere Vorhaben vonnöten ist. Zu diesem Zweck ist es überaus gut, viele Sachen zu sehen und, wie die Kunst-, Raritäten- und Anatomiekammern, genau zu betrachten.31
Ein Ausschweifen der Einbildungskraft soll dadurch verhindert werden, daß man sich genauer auf ›die Dinge‹ einläßt und sie einzeln betrachtet. Erstaunlich ist, daß nach diesem Sich-Sammeln sogleich ein Sich-Zerstreuen gefordert wird, denn man solle sich nicht etwa nur auf ein Ding beschränken, sondern im Gegen teil ›viele Sachen‹ sehen. Bei Lucidor fehlt eine Disziplinierung der Einbildungskraft. Er nimmt Zeichen wahr und deutet sie falsch. Dort, wo sich – aufgrund mangelnder Informationen – Lücken im Ablauf befinden, versucht er diese zu füllen. Dabei greift er zuver lässig daneben, interpretiert die Umstände falsch bzw. unangemessen und ver strickt sich noch tiefer in die Ausweglosigkeit seiner Lage: ›Ich saß bei ihr [Lucinde], ging neben ihr, das bewegte Kleid berührte mich, und ich hatte sie schon verloren! Zähle dir das nicht vor, drösele dir’s nicht auf, schweig und entschließe dich!‹ (113)
und: er fühlte die aufregende Schönheit des Morgens nur, um zu verzweifeln. Er sah die Welt so herrlich als je, seinen Augen war sie es noch; sein Inneres aber widersprach: das gehörte ihm alles nicht mehr an, er hatte Lucinden verloren. (113)
Ein letztes Mal geht seine Einbildungskraft mit ihm durch, als Julie ihm vor der versammelten Familie die Hand drückt. »Dies brachte ihn aus aller Fassung, er überzeugte sich, daß alles entschieden, alles für ihn verloren sei« (120). Lucidor erfüllt damit jene Kriterien, die Denis Diderot 1769 in ›Rêve d’Alembert‹ für ein überempfindsames Wesen aufstellt: Hat ein rührendes Wort sein Ohr, ein sonderliches Phänomen sein Auge getroffen, schon erhebt sich mit einem Schlag der ganze Tumult des Innern: […] Schauder packt, Tränen
31 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Agenda (1679). Zit. n.: Bredekamp: Die Rolle der Kunstkammern, S. 27.
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›Wer ist der Verräter?‹
kullern, Seufzer ersticken, die Sprache stammelt […]; nirgends mehr kaltes Blut, nirgends Vernunft, Urteil, Instinkt oder Rettung.32
Unterdrückt oder stört man seine Empfindungen, dann: gutnacht Hirnverfassung, gutnacht Gedächtnis, Urteil, Wünsche, Widerwillen, Leiden schaft, Willen, Selbstbewußtsein: schon ist’s eine formlose Masse, die nur noch Leben und Empfindsamkeit als solche zurückbehalten hat. […] Zwei nahezu identische Eigenschaften; das Leben ist Aggregat, die Empfindsamkeit Element.33
Wie mißtrauisch Lucidor der Wirklichkeit gegenüber geworden ist, zeigt sich an seiner Reaktion auf Lucindes Eröffnung, er sei der ihre. Hier versagt sein Vor stellungsvermögen. Er zieht sich »erstaunt« (121) von Lucinde zurück und fragt »›Das wäre wahr?‹« (121) und »›Lucinde, sind Sie mein?‹« (121). Der im Verlauf der Novelle so Gebeutelte wagt es nicht einmal mehr zu fragen ›Das ist wahr?‹, sondern bedient sich sogar im Anblick seiner Geliebten des Konjunktivs. Ein ›Ist‹ scheint es für Lucidor in diesem Augenblick nicht zu geben. Potentiell besteht für ihn an jeder Aussage noch die Möglichkeit zu ihrer Negation, Lucidors Miß trauen gegenüber Worten ist bis ins Krankhafte gesteigert. Nur das Unmittelbare scheint ihm geheuer zu sein. Überall, wo sich Lücken und Deutungsspielräume auftun, ist er aufgrund seiner überreagierenden Einbildungskraft auf unsicherem Terrain. Eine geglückte Kommunikation findet sich erst ganz am Ende der Erzählung. Dort beredet Lucidor mit Julie das Geschehene, während sie in einem fahrenden Wagen sitzen. Zuerst ist Lucidor noch »wie im Traume« (123), doch der sich in Bewegung befindende Wagen scheint sich stimulierend auf das Gespräch der beiden Insassen auszuwirken. Wiedergegeben wird es in Anlehnung an die Form tradition des klassischen Dramas.34 Vor jeder Äußerung der beiden Charaktere ist
32 Diderot, Denis: Rêve d’Alembert. (dt.: Der Traum d’Alemberts. Stuttgart 1923) S. 95. 33 Diderot: Der Traum d’Alemberts, S. 102. Hervorhebungen: M. B. – Das ›Gutnacht-Sagen‹ zu ko gnitiven Kompetenzen kann auf eine veritable literarische Tradition zurückblicken. La Fontaines Fabel ›Der verliebte Löwe‹, entstanden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, endet mit den Versen »Amor! Sind wir in deinem Bann,/Dann – gute Nacht, Verstand und Denken!« (La Fon taine, Jean de: Sämtliche Fabeln. München 1981. Viertes Buch. Fabel I. S. 128. Hervorhebungen: M. B.). Freiherr von Knigge schreibt 1790: »Wenn der erste Rausch der Liebe vorüber ist, und dem leidenden Teile gehen die Augen auf über das, was der Ehegatte ihm sein könnte, sein sollte, sein müßte, was andre ihm gewesen sein würden, oder sind – dann gute Nacht Ruhe, Frieden, Glück!« (Knigge, Adolph Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen. (= itb 3394). Frankfurt am Main 2008. S. 164. Hervorhebungen: M. B.). 34 Zur Formtradition des Dramas vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. München 1988, v. a. S. 16 ff.
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Die Positionierung der Erzählung im Haupttext
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der Name des Redenden abgedruckt und es finden sich sogar ›Regieanweisun gen‹ in Klammern: Lucidor (aufspringend). Eine saubere Gastfreundschaft, auf diese Weise den [sic] Fremden eine Falle zu stellen! [...] Julie (aufgestanden ihm folgend). Wie war uns mit dieser Erklärung gedient! (125)
Erst hier, im lückenlosen und Schlag auf Schlag stattfindenden Gespräch unter vier Augen, im Dialog, »Blick in Blick!« (121) scheint sich Lucidor wohlzufühlen.35 Auf gleicher Augenhöhe mit den Geschehnissen und seiner Gesprächspartnerin nimmt er ihre Entschuldigung an. Das Movens der Novellenhandlung besteht zum einen in den fünf Lucidor schen Monologen, zum andern im gezielten Entziehen von Interaktions- und damit Kommunikationspartnern. Üblicherweise wird der Monolog ja als Selbst gespräch verstanden,36 die Mitteilung dagegen braucht – auch das ist ein Gemein platz – ein Gegenüber. Im ›Verräter‹ werden diese Zuschreibungen aufgehoben bzw. in ihr Gegenteil verkehrt. Ausgerechnet der Monolog hat einen Zuhörer und gerade die an das Umfeld gerichtete Mitteilung wird unmöglich gemacht, da die jeweiligen Empfänger entzogen werden. Dadurch wiederum entstehen Leerräume, die der Protagonist durch seine (Über-) Interpretation aufzufüllen versucht. Der Text ist sich also unterschiedlicher Kommunikationsmodelle nicht nur bewußt, sondern er reflektiert sie auch, experimentiert mit ihren Variationen bis hin zur Umkehrung und stellt dies auffällig aus – und genau darin besteht das ›Alleinstellungsmerkmal‹ der ›Verräter-Erzählung‹. Sie thematisiert die Vorsätz lichkeit des Vorenthaltens und der Dosierung von Informationen sogar explizit, indem sie solche Phänomene als »merkwürdige Beispiele von zeitiger und ver späteter Erklärung« (105) deklariert.
4. Die Positionierung der Erzählung im Haupttext Die Stellung der Erzählung ›Wer ist der Verräter?‹ in der Gesamtkonzeption der ›Wanderjahre‹ ist merkwürdig. Die beiden neueren Arbeiten Herwigs und Schößlers reflektieren sowohl diese als auch die Herkunft der Geschichte überhaupt nicht. Herwig ordnet sie ein als jene »Novelle, die Wilhelm zum Abschied
35 Zur gelingenden Kommunikation von Angesicht zu Angesicht vgl. Schößler: Goethes Lehrund Wanderjahre, S. 270; sowie: Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 449. 36 Vgl. hierzu allgemein: Schweikle, Günther und Irmgard: Metzler Literatur Lexikon: Begriffe und Definitionen. Zweite, überarbeitete Auflage. Stuttgart 1990. S. 309 f.
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›Wer ist der Verräter?‹
von Hersilie bekommt und die ihm durch einen jungen Beamten überreicht wird.«37 Schößler hingegen stellt lediglich fest: »Es gibt in dem Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre eine Novelle [...] Wer ist der Verräter?, die während Wil helms Aufenthalt bei dem Oheim eingeschaltet wird«.38 Prima vista scheint die Novelle auf unproblematische Art mit dem Haupttext verknüpft zu sein, de facto aber ist sie es nicht, denn eindeutig ist ihre Stellung keineswegs. Sie findet sich im ersten Buch und erstreckt sich über zwei Kapitel (über das achte und das neunte). Zuvor hält sich Wilhelm mit Felix beim Oheim und dessen Nichten Hersilie und Juliette auf. Von dort wird er zu Makarie weiterverwiesen. »Vor dem Abschiede jedoch erhielt unser Freund von dem jüngern Beamten ein Paket mit beiliegendem Schreiben, aus welchem wir folgende Stelle ausheben:« (97) Hier greift der Redaktor ein und genau dadurch wird die Stelle mehrdeutig. Hätte er das Schreiben im ganzen wiedergegeben, wäre klar geworden, von wem es stammt. So jedoch läßt sich nur erahnen und kombinieren, daß Wilhelm die Geschichte entweder von dem Beamtensohn erhält oder aber von Hersilie.39 Für beide Annahmen gibt es Belege. Für Hersilie als Urheberin spricht, daß sie direkt vor der Erwähnung des Pakets noch zu Wort kommt und daß es keine Überlei tung zu dem jungen Beamten gibt. Das Argument für den Beamten als (fiktiven) Autor der Erzählung findet sich dort, wo er als dem neueren, jüngeren deutschen Erzählen zugeneigt geschildert wird (vgl. 60). Jedenfalls hofft einer von beiden:
37 Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 108. Auch Haupt schreibt die Novelle Hersilie zu (vgl. Haupt: Goethes Novellen, S. 71). 38 Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 263. Kursivierungen im Original. 39 Die einzige mir bekannte Arbeit, die sieht, daß die ›Verräter-Erzählung‹ »von unbekannten Verfassern« stammt, ist: Fink: Tagebuch, Redaktor und Autor, S. 19. Fußnote 30. Der ›Verräter‹ referiert damit auch das Problem der unverbürgten Autorschaft – vgl. Thums’ Ausführungen zur ›wandernden Autorschaft‹, denen zwar zuzustimmen ist – allerdings mit anderer Pointe. Die Ver weigerung der eindeutigen Festlegung einer ›letztbegründeten Texturheberschaft‹ mündet nicht nur in eine Pluralisierung von Autorpositionen. Das ist schon die Folge der dem Text (sei es nun fiktionalen oder realen) zugrundeliegenden Archivalien, die aus unterschiedlicher Hand stam men. Daraus folgt aber, daß der Text Autorschaftsbestimmungen nicht nur permanent unterläuft (Thums’ Analyse ist insofern punktuell ausgerichtet, als sie zeigt, wie einzelne Figuren sowohl als Brief-, Tagebuchschreiber und Geschichtenerzähler fungieren), sondern daß er letztendlich das Archiv als das dem gesamten Text zugrundeliegende und ihn konstituierende Medium ausweist – und beim Archiv als ganzem interessiert der Autor nicht mehr, höchstens stellt sich die Frage, wer was weshalb aus dem Archiv auswählt und wie er es zusammenstellt (vgl. Thums, Barbara: Wandernde Autorschaft im Zeichen der Entsagung: Goethes Wanderjahre. In: Autorschaft. Posi tionen und Revisionen. Hg.: Heinrich Detering. Stuttgart/Weimar 2002. S. 501–520).
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Die Positionierung der Erzählung im Haupttext
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Sie [Wilhelm] werden die einfache, treue Rechtlichkeit deutscher Zustände nicht verschmä hen und mir verzeihen, wenn ich nach meiner Art und Denkweise, nach Herankommen und Stellung, kein anmutigeres Bild finde, als wie sie uns der deutsche Mittelstand in seinen reinen Häuslichkeiten sehen läßt. Lassen Sie sich’s gefallen und gedenken mein. (97)
Soweit zum Text, der vor der Novelle steht. Sowohl gegen Hersilie als auch den ›jüngern Beamten‹ als Urheber des ›Verräters‹ spricht nun aber ein Indiz in der Erzählung selbst. Dort heißt es über Lucidor, der sich verworren ins Bett legt und sofort einschläft: »Glückliche, gesunde Jugend!« (113) Die ihn beneidende Erzähl stimme scheint einem betagten Erzähler anzugehören.40 Auch nach der Erzählung findet sich keinerlei Überleitung zurück in Wilhelms ›Realität‹. Man erfährt ganz lapidar zu Beginn des zehnten Kapitels (129), daß Wilhelm und Felix bei Makarie eintreffen. Wie bereits erwähnt, übersieht die neuere Forschung diese Unentscheidbarkeit. Umso erstaunlicher, daß Hein rich Düntzer (der Mitherausgeber der ›Wanderjahre‹ im Rahmen der ›National bibliothek sämmtlicher deutscher Klassiker‹) schon 1870 irritiert, in fast beleidig tem Duktus, feststellt: Aber zuviel ist es doch, wenn Wilhelm, ehe er von der Besitzung des Oheims scheidet, die lange Novelle Wo stickt der Verräter? […] zugestellt wird, wobei es ein Versehen ist, daß in dieselbe der Anfang eines neuen Kapitels fällt.41
Zur Verknüpfung des Schlusses der Erzählung mit dem Haupttext bemerkt Düntzer: »Auch jetzt ist der Übergang schroff, ja fast noch anstößiger als früher, da unmittelbar die lange Novelle vorhergeht.«42 Was Düntzer ›zuviel‹ dünkt, was also über das übliche Maß dessen hinausgeht, was man dem zeitgenössischen Leser zumuten konnte, ist wertfrei formuliert die Tatsache, daß schon durch die nicht definierte und nicht genau definierbare Stellung der Erzählung ein Mangel an Informationen offenbar wird. An diesem Punkt ist ein Blick auf die Fassung der ›Wanderjahre‹ von 1821 aufschlußreich. Dort findet sich die Erzählung im vorletzten Kapitel des Texts. Ihre Herkunft ist hier eindeutig bestimmbar. Sie ist eine ausgewiesene Archivalie,
40 Der Kommentar der Münchner Ausgabe bemerkt dieses Phänomen, zieht aber einen anderen Schluß daraus: »G. [!] scheint vergessen zu haben, daß die Erzählung aus der Feder des jüngeren Beamten stammt, denn der Erzähler spricht wie der Redaktor der Wanderjahre aus der Warte des älteren Herrn« (MA 17, S. 1123. Kursivierung im Original). 41 Wilhelm Meister’s [sic] Wanderjahre. Hg.: Düntzer. Berlin 1870, S. XXII. Er bezieht sich auf die ›Wanderjahre‹ von 1829 und zitiert merkwürdigerweise den Novellentitel nach der Fassung von 1821. 42 Wilhelm Meister’s [sic] Wanderjahre. Hg.: Düntzer. Berlin 1870, S. XXIII.
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›Wer ist der Verräter?‹
denn sie steht auf einem »Blatt in Lenardo’s [sic] Archiv«; dieser gibt Friedrich und Wilhelm – den Imperativ tolle lege! aus Augustinus’ ›Confessiones‹ alludie rend – die Anweisung »da nehmt hin und leset«.43 Auch die Erzählperspektive ist eindeutig definiert: Nun begaben sich die Freunde [Friedrich und Wilhelm] zu einer heitern Stelle, und Friedrich las, mit recht viel natürlicher Energie und Heiterkeit das Dargestellte erfreulich belebend.44
Direkt im Anschluß an die Erzählung steht der nicht mit »18.«, sondern aus drücklich mit »Letztes Kapitel« überschriebene Textabschnitt, der aus Lenardos ›Auswandererrede‹ besteht.45 Es gibt zwar keine Überleitung durch den Redaktor, aber Wilhelm und Friedrich befinden sich noch immer am selben Ort, und der Bezug zu Lenardos Rede besteht darin, daß Friedrich die Erzählung ja vorgelesen hat, um die Zeit bis zum »morgenden Scheidetag« Lenardos zu verkürzen: »es ist noch lange bis zum Abend […], da hab’ ich mir etwas Geschriebenes zur Unter haltung ausgebeten.«46 Im Gegensatz zu den eben diskutierten Unterschieden der Einbettung der ›Verräter-Erzählung‹ ins Textganze des Romans ist ihr Wortlaut in beiden Fassun gen derselbe – den Titel ausgenommen. Resümierend kann man feststellen, daß die Verknüpfung der Erzählung in der ersten Fassung als konventionell bezeichnet werden darf. In der zweiten Fassung jedoch läßt sich eher von einer Dekontextualisierung denn von einer Verknüp fung reden. Dort wird die Erzählung zum Haupttext allenfalls auf lose Weise in Bezug gesetzt. Dies geschieht auf drei Arten. Erstens, wenn man so will, über eine ex negativo-Verknüpfung, die aus Leerstellen, d. h. dem Fehlen von Überleitun gen, besteht. Die beiden anderen Bezüge der ›Verräter-Erzählung‹ zum Haupttext sind leitmotivischer Natur. Zum einen ist die so unscheinbare Wortkombination »doppelt und dreifach« zu erwähnen, welche die Erzählung durchzieht: nicht weniger als fünf Mal taucht sie dort auf, zudem wird sie am Ende noch gesteigert zu »zehn- und hundertfach« (126). Im weiteren Verlauf der ›Wanderjahre‹ wird ›doppelt und dreifach‹ noch mehrfach angeführt, unter anderem vom Pfandlei her im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Kästchen (162). Erst mit dieser Überdetermination – ausdrücklich nicht über eine klar definierte Erzählperspek tive – setzt sich die ›Verräter-Erzählung‹ mit dem Haupttext der ›Wanderjahre‹ in
43 Beide Zitate: FA I 10, S. 219. 44 FA I 10, S. 220. 45 FA I 10, S. 251 ff. 46 Beide Zitate: FA I 10, S. 219.
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Die im ›Verräter‹ verhandelten Archive
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Beziehung.47 Der dritte Bezugspunkt, welcher die Erzählung mit dem Haupttext verknüpft, ist die sowohl hier als auch dort vorkommende Rede über Archive.
5. Die im ›Verräter‹ verhandelten Archive Darauf, daß die ›Verräter-Erzählung‹ mit Archiven umgeht, weist Pestalozzi indirekt hin. Er erwähnt die Wirkung der dort immer wieder aufblitzenden Anspielungen, die seiner Ansicht nach seltsam isoliert dastehen und für den weiteren Verlauf der Erzählung »folgenlos« bleiben. Nebenbei vermerkt er: »Das gibt diesen Partien beinahe den Charakter von Regesten, es ist Sache des Lesers, sie aus seinen Kenntnissen zu ergänzen.«48 Weiter geht er der Regestenhaftigkeit solcher Passagen und deren Implikationen nicht nach. Seine Aussage legt aber die Folgerung nahe, daß eine prominente Eigenschaft von Regesten, gemessen an den Konstituenten eines literarischen Texts, die des – wie auch immer gearteten – Defizitären ist. Denn wo etwas ›ergänzt‹ werden muß, klafft üblicherweise eine Lücke, findet sich ein Interpretationsspielraum, eine Leerstelle, fehlt eine Ver knüpfung oder ist die Erzählperspektive unklar. Pestalozzis Rede von den Reges ten evoziert ein zusätzliches terminologisches Feld: das der Sammlung bzw. des Archivs.49 Nun konzentriert sich seine Argumentation lediglich auf den Inhalt des Texts. Denkt man sie konsequent weiter, so bietet sich eine Fokussierung auf seine Verfahrensweise unter Berücksichtigung der Regestenhaftigkeit an. Denn er ist geradezu durchsetzt von Reihen, Sammlungen, Aufzählungen und Akten, weist
47 Sie verweist auf wichtige Erzählstränge. Daß der das Kästchen betreffende wiederum ein hochkomplexer und vor allem unabschließbarer ist, spricht nur umso deutlicher für die kon stitutive Bedeutung des Unentscheidbaren und Unverknüpften in den ›Wanderjahren‹. Das Käst chen ist wohl eines der umstrittensten Objekte im Text. Für den Leser bietet es sich lediglich als Projektionsfläche an, jeglicher weiteren Festlegung entzieht es sich. Mittermüller interpretiert es gar als »Zentralsymbol […], das als ein radikal bedeutungsoffenes Zeichen die Faktur der ›Wanderjahre‹ im Modus poetologischer Selbstreflexion figuriert.« (Mittermüller: Sprachskep sis, S. 177). Zenker hingegen erscheint es paradox, wenn man »am Zentralsymbol des Kästchens sozusagen den Gehalt des ganzen Romans ablesen will.« (Zenker: Zu Goethes Erzählweise, S. 12). 48 Beide Zitate: Pestalozzi: Versteckte Anspielungen, S. 202 f. Hervorhebung: M. B. 49 In der Textedition unterscheidet man zwei Spielarten von Regesten: Zum einen »ein chrono logisch geordnetes Urkundenverzeichnis mit kurzer Inhaltsangabe«, zum anderen werden Re gesten aber auch genutzt »zur (inhaltlichen) Erschließung z. B. von Briefwechseln oder anderen Textsammlungen, die für eine Edition zu umfangreich sind […].« (Beide Zitate: Weimar, Klaus (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons zur deutschen Literaturgeschichte. Berlin, New York 2007. Band I A–G. S. 414 f.).
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›Wer ist der Verräter?‹
also eine Affinität zu Archiven auf. So ist im ›Verräter‹ beispielsweise die Rede von einer Reihe von Büchern aus dem damals berühmten geographischen und kartographischen Verlag des Nürnberger Kartenstechers Johann Baptist Homann (1663–1721): [S]obald Julie nur einen Band gewahr worden, dergleichen aus der Homannischen Offizin eine ganze Reihe dastanden, so wurden sämtliche Städte gemustert, beurteilt, vorgezogen oder zurückgewiesen; alle Häfen besonders erlangten ihre Gunst; andere Städte, welche nur einigermaßen ihren Beifall erhalten wollten, mußten sich mit viel Türmen, Kuppeln und Minaretten fleißig hervorheben. (100; Hervorhebungen: M. B.)
Der Text nennt zuerst das Werk eines namentlich bekannten Verlages, führt es darüber hinaus explizit als einer Reihe angehörig auf und prononciert Julies daraus resultierende Kenntnis der Welt nach ›Hauptbezügen‹, was man durchaus als synonymisch für Rubriken oder Regesten lesen darf. Der Auslöser für Julies Interesse ist zuerst nur ›ein‹ Band. Dann erst gerät ihr die ›ganze Reihe‹ in den Blick. Von dort aus trachtet sie ganz konkret nach dem Ganzen, nach sämtlichen Städten und allen Häfen. Kurz darauf folgt eine Reiseerzählung, die deshalb interessant ist, weil sie in Form einer Aufzählung50 gegeben wird, d. h. sie erschöpft sich in einer Aneinan derreihung von Ortsnamen. Den einzelnen Aufenthalten ordnet sie gerade nicht, wie man von einem Reisebericht erwarten könnte, dort Erlebtes zu: [N]un hier ging’s unmittelbar nach Genua; Livorno lag nicht weit, das Interessanteste im Lande nahm man auf den Raub so mit; Neapel mußte man, ehe man stürbe, gesehen haben, dann aber blieb freilich Konstantinopel noch übrig, das doch auch nicht zu versäumen sei. […] Julie […] fühlte noch Lust nach Alexandrien, Kairo, besonders aber zu den Pyramiden, von denen sie so ziemlich auslangende Kenntnisse durch ihres vermutlichen Schwiegerva ters Unterricht gewonnen hatte. (104)
Dabei handelt es sich nicht um direkte Rede, sondern um eine vom Erzähler geleistete Paraphrase, in der die Sprunghaftigkeit sogar expressis verbis vertre ten ist: ›ging’s unmittelbar‹. Die erste Hälfte der zitierten Textstelle ist eine reine Aufzählung von Städte- bzw. Ortsnamen. Kein Kunstwerk wird genannt, auf keine
50 Die Nähe von Erzählen und Aufzählen thematisiert Sommer (vgl. Sommer, Manfred: Sam meln. Ein philosophischer Versuch. (= stw 1606). Frankfurt am Main 2002. S. 318.) Ähnlich auch Mainberger: »Erzählen steht in enger Beziehung zum Aufzählen, insofern die Geschichten im Plural gern als Sammlungen auftreten. Die lose Kette, die Reihe, der Kranz, der Zyklus sind ihre größere Form, und die gewährt alle Möglichkeiten vom heterogenen Sammelsurium des Ge schichtenvorrats bis zur subtil vielbezüglichen und doch zwanglosen Zusammengehörigkeit.« (Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 237).
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Die im ›Verräter‹ verhandelten Archive
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besondere Eigenschaft der Orte wird näher eingegangen (die Pyramiden ausge nommen). Verbunden sind sie nur durch ein den Erzählfluß akzelerierendes und unpersönliches ›nahm man auf den Raub mit‹ und über die Floskel ›Neapel mußte man, ehe man stürbe, gesehen haben‹.51 Daß der auktoriale Erzähler, der sich in den ›Wanderjahren‹ vom Redaktor nicht trennscharf unterscheiden läßt, für die Form der Aufzählung verantwort lich ist, zeigt sich in der Aussage »Die Beschreibung, die Antoni von der weiten Welt machte, riß die Einbildungskraft aller mit sich fort« (104). Ob nun bewußt oder nicht: als Artefakt in der Erzählung bleibt eine aus einer Reisebeschreibung kondensierte Auflistung von Ortsnamen zurück – nicht mehr und nicht weniger. Im ›Verräter‹ heißt es nun weiter, der lustige Junker »las eine Folge echter Märchen« (109) vor. Hier begnügt sich der Text nicht mit einem Märchen, sondern benennt gleich eine Folge; er sympathisiert – wenn auch scheinbar nur en passant – ganz augenfällig mit Spielarten von Aufzählungen und Reihen. Auch für Sammlungen hat er einen Blick. Er beschreibt diejenige des betagten Einsied lers in dessen Behausung: Mit Verwunderung betrat er [Lucidor] das anmutige Sälchen: es hatte nur drei Fenster gegen das Land, eine allerliebste Aussicht; die übrigen Wände waren verziert oder vielmehr verdeckt von hundert und aber hundert Bildnissen, in Kupfer gestochen, allenfalls auch gezeichnet, auf die Wand nebeneinander in gewisser Ordnung aufgeklebt, durch farbige Säume und Zwischenräume gesondert. (115; Hervorhebungen: M. B.)52
In Lucidors Wahrnehmung konkurriert die Naturbetrachtung mit der Kunstbe trachtung. Die drei Fenster bieten eine superlativische ›allerliebste Aussicht‹, die in Konkurrenz mit dem diminuitivierten Sammlungsbehälter, dem ›Sälchen‹, steht. Die ausgestellte Sammlung dagegen, die ja per definitionem auch um die Gunst des Betrachters buhlt, wird zwar ausführlich aber doch recht ungenau geschildert. Die übrigen Wände (also jene ohne Fenster) sind eben ›verziert oder vielmehr verdeckt‹ – was nun genau, entscheidet der Text nicht – von Kupfer stichen oder Zeichnungen, deren Anordnung zwar registriert wird, jedoch letz tenendes ebenfalls ungeklärt bleibt (›in gewisser Ordnung‹). Auch geht der Text auf die Bildnisse nicht en détail ein. Von Interesse ist wiederum die Schilderung
51 Ironische Verwendung des italienischen Sprichworts ›vedi Napoli e poi muori‹; zugleich aber auch »Satire auf den oberflächlichen Reisenden« (MA 17, S. 1122). 52 Stifters Text ›Turmalin‹ schildert und ironisiert eine Sammlung, die ähnlich aufgebaut ist. Die Wände sind dort derart mit Gemälden zugekleistert, daß man Rollwägelchen braucht, auf die man sich legt, um die ganz unten angebrachten Kunstwerke sehen zu können (vgl. Stifter, Adalbert: Turmalin. In: Ders.: Bunte Steine. Erzählungen. (= RUB 4195). Stuttgart 2010. S. 126– 170. Hier: S. 127).
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›Wer ist der Verräter?‹
der Art dieses Archivs. Es geht um eine große Ansammlung von Bildern, die mit unterschiedlicher Technik hergestellt wurden. Eco schreibt, eine solche Samm lung sei immer offen und kann um weitere Elemente bereichert werden. Besonders wenn der Samm lung die pure Lust an der Anhäufung und Mehrung ad infinitum zugrunde liegt.53
Im vorliegenden Fall ist die Menge (›hundert und aber hundert‹) gar so groß, daß die Einzelwerke nicht mehr schmückend wirken, sondern schlichtweg als die Wände ›verdecken[d]‹ geschildert werden müssen.54 Charakteristisch für die Beschreibung dieses Archivs ist das Insistieren des Texts auf das Nebeneinander der darin enthaltenen Objekte, außerdem die ›gewisse Ordnung‹, auch wenn sie nicht näher definiert wird und der Hinweis auf Lücken, der im Substantiv ›Zwi schenräume‹ steckt und durch das Verb ›gesondert‹ noch bekräftigt wird.55 Damit spielt der Text im Kontext des Archivs auch mit der Terminologie aus dem Umfeld des Aggregats. Auffällig ist zudem, daß die Unterbrechung als Erzählprinzip in der Nähe der Sammlung des Einsiedlers plaziert wird. Lucidor hätte den über seine Bilder dozierenden Alten gerne »unterbrochen, wenn es sich geschickt hätte« (115). Für eine Figur, so die Folgerung, ›schickt‹ es sich nicht, unterbrechend in den Erzähl fluß einzugreifen. Doch für den Redaktor, der über sich selbst im pluralis majestatis spricht, ist genau das möglich, denn der Satz geht weiter: »wie es sich uns, den Erzählenden, wohl ziemen mag« (115 f.). Die Erzählung thematisiert die Inter ruption als das erzählerische Privileg des Redaktors. Hier tut sich die Figur einer Narratio interrupta auf, die auch mit dem Recht auf den Eingriff in den Text zu tun hat.56 Die Unterbrechung wird benannt, der Zugriff auf den Text als exklusiv
53 Eco, Umberto: Die unendliche Liste. Übers. von Barbara Kleiner. München 2009. S. 165. 54 Winckelmann mahnt in anderem, kunsttheoretischem Kontext: »Der Abscheu vor dem leeren Raum füllet also die Wände; und Gemählde von Gedancken leer, sollen das Leere ersetzen.« (Winckelmann, Johann Joachim: Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. In: Pfotenhauer, Helmut et al.: Frühklassizismus. Position und Opposition. Frankfurt am Main 1995. S. 13–50. Hier: S. 49). 55 Lücken betrachtet Goethe als fürs Sammeln konstitutive und reflexionswürdige Gebilde. Dies verdeutlicht im Historischen Teil der ›Farbenlehre‹ in der dritten Abteilung ›Zwischenzeit‹ ein Abschnitt überschrieben mit ›Lücke‹. Goethe beschreibt das Vorgehen von Kartographen in frü heren Zeiten, die an ihnen unbekannte Stellen »allenfalls einen Elefanten, Löwen oder sonst ein Ungeheuer der Wüste« (FA I 23/1, S. 611) zeichneten. Die Lücke ist hier eine Art terra incognita. 56 Gidion formuliert schon 1965 hellsichtig auf die ›Wanderjahre‹ als ganzes gemünzt: »Das Absetzen ist zweifellos die bemerkenswerteste Eigenart der Darbietungsweise. Hier wird nicht flüssig Zusammenhängendes erzählt, sondern ständig abgebrochen, innegehalten, neu einge
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Die im ›Verräter‹ verhandelten Archive
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ausgestellt. ›Wie es sich uns ziemen mag‹ bedeutet auch, daß außer dem Redak tor niemand sonst dieses Privileg hat.57 So positioniert er sich als über den (Mit-) Figuren stehend, denn er hat die Macht, die Erzählung zu ändern – und dennoch ist er nicht, was er gerne wäre: der Autor des Texts. Die Relation zwischen den bisher angeführten Archiven darf man als Klimax bezeichnen. Zuerst wird einfach wortwörtlich eine Reihe genannt (Homannische Offizin), dann schließt sich eine teilweise namentliche Aufzählung, eine Liste der auf der Reise besuchten Orte an. Daraufhin wird dann die Sammlung des Einsiedlers angeführt, die bereits vom Bewußtsein um die Probleme der Archivierung großer Mengen durchsetzt ist. Daraus wiederum leiten sich Ansätze zu Archivierungstechniken ab. Etwa solche des ›[N]ebeneinander‹ der Objekte sowie solche der Ordnung welcher Art auch immer (›gewisse Ordnung‹) und schließlich das Wissen um die Notwendigkeit von Leerräumen zwischen den verschiedenen Archivalien (›Zwischenräume‹) zwecks der unerläßlichen Abgrenzung derselben untereinander (›gesondert‹). Doch die Erzählung geht noch über diese Steigerung hinaus. An zentraler Stelle findet sich Lucidor in einem Gerichtssaal wieder. Der Text fährt nun ein ganzes Inventar an Archivtermini auf:58 In den Reposituren fand er Rubriken und Akten, ihm früher bekannt; er hatte selbst in diesen Angelegenheiten, von der Hauptstadt her, gearbeitet. Einen Faszikel aufschlagend, fiel ihm ein Reskript in die Hände, das er selbst mundiert, ein anderes, wovon er der Konzipient gewesen. Handschrift und Papier, Kanzleisiegel und des Vorsitzenden Unterschrift, alles rief ihm jene Zeit eines rechtlichen Strebens jugendlicher Hoffnung hervor. […] das alles bedrängte ihn doppelt und dreifach […]. (118; Hervorhebungen: M. B.)59
setzt.« (Gidion: Zur Darstellungsweise, S. 21. Kursivierung im Original). Auch der Kommentar der Münchner Ausgabe konstatiert für den Text ein »Prinzip der Unterbrechung« (MA 17, S. 1009). 57 Wer ihm dieses Recht zugestanden hat, wird indes nirgends geklärt. Auch Genaueres zur Per son des Redaktors sucht man im Verlauf des Romans vergebens. Der Text informiert beispiels weise nicht darüber, wie der Redaktor zu seiner Aufgabe gekommen ist, wer sein Auftraggeber ist (die Turmgesellschaft wird in den ›Wanderjahren‹ nicht wörtlich erwähnt) oder wie seine Stel lung zum Archiv ist. Pornschlegel sieht das anders: »[D]ie Archivfiktion der Wanderjahre und ihr Redaktor [setzen] dieselbe archivarische Arbeit der Turmgesellschaft dann einfach [!] und offen [!] fort.« (Pornschlegel, Clemens: Der literarische Souverän. Zur politischen Funktion der deut schen Dichtung bei Goethe, Heidegger, Kafka und im George-Kreis. Freiburg im Breisgau 1994. S. 169 f. Kursivierung im Original). 58 Vgl. zu diesen Begriffen und ihrer zeitgenössischen Verwendung auch das Kapitel ›Arten und Formen der Schriftstücke‹ in der Frankfurter Ausgabe sowie das vorzügliche Glossar im selben Band: Goethe, Johann Wolfgang von: Amtliche Schriften. Teil II: Aufgabengebiete seit der Rück kehr aus Italien. (FA I 27, S. 1118–1128 bzw. S. 1157–1177). 59 Auch im vierten Kapitel des ersten Teils der ›Wahlverwandtschaften‹ wird Archivierung aus führlich reflektiert (vgl. Goethe: Werke. Insel Verlag. Bd. 3. Faust I und II. Die Wahlverwandt schaften. Frankfurt am Main 1965. S. 367).
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›Wer ist der Verräter?‹
Unter den ›Reposituren‹60 darf man Aktenschränke verstehen, in denen die Rub riken61 und Akten lagern; ein ›Faszikel‹ ist ein Aktenbündel, ein Heft und ein ›Reskript‹ eine Verfügung.62 Der Text unterscheidet genau zwischen der Tätigkeit des Mundierens,63 die etwa ›ins Reine schreiben‹ bedeutet und die Urheberschaft eines Texts nicht verantwortet und dem Konzipiententum,64 also der Verfasser tätigkeit Lucidors. ›Handschrift und Papier‹ verweisen indes auf die materiellen Voraussetzungen für das zeitliche Überdauern von Mitteilungen, im Reigen mit dem ›Kanzleisiegel‹ und der ›Unterschrift‹ darüber hinaus auf die Echtheit und Glaubwürdigkeit der Dokumente; die Herstellung und Archivierung von (offiziel len) Schriften sind im übrigen die Hauptaufgaben einer Kanzlei.65 Die Zusammenschau dieser Elemente, dies ein weiterer aber anders gelager ter, temporaler Aspekt des erzählten Archivs, beschwört in Lucidor die Erinne rung an seine Jugendzeit herauf; die Beschreibung des Archivs verläßt ihren rein terminologisch-funktionalen Kreis und tangiert Lucidor in seinen Gefühlen. Der Text stellt also sogar ein emotionales Verhältnis einer Figur zum Archiv aus. Damit ist er nicht allein, einen freundschaftlichen Bezug zu Archivinhalten notiert auch ein archivtheoretischer Text, erschienen 1830:
60 Vgl. auch Goethes Tagebucheintrag Ende Januar 1779: »die unordentliche Repositur [im Kriegskommissariat] durchgestört [sic].« (FA I 10, S. 1069 f.). 61 Vgl. zur Rubrik: Schneider: Archivpoetik, S. 34. Zedler (Bd. 32, Ro–Rz, Sp. 1435) schreibt, »Ru bric, Rubrick« heiße ganz allgemein »eine jedwede Auffschrifft oder Titel eines Buches und an derer Schrifften. Ins besondere aber werden vornehmlich in denen Rechten die Auffschrifften der Titel im Römischen Rechte also genannt, weil solche vorzeiten, und ehe die Druckerey erfunden ward, von den Juristen mit Zinnober oder rother Dinte geschrieben worden. […] Zur Nachfolge werden heut zu Tage alle Auffschrifften der Supplicaten, Sätze und anderer rechtlichen Einbrin gen Rubricken genennet, und eine Schrifft überschreiben, heißet rubricieren.« Die ursprünglich namensgebende rote Tinte läßt auch an die rote Flüssigkeit par excellence – das Blut – denken. Miklautsch verweist auf »die Tatsache, daß bereits in den frühchristlichen Schriften die Wunden der Märtyrer mit der Verwendung der purpurnen Schrift verglichen werden.« (Miklautsch, Lydia: Schrift – Körper. In: Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg.: Eder, Thomas, Samo Kobenter, Peter Plener. Wien 2010. S. 96–106. Hier: S. 100). Archiv und Körper rücken so besehen eng zusammen. 62 Vgl. FA I 10, S. 1070. 63 Von lat. ›mundum‹: Reinschrift. Zu Goethes Praxis der Überarbeitung seiner Entwürfe vgl. aus der Fülle der Beispiele: »Mundiert an den Wanderjahren« (Tagebuch am 19. 10. 1828), »Mun dum an den Wanderjahren« (Tagebuch am 8. 11. 1829; beides zit. n. FA I 10, S. 1070); bei Adelung (Teil 3: M–Scr), Grimm (A – Biermolke) und Zedler (Bd. 22, Mu–Mz) nicht verzeichnet. 64 Konzipient: Verfasser einer (amtlichen) Schrift (vgl. FA I 10, S. 1070). 65 »Der Ort, wo die Schriftliche Ausfertigung allgemeiner Angelegenheiten Einer Art geschiehet, und wo die dahin gehörigen Urkunden und Schriften aufbewahret werden […].« (Adelung, Teil 2: F–L, Sp. 1495–1496).
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Faszikel und Faszination
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Das, einer jüngern Zeit angehörende, Archivmaterial ist daher gleichsam das Medium, wodurch wir mit den Urkunden befreundet werden, und wodurch diese verständlich zu uns reden.66
Das Archiv kontaminiert Lucidors Innenleben und wirkt darauf in zwei entge gengesetzten Richtungen ein. Zunächst beruhigen ihn die bekannten Gegen stände und Verfahrensweisen, danach jedoch kommt er sich bedrängt vor, unter anderem, weil er Angst hat, sich den Eintritt in diesen »so schönen Platz« (118), »so würdigen Wirkungskreis« (118) – zwei aufeinanderfolgende, beinahe zärtlich anmutende Zuschreibungen – durch eine falsche Entscheidung zu verunmögli chen. Ein ähnlich gefühlsbeladenes Verhältnis zum Archiv hegt Lucidors Vater: »Er hat sich Julien, seine Karten und Prospekte so zusammen gedacht [...]« (127) – die Neigung zur vermeintlichen Schwiegertochter in spe und die zu seinem Archiv gehen in seiner Imagination eine Verbindung ein. Der Text verhandelt das Archiv, den Faszikel geradezu als Faszinosum.
6. Faszikel und Faszination Brigitte Weingart stellt fest, im Brockhaus und im etymologischen Wörterbuch stehe vor »Faszination« das Wort »Faszikel«. Es bezeichnet ein Heft, ein Aktenbündel. Wortge schichtlich hat der Faszikel mit der Faszination allerdings nichts zu tun; Faszikel ist aus dem Lateinischen fasciculus abgeleitet, dem Diminutiv von fascis. Fascis wiederum steht für ›Rutenbündel‹ – und speziell für das Rutenbündel mit einem Beil, das von römischen Liktoren bei öffentlichen Auftritten als symbolisches Zeichen der Herrschergewalt einge setzt wurde.67
Faszination und Faszikel, also Emotion und Archiv(-terminologie) stehen hier ebenso nahe beieinander wie in der ›Verräter-Erzählung‹. Doch damit nicht genug. Der am Aggregat geschulte Leser wird hellhörig, wenn ihm das Wort ›Rutenbündel‹ begegnet.
66 Medem: Über die Stellung und Bedeutung der Archive, S. 35. Hervorhebung: M. B. 67 Weingart, Brigitte: Faszinationsanalyse. In: Echterhoff, Gerald & Michael Eggers (Hgg.): Der Stoff, an dem wir hängen. Faszination und Selektion von Material in den Kulturwissenschaften. Würzburg 2002. S. 19–29. Hier: S. 19. Auch Goethe bewegt sich mit seinen Äußerungen über die ›Wanderjahre‹ im Wortfeld des Bündels. Am 24. Mai 1827 schreibt er in einem Brief an Zelter: »Der zweite Teil der Wanderjahre ist abgeschlossen; nur weniger Binsen bedarf es um den Straußkranz völlig zusammenzuheften.« (Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 233. Hervor hebungen: M. B.).
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›Wer ist der Verräter?‹
Weingart kommt in einer Fußnote auf den Faszikel als ein »Aktenbündel« zu sprechen, um dann zu präzisieren: »Ein Bündel lose Teile, die aber dennoch irgendwie zusammengehören (in ›Bündel‹ steckt gleichzeitig das Unverbundene und das Verbundene)«.68 Sie nennt ›lose Teile‹, die – man kennt den lakonischen Duktus aus der Analyse des Aggregatbegriffs schon – ›irgendwie‹ zusammen gehören, ein Ganzes bilden und zugleich Unverbundenes und Verbundenes zu integrieren vermögen. Das entspricht ziemlich exakt den oben herausgearbei teten Hauptzügen des Aggregats. Ohne es zu intendieren und in einem ganz anderen Zusammenhang hat Weingart – vom Nebeneinanderstehen (auch das ja ein Topos des Aggregats) zweier Lemmata in Nachschlagewerken ausgehend – den Konnex zwischen Emotion, Archivterminologie und Aggregat markiert, ohne wahrscheinlich an letzteres überhaupt gedacht zu haben. Wieder schleicht sich das Aggregat in der ihm eigenen Unauffälligkeit, sich marginal gebend, durch die Hintertür herein. Jetzt befindet es sich im unmittelbaren Dunstkreis des Archivs und bietet eine weitere Legitimation, es im Fortgang der vorliegenden Arbeit als Inspiration für das Archiv immer mitzudenken.
7. Unverknüpftes als Strukturelement Nachdem die Archive im ›Verräter‹ aufgezeigt und beschrieben wurden, stellt sich nun die Frage, wie sich das Unverknüpfte, der Informationsmangel als konstitu ierend für die Struktur eines Archivs verstehen lassen.69 Das Movens der Erzäh lung ist die dort praktizierte Informationsvergabe, die ich als Informationsdosie rung und -entzug charakterisiert habe. Ohne diese Elemente wäre sie sinnlos. Eine Lektüre, die sich auf das Lustspielhafte der Erzählung kapriziert, übersieht genau dies. Geradezu kafkaesk hätte es wirken können, wäre der Monolog nicht aufgelöst worden.70 Die durch das Vorenthalten von Informationen entstehenden
68 Beide Zitate: Weingart: Faszinationsanalyse, S. 19. 69 Das Unverknüpfte darf in diesem Zusammenhang als offener Arbeits- und Sammelbegriff verstanden werden, mit dem es möglich wird, unvermittelte oder nicht vorhandene Überlei tungen ebenso zu erfassen wie etwa die Frage, ob die ausgelegten erzählerischen Fäden wieder glücklich zusammengeführt werden. Schließlich lassen sich auch Leerstellen, Auslassungen oder etwa Unentscheidbarkeiten bezüglich der Erzählperspektive unter das Unverknüpfte sub sumieren. 70 Man denke nur an den aus Lucidors Sicht absurden Zustand der am jeweils folgenden Mor gen umorganisierten Welt, des Entzugs der Gesprächspartner und seines Eingeschlossenseins. Selbst aus der Perspektive des Lesers scheint diese Zuschreibung nicht allzuweit hergeholt, denn auch dieser erfährt erst relativ spät (aber immerhin noch vor Lucidor) von der ›Lauschaktion‹, deren Opfer Lucidor wird. – Zur aktuellen Kafka-Forschung vgl. Setzler, Markus: Die Literatur
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Exkurs: Katzengold
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Lücken – sowohl auf der Ebene der Figuren, aber eben auch, wie gezeigt, auf der strukturellen Ebene der Lancierung der Erzählung im Haupttext – lassen sich unter dem Begriff des Unverknüpften subsumieren. Formal, so kann man festhal ten, koinzidieren genau diese Lücken mit dem Unvermittelten des Archivs, mit dem dort vorherrschenden Rubrikenhaften, dem unverknüpften Nebeneinander verschiedenster Sachverhalte. Dabei verbirgt der Text nicht, daß sein Archivbe griff vom Aggregat inspiriert ist. Doch nicht nur die Erzählung ›Wer ist der Verräter?‹ zeigt sich affiziert von Archiven. Allenfalls tritt dieser Topos hier besonders auffällig zu Tage. Vielmehr kann man für die gesamten ›Wanderjahre‹ ein breit gefächertes Interesse an Archiven konstatieren. Das mag etwas banal klingen, wurde aber, das zeigte die Sichtung der Forschung, noch nie konsequent zum Thema gemacht. Im folgenden weise ich die Nähe des Texts zum Archiv auf zwei Ebenen nach. Erstens auf rein phänomenologischer: hier geht es um die im Text vorkommenden Archive, die ich mit einer Typologie erfasse. Zweitens trägt der Text selbst Züge eines Archivs, die ich aufzeigen werde. Zuvor möchte in einem kleinen Exkurs auf einen Fall eingehen, in dem die ›Wanderjahre‹ von einem Archiv als Belegstelle herangezogen werden.
8. Exkurs: Katzengold Zu Beginn der ›Wanderjahre‹ fragt Felix, weshalb man Katzengold als ebensol ches bezeichne. Wilhelm doziert, er wisse das nicht, vermute aber: »Wahrschein lich weil es falsch ist und man die Katzen auch für falsch hält.« (15) Schneider untersucht diese Stelle auf die asymmetrische Verteilung von Wissen und auf Nichtwissen hin.71 An ihr möchte er zeigen, daß man aus Anschauung kein siche res Wissen mehr generieren kann und daß es längst »für alles und für jeden Spezi alisten [gebe], die die Dinge besser kennen als der umherwandernde Wilhelm.«72 Felix wiederum scheint das begriffen zu haben und nennt stante pede die Jäger als Fachmänner, denn »[d]ie Jäger wissen alles […]« (15) Heinz indes zweifelt Wilhelms
wissenschaften und der Spatial Turn. Modellanalysen zu Kafkas Erzählung »Der Bau«. In: Zeit schrift für Germanistik. Neue Folge. XXII – 1/2012. Bern u. a. 2012. S. 177–179. 71 Vgl. Schneider: Archivpoetik, S. 64 f. Mittermüller konstruiert daraus ein sprachliches Pro blem, sieht darin »nicht adäquat verbalisierbare[ ] Elemente[ ] der Natur« (Mittermüller: Sprachskepsis, S. 192). Das scheint mir fraglich; an dieser Stelle weiß Wilhelm schlichtweg nicht bescheid. Er ringt mit seinem Unwissen, nicht mit einem Problem der Taxonomie. 72 Schneider: Archivpoetik, S. 66.
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›Wer ist der Verräter?‹
Ausführungen sowie seine Kompetenz auf dem Gebiet der Gesteinskunde an.73 Sie schreibt, er könne den Stein gerade so noch als Katzengold »identifizieren und mit einer alltagsweltlichen, wenn auch eher fragwürdigen etymologischen Erklärung versehen«.74 Heinz bemerkt dann knapp, Katzengold sei ›Pyrit‹. Tut man nun aber wirklich den Schritt ins Archiv und prüft nach, was denn der Zeitgenosse unter Katzengold verstanden hat, so erlebt man eine Überraschung. Die einschlägigen Nachschlagewerke können den Begriff genauso wenig wie Wilhelm erschöp fend erklären.75 Lediglich das Grimmsche Wörterbuch macht einen Versuch, die Namensgebung herzuleiten. Dafür steht ihm anscheinend nur eine einzige Refe renzstelle zur Verfügung. Es greift ausgerechnet auf genau den eben genannten Textausschnitt aus den ›Wanderjahren‹ zurück. Bei Grimm steht: mica auri, der gelbe glimmer, goldglimmer. C. SCHWENKFELD, stirpium et fossilium Silesiae catalogus. Lps. 1600 s. 363, ammochrysis STEINBACH 1, 615. FRISCH 1, 505c; der name ist gemeint wie katzensilber (16. jh), katzenglimmer, katzenerz, katzenglas, katzenpeterlein, katzenminze, katzenkorn, katzenglaube, es sollte damit das falsche, unechte bezeichnet werden: ist das wol gold was darin so glänzt? sagte jener. es ist keins, versetzte dieser, und ich erinnere mich dasz es die leute katzengold nennen. katzengold! sagte der knabe lächelnd, und warum? wahrscheinlich weil es falsch ist und man die katzen auch für falsch hält. GÖTHE 21, 3 […].76
Die ›Wanderjahre‹ verhandeln anscheinend so entlegene Topoi, daß sie wiede rum von Lexika als Textbeleg herangezogen werden.77 Dabei gibt dieses Beispiel eine Anschauung vom gleichberechtigten Nebeneinanderstehen unterschied lichster Wissensarten im Archiv. Der ›Wanderjahre‹-Text wird gleich behandelt
73 Zahlreiche Arbeiten beschäftigen sich mit dieser Eingangssequenz, die von besonderer Pro minenz sei (z. B. Karnick: Die Kunst des Mittelbaren, S. 11 ff.). Neben Karnick ist Heinz eine der wenigen, die Wilhelms Erklärung kritisch hinterfragen (vgl. Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 353). – Übrigens taucht das Katzengold im Text noch einmal auf. Felix bricht ein Stück Stein aus einem Berggipfel heraus und verkündet, hier sei »ja schon das Katzengold wieder; das ist ja wohl überall?« und Jarno alias Montan antwortet: »Es ist weit und breit […]« (41). 74 Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 353. 75 Adelung schreibt von einem »Glimmer, der den Glanz und die Farbe des Goldes hat, aber nichts Metallisches enthält« (Adelung, Teil 2: F–L, Sp. 1517). Bei Zedler ist ›Katzengold‹ nicht verzeichnet. Dafür lernt man unter dem Lemma Katze etwas über Katzenkot als Haarwuchsmittel, das Kochen von Katzenköpfen und das Zubereiten von Liebestränken aus Katzenhirn; frappant am Eintrag im Zedler ist, daß 3¾ Spalten positive Eigenschaften von Katzen beschreiben und die ¼ Spalte, in der die negativen Eigenschaften (betrügen, treulos und boshaft Sein) verhandelt werden, offenbar das zeitgenössische Bild von ›Katze‹ dominiert (vgl. Zedler, Bd. 15, K, Sp. 240 ff.). 76 Grimm, Bd. 11, Sp. 295 ff. Kursivierungen im Original. 77 Gleiches gilt für den »Lusthebel« (109) aus der ›Verräter-Erzählung‹. Das DWb führt »als ein ziges Beispiel die Wanderjahre« an (MA 17, S. 1123. Kursivierung im Original).
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wie die herangezogenen naturwissenschaftlichen Werke von Schwenkfeld, Stein bach und Frisch. Grimm führt vor, wie die schlichte Grundvoraussetzung für die Aufnahme ins Archiv Textualität ist (ganz im Sinn und gewiß zur Freude Baßlers). So schlägt die in den ›Wanderjahren‹ gegebene Erklärung selber um in einen Archiveintrag. Sie sind eben doch auch ein ganz konkretes Archiv und es ist kein Mißverständnis, sie als ein solches zu verstehen. Mit dem Fachbegriff Katzengold zieht der Text den Leser geradezu ins Archiv. Die Beschäftigung mit dem Aggregat (in seiner Eigenschaft als ein ambivalentes, intertextuell nachweisbares (Un-)Ordnungsprinzip) und die Lektüre der ›VerräterErzählung‹ (als eine die Problematik der ›Wanderjahre‹ in nuce enthaltende pro grammatische Erzählung) im ersten Teil der Arbeit zeigen, wo nun weiter ange setzt werden kann. Jetzt gilt es, den hieran geschulten Blick aufs Ganze zu richten unter Verwendung des bisher von beiden genannten Komplexen Gelernten. D. h. im nachstehenden Teil ist achtzugeben auf im Text verhandelte Spielarten von Ordnung, Pluralität, Archiv (mit dazugehöriger Terminologie) und Sammlungen sowie auf Unverknüpftes. Bevor nun die Archive in den ›Wanderjahren‹ genauer in den Blick genom men werden, gehe ich exemplarisch auf einige kritische Reaktionen ein, die durch das Erscheinen der ›Wanderjahre‹ provoziert wurden. Diese agitatorisch formulierten Rezeptionsniederschläge haben bei aller Polemik eines gemeinsam. Sie erkennen und benennen für das Verständnis des Texts Wichtiges und geben die Perspektivierung für die anzustellenden Überlegungen vor. Die zeitgenössische Rezeption zeigte sich schon bei Erscheinen der ersten Fassung der ›Wanderjahre‹ verärgert. Sie empfahl beispielsweise, Goethe hätte den Text lieber übertiteln sollen »mit seinem eignem Lieblingsausdruck: ›Faszi kel‹ oder: wie er sonst wollte: Materialien, Ideen, Entwürfe usw. zu einer Fortset zung seines Wilhelm Meister«.78 Der Rezensent rückt den Text in die Nähe einer Materialsammlung und trifft damit sowie mit seinem ebenso unverstellten wie hellsichtigen Hinweis auf Archivterminologie, ohne es zu wollen, ins Schwarze. Mit dieser Kritik kann man arbeiten. Sie läßt sich ummünzen in das Desiderat, den Text tatsächlich nach Archivtermini und Sammlungen zu durchkämmen. Auch Eugen Wolff betreibt ›Autorschelte‹, mag die ›Wanderjahre‹ in ihrer irri tierenden Form nicht stehenlassen. Er geht aber noch weiter und ediert sie nach
78 Schütz, Friedrich Karl Julius: Goethe und Pustkuchen, oder: über die beiden Wanderjahre Wilhelm Meisters und ihre Verfasser. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Poesie und Poetik (1822). [Auszug] in: Gille, Klaus F.: Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehrund Wanderjahre. Königstein/Ts. 1979. S. 109. Kursivierung im Original.
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eigenem gusto neu. Diese Herausgeberschaft bereitet ein früherer Forschungs beitrag Wolffs vor. Dort fragt er, welche erzählerischen Fäden aus den ›Lehrjah ren‹ die ›Wanderjahre‹ wieder aufnähmen. Der einzig durchgängig feststellbare sei Wilhelms Reise. Ansonsten jedoch fehle »jeder Ansatz zu einer Romanhand lung, jeder Zusammenhang mit der Charakterisierung des ›Wilhelm Meister‹«, die Namen seien nur aus den ›Lehrjahren‹ »entliehen«.79 Wolff weist zudem auf die losen oder fehlenden Verknüpfungen zwischen den Erzählungen und dem Haupt text hin.80 Vor allem in der Fassung von 1829 sei »[r]echter Hand, linker Hand – alles vertauscht! –«81 Interessant sind die über den gesamten Aufsatz verstreuten Begriffe, die er wählt, um die seiner Meinung nach defizitäre Komposition des Texts zu markieren. Der Haupttext etwa sei an die Novellen »angereiht«,82 außer dem ist wiederholt die Rede vom nachträglichen Einfügen und Anflicken.83 Ohne es zu intendieren entspricht Wolffs Charakterisierung der Textgestalt bis in die Terminologie hinein der Logik des Aggregats – und stößt sich offensichtlich an ihr. Wolff liefert so ungewollt einen weiteren Nachweis der konzeptionellen Nähe des Textkorpus der ›Wanderjahre‹ zum Aggregat. Da so ein inferiores Textge bilde aber wohl nicht ernsthaft angestrebt gewesen sein könne, zieht Wolff einen eigenwilligen Schluß: Nicht auf Einlagen in einen geschlossenen Roman ist es abgesehen, die weder unter sich noch mit der Haupthandlung zusammenhängen: vielmehr auf einen Kranz von ineinandergreifenden Parallelgeschichten.84
Zwei Jahre nach besagtem Aufsatz setzt Wolff seine Sichtweise vom ›ursprüngli chen Plan‹ Goethes zur Form der ›Wanderjahre‹ dann auch konsequent editorisch in die Praxis um. Er gibt die ›Wanderjahre‹ 1916 mit dem Untertitel »Ein Novellen
79 Beide Zitate: Wolff, Eugen: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wanderjahren. In: Goethe-Jahrbuch. Bd. 34. Hg.: Geiger, Ludwig. Frankfurt am Main 1913. S. 162–192. Hier: S. 166. 80 Dies gelte für ›Die neue Melusine‹ – er bezeichnet sie explizit als isoliert, ihre Einführung als »künstlich und gezwungen« (S. 176), das Märchen selbst als »[r]ückwärts wie vorwärts un vermittelt« (S. 176) – ebenso wie für ›Die gefährliche Wette‹, ›Die pilgernde Törin‹ (»nur als be ziehungslose Lektüre ›vor Schlafengehn‹«; S. 177), für den ›Mann von funfzig Jahren‹ (dort sei »eine Verknüpfung mit Makarie nur angeflickt«; S. 180, die Erzählung selbst sei ›abgebrochen‹; vgl. S. 186; die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf: Wolff: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wanderjahren). 81 Wolff: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wanderjahren, S. 181. 82 Wolff: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wanderjahren, S. 180. 83 Vgl. Wolff: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wanderjahren, S. 175, S. 178, S. 180. 84 Wolff: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wanderjahren, S. 183. Kursivierungen im Original.
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kranz. Nach dem ursprünglichen Plan« neu heraus.85 Die Rahmenhandlung mit Wilhelm und Felix läßt er in der Tat ganz wegfallen. Gleichzeitig konterkariert er sein Postulat und sein Editionsunternehmen des Novellenkranzes, indem er wie derholt von ihm so genannte ›Ausklänge‹ zwischen die Novellen als Erklärung einfügt. Da er die Lücken, die durch sein Arrangement entstanden sind, durch eigene Ausführungen füllt, synthetisiert er den Kranz wieder. Seiner Annahme, der zufolge die Novellen für sich stehen können, traut er doch nicht ganz. Was Wolff nicht zu bemerken scheint: Seine den Text flankierenden, um Kohärenz bemühten Äußerungen86 unterscheiden sich von ihrer Funktion her nur graduell von denen des Redaktors in den ›üblichen‹ ›Wanderjahre‹-Ausgaben, die er weg gelassen hat. Wider besseres Trachten schießt er mit seiner Ausgabe den Vogel auf dem Gebiet des Aggregats ab. In Wolffs Neuedition sind die ›Wanderjahre‹ in praxi eine unvermittelte Anhäufung nur vage sich aufeinander beziehender Ein zeltexte. Unter Berücksichtigung der erwähnten Rezeptionsbeispiele wird nun ein genauer Blick auf die ›Wanderjahre‹ geworfen. Im weiteren Verlauf der Arbeit geht es um die Frage, wie im Text über, mit und durch Archive gesprochen wird, d. h. auch wann und wie das Archiv Eingang in den literarischen Diskurs findet. Läßt man den Text sprechen, so bedarf diese wenig explorierte Zielrichtung keiner weiteren Rechtfertigung. Das Archiv kann man als dem Text zugrunde liegendes Strukturprinzip ansehen, als gezähmtes, d. h. überhaupt erst erzähl bares Aggregat. Letzterem geht es dabei um Kontingenz und Vielheit, mit einem Wort: Freiheit in der Anordnung. Dies läßt sich natürlich immer nur unvollstän dig erreichen, läßt sich lediglich in Bezügen und im Verweis approximativ und asymptotisch verwirklichen. Die ›Wanderjahre‹ stellen sich der Aufgabe, die Frage zu beantworten, wie sich das konkret realisieren lassen könnte. Machbar, so die Antwort des Texts, ist es über den ›Umweg‹ einer Mindest- oder Minimal ordnung, über das Phantasma eines zugrundeliegenden Archivs und die struktu relle Anlehnung des Texts an dasselbe. Dann, post festum erst, bezeichnet Goethe den Text als Aggregat. Dabei scheint es den ›Wanderjahren‹ nicht um die mög
85 Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre/Ein Novellenkranz. Nach dem ursprünglichen Plan herausgegeben von Eugen Wolff. Frankfurt am Main 1916. 86 Dabei handelt es sich nicht um einen deutlich abgesetzten Textapparat mit Fußnoten, son dern, wie erwähnt, um direkt an die Erzählungen angeknüpfte Einschaltungen. Der Beginn einer solchen lautet z. B. nach der Erzählung ›Der Lilienstengel‹: »Sollte diese eindrucksvolle Ouver ture wirklich eine Episode in Wilhelms Wanderjahren bleiben? Daß die Novelle, wie sie hier in dem ersten Druck von 1809 erscheint, ursprünglich ein anderes Ziel ins Auge faßte, als die end gültige Abfertigung im Roman ahnen läßt, erhellt aus der auffallenden Umbiegung bezeichnen der Wendungen.« (Goethe: Novellenkranz, S. 70).
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›Wer ist der Verräter?‹
lichst realitätsnahe Abbildung etwa einer Weltordnung zu gehen, sondern immer um (An-) Ordnungen in Sammlungen, in von Menschen Zusammengetragenem. Und um die Frage, wie ästhetisch, naturwissenschaftlich ›ordentlich‹ – also ord nungsstiftend – zu verfahren, zu konstruieren, zu erzählen sei. Das geschieht innerhalb eines Textuniversums bzw. innerhalb eines Archivs. Mit anderen Worten: Die ›Wanderjahre‹ stellen sich einem Dilemma. Sie schwanken zwischen dem Desiderat der Darstellung einer auszuufern drohenden Vielfalt und demjenigen, dieser zugleich die Mittel der Domestikation parallel zu führen. Auch bei der Wahl des ›richtigen‹ Ordnungssystems gerät der Text ins Schwanken: Als ob er dem oft als defizitär apostrophierten Aggregat nicht traute, greift er zur Absicherung gegen eine potentielle Verselbständigung der Plura lität auf das Archiv zurück. Und selbst dieses ist nicht neutral, sondern schon das goethezeitliche konventionalisierte Archivverständnis war facettenreich. Noch deutungsbedürftiger wird das ›Konzept Archiv‹ jedoch, wenn sich ein lite rarischer Text dafür interessiert. Dann ist es weder statisch noch starr, sondern von einer vom Text forcierten Eigendynamik und Ambivalenz, die es zum Spiel material prädestiniert, so die zentrale These. Das im gegenwärtigen Zusammenhang Entscheidende ist aber, daß der Text eine Dichotomisierung ›Aggregat oder Archiv?‹ vermeidet. Dies ›Ordnungsexpe riment‹ in den ›Wanderjahren‹ zu untersuchen ist Gegenstand des vorliegenden Teils der Arbeit. Zuerst wird der Nachweis geführt, daß der Text sich durch eine allgemeine Affinität zur Pluralität auszeichnet.87 Sodann frage ich, wo er das Archiv ganz konkret beim Namen nennt und in welchem Kontext, mit welchen Implikationen der Begriff wörtlich auftaucht. Danach ist zu klären, wo er über Archive im allgemeinen spricht, wo Sammlungen u. ä. thematisiert werden, in welcher Ausprägung sich Aufzählungen und Reihen finden. Und viertens wird untersucht, wo sich Archivalisches Erzählen bzw. Schreiben ausmachen läßt. Anders formuliert: Es wird mit einem zunehmenden Unschärfefaktor gearbeitet. Nach der Klärung des Pluralitätsbegehrens des Texts erfolgt die Fokussierung zuerst exakt auf den Begriff Archiv, dann auf weiterreichende Archivterminologie und schließlich global auf Archivalisches Erzählen und Schreiben.
87 Diese Pluralität ist nicht lediglich zu denken als eine solche der in den ›Wanderjahren‹ ver handelten Topoi, sondern, wenn man so will, als eine Art ›leerlaufende Pluralität‹, von der sich der Text schlichtweg fasziniert zeigt. So sind z. B. Zahlen, Aufzählungen, Büschel sowie Begriffe wie Masse, Menge, mannigfaltig, hundert, tausend im Text sehr präsent, wie im Anschluß ge zeigt wird.
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VI. Pluralität als Faszinosum Einen vielversprechenden Ansatz für den Zugriff auf den Text liefert Endre Hárs, der nachweist, daß Herder in seinem ›Adrastea‹-Projekt ein Diskurs über Schrift lichkeit (über das Anfertigen, Sammeln und Lesen von Schriften) mehr oder weniger unintendiert unterlaufe. In der Zeitschrift ›Adrastea‹, so Hárs, sei das »Bedürfnis, Schriften zu haben, der Anspruch, sie herzustellen, den Herder in seinen Beiträgen gleichsam mitdokumentiert«,1 virulent. Dieses Desiderat gipfle in Herders Aufruf: »Schreibt Denkwürdigkeiten, ihr stille, fleißige, zu bescheidne, zu furchtsame Germanen!« Der ›Adrastea‹ liege eine Art »reflektierte-unreflek tierte Mediologie«2 zugrunde, mehr noch: gerade jene Zeitschrift sei es, »die die redaktionelle Situation des Sammelns und Lesens von Schriften mehr als alle anderen Werke Herders, […] konzeptionell durchaus anwendbar in Szene setzt.«3 Hárs konstatiert, man müsse »in der Textur der Adrastea selbst sammeln, um der Sammeltätigkeit Herders auf die Spur zu kommen.«4 Dies gilt uneingeschränkt auch für die Texte Goethes: »Das Sammeln und das Vereinigen von Gesammeltem ist kennzeichnend für die Arbeitsweise vor allem des späten Goethe.«5 In beson derem Maß vom Sammeln affiziert zeigen sich jedoch die ›Wanderjahre‹. Sie sind nach Azzouni der einzige Text Goethes, den er selbst mit dem von ihm selten verwendeten Adjektiv ›kollektiv‹ charakterisiert.6 Fängt man an, in den ›Wanderjahren‹ Belege zu Pluralität, Sammlungen,7 Anhäufungen etc. zu sammeln, so stellt sich heraus, daß der Text sich fasziniert
1 Hárs, Endre: Adrasteas Sammelwut. Herders Spätwerk zwischen Lesen und Auflesen. Manu skript. [Vortrag gehalten am 2. 10. 2010 beim ›Jahrestag der Deutschen Gesellschaft für die Erfor schung des 18. Jahrhunderts (DGEJ) vom 30. 9. bis 3. 10. 2010 in Halle/Saale.‹] S. 4. 2 Beide Zitate: Hárs: Adrasteas Sammelwut, S. 4. 3 Hárs: Adrasteas Sammelwut, S. 10 f. 4 Hárs: Adrasteas Sammelwut, S. 11. Kursivierung im Original. 5 Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 33. 6 Vgl. Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 33. Dort heißt es: »Dem Sprachgebrauch entsprechend ist ›collectiv‹ als ›sammelnd‹ bzw. ›vereinigend‹ zu verstehen.« 7 Auch Trunz fallen die Sammlungen in den ›Wanderjahren‹ auf: »Da das Sammeln Goethe be sonders in seinem Alter beschäftigte und erfreute, kommen Sammlungen vor allem in seinem Altersroman vor, in ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹.« (Trunz, Erich: Goethe als Sammler. In: Ders.: Ein Tag aus Goethes Leben. Acht Studien zu Leben und Werk. München 1990. S. 72–100. Hier: S. 92).
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zeigt von jeglicher Art von Archivierung,8 von Pluralität,9 oder, zusammenfas send in der ›Wanderjahre‹-Terminologie ausgedrückt, »Mannigfaltigkeit«. (42) Er erprobt unterschiedliche Techniken im Umgang mit diesem ihn permanent beschäftigenden Phänomen. D. h. daß er Pluralität reflektiert, durchspielt, vor führt und modifiziert. Um ihr gerecht zu werden greift er zum einen auf diverse Archivierungsmodi zurück, als da sind: Reihe, Sammlung, Aufzählung, Liste, Kompendium, Umcodierung, Briefwechsel und Aggregat. Letzterem kommt dabei die prominente Rolle eines Scharniers zu zwischen dem vom Archivgedan ken affizierten Text und der in ihm angelegten Strukturidee vom Text als Archiv. Zum anderen bedient er sich spezieller Erzählverfahren, wie etwa der ›Archivfik tion‹ (Neuhaus), des ›stückhaften Erzählens‹ (Gidion), der Auslassungen (Iser) sowie des ›Enzyklopädischen Erzählens‹ (Brecht). Außerdem verhandelt er Topoi und eine (Fach-)Terminologie aus dem Bereich des Archivs. Dabei dient ihm das Archiv als ästhetisches Bewältigungsinstrument und Form einer Komplexität und schieren Masse (der Empirie, der Ästhetik, der Topoi), die mit herkömmli chen narratologischen Mitteln weder erfaß-, geschweige denn darstellbar wäre. Diese Komplexität versucht er zwar zu verarbeiten, möchte sie aber – und das ist wichtig zu betonen – nicht auflösen und auch nicht glauben machen, ihr (z. B.
8 Mainberger zufolge kann man bei Goethe grundsätzlich eine »Schwäche« für Aufzählungen, Reihungen, Schemata und Listen feststellen. Man müsste »jedoch genauer unterscheiden, in welchen Perioden, Gattungen, Disziplinen und in welcher Funktion die Aufzählungen auftau chen. Die Detaillierung und das Ins-Einzelne-Gehen sind für Goethe sicher wichtig, für den späten auch die losen Aneinanderreihungen, aber ebenso signifikant ist die begrenzende Ge gentendenz, die dauernde Suche nach Gestalten und Gruppierungen.« (Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 148. Fußnote 15). – Diesem Desiderat komme ich für die ›Wanderjahre‹ nach. Mir ist jedoch wichtig, diese ›Schwäche‹ für solche Elemente nicht Goethe, sondern dem Text nachzuweisen. 9 Z. B. »doppelt und dreifach« (98 f.), »dutzendweise« (270), »zehn- und hundertfach« (126), »hundert« (349), »hundertmal« (262), »hundertfältig« (166), »hunderterlei« (442), das »Hundert fache« (477), »tausend« (149), »tausend und aber tausend« (266), »millionenmal« (172), »Milli onen Fälle« (327), »unzählig« (237), »Vielgebilde« (279), »große[ ] Anzahl« (282) – Die teils hohe Frequenz des Auftretens dieser Begriffe im Text läßt sich belegen mit: Schwanke, Martina: Index zu Goethes Roman »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik Nr. 271). Stuttgart 1994. An keiner der genannten Stellen geht es um Zahlen im Sinn einer genauen Quantitätsangabe, sondern immer um eine größenmäßig undefinierte Menge, Vielzahl, Plura lität. Die Ausnahme macht ein wohl der Inszenierung einer Scheingenauigkeit dienender Zahlenexzeß in Lenardos Tagebuch: »Rechtsgedreht Garn gehen 25 bis 30 auf ein Pfund, linksgedreht 60 bis 80, vielleicht auch 90. Der Umgang des Haspels wird ungefähr sieben Viertel Ellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke, fleißige Spinnerin behauptete, 4, auch 5 Schneller, das wären 5000 Umgänge, also 8 bis 9000 Ellen Garn, täglich am Rad zu spinnen; sie erbot sich zur Wette, wenn wir noch einen Tag bleiben wollten.« (373).
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per Repräsentation) vollständig gerecht werden zu können. Der Text erzählt von einer Ganzheit, die man jedoch nie zu Gesicht bekommt. Dies leistet er, indem er eine Auswahl aus derselben inszeniert, um sie zu belegen – auch das ist zwar eine Art von Repräsentation, der Text denkt sie aber eher symbolisch. Die in den ›Wan derjahren‹ auf Schritt und Tritt auffindbare Idee der Pluralität ist, so könnte man argumentieren, überhaupt die conditio sine qua non dafür, daß etwas gesammelt und daß über Archivierung nachgedacht werden kann. Soll Archivierung nicht nur als konstruierte Untersuchungseinheit verstanden werden, sondern als ein in der Logik des Texts liegendes Strukturmerkmal, so ist die Grundvoraussetzung dafür schlichtweg das Vorhandensein von unterschiedlichen Vielzahlen. Dann erst läßt sich das Archiv als – wenn auch ästhetisch inszenierte – Lösungsmög lichkeit des Problems der zerstreuten Vielheit verstehen. Der Gedanke, von dem auszugehen ist, lautet also: Um überhaupt sammeln zu können müssen die Dinge in einer Pluralität vorliegen. Die Grundbewegung des Sammelns, so Sommer in seiner Sammeltheorie, sei, »vieles, das im Raum verstreut ist, […] an einem Ort [zusammenzutragen].«10 Diese Voraussetzung erfüllt der Text und reagiert darauf – das ist sein ästhetischer ›Kniff‹ – mit dem Archiv, wie nun zu zeigen ist.11
10 Sommer: Sammeln, S. 18. 11 Schößler registriert das Sammeln der ›Wanderjahre‹ zwar, verankert es aber im geschichtswis senschaftlichen Kontext (vgl. Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 359).
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VII. Das Wort Archiv in den ›Wanderjahren‹ Wörtlich ist in den ›Wanderjahren‹ vom Archiv an vier Stellen die Rede. Erst mals wird es während Wilhelms Besuch bei Makarie erwähnt. Dort eröffnet ihm Angela, daß durch ihre Tätigkeit (das Mitschreiben von Gesprächen und das anschließende Sammeln der Papiere) ein bedeutendes Archiv entstanden sei, woraus sie in schlaflosen Nächten manchmal ein Blatt Makarien vorlese; bei welcher Gelegenheit denn wieder auf eine merkwürdige Weise tausend Einzelnheiten hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber fällt und sich nach allen Seiten hin in die vielfachsten unzähligen Kügelchen zerteilt. (138)
Wilhelm hakt nach und stellt eine Frage nach der Zugänglichkeit dieses Archivs: Auf seine [Wilhelms] Frage, inwiefern dieses Archiv als Geheimnis bewahrt werde, eröffnete sie: daß allerdings nur die nächste Umgebung davon Kenntnis habe, doch wolle sie es wohl verantworten und ihm, da er Lust bezeige, sogleich einige Hefte vorlegen. (138 f.)
Innerhalb der beiden angeführten Abschnitte taucht der Begriff Archiv gleich zwei Mal auf. Es geht in Angelas Schilderung zuerst ganz grundsätzlich um Auf bewahrung. Dem schließt sich die Frage nach der Nutzung von Archivalien sowie eine metaphorisch gefärbte Rede über das Fruchtbarmachen von Archivgut an. Bei aller mutmaßlichen Disparatheit und Masse dessen, was im Archiv nieder gelegt sein wird, betont der Text die behutsame Dosierung der Lektüre, das Vor lesen ›eines Blatts‹. Wilhelms Nachfrage hingegen betrifft explizit das ›Archiv als Geheimnis‹. Sie scheint auf Zugangsvoraussetzungen abzuzielen und möchte die Exklusivität des Zutritts klären.1 Angelas Antwort gibt dieser Vermutung recht: nur die ›nächste Umgebung‹ habe ›Kenntnis‹. Aber sie ›wolle es verantworten‹ und Wilhelm, ›da er Lust bezeige‹ – hier wird ihre Rede ambivalent – etwas vom Archivierten vor setzen. Die von Wilhelm bezeigte ›Lust‹ kann auf die Archivalien bezogen werden oder aber auf Angela selbst. Wäre das letzgenannte der Fall, dann schützte sie das Zeigen von Material aus dem Archiv vor, um Wilhelms Lust abzuwehren. Bereits der erste explizite ›Auftritt‹ des Archivs im Text ist also von verschiedenen Ver weisungszusammenhängen bestimmt.
1 Vgl. auch Heinz, die Makaries Archiv als »nicht öffentlich« einstuft (Heinz: Narrative Kultur konzepte, S. 439).
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Erst im vierzehnten Kapitel des dritten Buchs taucht der Begriff wieder auf. Er findet sich in einer raffenden Sequenz, in welcher der Redaktor die ausgeleg ten erzählerischen Fäden und das Personal der ›Wanderjahre‹ gegen Ende des Texts unsanft zu einen versucht.2 Diese Raffung ist in der Form einer Aufzählung gehalten. Man findet dort neben der sukzessiven Schilderung der Personen den Rekurs bzw. den Blick auf Archive und Archivierungsprobleme. Umso auffälliger ist die Einschaltung eines den Erzählfluß retardierenden ›Blattes‹ über Makarie: »Zu diesem Punkte aber gelangt, können wir der Versuchung nicht widerstehen, ein Blatt aus unsern Archiven mitzuteilen, welches Makarien betrifft […].« (484) Die Redaktorfigur handhabt den Archivterminus selbstbewußt und sieht sich nicht genötigt, ihn zu verdeutlichen, wie Angela es im Rekurs auf die Quecksil bermetapher unternommen hatte. Für ihn scheint ›Archiv‹ ein gewohnter Begriff zu sein. Dem Phänomen Archiv scheint zudem eine Art Kitzel des Zeigens inne zu wohnen (›Versuchung‹). Dieser rührt wohl daher, daß der Redaktor sich in der Wissenshierarchie höherstehend wähnt als die andern. In diesen beiden Punkten (selbstbewußte Verwendung des Begriffs und Auskosten der Hierarchie) unter scheidet sich das Archivverständnis der Redaktorfigur auffällig von dem Angelas. Zum vierten und letzten Mal begegnet dem Leser das Wort Archiv nach dem achtzehnten und letzten Kapitel der ›Wanderjahre‹ in der finalen Überschrift des Texts: ›Aus Makariens Archiv‹ (497). Hierauf folgen die einhundertzweiundacht zig ›Sprüche‹. Auf diese Weise fungiert der Begriff als Bezeichnung eines reali ter vorhandenen Archivs, das der Leser dann auch wirklich vorgelegt bekommt (wenn auch nur, wie durch die Präposition ›aus‹ gekennzeichnet wird, aus schnittsweise). Figurenperspektivisch läßt sich diese Überschrift nicht mehr ver orten. Als vorläufges Fazit kann man festhalten, daß das Wort Archiv in den ›Wan derjahren‹ durchaus präsent und explizit nachweisbar ist. Das Archiv wird zwar nur selten wörtlich genannt, aber wenn es geschieht, dann auf allen Ebenen der Texthierarchie. Auf der Figurenebene drei Mal: ein Mal von Angela und ein Mal von Wilhelm, die beide in einer Wirklichkeitsebene operieren. Dann vom Redak tor, der zwar ebenfalls als Figur zu verstehen ist, jedoch als eine erzählende Figur
2 Das registriert auch Karnick: Die Figuren träten dort »in verdrießender Vollständigkeit« auf. (Karnick: Die Kunst des Mittelbaren, S. 114). Muschg pointiert: »Wie der Erzähler-Regisseur zum guten Ende die halbvergessenen Figuren der ›Lehrjahre‹ – bis zum biederen Werner – aus ihrer Versenkung hervorholt, um noch schnell eine Verknüpfung des Ganzen, ein Tableau zu arran gieren, ist ein Hohn auf die Romankomposition, der Goethe den schuldigen Tribut eher hinwirft als zahlt: wird da Sinn statuiert oder höherer Unfug getrieben?« (Muschg: ›Bis zum Durchsichti gen gebildet‹. In: Ders.: Goethe als Emigrant, S. 122 f.).
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Das Wort Archiv in den ›Wanderjahren‹
inszeniert ist, die eine Hierarchieebene über den anderen zu stehen scheint.3 Schließlich taucht das Archiv auch noch in einer Überschrift auf. Im folgenden Analyseschritt arbeite ich heraus, was in den bisherigen Betrachtungen zum Archiv im Kontext der ›Wanderjahre‹ auf der Strecke geblie ben ist: daß der Text selbst ein mutmaßlich starres Ordnungsinstrument wie das Archiv als ambivalent und deutungsbedürftig ausstellt.
3 Heinz faßt den Redaktor gar als »Philologe[n] […], der sich um möglichst vollständige Über lieferung bemüht; und auch seine Geschmacksurteile lassen manchmal durchaus Zweifel an seiner ästhetischen Kompetenz aufkommen.« (S. 331). Außerdem bezeichnet sie ihn »als eine Art dokumentarische[n] Beauftragte[n] des Auswanderungsbundes« (S. 380; die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf: Heinz: Narrative Kulturkonzepte). Das ist deshalb nicht unproble matisch, weil davon im Text mit keinem Wort die Rede ist. Es scheint vielmehr eine der Volten der ›Wanderjahre‹ zu sein, daß sie den Redaktor einschalten und eben nicht klären, wer ihn beauftragt hat, was ihn zu seiner Editionstätigkeit antreibt. Auch auf dieser Ebene findet ein Vor enthalten oder eine Dosierung von Informationen statt, wird mit dem Leser ähnlich umgegangen wie mit Lucidor in der ›Verräter-Erzählung‹.
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VIII. Exkurs Ordnungsphantasie I: Quecksilber Angelas oben angesprochene Rede von einer ›Masse Quecksilber‹1 im Zusammen hang mit dem Archiv fordert geradezu dazu heraus, nach weiteren Okkurrenzen dieses Begriffs zu suchen. Tatsächlich wird man in den ›Wanderjahren‹ wieder holt fündig. In seinem zweiten Monolog sinnt Lucidor, der ›Held‹ der ›VerräterErzählung‹, darüber nach, welche der beiden Schwestern am besten zum Welten bummler Antoni passe: Was will denn der Anton Reiser mit Lucinden, die für das Haus geboren ist, um glücklich zu sein und Glück zu schaffen? hefte sich doch das zapplige Quecksilber [Julie] an den ewigen Juden, das wird eine allerliebste Partie werden. (104)
Lucidor scheint keine Sympathie für seinen vermeintlichen Nebenbuhler Antoni zu hegen. Seine Rede über die gewünschte Liaison zwischen Antoni und Julie ist ironisch gefärbt (›eine allerliebste Partie‹). Abgesehen davon fällt der Begriff auf, mit dem er Julie umschreibt. Sie wird als ›zappliges Quecksilber‹ kategorisiert, das sich an Antoni ›heften‹ solle. ›Quecksilber‹ zu sagen, um unentwegte Bewegung auszudrücken, entspricht ganz dem konventionalisierten Wortgebrauch.2 Daß ein Quecksilber sich aber an jemanden ›heften‹ soll, widerspricht einer seiner Grundeigenschaften, resultiert doch die Beweglichkeit dieses Materials gerade aus seinen scheinbar nicht vor handenen Adhäsionskräften. Eine solche schiefe Verwendung des Begriffs macht hellhörig und lädt zu einer genaueren Betrachtung ein. Mit Quecksilber assoziiert man einzelne Kügelchen, die auseinander- oder zusammenstreben.3 Genau darauf rekurriert Angela dann im Kontext des Archivs,
1 Vgl. auch den Exkurs ›Katzengold‹ in Kap. V.8 dieser Arbeit. Katzengold und Quecksilber eint, daß beide gerade nicht sind, was die zweite Silbe suggeriert. Sie sind keine Edelmetalle. Die Vor silbe ›Queck‹ scheint vom englischen ›quick‹ abzustammen und sich auf die Beweglichkeit des Halbmetalls zu beziehen (vgl. Adelung, Teil 3: M–Scr, Sp. 887 f.). 2 In der Schlußsequenz der ›Verräter-Erzählung‹ greift Julie, die über den Inhalt von Lucidors Monologen informiert ist, die Quecksilbermetapher wieder auf, um sich selbst damit in der drit ten Person Singular zu charakterisieren – damit zitiert sie Lucidor: »Nun sitzen wir hier und gehen einander nichts an, das hat denn doch so sein sollen. Das kleine Quecksilber [damit meint die Sprecherin sich selbst] wollte Ihnen gar nicht anstehen. Nicht lieben konnten Sie ein solches Wesen, verhaßt war es Ihnen.« (124). 3 Bei Zedler bleibt die Materialbeschaffenheit des Quecksilbers seltsam unterbelichtet (trotzdem der Begriff und seine Surrogate auf mehr als 22 Spalten von allen Seiten her beleuchtet werden). Sie wird als bekannt vorausgesetzt; auch findet sich keine Erwähnung der möglichen Zerteilung
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das sie verwaltet. Bei der gelegentlichen Lektüre einzelner Blätter aus dem Archiv »in schlaflosen Nächten« (138) geschehe es manchmal, so die Archivarin, daß denn wieder auf eine merkwürdige Weise tausend Einzelnheiten hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber fällt und sich nach allen Seiten hin in die vielfachsten unzäh ligen Kügelchen zerteilt. (138)
Das ›denn wieder‹ zeigt ein Fortschreiten des Phänomens an. Man greift ein Blatt aus der Unzahl der im Archiv gelagerten heraus, fängt an darin zu lesen und wird ›tausend‹-fach weiterverwiesen auf weitere ›Einzelnheiten‹, die wohl eher neckisch denn beängstigend ›hervorspringen‹ – ganz im Sinn der von Adelung proklamierten ›ungemeinen Teilbarkeit‹ des Halbmetalls.4 Die als Bild für die vorherrschende produktive Pluralität verwendeten Quecksilberkügelchen sind unzählbar und werden mit dem Superlativ von ›vielfach‹ umschrieben. Der sich perpetuierende Charakter einer solchen Lektüre wird nicht gerade zum Einschla fen beitragen, die Textstelle führt vielmehr die Fruchtbarkeit des Archivs vor. Dabei kommuniziert sie an keiner Stelle beängstigende oder formbedrohende Züge, wie sie z. B. dem Aggregat zugeschrieben werden. Denn beim Quecksilber gehört zum Auseinanderstreben und zur in Disparatheit mündenden Bewegung, wie sie von Angela geschildert wird, immer auch die Idee der Wiedervereinigung des Zerstreuten. Diese greift Goethe in einem Brief an Schiller am 10. Februar 1798 gleichnishaft auf, wenn er von mentalen Dingen oder solchen des Körpers redet: Nach einer Redoute, welche meine Facultäten schlimmer von einander getrennt hat als die Philosophie nur immer thun kann, war mir Ihr [Schillers] Brief sehr erfreulich und erquicklich. […] Die Philosophie wird mir deßhalb immer werther weil sie mich täglich immer mehr lehrt mich von mir selbst zu scheiden, das ich um so mehr thun kann, da meine Natur, wie getrennte Quecksilberkugeln sich so leicht und schnell wieder vereinigt.5
Ein Ball (›Redoute‹) hat Goethes innere Fachbereiche (›Facultäten‹) augen scheinlich auseinander gebracht – seiner Aussage nach sogar mehr, als es die Philosophie könnte. Schillers Brief sei ihm sowohl ›erfreulich‹ als auch ›erquick-
in Kügelchen. Ebenso bei Adelung, wo Quecksilber lediglich als »von Natur flüssiges Halbmetall, welches in der Schwere dem Golde am nächsten Kommt [sic]«, klassifiziert wird (Adelung, Teil 3: M–Scr, Sp. 887). Nur Grimm weist darauf hin: »[I]n ungemein beweglichen tröpfchen vorkommendes, flüssiges und silberfarbenes metall […]. Mit beziehung auf seine ungemeine theilbarkeit und beweglichkeit wird quecksilber oft in bild und gleichnis gebraucht.« (Grimm, Bd. 13, Sp. 2336. Kursivierungen im Original). 4 Vgl. Adelung, Teil 3: M–Scr, Sp. 887. 5 Goethe an Schiller am 10. Februar 1798 in: Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 1, S. 592 ff. Her vorhebungen: M. B.
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lich‹ gewesen – auf den Quecksilberdiskurs wird hier schon vorbereitet.6 Das Quecksilber weist Goethe als naturwissenschaftlich verbürgten Garanten für das ›Wieder-eins-Werden‹ des durch die Philosophie Geschiedenen aus. Vor diesem Hintergrund – der natürlichen Gabe der Reorganisation des Zerstreuten – wird die Zerteilung nicht als bedrohlich wahrgenommen, sondern zuversicht lich als Fähigkeit und provisorischer Zustand registriert. Der Weg von Goethes innerlichem Aggregatzustand wird nachgezeichnet von der Redoute über die Philosophie zur eigenen ›Natur‹, welche bewandert ist in leichter und schnel ler Wiedervereinigung. Die ›Facultäten‹, wohl des Geistes, verweisen wieder auf Archivterminologie. Dieser kleine Streifzug zeigt: Allgemein lassen sich zwei Wege des Redens über das Quecksilber ausmachen: (1) Das Quecksilber als Bild für Beweglichkeit, die auch stillgestellt werden kann. (2) Das Quecksilber als Ausdruck für Disparat heit sowie – den angeführten Lexikoneinträgen durch die Bank nicht erwähnens wert erscheinend – für eine nachfolgende, von der ›Idee Quecksilber‹ verbürgte, zumindest mögliche (Wieder-) Vereinigung. Für die ›Wanderjahre‹ kann man feststellen: Wenn eine der Grundbewegun gen des Texts das Suchen ist, dann ist damit auch immer die Suche nach Ord nungsideen oder Konstruktionsprinzipien gemeint, die mitarchiviert werden. Der Text spielt und denkt Modi von Disparatheit und potentieller Vereinigung durch, variiert sie und experimentiert mit ihnen. Darauf weist nicht zuletzt seine Auf merksamkeit auf das Halbmetall Quecksilber hin.
6 Laut Kluge bedeutet ›quick‹ ›lebendig‹ und hängt mit ebender Silbe ›keck‹ (›lebendig, lebhaft‹) zusammen, die auch die Lebendigkeit im Terminus Quecksilber markiert (vgl. Kluge: Etymologi sches Wörterbuch, S. 481 & S. 736).
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IX. Das Sprechen über Archive 1. Das Archiv als ›ordentlich eine mitspielende Person‹ War das Augenmerk bisher auf das Vorkommen des Begriffs Archiv im Text gerichtet, so werden im folgenden solche Textstellen untersucht, in denen eine regelrechte Archivterminologie auftaucht. Als exemplarische Einführung in die Verwendung von Archivterminologie auf eigentlich (archiv-)fremdem Gebiet dient die Lektüre einer Äußerung Goethes. Dieser bringt im Jahr vor seinem Tod die Terminologie des Archivs (Räume, Fächer, Lokulamente) mit der Aufnahme fähigkeit seines Kopfes für Schwerverständliches zusammen. Er schreibt an Zelter unter dem Datum vom 5. Oktober 1831, sich auf Alexander von Humboldts außer ordentliche Redegewandtheit und dessen ›Fragments de Géologie‹ berufend: Wenige Menschen sind fähig, überzeugt zu werden; überreden lassen sich die meisten, und so sind die Abhandlungen die uns hier vorgelegt werden wahrhafte Reden, mit großer Fazilität vorgetragen, so daß man sich zuletzt einbilden möchte, man begreife das Unmög liche. Daß sich die Himalaja-Gebirge auf 25.000’ aus dem Boden gehoben und doch so starr und stolz als wäre nichts geschehen in den Himmel ragen, steht außer den Grenzen meines Kopfes, in den düstern Regionen, wo die Transsubstantiation pp. hauset, und mein Zere bralsystem müßte ganz umorganisieret werden – was doch schade wäre – wenn sich Räume für diese Wunder finden sollten. Nun aber gibt es doch Geister die zu solchen Glaubensartikeln Fächer haben, nebst ganz vernünftigen Lokulamenten; ich begreif es nicht, vernehm es aber doch alle Tage. Muß man denn aber alles begreifen?1
Auch wenn hier etwas Ironie mitschwingt mag die Koppelung von Archiv und Person oder Archiv und Persönlichkeit in obigem Brief verwunderlich klingen. Interessant wird sie jedoch, wenn sie in einem literarischen Text als Engführung von Archiv und Figur statthat und wenn eine Figur diese Objektivierung ihrer selbst auch noch in den Mund gelegt bekommt. In den ›Wanderjahren‹ gibt es zwei solcher ganz spezieller Stellen.
1 Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 455. Hervorhebungen: M. B. Vgl. auch folgenden Ausspruch von Arno Holz: »In meinem Schädel befindet sich ein Archiv, mit lyrischen Wunderwerken gewesener Generationen so vollgepfropft, daß ich wirklich davon überzeugt bin, es wird in ihrer Art Köstlicheres nie geschaffen werden.« (Holz, Arno: Die neue Wortkunst. S. 497. Zit. n. Brecht, Christoph: Enzyklopädie. In: Wunberg, Gotthard, Dirk Niefanger, Moritz Baßler und Christoph Brecht (Hgg.): Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996. S. 293–332. Hier: S. 323).
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Das Archiv als ›ordentlich eine mitspielende Person‹
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In der Nachschrift zu einem Brief Hersilies an ihre Tante wird eine Figur als Archivbestandteil ausgewiesen. Hersilie mokiert sich darüber, daß Lenardo in seinen Briefen ausschließlich Valerine beim Namen nenne und die andern nur auf ihre Funktionen reduziere: Es [Valerine] ist die einzige Person, die er mit Namen nennt. Wir andern sind ihm Nichten, Tanten, Geschäftsträger; keine Personen, sondern Rubriken. (88; Hervorhebung: M. B.)
Es fällt auf, daß Personen als Rubriken bezeichnet werden. In diese zunächst befremdliche, weil abstrakt anmutende Tendenz zur Anthropomorphisierung von Teilen des Archivs stimmt im vierten Kapitel des dritten Buchs auch der dem Leser aus den ›Lehrjahren‹ bekannte Friedrich mit ein: »Und nun bin ich, wo’s not tut, gleich eine ganze Kanzlei« (364). Nicht nur daß Romanfiguren sich sträubend als Rubrik, oder aber freudig als Kanzlei verstehen ist auffällig, sondern auch, daß ihnen überhaupt das Sen sorium und die Terminologie zugestanden wird, derart die eigene Lage beurtei len und damit bereits einen Metadiskurs über das Archiv eröffnen zu können – nämlich den über die Rolle, die es textintern zu spielen vermag. Daß die These einer Verquickung von Archiv und Person nicht allzuweit hergeholt ist, macht ein anderer Friedrich, namens Schiller, am 28. Juni 1796 in einem Brief an Goethe über das achte Buch der ›Lehrjahre‹ deutlich: Einen köstlichen Gebrauch haben sie [sic] von des Großvaters Sammlung zu machen gewußt; sie ist ordentlich eine mitspielende Person, und rückt selbst an das lebendige [sic].2
Auch hier wird eine Art von Archiv, die Sammlung, verlebendigt, ja sogar ver menschlicht. Sie wird zur ›mitspielende[n] Person‹ aufgewertet und, mehr noch, ins System integriert (›ordentlich‹). Was Schiller als Beobachtung zu den ›Lehrjahren‹ in einem Brief an Goethe notiert, findet man, anders gewendet, dann in den ›Wanderjahren‹ durch die Figuren Hersilie und Friedrich ausgesprochen. Dieses Phänomen führt noch einmal vor Augen, daß das Archiv für die ›Wanderjahre‹ eben keine bloß ›über gestülpte‹ Untersuchungseinheit bedeutet, sondern dort textuell verankert und reflektiert wird. Es sind diese Perspektivierungen – der Mensch als Rubrik (Her silie), als Kanzlei (Friedrich) und die Sammlung als ordentlich mitspielende Person (Schiller), die die Vitalität des ›Prinzips Archiv‹ und seine Bedeutung für die ›Wanderjahre‹ unterstreichen.
2 Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 1, S. 201. Hervorhebungen: M. B.
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Diese Textbefunde lassen sich korrelieren mit den Erkenntnissen aus einer von Gerhard Neumann erarbeiteten Problematisierung von Autorschaftskonzep ten, die auf eine um 1800 eintretende Erfahrung von ›Moderne‹ reagieren und diese mitinitiieren.1 Neumann untersucht unterschiedliche Romananfänge und kann für Goethes ›Werther‹ zeigen, daß nicht mehr ein souveräner Erzähler ton angebend ist, sondern »daß das Medium der Schrift selbst als eigentlicher Held des Romans hier etabliert erscheint.«2 Die Stelle, die im ›Werther‹ von der Schrift besetzt sei, werde in der ›Theatralischen Sendung‹ von jenem Puppentheater ein genommen, das Wilhelm zu Beginn geschenkt bekomme. Neumann resümiert: »Auch Goethes zweiter Roman beginnt mit der Vorstellung eines Mediums als Helden des Geschehens, des theatralischen Dispositivs nämlich […].«3 Im Anschluß an Neumanns Ausführungen kann man das Archiv als das die ›Wanderjahre‹ dominierende mediale »Konstrukt«4 ansehen. Daß es nicht in der Eingangsszene des Romans eingeführt wird (wie die von Neumann untersuchten Medien), spricht eher für diese Annahme als dagegen. Denn das Archiv ist an teleologischen Abfolgen weniger interessiert (vgl. Baßler) als die von Neumann angeführten Konzepte. Es operiert im Hintergrund, bildet stumm die Vorlage für die Struktur des Texts und tritt sporadisch überraschend auffällig hervor, wie etwa an jenen oben analysierten Stellen, wo die Verschränkung von einzelnen Figuren und dem Archiv erkennbar wird. Als ›Held‹ des Texts ist es nicht angewiesen auf einen allwissenden Erzähler.5 Daher kann es den Redaktor dulden, auch wenn er sich als Herr übers Archiv zu
1 Neumann spricht von einem »Projekt der Moderne«, in dem »zwei Themen zur Disposition stehen, die beide mit dem Zerfall eines in der Transzendenz verankerten Weltordnungskonzepts zu tun haben; […]. Das erste Thema betrifft die Umordnung des bestehenden, durch die Bemü hungen der Aufklärung befestigten Wissenssystems zu einem den neuen epistemischen Bedin gungen anzupassendem. Das zweite Thema ist dasjenige einer Formatierung des Subjekts in Hinsicht auf seine ›Karriere‹, als eine neu zu bestimmende Auffassung seines Lebensweges oder Lebensganges durch die Welt.« (Neumann: Mannigfache Wege gehen die Menschen, S. 71 f.). 2 Neumann: Mannigfache Wege gehen die Menschen, S. 81. Hervorhebungen: M. B. 3 Neumann: Mannigfache Wege gehen die Menschen, S. 82. Hervorhebungen: M. B. 4 Neumann: Mannigfache Wege gehen die Menschen, S. 86. 5 Was Mainberger auf die beiden Spruchsammlungen gemünzt feststellt, möchte ich als für die formale Anlage des gesamten Texts der ›Wanderjahre‹ gültig betrachten. Die ›Chance zur künst lerischen Gestaltung‹ sehen auch die ›Wanderjahre‹ als Ganzes im ›formalen Zwang‹ oder Or ganisationskonzept des Archivs: »Nur die Form der Sammlung, Reihung oder Aufzählung und, auf höherer Ebene ein nichtklassischer Werkbegriff, erlauben tatsächlich eine Mitwirkung des Sekretärs an der schriftstellerischen Arbeit; in ganz wörtlichem Sinn nimmt sich hier der Autor als Subjekt und Herr des Werkes zurück und läßt den sekundären Helfer agieren, denjenigen, der sonst bestenfalls Mitarbeiter an der Produktion ist. Die gleichen Voraussetzungen erlauben es auch, die Instanz der Autorschaft – zumindest teilweise – an einen formalen Zwang abzuge
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inszenieren versucht, denn gleichzeitig muß er einerseits seine Kompetenz und sein Wissen mehrmals als nur bedingt ausstellen und relativieren. Andererseits ruft seine Arbeit das zugrundeliegende Archiv wiederholt in Erinnerung.6 Es wird also durch seine Überarbeitung eben nicht unkenntlich gemacht, sondern dem Leser immer wieder – wenn auch indirekt, ex negativo – zu Bewußtsein gebracht. Das Archiv fungiert nicht nur als ›Medium von Geschichte‹,7 sondern im Fall der ›Wanderjahre‹ ganz explizit als ›Medium von Geschichten‹, als Medium der Narration.8 Diese Lesart ist auch kompatibel mit Azzounis Befund, wonach die ›Wanderjahre‹ »dem Erzählen Vorrang vor dem Erzähler […] geben.« Daß ein alle Fäden in Händen haltender Erzähler dort nicht nachweisbar sei, heiße jedoch nicht, daß es keinen gebe: Ganz im Gegenteil. Es gibt sehr viele, man möchte sagen, viel zu viele Erzähler. Hinter jeder Vermittlungsinstanz tritt eine weitere hervor, das Erzählte entpuppt sich als bereits erzählt. Damit verschiebt sich immer wieder die Verantwortung für das Erzählte, so lange, bis sie nicht mehr eindeutig zuzuordnen ist.9
Wo solche Zuordnungen aufgrund »einer derartig irrlichternden Multi perspektivik«10 nicht mehr möglich sind, wo übliche Erzählordnungen ausgehe belt oder zumindest irritiert werden, tritt das Archiv als universales Ordnungs instrument auf den Plan.
ben und diesen zur Chance künstlerischer Gestaltung zu machen.« (Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 316 f.). 6 Das Selegieren z. B. thematisiert er so: »[G]ar manches anmutig Belehrende kam zur Sprache, davon wir nachstehendes auswählen.« (142). Daß ihm Informationen fehlen zeigt eine Sequenz aus dem ›Mann von funfzig Jahren‹: »Wie diese guten, alles Anteils würdigen Personen [Hilarie und ihre Mutter] ihre nächtlichen Stunden zugebracht, ist uns ein Geheimnis geblieben« (225). In Lenardos Tagebuch kommentiert er einen Hinweis en parenthèse und verweist gleichzeitig noch auf eine »Zeichnung nebenbei«, die offenbar den Weg aus dem Archiv in den Text nicht gefunden hat: »(die wir leider wie die übrigen nicht mitgeben können).« (371). 7 »Archive geben nicht Geschichte wieder, sie machen Geschichte: beispielsweise durch be stimmte Verwaltungsakte und ihre Formulare, durch Aufschreibesysteme und ihre Lücken oder ganz allgemein durch Techniken der Vermittlung. Das Archiv kann demnach als das Medium der Geschichte gelten.« (Ebeling, Knut & Stephan Günzel: Einleitung. In: Dies. (Hgg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. (= Kaleidogramme Band 30). Berlin 2009. S. 7–29. Hier: S. 14. Kursivierungen im Original). 8 Wetzel formuliert, in den ›Wanderjahren‹ habe »das Archivarische das Erzählen selbst erfaßt« (Wetzel, Michael: In Mignons Mausoleum. Der Bildersaal als Archivschrift. In: Theile, Gert (Hg.): Das Archiv der Goethezeit. Ordnung – Macht – Matrix. München 2001. S. 63–81. Hier: S. 80). 9 Beide Zitate: Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 70. 10 Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 68.
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2. D er Traum vom Archiv – oder: welches Bild entwirft der Text vom Archiv? Nun gilt es zu untersuchen, wie der Text über das Archiv spricht, wie die Archive im Text organisiert und strukturiert sind sowie nicht zuletzt, wie sie benutzt werden und wie der Zugriff auf sie aussieht.11 Dafür bietet sich eine Textstelle an, in der Wilhelm in ein Gespräch über Archivierung verwickelt wird. Sein Gesprächspartner, der Oheim, läßt ihn »Handschriften« (92) sehen und »sogar zuletzt Reliquien, von denen man gewiß war, daß der frühere Besitzer sich ihrer bedient, sie berührt hatte.« (92) Er erklärt: Dies ist meine Art von Poesie […] meine Einbildungskraft muß sich an etwas festhalten; ich mag kaum glauben, daß etwas gewesen sei, was nicht noch da ist. Über solche Heiltümer vergangener Zeit suche ich mir die strengsten Zeugnisse zu verschaffen, sonst würden sie nicht aufgenommen. Am schärfsten werden schriftliche Überlieferungen geprüft; denn ich glaube wohl, daß der Mönch die Chronik geschrieben hat, wovon er aber zeugt, daran glaube ich selten. (92; Hervorhebungen: M. B.)12
Archiv und Poesie werden vom Oheim enggeführt zu einer Poetik des Anfassba ren. Zum einen redet er einem Prinzip der reinen Präsenz das Wort (›ich mag kaum glauben, daß etwas gewesen sei, was nicht noch da ist‹), zum andern bestimmen, dieses Diktum wieder einschränkend, Evidenz und Reliabilität (›die strengsten Zeugnisse‹) sein Denken übers Archiv. In seinem Sammlungsmodus, dies veran schaulicht sein Bestreben nach Kontextualisierung der Sammlungsgegenstände, befolgt er das in der Archivierungspraxis des 19. Jahrhunderts noch keineswegs durchgängig etablierte ›Provenienzprinzip‹ avant la lettre: Klassische archivische Ordnungssysteme […] orientieren sich ganz an den Objekten selbst, indem sie ihr Material entsprechend der Herkunft des Materials sowie dem Zeitpunkt, zu dem es Teil des Archivs wurde, also entsprechend des sogenannten Provenienzprinzips, erschließen. […] Das Provenienzprinzip geht davon aus, daß sich die Bedeutung eines Objekts nicht nur aus dem einzelnen Objekt selbst erschließt, sondern auch aus seiner Stel lung innerhalb einer bestimmten Gruppe von Objekten, wie sie der ursprüngliche Besitzer
11 Es wird das in Kap. III.2 erarbeitete Archivverständnis vorausgesetzt und herangezogen, dem zufolge sich auch Sammlungen, Aufzählungen und Listen als Archive verstehen lassen. 12 Vgl. dazu einen Spruch aus Makariens Archiv, in dem gleichfalls Fragen der Echtheit von Schriften und des Verhältnisses zwischen Autor und Schrift zum Thema gemacht werden: »Unter mancherlei wunderlichen Albernheiten der Schulen kommt mir keine so vollkommen lächerlich vor, als der Streit über die Echtheit alter Schriften, alter Werke. Ist es denn der Autor oder die Schrift, die wir bewundern oder tadeln? Es ist immer nur der Autor, den wir vor uns haben; was kümmern uns die Namen, wenn wir ein Geisteswerk auslegen.« (518, AMA 134).
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zusammengestellt hat. Ein aus dem Zusammenhang gerissenes Objekt hat demnach eine erheblich geringere Aussagekraft als ein Objekt, das in seinem ursprünglichen Kontext belassen wurde. Dem Provenienzprinzip folgend, kann eine archivarische Ordnung die unterschiedlichsten Objekte zu einem Konvolut vereinen.13
Im siebten Kapitel des dritten Buchs weigert sich der Oheim, das geheimnisvolle Kästchen anzunehmen. Ein Bote bringt es ihm, nachdem der alte Pfandleiher ver storben ist. Der Empfänger argumentiert, er wolle sich mit keiner Antiquität, sie sei auch noch so schön und wunderbar, […] belasten, wenn er nicht wisse, wem sie früher angehört und was für eine historische Merkwürdigkeit damit zu verknüpfen sei. Nun zeige dieses Kästchen weder Buchstaben noch Ziffer, weder Jahrzahl noch sonst eine Andeutung, woraus man den frühern Besitzer oder Künstler erraten könne, es sei ihm also völlig unnütz und ohne Interesse. (408)
Hier umreißt der Oheim seine Sicht von Archivierung. Sie stellt sich als domi niert von der Frage dar, was nicht ins Archiv kommt. Damit etwas in sein Archiv aufgenommen werden kann, muß geklärt oder zumindest angedeutet sein, von wem es stammt und durch welche ›historische Merkwürdigkeit‹ es sich auszeich net. Wenigstens sollte es beschriftet sein, etwa Jahreszahlen oder einen sonstigen textförmigen Hinweis tragen. Ohne solche Eigenschaften ist es für ihn schlicht weg ›unnütz‹. Daher regt er an, das Kästchen bei den Gerichten niederzulegen, was wiederum seiner Nichte Hersilie nicht gefallen will. Sie kann sich das selt same Objekt auf keinen Fall »in dem alt-eisernen, verrosteten Depositenkasten der Gerichtsstube« (409) vorstellen und ist angeekelt (»Mir widerte«; 409) von der juridischen Kühle, die der Gefühlsbeladenheit des Kästchens konträr läuft.14 Sie kodiert es sofort um von der dem Oheim unwerten, da undatierbaren Antiquität in »das herrliche, dem holden Felix vom Schicksal zugedachte Schatzkästlein« (409). Letzteres steht in diametraler Opposition zur Aufbewahrungsform der ›Hinterlegung‹.15 Mit dieser Archivierungsphantasie begibt sich die Erzählung
13 Rieger: Anarchie im Archiv, S. 254 f. 14 Archivieren kann, so stellt der Text es dar, auch widerwärtig sein. Entweder, wenn man wie Hersilie Dinge weggeben soll, denen man einen schöneren Ort als die Depositenkammer wün schen würde oder aber wenn man Dinge archivieren soll, die selbst ekelerregend sind. Einen solchen Fall schildert der Anatom: »hier sehen Sie [Wilhelm] schätzenswerte Surrogate für jene Bemühungen, die wir, mit dem Widerwillen der Welt, zu unzeitigen Augenblicken mit Ekel oft und großer Sorgfalt dem Verderben oder einem widerwärtigen Aufbewahren vorbereiten.« (355; Hervorhebungen: M. B.). 15 Zedler widmet der ›Deposition‹ bzw. dem ›Depositum‹ mehr als neun Spalten. Die Grundbe deutung liegt im Aufbewahren einer Schrift (auch: gerichtliche Akten) oder eines Gegenstandes
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in den offiziösen Kontext des Archivs.16 Es geht dort ganz konkret um rechtliche Fragen, um Glaubwürdigkeit oder Evidenz.17 Wie sich zeigen ließ, stellt der Text manches als zu schade fürs Archiv aus. Es gehört scheinbar eher dem Leben an, der Liebe. Ähnlich wie Lucidor aus der ›Verräter-Erzählung‹ (er wird in den Gerichts saal hinein ›geschoben‹; vgl. 118) wird auch Wilhelm in ein Archiv ›geführt‹. Es sind Makaries Archivräume, in denen er sich im zehnten Kapitel des ersten Buchs wiederfindet. Die betreffende Textsequenz ist von Archivterminologie geradezu durchtränkt: Unser Freund ward sodann in ein Zimmer geführt, wo er in Schränken ringsum viele wohlgeordnete Papiere zu sehen hatte. Rubriken mancher Art deuteten auf den verschiedensten Inhalt, Einsicht und Ordnung leuchtete hervor. Als nun Wilhelm solche Vorzüge pries, eignete das Verdienst derselben Angela dem Hausfreunde [dem Astronom & Mathematiker als Archivar!] zu; die Anlage nicht allein, sondern auch in schwierigen Fällen die Einschaltung wisse er mit eigener Übersicht bestimmt zu leiten. Darauf suchte sie die gestern vorge lesenen Manuskripte vor [die aus der bereits zitierten Quecksilber-Sequenz] und vergönnte dem Begierigen, sich derselben sowie alles übrigen zu bedienen und nicht nur Einsicht davon, sondern auch Abschrift zu nehmen. (139; Hervorhebungen: M. B.)
Sogar Wilhelm scheint einen Blick fürs Archiv zu haben. Er ist im Stand, ›solche Vorzüge‹, also die hervor ›leuchtende‹ ›Einsicht und Ordnung‹ der Anlage des Archivs zu ›preisen‹. Angela gesteht ihm zu, das Archiv fruchtbar zu machen. Er darf es nicht nur einsehen, sondern auch daraus exzerpieren. Damit wird es dynamisch und perpetuiert sich, indem es von ihm erneut (in Auswahl, evtl. in anderer Anordnung) archiviert wird. Anagrammatisch läßt sich darüber hinaus aus dem Archivterminus ›Anlage‹18 der Name der Hüterin des Archivs – ›Angela‹ – konstruieren.19 Noch
(auch: Handelswaren, Geld), um ihn später wieder zurückzugeben (vgl. Zedler, Bd. 7, S. 326 f., Sp. 609 f.). 16 Phantasie deshalb, weil Hersilie diese Konstellation nur in Gedanken antizipiert. Sie verhin dert sie, indem sie der Aufforderung des Oheims folgt und das Kästchen in ihrer Schmuckscha tulle unterbringt, wo es ihr besser geborgen scheint als in einem Gerichtsarchiv. 17 Zedler verweist auf Berechtigungsscheine und schriftliche Bestätigungen. Weiterhin nennt er die Rahmenbedingungen für eine korrekte Aufbewahrung (vgl. Zedler, Bd. 7, S. 326 f., Sp. 609 f.). 18 Vgl. Kluge unter dem Lemma Anlage: »3. ›Beilage‹, 4. ›Erbanlage‹, weitgehend bestimmt von den Bedeutungen von l. dispositio.« (Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 46. Kursivierung im Original). 19 Auch der Name von Angelas ›Chefin‹ Makarie läßt sich anagrammatisch fruchtbar machen, worauf Azzouni hinweist. So werde aus ›Makarie‹ ›Amerika‹ (vgl. Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 240).
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einmal erweist sich, wie stark die Figuren bis hinein in ihre Namen kontaminiert sind vom Archiv. Flachs Feststellung, das Archiv sei in den ›Wanderjahren‹ nur »auf Schriftliches bezogen«,20 muß vor diesem Hintergrund zwar nicht revidiert jedoch dahingehend erweitert werden, daß der Text zusätzlich die Eigenschaf ten des Archivs und die es betreffenden Umgangsweisen zu seinem Gegenstand macht und ausstellt. Im Anschluß an die genannte Textstelle heißt es dann auch: Hier nun mußte der Freund bescheiden zu Werke gehen, denn es fand sich nur allzuviel Anziehendes und Wünschenswertes; besonders achtete er die Hefte kurzer, kaum zusam menhängender Sätze höchst schätzenswert. Resultate waren es, die, wenn wir nicht ihre Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nötigen, vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens rückwärtszugehen und uns die Filiation solcher Gedanken von weit her, von unten herauf womöglich zu vergegenwärtigen. (139; Hervorhebungen: M. B.)
An Wilhelm exemplifiziert der Text, daß im Umgang mit dem Archiv die Hürde der Exklusivität des Zugangs nicht die einzige zu nehmende ist. Wilhelm sieht sich konfrontiert mit dem Problem der Auswahl. Er muß sich ›bescheiden‹, weil er einer für ihn unbewältigbaren Quantität ins Auge zu sehen hat. – Ernst weist auf diese archivspezifische Problematik hin: »Tatsächlich gibt das Archiv ohne Disziplinierung beim Exzerpieren und strikte Zeiteinteilung nichts preis.«21 Der Text scheint hier darüber hinaus autoreferentiell zu sein. Die Nennung ›kurzer, kaum zusammenhängender Sätze‹ könnte auf die Spruchsammlung ›Aus Makariens Archiv‹ verweisen. Wenn die im Archiv angetroffenen ›Resul tate‹ dekontextualisiert sind (›wenn wir nicht ihre Veranlassung wissen‹), muß ›Finden‹ gekoppelt werden mit ›Erfinden‹ – und zwar nicht nur aufgrund etymo logischer Nähe. Unter einem ›umgekehrten Finden‹ darf man wohl ein Suchen, ein gezieltes Recherchieren verstehen. Suchen und Innovation (›Erfinden‹) stellt der Text als zusammengehörig aus. Auf diese Weise wird die Arbeit am Archiv produktiv: Die in Frage stehende Archivalie wird zunächst betrachtet und mag aufgrund ihrer Isolation vielleicht als paradox erfahren werden. Dann setzt seitens des Betrachters der Prozeß der Kontextualisierung ein. Dazu gehört wie derum nicht nur das Fachwissen um den richtigen Ursprungsort (›Finden‹) der Archivalie, sondern ebensosehr Vorstellungsvermögen und Phantasie (›Erfin den‹). Damit wird erneut auf die weiter oben angesprochene zentrale Rolle der Einbildungskraft angespielt.
20 Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 59. 21 Ernst: Rumoren der Archive, S. 92.
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Weiter läßt sich zeigen, daß das Archiv bis in die Träume der Figuren hinein spukt. Während seines Aufenthalts bei Makarie hat Wilhelm einen Traum vom Archiv, den er Angela wie folgt mitteilt: ›Ein wunderbarer Traum‹, fuhr er fort, ›einige Worte des ernsten Himmelskundigen, ein abgesondertes, verschlossenes Fach in den zugänglichen Schränken, mit der Inschrift ›Makariens Eigenheiten‹, diese Veranlassungen gesellen sich zu einer innern Stimme, die mir zuruft, die Bemühung um jene Himmelslichter sei nicht etwa nur eine wissenschaftli che Liebhaberei, ein Bestreben nach Kenntnis des Sternenalls, vielmehr sei zu vermuten: es liege hier ein ganz eigenes Verhältnis Makariens zu den Gestirnen verborgen, das zu erken nen mir höchst wichtig sein müßte. Ich bin weder neugierig noch zudringlich, aber dies ist ein so wissenswerter Fall für den Geist- und Sinnforscher, daß ich mich nicht enthalten kann anzufragen: ob man zu so vielem Vertrauen nicht auch noch dieses Übermaß zu ver gönnen belieben möchte?‹ (140; Kursivierungen im Original.)
In den Traum spielen anscheinend sowohl Wilhelms Gespräch mit dem Astro nomen als auch sein kurz davor geschilderter Aufenthalt in einem »Zimmer […], wo er in Schränken ringsum viele wohlgeordnete Papiere zu sehen hatte« (139) hinein. Seine Wahrnehmung hält zwei Bereiche des Archivs auseinander. Sie macht in den ›zugänglichen Schränken‹ ein spezielles (›abgesondertes‹) und ›verschlossenes Fach‹ aus. Nicht einmal die Fiktion, in diesem Fall der Traum, ermöglicht es ihm, das Fach mit Dokumenten über Makarie einfach zu öffnen. Das Fach kann zum einen ganz konkret als Behältnis der materialen Träger von Informationen über Makarie verstanden werden, zum andern aber auch als pars pro toto fürs Archiv. Der Traum animiert Wilhelm dann in der Realität nachzufra gen, ob man ihm dieses ›Übermaß‹ an Vertrauen, den Einblick in das Verhältnis Makaries zu den Sternen, auch noch gewähren wolle. Er scheint sich sehr wohl bewußt zu sein, daß er Einsicht in das Material eines Privatarchivs wünscht und mit dem verschlossenen Fach an noch Intimeres rührt. Beim alten Pfandleiher, wo Wilhelm das geheimnisvolle Kästchen22 einlagern will – wir befinden uns im zwölften Kapitel des ersten Buchs – ist die Rede von einer Art Findebuch für das ebendort materialiter Archivierte. In seinem Kontext werden geheimnisumwitterte Rituale erwähnt: Der junge Besitzgenosse [des Pfandleihers] trat soeben herein, und Wilhelm erklärte seinen Vorsatz, das Kästchen ihrem Gewahrsam zu übergeben. Nun ward ein großes Buch herbei geschafft, das anvertraute Gut eingeschrieben; mit manchen beobachteten Zeremonien und
22 Das Kästchen selbst trägt buchhafte Züge. Der Redaktor vergleicht es mit einem »Oktavband« (53), nennt es ein »Prachtbüchlein« (53). Zur ›Acerra Philologica‹ – auf deutsch: ›philologisches Kästchen‹ – Peter Laurembergs aus dem Jahr 1633, die auch Erwähnung im sechsten Kapitel des achten Buchs der ›Lehrjahre‹ findet, vgl. Mittermüller: Sprachskepsis, S. 210 f.
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Bedingungen ein Empfangschein ausgestellt, der zwar auf jeden Vorzeigenden lautete, aber nur auf ein mit dem Empfänger verabredetes besonderes Zeichen honoriert werden sollte. (163; Hervorhebungen: M. B.)
Hier werden das Registrieren des Archivguts und ein Legitimationsverfahren angesprochen. Außerdem handelt die Textstelle vom verklausulierten Zugang zur Archivalie. Über den anonymen, überindividuellen Empfangsschein hinaus wird die Personalisierung, die Eingeweihtheit thematisiert, die den Zugriff aufs Archivierte erlaubt. Durch eine zusätzliche Sicherheitsstufe bleiben Forderungen aufs Niedergelegte ohne ein ›verabredetes besonderes Zeichen‹ von vornherein ausgeschlossen. Im vierten Kapitel des dritten Buchs überreicht Friedrich Wilhelm ein »Heft« (364) als »Probestück« (364) seiner Fähigkeiten: Wilhelm überlief die Blätter mit schnellen Blicken und sah, leserlich angenehm, obschon flüchtig geschrieben, die gestrige Relation seiner anatomischen Studien, fast Wort vor Wort, wie er sie abgestattet hatte, weshalb er denn seine Verwunderung nicht bergen konnte. (364; Hervorhebungen: M. B.)
Friedrich hat Wilhelms Erzählung von seiner Berufung zum Wundarzt archiviert,23 die Blätter wurden gleichermaßen leserlich wie offensichtlich schnell (›flüch
23 Wilhelms Wundarzttum muß nicht zwingend als hehres Bildungsziel verstanden werden. Der Text zeichnet ein unterkomplexes Bild dieses Berufs, die Tätigkeiten, die einem Wundarzt dort zugeschrieben werden, sind das Verbinden und vor allem das Aderlassen. In der Erzählung ›Der Mann von funfzig Jahren‹ wird Flavio, der wie Orest durch die Zimmer wütet (vgl. 224), durch Aderlassen gezähmt und zur Ruhe gebracht. Hier findet ein etwas wunderliches Rezept seine Anwendung. Flavio-Orest wird Linderung zuteil durch die Kombination von medizinischer Kunst (Aderlaß) und dem Vorlesen von Gedichten, das die »heilende[n] Kräfte der edlen Dichtkunst« (227) freisetzt. Wilhelm schildert außerdem in der Erzählung vom Tod des Fischerjungen seinen Vorsatz, »alles zu lernen, was in solchem Falle nötig wäre, besonders das Aderlassen« (304), weil die Ertrunkenen (!) eventuell durch einen Aderlaß noch hätten gerettet werden können. Die selbstverständliche Reduktion der wundärztlichen Aufgaben vor allem auf den Aderlaß ist bemerkenswert. Bei Zedler findet man unter dem Stichwort »Wund=Artzeney=Kunst« näm lich eine erstaunlich facettenreiche Aufzählung von Fertigkeiten, die der Wundarzt in petto zu haben hat. Wilhelm scheint eine schiefe Vorstellung vom Beruf des Wundarzts zu haben. Mit diesem Irrtum ist er wohl nicht alleine, sonst hätte Zedler nicht folgende allgemeine Mahnung einfließen lassen: »Derowegen sollen denn junge Leute, welche Wund=Aertzte werden wollen, nicht meynen, als bestünde die Chirurgie nur im Bartputzen, Pflasterauflegen und Aderlassen.« (Zedler, Bd. 59, Wor–Wup, Sp. 1499). Zedler zählt auch auf, wo sich zum Wohl des Patienten ein Aderlaß strikt verbietet: unter anderem bei Ohnmachten! (Vgl. Zedler, Bd. 1, A–Am, Sp. 494). Wilhelm hätte diese Technik also beim Fischerknaben und den anderen Ertrunkenen gar nicht anwenden dürfen, selbst wenn er ihrer mächtig gewesen wäre. Das scheint er in seiner Ausbil
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tig‹) beschrieben – damit konvergiert auch Wilhelms schnelles und kursori sches Lesen (›überlief‹). Die Entsprechung von Schreib- und Lesegeschwindig keit bringt einen temporalen Aspekt mit ins Spiel. Die materialisierte Sprache als ›flüchtige‹ Schrift fordert eine ihr geradezu agonal nacheilende Lektüre ›mit schnellen Blicken‹ heraus.24 Gleichzeitig rückt Wilhelms ›Überlaufen‹ der Schrift den Akt des Lesens terminologisch und kinetisch in die Nähe des Wanderns. Dem Leser wird zum einen die unmittelbare Verschriftlichung als eine Verfah rensweise der Archivierung vorgeführt. Zum andern wird er Zeuge von Wilhelms Reaktion (›Verwunderung‹) auf die Unauffälligkeit des Archivierens bzw. auf das Archivieren im Hintergrund.
3. Fazit Der Text entwirft ein äußerst differenziertes Bild vom Archiv. Das Spektrum reicht von der metaphorischen Rede bis zu konkreten Archivthemen und zur Archivter minologie. Es werden archivspezifische Eigenschaften abgehandelt wie etwa die Exklusivität des Zugriffs und deren Organisation. Nicht zuletzt werden die Schrift lichkeit des zu Archivierenden und mit der Verschriftlichung einhergehende Pro bleme reflektiert. Zudem wirft der Text sowohl die Frage nach der Evidenz des Archivierten als auch die nach den Auswahlkriterien auf.
dung zum Wundarzt nicht gelernt zu haben, wie in der letzten Szene des Romans durchscheint. Dort stürzt Felix ins Wasser und die Schiffahrer ziehen ihn »entseelt« (495), was man wohl mit ›ohnmächtig‹ gleichsetzen darf, an Land. Wilhelm, »der liebevolle Wundarzt« (495) greift mit sicherer Hand zum Mittel des – wie könnte es anders sein? – Aderlasses und Felix hat es wohl mehr dem Glück zu verdanken, als den medizinischen Künsten Wilhelms, daß er wieder auf die Beine kommt. Überbewertet wird Wilhelms Berufswahl m. E. z. B. bei Reiss, der behauptet, sie gebe »dem Roman eine besondere Richtung« hin zum »Ausbildungsroman« (Reiss: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1993, S. 112). 24 Cahn sieht die Lektüre beeinflußt von den materialen Gegebenheiten der Verschriftlichung, die Verfügbarkeit von Schriften affiziere die Rezeption: »Das Lesen tritt nicht mehr auf als der autonome Akt eines Bewußtseins, sondern als das Korrelat der medialen Gegebenheit des Textes als gedrucktes Buch, als Manuskript oder als elektronischer Datenträger, in Folio oder in Duo dez.« (Cahn, Michael: Hamster: Wissenschafts- und mediengeschichtliche Grundlagen der sam melnden Lektüre. In: Goetsch, Paul: Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen 1994. S. 63–77. Hier: S. 67).
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X. Typologie von Archivarten Im folgenden wird phänomenologisch vorgegangen und gefragt, welche Ausprä gungen von Archivierung der Text nennt und wie diese angelegt sind. Es geht um Organisationsformen und Strukturen von Archiven. Nacheinander werden behandelt: die Reihe, die Aufzählung und die attributive Aufzählung, die Liste, die Sammlung sowie Erzählte Archive.1 Die Arbeit legt hier das Aggregat aus einander, um seine Einzelteile untersuchen zu können – insofern läßt es sich, anders als von Goethe postuliert, über die Lektüre der es ausmachenden Partikel, doch analysieren. Dabei liegt es in der Logik des Konzepts der Häufung, daß sich bei der Sichtung, Beschreibung und Unterscheidung von Aggregatsteilchen wie derholt Analysesequenzen additiven Einschlags herausbilden, wenn man die per definitionem unverbundenen Einzelteile nicht gewaltsam um einer eleganteren Darbietungsweise willen synthetisieren möchte.2
1. Reihe Die Reihe ist bei Goethe nicht nur irgendeine Art der Anordnung, sondern etwas durchaus Reflektiertes, das zuweilen gar als Erkenntnismittel fungiert.3 Wichtig ist, daß man das Phänomen der Reihe nicht unterkomplex denkt. Selbst ein scheinbar so einfaches, eindeutiges, eindimensionales Phänomen wird dem Text zum Spiel- und Experimentiermaterial. Davon zeugt nicht zuletzt der Facetten reichtum, den die ›Wanderjahre‹ der Reihe zugestehen. Der Text demonstriert an ihr die verschiedenen Funktionslogiken von Anordnungsmodi und gibt so seinem Interesse an Pluralität Raum. Er zeigt auch, wie sich Serielles vielfältig
1 Drews konstatiert bei Goethe »eine Schwäche für Aufzählungen, Reihungen, Inhaltsangaben, Schemata, Listen.« Zu dieser »Aufzählungsleidenschaft« fragt er sich, ohne eine mögliche Ant wort zu nennen: »gibt es hier eine untergründige Lust am Losgelassenen, ein Abschmecken der verrückten Einzelstücke in Reihungen […]?« (Drews, Jörg: »Dein Lied ist drehend wie das Stern gewölbe«. Zu neuen Goethe-Ausgaben und neuer Goethe-Literatur (1995), in: Ders.: Sichtung und Klarheit. Kritische Streifzüge durch die Goethe-Ausgaben und die Goethe-Literatur der letzten fünfzehn Jahre, München 1999. S. 125–132. Hier: S. 129 f.). 2 Ich beschränke mich auf paradigmatische Beispiele für die zu untersuchenden Phänomene und verzichte darauf, ihre Vielzahl im Text etwa durch eine dementsprechende Menge an Beleg stellen zu repräsentieren. 3 Zur Reihe als Technik des Beobachtens und als Darstellungsprinzip vgl. Geulen: Serialization, S. 12.
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Typologie von Archivarten
einsetzen läßt, um Unterschiedlichstes auszudrücken. Ich beschränke mich auf Stellen, an denen wörtlich von einer Reihe die Rede ist. Ganz grundlegend kann man nachweisen, daß der Text die Reihe als wert neutrales Synonym für ›Menge‹ verwendet. Im Oheimbezirk etwa ist die Rede von einer »Reihe von [Garten-] Anlagen, welche sämtlich auf Nutzen und Genuß hindeuteten« (77), und in der ›Verräter-Erzählung‹ wird aufmerksam »eine ganze Reihe« Bücher (100) registriert. Wertend hingegen äußert sich Lenardo gegen über Wilhelm über die Pädagogische Provinz, die er »nur für eine Art Utopien« habe halten können, denn es schien ihm als sei, unter dem Bilde der Wirklichkeit, eine Reihe von Ideen, Gedanken, Vorschlägen und Vorsätzen gemeint, die freilich zusammenhingen, aber in dem gewöhnlichen Laufe der Dinge wohl schwerlich zusammentreffen möchten. (156 f. Hervorhebungen: M. B.)
Dieser Spielart der Reihe als Mittel zur Verdeutlichung eines Ideenkonstrukts, das in sich kohärent ist, im Leben aber unwahrscheinlich, haftet etwas Despektierli ches an. Ebenfalls nicht positiv besetzt der Text die Reihe in seinen Reflexionen über die Dichtkunst. Er verwendet sie dort in einem selektiven Sinn, d. h. nicht um Vollständigkeit auszudrücken, sondern um eine Auswahl, eine bestimmte Anzahl zu bezeichnen: Doch mußte dem Freunde dies sonderbar scheinen, als man hinzufügte: es werde den Schü lern nicht vergönnt, schon ausgearbeitete Gedichte älterer und neuerer Dichter zu lesen oder vorzutragen; ihnen wird nur eine Reihe von Mythen, Überlieferungen und Legenden lakonisch mitgeteilt. (276; Hervorhebungen: M. B.)
In diesem Zusammenhang, das legt der Text nahe und rührt damit an ein Problem, das die ›Wanderjahre‹ in toto ebenfalls beschäftigt, ist eine Auswahl nicht mehr neutral. ›Nur‹ eine Reihe könnte auch heißen, daß das in diesem Modus Mitge teilte eher als defizitär, weil disjunkt zu verstehen ist. Diesen Eindruck verstärkt der Begriff ›lakonisch‹ noch. Gleichzeitig unterstreicht der Text die Produktivität des Provisorischen und redet so einer Ambivalenz das Wort, die ebenfalls von poetologischer Bedeutung für die ›Wanderjahre‹ ist. Nur wo Zusammenhänge und Verknüpfungen fehlen, kann der Schüler (und der Leser des Texts) produktiv einsetzen, findet seine Einbildungskraft Anknüpfungspunkte, von denen aus sie schöpferisch tätig werden kann. In der Pädagogischen Provinz stößt man noch auf eine weitere Anwendungs variante des Begriffs Reihe. Wenn sich die Zöglinge beim Vorüberreiten ihres Vor gesetzten »in eine Reihe« stellen (166), liegt die Betonung nicht mehr auf einer Menge, sondern auf der Anordnung. In diesem Sinn läßt sich auch eine Passage aus dem ›Mann von funfzig Jahren‹ lesen:
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Reihe
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Endlich kam er [der Major] an die untersten Reihen. Da stand nun sein Bruder, der Ober marschall, er und seine Schwester, und unten drunter sein Sohn und daneben Hilarie. (197; Hervorhebungen: M. B.)
Die hier geschilderte Betrachtung eines Stammbaums findet in einer gewissen Reihenfolge statt, offensichtlich von oben nach unten (›Endlich kam er an die untersten Reihen‹).4 Ebenso wird das sukzessive, abgemessene, geordnete Vor gehen, das »an die Reihe […] kommen« (472) in derselben Erzählung erwähnt: Diese [die Brieftasche, an der die ›schöne Witwe‹ arbeitet] ward nun eben von der Gesell schaft besprochen, von dem nächsten Nachbar aufgenommen, unter großen Lobpreisun gen der Reihe nach herumgegeben […]. (202)
Schließlich trifft man in den ›Wanderjahren‹ auch noch auf den metaphorischen Gebrauch des Begriffs Reihe. Auf einem Blatt aus Makaries Archiv heißt es: »denn da [in den Wissenschaften] wirkt man nicht für heut und morgen, sondern für eine undenklich vorschreitende Zeitenreihe.« (478) Die so evozierte temporale Reihe scheint dynamisch gedacht zu sein, als ins Unendliche (›undenklich‹) sich perpetuierend. Weiterhin steht auch Wilhelms sinnloser Reanimationsversuch am ertrunkenen Adolf im Zeichen der metaphorischen Rede von der Reihe: In der Verwirrung dacht’ ich [Wilhelm] ihm [dem Fischerjungen] Atem einzublasen, aber die Perlenreihen seiner Zähne waren fest verschlossen, die Lippen, auf denen der Abschieds kuß noch zu ruhen schien, versagten auch das leiseste Zeichen der Erwiderung. (301; Her vorhebung: M. B.)
Die ›Perlenreihen‹ dürften für schöne, wohlgeordnet nebeneinander gewachsene Zähne stehen. Von ihrer Anordnung her verweisen sie gar auf schmucke Perlen ketten. Zwei dieser Reihen liegen fest und untrennbar aneinander. Aller Schön heit dieses Bildes, die nicht zuletzt aus der Vorstellung der gleichmäßigen und wohl auch lückenlosen Reihung entspringt, steht der für Wilhelm unbegreifliche, ihn aus der seelischen Ordnung bringende Tod des Jungen gegenüber. Eine Reihe ebenso wie eine Folge kann sogar schön sein, wie sich zum Abschluß dieser Überlegungen an zwei Textstellen belegen läßt:5
4 Vgl. zur Liebeserklärung des Majors im Angesicht des Stammbaums: Piper, Andrew: Para phrasis: Goethe, the Novella, and Forms of Translational Knowledge. In: Goethe Yearbook. Publications of the Goethe Society of North America. Vol. XVII. Ed.: Daniel Purdy. Rochester 2010. S. 179–201. Hier: S. 188. Zum Zusammenhang von Aufzählung und Genealogie vgl. Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 262–274. 5 Die Folge wird ähnlich wie die Reihe verwendet. In der ›Verräter-Erzählung‹ wird »eine cha
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Vorüberfliegend befreundete man sich mit der schönen Reihe merkwürdig hingelagerter, bald reihenweis übersehbarer, bald sich verschiebender Ansichten, die, im Wasser sich gleichmäßig verdoppelnd, bei Uferfahrten das mannigfaltigste Vergnügen gewähren. (254; Hervorhebungen: M. B.)
Immer wieder wird die Anordnung von mehreren Dingen thematisiert. Hier, während einer Schiffsfahrt in der Lago Maggiore-Episode, verliert die Reihung der Sehenswürdigkeiten entlang des Ufers ihre statischen Qualitäten. Ein Moment der Bewegung (›vorüberfliegend‹) kommt ins Spiel und die ›schöne Reihe‹ wird zur Herausforderung für die Wahrnehmung der Schiffahrer. Der Text schildert nicht etwa einzelne, am Ufer auftauchende Elemente, sondern bringt das Gesehene sogleich auf einen summierenden Begriff: ›Ansichten‹.6 Es wirkt, als beschreibe er mehrere Tableaux, die zunächst einmal lediglich ›merkwürdig hingelagert sind‹, um ihnen dann jedoch eine kinetische Dynamik zu verleihen. Durch das wohl recht schnelle Vorbeifahren an fixen Elementen ändert sich die Perspektive der Beobachter; damit verschiebt sich das Gesehene und gerät in Bewegung – bei gleichzeitiger Verdoppelung durch die Spiegelung im Wasser. Die ›Wanderjahre‹ stellen die Reihe sogar als rhetorischen Kniff dar. Während seines Besuchs in der Pädagogischen Provinz wird an Wilhelm exemplifiziert, wie etwas nur in ›schöner Folge‹ dargeboten werden muß, um es plausibel erscheinen zu lassen – auch und gerade wenn es zuvor noch als paradox angesehen wurde: Alles dieses [in einem Gesang über das Ganze der Kunst] mochte Wilhelm gar wohl gelten lassen, ob es ihm gleich sehr paradox und, hätte er es nicht mit Augen gesehen, gar unmög lich scheinen mußte. Da man es ihm nun aber offen und frei in schöner Folge vorwies und bekannt machte, so bedurfte es kaum einer Frage, um das Weitere zu erfahren (280; Hervor hebungen: M. B.).
Die ›schöne Folge‹ scheint hier ein legitimatorisches Mittel zu sein. Erst sie als Darbietungsform generiert in Wilhelm den Gedanken von Plausibilität. Was ihm zuvor unverständlich erschien, leuchtet ihm nun ein. – Abschließend sei noch auf ein Kompositum bestehend aus Reihe und Folge hingewiesen. Wilhelm und Felix werden bei Makarie eingelassen in einen »Saal, […], weit, hoch, ringsum getäfelt, oben drüber eine Reihenfolge historischer Schilderungen.« (129; Hervor
rakteristische Szenenfolge« (106) aus der Gartenkunst erwähnt. Auch der Redaktor greift in der Erzählung ›Nicht zu weit‹ auf diesen Begriff zurück. Dort drückt er eine temporal geordnete Ab folge aus, es ist die Rede von einer »Folge von Generationen« (429). 6 Vgl. zu dieser Episode: Renner, Rolf Günter: Text, Bild und Gedächtnis. Goethes Erzählen im Mann von fünfzig Jahren und in den Wanderjahren. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Lite raturwissenschaft. Hg.: Karlheinz Stierle. 31. Bd. München 1999. S. 149–174. Hier: S. 169 f.
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hebung: M. B.) Das Nebeneinander der Reihe und das chronologische Nachein ander der Folge vereint ergibt so eine Reihenfolge. Die Lektüre der Stellen, in denen Reihen thematisiert werden, hat gezeigt, daß der Text Serielles und die Idee der Reihe vielfältig einsetzt um unterschied lichste, sich in ihrer Wertung durchaus auch widersprechende Aussagen zu treffen oder zu illustrieren. Mit dem schlichten Verständnis der Reihe als ›Menge‹ ist das Phänomen nicht erschöpft. Die ›Wanderjahre‹ legen sich auf keine ein deutige Bedeutung des Begriffs fest. Sie spannen mit ihrer Lesart der Reihe viel mehr einen Bogen. Dieser reicht von der Reihe als Metapher für (auch ästhetisch) Defizitäres, da Zusammenhangloses bis zur Indienstnahme des Begriffs für das genaue Gegenteil. Ist letzteres der Fall, dann sagen sie ›Reihe‹, um Vollständig keit, gelungene Anordnung, Unversehrtheit, Plausibilität und sogar Schönheit damit auszudrücken, wie die Beispiele gezeigt haben. Das spielerische, kombina torische Durchdeklinieren von Ordnungsmodi greift aus bis zur Verknüpfung von Reihe und Folge zum Kompositum ›Reihenfolge‹.
2. Aufzählung Für Aufzählungen interessiert sich vorliegende Arbeit aus mehreren Gründen. Zum einen bilden sie das Disparatheitsbegehren des Texts, die scheinbare Ord nungslosigkeit der Pluralität ab, indem Vielfältiges auf vielfältige Weise aufge zählt wird. Aufzählungen sind außerdem gleichzeitig sowohl etwas dem Archiv Vorgängiges als auch selber eine Art der Archivierung. Zum andern domestiziert der Text ihm wichtige Pluralitätsphänomene durch unterschiedliche Arten von Aufzählungen. Es geht im folgenden Analyseabschnitt sowohl um eine kleine Phänomenolo gie von Aufzählungen als auch um die Frage nach ihren Funktionen. Verfällt man nicht der Versuchung, sie vereinfachend als ästhetisch defizientes Erzählen zu betrachten, so zeigt sich, daß der Text ihnen verschiedenste Aufgaben zuweist. Sie dienen z. B. als kognitives Muster der Welterfahrung oder haben eine ethi sche Dimension. Außerdem trifft man auf spezielle Aufzählungen wie etwa das Rezept, biologische Aufzählungen, Aufzählungen aus dem Liebesdiskurs, Auf zählungen von Stereotypen, Aufzählungen zur Generierung eines ›gelingenden‹ Texts nach dem Baukastenprinzip und auf melodische Aufzählungen. Die Auf zählung ist dabei mehr als nur schmückendes Beiwerk. An einer weiter unten untersuchten Stelle streicht der Text den Vorsprung der textuellen Aufzählung vor den Darstellungsprinzipien der bildenden Kunst heraus. Er nutzt sie sogar als Mittel poetischer Reflexion. Schließlich kann man die Aufzählung als einen
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Sprechmodus identifizieren, d. h. sie dient als Vehikel um zu charakterisieren oder zu präzisieren. Bereits dieser kleine Ausblick auf das sich nun Anschließende macht deut lich, wie ambivalent die Aufzählung ist. Sie ist ein kompliziertes Phänomen, das von Unterteilungen und Segmentierungen lebt (denn sie zählt ja Einzeldinge auf), gleichzeitig aber auch immer ein Ganzes mitdenkt, meint, mimt, inszeniert oder anzustreben scheint. Ein anschauliches Beispiel für eine seltsam ausufernde Aufzählung findet sich in einem Brief Goethes an Schiller vom 29. Juli 1800. Dort legt er augenzwin kernd Rechenschaft darüber ab, was er neben der Übersetzung von Voltaires ›Tancrède‹ getrieben habe. Er nennt diese Zusammenstellung verschiedenartig ster Objekte, Schriften und Namen ein »Schema wie mannigfaltig und mitunter lustig die übrige Zeit benutzt worden«:7 Kurze Übersicht derer Gaben, welche mir in dieser Stapelstadt8 des Wissens und der Wis senschafft [Jena], zur Unterhaltung sowohl, als zur geistigen und leiblichen Nahrung mit geteilt werden. Loder gab fürtreffliche Krebse, von denen ich Ihnen einen Teller zugewünscht habe. Köstliche Weine, einen zu amputierenden Fuß, einen Nasenpolypen, einige anatomische und chirurgische Aufsätze, verschiedne Anecdoten, Ein Microscop und Zeitungen. Frommann Griesens Tasso, Tyks Journal erstes Stück. Fr. Schlegel Ein eignes Gedicht, Aushängebogen des Athenäum. Lenz. Neue Mineralien, besonders sehr schön kristallisirte Chalcedone. Mineralogische Gesellschafft Einige Aufsätze hohen und tiefen Standpuncts, Gelegenheit zu allerley Betrachtungen.
7 Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 1, S. 928. 8 Wieder einmal eine Anspielung auf ein Aufbewahrungs-/Ordnungsmuster: Jena wird (wenn auch ironisch) als Stapelstadt des Wissens bezeichnet, damit wird der Stadt die Aufbewahrung, Stapelung, Anhäufung von Wissen und Wissenschaft zugewiesen. Vgl. zum Ausdruck ›Stapel stadt‹: Krünitz, D. Johann Georg: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Haus- und Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung. Band 169 [1838]: Stahlwasser – Stärke (Weitzen=).
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Ilgen Die Geschichte Tobi‹s, Verschiedne heitre Philologika. Der botanische Gärtner Viele Pflanzen, nach Ordnungen, wie sie hier im Garten stehen und zusammen blühen. Cotta. Philiberts Botanik. Der Zufall Gustav Wasa von Brentano. Die Litteraturhändel Lust Steffens kleine Schrifft über Mineralogie zu lesen. Graf Veltheim Seine zusammengedruckten Schrifften, geistreich und lustig; aber leider leichtsinnig, dilettantisch mitunter hasenfüßig und phantastisch. Einige Geschäffte Gelegenheit mich zu vergnügen und zu ärgern. Zuletzt sollte ich Ihres Memnons nicht vergessen, der denn auch wie billig zu den merkwür digen Erscheinungen und Zeichen der Zeit gerechnet werden muß.9
So leicht wie diese Aufzählung Goethes lassen sich diejenigen in den ›Wander jahren‹ nicht identifizieren. Das liegt vor allem daran, daß sie dort kein eigenes typographisches Erscheinungsbild haben. Um sie aus dem Text herauspräparie ren zu können, muß man ihnen anders auf die Schliche kommen; ein Blick auf Mainbergers Untersuchung ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich. Zum Phänomen der Aufzählung stellt sie fest: Aufzählungen in literarischen Texten wollen als Texte gelesen, nicht wie Verzeichnisse benutzt werden. Aber wer auf sie aufmerksam geworden ist, sieht auch in einem durchge schriebenen Text versenkte Aufzählungen, erkennt, wo ein Text möglicherweise oder tat sächlich aus Listen entwickelt wurde oder betrachtet einen solchen probeweise nach der Benjaminschen Lektüreanleitung.10
Mit diesem Wissen spielen die ›Wanderjahre‹, indem sie solche ›versenkten‹ Aufzählungen inszenieren. Als eine Aufzählung soll im folgenden jede Textse quenz gelten, die drei oder mehr Komponenten aneinanderfügt.11 Die Betrach
9 Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 1, S. 928 ff. Sperrungen im Original. Zur näheren Erläute rung der Passsage vgl. Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 2, S. 476. 10 Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 35 f. »Benjamins Idee zu einer Lektüre, als sei ein Satz oder ein ganzes Buch die nachträgliche – spielerische – Kontextualisierung unzusammen hängender Wörter […]« (Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 34). 11 Sommer prononciert, Dinge, die man sammeln möchte, müssten viele sein, weil man ein Ding
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tung richtet sich jetzt auf sprachliches Terrain, auf Performanz, d. h. es geht um textuell vorhandene Aufzählungen und nicht um die Erwähnung des Begriffs im Text.12 Verschiedene Arten von Aufzählungen lassen sich, wenn auch nicht immer ganz trennscharf, auseinanderhalten. Zum einen (1) gibt es die naheliegende Aufzählung von Dingen, die materiell Gegebenes behandelt und ausschließlich Substantive nennt. Weiter betrachte ich (2) die Aufzählung von Immateriellem (z. B. von Fakten, Aussagen, Vermutungen). Diese kann in der Unterart der (3) attributiven Aufzählung auftreten. Eine solche gibt Eigenschaften gehäuft wieder, um jemanden oder etwas zu charakterisieren.13 Weiterhin lassen sich Aufzählun gen unterscheiden, bei denen es nicht so sehr um das darin Niedergelegte geht, sondern vielmehr um ihre Form: einerseits das (4) Aufzählen, um dann zu subsumieren. Hier wird zuerst eine Aufzählung gegeben, dann das Aufgezählte zusam mengefaßt mit Begriffen wie ›alles‹ oder ›sämtlich‹. Dazu gehört andererseits komplementär das Gegenteil dieser Vorgehensweise: Zuerst ist die Rede von einer Summe, welcher die Aufzählung der sie ausmachenden Elemente nachgestellt wird. D. h. es wird erst ein ›alles‹ vorangeschickt, dann folgt die Klärung dessen, was dies ›alles‹ ausmacht: das (5) Aufzählen, nachdem die Gesamtheit genannt wurde. Dem folgt (6) die Aufzählung als poetische Reflexion. Hier denkt der Text in Form einer Aufzählung nach über die Romanform, das Schreiben sowie sprach theoretische Fragen. Schließlich wird (7) auf die Aufzählung als erzählerisches Mittel eingegangen. Sie wird zur Raffung, Intensivierung und als Selbstzweck eingesetzt. Dies kann bis hin zu lustvollem und melodischem Aufzählen reichen. Ich gebe jeweils einige Beispiele, um einen Eindruck über die unterschiedli chen in den ›Wanderjahren‹ vorkommenden Aufzählungen zu vermitteln.
nicht sammeln könne (und auch nicht aufzählen). »Das Wörtchen ›viele‹ bezeichnet […] eine Eigenschaft eines Begriffs: nämlich die, daß ›seine‹ Menge aus mindestens zwei Elementen be steht.« (Sommer: Sammeln, S. 113). 12 »Das Gleichmacherische ist auf den ersten Blick das Charakteristikum von Aufzählungen, bei näherem Hinsehen aber weisen sie auch Asymmetrien und interne Strukturen auf, und die Äqualisierung ist nicht so sicher, wie sie scheint.« (S. 8) Gerade ihres scheinbaren ästhetischen Leichtgewichts wegen seien sie eine Art komplementärer Teil zum literarischen Text, auch wenn sie im Vergleich mit ihm nebensächlich wirken mögen (vgl. S. 12; die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf: Mainberger: Die Kunst des Aufzählens). 13 Ein ähnliches Phänomen bezeichnet Mainberger als »lange[ ], enumerativ strukturierte Be schreibung« (Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 101). Sie betont dabei jedoch die Ausge dehntheit der Aufzählung. Da die ›Wanderjahre‹ keine exzessiven Aufzählungen kennen, schla ge ich vor, die beschreibenden Aufzählungen in diesem Kontext in Abgrenzung zu Mainberger als ›attributive Aufzählungen‹ zu bezeichnen.
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2.1 Die Aufzählung von Dingen Selbst die ›Basisvariante‹ der Aufzählung, nämlich diejenige von Dingen, ist dem Text wichtig. Das zeigt sich daran, daß er sie modifiziert und erweitert. Er reichert sie mit Wirklichkeit an oder weitet sie in ihrer Struktur aus. Bereits solche Aufzäh lungen erweisen sich als verspielt, ausgreifend, geradezu als aufmerksamkeits erheischend und vor allem als deutungsbedürftig. Einen Beleg hierfür liefert der Text z. B. im zweiten Kapitel des ersten Buchs. Dort berichtet der Erzähler über die säkularisierte Kapelle ›St. Josephs des Zweiten‹: An der einen Seite stand ein Tisch, ein Sessel, mehrere Stühle und Bänke, an der anderen Seite ein wohlgeschnitztes Gerüst mit bunter Töpferware, Krügen und Gläsern (22 f.).
Hier lassen sich gleich zwei Aufzählungen ausmachen, die vom Text über einen Wechsel der Blickrichtung (›An der einen Seite‹ – ›an der anderen Seite‹) zuei nander in Beziehung gesetzt werden. Sie dienen der Vergegenwärtigung eines Innenraums und »unser Wandrer« (22) Wilhelm strukturiert über sie seine Wahr nehmung. Auf der ›einen Seite‹ die Möbel, die den Menschen im Zimmer ihre Stelle zuweisen: Tisch, Sessel, Stühle und Bänke. Auf der andern Seite ein Regal zur Anordnung von Dingen: ›Töpferware, Krüge und Gläser‹. Der Text archiviert natürlich die genannten Gegenstände, bleibt dabei jedoch nicht stehen. Er regis triert sowohl das Wahrnehmen von Ordnung durch die Figuren – alles scheint zu sein, wie es erwartbar ist: Möbel einerseits, Gebrauchsgegenstände andererseits (nichts ist beängstigend oder ungewöhnlich) – als auch die geordnete Wahrneh mung (›eine Seite‹ – ›andere Seite‹).14 Die Figuren sehen oder denken etwas und es geraten ihnen unwillkürlich Ordnungsbegriffe, erwartbare Anordnungssche mata in den Sinn. Dabei geht es um eine Art des Sehens, das auf ein Aufmerken auf Ordnung abgerichtet zu sein scheint, um eine auf Ordnung hin konditionierte Kognition von Welt, die historisch kontingent sein dürfte. Auf dieses Beispiel der Aufzählung als Kognitionsmittel folgt nun eines, in dem Aufzählung und Emotion zusammengebracht werden. Wiederum geht es um ›St. Joseph den Zweiten‹, der nun darüber berichtet, wie er seine Frau kennenge lernt habe: Für mein Gefühl waren die Blumen, die ich ihr brach, die fernen Gegenden, die ich ihr zeigte, die Berge, die Wälder, die ich ihr nannte, so viel kostbare Schätze, die ich ihr zuzueignen
14 Zum Zusammenhang zwischen Aufzählung, Beschreibung und Wahrnehmung vgl. Main berger: Die Kunst des Aufzählens, S. 103.
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dachte, um mich mit ihr in Verhältnis zu setzen, wie man es durch Geschenke zu tun sucht. (33; Hervorhebungen: M. B.)
Das Aufgezählte (›Blumen‹, ›Gegenden‹, ›Berge/Wälder‹) wird durch Relativsätze präzisiert (›die ich ihr brach‹; ›die ich ihr zeigte‹; ›die ich ihr nannte‹). Die ›kost baren Schätze‹ subsumieren das Gesagte. Josephs Rede bringt Gefühl und Auf zählung zusammen. Sie weist den mutmaßlichen Gegensatz zwischen trockener, prosaischer Aufzählung und Liebesdiskurs als einen nur scheinbaren aus, die Aufzählung wird zu einem adäquaten Modus des Sprechens über Liebesdinge. Neben Kognition und Emotion korreliert der Text auch soziale Verantwortung mit dem Phänomen der Aufzählung. Über Herrn von Revanne aus der Erzählung ›Die pilgernde Törin‹ erfährt man, er bewohne ein Schloß, das eines Fürsten würdig wäre; und in der Tat, wenn sein Park, seine Wasser, seine Pachtungen, seine Manufakturen, sein Hauswesen auf sechs Meilen umher die Hälfte der Einwohner ernähren, so ist er durch sein Ansehn und durch das Gute, das er stiftet, wirklich ein Fürst. (61; Hervorhebungen: M. B.)
Diese mit Possessivpronomen angereicherte Aufzählung erhebt die Figur beinahe in den Fürstenstand. Als wolle der Text ein Ausufern der Aufzählung in ein asozi ales Besitztum verhindern, beeilt er sich zu betonen, der Charakterisierte genieße Ansehen, stifte Gutes und sei der Ernährer der Hälfte einer ebenso bestimmten wie unbestimmten Einwohnermenge (›auf sechs Meilen umher die Hälfte‹). In diesem Sinn kommt der Aufzählung hier nicht nur eine ethische Dimension zu, sondern tritt darüber hinaus die für das Phänomen Aufzählung programmatische Diskrepanz zwischen Scheingenauigkeit und Unbestimmtheit zu tage. Eine ganz andere Funktion dagegen nimmt eine Aufzählung im ›Mann von funfzig Jahren‹ ein. Dort verlautbart sie als Schönheitslehre in ihrer Eigenschaft als Rezept neben anderem:15 Sorgfalt sodann für Haut und Haare, für Augenbraunen [sic] und Zähne, für Hände und Nägel, für deren zierlichste Form und schicklichste Länge der Wissende schon länger gesorgt hatte. (220; Hervorhebungen: M. B.)
In dieser Aufzählung werden zunächst drei Begriffspaare (›Haut und Haare‹, ›Augenbraunen und Zähne‹, ›Hände und Nägel‹) zusammengestellt. Der Nennung
15 Eine Aufzählung von Dingen oder Anwendungen, deren Befolgung eine gewisse Wirkung haben soll, läßt sich als ein Rezept verstehen (vgl. Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 209– 217).
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der ersten drei Doppelelemente folgt dann das auf sie alle zusammen zutreffende Paar ›zierlichste Form und schicklichste Länge‹. Der Text variiert jedoch nicht nur die Inhalte von Aufzählungen, sondern auch ihre Form. War eben genannte Aufzählung in der Struktur ihrer Elemente im Verhältnis ›drei zu eins‹ aufgebaut, so ist die Struktur der folgenden aus Wilhelms Erzählung der Fischerknabengeschichte ›zwei mal drei‹. Innerhalb eines Satzes lassen sich dort zwei Aufzählungen ausmachen, auf Distanz gehal ten und trotzdem gleichzeitig zueinander in Beziehung gesetzt nur durch ein ›sodann auch‹: Wir in einer alten, ernsten Stadt erzogenen Kinder hatten die Begriffe von Straßen, Plätzen, von Mauern gefaßt, sodann auch von Wällen, dem Glacis und benachbarten ummauerten Gärten. (294; Hervorhebungen: M. B.)
Die ›Wanderjahre‹ registrieren auch recht bunte Aufzählungen, wie etwa solche von Bäumen, Früchten, Insekten, Dichtern und von Blumen. So ist in der Fischer knabenepisode eine botanische Aufzählung unterschiedlicher Blumennamen notiert: Frühlingsblumen aller Art standen in zierlich gezeichneten Feldern, sie ausfüllend oder ihre Ränder schmückend. […] So gingen wir [der junge Wilhelm und seine Begleiterin] an Tulpenbeeten vorüber, so an gereihten Narzissen und Jonquillen; sie zeigte mir verschiedene Stellen, wo eben die herrlichsten Hyazinthenglocken schon abgeblüht hatten. Dagegen war auch für die folgenden Jahrszeiten gesorgt: schon grünten die Büsche der künftigen Ranunkeln und Anemonen; die auf zahlreiche Nelkenstöcke verwendete Sorgfalt versprach den mannigfaltigsten Flor; näher aber knospete schon die Hoffnung vielblumiger Lilienstengel gar weislich zwischen Rosen verteilt. Und wie manche Laube versprach nicht zunächst mit Geißblatt, Jasmin, reben- und rankenartigen Gewächsen zu prangen und zu schatten. (298; Hervorhebungen: M. B.)
Der Text kennt die Blütezeiten mehrerer Pflanzenarten. Genannte Aufzählung statuiert eine biologisch begründete Chronologie, die gleichzeitig von der Auf zählungsreihenfolge unterlaufen wird. Sie demonstriert, daß Aufzählungen, die eine zeitliche Ordnung darstellen wollen, nicht sklavisch an eine bloße Hinter einanderreihung von Elementen in ihrer ›natürlichen‹ Abfolge gebunden sind. Es gibt Variationsmöglichkeiten, man kann die Elemente in anderer Reihenfolge geben, muß sie dann aber syntaktisch sortieren durch Hinweise wie jetzt (›eben‹, ›schon‹), vorher (›schon abgeblüht‹), nachher (›näher aber‹) oder in Zukunft (›künftig‹, ›versprach‹). Ebenfalls botanische Begriffe, nämlich die Bezeichnungen von Bäumen und Büschen (›Kastanie‹, ›Zypresse‹, ›Lorbeer‹), listet eine Aufzählung in der Lago Maggiore-Sequenz auf, um dann überzugehen in eine Aufzählung von Früch
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ten (›Granatapfel‹, ›Orangen‹, ›Zitronen‹), der jedoch eine ganz andere Funktion zukommt. Sie dient der Evokation eines vorgefertigten Italienbildes in der Phan tasie des Lesers: Schon die ersten Kastanienwälder hatten sie willkommen geheißen, und nun konnten sie sich eines traurigen Lächelns nicht enthalten, wenn sie, unter Zypressen gelagert, den Lorbeer aufsteigen, den Granatapfel sich röten, Orangen und Zitronen in Blüte sich entfal ten und Früchte zugleich aus dem dunklen Laube hervorglühend erblickten. (251; Hervor hebungen: M. B.)
Diese Aufzählung rangiert eine Komplexitätsstufe höher als die vorherige, denn es werden nicht nur Elemente aufgezählt, sondern diesen wird das ihnen zuge hörige, für sie typische Verb zugewiesen.16 Es scheint, als referierten die ›Wander jahre‹ hier die Stereotypen, die mit den genannten Bausteinen von Italiensehn sucht unweigerlich verknüpft sind. Diese Art zu formulieren deckt sich mit den Feststellungen Christoph Brechts über die rezepthafte Verfertigung historischer Romane, die in einem »Pawlowsche[n] Effekt [münde]: Ein bißchen Sonne, ein bißchen Mondschein, eine Maid hier, ein Reiter da, und schon fängt der Leser an zu sabbern, l’illusion est complète.«17 Erst die Kombination der Signalwörter in der Aufzählung evoziert das Italienbild. Schließlich sei noch eine fast schon melodisch klingende Aufzählung ange führt. In Lenardos Tagebuch schildert Susanne das Einlaufen des Handelsschiffs im Hafen und die damit einhergehenden Erwartungen der Menschen: Die Gewinnsüchtigen harren und möchten erfahren, wie der Verkauf der Waren ausgefallen, und berechnen schon im voraus die Summe des reinen Erwerbs; die Neugierigen warten auf die Neuigkeiten aus der Stadt, die Putzliebenden auf die Kleidungsstücke oder Modesachen,
16 Entsprechendes ließe sich auch für Insekten und Dichter nachweisen. Vgl. die Aufzählung in der Fischerknabenepisode, die ebenfalls dem Genannten die ihm gemäße Tätigkeit zuschreibt: »[M]ir war ganz wunderlich zumute geworden. Grashupfer tanzten um mich her, Ameisen krabbelten heran, bunte Käfer hingen an den Zweigen, und goldschimmernde Sonnenjungfern […] schwebten und schwankten geisterartig zu meinen Füßen […].« (296; Hervorhebungen: M. B.) Diese Aufzählung läßt sich mit einer Textstelle in Verbindung bringen, in der Dichter genannt werden. Wurden die Insekten mit dem sie charakterisierenden Verb korreliert, mit dem was sie tun, so werden die Dichter mit dem in einem Atemzug genannt, was sie getan haben, mit ihrem Werk: »Treffliche vaterländische Dichter hatten das Gefühl in uns erregt und genährt, Hallers ›Alpen‹, Geßners ›Idyllen‹, Kleists ›Frühling‹ wurden oft von uns wiederholt […].« (456). 17 Brecht, Christoph: «Jamais l’histoire ne sera fixée.» Zur Topik historischen Erzählens im His torismus (Flaubert). In: Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp (Hgg.): Literatur und Geschich te. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin/New York 2002. S. 411–438. Hier: S. 423. Kursivierungen im Original.
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die der Reisende etwa mitzubringen Auftrag hatte; die Leckern endlich und besonders die Kinder auf die Eßwaren, und wenn es auch nur Semmeln wären. (453; Hervorhebungen: M. B.)
Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, Susannes Schilderung zu unter stellen, sie wolle ein Tableau aufstellen, eine Art Momentaufnahme des Eintref fens eines Schiffs und der damit zusammenhängenden unterschiedlichsten Akti vitäten der es Erwartenden. Der Passus bietet sich jedoch nur bis auf weiteres als Vorlage z. B. für ein Bild an (man kann sich ja gut vorstellen, das Schiff und die ein zelnen Figuren gemalt zu sehen), denn bei eingehenderer Überlegung verweigern die Begehrlichkeiten der Figuren eine Umsetzung in ein abbildendes Medium.18 Die Betrachtung dieses Beispiels erweist, daß die Aufzählung verbal ein Bild zu evozieren vermag, an dem eine bildliche Darstellung scheitern würde.19
2.2 Die Aufzählung von Immateriellem Die Schilderung von Wilhelms und Felix’ Festsetzung im Oheimbezirk beinhal tet zwei sich aufeinander beziehende Aufzählungen. Die erste dient dazu, Felix’ Wahrnehmung des Kerkers zu umschreiben. Sie scheint seinen Blick figurieren zu wollen, der von einem der genannten Objekte zum nächsten schweift. Er streift Wände, Fenster, Türen und schlußfolgert daraus ›Abgeschlossenheit‹ und ›Ein schränkung‹. Felix bricht in eine unglaubliche Wut aus. Diese steilen Wände, diese hohen Fenster, diese festen Türen, diese Abgeschlossenheit, diese Einschränkung war ihm ganz neu. Er sah sich um, er rannte hin und her, stampfte mit den Füßen, weinte, rüttelte an den Türen, schlug mit den Fäusten dagegen, ja er war im Begriff, mit dem Schädel dawider zu rennen, hätte nicht Wilhelm ihn gefaßt und mit Kraft festgehalten. (56)
Das Demonstrativpronomen ›diese‹ steht vor sämtlichen Substantiven der Auf zählung. Außerdem werden die materiell vorhandenen Objekte jeweils noch genauer definiert: ›diese steilen Wände, diese hohen Fenster, diese festen Türen‹ –
18 Es wäre die Aufgabe zu lösen, wie man etwa das ›Warten auf‹ Neuigkeiten oder Dinge, ihre mentale Antizipation also, bildnerisch darstellen könnte. Heute würde man vielleicht auf einen Comic-Strip mit Denkblasen zurückgreifen. 19 Das gilt nur für gemalte Tableaux. Zur Tradition schriftbasierter Tableaux vgl. Graczyk, Annette: Das Tableau als Antwort auf den Erfahrungsdruck und die Ausweitung des Wissens um 1800. In: Münz-Koenen, Ingrid & Wolfgang Schäffner (Hgg.): Masse und Medium. Verschie bungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000. Berlin 2002. S. 41–59. Hier: S. 41.
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die ›Abgeschlossenheit‹ und ›Einschränkung‹ hingegen sind Felix gleichermaßen befremdlich, nämlich ›ganz neu‹. Der zweite Teil der Aufzählung besteht aus Felix’ Reaktionen auf die ihm ungewohnte Unfreiheit: ›Er sah sich um, er rannte hin und her, stampfte …, weinte, rüttelte …, schlug … dagegen‹. Die bedrohli che Wirkung des Zimmers, in dem er sich und seinen Vater gefangen sieht und die der Text durch eine Aufzählung sowohl von durch Felix wahrgenommenen Elementen als auch von seinen Reaktionen auf diese Lage in Szene setzt, wird wenig später konterkariert durch eine Felix friedlich stimmende Aufzählung von Dingen. Der Text zählt also zuerst die Elemente auf, die in ihrem Zusammenspiel für den Aufruhr in Felix verantwortlich sind, dann verabreicht er das beruhi gende Gegenmittel – wiederum in Form einer Aufzählung:20 Als Felix erwachend ein gedecktes Tischchen, Obst, Wein, Zwieback und zugleich die Heiterkeit der offenstehenden Türe bemerkte, ward es ihm ganz wunderlich zumute. (58; Her vorhebungen: M. B.)
Das ›gedeckte Tischchen‹ wirkt friedfertig und niedlich durch den Diminutiv. Ihm direkt zugeordnet, wahrscheinlich auf ihm liegend, sind ›Obst, Wein, Zwieback‹. Zusammen mit der ›Heiterkeit der offenstehenden Türe‹ scheint diese Aufzählung alles wieder ins Lot gesetzt zu haben, was die vorherige an Ängsten und Unmut evoziert hat.
2.3 Die attributive Aufzählung Die Funktion der attributiven Aufzählung ist das Charakterisieren und Präzisie ren. Ihre strukturelle und funktionale Ähnlichkeit mit der rhetorischen Figur der Accumulatio, die eine Häufung von Wörtern bedeutet, ist offensichtlich.21 In den ›Wanderjahren‹ findet man solche Häufungen sowohl von Adjektiven, von Subs tantiven als auch von Verben. Die attributive Aufzählung schlägt im Text manch mal um in augenscheinliche Fabulierfreude. Eine interessante Aufzählung von Eigenschaften, die eine ihren Elementen zugleich entgegenlaufende weitere Aufzählung enthält, steht in der ›Pilgernden Törin‹:
20 Die freilich eigentlich dem Abschnitt ›Aufzählung von Dingen‹ zuzuordnen wäre, des Zusam menhangs wegen aber hier gegeben wird. 21 Vgl. Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 291.
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Doch blieb sie im ganzen munter, nur ohne große Lebhaftigkeit, edel, ohne sich ein Ansehn zu geben, gerade ohne Offenherzigkeit, zurückgezogen ohne Ängstlichkeit, eher duldsam als sanftmütig, und mehr erkenntlich als herzlich bei Liebkosungen und Höflichkeiten. (70; Hervorhebungen: M. B.)
Es wird genannt und charakterisiert bei gleichzeitiger Zurücknahme und Relativie rung des Angerissenen. Einerseits ist die Aufzählung der Adjektive, die den Cha rakter der Törin umschreiben sollen, recht eindeutig (›munter …, edel …, gerade …, zurückgezogen …, eher duldsam …, und mehr erkenntlich‹). Andererseits ist aber jedem dieser Adjektive ein es einschränkender oder es genauer eingrenzender Zusatz beigeordnet (›ohne‹, ›eher … als‹, ›mehr … als‹). Diese doppelsträngige Auf zählung avanciert zu einem Beschreibungsmodus komplexer, da uneindeutiger Eigenschaften. Ihre Wirkung resultiert aus der Ambivalenz eines jeden ihrer Ele mente; in ihrem Schwanken erinnert sie an Goethes Schaukelsystem. Im folgenden gebe ich jeweils einige Beispiele zu den verschiedenen Unter arten der attributiven Aufzählung, die in Anhäufungen von Adjektiven, Substan tiven und Verben bestehen, um den Variantenreichtum zu belegen, welchen der Text ihr zugesteht. In der ›Verräter-Erzählung‹ werden die beiden Väter im übertragenen Sinn über das reine Aufzählen von Adjektiven als »alte[ ], würdige[ ], begünstigte[ ], gunstwerte[ ] Diener« (101) beschrieben. Das sprachliche Phänomen des lustvollspielerischen Aufzählens läßt sich hingegen in einer Äußerung des Redaktors über den Oheim nachweisen: Unser Hausherr, als Jüngling nach Europa gelangt, fand sich hier ganz anders [als sein Vater]; diese unschätzbare Kultur, seit mehreren tausend Jahren entsprungen, gewachsen, ausgebreitet, gedämpft, gedrückt, nie ganz erdrückt, wieder aufatmend, sich neu belebend und nach wie vor in unendlichen Tätigkeiten hervortretend, gab ihm ganz andere Begriffe, wohin die Menschheit gelangen kann. (94; Hervorhebungen: M. B.)
Die einige tausend Jahre alte Kultur Europas wird mit mehr als neun hintereinan der angeordneten Entwicklungsstadien umrissen. Diese Aufzählung vermag es, einen Zyklus zu gerieren, dem die Kultur unterworfen zu sein scheint; sie ope riert dabei (über-) genau, denn ›nötig‹ wären Präzisionen wie etwa ›gedrückt, nie ganz erdrückt‹ eigentlich nicht. Über dieses verbale Jonglieren, über das Nennen und wieder Zurücknehmen hinaus entlehnt sie die Terminologie aus einem anderen Fachgebiet. In der gleichen Abfolge würden die selben Begriffe auch für die Beschreibung des Lebenszyklus einer Pflanzenart taugen. So weist der Text die Aufzählung als ubiquitäres Mittel der Narration aus, das Verwen dung findet, wenn es um die Schilderung umfassender Zusammenhänge (hier: Entwicklungszyklen) in kompakter Form geht. Er zeigt auch, daß eine Kompetenz
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der Aufzählungen darin liegen kann, Bereiche zu umschreiben, in denen es auf das Formulieren von Prozessualem ankommt. Der Text bleibt auch dabei immer spielerisch und vermeidet jegliche Festschreibung der Aufzählung als eine tro ckene technizistische Aneinanderreihung. Eine ähnlich kunstvolle Anordnung zweier Aufzählungen bildet den Beginn von Lenardos Rede vor dem Auswandererbund. Dort geht um den Grundbesitz: Betrachten wir, meine Freunde, des festen Landes bewohnteste Provinzen und Reiche, so finden wir überall, wo sich nutzbarer Boden hervortut, denselben bebaut, bepflanzt, geregelt, verschönt und in gleichem Verhältnis gewünscht, in Besitz genommen, befestigt und verteidigt. (416; Hervorhebungen: M. B.)
Die Eigenschaften des fruchtbaren Landes werden mit zwei Aufzählungen zu je vier Elementen dargelegt (›bebaut, bepflanzt, geregelt, verschönt‹ und ›gewünscht, in Besitz genommen, befestigt und verteidigt‹). Sie sind nicht nur symmetrisch angelegt (vier zu vier), sondern die paritätische Aufteilung ihrer Elemente wird im Text sogar beim Namen genannt: sie stehen zu einander ›in gleichem Verhältnis‹. Dieses Austariert-Sein findet sich nicht nur in der Aussage des Texts, sondern auch augenfällig figural. Zwei Ketten von jeweils vier Eigen schaften stehen sich gegenüber, dazwischen thront die Sequenz vom ›gleichen Verhältnis‹ wie ein Zünglein an der Waage. Auch hier wird auf eine Wippe oder Schaukel im Gleichgewicht angespielt. Eine ganz basale Funktion der Aufzählung kann, wie bereits erwähnt, das weitere Präzisieren des Ausgesagten sein. Solche Beschreibungen müssen nicht unbedingt figurenbezogen sein, sondern finden auch Verwendung, um Lokalitä ten zu charakterisieren. Lenardos Tagebuch beschreibt eine Spinnerei im Rück griff auf eine Anhäufung von Substantiven folgendermaßen: »Ich fand überhaupt etwas Geschäftiges, unbeschreiblich Belebtes, Häusliches, Friedliches in dem ganzen Zustand einer solchen Weberstube« (380; Hervorhebungen: M. B.). Der Tagebuchschreiber begnügt sich nicht mit der allgemein gehaltenen Feststellung von Geschäftigkeit. Vielmehr präzisiert er seine Aussage wahrscheinlich noch im Fluß des Schreibens. Die Weberstube habe nicht lediglich etwas ›Geschäftiges‹, sondern – bezeichnenderweise – etwas ›unbeschreiblich Belebtes, Häusliches, Friedliches‹. Was sich nicht genau auf den Begriff bringen läßt, was unbeschreib lich ist, wird durch eine Anhäufung von der Aussageintention nahekommenden Worten um-schrieben, die Aufzählung fungiert als Mittel der Approximation. So läßt sich das Auszusagende zumindest eingrenzen und andeuten, wenn Signi fikat und Signifikant sich nicht zur Deckung bringen lassen. Erwähnenswert ist vor diesem Hintergrund eine Sprachreflexion des Texts, die er in eine Aufzählung hineinversteckt. In ›Makariens Archiv‹ thematisiert ein Spruch das Desiderat, den Begriff und das in einer Aufzählung Dargebotene in eins fallen zu lassen. Die
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Deckung von Signifikat und Signifikant wird interessanterweise nicht im Modus der Darstellung, sondern in dem der Rezeption angestrebt: Wir haben das unabweichliche, täglich zu erneuernde grundernstliche Bestreben: das Wort mit dem Empfundenen, Geschauten, Gedachten, Erfahrenen, Imaginierten, Vernünftigen möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen. (506, AMA 58; Hervorhebung: M. B.)
Doch auch das Gegenteil kann eine attributive Aufzählung leisten. Dann dient sie nicht dem präzisen Erfassen von Eigenschaften, sondern wird zum Selbst zweck, zum ausufernden Fabulieren. Der Text entscheidet sich hier nicht für ein Denotat, sondern führt mehrere auf. Das geschieht, wie im nächsten Beispiel aus der Erzählung ›Nicht zu weit‹, dann wohl aus Freude an vielfältigen Ausdrucks möglichkeiten. Die Grundhaltung ist hier affirmativ und bekräftigend: Er [Odoard] fand sich glücklich daselbst [in den ›neuen Provinzen‹], alle seine Kräfte konnte er in Tätigkeit setzen, es war Notwendiges, Nützliches, Gutes, Schönes, Großes zu tun […]. (430; Hervorhebungen: M. B.)
Ebenso wie die eben skizzierten Anhäufungen von Adjektiven oder Substantiven kann auch eine solche von Verben umschreibenden Charakter haben. Am Beispiel des Verhaltens Susannes Lenardo gegenüber, nachdem er versucht hat, ihre Trau rigkeit zu »zerstreuen« (467), läßt sich das veranschaulichen. Über Susanne heißt es: Sie beruhigte sich, staunte, erheiterte, entfaltete ihr ganzes Wesen und fragte mit solcher Neigung und Klugheit, daß ich ihr nicht mehr ausweichen konnte, daß ich ihr alles beken nen mußte. (467)
Diese Aufzählung von Verben, welche die innere Entwicklung der Figur beglei ten, avanciert zur Beschreibung einer Art von konstituierender Sammlung des betreffenden Individuums. Unmittelbar zuvor nämlich fühlt Susanne sich »übler gestellt als vorher« und »unglücklich« (467) und Lenardo setzt alles daran, »diese herrliche Seele wo nicht zu trösten, doch zu zerstreuen« (467). Seine erzähleri schen Zerstreuungsversuche geben Susanne erst die Möglichkeit, ›ihr ganzes Wesen‹ zu ›entfalten‹. Auch hier offenbart sich die Zweischneidigkeit des aufzäh lenden Verfahrens. Es wird zuerst zerlegt, um nachher summieren zu können. Diese Ambivalenz der Aufzählung, das Zerstreuen als Voraussetzung und Bedin gung für (zu inszenierende) Ganzheit, scheint für die gesamten ›Wanderjahre‹ gültig zu sein. Ohne Zerstreuung ist das Aggregat nicht denkbar, ohne ein nur minimal geordnetes Aggregat kein ordnendes und zusammentragendes Archivie ren, ohne Archiv schließlich kein Archivroman.
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2.4 Aufzählen, um dann zu subsumieren Das eben angedeutete Schwanken der Aufzählung zwischen Zerstreuen und wieder Zusammensammeln spiegelt sich in einem im Text wiederholt nach weisbaren Vorgehen, das darin besteht, erst eine Aufzählung zu geben, um das Aufgezählte hinterher zu subsumieren mit Begriffen wie ›alles‹ oder ähnlichen Formulierungen. Ein solches ›alles‹ markiert einen Summierungs- oder Vollstän digkeitsimpetus des Texts. Man kann also ein spielerisches Changieren zwischen dem sorgfältigen Auseinanderlegen der Phänomene und dem Zusammenfassen derselben konstatieren. Einerseits wird ihnen erzählerischer Raum eingeräumt, andererseits pointiert der Text über Floskeln wie ›alles‹ oder ›und was derglei chen mehr war‹ das Ausgesagte wieder. Erst schafft er in einer Art Ausdehnung einen Aufzählungsraum, in dem die Elemente zur Geltung gebracht werden, dann resümiert er und bringt auf den Punkt, um wieder in den Erzählfluß einsteigen zu können. Auf eine solche Aufzählung stößt man im ›Mann von funfzig Jahren‹. Dort steht die Paraphrase eines Jagdgedichts:22 Die Eigenheiten sämtlicher Geschöpfe, denen man nachstellt, die man zu erlegen gesinnt ist, die verschiedenen Charaktere der Jäger, die sich dieser Lust, dieser Mühe hingeben, die Zufälligkeiten, wie sie befördern oder schädigen: alles war, besonders was auf das Geflügel Bezug hatte, mit der besten Laune dargestellt und mit großer Eigentümlichkeit behandelt. (219; Hervorhebungen: M. B.)
Der Text nennt zuerst die besonderen Merkmale der gejagten Tiere in einer Para phrase, dann zusätzlich auch jene der sie Jagenden (›verschiedene Charaktere der Jäger‹) und schließlich die Ereignisse (›Zufälligkeiten‹), welche der ›Lust‹ und ›Mühe‹ der Jagd entgegenstehen oder zuträglich sind. Zum Schluß folgt das die Aufzählung zusammenfassende ›alles‹. Es bezieht sich auf die im Gedicht gelun gene Darstellung des Umschriebenen.
22 Piper betreibt eine vorzügliche Ehrenrettung der literarischen Form der Paraphrase. Er ver steht sie als eine Art Behälter nicht nur des transportierten Sinns, sondern auch verschiedener Möglichkeiten des Sprechens über Dinge oder Sachverhalte. Die Paraphrase initiiere für Goethe ein grundlegendes Überdenken von Zitationspraktiken. Eine der literarischen Formen, in der sie auftrete, sei die Novelle. Dies zeigt Piper unter anderem am ›Mann von funfzig Jahren‹, den er als Reflexion darüber liest, wie Texte andere Texte enthalten. An einer Äußerung Flavios macht er eine ›Krise des Zitierens‹ fest, der die Handhabung der Brieftasche entgegenstehe, welche die Witwe dem Major übergeben habe. Darin wird später das – im Text nur paraphrasierte – ›Jagdge dicht‹ verwahrt. Die Brieftasche figuriert also realiter einen ›paraphrastic container‹, wie Piper es nennt (vgl. Piper: Paraphrasis, S. 183–188).
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Ein weiteres Beispiel für eine gegen Ende subsumierende Aufzählung findet man in einem Brief Wilhelms an Lenardo. Dort wird die Tätigkeit des gesuchten Nußbraunen Mädchens geschildert. Die aufgezählten Zustände faßt Wilhelm schließlich zu einem beruhigenden Fazit zusammen: Um sie her bewegt sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im reinsten, anfänglichsten Sinne; hier ist Beschränktheit und Wirkung in die Ferne, Umsicht und Mäßigung, Unschuld und Tätigkeit. Nicht leicht habe ich mich in einer angenehmeren Gegenwart gesehen, über welche eine heitere Aussicht auf die nächste Zeit und die Zukunft waltet. Dieses zusammen betrachtet, möchte wohl hinreichend sein, einen jeden Teilnehmenden zu beruhigen. (247; Hervorhebungen: M. B.)
Drei aneinandergereihte Zweierpaare (›Beschränktheit und Wirkung in die Ferne‹, ›Umsicht und Mäßigung‹ sowie ›Unschuld und Tätigkeit‹) werden jeweils von der Konjunktion ›und‹ zusammengehalten. Dahinter steht die summarische Wendung ›Dieses zusammen betrachtet‹. Zum Abschluß sei auf eine Aufzählung von Verschiedenartigem, nämlich von Dingen und Farben, hingewiesen, die dann allesamt wiederum zusammen gefaßt werden in ein subsumierendes ›alles‹. In einem Brief an Natalie schildert Wilhelm seinen Aufbruch als Kind mit seiner Familie: [B]ald hatten wir alles Beschränkende der Straßen, Tore, Brücken und Stadtgräben hinter uns gelassen, eine freie, weit ausgebreitete Welt tat sich vor den Unerfahrnen auf. Das durch einen Nachtregen erst erfrischte Grün der Fruchtfelder und Wiesen, das mehr oder weniger hellere der eben aufgebrochenen Strauch- und Baumknospen, das nach allen Seiten hin blendend sich verbreitende Weiß der Baumblüte, alles gab uns den Vorschmack glück licher, paradiesischer Stunden. (295; Hervorhebungen: M. B.)
Der Text stellt eine Opposition her zwischen dem der Heimatstadt Zugehörigen, d. h. den Straßen, Toren, Brücken, Stadtgräben und den auf die Sinne der Reisen den wirkenden Farben der freien Natur, die ebenfalls in einer Aufzählung erfaßt werden (›das erfrischte Grün‹, ›das mehr oder weniger hellere‹, ›das blendende Weiß‹). Die Farben werden, wie bei den anderen angeführten Aufzählungen, nach ihrer Nennung ebenfalls subsumiert (›alles‹). Besagter Textausschnitt stellt zugleich einen Übergang dar, denn die pars pro toto-Bauwerke der Stadt werden schon als Summe eingeführt, bevor sie einzeln genannt werden (›alles Beschrän kende‹). Die ›Wanderjahre‹ scheinen – dies sollte deutlich geworden sein – mit den Aufzählungen geradezu zu spielen. Ihr Umgang mit ihnen wirkt wie ein neugieri ges Hin- und Herwenden der Phänomene, die sie nicht zur Ruhe kommen lassen wollen, wie ein Suchen nach Anordnungsmöglichkeiten. Es überrascht daher nicht, daß die eben untersuchte Textstelle gleich zweierlei Arten von Aufzählung
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und zugehöriger Summierung verkörpert. Zum einen die Aufzählung, um danach die Summe zu ziehen, wie sie in den Beispielen bis hierher beschrieben wurde. Zum andern aber steht sie gleichzeitig für eine Sorte der Aufzählung, bei der zuerst die Summe, das Ganze genannt wird und danach erst die Einzelelemente.
2.5 Aufzählen, nachdem die Gesamtheit genannt wurde Bei Aufzählungen, denen ein zusammenfassendes ›alles‹ vorangeschickt wird, folgen die enthaltenen Elemente erst hinterher. Diese Aufzählungsvariante evo ziert einen erzählerischen Unschärfefaktor, den sie im Anschluß aber wieder aufhebt. Ein solches Vorgehen ist eine Art vertrauensbildende Maßnahme dem Leser gegenüber. Letzterer kann sich auf die Zuverlässigkeit des Texts verlassen, da er sieht, daß einem vorausgeschickten und zunächst unklaren ›alles‹ auf dem Fuß die es näher präzisierenden Einzelelemente nachfolgen. So heißt es etwa über die Bilder in einer Galerie in der Pädagogischen Provinz: »alles war sanfter, Gestalten, Bewegungen, Umgebung, Licht und Färbung.« (178; Hervorhebung: M. B.) Das vorabsummierende23 ›alles‹ aus diesem Beispiel variiert die ›VerräterErzählung‹ zu einem ebenfalls summierenden ›sämtliche‹: Nun war an gegenwärtigen sämtlichen Lebensverhältnissen, diesen Familienverbindungen, Gesellschafts- und Anstandsbezügen nichts mehr zu schonen; er [Lucidor, M.B.]. sah vor sich hin, entzog seine Hand Julien und war so schnell zur Türe hinaus, daß die Versamm lung ihn unversehens vermißte und er sich selbst draußen nicht wiederfinden konnte. (120; Hervorhebungen: M. B.)
Lucidors Einbildungskraft stellt ihm seine Lage als derart hoffnungslos dar, daß die Einhaltung der Summe gesellschaftlicher Konventionen (›gegenwärtigen sämtlichen Lebensverhältnissen‹) obsolet wird. Deren Präzisierung reicht der Text unmittelbar nach (›Familienverbindungen, Gesellschafts- und Anstandsbe zügen‹). An anderer Stelle nominiert der Text einen Tag der inneren Sammlung, der solchen Situationen vielleicht vorbeugen soll. Im Oheimbezirk wird eine Art Gewissensdiätetik eröffnet. Das Gewissen solle »[e]rregt« werden, »wenn es stumpf, untätig, unwirksam dahinbrütet« (96), »beschwichtigt« dagegen, »wenn es durch reuige Unruhe das Leben zu verbittern droht.« (96) Als festgesetzter
23 Eigentlich eine contradictio in adjecto wenn man davon ausgeht, Summieren bedeute ›Zu sammenzählen‹ – um etwas zusammenzählen zu können, muß man die einzelnen Summanden ja schon durchgegangen sein, sie zumindest überflogen und erfaßt haben.
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Termin für diese Maßnahmen sei der Sonntag als eine Art Tag der Summierung vorgesehen, denn da werde dann ›alles‹ angesprochen: Da wir aber zu Betrachtungen, wie sie hier gefordert werden, nicht immer aufgelegt sind, auch nicht immer aufgeregt sein mögen, so ist hiezu der Sonntag bestimmt, wo alles, was den Menschen drückt, in religioser, sittlicher, geselliger, ökonomischer Beziehung, zur Sprache kommen muß. (96; Hervorhebungen: M. B.)24
Auch hier geht das summierende ›alles‹ der Aufzählung voran, die einen das bereits allgemein Angesprochene facettierenden Charakter hat.
2.6 Die Aufzählung als poetische Reflexion Über die bisher erwähnten Einsatzgebiete hinaus wird den Aufzählungen in den ›Wanderjahren‹ sogar das Nachdenken über zentrale Textphänomene wie z. B. die Romanform, das Schreiben und dazugehörige Darstellungsprobleme zuge standen. Damit verläßt die Aufzählung das Terrain der spielerischen Variation ihrer Formen und mausert sich zu einer Ausdrucksform poetischer Reflexionen. Hersilie etwa äußert gegenüber Wilhelm und Juliette: Es ist mir gewissermaßen lieb, daß unser neuer Gast [Wilhelm] […] nicht lange bei uns ver weilen wird: denn es müßte ihm verdrießlich sein, unser Personal kennenzulernen, es ist das ewig in Romanen und Schauspielen wiederholte: ein wunderlicher Oheim, eine sanfte und eine muntere Nichte, eine kluge Tante, Hausgenossen nach bekannter Art; und käme nun gar der Vetter wieder, so lernte er einen phantastischen Reisenden kennen, der viel leicht einen noch sonderbarern Gesellen mitbrächte, und so wäre das leidige Stück erfunden und in Wirklichkeit gesetzt. (79; Hervorhebungen: M. B.)
24 Dies ist im übrigen eine wichtige Stelle, an der sich nachweisen läßt, daß der Redaktor, aus dessen Perspektive sie erzählt ist, auf ein und derselben Ebene mit den anderen Figuren des Texts steht. Zu Beginn seiner hier zitierten Äußerung läßt er sich noch im pluralis majestatis ver nehmen: »Was wir ausfragen konnten, ist folgendes« (93). Darauf folgt ein biographischer Abriß über den Oheim, in dem der Redaktor sich zunächst noch ebenso distanziert gibt, in dessen Verlauf er diese auktoriale Erzählhaltung dann jedoch aufgibt und sich mit zu den Besprochenen rechnet (z. B.: »unser Hausherr«, 94). Dies wird am deutlichsten zu Beginn der gerade zitierten Textstelle: ›Da wir aber zu Betrachtungen, wie sie hier gefordert werden, nicht immer aufgelegt sind‹. Es scheint, als nehme auch er an den beschriebenen Maßnahmen teil. Seine Distanz zu den archivierten Ereignissen, soviel läßt sich wohl sagen, ist nicht die des professionellen Beob achters. Er scheint vielmehr in das Geschehen auf Figurenebene involviert zu sein. Damit erweist sich die von ihm fingierte Position eines über dem Archivmaterial thronenden Romanschreibers zumindest als brüchig. Die souveräne Schreibergestalt wird zu einer Fiktion und ist so besehen nur ein Topos unter den anderen in den ›Wanderjahren‹ verhandelten.
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Hersilie befürchtet, die geschilderten Stereotypen könnten Wilhelm ›verdrießlich‹ sein. Sie zählt das ›ewig in Romanen und Schauspielen wiederholte‹ Personal auf.25 Diese recht abgeklärt wirkende Reflexion einer Romanfigur auf Romanper sonal bzw. Romaninventar ist bemerkenswert. Sie scheint sich mit den Leseerfah rungen Bouvards und Pécuchets bei der Lektüre historischer Romane zu decken. Der vom Text (übrigens in Form einer Aufzählung) beschriebene Lektüreeffekt der Schriften Walter Scotts stehe (so Brecht) in einem auffälligen Mißverhältnis zu den angeblich so lebendig geschilderten Figuren: Als erstes lasen sie [Bouvard und Pécuchet] Walter Scott. Es war, als stürmte eine neue Welt auf sie ein. Die Menschen der Vergangenheit, die für sie bisher nur Schatten oder Namen waren, wurden plötzlich zu lebendigen Wesen, Königen, Fürsten, Zauberern, Dienern, Jagd aufsehern, Mönchen, Zigeunern, Kaufleuten und Soldaten, die im Waffensaal von Schlös sern, auf der schmutzigen Bank von Wirtshäusern, in den gewundenen Straßen der Städte, unter den Schutzdächern der Krambuden, im Kreuzgang der Klöster Rat halten, kämpfen, reisen, Handel treiben, essen und trinken, singen und beten.26
Dieser Erzählmodus, so Brecht, erweise sich bei näherem Hinsehen als eine dürre[ ], alles andere als lebenspralle[ ] Aufzählung. Tatsächlich erhalten wir vom Scott schen monde nouveau nur das bare Inventar in Form dreier Kataloge, deren erster sich wie das Personenverzeichnis eines barocken Bühnenstücks, deren zweiter sich als eine höchst allgemeine Auflistung menschlicher Aktivitäten, deren dritter sich als reichlich eklektische Topographie liest. Recht besehen ist in diesen wenigen Zeilen das ›Geheimnis‹ des Scott schen Erzählens gelüftet und ein Rezept zur Verfertigung weiterer historischer Romane angegeben: Man nehme jeweils ein Element aus jeder der drei Listen und bündle sie zusam men, man wiederhole diese Operation so oft wie nach Länge des zu verfertigenden Textes nötig – und schon steht dem Leser die Vergangenheit ›lebendig‹ vor Augen: Könige berat schlagen in Waffensälen, Soldaten kämpfen auf Straßen, Jagdhüter trinken in Herbergen, Kaufleute handeln in ihren Buden – oder: Soldaten beratschlagen in Herbergen, Kaufleute
25 Auch an anderen Stellen reflektiert der Text solche gattungsumgreifenden ›Idealbesetzun gen‹ von Romanen, Dramen und Opern: Z. B. führt der Redaktor eine namenlose Figur, einen Maler, ein, »wie dergleichen viele in der offnen Welt, mehrere noch in Romanen und Dramen umherwandeln und spuken« (248). Hersilie äußert über den »Tabulettkrämer« (289), der ihr Nachricht von Felix bringt: »Allerdings etwas Geheimnisvolles war in der Figur [!]; dergleichen sind jetzt im Roman nicht zu entbehren« (292), und der Erzähler von ›Nicht zu weit‹ schließlich charakterisiert die neckische Florine als »Liebhaberin, wie sie in jedem Stück, jeder Oper nötig sind« (435). Die ›Funktion‹ solcher Stellen könnte sein, daß der Text das Bewußtsein über seine Konstruiertheit ausstellt und so gegen eine naive Vorstellung oder die Illusion eines ›gelingen den‹ Romans agitiert. 26 Flaubert, Gustave: Bouvard und Pécuchet. Aus dem Französischen neu übersetzt von Caroline Vollmann. (= Fischer TB 90199). Frankfurt am Main 2009. S. 149.
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trinken auf Straßen, der Zauberer berät den König in einer Marktbude und ein bohémien (hinter dem natürlich der verschollene Thronfolger steckt) spricht, zur Hebung des Interes ses, in einem Kreuzgang ein Gebet …27
Eine solche Technik bezeichnet Brecht als ein »plotting nach dem Baukasten-Prin zip« – auf die Figuren bezogen führe es automatisch »zu einer Literatur des ewig Gleichen«,28 denn der ›historische Romancier‹ habe sich ja an bekannte Stände regeln, Handlungsrollen etc. zu halten, um seine Glaubwürdigkeit nicht einzubü ßen. Genau jenes Konstruktionsprinzip, solche »Formulare des […] Erzählens«29 und die angestrebten Effekte scheint Hersilie bereits lange vor Erscheinen des Flaubertschen Texts zu durchschauen. Sie ist sich über die Zutaten und die Rezepte zur Verfertigung von ›Romanen und Schauspielen‹ ebenso im klaren, wie über die ›Verdrießlichkeit‹, die das Konventionalisierte und ›ewig Wiederholte‹ hervorzurufen vermag. Die ›Wanderjahre‹ weisen noch eine weitere Stelle auf, an der Ähnliches erstaunlicherweise wiederum ebenfalls in Form einer Aufzählung formuliert wird; im ›Mann von funfzig Jahren‹ äußert der Erzähler: […] wir wollen gern bekennen, in dem Laufe, wie diese Begebenheiten uns bekannt gewor den, einigermaßen besorgt gewesen zu sein, es möge hier einige Gefahr obschweben, ein Stranden, ein Umschlagen des Kahns, Lebensgefahr der Schönen, kühne Rettung von seiten des Jünglings, um das lose geknüpfte Band noch fester zu ziehen. Aber von allem diesem war nicht die Rede, die Fahrt lief glücklich ab […]. (232; Hervorhebungen: M. B.)30
Seine um Spannung bemühte Schilderung einer Begebenheit, die nicht einmal eingetreten ist, wie am Ende des Zitats aufscheint, arbeitet sich an konventionali sierten Wendungen für eine geglückte Erzählung ab. Im Gegensatz zum Konzept des Enzyklopädischen Erzählens geht es hier nicht um historische (Schein-) Begebenheiten und das Ausfüllen von Wissenslücken, sondern um das Evozieren von Spannung – oder gar, noch perfider, um das Zurschaustellen des technischen Wissens, das zur Inszenierung von Spannung nötig wäre. Jedenfalls werden die
27 Brecht: «Jamais l’histoire ne sera fixée.», S. 422 f. Kursivierungen im Original. 28 Beide Zitate: Brecht: «Jamais l’histoire ne sera fixée.», S. 425. Kursivierung im Original. 29 Brecht: «Jamais l’histoire ne sera fixée.», S. 428. 30 Muschg findet, diese Schilderung werde gegeben im »schönsten Kanzleistil« (Muschg: ›Der Mann von funfzig Jahren‹. In: Ders.: Goethe als Emigrant, S. 163). Fues fragt zu dieser Szene: »Wird hier nicht eine Variation der Peripetie der Wahlverwandtschaften skizziert, eine Variati on, die dem Roman einen sehr anderen Ausgang verschaffen und ihn in die bedrohliche Nähe zum so subtil vermiedenen Milieu der zeitgenössischen Trivialliteratur brächte?« (Fues, Wolfram Malte: Wanderjahre im Hypertext. In: Gutjahr, Ortrud & Harro Segeberg: Klassik und Anti-Klas sik. Goethe und seine Epoche. Würzburg 2001. S. 137–156. Hier: S. 138. Kursivierung im Original).
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jenigen ›Zutaten‹ aufgezählt und aneinandergereiht, die man für eine mitrei ßende Geschichte brauchen würde. Es könnte das Inventar aus dem ›Baukasten‹ (Brecht) für einen Abenteuerroman sein – der Leser ›sabbert‹ (Brecht) schon, wird aber enttäuscht. Leider geben die archivierten Vorkommnisse eine die Ein bildungskraft so animierende Darstellung dann doch nicht her. Seine Kompetenz auf dem Gebiet eher trivialer Narrationsmuster hat der Erzähler jedenfalls ausge stellt. Wichtiger noch: der Text führt über die Figur dieses Erzählers und über die Reflexion Hersilies sein Wissen um gängige Erzählverfahren vor und läßt sie in einer Art Ausschlußverfahren als von ihm durchschaute ironisch gebrochen am Wegesrand des weiteren Fortgangs der Erzählung liegen. So, dies die Aussage des Texts, funktioniert er nicht, auf diesem Weg kommt man ihm nicht bei. Indes inszeniert er auch seine Reflexionen über Phänomene von Schrift lichkeit und das Problem überbordender Verschriftlichung als Aufzählung. Er beschäftigt sich mit der schieren Menge dessen, was in Wilhelms Umfeld geschrieben wird. Letzterer teilt Natalie in einem Brief mit: Wieviel die Menschen schreiben, davon hat man gar keinen Begriff. Von dem, was davon gedruckt wird, will ich gar nicht reden, ob es gleich schon genug ist. Was aber an Briefen und Nachrichten und Geschichten, Anekdoten, Beschreibungen von gegenwärtigen Zuständen einzelner Menschen in Briefen und größeren Aufsätzen in der Stille zirkuliert, davon kann man sich nur eine Vorstellung machen, wenn man in gebildeten Familien eine Zeitlang lebt, wie es mir jetzt geht. In der Sphäre, in der ich mich gegenwärtig befinde, bringt man beinahe soviel Zeit zu, seinen Verwandten und Freunden dasjenige mitzuteilen, womit man sich beschäftigt, als man Zeit sich zu beschäftigen selbst hatte. (90; Hervorhebungen: M. B.)31
Wilhelm stellt ein Mißverhältnis fest zwischen jener Zeit, die seine Umgebung auf ihre Beschäftigungen verwendet und der in Anspruch genommenen Zeit, um die Aktivitäten qua Brief, Nachricht, Geschichte, Anekdote, Beschreibung und Aufsatz zu kommunizieren. Eine Aufzählung von Textgattungen dient hier dazu, dieses Zeitproblem oder die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem Zeitbetrag, den die Archivierung von Erlebtem verschlingt und dem, der dem zu Archivie renden gegönnt wurde, zu illustrieren.32 In dieser ›Sphäre‹ dominieren die aufge
31 Heinz stellt zu dieser Passage fest: »Die Verbindung dieser Überlegung zu den Wanderjahren, als Archiv verstanden, ist zunächst unübersehbar in der Aufzählung der verschiedenen Arten von Schriften sowohl nichtfiktionalen wie auch fiktionalen Charakters gegeben.« (Heinz: Narra tive Kulturkonzepte, S. 421. Kursivierung im Original). Sie geht von dem ganz selbstverständlich aus, was vorliegende Arbeit zeigt, nämlich davon, daß die ›Wanderjahre‹ als Archiv betrachtet werden können. 32 Nach Strobel sei in den ›Wanderjahren‹ zwar noch ein »Briefoptimismus« auszumachen, wie man ihn aus Texten des 18. Jahrhunderts kenne, doch sei er nicht mehr so monomanisch aus
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zählten Verschriftlichungen unterschiedlichster Couleur, die Mitteilungen also, ›beinahe‹ die wirklichen Erlebnisse. Wilhelm erweist sich in seiner Kritik eines ausufernden Archivierens als erstaunlich hellsichtig.33
2.7 Die Aufzählung als erzählerisches Mittel Die Funktion der Aufzählung im nachstehenden Fall ist das Zerstreuen der Figuren im Romankosmos. Der Text macht dem Protagonisten die Mitfiguren durch dieses Mittel unzugänglich. In der ›Verräter-Erzählung‹ hält der ›lustige Junker‹ seinem Schützling Lucidor eine kleine Rede, in der er darlegt, daß es sinnlos sei, sich weiterhin passiv zu verhalten und auf einen Fürsprecher in seiner vertrackten Liebesgeschichte zu warten: ›Die Kleine [Julie] ist von ihrer Freundin noch nicht zurück; diese müssen gegeneinander wenigstens alle vierzehn Tage ihr Herz ausschütten, wenn es nicht springen soll. Sonn abend ist Lucinde ganz unbrauchbar, sie liefert dem Vater pünktlich ihre Haushaltungs rechnung; […]. Gäste werden auf morgen erwartet, der Alte hat sich noch nicht wieder ins Gleichgewicht gestellt, Antoni ist auf die Jagd, wir wollen das gleiche tun.‹ Flinten, Taschen und Hunde waren bereit […]. (110; Hervorhebungen: M. B.)
geprägt wie dort, sondern reflektiere – und hier bezieht er sich auf die eben untersuchte Text stelle – neben der Pluralität von Briefautoren auch noch andere, wie z. B. »die an Textsorten, Erzählakten und Zeitebenen« (Strobel: Genealogie eines Archivromans, S. 116). Daß Wilhelms ›Briefoptimismus‹ einigen Grund hätte, in einen handfesten ›Briefpessimismus‹ umzuschlagen, registriert Strobel genausowenig wie die ›Wanderjahre‹ es thematisieren. Dabei ist es doch sehr auffällig, daß Wilhelm auf seine Briefe an Natalie nicht ein einziges Mal eine Antwort bekommt. Mittermüller findet dennoch, Goethe habe die »für die schriftliche Kommunikation charakteris tischen Entfremdungs- und Distanzerfahrungen […] in den ›Wanderjahren‹ im Zusammenhang mit der auf das Medium des Briefes beschränkten Beziehung zwischen Wilhelm und Natalie facettenreich [!] vor Augen geführt« (Mittermüller: Sprachskepsis, S. 38). 33 Im Gegensatz zu dem Bild, das der Text sonst von Wilhelms kognitiven Fähigkeiten zeichnet. Wilhelm ›denkt‹ nur selten und wenn, dann sind es Gedanken wie »›Also heißt er auch Joseph!‹ [...] ›Also heißt sie auch Marie!‹« (24). Während seines Aufenthalts beim Astronomen ereignet sich eine Szene, in der Wilhelm auf den Anblick der dem »Aufgang der Sonne voreilende[n] Venus« (136) reagiert: »Geweckt von dem Sternkundigen sprang Wilhelm auf und eilte zum Fenster; dort staunte, starrte er einen Augenblick, dann rief er enthusiastisch: ›Welche Herrlichkeit! welch ein Wunder!‹ Andere Worte des Entzückens folgten, aber ihm blieb der Anblick immer ein Wunder, ein großes Wunder.« (136) Sein Innenleben wird als ein recht simples geschildert, seine Gedan ken und seine Rede kommen über die ebenso unbeholfene wie undifferenzierte Formulierung ›Wunder‹ nicht hinaus. Ähnlich defizitär scheint Wilhelms Wahrnehmung zu sein: »Unserm alten Freund hatte die Natur kein malerisches Auge gegeben« (251).
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Der Text läßt eine Figur eine Aufzählung zur Verortung der anderen Figuren aus der Erzählung hersagen. In wenigen Zeilen werden jene so in Position gebracht, daß Lucidor einsehen muß, sie nicht mehr erreichen zu können. Die Aufzählung fungiert in diesem Fall als erzählerisches Mittel, denn ihr Effekt ist die Plausibili sierung von Lucidors Entscheidung, auf Antonis Vorschlag einzugehen. Er begibt sich mit ihm schließlich auf die Jagd. Am Ende der direkten Rede Antonis (›wir wollen das gleiche tun‹) steigt zudem der Erzähler in diesen Modus der aufzäh lenden Narration mit ein. Er zählt typisches Jagdinventar auf (›Flinten, Taschen und Hunde‹).34 Nachdem soeben auf die Aufzählung als Mittel zur Zerstreuung eingegangen wurde, folgt nun der Nachweis einer im Wortsinn zusammensammelnden, konst ruktiv wirkenden Aufzählung. In diesem Fall geht es um das erzählerische Zusam menlesen von Vorgängen, um aus ihnen etwas herzustellen: Dem Bericht in Form einer Aufzählung kann regelrecht ein Haus entwachsen. Dies zeigt Odoards Rede vor denjenigen, die sich dem Auswandererbund nicht anschließen wollen: Zählen wir sie her in der Folge, wie sie den Bau in die Höhe richten und nach und nach zur Wohnbarkeit befördern. Die Steinmetzen nenn ich voraus, welche den Grund- und Eckstein vollkommen bearbeiten, den sie mit Beihülfe der Maurer am rechten Ort in der genaues ten Bezeichnung niedersenken. Die Maurer folgen hierauf, die auf den streng untersuch ten Grund das Gegenwärtige und Zukünftige wohl befestigen. Früher oder später bringt der Zimmermann seine vorbereiteten Kontignationen herbei, und so steigt nach und nach das Beabsichtigte in die Höhe. Den Dachdecker rufen wir eiligst herbei; im Innern bedürfen wir des Tischers, Glasers, Schlossers, und wenn ich den Tüncher zuletzt nenne, so geschieht es, weil er mit seiner Arbeit zur verschiedensten Zeit eintreten kann, um zuletzt dem Ganzen in- und auswendig einen gefälligen Schein zu geben. (444; Hervorhebungen: M. B.)
An dieser Stelle ist wörtlich vom ›Herzählen‹ die Rede. Sommer schreibt übers Zählen, es sei »eine Form des Sammelns von Zerstreutem, eine Weise des Zusammenlesens.«35 Ein solches betreibt der Text hier. Er konzentriert die verschiedenen Berufe mit den ihnen zugehörigen Arbeiten auf die in Rede stehende Baustelle und bringt sie in die richtige Chronologie. Man hat es hier mit einer ›Mauerschau‹ im metaphorischen Sinn zu tun.36 Das ›Herzählen‹ wird zum
34 Während der Jagd läßt der ›lustige Junker‹ Lucidor wissen, daß er Antoni und Lucinde »nicht für ein wohlassortiertes Paar« (111) halte. Selbst in die Rede über potentielle Liebespaare schleicht sich ein Ordnungsterminus ein. Der Kommentar der Frankfurter Ausgabe leitet den Begriff aus dem frz. Verb ›assortir‹ ab, das ›passend zusammenstellen‹ bedeute (vgl. FA I 10, S. 1068). Es bedeutet darüber hinaus auch noch ›sortieren‹ und ›auswählen‹ (vgl. Langenscheidts großes Schulwörterbuch Französisch – Deutsch. Berlin und München 1977. S. 98). 35 Sommer: Sammeln, S. 356. 36 Die Mauerschau oder Teichoskopie ist ja eigentlich ein dramentechnisches Mittel, um Sze
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Konstruieren, zum Aufbauen und die Mauerschau ganz konkret, man sieht die Hausmauern entstehen.
2.8 ›Bilanz‹ Aufzählung Daß so viele unterschiedliche Arten allein von Aufzählungen nachweisbar sind und jede davon noch Unterarten bildet, demonstriert wie wichtig dem Text das Phänomen der Pluralität ist. Er ist darum bemüht, ihm Ausdruck zu verschaffen, indem er Spielarten der Pluralität nicht einebnet, sondern explizit über das Mittel der ja per definitionem mehrere Elemente beinhaltenden Aufzählung ausformu liert und sichtbar hält. Nicht immer fungiert die Aufzählung als eine der Erzähl ökonomie zugute kommende Raffung, wie gezeigt werden konnte. Manchmal wird sie spielerisch, teils lautmalerisch und verschwenderisch, geht zwei Schritte vorwärts, um dann wieder einen Schritt zurück zu tun. Teils dient sie nicht der Präzisierung von Aussagen, sondern gerade der Streuung von Bedeutung, teils scheint sie ausdrücklich ihre eigene Verfaßtheit in den Vordergrund zu stellen und selbstreflexiv zu werden. So z. B. dort, wo sie Variationsmöglichkeiten ihrer Form aufzeigt, wo sie aufzählt, um hinterher zu summieren und dieses Vorgehen spielerisch verkehrt und summiert, bevor aufgezählt wird. Dabei artet sie aber nie aus in die von Texten der klassischen Moderne bekannte Lexemautonomie.37 Auf diesem Terrain geben sich die ›Wanderjahre‹ nicht als ›modern‹, sie antizipieren die Texte der klassischen Moderne nicht. Es findet keine Stillstellung der Semiose durch eine haltlose und autoreferentielle Aneinanderreihung von Worten statt. Die Aufzählung scheint hier eher im Fabulieren ihre ästhetische Daseinsberechti gung als Stilmittel behaupten zu wollen. Sie schmiegt sich wortgewandt an einen Begriff an, kreist ihn ein und entfernt sich wieder davon. Bei all dem begnügt sich der Text, wie bereits erwähnt, natürlich nicht mit einem spezifischen Muster von Aufzählung, sondern nimmt bewußt vielfäl tige Ausprägungen in Dienst. Mit diesem Variieren zeigt er, wie fruchtbar sich ein scheinbar so trockenes Medium machen läßt. Die Aufzählung ruft so die Mannigfaltigkeit des Archivs sowie des darin Niedergelegten in Erinnerung, vollführt aber durch eine Art von Verundeutlichung, durch das Sich-nicht-füreinen-Begriff-Entscheiden, auch eine Gegenbewegung zum Archiv. Sie verarbei
nen, die nicht auf der Bühne dargestellt werden (können), dennoch zu vergegenwärtigen. Dies wird zustandegebracht durch eine Art synchroner Reportage z. B. von der Mauer, vom Fenster aus (vgl. Schweikle & Schweikle: Metzler Literatur Lexikon, S. 456). 37 Vgl. zur Lexemautonomie: Baßler, Moritz, Christoph Brecht, Dirk Niefanger, Gotthart Wunberg (Hg.): Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996.
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tet aus dem Archiv Entnommenes zu Poetischem, will sich jedoch dabei nicht in die Karten schauen lassen. Die poetische Funktion, die Roman Jakobson im Kippen des Paradigmas ins Syntagma konstituiert sieht, wird von der Aufzäh lung zum einen wörtlich genommen.38 Denn sie zählt auf, was nicht unbedingt nötig wäre – man denke auch an Barthes’ ›effet de réel‹39 – orientiert sich an der Kombination und betreibt die Selektion nicht exzessiv. Jede dieser ›leerlaufen den‹ Aufzählungen verweist zurück auf das ihr zugrundeliegende Archiv, indem sie erstens einen Ausschnitt (also eine ›Selektion‹) desselben (mit Jakobson: des ›Paradigmas‹) figuriert, zweitens aber diesen eben mehrgliedrig hält, d. h. nicht nur nach einer gelungenen, originellen Kombination ausschaut, sondern in jedem Akt der Kombination die dem Archiv geschuldete Pluralität ausstellt. Einerseits wird ›poetisiert‹, andererseits aber auch der Gedanke ans Archiv wach gehalten, da die Achse (und das heißt auch: die Problematik, die Idee und nicht zuletzt das [Sprach-] Material) der Selektion nicht zum Verschwinden gebracht wird. So verstanden folgt die Aufzählung einer gelockerten Selektionslogik, ist ihr ›Poetisieren‹ immer ein gemäßigtes, einhergehend mit dem Aufrechterhalten und Zur-Schau-Stellen der paradigmatischen Achse.
3. Liste Ein weiteres Instrument zum Sammeln, Ordnen und Verzeichnen von Vielfältigem ist die Liste. Einen Zugang zum Phänomen der Liste bietet die Wortgeschichte an. Diese lehrt, der Begriff sei vom mittellateinischen ›Lista‹ herzuleiten,
38 »Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.« (Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik: Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt am Main 1979. S. 83–121. Hier: S. 94). 39 Solche Details, schreibt Barthes im Kontext von Erzählungen Flauberts und Michelets, »sem blent accordées à une sorte de luxe de la narration, prodigue au point de dispenser des détails ›inutiles‹ et d’élever ainsi par endroits le coût de l’information narrative.« (S. 26) Interessan terweise stellt er fest, die Struktur solcher »description[s]« (S. 26) sei »purement sommatoire«! (S. 27) Den ›effet de réel‹ versteht er als einen Bestandteil der »esthétique de toutes les œuvres courantes de la modernité.« (S. 32; die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf: Barthes, Roland: L’effet de réel. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. III. 1968–1971. Hg.: Éric Marty. Paris 2002. S. 25–32. Kursivierung im Original). Aus dieser Richtung argumentierend kann man den ›Wanderjahren‹ dann doch noch Züge einer ›modernen‹ Ästhetik attestieren, ohne gleich un differenziert in das Lied von der fraglosen Modernität des ganzen Romans einzustimmen.
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welches nicht, wie einige wollen, von lesen abstammet, sondern von unserm Leiste, so fern dasselbe einen langen schmalen Streifen bedeutet. Man pflegte solche Verzeichnisse ein zelner Dinge ehedem auf lange schmale Pergamentstreifen zu schreiben, und noch jetzt nimmt man ähnliche Streifen Papiers dazu.40
Bis heute wird die Liste mit einer bestimmten materialiter feststellbaren Form in Verbindung gebracht: »Die Liste ist der Katalog in seiner elementarsten Gestalt; in concreto kann er natürlich als Kartei oder Register, als Findbuch oder Index auftreten.«41 Mainberger hingegen konzentriert sich auf den literarischen Text. Dort habe die Liste unter anderem die Funktion, eine Wirkung – oder sollte man sagen: eine Illusion? – von Objektivität hervorzurufen: [D]ie Liste, zumal ohne Verb, läßt scheinbar nur ›die Dinge selbst‹ zur Sprache kommen. Sie ist ein Versuch, die Subjektivität soweit wie nur irgend möglich zurückzunehmen.42
Mainberger betont außerdem, selbst eine ›ganz normale‹, d. h. nicht für einen literarischen Text eigens ästhetisch überarbeitete Liste sei etwas durchweg Künstliches. Dasselbe gelte für eine dementsprechende Wahrnehmung oder eine Lektüre, die sich dem Phänomen der Liste widme: Ein Schriftprodukt wie eine Liste schaltet Gewichtungen und sinnhafte Querverbindun gen aus. […] Das scheint uns selbstverständlich – nichts banaler als Verzeichnisse dieser Art. Tatsächlich aber ist ein vielheitliches Ganzes, in dem die Elemente in einer Hinsicht gleichwertig sind und darüber hinaus keinerlei Beziehungen zueinander unterhalten, in dem sie austauschbar und gegen ihre Position im Ganzen indifferent sind, etwas höchst Artifizielles; und desgleichen eine Wahrnehmung, für die alles andere tatsächlich nicht zählt.43
Mainberger gebraucht die Begriffe Liste und Aufzählung synonym.44 D. h. was sie gerade über Listen gesagt hat, kann genauso für Aufzählungen gelten – und andersherum. Damit ginge die gewünschte Trennschärfe zwischen den beiden Konzepten verloren. Um den Begriff Liste schärfer zu konturieren sei daher auf Ecos Arbeit zur Liste verwiesen. Diese liefert ein Unterscheidungsmerkmal mit, das ich für vorliegende Analyse als die conditio sine qua non für eine Liste ein führen möchte. Die Liste entspringt Eco zufolge immer der »Lust am Mehr«.45 Das
40 Adelung, Teil 2: F–L, Sp. 2079–2080. 41 Sommer: Sammeln, S. 227. Kursivierungen im Original. 42 Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 107 f. 43 Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 8. 44 Vgl. Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 6. 45 Eco: Die unendliche Liste, S. 82.
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grundsätzliche Problem, dem sie sich stelle, sei das Oszillieren zwischen einem Gestus des »›das war alles‹ und einer Poetik des ›und so weiter‹«.46 Für die Liste konstitutiv sei das die Aufzählung potentiell erweiternde »Undsoweiter«.47 Genau dieses möchte ich prononcieren. Taucht ein solches am Ende einer Aufzählung auf, so soll im folgenden von einer Liste gesprochen werden.48 Man kann also das Fazit ziehen, für eine Liste sei der Wunsch weiterzuma chen konstitutiv. D. h. man hat es ganz grundsätzlich immer dann mit einer Liste zu tun, wenn eine Aufzählung Dinge darstellt und zu gleicher Zeit ›und so weiter‹ sagen zu wollen scheint, dies andeutet, oder vielleicht sogar sagt. Ich modifiziere Ecos Verständnis von Liste nun dahingehend, daß man sich dieses ›und so weiter‹ denken kann als ein manchmal nur tendenzielles aber trotzdem nachweisbares Ausgreifen in Richtung Vollständigkeit oder einer Inszenierung derselben. Dabei wird der Faktor einer angestrebten Unendlichkeit nicht so stark gewichtet wie bei Eco. Fortan sollen all diejenigen Aufzählungen als Listen bezeichnet werden, die mit Formeln wie etwa ›und alle‹ oder ›und so weiter‹ etc. enden. Von solchen Zusätzen wird die Liste einerseits abgeschlossen und gleichzeitig offen gehalten; andererseits bergen sie – gerade in einem wohlmotivierten ästhetischen Text – ein nicht unerhebliches Irritationspotential. Letzteres wird sogar noch verstärkt, wenn der Text die Zusätze nicht mehr ausformuliert, sondern lediglich als Abbre viatur auffährt. In den ›Wanderjahren‹ gibt es eine Aufzählung, die genau ein solches ›und so weiter‹ ausspricht und sich damit als Liste klassifizieren läßt. Sie steht in der ›Verräter-Erzählung‹ und macht den Anfang der sich nun anschließenden Betrachtung von Listen im Text: »›Das war zu einer Zeit‹, rief Julie, ›wo ich noch nichts von Städten wußte, die an Flüssen liegen, oder gar am Meer, von Genua nichts usw. […]‹« (107; Hervorhebung: M. B.). Der Text begnügt sich nicht nur mit einem vagen ›und so weiter‹, sondern greift sogar auf die auffällige und etwas technisch klingende Abkürzung ›usw.‹ zurück. Damit markiert er eindeutig eine
46 Eco: Die unendliche Liste, S. 6. Das ›Und so weiter‹ findet oft seinen Ausdruck in Fußnoten. Diese sagen alle, so Plener, »etwas geschwätzig und mit dem Gestus der Selbstbestätigung: ›Da schau auch her‹, ›Lies dort nach‹, ›Denk da weiter‹, letztlich sagen sie also: ›Und so weiter‹.« (Plener, Peter: Das Gesetz der Serie oder Die Handhabung der Ordnung. In: Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg.: Eder, Thomas, Samo Kobenter, Peter Plener. Wien 2010. S. 448–462. Hier: S. 462. Fußnote 3). 47 Eco: Die unendliche Liste, S. 81. Mainberger hingegen sieht im ›usw.‹ den Abbruch einer Auf zählung (vgl. Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 10). 48 Natürlich könnte eine Aufzählung auch ›usw.‹ sagen. Das ›usw.‹ als Charakteristikum der Liste einzuführen ist eine Frage der Setzung, des ›Forschungsdesigns‹, um eine operationalisier bare Unterscheidung treffen zu können.
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Liste. Ebenfalls listenartig wirkt die Darstellung des Spielplatzes in derselben Erzählung: Und so standen hier, in gehörigen Entfernungen zusammengeordnet, das große Schaukel rad, wo die Auf- und Absteigenden immer gleich horizontal ruhig sitzenbleiben, andere Schaukeleien, Schwungseile, Lusthebel, Kegel- und Zellenbahnen und was nur alles erdacht werden kann, um auf einem großen Triftraum eine Menge Menschen verschie dentlichst und gleichmäßig zu beschäftigen und zu erlustigen. (108 f. Hervorhebungen: M. B.)
Die Sequenz ›Und was nur alles erdacht werden kann‹ erweist sich als unum grenzte Erweiterung des im Text genannten Inventars und gleichermaßen des Texts selbst. Ein ›usw.‹ und dem entsprechende Formulierungen, welche die Liste konsti tuieren, appellieren an die Vorstellungskraft des Lesers, das Gelesene zu ergän zen, es nach Belieben zu erweitern. Dies gewährleisten sie, indem sie einen Faktor der Unschärfe in den Text einbringen. Jener bildet konzeptionell einen Kontrast zu einer ›sauberen‹, d. h. genauen Archivierung. Darüber hinaus konterkariert ein Begriff wie ›usw.‹ ein – an konventionellen Maßstäben gemessenes – ›gelin gendes‹ Erzählen, das den Anspruch hat, präzise zu sein und seinen Fortgang kleinteilig zu motivieren. Letztlich handelt es sich hier um Verweise auf Weiteres, ohne dieses zu nennen, um Hinweise auf eine – vielleicht durch die Eingriffe des Redaktors – verstellte Materialfülle. Dies ist auch in der Lago Maggiore-Episode der Fall. Dort haben der Maler und Wilhelm für die Schönheiten der Natur kein Auge mehr, nachdem ihre char mante Reisebekanntschaft abgereist ist. Der Erzähler umschreibt das Versinken der beiden ›Helden‹ in Selbstmitleid. Er schildert ihre düster umflorte Wahrneh mung in Listenform: Kein selbstsüchtiger Hypochondrist würde so scharf und scheelsüchtig den Verfall der Gebäude, die Vernachlässigung der Mauern, das Verwittern der Türme, den Grasüberzug der Gänge, das Aussterben der Bäume, das vermoosende Vermodern der Kunstgrotten und was noch alles dergleichen zu bemerken wäre, gerügt und gescholten haben. (264)49
49 Die Komplementärstelle (weil positiv gewendet), an der zudem alles in extenso aufgezählt wird, lautet: »Was man nun auch in solchen Zuständen besprechen mochte, so war doch nicht zu unterlassen, das hundertmal Besprochene, die Vorzüge dieses Himmels, dieses Wassers, dieser Erde, unter dem Einfluß einer gewaltigern Sonne, eines mildern Mondes nochmals zu bereden, ja sie ausschließlich und lyrisch anzuerkennen.« (262).
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Den Passus ›und was noch alles dergleichen‹ kann man als eine erzählerische Inszenierung von Weitläufigkeit und einer Vielzahl lesen. Er darf auch als eine Erweiterung der Liste gelesen werden. Bei eingehenderer Überlegung stellt sich jedoch heraus, daß diese Erweiterung den Leser eigentlich nicht weiterbringt, daß der Text eine Entscheidung verweigert. Entschiede er sich für eine Variante, so müßte er den Zusatz weglassen oder das durch ihn Angedeutete explizieren. Eine solche Formulierung weist also keinerlei inhaltlichen ›Mehrwert‹ auf, eher hingegen einen ästhetischen. In dieser Lesart reflektiert sie die Ambivalenz zwi schen einer genauen Narration und einem Ausgreifen derselben ins Ungewisse. Aus narratologischer Sicht hat sie einen intermittierenden Charakter und wirkt zudem verstörend, indem sie die editorische Genauigkeit, deren der Redaktor sich rühmt, zu einer summierenden Floskel verschleift. Letzterer scheint weder ein ›richtiger‹ Archivar noch ein genauer Romanschreiber zu sein, denn nur eine Liste kann sich mit der reinen Evokation von Weitergehenderem begnügen. In nur einem Fall nennen die ›Wanderjahre‹ eine solche auch beim Namen. Lenardo erzählt, wie die ihm bevorstehende Reise von seinem Oheim durch das Einkassieren von Schulden finanziert werden soll: Sein [des Oheims] Geschäftsmann erhielt die Liste [mit Schulden und Pachtaußenständen]; diesem war die Ausführung überlassen. Vom einzelnen erfuhren wir nichts […]. (145; Her vorhebung: M. B.)50
Der Text spielt hier auf eine Ethik der Liste an. Die Eigenschaften und Umstände des Individuums verschwinden in der Auflistung, die immer auf Komplettie rung zielt (›Vom einzelnen erfuhren wir nichts‹). Die Liste wird einem neutralen Geschäftsträger zur Vollstreckung übergeben. Lenardo weiß das und nimmt es hin: »Ich hatte meine Reise im Sinn, und die Mittel dazu mußt’ ich billigen.« (145) Als das Nußbraune Mädchen ihn bittet, bei seinem Oheim ein gutes Wort für ihren verschuldeten Vater einzulegen, leuchten ihm ihre Argumente ein: »wäre es meine eigene Kasse gewesen, [hätte ich] sie sogleich durch Gewährung ihrer Bitte glücklich gemacht« (146). Aber bei der »Denkweise« des Oheims und »bei dem, was bisher schon geschehen, war nichts zu hoffen« (beides: 146). Nun bringt der Text das Problem der Listenethik auf den Punkt: »Ihre [jene
50 Mit Eco gesprochen handelt es sich hier um eine praktische Liste, welche der Text dem Leser intrikaterweise nicht zeigt. Eco unterscheidet zwischen praktischer und poetischer Liste. Unter ersterer versteht er Einkaufszettel, Bibliothekskataloge etc. Sie zeichne sich aus durch ihre rein referentielle Funktion, sei auf Vollständigkeit aus. Poetische Listen hingegen würden herange zogen, wenn es nicht mehr gelänge, etwas vollständig aufzuzählen (vgl. Eco: Die unendliche Liste, S. 113).
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des nußbraunen Mädchens] Gründe ruhten auf Individualität und Neigung, die meinigen auf Pflicht und Verstand, und ich leugne nicht, daß sie mir am Ende selbst zu hart vorkamen« (146; Hervorhebungen: M. B.). Das Einzelne (›Indivi dualität und Neigung‹) steht im diametralen Gegensatz zur Liste, die sich auch im Angesicht von »Tränen« (146) und des »Unvermeidliche[n] Untergang[s]« (146) der Bittstellerin und ihres Vaters kühl auf ›Pflicht und Verstand‹ zurück zieht. Auf den Kniefall der Pächterstochter repliziert Lenardo schnell: »Ich will das mögliche tun, beruhige dich, mein Kind!« (146) und bedient sich daraufhin der Rhetorik dessen, der eine Liste durchnimmt; er verspricht, ›das Mögliche‹ veranlassen zu wollen im Wissen, daß das eben gleichbedeutend damit ist, nichts zu tun. Denn die Logik der Liste läßt nur das Abarbeiten zu, von Gnade will die durch Schulden und Außenstände konstituierte Liste nichts wissen, kann sie nichts wissen wollen. Begnadigungsfälle müßte eine andere Liste ver zeichnen. Die Pächterstochter ruft ihm nach: »Tun Sie das Unmögliche!« (146) Sie durchschaut diesen Mechanismus und appelliert im Wissen um die Impli kationen einer solchen Beschwichtigungsrhetorik hellsichtig an Lenardo, der sich aus der Situation herauswindend bereits »nach einem Seitenwege« (146) davongestohlen hat, gerade das ›Unmögliche‹ zu tun. Der Text greift den Fall der Pächterstochter aus der Liste heraus und hievt ihn auf die Ebene personaler Beziehungen. Er illustriert hier den Konflikt zwischen Einzelnem und Ganzem, indem er ihn als einen zwischen Individuum und auf Vollständigkeit insistie render Listenlogik ausweist. Die im Text vorkommenden Reihen, Aufzählungen und Listen haben bei der großen Bandbreite ihrer unterschiedlichen Ausprägungen und zusätzlich zu ihrem gehäuften Auftreten noch drei weitere Dinge gemein. Erstens sind sie selbst, wenn man so will, kleine Häufungen oder Aggregate von unterschied lich stark ausgeprägten Ordnungsgraden. Zweitens erweisen sie sich als ambiva lenter, als man auf den ersten Blick vielleicht annehmen könnte. So interessiert sich die Aufzählung für das Auseinanderlegen einer Vielzahl und gleichzeitig auch immer für die Gegenbewegung hierzu, für die Zusammenschau und das Zusammenlesen. Die Reihe betont die Anordnung ihrer Elemente, weist aber zugleich darauf hin, daß jede Anordnung auch anders aussehen könnte und hält Lücken bereit, die bei Bedarf nachträglich aufgefüllt werden können.51 Die Liste schließlich ist zwar auf genaues Registrieren aus, betont aber mindestens
51 Geulen behauptet völlig zurecht, das Mittel, um heterogenste Elemente vereinigen zu kön nen, ohne sie in ein formales Konzept einzuzwängen, sei Goethes Reihenbildung, die nicht auf Synthetisierung aus sei, sondern auf die Isolation, das Nebeneinanderstehen der Elemente (vgl. Geulen: Serialization, S. 11).
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ebenso stark den für sie konstitutiven Wunsch, nicht zu enden, sondern weiter zumachen – sei es auch nur andeutungsweise und um den Preis einer narrato logischen Irritation, welche sie sich durch unscharfe Formulierungen wie ›usw.‹ einhandelt. Diese Eigenschaften eignen pars pro toto auch den ›Wanderjahren‹. Drittens sind die genannten Phänomene, verglichen mit Reihen, Aufzählungen und Listen in Texten des 20. Jahrhunderts, recht ›brav‹, d. h. sie neigen an keiner Stelle zur Exzessivität, zum Sprengen der Form.52 Auch haben sie nicht dieselbe Funktion, wie z. B. in Sternes ›Tristram Shandy‹, wo sie als Vehikel der Digres sion agieren. Die ›Wanderjahre‹ kultivieren, das darf man als Zwischenbilanz festhalten, ihren ganz eigenen Umgang mit dem Faszinosum Pluralität. Auch aus dieser Perspektive betrachtet ist der Text keine Vorausnahme des modernen Romans, wie oft formuliert wurde. Es ist nicht viel erklärt, wenn man hier von Modernität spricht, ein Begriff, mit dem man bei Goethe nicht vorsichtig genug umgehen kann. Die massive Überinterpretation der ›Wanderjahre‹ als Vorläufer der ›Moderne‹ gründet in dem methodischen Defizit, sich dem Aggregat ebenso wie dem Archiv ohne Rücksicht auf den historischen Kontext ihrer Entstehung genähert zu haben.
4. Sammlung Um begreifen zu können, was eine Sammlung ist, gilt es zuerst einmal zu klären, was unter Sammeln verstanden werden kann. Dazu kann man sich an Sommers Sammeltheorie orientieren, deren basales Theorem lautet, die Grund bewegung des Sammelns sei, »vieles, das im Raum verstreut ist, […] an einem Ort [zusammenzutragen].«53 Die Bedingung dafür, daß überhaupt ein Sammeln statthaben könne, sei von seiten der Dinge her, daß sie »stets viele sein und sich überdies im Zustande der Zerstreuung befinden«54 müssen. Sammeln läßt sich mit Sommer in ästhetisches und in ökonomisches Sammeln differenzieren. Das ästhetische will »die Erhaltung und Bewahrung des Gesammelten«55 und seine Betrachtung. Das ökonomische wiederum ist zeitlich eng begrenzt und per definitionem immer auf den Konsum des Gesammelten aus (d. h. etwa Verzehr
52 Man findet im Text nirgends absatz- oder gar seitenweise Aneinanderreihungen von Namen, Ereignissen o. ä. 53 Sommer: Sammeln, S. 18. 54 Sommer: Sammeln, S. 101. 55 Sommer: Sammeln, S. 15.
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von Nahrungsmitteln, Verbrauch von Rohstoffen, Vernichtung von Abfällen) und verschwindet, nachdem es diesem konsumptiven Zweck zugeführt wurde.56 Von der Sammlung unterscheidet Sommer die Ansammlung, die sich dadurch auszeichnet, zwar mehreres zu versammeln, dies jedoch ohne eine auf Samm lung ausgerichtete Intention zu tun: [N]icht immer, wenn einer etwas zusammenträgt, sammelt er dieses auch. Trotzdem ergibt sich als Resultat seines Tuns eine Ansammlung: etwas, das bislang verstreut auseinander war, ist nunmehr nahe beisammen. Eine Ansammlung dieser Art ist weder das Ergebnis naturhafter Vorgänge noch ist sie das Ziel absichtlichen Tuns.57
Sammeln ist so gesehen von seiner Anlage her immer auch produktiv, gar ›poie tisch‹, denn es zieht als Ergebnis eine Sammlung nach sich. Aus Sommers Ausführungen kann man den Rückschluß ziehen: Wenn ein Text wie die ›Wanderjahre‹ auffällig oft von und über Sammlungen spricht und aufmerksam Varianten davon registriert, so ist das ein erneutes Indiz dafür, daß ihn das Phänomen der Pluralität umtreibt sowie dafür, daß er um adäquate, lite rarisch verwendbare Ausdrucksformen für ebendieses ringt. Denn wer Sammlun gen anführt, redet immer auch von einer diesen zugrundeliegenden Vielheit. Die ›Wanderjahre‹ reflektieren letztere über Spielarten von Sammlungen und führen vor, wie man sie handhaben, wie man zusammentragen und aufbewahren kann. Darüber hinaus geht es ihnen auch darum, Varianten und Eigenschaften von Sammlungen zu archivieren. Nicht zuletzt stellen sie mit ihrem Sammeln eine der Grundlagen und Schlüsselkompetenzen des Archivs aus: Die wesentliche und wichtigste Aufgabe jedes Archivs ist das Sammeln von Material, wobei Sammeln in diesem Zusammenhang das Auswählen, Zusammentragen und Aufbewahren von Objekten bedeutet.58
56 In der Fischerknabenepisode kommt die Sprache auf die »emsig gesammelte Barschaft« (302) von Wilhelms Tante. Eine solche monetäre Sammlung ist keine ästhetische Sammlung, weil hier wortwörtlich ökonomisches Sammeln zugrunde liegt, um (für) das Geld später einmal konsu mieren zu können. Bei einer numismatischen Sammlung verhielte sich das freilich anders. Dann sammelte man ästhetisch (vgl. Sommer: Sammeln, S. 128–137). 57 Sommer: Sammeln, S. 72. Vgl. dagegen Assmann, die das Archiv selbst gar als vom Zufall abhängige Ansammlung zu fassen versucht, »denn Archivgut fällt an und wird nicht eigens ge sucht und in aller Regel nicht [!] käuflich erworben.« (Assmann, Aleïda: Archive im Wandel der Mediengeschichte. In: Ebeling & Günzel (Hgg.): Archivologie, S. 165–175. Hier: S. 173). 58 Rieger: Anarchie im Archiv, S. 254.
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Unter einer Sammlung soll erstens verstanden werden, was im Text ausdrück lich als Sammlung bezeichnet wird. Zweitens all das, was explizit als Anhäufung von Gegenständen gleich welcher Art geschildert wird. – Dies gewiß im Sinne Sommers, der schon zu Beginn seiner Studie formuliert: [I]ch wollte nichts auslassen. Von den geistigen Höhen der Kontemplation bis in die irdi schen Niederungen der Verdauung, von der reinsten Kunst bis zum dreckigsten Müll sollte alles, was Sammeln ist oder gesammelt wird, angemessene Beachtung finden.59
In der Tat reicht die Bandbreite der verhandelten Sammlungen auch in den ›Wanderjahren‹ vom Misthaufen (›Ansammlung‹) bis hin zur Gemäldegalerie mit Bildern aus der Heiligen Schrift (›collectio‹). So rühmt etwa Wilhelms Führer in der Pädagogischen Provinz die treffliche Sammlung ihrer [der jüdischen Religionsgemeinschaft] heiligen Bücher. Sie stehen so glücklich beisammen, daß aus den fremdesten Elementen ein täuschendes Ganze entgegentritt. Sie sind vollständig genug, um zu befriedigen, fragmentarisch genug, um anzureizen […]. (176)
Die Inszenierung eines Ganzen wird möglich aufgrund eines austarierten Quan tums sowohl an Vollständigkeit als auch an Fragmentarität. Ein solches Span nungsverhältnis lädt dazu ein, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Das Frag mentarische scheint hier ebenso wie im Fall der ›Wanderjahre‹ zur Lektüre herauszufordern und Anschlußfähigkeit zu gewährleisten. Über die Bücher sammlung hinaus interessiert der Text sich auch für extravagantere zusammen getragene Gegenstände. In der Erzählung über den Werdegang des Anatomen taucht eine Sammlung plastischer anatomischer Präparate auf, die eigens zur Anschauung für ein Museum hergestellt wird: Denn nur einem einzigen, großen, auswärtigen Museum habe er [der Anatom] eine solche Sammlung gearbeitet, die Universitäten aber widerstünden durchaus dem Unternehmen, weil die Meister der Kunst wohl Prosektoren, aber keine Proplastiker zu bilden wüßten. (363; Hervorhebungen: M. B.)
Abgesehen von solchen Sammlungen stößt man auch auf Textpassagen, die sich um Ansammlungen drehen. So wird z. B. eine Warenansammlung geschil dert, welche die Nichten und die Tante gehortet haben, indem sie die ihnen von Lenardo zugeschickten Präsente akkumulierten:
59 Sommer: Sammeln, S. 7.
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An den überschickten Waren konnten Sie sehen, wo und wie ich mich befand. An den Weinen hat der Onkel meinen jedesmaligen Aufenthalt gewiß herausgekostet; dann die Spitzen, die Quodlibets, die Stahlwaren haben meinen Weg, durch Brabant über Paris nach London, für die Frauenzimmer bezeichnet; und so werde ich auf Ihren Schreib-, Näh- und Teetischen, an Ihren Negligés und Festkleidern gar manches Merkzeichen finden, woran ich meine Reiseerzählung knüpfen kann. (84)
Lenardos Reise bzw. die von ihm nach Hause geschickten Gegenstände haben bei den Daheimgebliebenen zu einer Anhäufung von Dingen geführt. Für den Onkel gibt es unterschiedliche Weinsorten, an denen er den Aufenthalt seines Neffen erraten kann. Für die ›Frauenzimmer‹ einen Haufen Kleinigkeiten: Spitzen, Quodlibets60 und Stahlwaren. Das zukünftige Erzählen Lenardos wird sogar an die materialiter aufbewahrten Merkzeichen, an die übersandte Warenansamm lung gekoppelt. Das Souvenir wird so als Erinnerungsstück wörtlich genommen und zum Movens eines antizipierten Erzählens gemacht. Ähnlich wie die von Lenardo nach Hause geschickten Dinge sich bei den Daheimgebliebenen ansammeln, geschieht das mit den Briefen Makaries an ihre Nichten. Jene haben sich in einer veritablen Korrespondenz niedergeschlagen. Juliette betont die gute Ordnung, in der die Briefsammlung sich befindet. Damit erfüllt ihr Briefkonvolut die Kriterien einer Sammlung. Es ist geordnet und man kann auf die Briefe der vergangenen Jahre zurückgreifen, um sie vorzuzeigen: Mein [Juliettes] Vorschlag ist jedoch, ihm [Lenardo] unsere Korrespondenz dieser drei Jahre mitzuteilen […]. Ihre Briefe an mich, liebe Tante [Makarie], sind in der besten Ordnung und stehen gleich zu Befehl. Dieser Meinung tritt Hersilie nicht bei; sie entschuldigt sich mit der Unordnung ihrer Papiere usw. [!], wie sie Ihnen selbst sagen wird. (87; Hervorhebungen: M. B.)
Auch Hersilie scheint Briefe und andere Schriftstücke gehortet zu haben. Im Gegensatz zu Juliette ist sie jedoch nicht bis zu einer Sammlung gelangt, sondern bei einer reinen Ansammlung oder – wenn man so will – einer kleinen Aggrega tion von Briefen stehen geblieben, die nicht zum Vorzeigen geeignet ist. Die ›Wanderjahre‹ sammeln auch scheinbar Abwegiges. Gleichfalls in der Fischerknabenepisode wird gar ein Misthaufen als Sammlung präsentiert: […] Pflug und Egge, Wagen und Karren deuteten auf unmittelbare Benutzung, selbst der widrig anzuschauende Unrat schien das Unentbehrlichste im ganzen Kreise: sorgfältig war er gesammelt und gewissermaßen zierlich aufbewahrt. (295; Hervorhebungen: M. B.)
60 ›Was beliebt‹. Hier sei, so der Kommentar der Frankfurter Ausgabe, eine »Zusammenstellung modischer Kleinigkeiten« gemeint (FA I 10, S. 1060).
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Auffallend ist die ambivalente Haltung des Texts zu diesem ›widrig anzuschau enden Unrat‹, zum strikten Gegenteil einer ästhetischen Sammlung. Obwohl es klar ist, daß der Mist ökonomisch gesammelt wurde (etwa zum späteren Ausbrin gen auf eine Wiese), registriert der Text genau (wenn auch vielleicht ironisch: ›gewissermaßen‹ – denn er weiß, daß er sich nicht auf dem Gebiet etwa einer Kunstsammlung befindet –), der Unrat sei ›zierlich aufbewahrt‹, also durchaus in seiner Anordnung irgendwie hübsch anzuschauen. Die Ambivalenz steckt in der Diskrepanz zwischen ›widrig anzuschauend‹ und ›zierlich aufbewahrt‹. Darüber hinaus in dem Bewußtsein, es nicht mit einer auf Anschauung ausgerichteten Sammlung zu tun zu haben und dennoch das auf eine solche gemünzte Lob der schönen Anschaulichkeit anzuschlagen. Indem der Text den ›widrig anzuschau enden Unrat‹ gleichsam als ›sorgfältig gesammelt‹ und ›zierlich aufbewahrt‹ beschreibt und so als eine Sammlungsspielart inszeniert, eröffnet er den Blick auf ein ›anderes Archiv‹, auf das inoffizielle des zwar Alltäglichen aber Vergesse nen und Unausgesprochenen: Das Weggeworfene sammeln, das Wertlose aufbewahren und zeigen heißt die Rückseite jener offiziellen Kultur aufsuchen; es heißt fragen, was diese ausgrenzt und verschmäht, um so die ›bedeutenden‹ von den ›unbedeutenden‹ Dingen und die ›wirkliche Sammlung‹ von der ›bloßen Ansammlung‹ zu unterscheiden. Die Literatur ignoriert diese Trennlinien. Ihre Aufzählungen von unbrauchbaren und alltäglichen Dingen sind imaginierte komple mentäre Museen.61
Das letzte Beispiel, das hier erwähnt werden soll, steht in der ›Neuen Melu sine‹. Das in Rede stehende »Warenlager« (398) entspringt einem ökonomischen Sammeln. Sogar eine solche ökonomische Sammlung, die nicht zur Anschauung zusammengetragen wurde, ist der Erwähnung wert: »du würdest erstaunen« (398) gibt Melusine ihrem Mann in diesem Zusammenhang zu bedenken. Im weiteren Verlauf wird auf ästhetische Sammlungen eingegangen. Felix etwa erfreut sich an einer Gesteinsansammlung und formt daraus durch sein selektives Eingreifen eine ästhetische Sammlung:62
61 Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 283 f. 62 Zu Goethes eigenen Mineraliensammlungen vgl. Hamm, der auch schildert, wie sich eine Bewegung weg von der privaten hin zur öffentlichen Sammlung abzeichnete. Diese Entwick lung ist interessant, da sie konträr zu der verläuft, die vorliegende Arbeit fürs Archiv skizziert hat. Das Archiv geht den Weg vom per definitionem Offiziellen, Institutionellen hin zum (auch) Privaten. ›Öffentlich‹ heiße nun aber nicht, daß jedermann Zugang gehabt hätte. Sammlungen wurden entweder Institutionen wie Universitäten zur Verfügung gestellt oder (als noch private) Fachleuten präsentiert. Dieser Übergang verlief nicht ohne Schwierigkeiten, bedeutete er doch auch ein Aufweichen von althergebrachten Besitzverhältnissen: »Öffentliche Sammlungen hat
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In der Ecke der Kapelle oder des Saals stand ein Kasten mit Steinen, welchen Felix, der seit unserer Wanderung durchs Gebirg eine gewaltsame Neigung zum Gestein bekommen, eifrig hervorzog und durchsuchte. Es waren schöne, in die Augen fallende Dinge darunter. Unser Wirt sagte, das Kind könne sich auslesen, was es wolle. Es sei dieses Gestein überblieben von einer großen Masse, die ein Fremder vor kurzem von hier weggesendet. (38 f.)
Felix’ Interesse am Gestein wird als ›gewaltsame Neigung‹ bezeichnet, die er – die Wortwahl erinnert an die Rede über eine Krankheit – ›bekommen‹ habe. Der Kasten jedenfalls, der die Steinansammlung (denn der Inhalt ist nur das vermut lich in Unordnung geratene Überbleibsel einer ›großen Masse‹, die bereits los geschickt wurde) enthält, wird emsig durchstöbert. Wilhelm stellt als Betrachter dieser Szene fest, daß ›schöne Dinge‹ darunter sind und der Wirt ermutigt das Kind sich ›auszulesen‹ was ihm zusage. Was Felix sich aussucht, verrät der Text indes sen nicht. Deutlich wird aber, wie eine Sammlung so behandelt wird, daß ein Aus schuß übrigbleibt, der sich als Akkumulation verstehen läßt. Felix’ Zugriff darauf, sein Herauspicken einzelner, wohl unter bestimmten Aspekten für ihn interessan ter Stücke, zielt nun wiederum in Richtung der Entstehung einer neuen ästhe tischen Sammlung. Sobald Felix den in der Textpassage erwähnten ›Fremden‹ (Montan alias Jarno) antrifft, packt er seine Schätze aus und zeigt sie vor: Fast eifriger als der Mundvorrat wurden die gesammelten Steinmuster von Montan und Felix ausgepackt. Der letztere hatte viel zu fragen, der erstere viel zu benennen. Felix freute sich, daß jener die Namen von allen wisse, und behielt sie schnell im Gedächtnis. (44; Hervor hebung: M. B.)
Nun wird auch klar, daß Felix in der Tat eine ästhetische Sammlung angelegt hat. Es ist die Rede von ›Steinmustern‹, d. h. er hat nicht einfach akkumuliert, sondern nach bestimmten, vorher festgelegten Kriterien ausgewählt und zusammengetra gen. Sowohl er als auch Montan scheinen von ihrer Steinsammeltätigkeit derart angetan zu sein, daß sie beide sofort ihre Exemplare hervorholen. ›Fast eifriger‹ als das Essen packen sie die Archivalien aus – beinahe überwiegt die Leiden schaft des spezifischen Sammelns sogar so Elementares wie Hunger und Durst.63
ten gesellschaftliche und epistemische Funktionen. Professoren mußten gezwungen werden, ihre Verpflichtungen anzuerkennen und ihre Schlüssel aufzugeben.« (Hamm, Ernst P.: Goethes Sammlungen auspacken. Das Öffentliche und das Private im naturgeschichtlichen Sammeln. In: Te Heesen, Anke & Emma C. Spary: Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschafts geschichtliche Bedeutung. Göttingen 2002. S. 85–114. Hier: S. 107). 63 Vgl. zum Essen im Angesicht von Sammlungen Wilhelm und Felix bei Makarie: »Felix ver zehrte sein Frühstück stehend, im Saal umherwandelnd und die ritterlichen Bilder über dem Getäfel neugierig betrachtend.« (130).
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Felix fragt, Montan erklärt (›benennt‹).64 Felix ist glücklich über das gelingende Füllen seiner Wissenslücken, merkt sich die ›Namen‹, memoriert sie ›schnell‹. In der nun zu untersuchenden Textstelle findet Wilhelm bei dem Pächter, den er besucht, zunächst nur eine Ansammlung von alten Gebrauchsgegenstän den vor, unter denen sich aber, der Text findet das erwähnenswert, auch neuere befinden: In saubern Räumen zeigten sich überall Gerätschaften, die schon einigen Generationen mochten gedient haben, untermischt mit wenigem Neuen. […] Diese Uhren hatten schon mancher Geburts- und Sterbestunde geschlagen, und was umherstand, erinnerte, daß Ver gangenheit auch in die Gegenwart übergehen könne. (160)
Obwohl es sich nur um eine Ansammlung handelt, denn das Vorhandene wird wohl im Lauf der Jahre nach und nach zusammengekommen sein, dient diese doch auch der Anschauung. Sie ›erinnert‹ an eine Kontinuität des Lebens, die Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden vermag. Das Vermischen von Altem und Neuem innerhalb der Sammlung, ihr Ineinanderübergehen findet sogar eine Entsprechung im Sammler selbst. Dazu kann man Walter Benjamin konsultieren, der vom Greisenhaften und vom Kindlichen im Sammler berichtet. Er beschreibt ersteres so: Zeitalter, Landschaft, Handwerk, Besitzer, von denen es [das Gesammelte] stammt – sie alle rücken für den wahren Sammler mit jedem einzelnen seiner Besitztümer zu einer magischen Enzyklopädie zusammen, deren Inbegriff das Schicksal seines Gegenstandes ist. […] Soviel von der magischen Seite des Sammlers, von seinem Greisenbilde könnte ich sagen.65
Das Kindhafte, das den Sammler gleichzeitig mit dem Greisenhaften durch dringe, so Benjamin, liege nun darin, daß z. B. der Kauf eines alten Buchs für den Sammler dessen (des Buchs) Wiedergeburt bedeute: Die Kinder nämlich verfügen über die Erneuerung des Daseins als über eine hundertfältige, nie verlegene Praxis. Dort, bei den Kindern, ist das Sammeln nur ein Verfahren der Erneue
64 Bei Sammlungen geht es immer auch um »die Benennung der Dinge und die Standardisie rung dieser Benennungen.« (Hamm: Goethes Sammlungen auspacken, S. 98). An dieser Textse quenz läßt sich auch vorführen, was Hamm im Kontext von Goethes Sammlungen formuliert: »Sammlungen hatten eine epistemische Funktion, sie waren ein Lager für nützliches Wissen. Für Goethe bedeutete Wissen vor allem im Zusammenhang zu verstehen. Eine Gebirgsart in einem Schrank erklärte sich nicht von selbst, sondern nur mit Hilfe ihrer Nachbarobjekte.« (Hamm: Goethes Sammlungen auspacken, S. 106. Kursivierungen im Original). 65 Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 389. Hervorhebung: M. B.
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rung, ein anderes ist das Bemalen der Gegenstände, wieder eines das Ausschneiden, noch eines das Abziehen und so die ganze Skala kindlicher Aneignungsarten vom Anfassen bis hinauf zum Benennen.66
Das von Benjamin geschilderte kindliche Sammeln hat auch eine von ihm nicht ausgesprochene aber wohl implizierte emotionale Färbung. Es ist beseelt von einer Zuneigung zum Gesammelten. Davon zeugt die liebevolle ästhetische Überarbeitung der Gegenstände. Tatsächlich betont auch der Besitzer der oben genannten Sachen Wilhelm gegenüber die zu seiner Ansammlung gehörende emotionale Involviertheit: Eine liebevolle Aufmerksamkeit auf das, was der Mensch besitzt, macht ihn reich, indem er sich einen Schatz der Erinnerung an gleichgültigen Dingen dadurch anhäuft. (160)
Ein liebevolles (d. h. wohl nicht wegwerfendes) Verhältnis zu den alltäglichen Dingen und daraus resultierend deren Sammlung mündet in einen angehäuf ten ›Schatz der Erinnerung‹. Diese Stelle changiert zwischen reiner Ansamm lung, d. h. wie die Dinge sich im Lauf der Zeit einfinden, und bewußter, weil zur Anschauung getätigter, ästhetischer Sammlung. Erst ein Reflexionsprozeß macht aus dem amorphen Haufen von Gegenständen einen geordneten und kontextrei chen ›Schatz der Erinnerung‹ ganz im Sinn der ›magischen Enzyklopädie‹, von der Benjamin spricht. Auch Sammlungsräume und -behälter werden in den ›Wanderjahren‹ thema tisiert.67 Der Text führt z. B. eine Bibliothek an (vgl. 64) und gestaltet das Haus des Oheims geradezu als einen Ort der Sammlungen: Der Diener weist darauf hin, daß Sprüche wie »Aufmerksamkeit ist das Leben!« und weitere »in den Feldern über den Türen eingeschrieben« (76) stehen. Selbst an kleineren Behältnissen mangelt es in den ›Wanderjahren‹ nicht. Man denke nur an die vielerlei auftau chenden Kästchen oder an die von der Baronin in Handarbeit hergestellte Brief tasche im ›Mann von funfzig Jahren‹.68 Im Text finden sich auch ästhetische Sammlungen par excellence nach Sommer. Dort wird Kunst, die ja zum Anschauen gemacht ist, ausdrücklich
66 Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 389 f. 67 Darunter läßt sich vielerlei verstehen: »Mit der unendlichen Vielfalt des Sammelbaren variiert auch die Art der Räume, in denen es untergebracht ist. Das reicht vom Schuhkarton im Kinderzimmer bis zum Natural History Museum in London.« (Sommer: Sammeln, S. 251). 68 Piper liest diese Brieftasche als textuelle Entsprechung der »container functions« von Pa raphrasen (Piper: Paraphrasis, S. 184). Auch Strobel betrachtet »Kästchen und Brieftasche […] als archivalische Medien, als Aufbewahrungsorte des Wertvollen.« (Strobel: Genealogie eines Archivromans, S. 116).
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zusammengetragen, um in und gleichzeitig mit einer Sammlung wiederum der Anschauung zu dienen. Mit anderen Worten: Dinge, die explizit zum Anschauen gemacht wurden, werden vereinigt an einem Ort, dessen Zweck die Ausstellung, das Zur-Schau-Stellen seiner Inhalte ist. Auch hiervon fahren die ›Wanderjahre‹ verschiedene Varianten auf. Es ist etwa an jene Kunstsammlung zu denken, auf die Wilhelm im Oheimbezirk trifft. Sie ist auf einem Schloß beheimatet, ihr Trä germedium sind die Wände: Eintretend in das Schloß, fand er [Wilhelm] die Wände der Hausflur auf eine eigene Weise bekleidet; große geographische Abbildungen aller vier Weltteile fielen ihm in die Augen; stattliche Treppenwände waren gleichfalls mit Abrissen einzelner Reiche geschmückt, und in den Hauptsaal eingelassen, fand er sich umgeben von Prospekten der merkwürdigsten Städte, oben und unten eingefaßt von landschaftlicher Nachbildung der Gegenden, worin sie gelegen sind, alles kunstreich dargestellt, so daß die Einzelnheiten deutlich in die Augen fielen und zugleich ein ununterbrochener Bezug durchaus bemerkbar blieb. (59)
Der Text betont einerseits die ›Einzelnheiten‹, also das Segmenthafte der Samm lung und andererseits legt er wert auf die Notiz, eine Art roter Faden durchziehe sie (›ein ununterbrochener Bezug‹).69 Dies zusammengenommen macht die durchaus affirmierte ›kunstreiche Darstellung‹ aus. Das Behältnis selbst, nämlich das Schloß, geht in der Betrachtung nahezu unter. Außer in den drei Einspreng seln ›Wände der Hausflur‹, ›stattliche Treppenwände‹ und ›Hauptsaal‹ findet es keine eingehendere Erwähnung. Zum Abschluß dieses Abschnitts sei noch auf die Sammlung des Anatomen verwiesen, die zwar aussieht wie eine Kunstsammlung, jedoch zur praktischen Anschauung angelegt wurde. Wilhelm wird von ihm in ein Zimmer geführt, das anmutet wie das eines »Bildhauers« und »rings umher mit Hoch- und Flachge bilden, mit größeren und kleineren Figuren, Büsten und wohl auch einzelnen Gliedern der schönsten Gestalten geziert war.« (355) Danach betritt er einen Saal, in dem er »die Wände durchaus mit anatomischen Zergliederungen ausgestat tet fand; sie mochten in Wachs oder sonstiger Masse verfertigt sein« (355). Der Anatom erläutert, hier sehe Wilhelm schätzenswerte Surrogate für jene Bemühungen, die wir, mit dem Widerwillen der Welt, zu unzeitigen Augenblicken mit Ekel oft und großer Sorgfalt dem Verderben oder einem widerwärtigen Aufbewahren vorbereiten. (355; Hervorhebungen: M. B.)
Diese Sammlung beherbergt künstlich hergestellte, plastische anatomische Anschauungsobjekte, die als Ersatz- oder Behelfsmittel (›Surrogat‹) dienen. Sie
69 Der Textausschnitt selbst ist ein ellenlanger Satz, figuriert insofern den ›ununterbrochenen Bezug‹ performativ und hat einen ›roten Faden‹ durchaus nötig.
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sollen früher oder später die anatomischen Präparate, die von den Körpern von Selbstmördern oder illegal beschafften Leichen stammen, ersetzen. Letztere haben den Nachteil, daß sie trotz Präparation dem ›Verderben‹ anheimfallen können und außerdem ein ›widerwärtiges Aufbewahren‹ heraufbeschwören. Die Körperteile als Ausgangspunkt für die eingelegten Präparate wurden teils unter gesellschaftlich nicht akzeptierten Bedingungen gewonnen, ihr Aufbewahren erinnert permanent an diese, archiviert gleichsam die teils gesetzeswidrigen Praktiken, die angewandt wurden, um ihrer habhaft zu werden.70 Anschließend an die Beobachtungen über das Sammeln und Sammlungen in den ›Wanderjahren‹ ist noch zu bemerken, daß der Text den Vorgang des Sammelns selbst nicht schildert. Möchte man ihn selbst als eine Ansammlung ansehen, so kann man sagen, er setze das Sammeln performativ um.
5. Erzählte Archive Nun werden jene Archive untersucht, von denen ›nur‹ erzählt wird, die im Text aber nicht raumgreifender sind als ein Begriff. Es geht also um Benennungen von Archiven. Darunter fallen einerseits Aufbewahrungsorte wie Galerien, Säle, Abteilungen, Kammern, Häuser, Magazine, Lager. Andererseits Aufbewahrungs modi wie z. B. Kataloge, Verzeichnisse, Kompendien, Jahrbücher, Tagebücher, Berichte, Briefbündel und Speisekarten aber auch solche, die nicht unbedingt mit Verschriftlichung zu tun haben, wie der Vorrat und das Magazin. Mehrfach ist in den ›Wanderjahren‹ von Galerien die Rede. So führt im Oheimbezirk ein Diener, der sich als Kustode betätigt unsern Freund [Wilhelm] in eine Galerie, worin bloß Porträte aufgehangen und gestellt waren, alles Personen, die im achtzehnten Jahrhundert gewirkt hatten, eine große und herrliche Gesellschaft; Gemälde so wie Büsten, wo möglich, von vortrefflichen Meistern. (76)
Dieser Galerie liegt ein klares Ordnungsschema zugrunde. Die ausgestellte Kunst gattung ist exklusiv die des Portraits, also die Darstellung von Einzelpersonen. Die geduldete Technik ist die der Malerei und die der Skulptur. Die Artefakte sind ›aufgehangen‹ bzw. ›gestellt‹, so wie es sich für die beiden verschiedenen
70 Vgl. zum Leichenklau, um anatomierbare Körper zu beschaffen: Baßler, Moritz: Goethe und die Bodysnatcher. Ein Kommentar zum Anatomie-Kapitel in den Wanderjahren. In: Von der Natur zur Kunst zurück. Gotthart Wunberg zum 65. Geburtstag. Hg.: Moritz Baßler, Christoph Brecht und Dirk Niefanger. Tübingen 1997. S. 181–199.
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Darstellungsarten gehört. Die obligatorischen Auswahlkriterien für die geschil derte Sammlung sind also erstens der Darstellungsgegenstand: Persönlichkeiten, deren Wirken im 18. Jahrhundert situiert war. Zweitens die Modi der Darstellung: Gemälde und Büste. Fakultativ kommt noch die Qualität der Ausführung bzw. die Prominenz des Künstlers hinzu: ›wo möglich, von vortrefflichen Meistern.‹ Später kehrt Wilhelm zu Tagesbeginn in dieselbe Galerie zurück, diesmal alleine, ohne Führung. Er stößt auf einen »Katalog« (91), der ihm »den erwünschten Auf schluß« (91) gibt. Nachdem der Text eine Galerie vorgeführt und die dazugehöri gen Produktions- und Auswahlkriterien reflektiert hat, reicht er in einem zweiten Schritt den Katalog nach, jenes Medium der Verständigung mit der Sammlung, das die dem Besucher fehlenden Informationen enthält.71 Neben der Galerie als Sammlungsort nennt der Text auch das Kabinett, in dessen Kontext Lenardo Archiv und Klima miteinander in Verbindung bringt. Der Kustode, dieser Fachterminus wird explizit angeführt, fällt überdies aus seiner Rolle, die darin besteht ›die auswendig gelernte Schnurre herzubeten‹, sobald er das ernsthafte Interesse des Besuchers erkennt: Ich erinnerte mich nämlich des großen Kabinetts dieser Art [von Wachskörperteilen und -präparaten zur anatomischen Anschauung], das ich auf meinen Reisen gesehen und welches mich dergestalt interessierte, daß der Kustode, der, um nach Gewohnheit fertig zu werden, die auswendig gelernte Schnurre herzubeten anfing, gar bald, da er der Künstler selber war, aus der Rolle fiel und sich als einen kenntnisreichen Demonstrator bewies. Der merkwürdige Gegensatz, im hohen Sommer in kühlen Zimmern, bei schwü ler Wärme draußen, diejenigen Gegenstände vor mir zu sehen, denen man im strengsten Winter sich kaum zu nähern getraut. Hier diente bequem alles der Wißbegierde. (363)
Der Kustode entpuppt sich als der Schöpfer der ausgestellten Gegenstände, die Sammlung stillt Lenardos Wissensdurst ›bequem‹. Dafür ist nicht zuletzt das dortige Klima verantwortlich. Trotz draußen vorherrschenden Hochsommers sind die Räume ›kühl‹, d. h. man findet ideale Bedingungen für die Aufbewah rung von Wachspräparaten und deren Betrachtung vor. Artgerechte Archivie rung, auch das weiß der Text und findet es erwähnenswert, hängt offensichtlich nicht zuletzt von scheinbar so nebensächlichen Dingen wie der richtigen Tempe ratur der Räume ab. Wie ein Sammler über seine Sammlung an sein Haus gefesselt ist, läßt sich am Beispiel des alten Pfandleihers anschaulich machen. Lenardo schickt Wilhelm zu diesem, den er gerne als Begleiter auf seiner Reise dabeigehabt hätte. Diese Begleitung hat der Pfandleiher aber versagt, da er »wundersam durch die schöns
71 Nach Kluge entlehnt aus dem griechischen ›katalégein‹, ›aufzählen‹ (vgl. Kluge: Etymologi sches Wörterbuch, S. 476).
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ten Kunst- und altertümlichen Seltenheiten [sic] an seine Wohnung geknüpft [ist], die er nur auf Augenblicke verläßt.« (156) Die Verantwortung für das Angehäufte fesselt den Bewahrer an das Behältnis, das Gebäude. Walter Benjamin sieht das Zusammengetragene gar in einen Bannkreis eingeschlossen: Es ist die tiefste Bezauberung des Sammlers, das einzelne in einen Bannkreis einzuschlie ßen, in dem es, während der letzte Schauer – der Schauer des Erworbenwerdens – darüber hinläuft, erstarrt.72
Die ›Wanderjahre‹ kehren diese Konstellation um. Sie zeigen, daß auch die Sammlung den Sammler an dem ihr eigenen Ort fixieren, ›erstarren lassen‹ kann. Ihr Ort schlägt den Sammler in seinen Bann. An anderer Stelle reflektiert der Text, wie eine Bildersammlung und das sie beinhaltende Gebäude die Bewohner zu formen im Stand ist. ›St. Joseph der Zweite‹ berichtet: »›[D]as Gebäude hat eigentlich die Bewohner gemacht.‹« (24) Er präzisiert seinen Gedanken: ›Aber schon als Kind erfreute ich mich besonders, über alles das Gehölz hin und her zu klettern und die Bilder zu betrachten, die mir niemand recht auslegen konnte. […] Mein Ver langen zog mich unwiderstehlich nach dem Zimmerhandwerke, wovon ich das Arbeitszeug so umständlich und genau, von Jugend auf, neben meinem Heiligen gemalt gesehen.‹ (27)
Nach den konkreten Gebäuden und Behältnissen geht es nun um Archivierungs arten, die auf das Medium der Schrift und einen Träger dafür rekurrieren. Bei spielsweise äußert Juliette über den Oheim, er behaupte, »eine der schönsten Erfindungen neuerer Zeit sei das Speisen nach der Karte« (79). Etwas anscheinend Selbstverständliches wie eine Speisekarte wird als ›eine der schönsten Erfindun gen neuerer Zeit‹ deklariert. Dies geschieht sogar wiederholt. Juliette und Hersilie erinnern Wilhelm wenig später an die Ansicht des Oheims, »keine Erfindung ver diene mehr Bewunderung, als daß man in Gasthäusern, an besonderen, kleinen Tischchen, nach der Karte speisen könne […]« (82). Selbst solche marginalen Ver zeichnisse vergißt der Text nicht, er betont sie vielmehr eigens, indem er sie im selben Kontext mehrfach erwähnt. Kluge zufolge leitet sich ›Speise‹ ursprünglich vom ökonomischen Begriff ›Spesen‹ her, ›Karte‹ wiederum trage die Bedeutung ›steifes Blatt‹;73 sich darauf beziehend wäre die Speisekarte ein Preisverzeich nis, das eine seiner materiellen Eigenschaften im Namen trägt. Grimm setzt die Speisekarte gleich mit einem »verzeichnis der erhältlichen Speisen in einer
72 Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 389. 73 Vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 473 & S. 863.
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wirtschaft.«74 – Es nimmt nicht wunder, daß der Text auch weitere Verzeichnisse wörtlich nennt. So fährt er etwa Preisverzeichnisse und ein Gästeverzeichnis auf.75 Zedler verwendet das Verzeichnis synonym mit ›Consignation‹ und rückt es so wieder in die Nähe des (offiziellen, amtlichen) Archivs.76 Darüber hinaus werden in den ›Wanderjahren‹ noch weitere Medien der Sammlung und der Archivierung archiviert. Dies gilt für ein »Heft Briefe« (81) ebenso wie für einen »Briefwechsel« (84), die »Jahrbücher[ ] des Zwergenreichs« (400) in der ›Neuen Melusine‹ und ein »Tagebuch[ ]« (448). Im ›Mann von funfzig Jahren‹ wird eine »Sammlung von Poesien« (209) erwähnt. Diese Sammlung bringt auf den Punkt, was die anderen eben genannten Textbelege eint: es geht um eine Zusammenstellung von Vielfältigem und um Pluralität. Genauso bezieht sich die erwähnte Speisekarte auf mehrere zur Disposition stehende Speisen, das ›Heft Briefe‹ als ein gebündeltes Briefkonvolut ebenso wie der ›Briefwech sel‹ auf mehrere Briefe, die ›Jahrbücher‹ auf das Archivieren von Ereignissen und ihres historischen Kontexts, das ›Tagebuch‹ auf eine wahrscheinlich chronologi sche Archivierung einer Unzahl von Erlebnissen.77 In der Spruchsammlung ›Aus Makariens Archiv‹ kommen auch noch »Kompendien« zur Sprache.78 Ging es bisher um Modi der Aufbewahrung zur Konservierung oder Veran schaulichung, so soll es nun um die Archivierung um des zukünftigen Konsums oder Gebrauchs willen gehen, um im Text erwähnte Vorräte und Magazine. Der von Lenardo und Wilhelm besuchte Gutspächter etwa äußert sich über eine seiner Schwächen, die in der Bevorratung von Werkzeug liege.79 Diese ›schwache
74 Grimm, Bd. 16, Sp. 2106. Hervorhebung: M. B. 75 In Lenardos Rede: »Muster aller Art und Preisverzeichnisse« (419). Außerdem erwähnt der Re daktor, sich an den Leser wendend, ein »Verzeichnis[ ] der Gäste« (472). Er meint damit eine von ihm eingeschaltete raffende Sequenz, in der er die Romanfiguren aufzählt und verortet. Grimm zufolge kann das Verzeichnis auch verstanden werden als »aufzählung, zusammenstellung, liste von personen und sachen, bzw. namen, wörtern, gedanken u. dgl.« (Grimm, Bd. 25, Sp. 2508). 76 »Consigniren, besiegeln, versiegeln, verzeichnen, in Schrifft bringen, an einen schicken, überliefern, übersenden, einhändigen lassen.« (Zedler, Bd. 6, S. 532, Sp. 1033). 77 In ›Lenardos Tagebuch‹ tritt das Tagebuch dem Leser der ›Wanderjahre‹ gar als Kapitelüber schrift gegenüber. 78 »Denn sie [die Wissenschaften] sind eigentlich Kompendien des Lebens; sie bringen die äu ßern und innern Erfahrungen ins allgemeine, in einen Zusammenhang.« (508, AMA 76). Der Kommentar der Frankfurter Ausgabe versteht darunter Abrisse, Leitfäden und kurzgefaßte Dar stellungen (vgl. FA I 10, S. 1263). Der Begriff hat darüber hinaus einen Einschlag ins Buchhafte, benennt also zugleich die Materialität seines Mediums. 79 Mit Eco kann man in diesem Fall von einer zwanghaften Sammlung sprechen (vgl. Eco: Die unendliche Liste, S. 67).
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Seite‹ sei begründet in der Spezialisierung auf einen ›Gegenstand‹, was wohl als Beruf, Gewerbe oder Interessengebiet verstanden werden darf: ›Nun muß ich Ihnen aber auch meine schwache Seite zeigen, die freilich an jedem zu bemer ken ist, der sich einem Gegenstand ausschließlich ergibt.‹ Er führte sie auf seinen Hof, zeigte ihnen seine Werkzeuge, den Vorrat derselben sowie den Vorrat von allem erdenk lichen Geräte und dessen Zubehör. (152; Hervorhebungen: M. B.)
Der Pächter zeigt erst sein Werkzeug vor, dann einen doppelt betonten Werk zeugvorrat und schließlich noch einen solchen an Geräten und Zubehör. Weshalb diese Art der Bevorratung als Spleen dargestellt wird, macht der Text nicht klar. Vielleicht geht es um eine Fetischisierung oder Überbewertung der Werkzeuge, die eigentlich im täglichen Gebrauch vernutzt werden sollen und so – durch die Bevorratung – der ihnen zugedachten Funktion verlustig gehen, indem sie brach liegen. Dann hätte die Rede von der ›Schwäche‹ einen ökonomischen Hinter grund. Es könnte sein, daß der Pächter ein schlechtes Gewissen hat, da er finanzi elle Mittel in einen überflüssigen oder vielleicht übergroßen Vorrat gebunden hat, die er besser in die unmittelbare Bewirtschaftung seiner Pachtgüter einfließen lassen sollte. Der Text demonstriert in dieser Lesart mit seismographisch genauer Aufmerksamkeit für Kippunkte des Sammelns das Umschlagen einer eigentlich wünschenswerten gemessenen Bevorratung (z. B. um schnell Ersatz für zu Bruch Gegangenes leisten zu können) in einen als deviantes Verhalten ausgezeichneten Bevorratungswahn (wahrscheinlich aus reiner Freude an der Vielzahl der Dinge), der schon Züge einer ästhetischen Sammlung im Sinn Sommers trägt.80
6. Exkurs Ordnungsphantasie II: Magazin Der Begriff Magazin liefert ein anschauliches Beispiel dafür, wie deutungsbe dürftig die Archivsorten in den ›Wanderjahren‹ sind. Seiner scheinbaren Klarheit stehen vielfältige Verwendungsmöglichkeiten entgegen, welche sogar histori schen Konjunkturen unterliegen. Wörtlich tritt das Magazin in den ›Wanderjahren‹ in der Spruchsammlung ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ auf. Dort heißt es:
80 Hier geht es dann bereits um ein Sammeln um der Anschauung willen. Wie ein Vorrat sonst zu verstehen ist, verdeutlicht Lenardo. Er berichtet von reisenden Geschäftsmännern, welche »jederzeit einen großen Vorrat von Abschiedskarten mit sich führen.« (422) In diesem Kontext dient der Vorrat, wie auch das »Warenlager« (398) in der ›Neuen Melusine‹ der Aufbewahrung zum zukünftigen Konsum.
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Einen Irrtum nenn ich, wenn irgendein Ereignis falsch ausgelegt, falsch angeknüpft, falsch abgeleitet wird. Nun ereignet sich aber im Gange des Erfahrens und Denkens, daß eine Erscheinung folgerecht angeknüpft, richtig abgeleitet wird. Das läßt man sich wohl gefallen, legt aber keinen besondern Wert darauf und läßt den Irrtum ganz ruhig daneben liegen; und ich kenne ein kleines Magazin von Irrtümern, die man sorgfältig aufbewahrt. (326, BSW 113; Hervorhebungen: M. B.)
Hier bleibt offen, ob es um schriftliches oder dingliches sorgfältiges Aufbewahren geht. Dies entspricht dem ambivalenten Gebrauch des Begriffs ›Magazin‹ bei Karl Philipp Moritz. Dessen sich als provisorisch ankündigender ›Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde‹ (1782) ist geprägt von einer Sensibilität für Ordnungskonzepte bzw. Aufbewahrungsmodi – das nähert ihn den ›Wanderjah ren‹ an. Mehr noch: der Text scheint seinem Verfasser unter der Hand zu einem handfesten archivtheoretischen Traktat zu geraten. Bereits der Titel verweist auf das Archiv, indem er den Begriff ›Magazin‹ anführt. Zu Moritz’ Zeit war die Auf fassung von ›Magazin‹ als Heft noch weniger selbstverständlich als jetzt.81 Diese Bedeutungsvariante kategorisiert das Fremdwörterbuch auch heute noch erst an vierter Stelle. Unter 1. notiert es ›Vorratshaus‹, unter 2. ›Lagerraum (für Bücher)‹ und unter 3. ›Laden‹.82 Die Verwendung des Begriffs unterliege historischen Kon junkturen, so das ›Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft‹. Es fährt fort: »gelegentlich trugen Periodika mit ausgeprägtem Magazincharakter auch funktional äquivalente Namen wie Archiv, Bibliothek oder Museum.«83 Weder bei Adelung noch im Grimmschen Wörterbuch noch bei Zedler findet sich auch nur ein einziger Hinweis auf eine Gleichsetzung oder auf eine Engfüh rung von Heft bzw. noch weiter gefaßt: Schriftmedium oder Text und Magazin. Der Begriff war hauptsächlich als Behälter bekannt – wenn auch in unterschied lichsten Ausprägungen. Nach Adelung ist ein Magazin:
81 »[A]ls Bezeichnung für eine Zeitschrift bzw. als Bestandteil des Zeitschriftentitels setzte sich das Magazin in der Mitte des 18. Jhs. unter dem Einfluß der Rezeption englischer Vorbilder durch.« (Weimar: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II: H–O. S. 524. Kursivie rung im Original). 82 Duden. Das Fremdwörterbuch. 5. Aufl. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1990. S. 471. 83 Weimar: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II: H–O. S. 524. Kursivierun gen im Original. Vgl. etwa Wolf, Friedrich August: Museum der Alterthums-Wissenschaft. Ers ter Band. Berlin 1807; oder den Titel ›Deutsches Museum‹ (Hg.: Friedrich Schlegel. Erster Band. Wien 1812); schießlich die Zeitschrift ›Mannigfaltigkeiten. Eine gemeinnützige Wochenschrift mit Kupfern.‹ (Hg.: Friedrich Heinrich Wilhelm Martini. Erster Jahrgang. Berlin 1770).
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Ein Behältniß, es sey nun ein Zimmer oder ein eigenes Gebäude, in welchem gewisse Dinge in Menge zum künftigen Gebrauche aufbehalten werden; eine Vorrathskammer, ein Vor rathshaus.84
Die Größe des Behälters kann von der einer Tasche bis zu der eines ganzen Hauses variieren – das Magazin als Gebäude rückt dann ganz in die Nähe von Derridas arché. Insofern darf man das Moritzsche Magazin wörtlich nehmen als konkre ten, materialiter gegebenen Vorratsbehälter. Wenn Moritz nun seine Zeitschrift ›Magazin‹ nennt, und es ganz in der Inten tion seines Texts liegt, daß Fakten in großer Menge zunächst ungeordnet nie dergelegt werden, um später auf sie zurückgreifen zu können, dann bewegt er sich exakt im Wortsinn des Begriffs. Es geht um eine Art Behältnis, in das Dinge ›in Menge zum künftigen Gebrauche‹ eingelagert werden.85 Auch gesteht er der Vertextung von Wissen, also dem Medium und dessen Aufnahme in eine Zeit schrift, genau jene Materialität zu, die der Lexikoneintrag im Zusammenhang mit dem Haus oder der Tasche mittransportiert. Die Zeitschrift in ihrer Schriftlichkeit wird von Moritz explizit und vorsätzlich gleichzeitig als Behälter gedacht, in den eben nicht nur Plangeschliffenes und Dichtung Eingang finden, sondern auch die Vielfältigkeit, die Redundanz und die Marginalie – immer mit dem Gestus, es könne sein, daß man später noch einmal darauf zurückgreife, um die Inhalte fruchtbar zu machen. Moritz scheint den Terminus Magazin also nicht gewählt zu haben, um lediglich ›Heft‹ zu sagen, sondern vor allem um das Zusammen tragen, Sammeln, die Bevorratung zu späterer Bearbeitung in aller Vorläufigkeit zu betonen. Sein ›Vorschlag‹ enthält jedoch noch weitere konkrete Überlegungen zur Archivierung. Zunächst wird Krankheit als Auswahlkriterium für Aufmerksamkeit statuiert. Was für körperliche Gebrechen gilt, so Moritz, sollte für seelische nicht minder gelten. Sie seien einer »Untersuchung wert zu halten«,86 müssen zuerst einmal
84 Adelung, Teil 3: M–Scr, Sp. 12. Hervorhebungen: M. B. Zedler zählt unter dem Stichwort Magasin, Magazin drei Verwendungen des Begriffs auf: (1) die Tasche am Reisewagen; (2) das Magazin als Speicher für Waren der Kaufleute; (3) Kriegsmagazine, in denen Vorräte für einen eventuell eintretenden Krieg lagern (vgl. Zedler, Bd. 19, S. 143, Sp. 217 ff.). 85 Sprache und Magazin führt hingegen Wolf (vermutlich 1785) in einer Handschrift eng: »Die Spr[achen] im Ganzen sind die Magazine aller Intellektalideen, aller Gedankenformen u. aller Mittel u. Werkzeuge ihrer Auflösung u. Zusammensetzung« (Wolf, Friedrich August: Idee und Grundriß einer Encyklopädie der Alten Litteratur – Zu Vorlesungen [Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. Wolf Bd. XXXII, 1]. In: Markner & Veltri: Friedrich August Wolf, S. 56). 86 Moritz: Vorschlag, S. 793.
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beachtet, dann beobachtet, beschrieben und der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Moritz fragt: Wie hätte dem Übel noch beizeiten vorgebeugt, der Schaden noch geheilt werden können? An welcher Nachlässigkeit im Besichtigen und Verbinden lag es, daß er so weit um sich griff, bis kein Rettungsmittel mehr fruchten wollte?87
Das Versäumnis im ›Besichtigen und Verbinden‹ ist nicht nur im medizinischen Bild aussagekräftig, die Begriffe sind ambivalent. ›Besichtigen‹ kann man als ›beobachten‹ oder sogar als ›lesen‹ deuten und ›verbinden‹ ist eben nicht nur im Kontext von Verbandsmull denkbar, sondern läßt sich auch als ›verknüpfen‹ ver stehen. Diesen Themen wendet sich Moritz nun zu. Er entfaltet sein Verständnis von Archivierung, das auf das Beobachten, Niederschreiben und Anordnen mit den dazugehörigen Verknüpfungen basiert. Die Argumentation des Texts eröff net mit einer auffälligen Verschränkung des medizinischen und des Archivdis kurses. Eine dringend notwendige »Seelenkrankheitslehre«, so Moritz, gebe es noch nicht, weil eine solche wohltätige Wissenschaft die ganze Aufmerksamkeit des menschlichen Geistes eine lange Reihe von Jahren hindurch erfordert; weil sie noch tausendmal mehr Beobachtungen und Erfahrungen, als die Arzneikunde, voraussetzt; weil die besten Köpfe, welche ein Jahrhundert hervorbringt, sich dazu verbinden müßten […].88
›Verbinden‹ wird hier synonym mit ›vernetzen‹ verwendet, ohne das psycholo gisch-medizinischer Fortschritt aufgrund der zu bewältigenden Datenmengen nicht denkbar wäre. Meine These ist nun, daß sich auch hier – analog zum ›Plu ralitätsbefund‹ aus den ›Wanderjahren‹ – ein ganzes Wortfeld ausmachen läßt, das in Texten auf den Plan zu treten scheint, die mit empirischer Breite, Samm lungen und Vollkommenheitsbegehren, kurz mit Archivierung umgehen. Dazu zählen häufig auftauchende Zahlwörter wie etwa ›tausend‹, das sich in der kurzen Schrift nicht weniger als fünf Mal findet, ohne auch nur ein einziges mal wirklich die Zahl tausend zu meinen. Vergleichbares gilt für Begriffe, wie ›alle/alles‹89 etc.,
87 Moritz: Vorschlag, S. 793. Hervorhebungen: M. B. 88 Moritz: Vorschlag, S. 794. Hervorhebung: M. B. 89 Vgl. auch einen Brief Goethes über das Ordnen seines schriftlichen Nachlasses und sein Privat archiv vom 8. September 1822 an Cotta: »Es ist diesen Sommer eine Repositur zusammengestellt worden, worin alles enthalten ist was jemals Gedrucktes und Ungedrucktes von Werken, Schrif ten, Arbeiten und Vorarbeiten von mir ausging; wo alle Tagebücher zu Haus und in der Fremde, alle Fragmente und, was mehr wert ist, seit gewissen Jahren sämmtliche an mich erlassene Briefe und die bedeutendsten von mir ausgegangenen in einigen Schränken aufbewahrt sind.« (Zit. n.:
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›mannigfaltig‹ und ›ganz/ganze‹.90 Solche Ausdrücke simulieren Pluralität bzw. ein Ganzheitsbegehren, das nur asyndetisch oder in Form einer Ganzheitsmetaphorik erfüllt werden kann. Erst aus der passenden Verknüpfung der verschiede nen Beobachtungen lasse sich, so Moritz zuversichtlich, ein wirklicher Fortschritt generieren: Aus den vereinigten Berichten mehrerer sorgfältiger Beobachter des menschlichen Herzens könnte eine Erfahrungsseelenlehre entstehen, welche an praktischem Nutzen alles das weit übertreffen würde, was unsre Vorfahren in diesem Fache geleistet haben.91
Moritz bewahrt bei aller Euphorie für die große, von einem Beobachterkollek tiv zusammengetragene Datenmenge eine bemerkenswerte Sensibilität für die Betroffenen. Das unterscheidet seinen Blick aufs Ganze von der weiter oben explizierten Liste, die den einzelnen aus ihrer Logik heraus nur als einen abzuar beitenden Punkt aufführt. Moritz hält trotz der angestrebten empirischen Breite ganz dezidiert das Interesse am Individuum und den Respekt vor ihm aufrecht. Er registriert, daß man auf Öffentlichkeit, auch Veröffentlichungen angewiesen ist, um helfen zu können. Genauso wichtig ist ihm aber, diejenigen, denen geholfen werden soll, nicht wegen ihrer Krankheit zu stigmatisieren: Wer aber wird solche traurige Beobachtungen, die er an Kindern, Verwandten oder Freun den gemacht hat, öffentlich drucken lassen, und dadurch jene Unglücklichen noch der öffentlichen Schande aussetzen?92
Moritz pariert diese Frage nach dem Problem der Publizität, indem er vorschlägt, die Daten zu anonymisieren.93 Damit steigt er dezidiert in die Fachterminologie des Archivs ein: »Dann dürfen ja auch nur die Fakta ohne die Namen der Perso
Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 63. Hervorhebungen: M. B.). – Goethe unterstreicht das archivalische Komplettierungsstreben mit dem beschwörend wirkenden wiederholten Gebrauch des Wortes ›alles‹. Dieses vielleicht naiv anmutende Verlangen nach Vollständigkeit, die Forde rung, alles zu berücksichtigen, erfährt heute eine unerwartete Aktualisierung. Groys formuliert, das Archiv habe einen »Vollständigkeitsauftrag: Es soll alles das sammeln und repräsentieren, was sich außerhalb dieses Archivs befindet.« (Groys, Boris: Der submediale Raum des Archivs. In: Ebeling & Günzel (Hgg.): Archivologie, S. 139–151. Hier: S. 141. Hervorhebungen: M. B.). 90 Textbelege, jeweils für den genannten Begriff und seine Variationen: ›tausend‹: S. 793, 794, 796, 799, 800; ›alles‹: S. 793 (4 ×), 794 (4 ×), 797 f. (3 ×), 799, 801 (2 ×), 803 f. (4 ×), 805, 809; ›ganz‹: S. 794, 797, 799, 801, 807 f. (2 ×); ›mannigfaltig‹: S. 793 (2 ×), 794, 807 – die Seitenzahlen beziehen sich auf Moritz: Vorschlag. 91 Moritz: Vorschlag, S. 794 f. Kursivierung im Original. 92 Moritz: Vorschlag, S. 795. 93 Hier wird die Liste dann doch noch zum Hilfsmittel, um die Probanten zu schützen.
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nen erzählt werden«.94 Eine solche anonymisierte Narration – Moritz verwendet im medizinisch-wissenschaftlichen Kontext den Terminus ›erzählen‹ – wirkt sich jedoch problematisch auf die Gewährleistung der Evidenz des Archivierten aus: »ob es gleich in sehr wichtigen Fällen besser wäre, wenn auch diese [die Namen] als Belege der Wahrheit mit angeführt würden.«95 Moritz schwankt zwischen einer Anonymisierung der Daten zum Schutz des Einzelnen und der Publikation von Individuellem, um die gewonnenen Erkenntnisse plausibel zu machen. Nach der Erhebung sind die Beobachtungen jedenfalls zunächst ohne weitere Deutung der Phänomene zusammenzuführen: Alle diese Beobachtungen erstlich unter gewissen Rubriken in einem dazu bestimmten Magazine gesammlet, nicht eher Reflexionen angestellt, bis eine hinlängliche Anzahl Fakta da sind, und dann am Ende dies alles einmal zu einem zweckmäßigen Ganzen geordnet, welch ein wichtiges Werk für die Menschheit könnte dieses werden!96
Moritz baut darauf, daß die Daten sich über die Quantität selbst anordnen: In diesem Magazin könnte zuerst vieles gesammlet werden, was hin und wieder in Büchern zerstreut ist, und grade hieher gehört. Dann müßten aber schlechterdings nur wirkliche Fakta darin abgedruckt werden, und wer sie einsendete, müßte der Versuchung widerstehn, Reflexionen einzuweben, so würde es sich vielleicht von selber fügen, daß mehrere nach und nach eingesandte Fakta einen bisher zweifelhaften Satz endlich bestä tigen, oder einen andern einschränken, oder wiederum einen fälschlichbehaupteten ganz aufheben könnten.97
Das klingt wie die Selbstheilungskraft eines Organismus. Ähnliches, nur auf die Lektüre gemünzt, findet man auch in den ›Wanderjahren‹. In einem Brief an Natalie schildert Wilhelm die Geschichte vom Fischerknaben Adolf. Die Reihen folge spiele in seiner »umständlichen Erzählung« (304), so Wilhelm, überhaupt keine Rolle: Bei dem Mannigfaltigen, was mir noch zu sagen übrigbleibt, habe ich die Wahl, was ich zuerst vornehmen will; aber auch dies ist gleichgültig, Du mußt Dich eben in Geduld fassen, lesen und weiter lesen, zuletzt wird denn doch auf einmal hervorspringen und Dir ganz natürlich scheinen, was mit einem Worte ausgesprochen Dir höchst seltsam vorgekommen wäre, und zwar auf einen Grad, daß Du nachher diesen Einleitungen in Form von Erklärun gen kaum einen Augenblick hättest schenken mögen. (305; Kursivierung im Original)
94 Moritz: Vorschlag, S. 795. Hervorhebungen: M. B. 95 Moritz: Vorschlag, S. 795. Hervorhebung: M. B. 96 Moritz: Vorschlag, S. 797. Hervorhebungen: M. B. 97 Moritz: Vorschlag, S. 797. Kursivierung im Original. Fettdruck: M. B.
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Auch aus Wilhelms ›Leseanleitung‹ spricht das Vertrauen auf eine Selbstorgani sationskraft des in Masse vorhandenen Materials. Man muß, so der Tenor, nur geduldig sein, seine Lektüre unbeirrt vorantreiben, so wird schließlich – deut licher als Hinführungen es je hätten bewerkstelligen können – ›hervorspringen‹ und einleuchten, was zu umschreiben nicht gelungen wäre. Dabei schwingt auch etwas Sprachskepsis mit. Wilhelm mag ausdrücklich nicht auf den passenden Begriff (›mit einem Worte‹) vertrauen. Er greift auf ein eigenes Verfahren mit vielen auseinanderliegenden Ansatzpunkten zurück, ver sucht, »ringsumher nach vielen Punkten hinzuwirken, damit man sie in einem Brennpunkte zuletzt abgespielt [sic!] und zusammengefaßt erkenne« (304 f.; Kur sivierung im Original) – das Grundthema lautet wieder Zerstreuung und Samm lung. In diesem Fall wird die Zerstreutheit aber nicht als ursprünglicher, beängsti gender oder minderwertiger behandelt, sondern als etwas in einem ersten Schritt aktiv Anzustrebendes. Erst die kognitive bzw. intellektuelle Fähigkeit der ›richti gen‹ Lektüre sammelt dann wieder und bringt das Erfaßte auf den ›Brennpunkt‹. Die Vielheit von noch zu Sagendem sowie das ›Hervorspringen‹ einer Einsicht daraus erinnern zudem an die Quecksilbermetapher und Angelas gleichlautende Formulierung. Es geht bei Moritz wie auch bei Goethe um eine ungemeine Eigenproduktivi tät des Stoffs, die durch das Zutrauen in das Funktionieren, Lebendigwerden und Wachsen des Gesammelten entsteht. Dazu ist es wichtig, bestehende Lücken im System ernst zu nehmen, d. h. gelten zu lassen und nicht durch voreilige Schlüsse zu schließen: [B]is zu welcher Vollkommenheit könnte es gebracht werden! keine Nazion [sic] hätte dann vielleicht ein ähnliches aufzuweisen. Diese Wissenschaft würde sich auf die Weise allmäh lich selber bilden, und wie fest würde dies Gebäude werden, wo die Lücken nicht durch leere Spekulazionen zugestopft, sondern durch Tatsachen ausgefüllt würden!98
Auf Moritz’ in exklamativer Rede dargebrachte Intention, Lücken bzw. Leerstel len nicht nur auszuhalten, sondern sie als conditio sine qua non unvollendeter Sammlungen zu verstehen, trifft zu, was Pethes für Goethes Aufsatz ›Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt‹ herausgearbeitet hat: »Das unverknüpfte
98 Moritz: Vorschlag, S. 798. Die Wortwahl erinnert an Goethes Mahnen gegen das Beiseitebrin gen von Phänomenen. Es ist ihm ein Graus, »daß die Menschen lieber durch eine allgemeine theoretische Ansicht, durch irgendeine Erklärungsart die Phänomene beiseite bringen.« (FA I 23/1, S. 23). Auch im Historischen Teil der ›Farbenlehre‹ agitiert er mit dieser Formulierung da gegen, daß Theorien darauf abzielen »die Phänomene bei Seite zu bringen, die Aufmerksamkeit von ihnen abzulenken, ja sie wo möglich aus der Natur zu vertilgen.« (FA I 23/1, S. 602).
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Nebeneinander der Beobachtungsdaten ist nicht etwa Schwäche, sondern Stärke einer Versuchsanordnung.«99 An die Deutung des Gesammelten denkt Moritz’ Text noch nicht. Als Ziel, als Perspektive hält er eine Vollendung der Sammlung für möglich, zumindest anstrebbar.100 Wiederholt formuliert er sein Zutrauen in die Selbstorganisation eines Konglomerats von zusammengetragenen Wissens fragmenten. Wer die Unsicherheit fehlender Verknüpfungen und eines damit einhergehenden ›Schwankens‹ des Systems auszuhalten vermag, dessen Warten wird, so Moritz, durch das ›gleichsam sich selber Ziehen‹ der Verbindungen belohnt: [A]ber man muß dies System auch so schwankend, wie möglich nehmen; bloß einige Punkte festsetzen, aber noch nicht von einem Punkte zum andern Linien ziehen, sondern nun warten, bis diese Linien gleichsam sich selber ziehen.101
In einem solchen ›System‹ finden auch irrige Annahmen oder Schlußfolgerungen ihren Platz, denn der Irrtum selbst hat nachher seine Vorteile; man muß nur nicht gleich im Anfange etwas fest setzen, sondern sich nur gleichsam erst einen ohngefähren Grundriß zu seinen künftigen Beobachtungen entwerfen.102
Zu den beiden bislang verhandelten medizinischen und archivalischen Diskur sen gesellt sich nun noch der literarische. Und zwar auf zwei Arten: Zunächst proklamiert Moritz, eine konsequent betriebene Wissenschaft der Erfahrungs seelenkunde ermögliche es endlich, nicht mehr auf »Erdichtungen« angewiesen zu sein, wenn man zur »Kenntnis den menschlichen Herzens« gelangen wolle. Vielmehr könne man dann auf die »erste[ ] Quelle«,103 die magazinierten Daten
99 Pethes: Zöglinge der Natur, S. 325. Vgl. auch Simmel, der feststellt, Goethe habe ein Sensori um gehabt für eine »Gefahr der Systematik«. Er habe bemerkt, »daß das System, wegen seiner logisch geschlossenen, bequem zu handhabenden Form sozusagen um seiner selbst willen ge sucht und namentlich festgehalten wird und uns hindert, dem jeweiligen Verhalten der Dinge vorurteilslos und anschmiegsam nachzugehen; so daß ihm das System ganz einfach zum Ge genteil der Sachlichkeit und selbstlos gesuchten Wahrheit wird […].« (Simmel, Georg: Goethe. Leipzig 1913. S. 80). 100 »Dann ist es vollendet, wenn alle Ausnahmen bemerkt sind, wenn die Fakta sich immer so einfinden, daß sie keine Ausnahmen mehr von der Regel machen.« (Moritz: Vorschlag, S. 798). 101 Moritz: Vorschlag, S. 798 f. Hervorhebung: M. B. 102 Moritz: Vorschlag, S. 806. Vgl. dazu Goethe in der ›Farbenlehre‹: »Denn jedes neue Verhält nis, das an den Tag kommt, jede neue Behandlungsart, selbst das Unzulänglichste, selbst der Irrtum ist brauchbar, oder aufregend und für die Folge nicht verloren.« (FA I 23/1, S. 293). 103 Alle drei Zitate: Moritz: Vorschlag, S. 798.
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also, zurückgreifen. Zum andern entstehe durch die Vervollkommnung und Pub likation dieser Wissenschaft auch für die Poeten ein wichtiger Bezugspunkt mit den Eigenschaften eines Materialfundus: Das Nachbeten und Abschreiben in den Werken des Geistes wird aufhören, und der Dichter und Romanenschreiber wird sich genötigt sehn, erst vorher Erfahrungsseelenlehre zu stu dieren, ehe er sich an eigne Ausarbeitungen wagt.104
Hier wird unverkennbar ein scheinbarer Originalitätstopos als fingiert entlarvt und problematisiert. Erst der Rückgriff aufs Archiv ermögliche wieder originelle und originale Dichtung und mache Plagiate oder sklavisches Paraphrasieren endlich obsolet. Moritz postuliert eine Originalität aus dem Archiv, weitab vom Geniegedanken. Empirie und kollektiv zusammengetragenes Wissen deklariert er als die besten Freunde des Autors. Von diesem wird jetzt auch verlangt, fundier tes Wissen nicht nur zu verarbeiten, sondern zu präsentieren. Das ›Magazin für Erfahrungsseelenkunde‹ nutzt der Menschheit ebenso gesundheitlich wie auch für die poetische Produktion als origineller Stofflieferant bei gleichzeitiger sach licher Richtigkeit. Was Goethe als Aggregat bezeichnet, scheint Moritz als Magazin zu fassen. Goethes Aggregatverständnis leitet sich aus naturwissenschaftlichen und philo sophischen Überlegungen ab und wird zur Umschreibung eines Romans heran gezogen. Dabei geht ihm freilich der in Moritz’ Schriften mitschwingende ethi sche Anspruch ab. Moritz’ Nachdenken über sein Magazin nimmt den Ausgang dagegen in Reflexionen zu einer medizinischen Problemstellung. Unter der Oberfläche läuft ihm ein regelrechter Archivdiskurs parallel. Sowohl Moritz’ als auch Goethes Konzept ringen um einen angemessenen Modus der Archivierung von Disparatem und Kollektivem in einem provisori schen Schwebezustand: dem des Ungeordneten. Das Niedergelegte soll beweg lich bleiben, die Daten sollen nicht zu einem System verkrusten, ihnen wird keine Form aufoktroyiert. Beides, der Aufbewahrungsmodus des Aggregats und jener des Magazins, mündet in Ideen zur künstlerischen Anwendung des Gefundenen. Und beide Konzepte weisen frappierende Koinzidentien hinsichtlich der Selbst anordnungskraft des Materials sowie der Produktivität von Lücken auf. Vor allem aber eint sie das bewußte Aushalten des Schwankens, welches der Sammlungsor ganisation zugestanden wird.
104 Moritz: Vorschlag, S. 798. Kursivierung im Original.
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Pethes zieht hier eine Trennlinie zwischen naturwissenschaftlicher For schung und Kunst; was auf dem einen Gebiet gelte, könne nicht auf das andere übertragen werden: In der Kunst […] komme es im Unterschied zur ›vermannigfaltigenden‹ Wissenschaft auf das fertige Ergebnis, das Werk an […]. Das Kunstwerk gewinnt mithin nur in Gestalt derjenigen Vollendung seine Gültigkeit, die auf dem Feld der Wissenschaft zu vermeiden ist.105
Die ›Wanderjahre‹ hingegen, so ließe sich gegen Pethes argumentieren, wider setzen sich dieser klaren Unterscheidung. Denn ob ein ›Werk‹ wie dieses je als ›fertig‹ betrachtet werden kann, darf bezweifelt werden. Der Text widerspricht ja jeder Rhetorik vom abgeschlossenen Kunstwerk. Ein Aggregat, ein Sandhau fen läßt sich vielleicht nicht ›analysieren‹, aber wohl doch inszenieren und dann beobachten, ohne ihm gleich mit einer vorgefertigten Rezeptionstheorie zu Leibe zu rücken. Goethe scheint die ›Wanderjahre‹ bewußt als eine Art Leseexperiment ange legt zu haben und damit eventuell ohne es intendiert zu haben, seine eigenen Forderungen an den Künstler zu konterkarieren. Der Begriff ›Experiment‹ darf in diesem Zusammenhang ganz wörtlich ver standen werden und kann nicht stark genug betont werden. Es geht tatsächlich um einen Versuch. Geht man von dieser Prämisse aus (der Text als Versuch), dann ist auch das Kunstwerk nicht mehr auf ›Vollendung‹ aus, ist die scheinbare Dicho tomie zwischen Naturforschung und Kunst keine mehr.106 Goethe geht mit einem Text vom Kaliber der ›Wanderjahre‹ dann durchaus so um, wie er es eigentlich für nur ›wissenschaftliche Dinge‹ vorgesehen hatte: Man hat daher in wissenschaftlichen Dingen gerade das Gegenteil von dem zu tun, was der Künstler rätlich findet: denn er tut wohl, sein Kunstwerk nicht öffentlich sehen zu lassen, bis es vollendet ist, weil ihm nicht leicht jemand raten noch Beistand leisten kann; ist es hingegen vollendet, so hat er alsdann den Tadel oder das Lob zu überlegen und zu beher zigen, solches mit seiner Erfahrung zu vereinigen und sich dadurch zu einem neuen Werke
105 Pethes: Zöglinge der Natur, S. 327 f. 106 Vgl. zu Goethes analoger Vorgehensweise im Kontext der ›Farbenlehre‹: »Jahrelang sammel te er Erfahrungen, nimmt Abschied von ihnen, läßt sie ruhen, wiederholt sie aufs neue und stellt eine Ordnung her, indem er mit Hilfe von Vergleichen nach verwandten, übergreifenden Phäno menen sucht. Die Kontinuität seiner Versuchsreihen wird häufig durch bewußtes Einschalten einer Wirkungszeit auf ihn, den Ordnenden selbst, unterbrochen.« (Weizsäcker, Carl Friedrich von: Nachwort zur Farbenlehre. In: Goethe: Naturwissenschaftliche Schriften I, HA XII, S. 613– 640. Hier: S. 627).
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auszubilden und vorzubereiten. In wissenschaftlichen Dingen hingegen ist es schon nütz lich, jede einzelne Erfahrung, ja Vermutung öffentlich mitzuteilen […].107
Hier wird eine Verfahrensweise ausdrücklich umgekehrt.108 Die ›Wanderjahre‹ gingen vorsätzlich als Diskursangebot in den (Vorab-)Druck – gleich einer wis senschaftlichen Abhandlung, die noch der Diskussion bedarf.109 Damit wird genau gegen das verstoßen, was dem Künstler angeblich ›wohl‹ tut. Die Frage nach einer verbürgten Autorschaft spielt dann keine Rolle mehr. Der ›Held‹ der ›Wanderjahre‹ ist keine Figur mit einer psychologischen Tiefendimension, sondern sowohl auf inhaltlicher als auch auf struktureller Ebene das ›Konzept Archiv‹ und damit auch das Buch selbst, das – qua Konstruktion – »den Leser zu wiederholter Betrachtung auffordern wird.«110 Ist das Aggregat (Goethe) oder das Magazin (Moritz) zusammengetragen, so ist das Archiv der ›Autor‹. Ein Passus wie der auf der ersten Fassung der ›Wanderjahre‹ aufgedruckte ›Ein Roman von Goethe‹ fungiert dann allenfalls noch als reklamewirksames Markenzeichen. Konsequent wurde er in die zweite Textfassung nicht wieder aufgenommen.111
107 Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, S. 8. Kursivierung im Original. 108 ›Umgekehrt‹, weil der Text sich, so weit es geht, an wissenschaftliche Form-, Ablaufs- und Ordnungsparadigmen anlehnt. Er scheint die oben im Kontext von Moritz’ ›Magazin‹ angespro chenen offenen Sammlungen zu imitieren und fingiert dafür beispielsweise eine Kontingenz, die in literarischen Texten wiederum nur mit immensem inszenatorischem Aufwand zu haben ist (vgl. dazu: Michel: Ordnungen der Kontingenz). Zudem transportiert er Pluralität in vielen Facet ten als ein ihn beschäftigendes Phänomen. Diese ›Vermannigfaltigung‹ ist für einen literarischen Text eher ungewöhnlich, vor allem aber, inhaltlich gesehen, für die Handlung der ›Wanderjahre‹ gar nicht ›nötig‹. Der Text scheint sich Mühe zu geben, formal an die erwähnten unvollständigen Sammlungen heranzukommen und bietet dadurch die Vorlage dafür, daß man mit ihm umgehen kann wie mit einem wissenschaftlichen Text. 109 Zur Praxis der Vorabpublikation von Teilen der ›Wanderjahre‹ vgl. Bunzel: Das ist eine heil lose Manier. 110 Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hg.: Mandelkow, Karl Robert. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. 4. Auflage. München 1988. Bd. 3. Briefe der Jahre 1805–1821. S. 110. 111 Die zweite Fassung firmiert lediglich unter »Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Ent sagenden.« Sie ist in der noch von Goethe autorisierten ›Ausgabe letzter Hand‹ untergebracht in dem Band: »Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Einundzwanzigster Band. Unter des durchlauchtigsten deutschen Bundes schützenden Privilegien.« Stuttgart und Tübin gen 1829.
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XI. Z ur Thematisierung von Archivierung und zum Umgang mit dem Archiv in den ›Wanderjahren‹ Wie die Archive, von denen die ›Wanderjahre‹ erzählen, entstehen oder entstan den sind ist ebenso Gegenstand des nächsten Kapitels wie die Frage nach dem Umgang der Figuren mit dem Archiv, d. h. wie sie auf es zugreifen, es nutzen und sich in seinem Angesicht verhalten. In den ›Wanderjahren‹ wird die Archivierung im bzw. genauer, am Gebäude thematisiert. In der ›Verräter-Erzählung‹ berichtet der Einsiedler, nachdem er Wilhelm auf seine Bildersammlung hingewiesen hat, von an dem Gebäude ange brachten Namen: Hier oben in der Friese […] finden Sie die Namen vortrefflicher Männer aus der Urzeit, dann aus der näheren auch nur die Namen, denn wie sie ausgesehen, möchte schwerlich auszumitteln sein. Hier aber im Hauptfelde geht eigentlich mein Leben an, hier sind die Männer, die ich noch nennen gehört als Knabe. Denn etwa funfzig Jahre bleibt der Name vorzüglicher Menschen in der Erinnerung des Volks, weiterhin verschwindet er oder wird märchenhaft. (115)
Die ›Friese‹ bezeichnet der Kommentar der Frankfurter Ausgabe als »Säulen- und Leistenverzierung«,1 d. h. die Namen sind wahrscheinlich die Wände entlang laufend unter der Decke (›hier oben‹) an- oder eingeschrieben. Die Abfolge der Nennung ist chronologisch, gilt ›Männern aus der Urzeit‹ und solchen aus der ›näheren Zeit‹. Deren Namen stehen nicht über einem Bild, konkretisieren also nichts, sondern stehen für sich (›nur die Namen‹) und die betreffende Person. Zu den Namensbeschriftungen gehörige Bilder gibt es nur von Persönlichkeiten, welche die Biographie des Sammlers tangieren. Letzterer erwähnt Wilhelm von Oranien und ergänzt: »Nun sehen Sie aber Ludwig den Vierzehnten gleich neben ihm« (115). Hier scheint es tatsächlich nicht mehr nur um die Namen, sondern um Bilder zu gehen (›nun sehen Sie‹). Diese Art von Archivierung begnügt sich also, vielleicht historischer Vollständigkeit halber, zunächst mit dem bloßen Nennen von Persönlichkeiten. Erst wenn ein Bezug des Sammlers zum Gesammelten besteht, wird dem Namen auch ein Bild zugeordnet. Der Sammler scheint sich nur auf sein Selber-gesehen-Haben verlassen zu wollen. Bildnisse von Personen
1 FA I 10, S. 1068. An die etymologische Nähe zwischen Leiste und Liste brauche ich hier nicht zu erinnern. Die Friese darf durchaus als eine Art verräumlichter Liste betrachtet werden.
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aus grauer Vorzeit horte er nicht, die Voraussetzungen seines Bildersammelns sind persönlicher Bezug und Autopsie. Analog zu diesem ›Selber-Sehen‹ kann man auch die Notwendigkeit eines ›Selber-Sammeln‹ feststellen. Bilder mußte man zur Zeit Goethes tatsächlich regelrecht sammeln, wenn man sie – etwa für (kunst-)historische Zwecke – zur Anschauung parat haben wollte. Bücher mit Texten waren verhältnismäßig leicht zu haben, doch verläßliche Ausgaben mit gar farbigen Stichen von Gemälden gab es noch nicht:2 Man konnte damals bequem die gesammelten Werke von Sophokles, Shakespeare oder Racine kaufen, nicht aber die von Raffael, Michelangelo oder Rembrandt. Man mußte sie mühsam Stück für Stück in Nachstichen erwerben, immer bedacht, möglichst viele und gute zu erhalten. So wurde aus dem Bemühen um rechtes Verstehen das Streben nach his torischer Einordnung, und daraus folgte die Notwendigkeit, viel Materialien zur Hand zu haben und also zu sammeln.3
Wer verstehen will, so Trunz, muß das Betrachtete historisch einordnen können, wer wiederum historisch einordnen möchte, bedarf einer großen Masse an Mate rial. Die Bemühung um die Auslegung steht also in direkter Beziehung zum Sammeln, ja mündet in ein solches. Obiger Textabschnitt aus der ›Verräter-Erzählung‹ thematisiert auch das Ver wischen oder Ausbleichen von Erinnerung: ›Denn etwa funfzig Jahre bleibt der Name vorzüglicher Menschen in der Erinnerung des Volks, weiterhin verschwin det er oder wird märchenhaft.‹ Um das zu vermeiden kann man den Namen in seiner Wohnung an einer Friese aufschreiben – diesen Gedanken suggeriert die Erklärung des Einsiedlers. Das Gebäude wächst über sein reines Behältersein hinaus und wird selbst zum Medium, zum Material für die Niederschrift von zu Archivierendem. Dieses Verfahren impliziert einen Kustoden oder wenigstens einen Katalog, der die notierten Namen dann in der Zukunft auszulegen weiß. Eine kauzige Art von Archivierung wiederum vertritt der alte Pfandleiher.4 Er widmet alltäglichen Dingen, die ihn seit langem umgeben, eine sentimentale Beachtung:
2 Daß das Medium Bild eine besondere Zirkulationssphäre hatte, kann man bei Ernst lernen: »An dieser Stelle muß gesagt werden, daß es um 1800 schlicht keine Bildarchive gab. Die Institu tion des Archivs war […] auf hoheitsmächtige Schriftspeicher begrenzt; im Raum der Kultur hin gegen zirkulierten die Bilder wenn, dann nur durch mediale Formate (das Buch etwa) gebunden, und ansonsten frei – wenngleich nicht regellos.« (Ernst: Zwischen Imagination und Gedächtnis, S. 84. Kursivierung im Original). 3 Trunz: Goethe als Sammler, S. 74. 4 Vgl. Benjamins Feststellung: »schrullig aber ist alles, was aus dem Sehwinkel eines echten
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Dieser Teekessel diente schon meinen Eltern und war ein Zeuge unserer abendlichen Fami lienversammlungen; dieser kupferne Kaminschirm schützt mich noch immer vor dem Feuer, das diese alte, mächtige Zange anschürt; und so geht es durch alles durch. (160)
Das scheinbar Gleichgültige wird umcodiert zu einer Art musealem Gut, das prä sentiert und zugleich erklärt wird (auf das Zeigen weist das Demonstrativprono men ›diese[r]‹ hin). Diese Art von Sammlung wird mit dem Ableben des Erklä renden sinnlos werden, da es sich eben um Alltagsgegenstände ohne besondere Eigenheiten handelt und die (zumal sehr subjektiv gefärbten) Erklärungen weder relevant noch den gehorteten Elementen als Text beigeordnet sind. Ein Stück weit ist diese Rede des alten Pfandleihers auch eine definitorische. Das ihn Umge bende und sein Wissen darüber gibt ihm Sicherheit, verortet ihn als Nachfahre und Familienzugehörigen.5 Gänzlich professionell und alles andere als sentimental hingegen ist die Vor gehensweise des Pfandleihers beim Umgang mit den Archivalien seiner Klienten. Wilhelm möchte das Kästchen bei ihm abgeben, »[d]er Alte betrachtete es mit Aufmerksamkeit, gab die Zeit an, wann es verfertigt sein könnte, und wies etwas Ähnliches vor.« (162) Er geht seiner Profession nach; soll etwas niedergelegt werden, so muß es vorher genau in Augenschein genommen werden. Außerdem breitet er sein Hintergrundwissen zum Gegenstand aus, nennt die ungefähre Zeit der Herstellung und kontextualisiert das zu Archivierende, indem er ›etwas Ähn liches‹ vorzeigt. So kommuniziert er seine Kompetenz und verifiziert gleichzeitig seine Einschätzung. Hier demonstriert der Text sein Wissen um die Abläufe bei einer Taxierung und Deponierung von Gegenständen. Doch auch wenn es um Fragen der Verschriftlichung geht, um deren Impli kationen, um Auswahlkriterien, mentale Voraussetzungen und Verfaßtheiten der Schreibenden sowie heimliches und offenbares Archivieren, kennen die ›Wan
Sammlers gesagt wird.« (Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 390). Die ›Wanderjah re‹ denken auch an die Problematik der Weiterführung oder Zerstreuung und damit Zerstörung einer Sammlung nach dem Ableben des Sammlers. Vom alten Pfandleiher bekommt Wilhelm gesagt: »Gewöhnlich zerstreut der Sohn, was der Vater gesammelt hat, sammelt etwas anders, oder auf andere Weise.« (161 f.) Zum hier angedeuteten Verhältnis von Sammlung und Erbschaft vgl. Benjamin, der behauptet, Erbschaft sei »die triftigste Art und Weise zu einer Sammlung zu kommen. […] Und nur das eine wäre anzumerken: Das Phänomen der Sammlung verliert, indem es sein Subjekt verliert, seinen Sinn.« (Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 395). 5 Vgl. Mainberger: »Als enumerative Topographien findet man […] – als Signatur des bürgerli chen Romans – das Interieur mit den vielen Dingen, die die darin wohnende Person besitzt und in denen sie sich und ihren Wert gleichsam dinglich ausdrückt.« (Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 113).
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derjahre‹ sich aus. Im zehnten Kapitel des ersten Buchs legt Angela Wilhelm ihre Motivation fürs Archivieren dar und schildert die Verfahrensweise. Sie führt aus, ›[…] daß jene Papiere [die Aufzeichnungen einer Unterhaltung Makaries mit dem Astrono men] schon in meinen Händen und von mir nebst andern Blättern sorgfältig aufgehoben werden. Meine Herrin‹, fuhr sie fort, ›ist von der Wichtigkeit des augenblicklichen Gesprächs höchlich überzeugt; dabei gehe vorüber, sagt sie [Makarie], was kein Buch enthält, und doch wieder das Beste, was Bücher jemals enthalten haben. Deshalb machte sie mir’s zur Pflicht, einzelne gute Gedanken aufzubewahren, die aus einem geistreichen Gespräch, wie Samenkörner aus einer vielästigen Pflanze, hervorspringen. ›Ist man treu‹, sagt sie, ›das Gegenwärtige festzuhalten, so wird man erst Freude an der Überlieferung haben, indem wir den besten Gedanken schon ausgesprochen, das liebenswürdigste Gefühl schon aus gedrückt finden. Hiedurch kommen wir zum Anschauen jener Übereinstimmung, wozu der Mensch berufen ist, wozu er sich oft wider seinen Willen finden muß, da er sich gar zu gern einbildet, die Welt fange mit ihm von vorne an.‹ (138)
Angela erwähnt Papiere, die ›schon‹ in ihren Händen seien. Die Verschriftlichung des Gesprächs vom vorhergehenden Abend fand wohl direkt danach bzw. sogar simultan statt.6 Zeitlich unmittelbar daran anknüpfend folgte scheinbar auch die Einordnung ins Archiv (›nebst andern Blättern sorgfältig aufgehoben‹). Makarie begründet Angelas Archivierungsauftrag – denn Angela ist eine Berufsarchiva rin, es ist ihre ›Pflicht, einzelne gute Gedanken aufzubewahren‹ – etwas seltsam. Das spontane und in der ›vis-à-vis-Situation‹ (›augenblicklich‹ kann man eben sogut temporal wie auch als ›im Angesicht‹ verstehen) stattfindende Gespräch sei wichtig und beinhalte – nun folgt ein Paradox – ›was kein Buch enthält‹ (vielleicht Abwegiges, Marginales, neue Ideen) und gleichzeitig ›das Beste, was Bücher jemals enthalten haben‹. Es bleibt unentscheidbar, was darunter zu ver stehen ist. Auch hier schwankt der Text im Kontext seines Ordnungsbegehrens. Einerseits erwähnt er eine Archivarin von Beruf, andererseits läßt er das zu archi vierende Material auffällig im vagen. Angela jedenfalls wird zum Archivieren nicht etwa der gesamten Gespräche, sondern von ›einzelnen guten Gedanken‹ verpflichtet. Ihr wird eine wichtige Verfügungsgewalt im Kontext des Archivie rens zugestanden: die der Selektion, der Entscheidung darüber, was Eingang ins Archiv findet und was nicht. Die Gleichsetzung der ›einzelnen Gedanken‹ mit Samenkörnern, die aus einer Pflanze hervorspringen, weist auf eine wort
6 Azzouni schreibt zu dieser Textstelle: »Ursprung und Anlaß des Archivs ist demnach das ›au genblickliche Gespräch‹, die direkte und situationsgebundene mündliche Äußerung. Ihr kommt die primäre Bedeutung zu. Ihre Niederschrift ist lediglich Surrogat, die in der Zeit einzige Mög lichkeit, Gesprochenes festzuhalten und zu überliefern.« (Azzouni: Kunst als praktische Wissen schaft, S. 112). Für das Archiv kommt die ›primäre Bedeutung‹ natürlich dem Akt der Verschriftli chung zu, denn ohne Vertextung kein Material, das niedergelegt werden könnte.
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wörtliche Dissemination hin. Damit kommt auch ein kinetisches Moment mit ins Spiel; das in Rede stehende Archiv scheint eine Art Schnellkraft aufzuweisen (›hervorspringen‹). Bleibt man in diesem Bild, so käme das von Angela geleistete ›Festhalten‹ des ›Gegenwärtigen‹ einem Auffangen der Samenkörner und einem vorläufigen Beenden ihrer Bewegung gleich. Von der Simultanarchivarin Angela wird Gewissenhaftigkeit gefordert (›ist man treu‹), ihre Tätigkeit hat unter dieser Voraussetzung sogar eine eudämonistische Hebung zur Folge (›Freude an der Überlieferung‹). Die geschilderten Archivierungsbemühungen haben indes einen menschenbildnerischen Anspruch und dem Archiv kommt eine Entlastungsfunk tion zu. Es relativiert das Individuum und sein Handeln, indem es ihm vor Augen führt, daß ›das Beste‹ schon gesagt ist, es das Rad nicht neu zu erfinden braucht. In dieser Hinsicht hilft es, Umwege, unökonomische Kraft- und Zeitverschwen dung zu vermeiden. Eine zeitlich versetzte, eventuell zu späte Verschriftlichung von Mitteilun gen zieht Einbußen sowohl in der Genauigkeit als auch in der Authentizität und damit der Evidenz nach sich, auch das reflektiert der Text: Leider ist dieser Aufsatz [über Makarie] erst lange Zeit nachdem der Inhalt mitgeteilt worden, aus dem Gedächtnis geschrieben und nicht, wie es in einem so merkwürdigen Fall wünschenswert wäre, für ganz authentisch anzusehen. (484)
Auch Angela ist scheinbar nicht immer so zuverlässig wie oben angedeutet. Der Redaktor schiebt ihr das Fehlen von Aufzeichnungen angeblich ›höchst anzie hender‹ Gespräche in die Schuhe. Sie habe, so heißt es, viel zu wenig aufgezeich net. Der Grund dafür liege in der defizitären Aufmerksamkeit und Nachlässigkeit der Schreiberin: Die Gespräche, die sie [Montan und der Astronom] in Gegenwart Makariens führten, waren höchst anziehend; wir finden aber nur weniges davon niedergeschrieben, indem Angela seit einiger Zeit beim Zuhören minder aufmerksam und beim Aufzeichnen nachlässiger gewor den war. Auch mochte ihr manches zu allgemein und für ein Frauenzimmer nicht faßlich genug vorkommen. Wir schalten daher nur einige der in jene Tage gehörigen Äußerungen hier vorübergehend ein, die nicht einmal von ihrer Hand geschrieben uns zugekommen sind. (477; Hervorhebungen: M. B.)
Angela hat also nicht nur ungenau, sondern stellenweise gar nicht mehr archi viert, so daß sich der Redaktor mit dem Einschalten fremden Materials unbe kannter Herkunft behelfen muß. Auch Angelas Gespür für das Wichtige und ihr Unterscheidungsvermögen werden angezweifelt. Mutmaßlich sei ihr manches wohl ›zu allgemein‹ erschienen. Doch damit nicht genug, der Redaktor wird noch uncharmanter. Er argumentiert, Angela sei eben ein ›Frauenzimmer‹, um zu erklären, daß ihr etwas ›nicht faßlich genug vorgekommen‹ sei. Der wirkliche
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Grund für ihr unzulängliches Archivieren wird noch im selben Kapitel – auf diese Stelle anspielend – nachgereicht: Schon oben hatten wir zu bemerken, daß Angela nicht wie sonst die Pflicht des Aufmerkens und Aufzeichnens erfüllte, sondern anderwärts beschäftigt schien. Um diese Anomalie an einer der Ordnung dergestalt ergebenen und in den reinsten Kreisen sich bewegenden Person zu erklären, sind wir genötigt, einen neuen Mitspieler in dieses viel umfassende Drama noch zuletzt einzuführen. (480)
Der Redaktor schiebt eigens eine Figur in den Erzählkosmos nach, um Angelas unzureichende Archivierung motivieren und erklären zu können.7 Sie hat sich in den Gehilfen Werners verguckt und wird deshalb für eine verläßliche Archivie rung unbrauchbar. Der Diskurs kippt fast schon ins Pathologische: Das Verges sen der ›Pflicht des Aufmerkens und Aufzeichnens‹ wird im Kontrast zu Angelas sonstiger Ordnungsergebenheit explizit als ›Anomalie‹ aufgefaßt. Ähnlich motiviert der Text auch Lenardos Abgelenktheit beim Schreiben. In Gedanken ist er bei Susanne, das Archivieren von Garnherstellungstechniken in den Berghütten läuft ihm währenddessen aus dem Ruder: […] ich schrieb, um ihr [der Garnspinnerin Gretchen] Aufmerksamkeit zu beweisen, was sie mir vorsagte, in meine Schreibtafel, wo es noch steht zum Zeugnis eines bloß mechanischen Verfahrens, denn ich hatte ganz anderes im Sinne; es lautet folgendermaßen: (451; Hervor hebungen: M. B.)
Lenardo schreibt nur um nicht zerstreut, nicht unhöflich zu wirken und um Gretchen (!) ›Aufmerksamkeit‹ zu erweisen. Das Aufschreiben wird ob seiner Gedankenlosigkeit rein mechanisch, er selber stellt sich als einen Schreibauto maten dar.8 Der Text referiert daraufhin tatsächlich eine für das Textverständnis völlig ›überflüssige‹ Beschreibung von ›Muggengarn‹. Lenardo hingegen zitiert in seinem Tagebuch sich selbst bzw. das besagte Notat auf seiner Schreibtafel (›es lautet folgendermaßen‹). Im weiteren Verlauf seiner Aufzeichnungen erwähnt er auch, wie er geradezu dazu gedrängt wird zu archivieren:
7 Der Mitspieler ist ein »frische[r] Gehülfe[ ]« »[u]nser[es] alte[n], geprüfte[n] Handelsfreund[es] Werner« (480). 8 Vielleicht hätte Lenardo seine Zerstreuung auch anders kurieren oder wenigstens lindern kön nen. Die ›Wanderjahre‹ erwähnen ein ›Heilmittel‹ aus dem Bereich des Archivs. Sie führen vor, daß Ordnen und Ordnung auch therapeutische Züge tragen können. Der Umgang mit Archivier tem wirkt wohl beruhigend. Im ›Mann von funfzig Jahren‹ heißt es: »Indessen hatte die Baronin mit Ordnen und Zurechtlegen alter Papiere sich beschäftigt, und diese dem gegenwärtigen Zu stande ganz angemessene Unterhaltung wirkte gar wundersam auf den erregten Geist.« (228).
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Auch von meinem vielen Aufschreiben und Bemerken hatte jener gute Mann [der Garnträ ger] erzählt, worauf sich denn der Berggenoß gleichfalls eingerichtet hatte. Lange wartete mein Begleiter, daß ich meine Schreibtafel hervorholen sollte, nach welcher er denn auch endlich, einigermaßen ungeduldig, fragte. (462)
Nachdem dem Gesprächspartner klar geworden ist, daß Lenardo seine Schreib tafel von selbst nicht zücken würde, ergreift er die Initiative und fragt danach. Dieser Stelle, an der das Archivieren ausdrücklich gewünscht wird, steht eine andere entgegen, an der es um heimliches Aufzeichnen geht. Friedrich hat ein Gespräch zwischen Wilhelm und Montan unbemerkt niedergeschrieben. Er legt es dem überraschten Wilhelm vor: Wilhelm überlief die Blätter mit schnellen Blicken und sah, leserlich angenehm, obschon flüchtig geschrieben, die gestrige Relation seiner anatomischen Studien, fast Wort vor Wort, wie er sie abgestattet hatte, weshalb er denn seine Verwunderung nicht bergen konnte. (364)
Das Aufgezeichnetwerdenwollen der Bergbewohner einerseits und die Überra schung Wilhelms über die nicht wahrgenommene Archivierung andererseits sind zwei Arten der Reaktion auf Archivierungsmethoden, denen der Text Aufmerk samkeit schenkt. Lenardos Methode ist die des offensichtlichen Interesses und einer dementsprechenden Art der Aufzeichnung: er notiert vor den Augen des Gegenübers in seine Schreibtafel. Weicht er von dieser Methode ab, vergißt er gar, seine Tafel herauszuholen, so weist ihn sein Gesprächspartner darauf hin. Die Bergbewohner legen es darauf an, ihr Wissen archivieren zu lassen. Davon unter scheidet sich nun Friedrichs Methode, das unbemerkt im Hintergrund agierende Mitschreiben von Gesprächen. Seine Niederschrift kommt ans Licht und ruft Ver wunderung hervor – sowohl aufgrund ihrer heimlichen Entstehungsart als auch wegen der nahezu exakten Wiedergabe (›fast Wort für Wort‹) des Gehörten. Eine abschließende Betrachtung soll einem Medienwechsel von der Schreib tafel zum Papier beim Archivieren und dessen Implikationen gelten. Im vierzehn ten Kapitel des dritten Buchs notiert Flavio, inzwischen Ehemann Hilaries, vom Text ironisch als »der immer leidenschaftliche Dichter« (472) bezeichnet, ein Gedicht auf seine Schreibtafel. Er trägt es Makarie vor, der Text charakterisiert es als mißlungenes, da nur durchschnittliches Liebesgedicht.9 Interessant ist
9 »[E]s ließ sich allenfalls anhören, ob man gleich dadurch weiter nichts erfuhr, als was man schon wußte, nichts fühlte, als was man schon gefühlt hatte. Indessen war denn doch der Vor trag leicht und gefällig, Wendung und Reim mitunter neu, wenn man es auch hätte im ganzen etwas kürzer wünschen mögen.« (473).
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nun der Umgang mit der mißglückten poetischen Produktion. Sie wird auf Papier übertragen und an Makarie weitergeleitet. Es werden nur die blassen Wirkungen von Flavios Gedicht genannt, kein Inhalt, keine Paraphrase. Dagegen wird die Beschaffenheit des Papiers ebenso für erwähnenswert erachtet wie die gefällige Schrift: »auf gerändertes Papier sehr schön geschrieben« (473) Dieser Vorzüge wegen, so läßt sich aus dem Kontext mutmaßen, wird das Gedicht wohl ins Archiv eingehen. Vielleicht hat der Schreiber auch von Anfang an mit einer Aufnahme seines Werks ins Archiv geliebäugelt. Denn der eigentliche Vortrag findet von der Schreibtafel aus statt. Das Gedicht wird auf archivierbares Material gebannt (die Tafel wäre aufgrund ihres ephemeren Charakters schlecht zu archivieren), hinterher wird das Papier eingereicht (»zuletzt übergab er dasselbe«; 473). Auf diese Weise verstummt die oberflächliche Poesie und kann in den Untiefen von Makaries Archiv verschwin den. Erst danach stellt sich auf beiden Seiten – beim Deklamator und beim Pub likum – Zufriedenheit ein: »und man schied mit vollkommener wechselseitiger Zufriedenheit.« (473) Der Dichter kann sich ernstgenommen, alle andern sich glücklich über die Archivierung fühlen – denn ob überhaupt und wenn ja wann auf das Archivierte noch einmal zurückgegriffen wird, ist der Logik des Archivs nach völlig offen. Kalligraphie und aufwendige Materialien verbürgen, diese Fol gerung legt der Abschnitt nahe, noch lange keinen guten Text. Allen materialen Anstrengungen zum Trotz bleibt das Gedicht als poetisches Produkt minderwer tig. Offensichtlich läßt sich die Idee der Kalokagathie auf Verschriftlichtes nicht anwenden.
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XII. A rchivalisches Erzählen und Archivalisches Schreiben Die nun zu untersuchenden Phänomene oszillieren zwischen einem konventiona lisierten Romanduktus (wie im Herausgeberroman üblich) und einer genuin am Archiv orientierten Ausdrucksweise. Sie lassen sich manchmal nicht trennscharf auseinanderhalten. Das Archivalische Erzählen wird ebenso wie das Archivali sche Schreiben eingesetzt, um der Faszination an der Pluralität und an unter schiedlichsten Ordnungsschemata Ausdruck zu verleihen. Nicht zuletzt aber, um die Bandbreite der Topoi und Erzählformen der ›Wanderjahre‹ überhaupt textuell stemmen zu können. Die beiden Ebenen lassen sich wie folgt auseinanderhalten. Das (1) Archivali sche Erzählen ist inszeniert, ist Textstrategie, d. h. der Text ist sich dessen bewußt und teilt es explizit mit. Er nominiert sogar eine dafür verantwortliche Figur, den Redaktor. Ich weise es nach über die Lektüre von Textstellen, in denen Erzählen im Kontext des Archivs problematisiert wird, d. h. in denen auf Eigenheiten und Probleme der Archivierung hingewiesen wird. Beim Archivalischen Schreiben (2) geht es um eine ›reale‹ Anlehnung des Texts (auch der Textproduktion) ans Archiv. Es werden Phänomene herausgear beitet, die auf den Text eingewirkt haben, deren er sich aber nicht bewußt ist. Das sind z. B. Lücken,1 Unentscheidbarkeiten in der Erzählhaltung bzw. -perspektive und die narrative Pathologie (Genette) aber auch realiter in die Textgenese hin einspielende Faktoren wie etwa das Moment kollektiver Autorschaft.
1. Archivalisches Erzählen Die Bedeutung des Archivalischen Erzählens für den Text und seine Verankerung darin wird nachvollziehbar, wenn man sich auf jene Redaktorbemerkungen kon zentriert, welche die (fiktionale) Textgenese thematisieren. Es lassen sich sechs Phänomene unterscheiden: Das (1) Auslassen, (2) Zusammenfassen und raffen des Erzählen, (3) Auswählen, (4) die Unwissenheit des Redaktors und (5) vom
1 Düntzer registriert ratlos in den ›Wanderjahren‹ aufzufindende Lücken. Die Schilderung des ›Bergfests‹ etwa enthalte eine »empfindliche Lücke« (S. XII); der ›Mann von funfzig Jahren‹ werde mehr schlecht als recht zur bis zur Entsagung der Witwe und Hilaries vorangebracht und die Form der ›Wanderjahre‹ schließlich sei »gar zu lückenhaft« (S. XVI; die Seitenzahlen in Klam mern beziehen sich auf: Wilhelm Meister’s [sic] Wanderjahre. Hg.: Düntzer. Berlin 1870).
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Redaktor eingeleitete Kapitelanfänge. Außerdem werden (6) Hinweise des Redak tors berücksichtigt, die sich auf die technische Seite von Archivierung und auf Unentscheidbarkeiten in der Erzählperspektive beziehen.
1.1 Das Auslassen Das Auslassen hat prinzipiell Ähnlichkeit mit Isers Leerstellen.2 Diese leisten bekanntermaßen einen wichtigen Beitrag zu einer »fundamentalen Katego rie der Textbildung überhaupt«,3 zur Anschließbarkeit. Die »segmentierende Erzählweise«4 kann, und das ist vor allem im Kontext der ›Wanderjahre‹ von Inte resse, die »Leerstellenbeträge[ ]«5 derart ansteigen lassen, daß die Vorstellungs kraft des Lesers nachhaltig irritiert wird. Wird Anschließbarkeit auf diese Weise ausgespart, so reicht der Text sie oder ihre Generierung gleichzeitig an den Leser weiter, eine Textkohärenz kann erst die Imagination des Lesers herstellen. Inso fern kommt der Leerstelle eine »ästhetische Relevanz«6 zu. Nun verneint Iser aber die materielle Feststellbarkeit von Leerstellen, was, so es denn zuträfe, für das hier formulierte Desiderat des Auffindenwollens von Auslassungen nicht gerade förderlich wäre: Leerstellen sind als ausgesparte Anschließbarkeit der Textsegmente zugleich die Bedingun gen ihrer Beziehbarkeit. Als solche indes dürfen sie keinen bestimmten Inhalt haben; denn sie vermögen die geforderte Verbindbarkeit der Textsegmente nur anzuzeigen, nicht aber selbst vorzunehmen. Als sie selbst lassen sie sich daher auch nicht beschreiben, denn als ›Pausen des Textes‹ sind sie nichts; doch diesem ›nichts‹ entspringt ein wichtiger Antrieb der Konstitutionsaktivität des Lesers. Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinander stoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen.7
Iser scheint sich hier selbst zu widersprechen. Denn auffinden kann man Leer stellen, sie sind ja eben nicht ›nichts‹. Charakterisieren, also beschreiben müßte
2 Vgl. Gidions Arbeit zu den ›Wanderjahren‹, die dort schon früh das ›stückhafte Erzählen‹ nach weisen konnte (Gidion: Zur Darstellungsweise, v. a. S. 18–70). Mittermüller registriert »die multi perspektivische Bauform der ›Wanderjahre‹ […], die auf Auslassungen, Brüche, Leerstellen und die Subversion eindeutiger Sinnzuschreibungen hin angelegt ist.« (Mittermüller: Sprachskepsis, S. 16). 3 Iser: Der Akt des Lesens, S. 284. 4 Iser: Der Akt des Lesens, S. 286. 5 Iser: Der Akt des Lesens, S. 285. 6 Iser: Der Akt des Lesens, S. 289. 7 Iser: Der Akt des Lesens, S. 302. Hervorhebungen: M. B.
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man sie folglich auch können. – Etwa konstruktiv, indem man die Leseerwar tung (von den jeweils historischen Umständen bedingt und also unterschiedlich) formuliert, die das Textsegment vor der Leerstelle evoziert und sich vergegen wärtigt, welche Reaktion der darauffolgende Teil hervorrufen könnte. Zieht man zusätzlich zu Isers Leerstellentheorie Sommers Ausführungen zu den strukturel len Besonderheiten von Sammlungen zu Rate, so wird klar, welche Aufgabe den Leerstellen in Texten wie den ›Wanderjahren‹ zukommt: Unabgeschlossene Sammlungen müssen indes so arrangiert werden, daß Plätze frei bleiben für das, was noch kommen wird. Dieser leere Raum kann entweder insgesamt am Ende oder gestückelt zwischendrin bereitgehalten werden.8
Aus Sommers Äußerung läßt sich eine strukturelle Koinzidenz zwischen Samm lung und literarischem Text folgern, die von Iser so nicht angesprochen wird. Es geht darum, Kompatibilität für nachträglich noch Einzufügendes aufrechtzuer halten. Auf dieses Konstruktionsmerkmal machte weiter oben schon die Betrach tung des Aggregats aufmerksam, das die es mitkonstituierenden Zwischenräume reflektiert. Leerer Raum ist literarisch natürlich schwer zu arrangieren oder zu inszenie ren, wenn man nicht aufs weiße Blatt zurückgreifen will. Dennoch läßt er sich figurieren. Dies geschieht in den ›Wanderjahren‹ z. B. durch angekündigte Lücken oder Pausen. In der folgenden Textsequenz, die unter der Überschrift ›Zwischen rede‹ steht und zwischen dem siebten und dem achten Kapitel des zweiten Buchs plaziert ist, wird deutlich, wie der Redaktor einen solchen ›leeren Raum‹ zu insze nieren versucht. Er weist zunächst auf einen Zeitsprung hin und läßt eine Schil derung des während dieser Zeit Vorgegangenen aus, unternimmt auch keine das Geschehen synchronisierende Überleitung:9 Hier aber finden wir uns in dem Falle, dem Leser eine Pause und zwar von einigen Jahren anzukündigen, weshalb wir gern, wäre es mit der typographischen Einrichtung zu verknüp fen gewesen, an dieser Stelle einen Band abgeschlossen hätten. Doch wird ja wohl auch der Raum zwischen zwei Kapiteln genügen, um sich über das Maß gedachter Zeit hinwegzuset zen, da wir längst gewohnt sind, zwischen dem Sinken und Steigen des Vorhangs in unserer persönlichen Gegenwart dergleichen geschehen zu lassen. (267; Hervorhebungen: M. B.)
8 Sommer: Sammeln, S. 230. Kursivierung im Original. 9 Vor der ›Zwischenrede‹ wird ein Brief des Abbé an Wilhelm wiedergegeben. So als hätte Wilhelm ein Eigenleben und fokussiere der Blick des Redaktors ihn aus der Vogelperspektive heißt es zu Beginn des darauffolgenden Kapitels: »Suchen wir nun unsern seit einiger Zeit sich selbst überlassenen Freund wieder auf, so finden wir ihn, wie er von Seiten des flachen Landes her in die pädagogische Provinz hineintritt.« (268).
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Der Redaktor nennt den ›Raum zwischen zwei Kapiteln‹, der ausreichend sei, den für den Fortgang der Erzählung nötigen Zeitsprung zu markieren. Er muß also eine materiale Textlücke, weißes Papier, mit seiner Rede begleiten und ihr so ihren zäsuralen Charakter regelrecht zuschreiben. Lieber wäre es ihm gewesen, diese Zäsur durch das Ende eines Bandes zu realisieren. Die ›typographische Einrichtung‹ scheint sich jedoch nicht nach seinen Wünschen modifizieren zu lassen, das Buch als Material sich seinem Zugriff zu entziehen. Lücken lassen sich aber durchaus auch performativ, ex negativo, als Auslas sung generieren. Dieses Verfahren ist wichtig, weil es bereits archivalische Züge aufweist. In den nun folgenden Textbeispielen geht es ums Auswählen, um die Entscheidung, was in den Text aufgenommen werden soll und was nicht. Der Redaktor demonstriert hier seine Macht der Selektion.10 Beispielsweise möchte der »Hausfreund« (132) Makaries »einiges Geschrie bene, sogar Übersetzungen« (132) vorlesen. Diese Lesung wird vom Redaktor eingeleitet mit dem Satz: »Er fing nunmehr nach erhaltener Erlaubnis folgen dermaßen zu lesen an. – « (132) Der Bindestrich deutet schon an, was die daran anschließende Rede des Redaktors dann klar macht. Das Vorlesen wird ausge lassen: Wenn wir aber uns bewogen finden, diesen werten Mann nicht lesen zu lassen, so werden es unsere Gönner wahrscheinlich geneigt aufnehmen [...]. Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und wenn dieser hie und da schon mehr als billig didak tisch geworden, so finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch weiter auf die Probe zu stellen. Die Papiere, die uns vorliegen, gedenken wir an einem andern Orte abdrucken zu lassen und fahren diesmal im Geschichtlichen ohne weiteres fort, da wir selbst ungeduldig sind, das obwaltende Rätsel endlich aufgeklärt zu sehen. (132)
Diese Stelle macht die Vorgehensweise des Redaktors überdeutlich. Die Leser werden hofiert als Gönner, Freunde und Wohlwollende.11 Der Redaktor benennt
10 Der Kommentar der Münchner Ausgabe stößt sich daran, daß er dies vollziehe, »[o]hne die Kriterien seiner Auswahl anzugeben« (MA 17, S. 1002). 11 Ob der Redaktor sich in seiner Editionstätigkeit gar von Furien bedrängt sieht? Er spricht nicht von wohlwollenden Lesern, sondern substantiviert das Adjektiv zu ›unsere Wohlwollenden‹ – die Eumeniden werden auch als ›Die Wohlwollenden‹ bezeichnet. Hederich notiert, Eumeniden »sind so viel, als die Furien, jedoch insonderheit in der Hölle, da sie Furien auf der Erde hießen. […] Sie sollen den Namen nach einigen, von […] wohlwollend haben, weil sie gar nicht wohlwol lend sind. […] Allein, da andere dergleichen Gegensätze durchaus verwerfen, so wollen sie, daß sie diesen Namen von dem Orestes bekommen, da sie vorher nur […], sehr zu scheuende, vereh rungswürdige Göttinnen, geheißen.« (Hederich, Sp. 1067). Im ›Mann von funfzig Jahren‹ spie len die ›Wanderjahre‹ expressis verbis auf den Zusammenhang mit der Orestie an. Flavio stürzt dem Wahnsinn nahe ins Zimmer, nachdem er erfahren hat, daß er seinen Vater als Nebenbuhler
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das Buch als einen Roman12 und schiebt die Wiedergabe ihm angeblich vorlie gender Dokumente ausdrücklich auf. Entgegen dieser Versprechung werden sie dem Leser aber nie mitgeteilt. Nicht nur die Lesung wird ausgelassen, sondern auch die angekündigte Einschaltung der Papiere. Der Redaktor scheint freie Hand zu haben, was die Anordnung der Textfragmente angeht. Darüber hinaus offenbart er sich als nicht objektiv, charakterisiert sich als »ungeduldig« (132) – beides sind nicht gerade zuträgliche Eigenschaften für das gewissenhafte Edieren von Texten.13 Das »diesmal« (132) scheint darauf hinzudeuten, daß er sich ein solches Vorgehen in Zukunft verkneifen wird. Dem ist aber nicht so. Im Verlauf
ansehen muß: »Mutter und Tochter standen erstarrt [die Schwester des Majors und Hilarie], sie hatten Orest gesehen, von Furien verfolgt, nicht durch Kunst veredelt, in greulicher, widerwärtiger Wirklichkeit, die im Kontrast mit einer behaglichen Glanzwohnung im klarsten Kerzenschimmer nur desto fürchterlicher schien.« (224, Hervorhebungen: M. B.). Nachdem Flavio sich ausgeruht und Hilarie ihn gesprochen hat, nimmt ihr Gesicht einen »furchtbaren Ausdruck [an], es war, als wenn das liebe Kind die Pforten der Hölle vor sich eröffnet sähe, zum erstenmal etwas Ungeheures erblickte und für ewig.« (226, Hervorhebungen: M. B.). Jüngst spielte Littell mit seinem Roman und dessen Titel ›Die Wohlgesinnten‹, frz. Original: ›Les Bienveillantes‹ ebenfalls auf diesen Bezug zu den Eumeniden an (Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Berlin 2008). Vgl. die Anmer kungen des Autors für die Übersetzer des Romans: »Es handelt sich dabei [beim Titel ›Les Bien veillantes‹] um die französische Übersetzung des griechischen Begriffs Eumeniden, des Titels des dritten Teils von Aischylos’ Atridenzyklus. Im Französischen gibt es noch weitere Übersetzungen dieses etwas doppelsinnigen Wortes, das eine Antiphrasis des Begriffs Erinnyen, ›Furien‹ ist; Les Bienveillantes ist jedoch die Übersetzung, die sich auf Anhieb seit der Renaissance durchgesetzt hat und die man als die ›kanonische‹ Übersetzung des Wortes bezeichnen könnte. […] Ich meine, Sie sollten versuchen, den Titel nicht aus dem Französischen, sondern aus dem Griechischen zu übersetzen und dabei die Wendung zu finden, die sich in Ihrer Sprache seit den ersten Überset zungen der griechischen Tragödie als Titel des Aischylos durchgesetzt hat.« (Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Marginalienband. Berlin 2008. S. 6. Kursivierungen im Original). 12 Damit legt er in direkter Ansprache an den Leser die Gattung fest. Er bezeichnet den Text (oder Teile davon) auch noch als Drama (480) und als »terrestrische[s] Märchen« (487). 13 Dem Redaktor scheinen gerade jene Eigenschaften abzugehen, die explizit gewünscht waren: »Der Dienst eines Cameral Archivarii erfordert wegen seiner täglich-nöthigen Gegenwart, vor allen anderen Eigenschaften die qualitatem hominis sedentarii, mithin eines fleißigen, und beynebst, so mühesam als geduldigen Subjecti, der keine Mühe spare denen erforderlichen alten Urkunden, in denen verschiedenen von dem Alterthum herrührenden Absätzen embsig nachzuforschen, widrigens, und da ein Archivarius das mühsame scheüet, er, mit Vorgeben, das suchende seye nicht vorhanden, der Arbeit sich ganz leicht entschlagen kan.« (zit. n. Mikoletzky, Hanns Leo: Aus der Frühgeschichte eines Wiener Archivs. Personal und Besoldung im Hof kammerarchiv 1775–1875. In: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswis senschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner. Berlin 1956. S. 121–140. Hier: S. 121. Fußnote 1. Hervorhebungen: M. B.). Spieß führt an wünschenswerten Eigenschaften weiterhin Fleiß, »Beurtheilungs=Krafft«, Loyalität und Diskretion sowie einen »gesunde[n] Körper« an. Er resümiert, man müsse »ia mit einem Wort dazu gebohren seyn« (Spieß: Von Archiven, S. 8 f.).
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der ›Wanderjahre‹ meldet er sich immer wieder, meist seine Auslassungen kom mentierend, zu Wort. Gegen Ende des Texts bezieht der Redaktor sich auf die Figuren Lothario, Therese und Natalie, die mit dem Abbé »schon wirklich zur See gegangen« (471), also ausgewandert sind. Er betont, man könne die vier nicht einfach ›ziehen lassen‹, ohne über das zu berichten, was aus ihnen geworden sei: Wir aber, von unserer erzählenden und darstellenden Seite, sollten diese teuren Personen, die uns früher so viele Neigung abgewonnen, nicht in so weite Entfernung ziehen lassen, ohne von ihrem bisherigen Vornehmen und Tun nähere Nachricht erteilt zu haben, beson ders da wir so lange nichts Ausführliches von ihnen vernommen. Gleichwohl unterlassen wir dieses, weil ihr bisheriges Geschäft sich nur vorbereitend auf das große Unternehmen [der Auswanderung] bezog, auf welches wir sie lossteuern sehen. (471)
Die angekündigte oder wenigstens als wünschenswert dargestellte Schilderung der Beschäftigung der Betreffenden wird jäh unterschlagen. Der Redaktor stellt auch hier seine Macht der Selektion über das ihm Vorliegende aus, indem er von ihr in Form einer Auslassung Gebrauch macht (›unterlassen wir dieses‹). Fast wirkt es so, als wolle er den Leser ausdrücklich auf diese Verfügungsge walt stoßen. In ›erteilen‹ schwingt eine Machtdimension mit im Sinn von zutei len, zugestehen. Der Redaktor entscheidet über die Dosierung des Wissens und kommt zum Schluß, es liege in seinem Ermessen, die Dosis gänzlich vorzuent halten. Er führt einerseits die ›Neigung‹ zu den Figuren an, sagt, er wolle sie nicht in die ›weite Entfernung‹ ziehen lassen, ohne ›nähere Nachricht‹ von ihren Aktivitäten gegeben zu haben und betont – anscheinend bedauernd – die lange Abstinenz (temporal und quantitativ) in Sachen genauerer Informationen über die Genannten (›da wir so lange nichts Ausführliches von ihnen vernommen‹). Andererseits stößt er den Leser vor den Kopf mit seinem das formulierte Desiderat konterkarierenden ›gleichwohl unterlassen wir dieses‹. 1.2 Das Zusammenfassen Ebenso wie das Auslassen sind Raffen und Zusammenfassen Grundfertigkeiten der Archivierung. Ein Archiv kann immer nur eine Auswahl von etwas enthalten, sonst müßte es die Welt im Maßstab eins zu eins abbilden. Daß er auch raffend eingreift, macht der Redaktor z. B. mit einer Äußerung über eine Unterhaltung Wilhelms und Montans bei den Köhlern deutlich: »Dieses Gespräch, das wir nur skizzenhaft wiederliefern, verzog sich bis gegen Sonnenuntergang«. (47) Auffäl lig ist, daß er den Leser nicht zu Beginn des sich über mehrere Seiten hinziehen den Dialogs über seine Kürzungen informiert. Erst post festum teilt er ihm die Information über seine Eingriffe mit.
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Anders gegen Ende der ›Wanderjahre‹. Dort gesteht der Redaktor handfeste erzähltechnische Schwierigkeiten ein: Hier aber wird die Pflicht des Mitteilens, Darstellens, Ausführens und Zusammenziehens immer schwieriger. Wer fühlt nicht, daß wir uns diesmal dem Ende nähern, wo die Furcht, in Umständlichkeiten zu verweilen, mit dem Wunsche, nichts [!] völlig unerörtert zu lassen, uns in Zwiespalt versetzt. Durch die eben angekommene Depesche wurden wir zwar von manchem unterrichtet, die Briefe jedoch und die vielfachen Beilagen enthielten verschie dene Dinge, gerade nicht [!] von allgemeinem Interesse. Wir sind also gesonnen, dasjenige, was wir damals gewußt und erfahren, ferner auch das, was später zu unserer Kenntnis kam, zusammenzufassen und in diesem Sinne das übernommene ernste Geschäft eines treuen Referenten getrost abzuschließen. (471; Hervorhebung: M. B.)
Der Redaktor redet von einer ›Pflicht‹ und beruft sich auf diese. Von wem sie ihm auferlegt wurde, klärt weder er noch der Text. Er nennt einen ›Zwiespalt‹, der bei jeder Art von Archivierung, die auf Vollständigkeit aus ist, eine Rolle spielt. Zum einen ist er darauf angewiesen zu raffen (›Zusammenziehen‹), zum andern hat er aber eindeutig den Anspruch, alles aus seinem Fundus auf irgendeine Weise zur Geltung kommen zu lassen (›nichts völlig unerörtert zu lassen‹). Das ›völlig‹ ver leiht dem Anspruch Ausdruck, Dinge, die nicht erschöpfend behandelt werden können, zumindest anzureißen, vielleicht zu erwähnen. Erzählte Zeit und Erzähl zeit zur Deckung bringend, berichtet er von einer Eilbotschaft, die ihn angeblich zum Zeitpunkt seiner Äußerung (›eben‹) erreicht. Sie kläre zwar über einiges auf und bestehe aus ›Briefen‹ und ›vielfachen Beilagen‹, vielleicht aus verschiede nen Textgattungen. Leider aber beziehen diese sich wohl auf Subjektives, für den Fortgang der Erzählung Unrelevantes, wie er pikiert festzustellen scheint. Die Nachricht trägt in seinen Augen nicht zur angestrebten Klärung und Anord nung der Vielheit von Informationen bei, die er gerne noch veranstaltet hätte. Da sie ihm nicht weiterhilft, besinnt er sich auf ›dasjenige, was wir damals gewußt und erfahren, ferner auch das, was später zu unserer Kenntnis kam‹. Wieder einmal im pluralis majestatis von sich redend entschließt er sich, das ihm schon Vorliegende zu verarbeiten. Auch diese Verarbeitung besteht aus einer Raffung (›zusammenfassen‹). Die Motivation für diese Vorgehensweise besteht darin, die ›übernommene‹ anspruchsvolle Arbeit zuende bringen zu wollen. Der Redaktor inszeniert sich als ›treuen Referenten‹, läßt aber bei aller vorgeschützten Gewis senhaftigkeit und Skrupelhaftigkeit die Antwort auf die Frage nach der Perspek tivierung dieser ›Übernahme‹ seines ›Geschäftes‹ offen. Übernommen wird etwas immer von jemandem – wer dieser Auftraggeber ist, bleibt ungeklärt.14
14 Daß er im Namen der Turmgesellschaft handelt, wie z. B. Neuhaus und Schneider argumen tieren, halte ich für eher unwahrscheinlich. Gerade die Turmgesellschaft würde wohl niemanden
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1.3 Das Auswählen Die Tätigkeit des Auswählens verweist, ähnlich wie das Auslassen, auf die archi valische (Macht-)Frage: Was findet Eingang, was nicht? Auf Wilhelms Trouvaillen aus Makaries Archiv anspielend führt der Redaktor aus, er dürfe sie an dieser Stelle nicht einschalten. Als Grund führt er ›oben genannte Ursachen‹ an und meint seinen Ausspruch, wonach der Leser einen Roman in die Hand genommen habe: Auch dergleichen [von Wilhelm bearbeitete Materialien aus Makaries Archiv] dürfen wir aus oben angeführten Ursachen keinen Platz einräumen. Jedoch werden wir die erste sich dar bietende Gelegenheit nicht versäumen und am schicklichen Orte auch das hier Gewonnene mit Auswahl darzubringen wissen. (139 f. Hervorhebungen: M. B.)
Seinen Bedenken zum Trotz vertröstet er den Leser. Er kündigt die Wiedergabe ›dergleichen‹ für später an. Offenbar hat er die Befürchtung, eine andere Vorge hensweise könnte den Roman formal sprengen; die Rücksicht auf die gewählte Textgattung verwehrt ihm die Einschaltung gewisser Archivalien – zumindest beruft er sich hierauf, legitimiert so sein Auslassen. Die anvisierte Wiedergabe form ist ausdrücklich die der ›Auswahl‹, d. h. ›das hier Gewonnene‹ soll nicht in seiner Totalität abgedruckt werden, sondern nur teilweise. Wahrscheinlich – ein deutig zu entscheiden ist es nicht – meint er die Spruchsammlung ›Aus Makari ens Archiv‹, die erst zum Schluß des Texts präsentiert wird. Er legt so sein Wissen über die Genese eines Romans offen. ›Dergleichen‹ läßt er im Verlauf des Texts lieber weg, scheint es doch seiner Auffassung eines Romans zu widersprechen. Der ›schickliche Ort‹ für so Deutungsbedürftiges und eine detektivische Lektüre Erforderndes,15 so es sich denn wirklich um die Spruchsammlung handeln sollte, ist am Ende fast außerhalb des Texts eine Art Appendix. Die dem Redaktor vor schwebende und von ihm favorisierte Romanform scheint sich durch Bruchlosig keit und eine Rezeption ohne Hindernisse auszuzeichnen, sie visiert eine leichte Lesbarkeit an. ›Auswählen‹ bedeutet nicht nur etwas ›in Auswahl‹ wiederzugeben, sondern auch zu begründen, weshalb etwas selektiert und eingeschaltet wurde: Den Brief [Hersilies an Wilhelm] aber selbst, den wir unter den vielen uns anvertrauten Papieren gleichfalls vorgefunden, dürfen wir, als höchst bedeutend, nicht zurückhalten. (491)
anheuern, der aus ihrem Archiv ausgerechnet etwas so ›nutzloses‹ wie einen Roman verfertigt. 15 Es handelt sich um »Hefte kurzer, kaum zusammenhängender Sätze« (139).
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Hier thematisiert der Redaktor erneut die Selektion und streicht den Grund dafür heraus. Die ›vielen‹ Papiere, um die es geht, seien ›höchst bedeutend‹. So stellt er sich als jemanden dar, der die Grade von Wichtigkeit des ihm Vorliegenden ein zuschätzen vermag. Redlichkeit inszenierend argumentiert er, Wichtiges ›dürfe‹ man dem Leser nicht vorenthalten. Auf diese Weise schafft er Vertrauen in seine Arbeit, denn er scheint sich an objektive Kriterien für Archiviertes zu halten, die es verbieten, eine Publikation zu unterlassen.
1.4 Auf Unwissenheit hindeutende Redaktorbemerkungen Der Redaktor ist nicht allwissend. Seine Demonstrationen von Selektion und Macht bleiben zwiespältig. Zum einen kommt er nicht an sämtliche Materialien heran, sondern nur an das ihm Überlassene – er ist also auch nicht ›allmächtig‹. Andererseits übt er Macht aus, indem er aus dem ihm Vorliegenden auswählt, es präsentiert und zum Gegenstand seiner Äußerungen macht. Es ist Teil der Archivfiktion, daß er nur auf das zugreifen kann, was ihm vorliegt. Außerdem hat er nicht immer freie Hand, ist auch selbst das ›Opfer‹ des Archivs und seiner Machtausübungen (Zugang, Auswahl). Mehrmals im Text bekennt er sein Unwis sen. Begründet wird es unterschiedlich, besonders auffällig indessen dort, wo er, seine Eingeweihtheit verleugnend, auf Wilhelms Wundarztbesteck anspielt: Unter solchem Gespräch nun zog Wilhelm, ich weiß nicht zu welchem Gebrauch, etwas aus dem Busen, das halb wie eine Brieftasche, halb wie ein Besteck aussah und von Montan als ein Altbekanntes angesprochen wurde. Unser Freund leugnete nicht, daß er es als eine Art von Fetisch bei sich trage, in dem Aberglauben, sein Schicksal hange gewissermaßen von dessen Besitz ab. Was es aber gewesen, dürfen wir an dieser Stelle dem Leser noch nicht vertrauen, soviel aber müssen wir sagen, daß hieran sich ein Gespräch anknüpfte, dessen Resultate sich endlich dahin ergaben, daß Wilhelm bekannte: wie er schon längst geneigt sei, einem gewissen besondern Geschäft, einer ganz eigentlich nützlichen Kunst sich zu widmen […]. (50; Hervorhebungen: M. B.)
Der Redaktor sagt ›ich‹ und verweigert dem Leser ausdrücklich die Information, worum es sich bei Wilhelms ›Art von Fetisch‹ handelt. Er ›dürfe‹ es ›dem Leser noch nicht vertrauen‹, ›müsse‹ aber mitteilen, daß sich daran ein Gespräch ›anknüpfte‹, in dem es um Wilhelms Berufswahl gehe. Die Konstellation offen bart sich als eine der präzisen Dosierung von Informationen. Es scheint eine Begrenzung dahingehend zu geben, wie viel man dem Leser anvertrauen und wie viel man ihm bis zu welchem Zeitpunkt (›noch nicht‹) vorenthalten darf. Außerdem ist von einer Art kritischer Masse auszugehen, einer minimalen Informationsmenge, die dem Leser obligatorisch zuzugestehen ist (›soviel aber
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müssen wir sagen‹) – sonst, so das vielleicht dahinterstehende Kalkül, würde der produzierte Text nicht funktionieren. Der Redaktor läßt sich auf den Spagat zwischen dem gänzlichen Vorenthalten und dem wohldosierten Einstreuen von Informationen ein.16 Die Auflösung des angesprochenen Geheimnisses, das zumindest für die Leser der ›Lehrjahre‹ schnell lösbar ist, kommt indessen nicht vom Redaktor selbst. Erst zwei Bücher später klärt Wilhelm in seinem Brief an Natalie darüber auf. Der Fetisch und das Rätsel seiner Herkunft werden durch den Brieftext enthüllt (vgl. 255 f.), nicht durch den Redaktor, der für die Verhül lung verantwortlich ist. Dieser schiebt eine Archivalie nach, um ein angebliches Geheimnis zu lüften. War das Unwissen des Redaktors in diesem Beispiel von ihm selbst mehr oder weniger geschickt in Szene gesetzt, so finden sich doch auch Abschnitte, an denen er wirklich unter Informationsmangel leidet. Im ›Mann von funfzig Jahren‹ etwa fällt dem Major ein, daß die Ovid-Verse, die er an die Geliebte seines Sohnes schicken möchte, unglücklicherweise aus dem Mund Arachnes stammen. Er gerät daher in ›Verlegenheit‹: Wie sich nun der Freund [der Major] aus einer solchen Verlegenheit gezogen, ist uns selbst unbekannt geblieben, und wir müssen diesen Fall unter diejenigen rechnen, über welche die Musen auch wohl einen Schleier zu werfen sich die Schalkheit erlauben. Genug, das Jagdgedicht selbst ward abgesendet, von welchem wir jedoch einige Worte nachzubringen haben. (218)
Jetzt bekennt der Redaktor wirkliches Unwissen. Er beruft sich auf die ästheti sche Konvention der Musen und deren ›Schalkheit‹ des Verschleierns, um sein Nichteingehen auf das Ungewisse zu rechtfertigen. Unmittelbar darauf, so als erübrige sich dadurch jegliche weitere Erläuterung und jeder mögliche Einwand (›genug‹),17 schließt sich die über eine halbe Seite ausgreifende Paraphrase eines Jagdgedichts an, das der Major abgesandt habe (vgl. 219). In einem anderen Fall kann der Redaktor begründen, worauf seine eigene ›nur unvollständige und unbefriedigende Kenntnis‹ eines Gesprächs beruht: Hier nun fand sich Odoard bewogen, nach und nach von den Angelegenheiten seines Geistes und Herzens fragmentarische Rechenschaft zu geben, deshalb denn auch von diesem Gesprä che uns freilich nur unvollständige und unbefriedigende Kenntnis zugekommen. (425)
16 Vgl. Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 60 f. 17 »›Genug‹ here signifies a crucial boundary moment, one in which some narrative portion has come to an end (the act of sending the poem) and a new one is about to begin (the act of receiving the poem). […] In place of either the reception or citation of the poem we are offered its paraphra se. ›Enough‹ is the sign of a communicative interstice.« (Piper: Paraphrasis, S. 183).
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Bereits die ihm vorliegenden Informationen über das Gespräch sind ›fragmenta risch‹, schon das Überlieferte war unvollständig. Er staffiert es jedoch nicht mit Mutmaßungen aus, sondern führt die Lückenhaftigkeit als Entschuldigung für die eigenen nicht vollständigen Kenntnisse ins Feld.
1.5 Redaktorbemerkungen zu den Kapitelanfängen Hinweise auf Archivalisches Erzählen lassen sich auch an einigen Kapitelanfän gen ausmachen. Manchmal leitet der Redaktor Kapitel auffällig umständlich ein und rückt dabei seine Vorgehensweise in den Vordergrund. Er läßt sich zu Beginn des dritten Kapitels des zweiten Buchs so vernehmen: Der Angewöhnung des werten Publikums zu schmeicheln, welches seit geraumer Zeit Gefallen findet, sich stückweise unterhalten zu lassen, gedachten wir erst, nachstehende Erzählung in mehreren Abteilungen vorzulegen. Der innere Zusammenhang jedoch, nach Gesinnungen, Empfindungen und Ereignissen betrachtet, veranlaßte einen fortlaufenden Vortrag. Möge derselbe seinen Zweck erreichen und zugleich am Ende deutlich werden, wie die Personen dieser abgesondert scheinenden Begebenheit mit denjenigen, die wir schon kennen und lieben, aufs innigste zusammengeflochten worden. (184; Hervorhebungen: M. B.)
Er gesteht ein, daß er den Gewohnheiten des ›werten Publikums‹ zuerst ›schmei cheln‹, die Erzählung in mehreren Teilen geben wollte. Zudem habe er vorgehabt, sie ›in mehreren Abteilungen‹ zu präsentieren. Mit dieser recht technizistischen Formulierung betritt er wieder das terminologische Feld der Archivierung. Den äußeren Umständen stünden nun jedoch Erfordernisse der Erzählung selbst ent gegen (›der innere Zusammenhang‹), die auf einen ›fortlaufenden Vortrag‹ ange wiesen sei. Er habe sich die Form der stückweisen Unterhaltung in diesem Fall verkniffen, so die Aussage des Redaktors, und da das Entscheidende die forma len Ansprüche der Erzählung selbst seien, auf jene Rücksicht genommen. Diese vorbereitende Bemerkung leitet den ›Mann von funfzig Jahren‹ ein. Die Erzählung wird über Umwege und suggestiv (›lieben‹) eingeführt, trotzdem bleibt sie unver knüpft (›abgesondert‹). Entgegen der Versprechung des Redaktors, der ›fortlau fende Vortrag‹ werde die auftauchenden Figuren mit den anderen schon bekann ten ›zusammenflechten‹, bleibt ihre Positionierung im Haupttext ebenso wie ihre Perspektivierung unmotiviert und willkürlich:18 Der letzte Satz der Erzählung
18 Am Ende des dritten Kapitels des zweiten Buchs wäre eine Perspektivierung gewesen, die sich jedoch nur in der ersten Fassung der ›Wanderjahre‹ fand. Sie war übertitelt mit ›Hersiliens Nachschrift‹. Damit wäre auch der Urheber der Geschichte klar gewesen.
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›Der Mann von funfzig Jahren‹ bezieht sich auf einen Briefwechsel und lautet lapidar: »Das Ganze schließt mit einer dankbaren Erwiderung an Makarien.« (246) Auch das erste Kapitel des dritten Buchs wird vom Redaktor markiert. Es beginnt mit einem scheinbar zusammenfassenden Satz, der sich bei näherer Betrachtung als recht diffus entpuppt. Der Redaktor wirkt an einer so prominen ten Stelle wie einem Kapitelbeginn unsicher. Die ersten Worte summieren das Geschehene und seine Folgen, ohne Näheres auszuführen: Nach allem diesem und was daraus erfolgen mochte, war nun Wilhelms erstes Anliegen, sich den Verbündeten wieder zu nähern und mit irgendeiner Abteilung derselben irgendwo zusammenzutreffen. (338; Hervorhebungen: M. B.)
Auch Wilhelms ›Anliegen‹ wirkt willkürlich (›mit irgendeiner Abteilung irgendwo zusammenzutreffen‹). Es läßt sich nicht entscheiden, ob vielleicht Wilhelms Aufzeichnungen so unpräzise waren oder ob der Redaktor diese undefinierten Angaben verantwortet. Anders verhält es sich zu Beginn des achten Kapitels des dritten Buchs: Unter den Papieren, die uns zur Redaktion vorliegen, finden wir einen Schwank, den wir ohne weitere Vorbereitung hier einschalten, weil unsre Angelegenheiten immer ernsthafter werden und wir für dergleichen Unregelmäßigkeiten fernerhin keine Stelle finden möchten. Im ganzen möchte diese Erzählung [›Die gefährliche Wette‹] dem Leser nicht unangenehm sein, wie sie St. Christoph am heitern Abend einem Kreise versammelter lustiger Gesellen vortrug. (410)
Im Vergleich zu den teilweise abrupten Übergängen zwischen Erzählungen oder Erzählsequenzen in den ›Wanderjahren‹ wird hier ausdrücklich und in Editi onsterminologie (›Papiere‹, ›Redaktion‹, ›einschalten‹) auf das Einfügen einer Erzählung hingewiesen. Intrikaterweise möchte der Redaktor ›ohne weitere Vor bereitung‹ einschalten. Dieser Hinweis ist aber selbst schon eine Vorbereitung performativer Art. Die Äußerung über das vorgeblich unvermittelte Aufnehmen einer Erzählung macht genau dies Unvermittelte unwirksam: contre coeur führt sie ein, leitet an, wo laut Ansage keine Einleitung statthat – eine Art performative praeteritio. Auch eine Begründung wird nachgereicht: ›weil unsre Angele genheiten immer ernsthafter werden‹ und weil es später für ›dergleichen‹ keine ›Stelle‹ mehr geben könnte. Ebenso wird die Erzählung klar perspektiviert (›wie sie St. Christoph vortrug‹).
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1.5.1 Hinweise auf die technische Seite von Archivierung Ehrhard Bahr, der Herausgeber der zitierten ›Wanderjahre‹-Ausgabe, fügt zwi schen das dritte und vierte Kapitel des zweiten Buchs eine für das Verständnis des Texts wichtige ›Zwischenrede‹ ein: Zwischenrede Daß eine gewisse Lücke, vielleicht in kurzem fühlbar, im ganzen hie und da bemerklich und doch nicht zu vermeiden sein werde, sprechen wir lieber selbst aus, ohne Furcht, den Genuß unserer Leser dadurch zu kränken. Bei der gegenwärtigen, zwar mit Vorbedacht und Mut unternommenen Redaktion stoßen wir doch auf alle die Unbequemlichkeiten, welche die Herausgabe dieser Bändchen seit zwanzig Jahren verspäteten. Diese Zeit hat daran nichts verbessert. Wir sehen uns noch immer auf mehr als eine Weise gehindert und, an dieser oder jener Stelle, mit irgendeiner Stockung bedroht. Denn wir haben die bedenkliche Aufgabe zu lösen, aus den mannigfaltigsten Papieren das Werteste und Wichtigste auszu suchen […]. Da liegen nun aber vor uns Tagebücher, mehr oder weniger ausführlich, bald ohne Anstand mitteilbar, bald wegen unbedeutenden, auch allzu bedeutenden Inhalts unrätlich einzuschalten. Sogar fehlt es nicht an Heften, der wirklichen Welt gewidmet, statistischen, technischen und sonst realen Inhalts. Diese als ungehörig abzusondern fällt schwer, […]. Alsdann begegnen uns Entwürfe, mit guter Einsicht und zu herrlichen Zwecken geschrieben, aber nicht so folgerecht und durchgreifend, daß man sie völlig billigen oder aber in der neuen, so weit vorgeschrittenen Zeit für lesbar und wirksam halten könnte. Ebenso begegnen wir kleinen Anekdoten ohne Zusammenhang, schwer unter Rubriken zu bringen, manche, genau besehen, nicht ganz unverfänglich. Hie und da treffen wir auf aus gebildetere Erzählungen, deren manche, schon bekannt, dennoch hier notwendig einen Platz verlangen und zugleich Auflösung und Abschluß fordern. Auch an Gedichten ist kein Mangel, und doch läßt sich nicht leicht, nicht immer entscheiden, wo sie eingeschaltet werden dürften, um der wahren Stimmung nachzuhelfen, welche gar leicht gestört und umgewendet wird. Wenn wir also nicht, wie schon oft seit vielen Jahren, in diesem Geschäft abermals stocken sollen, so bleibt uns nichts übrig, als zu überliefern, was wir besitzen, mitzuteilen, was sich erhalten hat. Und so geben wir daher einige Kapitel, deren Ausfüh rung wohl wünschenswert gewesen, nur in vorübereilender Gestalt, damit der Leser nicht nur fühle, daß hier etwas ermangelt, sondern daß er von dem Mangelnden näher unterrichtet sei und sich dasjenige selbst ausbilde, was, teils der Natur des Gegenstandes nach, teils den eintretenden Umständen gemäß, nicht vollkommen ausgebildet oder mit allen Belegen gekräftiget ihm entgegentreten kann. (206 ff. Hervorhebungen: M. B.)
Man muß diese Passage nicht obligatorisch Goethe zuschreiben, der als deus ex machina in den Textkosmos der ›Wanderjahre‹ eingreift, obwohl diese Annahme nicht abwegig wäre.19 – Unter diesen Vorzeichen könnte man die ›Zwischenrede‹ auch mit Mainberger, die wiederum auf Genette rekurriert, als »enumerative[n]
19 So z. B. die Münchner Ausgabe: »Als Vorwort wäre die Zwischenrede leichter denkbar ge wesen; so aber unterbricht Goethe bewußt die Fiktion, indem er nicht als Erzähler, sondern als Autor auftritt und auf die Genese und Gestaltung des Werks verweist.« (MA 17, S. 982).
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Paratext[ ]« klassifizieren. –20 Vielmehr schlage ich vor, sie als Reflexion des Texts auf sich selbst, auf das zugrundeliegende Material, auf damit einhergehende Probleme und schließlich auf sich daraus folgernde Verfahrensweisen zu lesen. Möchte man diese ›Zwischenrede‹ unbedingt jemandem zuordnen, so bietet sich am ehesten der Redaktor an. Auf ihn weist auch der Duktus der Rede hin. Es wird dort im pluralis majestatis gesprochen und der Leser wird auf ähnliche Weise hofiert wie in den bereits behandelten Hinweisen des Redaktors. Die ›Zwischenrede‹ stößt den Leser gleich zu Beginn offensiv auf eine ›gewisse Lücke‹. Der Begriff steht nur im Singular da, es sind aber wohl mehrere Lücken gemeint (›hie und da bemerklich‹). Der Redaktor rechtfertigt die ›Redak tion‹ des Materials als eine ernsthafte (›mit Vorbedacht und Mut unternommen‹) und nennt die der ›Herausgabe‹ entgegenstehenden Momente. Diese sind die große Zeitspanne, ›Hinderungen‹ und ›Stockungen‹, die aus einer ›bedenklichen Aufgabe‹ herrühren – damit ist wohl die Aufgabe der Selektion gemeint: ›aus den mannigfaltigsten Papieren das Werteste und Wichtigste auszusuchen‹. Ein wei teres Problem sei das der Kategorisierung, denn manches lasse sich nur ›schwer unter Rubriken bringen‹ – spätestens mit diesem Hinweis zeigt das zu den ›Wan derjahren‹ gehörende Archiv sein Gesicht. Dies geschieht in einem zusammen hängenden Absatz und recht komprimiert, ohne ›störende‹ Texthandlung. Als archiviertes Material, aus dem ausgewählt werden soll, werden genannt: ›Tage bücher‹, ›Hefte aus der wirklichen Welt‹ (›statistischen, technischen und sonst realen Inhalts gewidmet‹), teils unvollständige Entwürfe (›nicht so folgerecht und durchgreifend‹), ›Anekdoten ohne Zusammenhang‹, ›ausgebildetere Erzählun gen‹ und ›Gedichte‹. Dabei sticht ins Auge, wie hier eine Engführung, gar Verschränkung von Wander- und Archivmetaphorik inszeniert wird. Das ›hie und da‹ zu Beginn paßt genausogut zu einer Bewegung im Raum, wie zur Umschreibung einer Mehrzahl von Lücken; und auch eine Wanderung erheischt ›Vorbedacht und Mut‹, der Wandernde kann auf seinem Weg ebenfalls auf ›Unbequemlichkeiten‹ und ›Sto ckungen‹ stoßen. In der ›Zwischenrede‹ geht es nicht um ein unreflektiertes und nicht lokalisierbares Dahinwandern, sondern um ein Wandern oder wenn man so will, ein Flanieren im oder durchs Archiv.21 Es geht um eine Inszenierung des ›Aug in Aug‹ mit dem Material, darum, es vor sich zu haben. Der Flaneur weist
20 Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 119. Kursivierung im Original. 21 Zum textuell in den ›Wanderjahren‹ unterrepräsentierten Topos des Wanderns schlage ich vor, Gidion zu folgen, die formuliert, im Text werde »nicht gewandert, sondern angekommen oder aufgebrochen. Selbst wer Reisen gemacht hat, kann davon nichts erzählen.« (Gidion: Zur Darstellungsweise, S. 24).
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auf Archivalien im selben Duktus hin, als zeige er auf landschaftliche Schönhei ten wie etwa einen Fluß (›Da liegen nun aber vor uns Tagebücher‹). Er drückt Verwunderung oder Freude beim Anblick von Materialien aus (›sogar fehlt es nicht an Heften‹), so als träten sie ihm gerade unmittelbar in den Blickwinkel. Des Weiteren findet auch hier eine Art Anthropomorphisierung der Archivalien statt. Sie werden behandelt, als kämen sie dem Spaziergänger auf seinem Weg entgegen: ›Alsdann begegnen uns Entwürfe‹ und, kurz darauf: ›ebenso begegnen wir kleinen Anekdoten ohne Zusammenhang‹. Zwei Mal hintereinander wird das Verb ›begegnen‹ bemüht. Beim ersten Mal sind es Entwürfe, beim zweiten Mal ›kleine Anekdoten‹, die fast schon ein Bild von kleinen Kindern evozieren, die den wohl erwachsenen Entwürfen ›ohne Zusammenhang‹ hinterherhecheln. Wiederholt wird auch die Metapher für eine aleatorische Ortsbestimmung (›hie und da‹) genannt. Der Wanderer stößt zudem sporadisch auf gebildete Spazier gänger (›hie und da treffen wir auf ausgebildete Erzählungen‹). Doch nicht nur der Gang durchs Archiv wird auf diese Weise in seiner kine tischen Dimension illustriert, sondern auch die Arbeit am dort Archivierten. Der Vorausblick bereitet darauf vor, daß manche Kapitel nur ›in vorübereilender Gestalt‹ gegeben werden, ja geradezu vorbeihuschen. Selbst wenn der Wanderer in seiner guten Stube hockt und sich an die thematisierte ästhetische Überar beitung des Archivierten macht, ist er nicht vor Unvorhergesehenem gefeit. Im Bild des Wanderns bleibend treten Umstände ein. Schließlich wird auch noch der Leser integriert. Man warnt ihn vor, manches werde ihm nicht ›mit allen Belegen gekräftiget entgegentreten‹. Die in der zweiten Fassung der ›Wanderjahre‹ weggelassene ›Zwischenrede‹ transportiert die Botschaft, so könnte man zusammenfassen, daß kein Mangel an der Masse von Material aber ein Mangel an Verknüpfungen herrsche. Letz terer wird dem Leser dezidiert angezeigt (›daß er von dem Mangelnden näher unterrichtet sei‹). Dem Redaktor bleibt nichts übrig ›als zu überliefern, was wir besitzen, mitzuteilen, was sich erhalten hat.‹ Fehlende Überleitungen, die Ein bettung der Textfragmente sowie Fragen nach der Evidenz des Niedergelegten (›nicht mit allen Belegen gekräftiget‹) hingegen werden dem Leser zugeschoben. Es liegt an ihm, auch das wird formuliert, daß er auf seiner Wanderung durch den Text ›dasjenige selbst ausbilde‹ was ihm fragmentarisch oder defizitär ent gegentritt. Das Weglassen der ›Zwischenrede‹ in der Fassung von 1829 bedeutet kei nesfalls eine Abschwächung der Bedeutung des Archivs für die zweite Fassung der ›Wanderjahre‹. Im Gegenteil bringt das Vorenthalten dieser komprimierten ›Bedienungsanleitung‹ sogar eine Verschärfung des ›Prinzips Archiv‹ mit sich, führt es doch zu einer noch ausgeprägteren Opazität der zweiten Fassung im Ver
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gleich zur ersten.22 Der Leser ist hier viel mehr gehalten, die im Text verstreuten und verschiedenen Figuren in den Mund gelegten einzelnen Hinweise aufs Archiv zusammenzusuchen als noch in der ersten. Damit figuriert die zweite Fassung ein Archiv, in dem es keine höhergestellte (textinterne) Instanz mehr gibt, die dem Leser etwas kohärent erklären könnte. Ein weiteres Beispiel für solch eine versteckte Bezugnahme aufs Archiv steht im ›Mann von funfzig Jahren‹. Dort findet sich eine Passage, die als gera dezu perfide marginal inszenierter Hinweis auf die Romanpoetik gelesen werden kann. Eine nur ein Mal auftauchende Nebenfigur, ein Kammermädchen, bringt in einem suggestiven Verfahren (›hatte den Kammerdiener dahin vermocht‹) eine Steigerung der ›Erleuchtung‹ zustande. Eigentlich geht es um Kleidung: Das kluge Kammermädchen hatte den Kammerdiener dahin vermocht, die Erleuchtung zu steigern, und dabei alles zusammengelegt und ausgebreitet, was zur Ausstattung Hilariens bisher vorgearbeitet worden, eigentlich in der listigen Absicht, mehr das Fehlende zur Sprache zu bringen, als dasjenige zu erheben, was schon geleistet war. Alles Notwendige fand sich, und zwar aus den feinsten Stoffen und von der zierlichsten Arbeit; auch an Willkürlichem war kein Mangel, und doch wußte Ananette überall da noch eine Lücke anschaulich zu machen, wo man ebensogut den schönsten Zusammenhang hätte finden können. (222; Hervorhebungen: M. B.)
In der ›listigen Absicht‹ (ist es gar eine listende?) das ›Fehlende zur Sprache zu bringen‹ legt Ananette zusammen und breitet aus. Sie drapiert ›Notwendiges‹ ebenso wie ›Willkürliches‹ an dem ›kein Mangel‹ sei – damit erweist sie sich als Kontingenzinszeniererin. Einer harmonisierenden Sichtweise (›wo man den schönsten Zusammenhang hätte finden können‹) setzt sie ihre nicht wenig sug gestive Fähigkeit entgegen, die Lücken anschaulich zu machen. Es geht ausdrück lich ums Verbalisieren (›zur Sprache bringen‹) oder sichtbar Machen (›anschau lich machen‹) von scheinbar Defizitärem (›Fehlendes‹, ›Lücke‹, ›Mangel‹), das dadurch wiederum produktiv gemacht wird.23 Der Text kehrt auch hier wieder zurück zu seinen großen Themen, zum Mannigfaltigen, zu den Fragen nach der Anordnung desselben, und zu jener nach dem passenden Modus, um Ord nungsideen anschaulich und produktiv zu machen. Er stellt seine Kompetenz auf
22 Der Entstehungsprozeß der zweiten Fassung liegt übrigens noch immer im Dunkeln; es fehlt eine historisch-kritische Ausgabe! »Eine solche Ausgabe gehört zu den schwierigsten und drin gendsten Desideraten der Goethe-Philologie. Der Herausgeber der Wanderjahre in der Weimarer Ausgabe ist an dem Versuch gescheitert, [die] genetische Dimension des Romans aufzuhellen.« (FA I 10, 970. Kursivierung im Original). 23 Am Beispiel des Wäschemädchens Ananette zeigt Renner, daß »Auslassung und Aussparung […] eine Eigenart der Bilder wie der Texte [ist].« (Renner: Text, Bild und Gedächtnis, S. 160).
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diesem Gebiet aus, indem er etwa sein Wissen darüber preisgibt, daß auch die Kontingenz inszeniert ist. Er ist ›listig‹ wie das Kammermädchen Ananette, macht Lücken und Mängel durch die geschickte Anordnung von Elementen sprechend und verwahrt sich gegen eine harmonisierende lectio facilior des ›schönsten Zusammenhangs‹, steigert so die ›Erleuchtung‹. All das stellt er nicht mehr groß zur Debatte wie in der ›Zwischenrede‹ der ersten Fassung, sondern läßt darauf in einer Erzählung von einer völlig marginal erscheinenden Figur anspielen. Einen ähnlich listigen Kniff wendet der Redaktor in der Lago Maggiore- Episode an. Dort ist die Rede von Bildern, die der Maler während seines und Wilhelms Aufenthalt produziert hat. »[S]ämtliche[ ] Portefeuilles des trefflichen Künstlers [waren] zum erstenmal alle beisammen« (257). »In stetiger Folge« (257) kann der Kunstmaler anhand seiner Bilder den zurückgelegten Weg revue passieren lassen. Der Redaktor deutet nun das Evidenzdilemma an, in dem er selbst sich befinde. Der Leser unterstelle ihm vielleicht – diese Denkart wiederum unterstellt er selber dem Leser –, er wolle ihm ›mit allgemeinen Phrasen‹ etwas ›unterschieben‹: Damit wir aber nicht in Verdacht geraten, als wollten wir mit allgemeinen Phrasen dasje nige, was wir nicht vorzeigen können, gläubigen Lesern nur unterschieben, so stehe hier das Urteil eines Kenners, der bei jenen fraglichen sowohl als gleichen und ähnlichen Arbeiten mehrere Jahre nachher bewundernd verweilte. (257 f. Hervorhebungen: M. B.)
Das Problem des Redaktors hängt mit der von ihm gewählten Textgattung zusam men. Es besteht darin, besagte Bilder in einem Roman nicht wiedergeben zu können (›was wir nicht vorzeigen können‹). Um Glaubwürdigkeit zu generieren greift er auf das Urteil eines Fachmanns zurück. Im Text folgt darauf eine zwei seitige, in Anführungszeichen gesetzte Bildbeschreibung. Der Redaktor präzi siert nicht, von wem sie stammt, ihr Verfasser bleibt ungenannt. Heinz formu liert dazu: »Ironischerweise liest sich jedoch das gesamte wörtliche Zitat selbst als Ansammlung von Phrasen aus dem Kritikerjargon, angereichert durch einige kunsttechnische Termini.«24 Der Autor dieses Traktats ist Goethes Freund Johann Heinrich Meyer.25 Die Bildbeschreibung schließt in den ›Wanderjahren‹ mit dem Passus »›denn diese Gegenden [im Hochgebirge] geben nur Futter den Gemsen, und Wildheuern einen gefahrvollen Erwerb.‹« (259) Der Begriff ›Wildheuer‹ wird nach einer Blindzeile nun vom Redaktor unmittelbar aufgegriffen:
24 Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 343. 25 Vgl. FA I 10, S. 1130 f.
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Wir entfernen uns nicht von der Absicht, unsern Lesern den Zustand solcher wilden Gegen den so nah als möglich zu bringen, wenn wir das eben gebrauchte Wort Wildheuer mit wenigem erklären. (259; Kursivierung im Original)
Der Romantext liefert auf diese Ankündigung hin tatsächlich eine Worterklärung. Das kommt jenem Produktivmachen des Archivs nahe, wie Angela es mit der Pflanzen- bzw. Quecksilbermetapher umschrieben hat. Ein Angerissenes greift beim näheren Betrachten über seine eigene Sphäre hinaus und wird in verschie dene Richtungen hin fruchtbar. Die Rekapitulation dieses Vorgangs offenbart eine Art Automatismus des Archivs. Um archivierten Bildern im Text Geltung zu verschaffen wird auf die Bildbeschreibung des ›Kenners‹ zurückgegriffen. Diese Archivalie (die Bildbeschreibung) generiert nun eine neue Erklärung (›Wild heuer‹), die wiederum extern archiviert wird. 1.5.2 Hinweise auf Unentscheidbarkeiten in der Perspektive An unklarer Perspektivierung wird die mangelnde oder mangelhafte Überarbei tung von Archivalien manifest. D. h. an den dies betreffenden Stellen wird der Redaktor seinem eigenen Anspruch nicht ganz gerecht, denn er wollte ja einen gelingenden, also den konventionellen Mustern entsprechenden Roman schrei ben. So gibt es beispielsweise ein »mutwilliges Lied« (65), das in die ›Pilgernde Törin‹ eingeschaltet ist. Es ist nicht klar, ob es dem Redaktor oder Hersilie, welche die Geschichte als Übersetzung aus dem Französischen präsentiert, zuzuordnen ist: Da man in der Folge Ursache hatte zu glauben, daß diese burleske Romanze sie [die pil gernde Törin und ihre Verehrer] etwas näher angehe, so verzeiht man mir wohl, wenn ich sie hier einschalte. (65)
Für Hersilie als Verantwortliche spricht das ›verzeiht man mir‹, das sich nicht wie die Rede des Redaktors des pluralis majestatis bedient. Für den Redaktor dagegen spricht das von ihm schon bekannte Sich-Entschuldigen (›verzeiht man mir wohl‹) und der im Kontext einer Liebesgeschichte doch recht prosaisch wir kende Fachterminus ›einschalten‹. Eine vergleichbare Unentscheidbarkeit in der Perspektivierung einer ganzen Erzählung ließ sich weiter oben für ›Wer ist der Verräter?‹ nachweisen.
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1.6 Fazit Archivalisches Erzählen Aus der Zusammenschau der Redaktorbemerkungen zum Archivalischen Erzäh len lassen sich das Verständnis des Redaktors von Archivierung und dessen Bild von einem gelungenen Roman rekonstruieren. Letzteres indes ist recht konventi onell. Hätte er wirklich freie Hand gehabt, würden die ›Wanderjahre‹ als ästheti sches Produkt ganz anders ausgesehen haben, viel glatter, vor allem eindeutiger in der Aussage. Wahrscheinlich wären sie gar mit einem »Vereinsziel«26 ausge stattet worden. Die vom Redaktor vertretene Sicht von Archivierung scheint aber auch nicht so naiv, wie angenommen. Sie weist Facetten auf, Variationen, gar Fachbegriffe. Der Text scheint den Redaktor vorzuschicken, um die Anforderungen und Pro bleme illustrieren zu können, die im Umgang mit dem Archiv und bei seiner ästhetischen Überarbeitung auftauchen.27 Daß der Redaktor eben keine freie Hand hatte, zeigt sich im nächsten Kapitel ›Archivalisches Schreiben‹. Dort wird auch klar, inwiefern die ›Wanderjahre‹ von der Textanlage her über das hinaus reichen, was der Redaktor angeblich allein zu verantworten hat.
2. Archivalisches Schreiben Sich dem Archivalischen Schreiben zuzuwenden heißt auch, sich den ›fremden Texten‹, den Brüchen in den ›Wanderjahren‹ zu widmen, wie Schneider es für Goethes ›Faust II‹ einfordert: [I]n Wahrheit kommen die ›fremden‹ Texte nur transformiert, fragmentiert und zerstreut vor. Seine Brüche [jene des Texts], Mehrfachcodierungen, Uneindeutigkeiten sind zunächst einmal in ihrer jeweiligen poetischen Gestalt ernstzunehmen und auf ihre Funktion zu befragen.28
Auf solche Uneindeutigkeiten einzugehen, bedeutet auf dem Gebiet der ›Wander jahre‹ – und das ist zugleich die Skizze dessen, was nun folgt – (1) auf fehlende
26 Muschg: ›Bis zum Durchsichtigen gebildet‹. In: Ders.: Goethe als Emigrant, S. 122. 27 Insofern ist der Redaktor, bei aller Relativierung seiner Rolle für die Textgenese, nicht einfach zu ironisieren und Finks Diktum nicht uneingeschränkt zuzustimmen: »So ist die Inkonsequenz des Redaktors für den Autor ein Mittel der Ironie, das ihm erlaubt, die oberflächlichen Erwartun gen des traditionellen Lesers zu verspotten« (Fink: Tagebuch, Redaktor und Autor, S. 33). 28 Schneider: Archivpoetik, S. 3.
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Überleitungen acht zu geben, sich (2) blinde Motive näher anzuschauen und (3) ›anonymes‹ Zitieren, also Zitate, deren Zitatcharakter oder Herkunft nicht geklärt wird, zu untersuchen.
2.1 Fehlende Überleitungen: ›Das Archiv sind die Lücken‹ Als theoretischen Ideengeber für die Antwort auf die Frage nach der Funk tion fehlender Überleitungen möchte ich eine Studie Ernsts heranziehen. In einem Unterkapitel ›Das Archiv sind die Lücken‹ bezieht er sich auf das, was nicht ins Archiv aufgenommen wurde, was durch die Raster der Aufbewahrung gefallen ist. Die Narration sei dabei von nachgeordneter Bedeutung, denn es handle sich beim Archiv eben um »ein Register eher denn eine Narration.«29 So betrachtet ist das Archiv nicht nur ein Relikt, das die Zeiten überdauern soll, sondern auch eine der Datensammlung vorauslaufende Struktur, das den Daten die Form gebende Medium: »schon am Anfang bildet es das vorgängige Raster registrierter Wirklichkeit.«30 Aus der Historikerperspektive laute die Frage:31 »Ist eine Lücke im Archiv der Nachweis eines originären Schweigens oder eines Verschweigens?«32 Ernsts Diktum ›Das Archiv sind die Lücken‹ ist auch für die ›Wanderjahre‹ aufschlußreich. Das gilt vor allem dann, wenn man ihm eine ein wenig andere Wendung gibt. Für einen narrativen Text, für Literatur, sind (vorsätzlich gene rierte) Lücken das Mittel, Archivhaftigkeit zu inszenieren oder der Struktur eines Archivs nahezukommen. Ein 1830 erschienener Text aus der Archivwissenschaft bestärkt diese Annahme. Dort wird angesprochen, was das Archiv von seiner Konstitution und der Materialfülle her mit Lücken zu schaffen hat. Der Autor ruft ausdrücklich dazu auf, bei Reflexionen über Archive den »lückenhaften und fragmentarischen Zustand dieses Materials in Anschlag«33 zu bringen. Um das Archiv, das er als materielle Grundlage für Historiographie versteht, für die Geschichtsschreibung nutzbar zu machen, sei gar eine besonders ausgeprägte Bildung nötig, so Medem:
29 Ernst: Rumoren der Archive, S. 23. 30 Ernst: Rumoren der Archive, S. 24. 31 Denn »Nicht-Existenz aber vermögen Historiker nicht zu denken.« (Ernst: Rumoren der Ar chive, S. 25). 32 Ernst: Rumoren der Archive, S. 25. Die Leerstellen im Archiv können auch ganz materiale Ur sachen haben: »Seiten falten sich aufeinander, lassen Texte verschwimmen oder abgeschnitten erscheinen – von daher die Lücken.« (Ernst: Rumoren der Archive, S. 28). 33 Medem: Über die Stellung und Bedeutung der Archive, S. 30.
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In der That wird kein geringes Maas geistiger Bildung und Intelligenz in Anspruch genom men, um aus solchen unzusammenhängenden und abgerissenen Notizen, wie sie nur ein Archiv, bei anscheinend so überreichem Stoffe, darzubieten vermag, längst untergegan gene Formen gleichsam wieder ins Leben zu rufen; aus solchen fragmentarischen und vereinzelten Andeutungen die concrete Fülle der Begebenheiten darzustellen; aus flüchtig hingeworfenen Daten und leise skizzierten Umrissen Geschichte zu schreiben.34
Medem führt das Verhältnis zwischen den ›unzusammenhängenden und abgeris senen Notizen‹, also dem Unverknüpften, und dem ›anscheinend so überreichen Stoff‹ des Archivs ins Feld. Diese Stoffülle wiederum bestehe aus ›fragmentari schen und vereinzelten Andeutungen‹. Noch einmal betont er sowohl die Geord netheit als auch die damit einhergehende Lückenhaftigkeit des Archivs. Um das Fragment- und Skizzenhafte der Daten für eine kohärente historische Erzählung zu glätten bzw. um die Ereignisse zu integrieren bedarf es ›geistiger Bildung‹ und ›Intelligenz‹ – so ähnlich, wie eine Lektüre der ›Wanderjahre‹ einen wachen, besser noch einen an Einbildungkraft reichen Leser erfordert. Möchte man nun den Blick auf im Text vorhandene Lücken richten, so bietet es sich an, auf fehlende Überleitungen zwischen Textteilen zu achten. In den ›Wanderjahren‹ ist dieses Phänomen mehrfach nachweisbar. So ist etwa der Übergang vom 10. zum 11. Kapitel des ersten Buchs (143) bemerkenswert. Zu Ende des 10. Kapitels befindet sich Wilhelm bei Makarie. Er hört dort im Gespräch noch »gar manches anmutig Belehrende« (142) über Lenardo und wird an die Archi varin Angela verwiesen: »das Weitere wird Angela mit Ihnen besprechen.« (143) Dann klafft eine Lücke. Zu Beginn des dahinter stehenden elften Kapitels findet man Wilhelm plötzlich bei Lenardo. Weder wird geklärt, wie er ihn gefunden hat noch wie die Reise verlaufen ist noch an welchem Ort man (d. h. tutti quanti: Lenardo, Wilhelm und mit den beiden nicht zuletzt der Leser) sich nun befindet. Ähnlich verfährt der Text auch im zweiten Buch. Dort findet man keine Über leitung vom fünften Kapitel, mit dem ›Der Mann von funfzig Jahren‹ endet, zum sechsten (246 ff.), das völlig unvermittelt mit einem Brief Wilhelms an Lenardo beginnt. Der erste Satz des Briefs meint das Nußbraune Mädchen: »›Endlich, teu erster Freund, kann ich sagen, sie ist gefunden […]‹« (247). Ebenso asyndetisch werden ein Brief Lenardos an Wilhelm (246) und einer des Abbé an Wilhelm (265) an die Lago Maggiore-Episode angefügt. In ersterem geht es wieder um das Nußbraune Mädchen. Gleich nach dem ersten Satz thema tisiert Lenardo bezeichnenderweise Verbindungen, Verknüpfungen und Unaus sprechlichkeiten:
34 Medem: Über die Stellung und Bedeutung der Archive, S. 31. Sperrung im Original.
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Die Verbindung mit den Ihrigen ist wichtiger, als beide Teile sich denken konnten. Darüber darf ich nicht anfangen zu schreiben, weil sich gleich hervortut, wie unübersehbar das Ganze, wie unaussprechlich die Verknüpfung. (264)
Ein unübersehbares Ganzes und unartikulierbare Verknüpfungen, das liest sich wie ein poetologischer Hinweis. Eine Überleitung zum Folgekapitel sucht man auch im neunten Kapitel des zweiten Buchs, in dem es um die unterschiedlichen Theorien zur Erdentstehung geht, vergebens. Es endet mit einer verhüllenden Bemerkung des Redaktors,35 das zehnte beginnt mit einem Brief Hersilies (289), der mit dem Vorangehenden nichts zu tun hat. Weiterhin fehlt am Ende des zehnten Kapitels des dritten Buchs nicht nur ein Übergang, sondern das Kapitel bricht sogar unvermittelt ab. Die dort gegebene Erzählung ›Nicht zu weit‹ wird nicht zu Ende erzählt (436).36 Das darauf folgende elfte Kapitel beginnt ebenso unvermittelt mit den Vorbereitungen fürs Auswandern. Deutlich wird, daß der Text auf Vermittlungen verzichtet, oder, ins Aktive gewendet, sie gar vorenthält. Anders als man vielleicht meinen könnte, handelt es sich bei den geschilderten Phänomenen nicht um Digressionen, wie sie zum konventionalisierten Romanschreiben dieser Zeit gehörten. Das läßt sich mit Michels Untersuchung zur Digression im Kontext der Relation von Kontingenz und Ordnung zeigen. Es gibt, so könnte man Michels Argumentation auf den Punkt bringen, keine Kontingenz im Bereich des Ästhetischen ohne eine immer schon vorausgesetzte Ordnung. Vor allem dann, wenn Texte besonders chaotisch und semiologisch kontingent sein wollen, müssen sie einen hohen rhetorischen (Ordnungs-) Aufwand betreiben. Zentrale Figuren der Kontingenz und damit der Digression seien die Unterbrechung und der erzählte Zufall (z. B. Unfälle, Schick salsschläge). So liest er Jean Pauls ›Siebenkäs‹ etwa als einen Text, »in dem die Digression als systematische Unterbrechung des Geschichtenerzählers das eigentliche poetische Kapital darstellt.«37 Das Phänomen der Digression impli ziert aber doch zudem, daß es einen ernstgenommenen und ernstzunehmenden inhaltlichen Ablauf gibt, der auf Sukzession angewiesen ist. In dieser Hinsicht ist es nicht gleichgültig, in welcher Reihenfolge oder von wem erzählt wird. Digres sion heißt auch, daß Schleifen wieder geschlossen werden, daß die Erzählung
35 Er redet von einem bedeutenden Ereignis und schränkt sofort wieder ein: »Welcher Art aber dies gewesen, dürfen wir im Augenblicke noch nicht offenbaren, obgleich der Leser bald, noch ehe er diesen Band aus den Händen legt, davon genugsam unterrichtet sein wird.« (289). 36 Die Stelle präsentiert sich als ein »Fragment, als ein[en] abbrechende[n] Erzählzusammen hang« (FA I 10, S. 1221). Auch Muschg sieht diese Fragmenthaftigkeit und erklärt die Bemühun gen der Rahmenhandlung um Integration als zumindest anfechtbar (vgl. Muschg: ›Der Mann von funfzig Jahren‹. In: Ders.: Goethe als Emigrant, S. 152). 37 Michel: Ordnungen der Kontingenz, S. 30.
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nach dem Umweg erneut in ihren Gang zurückfindet und einmündet; sie wird wieder aufgenommen und – auf dem gleichen ästhetischen Niveau wie vor der Unterbrechung – zu Ende geführt. Die Texte bemühen sich so gesehen also um eine über den Erzähler inszenierte Kontingenz. Anders im Fall der ›Wanderjahre‹. Dort ist der ›Geschichtenerzähler‹ im Sinn Michels auf den ersten Blick der Redaktor. Doch ein alleiniges Abstellen auf ihn als Erzählinstanz kann, wie bereits gezeigt, den Text nicht in Gänze erfassen. Die ›Wanderjahre‹ vermitteln und reflektieren über ihn (also über eine vorgeschützte Erzählinstanz) hinaus noch das Kontingenz- und Ordnungsprinzip des Archivs. Wo nämlich eine ›konventionelle‹ Digression wieder in den Erzählstrang ein münden würde, verhalten sich die ›Wanderjahre‹ ganz anders. Sie unterbrechen Erzählungen teils ohne vorherige Ankündigung. Mehr noch, sie nehmen sie auch nicht mehr auf, sondern lassen sie als Fragmente stehen. Die Digression ist hier also höchstenfalls das ›poetische Kapital‹ des Redaktors. Dasjenige des Texts aber ist das Archiv als ebenso konkrete wie abstrakte Erzählinstanz. Was im Archiv geordnet ist, könnte immer auch anders angeordnet sein. Bei dieser potentiellen Unordnung muß das Archiv jedoch nicht stehenbleiben, denn es bietet sich für Umstellungen, Einfügungen etc. per definitionem an. Dieser Inszenierung merkt man im Text keine Bemühung an, sie bleibt im Schweben, gibt sich den Anschein von Gleichgültigkeit, von nonchalanter Unentscheidbarkeit, wie man formulie ren könnte. Ein Mittel, um diesen Effekt zu provozieren, sind die eben behandel ten Lücken. Ein weiteres, mit dem sich eine Annäherung an eine Archivhaftigkeit herstellen läßt, sind blinde Motive. 2.2 Blinde Motive Blinde Motive stehen in ihrer Isoliertheit im Text wie fragmentarische Partikel oder irrläufernde Faszikel im Archiv existieren könnten. Für eine Lektüre, die das Archiv theoretisch ernst nimmt, sind sie keine ästhetischen Defizite, sondern Strukturelemente des Archivalischen Schreibens. In der Lago Maggiore-Episode lassen sich gleich zwei blinde Motive nachwei sen. Das erste steckt in dem Passus nach dem Entern des Schiffs durch Wilhelm und den Maler. Auf dem Kahn befinden sich die ›schöne Witwe‹ und Hilarie: Die Frauenzimmer, einigermaßen betroffen, faßten sich sogleich, als Wilhelm das Blättchen vorwies und beide den von ihnen selbst vorgezeichneten Pfeil ohne Bedenken anerkann ten. (253)
Die beiden Schiffahrerinnen sind beruhigt, nachdem Wilhelm ihnen ein Billet mit einem ›von ihnen selbst vorgezeichneten Pfeil‹ darauf gezeigt hat. Der Pfeil
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jedoch wurde vom Text nicht eingeführt, der Leser kann mit ihm nichts anfangen. Die Erwähnung des Pfeils sei, so Bahr, durch die Weglassung von Textpassagen in der zweiten Fassung »unverständlich geworden« (253, Fußnote 2).38 Er ist als Relikt aus der ersten Fassung das Indiz für eine Überarbeitung des Texts, die an ihm sichtbar und registrierbar wird. Den interessierten Leser lockt er vielleicht gar ins Archiv zur Lektüre der ersten Fassung. Gegen Ende der selben Episode wird über die ›schöne Witwe‹ berichtet: Die schöne Witwe ging indes mit Wilhelm, unter Zypressen und Pinien, bald an Trauben-, bald an Orangengeländern der Terrassen hin und konnte sich zuletzt nicht enthalten, den leise angedeuteten Wunsch des neuen Freundes zu erfüllen; sie mußte ihm die wundersame Verschränkung offenbaren, wodurch die Freundinnen, von ihren frühern Verhältnis sen getrennt, unter sich innig verbunden, in die Welt hinausgeschickt worden. Wilhelm, der die Gabe nicht vermißte, sich alles genau zu merken, schrieb die trauliche Erzählung später auf, und wir gedenken sie, wie er solche verfaßt und durch Hersilien an Natalien gesendet, künftig unsern Lesern mitzuteilen. (261 f. Hervorhebungen: M. B.)
Mit diesen Worten führt der Text umständlich eine Erklärung über die Genese der Fortsetzung des ›Mannes von funfzig Jahren‹ ein. In der Erzählung der Witwe – hier redet eine ›Novellen‹-Figur im ›Rahmentext‹ – geht es um ›Verschränkung‹, ›trennen‹ und ›verbinden‹ – allesamt Eigenschaften oder Aktivitäten, die sich auch auf die Komposition von Textteilen anwenden lassen.39 Diese beiden Absätze stellen, so Bahr in einer Fußnote der Reclam-Ausgabe, ein »blindes Motiv« (262) dar, denn die versprochene Fortsetzung des ›Manns von funfzig Jahren‹ werde nicht gegeben, weshalb die Textstelle in den meisten Ausgaben weggelassen werde.40 – Eine solche Auslassung (z. B. den angekündigten Teil einer Erzählung einfach wegzulassen, ohne ihn je einzuholen) ist ein Phänomen, das Isers Leer stellentheorie nicht abzudecken vermag. Isers Leerstellen sind immer angewie
38 Die weggefallenen Textsequenzen sind ›Hersiliens Nachschrift‹ und die ›Zwischenrede‹ aus der ersten Fassung. In der ›Nachschrift‹ hieß es unter anderem: »Um Ihnen nun den Weg zu zeigen, wie Sie das liebenswürdige Paar auf Ihren Wanderungen treffen können, so ergreife ich ein wunderliches Mittel. Sie erhalten hiebei den kleinen Ausschnitt einer Landkarte; wenn Sie diesen auf die größere legen, so deutet die darauf gezeichnete Magnetnadel mit der Pfeilspitze nach der Gegend, wo die Suchenswerten hinziehen.« (206, Fußnote 1) Zu den Pfeilen und der zu ihnen gehörigen Landkarte vgl. auch Fues: Wanderjahre im Hypertext, S. 140 f. 39 Zum Trennen und Verbinden in den ›Wanderjahren‹ vgl. Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 436 ff. 40 Die Frankfurter Ausgabe dagegen druckt sie ebenfalls ab (vgl. FA I 10, S. 509 f.). Muschg fin det, »daß der Autor den Schluß der Novelle überhaupt verschenkt und ihrer schönen Geschlos senheit zu spotten scheint.« (Muschg: ›Bis zum Durchsichtigen gebildet‹. In: Ders.: Goethe als Emigrant, S. 121).
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sen auf eine geglückte Wiederaufnahme des Ausgesetzten.41 Genau dies verwei gern die ›Wanderjahre‹ stellenweise und schlagen daraus nicht unerhebliches Irritationskapital, wie die Rezeptionsgeschichte zeigt. Es sind jedoch nicht nur die blinden Motive, die auf das der ästhetischen Überarbeitung vorgängige Ausgangsmaterial verweisen. Dasselbe gilt auch für ›fehlerhafte‹ Textstellen, die z. B. von einer eilig vorangetriebenen Textredaktion zeugen können. 2.3 Narrative Pathologie: unmotivierte Perspektivwechsel ›Lenardos Tagebuch‹ findet erst in der zweiten Fassung der ›Wanderjahre‹ seinen Platz. Es scheint unter Zeitdruck eingeschaltet und redigiert worden zu sein, denn sowohl im ersten als auch im zweiten Teil von Lenardos Berichten lassen sich unmotivierte Änderungen der Erzählperspektive ausmachen; die Ich-Erzählung geht in den epischen Bericht eines Erzählers in der dritten Person Singular über: Wir [Lenardo und Susanne] traten hinein; heiter, ja verklärt saß er [Susannes kranker Vater] aufrecht im Bette. […] Er faßte Lenardos Hand und so die Hand der Tochter […]. Die Tochter stürzte vor dem Bett nieder, Lenardo neben sie, ihre Wangen berührten sich, ihre Tränen vereinigten sich auf seiner Hand. (468; Hervorhebungen: M. B.)
In der Reclam-Ausgabe wird auf diese Besonderheit hingewiesen (vgl. 381, Fußnote 5). Bahrs Textedition »bewahrt diese Unstimmigkeiten, um die stilisti sche Eigenartigkeit der ›Wanderjahre‹ wiederzugeben« (468, Fußnote 6). In der Weimarer Ausgabe wurden sie ›verbessert‹, d. h. die Unebenheiten eingeebnet. Es handelt sich dabei augenscheinlich um Inkonsequenzen, die man mit Genette als ›narrative Pathologie‹ klassifizieren kann.42 Man hat es wohl mit Flüchtigkeits fehlern zu tun, die von der eiligen Überarbeitung des Texts herrühren. An diesen Stellen ist der Text in der Tat unvollendet. Gleichzeitig verweist er so aber, ob nun freiwillig oder nicht, auf seine Machart, auf sein Entstammen aus einer Text sammlung, einem realen Archiv, auf seine Überarbeitung – mag man sie auch als geglückt, mißlungen oder nicht ganz zuende gebracht betrachten.
41 Vgl. Iser: Der Akt des Lesens, S. 304. 42 »Einen noch stärkeren Regelverstoß stellt der Wechsel der grammatischen Person dar, wenn gleichwohl ein und dieselbe Figur gemeint ist […]. Im Bereich des klassischen Romans und auch noch bei Proust gehören solche Effekte zweifellos zu einer Art narrativen Pathologie, sind nur erklärbar durch hastige Überarbeitungen oder einen teilweise unvollendeten Zustand des Textes […].« (Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. (= UTB 8083). München 1998. S. 176).
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Ähnliche Inkonsequenzen leistet sich der Text auch in Hinsicht auf Unklar heiten in der Verantwortung fürs Erzählen. Es gibt dort Stellen, an denen nicht auszumachen ist, wer für die Wiedergabe oder Einschaltung einer Archivalie ver antwortlich ist. Fast scheint es, als werde dort vorsätzlich etwas an Genettes nar rative Pathologie Erinnerndes inszeniert. Der Text ›funktioniert‹, und das ist das Interessante daran, auch ohne eine Klärung dieser Urheberschaft. Archivfiktion und potentielle Eingriffe des Autors (oder derjendigen, die mit dem ›technischen Produkt‹ ›Wanderjahre‹, also mit dem Setzen, der Redaktion und dem Druck des Texts beschäftigt waren) überschneiden sich hier oder lassen sich wenigstens nicht mehr eindeutig auseinanderhalten.43 In seinem Tagebuch erwähnt Lenardo ein »Blatt« mit »Wilhelms Hand schrift« (beides: 459). Er beginnt zu lesen und nun stehen drei Abschnitte seltsam isoliert im (Text-) Raum. Sie sind jeweils durch eine Blindzeile eindeutig erkenn bar voneinander und auch vom Tagebuchtext abgesetzt. Zudem ist jede der drei Textstellen in Anführungszeichen gesetzt. (vgl. 460)44 Es stellt sich die Frage, wer für diese zerstückelnde Wiedergabe verantwortlich ist. Eine Möglichkeit wäre,
43 Daß die Zeit der déformation professionelle der ›Wanderjahre‹ bis heute andauert, erschließt sich bei einem Blick auf den Klappentext der Reclam-Ausgabe von 2004 – hier samt seines typo graphischen Erscheinungsbildes zitiert: ››Mit solchem Büchlein aber ist es wie mit dem Leben selbst: es findet sich in dem Komplex des Ganzen Notwendiges und Zufälliges, Vorgesetztes und Angeschlossenes, bald gelungen, von Unendlichkeit erhält, die sich in verständige und vernünftige Worte nicht durchaus fassen noch einschließen läßt.‹‹ Goethe Dem aufmerksamen Leser fällt auf, daß hier etwas nicht stimmt. Spätestens beim lauten Lesen klingt der Satz verunglückt. Ist jemand (der Herausgeber, der Setzer?) der Homophonie von ›er hält‹ und ›erhellt‹ aufgesessen? Ersetzte man ersteres durch letzteres, so ergäbe sich doch ein zumindest ansatzweise sinnvoller Satz: »von Unendlichkeit erhellt« – es bliebe aber die Frage, auf welche Weise und in welchem Kontext bei Goethe eine wie auch immer geartete Unendlich keit als eine lichtspendende verstanden werden kann … Die Recherche führt zu einem anderen Ergebnis: es fehlt etwas – und zwar eine ganze Zeile. Es muß heißen: »bald gelungen, bald vereitelt, wodurch es eine Art von Unendlichkeit erhält«. Ein weiteres Beispiel liefert ungewollt die 10., neubearbeitete Auflage der Hamburger Ausgabe der ›Wanderjahre‹. Die Überschrift auf der ersten Textseite lautet dort: »Wilhelm Meisters Lehrjahre [recte: Wanderjahre] oder die Entsagen den« (Goethe: Romane und Novellen III. HA VIII, S. 7). 44 In der Frankfurter Ausgabe findet sich nur die Trennung durch die Blindzeile; die Anfüh rungszeichen wurden nicht berücksichtigt (vgl. FA I 10, S. 709 f.).
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daß Wilhelm auf dem Blatt Papier die drei unzusammenhängenden Abschnitte genauso, wie Lenardo sie wiedergibt, notiert hat. Eine andere besteht darin, daß Lenardo vielleicht lediglich Teile aus Wilhelms Mitteilung aufgeschrieben hat – das würde die Anführungszeichen an jedem einzelnen der drei Abschnitte erklä ren und für Lenardos akribisches Vorgehen sprechen.45 In diesem Fall handelte es sich um Exzerpte Lenardos. Die dritte Möglichkeit wäre in einem Eingreifen des Redaktors zu sehen. Vielleicht hat er eine Paraphrase Lenardos durch die drei ›Originalteile‹ aus Wilhelms Nachricht ersetzt (wieder wäre dann die Frage, ob er selektiv am archivierten Material zu Gange war, vielleicht etwas weggelas sen hat). Viertens schließlich ist nicht auszuschließen, daß in der ›realen‹ Redak tion der ›Wanderjahre‹ vergessen wurde, die Anführungszeichen zu tilgen und die Textteile in das Textganze adäquat einzubetten. Die Grenzen der Archivfik tion wären in diesem Fall erneut überschritten, ihre Erklärungskraft erschöpft. Darüber jedenfalls, wer für diese Darstellungsweise verantwortlich ist, läßt sich wieder nur spekulieren. Ein solches Vorgehen verweist den Leser zurück auf Mut maßungen über das dem Text zugrundeliegende Material. Dessen Anordnung ist bei näherem Hinsehen ohne benennbaren Urheber und der Leser kann sich nicht mehr auf eine personalisierte ordnende Instanz berufen. Auch von dieser Seite her bestätigt sich die oben aufgestellte These, wonach das Archiv – freilich in seiner ganzen Ambivalenz – als die integrale Erzählinstanz der ›Wanderjahre‹ verstanden werden darf. Doch nicht nur diese Tatsache birgt erhebliches Irrita tionspotential. Gleiches gilt für das unkommentiert vorgelegte Material, welches dem Leser erhebliche Orientierungsbemühungen abverlangt. Es stammt eben nicht nur aus einem hermetisch abgeschlossenen ›Wanderjahre‹-Textkosmos, aus einem imaginären Archiv, sondern es schreibt sich auch von den unterschied lichsten extratextuellen Quellen her.
2.4 Nichtausgewiesenes Zitieren Als erstes werden exemplarisch einige ›Eigenzitate‹ Goethes, die Eingang in die ›Wanderjahre‹ gefunden haben, besprochen. Sie sind erwähnenswert, weil der zeitgenössische informierte Goetheleser sie identifizieren und entschlüsseln konnte und damit auf andere Texte Goethes verwiesen wurde. Am Beispiel von Mignons ›Zitronenlied‹ etwa läßt sich zeigen, daß bereits ein fragmentarisches
45 Die Niederschrift in seiner Schreibtafel über die Herstellung von ›Muggengarn‹ beispielsweise markiert Lenardo ebenfalls mit Anführungszeichen, jedoch trennt er sie nicht durch Leerzeilen vom Textfluß des Tagebuchs ab (vgl. 451); ansonsten berichtet er meist in indirekter Rede.
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Anzitieren von Archiviertem genügt, um heftige Affekte hervorzurufen. Origina lität, gar Genie, so die naheliegende Folgerung, bedarf es dazu offenbar nicht. In einem weiteren Schritt wird auf die beiden Spruchsammlungen eingegangen und vorgeführt, was in ihnen als zumeist nicht ausgewiesenes Zitat steckt. Sie sind, da es sich eben um Sammlungen handelt, wenn man so will, die offenbarsten direkten Abbilder des Archivgedankens im Text. Eine zwischen den verschiede nen Sprüchen vermittelnde Instanz existiert nicht. Die beiden Sammlungen zele brieren selbstbewußt das Nebeneinanderstehen von Unterschiedlichstem. Während seines Besuchs in der Pädagogischen Provinz begegnet Wilhelm ein »Herz und Geist erhebende[r], würdige[r] Gesang« (279); es folgt ein fünfstro phiges Lied aus den Kehlen der versammelten Künstler (vgl. 279 f.), das Goethe anläßlich des Berliner Künstlerfests 1817 verfasste. Im selben Jahr erschien es auch in der Zeitschrift ›Der Gesellschafter‹.46 Mit ihm schaltet er in die ›Wander jahre‹ ein bereits bekanntes und im Druck erschienenes Lied ein, das selbst eine Art Zusammenfassung seiner kunsttheoretischen Schriften darstellt.47 Ähnliches gilt für das ›Zitronenlied‹, das den ›Lehrjahren‹ entstammt. In der Lago Maggi ore-Episode stimmt es der Sänger, »[l]eidenschaftlich über die Grenze gerissen«48 (262) an: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,/Im dunklen Laub – – – – –« (262). Das ›Anstimmen‹ wird vom Text wörtlich genommen, denn über den zitierten Anfang und die fünf Bindestriche geht er nicht hinaus. Er unterbricht den Sänger, wohlwissend, daß eine Anspielung auf das Lied genügt; es folgt weder eine Paraphrase noch ein Hinweis, woher es stammt. Die vier Reisenden jedenfalls liegen sich tränenüberströmt in den Armen (vgl. 263). Neben Mignons Italiensehnsuchtslied gibt es noch weitere wörtliche, für den zeitgenössischen Leser leicht wiedererkennbare Übernahmen aus den ›Lehrjah ren‹. Gleich der vierte der Sprüche aus ›Makariens Archiv‹ ist ein Zitat aus dem Lehrbrief, der Wilhelm in den ›Lehrjahren‹ zuteil wird: »Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und nähert sich dem Meister« (497, AMA 4). Bezeichnenderweise ist dies in den ›Lehrjahren‹ der Satz, an dem Wilhelms Lektüre des platten Lehrbriefs endet, denn sie wird durch den Abbé unterbrochen: »Genug! rief der Abbé; das übrige zu seiner Zeit.«49
46 Vgl. FA I 10, S. 1135. 47 Z. B. der ›Italienischen Reise‹, der Einleitung zu den ›Propyläen‹ sowie des Aufsatzes ›Über Laokoon‹ (vgl. FA I 10, S. 1135). 48 Die Einbildungskraft geht wohl mit ihm durch ob der bevorstehenden Trennung von Hilarie und der schönen Witwe und weil er an Mignon denkt. 49 Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Ders.: Werke. Insel Verlag. Bd. 4. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Frankfurt am Main 1965. S. 544.
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Auch für weitere Sprüche aus ›Makariens Archiv‹ ebenso wie für solche aus den ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ gilt, daß sie wörtliche Zitate sind.50 Sie sind den unterschiedlichsten Schriften entnommen. Bei der Sichtung der ›Betrachtungen‹ und von ›Aus Makariens Archiv‹ geht es darum, ans Licht zu ziehen, was im Archiv schlummert.51 Die Betrachtungsweise lehnt sich an ein Diktum des Texts an, wo im Angesicht des Archivs ein ›umgekehrtes Finden und Erfinden‹ gefordert wird: [B]esonders achtete er [Wilhelm] die Hefte kurzer, kaum zusammenhängender Sätze höchst schätzenswert. Resultate waren es, die, wenn wir nicht ihre Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nötigen, vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfin dens rückwärtszugehen und uns die Filiation solcher Gedanken von weit her, von unten herauf womöglich zu vergegenwärtigen. (139)
Diese vom Text angebotene Bewegung möchte meine Lektüre mitmachen. Das umgekehrte Finden ›nötigt‹ den Leser ins Archiv des Texts; wer den Text ver stehen will, kommt um diesen Gang offenbar nicht herum. Nur so lassen sich die ›Filiationen solcher Gedanken von weit her‹ nachvollziehen. Es soll andeu tungsweise gezeigt werden, woher das verarbeitete Material in den Spruchsamm lungen stammt. Diese Informationen verschwinden normalerweise in Textkom mentaren oder Fußnoten. Sie sind von Interesse, da man sich mit ihnen einen Überblick darüber verschaffen kann, woher der Text seine Themen rekrutiert und was er für aufnahmewürdig in sein Archiv erachtet. Eine solche skizzenar tige Übersicht gewinnt selbst unausweichlich Listencharakter: Man ist ständig versucht, die Reihe der Beispiele mit einem ›usw.‹ ad infinitum zu verlängern … Bereits der erste Aphorismus der ›Betrachtungen‹ scheint eine Art Vorzeichen für die Lektüre der Spruchsammlung zu sein. Er sagt aus, man brauche sich nicht zu scheuen, schon Vorhandenes erneut fruchtbar zu machen und es wiederzuver wenden: »Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken.« (309, BSW 1)52 Diese Vorgehensweise praktizieren die
50 Die Funktion der beiden Aphorismensammlungen war lange umstritten. Man geht heute davon aus daß sie nicht als bloße »zufällige Auffüllung des Romantextes« (FA I 10, S. 1144) zu verstehen sind. Sie seien vielmehr ein wesentliches Element von »Goethes Romankonzept«, da ihre »Verflechtung […] mit dem ganzen Roman nicht zu bestreiten sei« (beides: FA I 10, S. 1145). 51 Die ›Wanderjahre‹ markieren nur selten die Zitateigenschaft, nie die Herkunft der Sprüche. Zur besseren Orientierung benutze ich die Nummerierung der einzelnen Aphorismen, ohne sie immer eigens wörtlich zu zitieren. Die Verweise deute ich lediglich an, eine genaue Analyse muß ich mir hier versagen, da sie den Rahmen vorliegender Arbeit sprengen würde. Lassen sich wich tige Hinweise destillieren, so gehe ich genauer auf den einen oder anderen Aphorismus ein. 52 Er findet sich ähnlich im Prolog von Terenz’ Komödie ›Eunuchus‹ (vgl. FA I 10, S. 1154).
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Sprüche teils selbst. So waren die Sprüche BSW 29 und BSW 30 beispielsweise Bestandteile eines Goetheschen Aufsatzes, der jedoch Fragment geblieben ist.53 BSW 37 bis 43 lassen sich identifizieren als Teile eines Briefkonzepts Goethes vom November 1825 an den Staatsrat Georg Heinrich Ludwig Nicolovius,54 und BSW 66 und 67 sind bemerkenswert, da sie sich auf die Produktion eines Kunstwerks beziehen und überdies noch im Zusammenhang mit einer Rezension zur ersten Fassung der ›Wanderjahre‹ stehen:55 Das Was des Kunstwerks interessiert die Menschen mehr als das Wie; jenes können sie einzeln ergreifen, dieses im ganzen nicht fassen. Daher kommt das Herausheben von Stellen, wobei zuletzt, wenn man wohl aufmerkt, die Wirkung der Totalität auch nicht aus bleibt, aber jedem unbewußt. (319, BSW 66; Kursivierungen im Original) Die Frage: Woher hat’s der Dichter? geht auch nur aufs Was, vom Wie erfährt dabei niemand etwas. (319, BSW 67; Kursivierungen im Original)
BSW 82 macht eine Ausnahme insofern, als der Spruch in Anführungszeichen gesetzt und seine Zitathaftigkeit ausgewiesen wird;56 gleiches gilt für BSW 99: »Les [sic] sens commun est le Génie de l’humanité« (324) dessen Quelle bis heute unbekannt geblieben ist.57 BSW 103 spielt mit einem Lessing-Zitat; BSW 106 ist entstanden im »Umkreis der Studien zum ›Historischen Teil‹« der ›Farbenlehre‹; BSW Nummer 126 und 127 stammen beide ebenso aus einem Brief an Zelter vom 5. 10. 1828,58 wie Nummer 135 und 139. BSW 166 bis 171 bewegen sich nahe an Goethes Aufsatz ›Über Mathematik und deren Mißbrauch‹ von 1826.59
53 Vgl. FA I 10, S. 1158. 54 Vgl. FA I 10, S. 1158 f. 55 Vgl. FA I 10, S. 1160. 56 Es ist die »Übernahme eines Satzes aus dem von Jacovaky Rizo Neroulos in seiner Histoire moderne de la Grèce (Genève/Paris 1828) mitgeteilten Gespräch zwischen zwei alten Männern: Ali Pascha, Satrap des türkischen Sultans auf dem griechischen Festland, und Calojerotzame aus Albanien.« (FA I 10, S. 1162. Kursivierungen im Original). 57 Diese und die darauffolgende Reflexion sind nach Jost Schillemeit »veranlaßt vielleicht durch irgendeine noch aufzufindende Äußerung eines französischen Autors« (FA I 10, S. 1164). 58 Vgl. FA I 10, S. 1164 ff. 59 Vgl. FA I 10, S. 1169. »Was ist an der Mathematik exakt als die Exaktheit? Und diese, ist sie nicht eine Folge des innern Wahrheitsgefühls?« (334, BSW 168). In einem Gespräch mit Kanz ler von Müller äußert Goethe am 18. 6. 1826 eine interessante (weil eine taxonomische Tendenz erkennende und starkmachende) Ansicht über Mathematik: »die Mathematik steht ganz falsch im Rufe, untrügliche Schlüsse zu liefern. Ihre ganze Sicherheit ist weiter nichts als Identität. 2 mal 2 ist nicht vier, sondern es ist eben 2 mal 2 und das nennen wir abkürzend vier. Vier ist aber durchaus nichts Neues.« (Zit. n. FA I 10, S. 1170. Kursivierungen im Original).
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Was für die ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ gilt, trifft auch auf die Sammlung ›Aus Makariens Archiv‹ zu. Wie dort gibt es auch hier beispielsweise Reflexionen, die in Anführungszeichen gesetzt sind, deren Herkunft jedoch bis heute ungeklärt geblieben ist. Das Material scheint beiderseits aus unzähligen Quellen zu stammen und sich jeglicher Systematisierung zu verweigern. Die Sammlungs- oder Archivpartikel stehen teils unverbunden nebeneinander, teils lassen sich Verbindungen zwischen ihnen ausmachen. Die Sprüche AMA 5 bis AMA 16 gehören zusammen. Sie sind »Zitate aus der Schrift des Hippokrates Peri diaites. To proton (Über die richtige Lebensweise, I 11).«60 AMA Nummer 17 bis 25 sind ebenfalls zusammenhängende, in diesem Fall Plotins ›Enneaden‹ entnommene Zitate.61 Es erweist sich, daß die zusam mengehörenden Sprüche in den beiden Sammlungen ebenso nebeneinander bzw. übereinander stehen, wie die nichtzusammengehörigen. D. h. auch Zusam mengehörigkeiten markiert die Wiedergabeweise der Spruchsammlungen nicht etwa qua Druckbild; sie müssen also erschlossen werden. Die Sammlung ›Aus Makariens Archiv‹ führt auch vor, wie ein Archiv selbst bezüglich sein kann. Mehrere Sprüche daraus beziehen sich auf andere aus der selben Sammlung,62 oder, dies die andere Variante, Sprüche aus ›Aus Makariens Archiv‹ weisen einen Bezug auf zu solchen aus der Sammlung ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹.63 Die Sprüche AMA 96 bis einschließlich AMA 98 wurden zusammen im Dezember 1825 aufgezeichnet und waren eigentlich gedacht als Aussprüche des Astronomen, die Wilhelm in einem Brief an Natalie hätte nennen sollen.64 Hier wurde der Spruchsammlung nicht verwendetes ›Wanderjahre‹-Material ein verleibt! Anders ein Spruch, der sich auf die erschienene Variante der ›Wander jahre‹ bezieht: »Steine sind stumme Lehrer, sie machen den Beobachter stumm, und das Beste, was man von ihnen lernt, ist nicht mitzuteilen.« (513, AMA 103) Montan pariert dementsprechend im Romantext Wilhelms Mutmaßung, er werde wohl ein beredter Lehrer geworden sein, mit: » ›Keineswegs!‹ […] ›die Gebirge
60 FA I 10, S. 1257. Kursivierungen im Original. Die Frankfurter Ausgabe fügt an, die handschrift liche Überlieferung deute auf eine Verbindung zum schon erwähnten Lehrbrief aus den ›Lehr jahren‹ hin. Auch dessen Einleitungssatz entstamme einer Schrift Hippokrates’: ›De aëre aquis et locis‹ (Von der Luft, den Wassern und den Orten), vgl. FA I 10, S. 1257. 61 Vgl. FA I 10, S. 1257. 62 So weisen z. B. AMA 43 und AMA 46 einen Bezug zu AMA 146 auf (vgl. FA I 10, S. 1260). 63 AMA 94 bezieht sich auf die Sprüche BSW 134 und BSW 166–171 aus den ›Betrachtungen‹ (vgl. FA I 10, S. 1264). Ebenso verhält es sich mit dem Spruch AMA 108, der in Verbindung steht mit BSW 116 sowie 162 (vgl. FA I 10, S. 1265). 64 Vgl. FA I 10, S. 1264.
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sind stumme Meister und machen schweigsame Schüler.‹« (284) Dies sind zwei Stellen, an denen klar wird, daß die Spruchsammlungen und der Haupttext der ›Wanderjahre‹ explizit miteinander zu tun haben und erstere nicht einfach auf den Text aufgepfropft wurden. Sie archivieren sowohl für den Fortgang der Erzäh lung verwendetes Material als auch solches, das keinen Eingang fand. AMA 102 führt einen »Albert Julius [an, der] eine Felsenburg würde gefun den haben« (513) – das ist eine leicht zu identifizierende intertextuelle Anspie lung auf Schnabels Roman ›Insel Felsenburg‹ und den Protagonisten des Texts, Albert Julius. AMA Nummer 127 bis 143 (!) sowie AMA 179 bis 18165 sind allesamt übersetzte Zitate aus einer Aphorismensammlung mit dem Titel ›The Koran or Essays, Sentiments, Characters, and Callimachies of Tria Juncta in Uno‹, zusam mengestellt von Richard Griffith.66 AMA 174 (»Pereant, qui, ante nos, nostra dixerunt!«, 523)67 entspringt gleichfalls Goethes Beschäftigung mit diesem Text. AMA Nummer 168 und 170 schließlich sind in Anführungszeichen gesetzt und stammen beide aus Briefen Lawrence Sternes.68 Die kursorische Betrachtung der als Zitate identifizierbaren Einsprengsel in den Spruchsammlungen demonstriert, wie ausgedehnt das Einzugsgebiet ist, aus dem die ›Wanderjahre‹ Material herbeischaffen. Manchem bereitete diese empi rische Breite Unbehagen. Düntzer beispielsweise läßt die Spruchsammlungen in seiner ›Wanderjahre‹-Ausgabe lieber gleich ganz weg.69 Der Text praktiziert in ihnen ungeniert das Nebeneinanderstehen von Verschiedenem. Die Sprüche alle miteinander einem Kontext zuzuordnen ist unmöglich; teils repräsentieren sie Gedanken Goethes, teils nennen sie Fremdes, um dessen Herkunft sich der Text nicht kümmert. Der Umgang mit diesem ›Mannigfaltigsten‹, wie er selbst es wohl nennen würde, mit dem Destillat dessen, was in Goethes Archiv bei der Entste hung des Texts mutmaßlich vorhanden war, ist auffällig ungezwungen. Der Text schert sich nicht um Urheberschaft, eine ästhetische Überformung der Archiva
65 Vgl. FA I 10, S. 1272. 66 »[A]ls ihr Verfasser galt lange Zeit Lawrence Sterne. […] In der Handschrift sind die von Goethe weitgehend wortgetreu übersetzten Sätze durch Anführungszeichen als Zitate gekenn zeichnet, im Druck geschah dies nur bei AMA 127 – eine Unterlassung, die Goethe 1863 [!] den Vorwurf des Plagiats eintrug« (FA I 10, S. 1268). 67 »›Zum Teufel mit denen, die unsere Gedanken vor uns ausgesprochen haben.‹ Dem römi schen Grammatiker Aelius Donatus zugeschrieben.« (FA I 10, S. 1271). 68 Vgl. FA I 10, S. 1271. 69 Dort schließen die ›Wanderjahre‹ mit einer die Sammlungen erwähnenden Fußnote: »Den Schluß bildeten die Sprüche Aus Makariens Archiv mit besonderm Titelblatt, die später unter den Sprüchen in Prosa ihre Stelle fanden. Vgl. oben zum Schlusse des zweiten Buches [wo Düntzer mit den ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ ebenso verfährt].« (Wilhelm Meister’s [sic] Wanderjahre. Hg.: Düntzer. Berlin 1870, S. 446. Fußnote 5. Sperrungen im Original).
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lien bleibt in diesem Bereich zumeist aus. Es bleibt festzuhalten, daß das Archiv hier auf zwei Ebenen kollektiv angelegt ist. Einmal meint kollektiv das Sammeln, das Zusammentragen, zum andern markiert es eine kollektive Verantwortung für die verschiedenen Partikel, wenn man so will: eine kollektive Autor- oder Urhe berschaft. Dieser Gedanke beschäftigt Goethe noch in seinem letzten Lebensjahr: Was bin ich denn selbst? Was habe ich denn gemacht? Ich sammelte und benutzte alles was mir vor Augen, vor Ohren, vor die Sinne kam. Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das ihrige beigetragen, Toren und Weise, geistreiche Leute und Dummköpfe, Kinder, Männer und Greise, sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich oft, was andere gesäet; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.70
Ebenso wie man sich bei der Lektüre des Texts auf das konzentrieren kann, was er als Archiv bezeichnet (z. B. die Spruchsammlungen) und daran aufzeigen kann, wie er archiviert, kann man auch eine suchende Lektüre über den gesamten Text ausbreiten. D. h. sich nicht mehr darauf zu konzentrieren, wie der Text z. B. in Allusionen archiviert, sondern darauf, was er namentlich, konkret archiviert. Dabei wird man fündig, wenn man sich auf Namen von Personen konzentriert, die ›wirklich‹ gelebt haben. Man stößt dabei auf, wenn man so will, ›realiter‹, also ›eins zu eins‹, d. h. nicht im Modus der klandestinen Anspielung Archiviertes.
2.5 Realiter Archiviertes: historische Personen Die ›Wanderjahre‹ nennen ca. dreißig historische Personen. Etwa die Hälfte davon taucht im ›Haupttext‹ auf, sechs in den ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹, neun in ›Aus Markariens Archiv‹, d. h. die Verteilung ist ungefähr paritätisch: fünfzehn im ›Haupttext‹ und insgesamt fünfzehn in den Sammlungen. Eine ein heitliche Funktion wird der Nennung dieser Namen nicht zuzuordnen sein. Die Erklärung seiner Motivation für das Archivieren von Namen liefert der Text selbst – wenn auch figurenperspektivisch begrenzt. Der Einsiedler in der ›Verräter-Erzäh lung‹ begründet seine Sammlung mit dem Erlöschen der Erinnerung an Namen von herausragenden Persönlichkeiten nach ungefähr fünf Jahrzehnten (vgl. 115). So gesehen entspräche die Aufbewahrung und Nennung einem Aufrechterhalten des Andenkens, dem nicht nur Vergessen zu drohen scheint, sondern auch Dekon textualisierung. Mainberger charakterisiert das Auftauchen von Namen und deren
70 Zit. n.: Soret, Fréderic: Zehn Jahre bei Goethe. Erinnerungen an Weimars klassische Zeit. 1822–1832. Übersetzt und erläutert von H. H. Houben. Leipzig 1929. S. 630.
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Wiedererkennen durch den Leser als ein fesselndes Erlebnis, das Erinnerungen an Erfahrenes wecke oder auf »durch Lektüre und Bildung Vermitteltes« verweise.71 Anders hingegen argumentiert Hárs, dem die gehäuften Namensnennungen in Herders Zeitschrift ›Adrastea‹ auffallen. Er schreibt ihnen eine doppelt adres sierte Verweisfunktion zu. Es gehe dabei nicht nur um den Bezug zu historischen Personen, sondern vor allem um jenen »zum Zettelwesen des großen Katalogs«.72 Das darf man auch für die ›Wanderjahre‹ behaupten. Die dort angeführten Namen figurieren die Beziehung des Texts zu dem ihm zugrundeliegenden Archiv. Außer dem verweisen sie auf die lebensweltliche Realität des Lesers. Er kann seinen historischen Standpunkt dazu in Übereinstimmung oder in (temporaler) Diffe renz einnehmen und reflektieren. Mit ihrer Nennung nötigt der Text den Leser erstens – mit zunehmender historischer Distanz immer dringlicher – erneut zum Gang ins Archiv. Zweitens ›erdet‹ er sich damit. Oft dienen die Namen als Bei spiel, zur Markierung oder Illustration eines Zeitalters, einer Epoche. Diese Tat sache relativiert Heinz’ Aussage, wonach »konkrete oder gar aktuelle geschichtli che Ereignisse für die Wanderjahre kaum von Bedeutung sind«.73 Der den ›Wanderjahren‹ zugrundeliegende ›Zettelkasten‹ (Hárs) gewinnt durch das weiter oben bereits erwähnte, vom Text angeregte ›umgekehrte Finden‹ erstaunlich schnell wieder Konturen. Der Versuch, hier zu (re-)kontextualisieren oder sich auch nur einigermaßen zu orientieren, mündet selbst wiederum in einer Aufzählung mit einem ausufernden Fußnotenapparat, wie ich an einem Beispiel wenigstens ansatzweise zeigen möchte. Susanne nennt innerhalb eines Satzes die Namen Haller, Geßner und Kleist (vgl. 456). Die Dichtungen dieses vom Text konstruierten ›Triumvirats‹ waren »[z]u ihrer Zeit vielgelesene Werke: Albrecht von Hallers Alpen, ein Gedicht in Alexandrinerversen, erschien 1729, Salomon Geßners Idyllen 1756 und Ewald von Kleists Hexametergedicht Der Frühling 1749.«74 Die Zusammenstellung dieser Trias ist nicht uninteressant und wahrschein lich auch nicht zufällig. Goethe hat alle drei überlebt und wollte sich deren
71 Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 154. 72 Hárs: Adrasteas Sammelwut, S. 10. 73 Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 360. Kursivierung im Original. In order of appearance fahren die ›Wanderjahre‹ folgende historische Personen auf: Caesare Beccaria und Gaetano Filangieri (78), William Penn (93), Homann (100), Wilhelm von Oranien (115), Ludwig der Vier zehnte (115), Friedrich der Große (116), Kant (313), Lord Byron (321), Shakespeare (321, 517), Lessing (325), Aristoteles (330), Lagrange (335), Alfieri (348), Ambrosius Lobwasser (380), Röntgen (403), Yorik (419), Hadrian (422), Haller, Geßner, Kleist (456), den Bischof von Laodicea (457), Sokrates, Plato, Aristoteles (504), Wieland (515), Calderon (517), Yorick-Sterne (517), Warburton (517), V irgil, Homer (518 f.) und Lorenz Sterne (521). 74 FA I 10, S. 1239. Kursivierungen im Original.
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›Domestizierung‹ vielleicht nicht verkneifen. Man könnte die These wagen, er ›entschärfe‹ die Autoren, indem er sie in Lenardos Tagebüchern aus Susannes Mund als »[t]reffliche vaterländische Dichter« (456) bezeichne und sie elegant in einen idealischen alpenidyllischen Kontext einschreibe. Damit werden die anderen Seiten dieser Poeten sublimiert. Albrecht von Haller (1708–1777) war nicht nur Alpendichter, sondern auch ein von manischem Erkenntnisinteresse getriebener Naturwissenschaftler, ja geradezu der Prototyp des Wissenschaft lers im Baconschen Sinn, der die Natur auf die Folter spannt (›natura vexata‹), um Erkenntnisse aus ihr herauszupressen. Ursula Pia Jauch attestiert ihm einen »gebrochene[n] und fragmentierende[n] Blick« ohne Sinn für das übergeordnete Ganze.75 Er sei ein »wissenschaftlicher Buchhalter« ohne »Imaginationskraft«76 – wäre das, wertfrei formuliert, vielleicht ein Archivar? Hallers Methoden, einen Körper zum Sprechen zu bringen, sind die Sektion und die Vivisektion. Er meint, man müsse die Natur im Körper stellen, sie sezie ren, in Teile zerlegen, sie mitten bei ihren Verrichtungen überraschen, sie leben dig oder tot zur Preisgabe ihrer Geheimnisse zwingen. In seiner Irritabilitätslehre von 1752 kann man nachlesen, wie er am lebendigen Leib tiefer und tiefer seziert.77 Wie besessen von der Idee, immer feiner schneiden zu können, den Phänomenen noch näher zu Leibe rücken zu können, sie endlich zu ›überlisten‹ und das Verborgene aus ihnen herauszuzwingen, läßt er jede Erkenntniskritik außen vor. Diese Verfahrensweise steht in einem deutlichen Widerspruch zum Bild des gottesfürchtigen Poeten und empfindsamen Dichters der ›Alpen‹. Wenn Haller als Verfasser der letzteren in den ›Wanderjahren‹ genannt wird, so muß der Text damit rechnen, daß beim Leser dadurch immer auch das Gedenken an Hallers opake Seite evoziert wird. Hallers vivisektorische Versuche und seine haarsträubenden Schilderungen von zuckenden Nerven und zerstörtem Gewebe dürften nicht in Goethes Bild von Körperlichkeit und Naturforschung gepaßt haben. Ewald Christian von Kleist bewegt sich mit seinem Hexametergedicht ›Der Frühling‹ in der Nachfolge des schottischen Dichters James Thomson und dessen Gedichts ›The Seasons‹ (1726–30). Thomson verfaßte damit eine poetische Beschreibung der Jahreszeiten und »einen empfindungsvollen, mit
75 Jauch, Ursula Pia: Jenseits der Maschine. Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie. Wien 1998. S. 372. 76 Beides: Jauch: Jenseits der Maschine, S. 264. 77 Vgl. Abhandlung des Herrn von Haller von den empfindlichen und reizbaren Theilen des menschlichen Leibes. Verdeutscht und geprüft von Carl Christian Krausen. Leipzig 1756. S. 4. Zit. n. Jauch: Jenseits der Maschine, S. 267.
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kritischen Reflexionen gespickten Gang durch die idyllische Natur [...].«78 Doch Kleists Texte sind ambivalenter, als man auf den ersten Blick vielleicht annähme; in seinen Briefen und Dichtungen stößt man auf Gegensatzpaare wie »Melancholie und Schwärmerei, Langeweile und Tatendrang, Todessehnsucht und Naturbegeisterung«.79 Für Goethe, der ihn nicht oft erwähnt (in ›Dichtung und Wahrheit‹ II, 7; ›Wanderjahre‹ III, 13), verkörpert er eine vergangene Zeit.80 Auch an Salomon Gessner (1730–1788) hatte Goethe etwas ›auszusetzen‹. Gessners Idyllen seien nicht nach der Natur gebildet, sondern – da wenig geküßt und nur Edles und Gutes getan werde – eher nach des »Herrn Schwehervaters Kupferstichsammlung«81 und »bei großer Anmut und kindlicher Herzlichkeit« »[c]harakterlos[ ].«82 Bei Gessner also wirke die Poesie zu idealisch, zu harmlos, uninteressant, ähnliches gilt wohl auch für Ewald von Kleist. Bei Haller sind Dichtung und Wis senschaft getrennt. Einerseits ist er bekannt als gottesfürchtiger Naturbeschrei ber und andererseits ist er der Knecht eines Erkenntnisinteresses und Technik glaubens bar jeglicher Forschungsethik. Vom Ästhetischen losgelöst perpetuiert sich seine wissenschaftliche Arbeit ins unendlich Kleine. Der Kunstgriff im Text der ›Wanderjahre‹ besteht nun darin, die drei zwar zu nennen, gleichzeitig aber – indem man sie in den Kontext der Idyllik einschreibt – all das ihnen anhaftende Unheimliche (Haller), Melancholische (Kleist), Trivial-Konventionelle (Gessner) zu sublimieren. Auch dazu kann Archivierung dienen.
2.6 Eingeschaltete Texte Neben den erwähnten Namen und Zitaten gibt es auch größere in den Text einge schaltete Einheiten. Die Frage lautet immer noch, was auf welche Weise Eingang in die ›Wanderjahre‹ gefunden hat. Vorliegendes Kapitel beschäftigt sich mit umfassenderen Zitaten, nämlich mit den Erzählungen und Gedichten, die in die ›Wanderjahre‹ übernommen wurden. Ein erster Untersuchungsschritt widmet sich den Erzählungen. Sie werden nicht
78 Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Autoren Lexikon: deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 1994. S. 473. 79 Lutz: Metzler Autoren Lexikon, S. 474. 80 Vgl. Gero von Wilpert: Goethe-Lexikon. (= Kröners Taschenausgabe. Bd. 407). Stuttgart 1998. S. 566. 81 Zit. n. Lutz: Metzler Autorenlexikon, S. 248. 82 Goethe, Johann Wolfgang von: Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Werke. Insel Verlag, Bd. 5. Frankfurt am Main 1965. S. 246.
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ausführlich analysiert, dazu gibt es Spezialliteratur. Es geht vor allem darum, ihre Entstehung anzureißen und den Modus der Textaneignung zu reflektieren. Die in Betracht kommenden Erzählungen eint, daß sie allesamt vorab publiziert wurden. Das bedeutet aber nicht, daß sie als autonome Texte gedacht gewesen wären. Sie wurden vielmehr mit Blick auf die ›Wanderjahre‹ konzipiert, die – so die ursprüngliche Intention – an die ›Lehrjahre‹ anschließen sollten.83 Beim Erscheinen der ›Wanderjahre‹ waren sie der zeitgenössischen Leserschaft zum Teil schon lange Zeit bekannt.84 Leitend ist also die Vorstellung, daß die ›Wander jahre‹ bereits Veröffentlichtes erneut anführen, ganz in der Logik des Archivs. Sie greifen zurück auf Goethetexte von unterschiedlichster Provenienz. Dazu zählen Goethes Übersetzung eines fremden Texts sowie Ausarbeitungen von bereits vor handenen Geschichten und ›neue‹ Texte Goethes. Konfrontiert man Neuhaus’ Archivfiktion mit dieser Sachlage, so stößt sie an ihre Grenzen. Sie behauptet ja, dem ganzen Archiv komme »die poetische Rea lität der Kompositionen Adrian Leverkühns«85 zu. Das kann aber nicht gelten, wenn die eingeschalteten Texte schon vorab bekannt waren. Dann wurde realiter Verschriftlichtes und teilweise bereits Gedrucktes in den Text aufgenommen. In einem weiteren Analyseschritt wird nachgewiesen, daß das eben erwähnte Prinzip der Einschaltungen verschiedener dem Publikum bereits geläufiger Texte auch andersherum funktioniert. Das läßt sich veranschaulichen an den beiden Gedichten ›Vermächtnis‹ und ›Im ernsten Beinhaus war’s …‹. Sie waren dem zeitgenössischen ›Wanderjahre‹-Leser im Gegensatz zu den Erzählungen nicht bekannt. Da der Gedichtband der Ausgabe letzter Hand schon herausgekommen war, wollte Goethe diese beiden Altersgedichte ausgerechnet in den ›Wanderjah ren‹ abgedruckt haben. Hier sind die ›Wanderjahre‹ nun nicht die Plattform zur Publikation von schon Veröffentlichtem, sondern sie sind das Erstpublikations medium von Lyrik, die noch vor Goethes Tod unter die Leser gebracht werden sollte. Mit diesem Vorgehen folgt Goethe der Logik seines ganz eigenen Archiv verständnisses.
83 Die Fortsetzung der ›Lehrjahre‹ wurde noch zu Lebzeiten Schillers ins Auge gefasst; auf die »Verzahnungen«, die Goethe der Anschlußfähigkeit wegen habe stehen lassen, weist schon Wolff hin (Goethe: Novellenkranz, S. 13). 84 Im Gegensatz z. B. zur Erzählung ›Wer ist der Verräter?‹, die ohne vorab veröffentlicht zu werden sofort Eingang in die Fassung der ›Wanderjahre‹ von 1821 fand (vgl. FA I 10, S. 1066). 85 Neuhaus: Archivfiktion, S. 16.
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2.6.1 Die Erzählungen Der Urheber der Erzählung ›Die pilgernde Törin‹ ist nicht Goethe; sie ist »nur eine freie Übersetzung von ›La folle en pèlerinage‹, die er in den von H. A. O. Reichard zu Gotha herausgegebenen ›Cahiers de lecture‹ von 1789 gelesen hatte.«86 Der Autor der französischen Fassung ist unbekannt geblieben,87 die Erstveröffent lichung in Cottas ›Taschenbuch für Damen‹ datiert auf das Jahr 1809, also lange vor den ›Wanderjahren‹.88 Das Lesepublikum wußte zu diesem Zeitpunkt eben sowenig wie der Verleger des ›Taschenbuchs‹, daß Goethe an einer Fortsetzung der ›Lehrjahre‹ arbeitete – man mag die ›Törin‹ für eine »Gelegenheitsarbeit aus Goethes schriftstellerischer Produktion« gehalten haben. »Goethe aller dings hatte ›Die pilgernde Thörinn‹ von Anfang an als Bestandteil von ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ konzipiert.«89 Auch die Erzählung ›Die neue Melusine‹ erschien schon vor den ›Wander jahren‹. Der Stoff dazu beschäftigte Goethe seit seiner Kindheit, so man ›Dich tung und Wahrheit‹ glauben darf.90 Am 4. Februar 1797 heißt es in einem Brief an Schiller: »Das Mährchen mit dem Weibchen im Kasten lacht mich manchmal auch wieder an, es will aber noch nicht recht reif werden.«91 Zuerst veröffentlicht wurde ›Die neue Melusine‹ im ›Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817‹.92 Ähnliches gilt für das ›Nußbraune Mädchen‹. Es wird in Goethes Tage buch am 19. 11. 1809 erwähnt als die »Novelle der Namensverwechslung«,93 zu Papier gebracht wurde sie im Juni 1810. Fünf Jahre später wird sie abgedruckt im ›Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1816‹ also wiederum fünf Jahre vor der ersten Fassung der ›Wanderjahre‹ (1821).94
86 Wolff: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wanderjahren, S. 177. Der französi sche Text wird in der Frankfurter Ausgabe als Quelle wiederabgedruckt (vgl. FA I 10, S. 866–878). 87 »Die lange Zeit unbekannte Quelle für Reichards Abdruck ist inzwischen durch Norbert Oellers ermittelt worden, und zwar in Gestalt einer 1786 in Paris erschienenen Anthologie von Erzählungen um ›Torheiten aus Liebe‹ unter dem Titel Nouvelles Folies sentimentales, ou Folies par Amour.« (FA I 10, S. 864. Kursivierungen im Original) – wer sie aber geschrieben hat ist bis heute ungeklärt (vgl. FA I 10, S. 864). 88 Vgl. Wolff: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wanderjahren, S. 177. 89 Beide Zitate: Bunzel: Das ist eine heillose Manier, S. 38. 90 Vgl. FA I 10, S. 1206. 91 Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 1, S. 352. 92 Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 2, S. 590. Vgl. dazu auch Bunzel: Das ist eine heillose Manier, S. 53 f. 93 FA I 10, S. 1082. 94 Vgl. FA I 10, S. 1082. Vgl. auch: Wolff: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wan derjahren, S. 174. In beiden genannten Druckversionen war im »Komplex der Novelle« (FA I 10, S. 1082) auch ein Briefwechsel mit Makarie und ein Bericht Lenardos enthalten. Für die Fassung der ›Wanderjahre‹ von 1829 trennte Goethe diese Teile voneinander und lediglich Lenardos Er
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Der erste Teil von ›Der Mann von funfzig Jahren‹ schließlich erschien im ›Taschenbuch für Damen‹ (1817). Goethe entwarf im November 1820 ein neues Schema der Novelle, um sich ihrer erst im August 1823 wieder anzunehmen. Danach dauerte es noch einmal drei Jahre, bis der zweite Teil in seiner endgülti gen Fassung stand, und erst im April 1827 wurde die Erzählung vollends diktiert.95 Erwähnenswert ist vor allem die Art, wie Goethe ›Das nußbraune Mädchen‹, ›Die neue Melusine‹ und den ›Mann von funfzig Jahren‹ per Vorabveröffentli chung in Cottas ›Taschenbuch für Damen‹ miteinander koppelte. Sie erschienen allesamt nicht einfach nacheinander, sondern stückweise und versetzt. Nachdem Goethe Cotta einen Teil des ›Nußbraunen Mädchens‹ zugeschickt hatte und dieser veröffentlicht war, ersuchte ihn letzterer, ihm doch die zweite Hälfte des Texts zukommen zu lassen, damit auch diese veröffentlicht werden könne. Anstatt dieser Bitte nachzukommen, schickt Goethe aber die erste Hälfte einer neuen Erzählung: jene der ›Neuen Melusine‹, die er sogar mitten im Satz abbrechen läßt. Auf Cottas erneutes Nachfragen ein Jahr später sendet er wiederum nicht den Schluß der ›Neuen Melusine‹, sondern einen Teil der Erzäh lung ›Der Mann von funfzig Jahren‹.96 Dies »war nun die dritte angefangene Erzählung, die Goethe aus seinem Roman vorabdrucken ließ – ein in der Litera turgeschichte wohl einmaliger Vorgang.«97 Goethe hat also ab dem Jahr 1808, in einem Zeitraum von über 10 Jahren, Teile der ›Wanderjahre‹ in Cottas ›Taschenbuch für Damen‹ vorab veröffent licht.98 Diese Vorgehensweise bezeichnet Bunzel als »ein bestimmtes Verfahren der Werkannoncierung, nämlich [als] die Ankündigung mittels Vorabdruck.«99 Daraus erwuchs Goethe ein strategischer Gewinn. Er konnte die zeitliche Lücke, die zwischen der Beendigung der ›Lehrjahre‹ und dem Erscheinen der ›Wander
zählung bekam den Titel ›Das Nußbraune Mädchen‹ (vgl. FA I 10, S. 1082). 95 Vgl. FA I 10, S. 1113. 96 Ich paraphrasiere den Argumentationsgang Bunzels (vgl. Bunzel: Das ist eine heillose Ma nier, S. 57 f.). 97 Bunzel: Das ist eine heillose Manier, S. 58. Diese Ausführungen beziehen sich auf die erste Fassung der ›Wanderjahre‹, die über einen ersten Teil bekanntlich nie hinauskam. 98 Cottas ›Taschenbuch für Damen‹ blieb dabei das exklusive Veröffentlichungsmedium (vgl. Bunzel: Das ist eine heillose Manier, S. 39 f.). 99 Bunzel: Das ist eine heillose Manier, S. 41. Anders sieht das Thomas Wolf: »Die Zweifel an der guten Aufnahme des neuen Werkes erscheinen mir bei der Betrachtung der Entstehungs geschichte viel bedeutsamer als eine eventuell vorhandene Veröffentlichungsstrategie [die sich die ›falschen Wanderjahre‹ Pustkuchens sogar zu Nutzen macht]. Goethes ängstlicher Blick auf eine im Verborgenen lauernde böswillige Kritikerschar, die mit den Wanderjahren auch ihn als Person erneut verächtlich machen könnte, vereitelte beinahe die Beendigung des Werks.« (Wolf: Pustkuchen und Goethe, S. 38. Kursivierung im Original).
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jahre‹ allzugroß zu werden drohte, zwar nicht schließen aber doch das Publikum in Erwartung halten. Diese Vorgehensweise erinnert wieder an die Taktik des Vor enthaltens von Informationen, welche für die ›Verräter-Erzählung‹ konstitutiv ist. Die ›Wanderjahre‹ hatte Goethe, anders als die Vorabdrucke suggerieren mögen, zu dieser Zeit noch keinesfalls zu Ende geschrieben. Das eben geschilderte Verzahnen der Einzelgeschichten durch das Vorent halten von Schlüssen und das Einschalten neuer Anfänge spottet jeder Erwar tung von Linearität. Ermöglicht hat eine derart komplexe Publikationspraxis erst die (wenn auch unbewußte) Orientierung am Archiv. In diesem speziellen Fall ist die seltene Konstellation gegeben, daß sich keine Vorgängigkeit der Archivalien vor dem Archiv – oder umgekehrt – nachweisen läßt. Beides entsteht, wie gezeigt, parallel. Beide Faktoren bedingen einander und wachsen miteinander, ihre Strukturen affizieren sich gegenseitig. Dieses geradezu ›interaktive‹ Verhältnis von Material und Archivierung kann man lesen als einen konkreten Vorausverweis auf die anspruchsvolle Form der ›Wanderjahre‹.
2.6.2 Die Gedichte Ein Rudel Gedichte erwartet Sie hier. (Schiller an Goethe, 2. Oktober 1795)
Ein Publikationsverfahren, wie es für die Erzählungen nachweisbar ist – Abdruck von Material in den ›Wanderjahren‹, das schon vorab veröffentlicht wurde – kam auch andersherum zum Zug. Im Fall der Gedichte ›Vermächtnis‹ und ›Im ernsten Beinhaus war’s …‹ dienten die ›Wanderjahre‹ als Publikati onsmedium für wichtige Goethe-Lyrik. Ihrer scheinbaren Autonomie zum Trotz stehen sie thematisch zum Text und zu Ideen der ›Wanderjahre‹ in Beziehung. Nicht zuletzt soll auf sie eingegangen werden, da sie weitere ›wunde Punkte‹ der Archivfiktion darstellen, denn sie stehen an exponierten Stellen des Texts aus drücklich kraft Goethes Weisung. D. h. sie fallen aus dem Raster von Neuhaus’ Archivfiktion heraus. Hier greift die Herausgeberfiktion nicht mehr, die Gedichte sind strukturell nicht mit dem Text vermittelt. Unter dieser Prämisse lassen sie sich als extratextuelle Hinweise auf die Textstruktur oder die Textstrategie des gesamten ›Wanderjahre‹-Projekts lesen.100 Darüber hinaus führe ich vor, inwie fern sie sich für Spielarten von Ordnung interessieren. Zum Schluß des Kapitels
100 Zur Unterscheidung von Strategie und Struktur vgl. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. München 2008. S. 182.
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wird dargelegt, wie die Gedichte auf eine sprachtheoretische Fragestellung des späten Goethe verweisen. Laut Eckermann hat Goethe ›zu dieser Zeit‹ (als die zweite Fassung der ›Wan derjahre‹ im Rahmen der ›Ausgabe letzter Hand‹ zusammengestellt wurde) zwei bedeutende Gedichte – ›Vermächtnis‹ (1829) und ›Im ernsten Beinhaus war’s …‹ (1826) – ›vollendet‹ (so der Wortlaut), die er dann auch schnell veröffentlicht sehen wollte.101 Aus diesem Grund erschienen sie zum erstenmal im Text der ›Wanderjahre‹ von 1829. Ausgerechnet ein Roman fungiert also als Publikations medium für Lyrik. Ihm wird offensichtlich zugetraut, dem Publikum die beiden Gedichte adäquat zu präsentieren. Das Gedicht ›Vermächtnis‹ steht am Schluß des zweiten Buchs der ›Wander jahre‹; es folgt auf die ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹. ›Im ernsten Bein haus war’s …‹ findet man dagegen nach der Spruchsammlung ›Aus Makariens Archiv‹ am Ende des Dritten und letzten Buchs. Es beschließt den Text der ›Wan derjahre‹. Goethes Publikationsstrategie sollte indes nicht aufgehen. Die Gedichte wurden weder verstanden noch konnte man sich einen Reim darauf machen, wie sie an ›solche Stellen‹ (Eckermann) geraten konnten.102 Goethe, so man Eckermann glauben darf, hat das nicht gestört; er ordnete 1831 angeblich heiter an, man solle bei der Herausgabe meines Nachlasses diese einzelnen Sachen dahin stellen, wohin sie gehören, damit sie beim abermaligen Abdruck meiner Werke, schon an ihrem Orte verteilt stehen […].103
Wieder tritt einem das Vertrauen darauf entgegen, daß die Dinge mit der Zeit schon an den ihnen gemäßen Ort finden werden, daß das Material sich selbst anordnen werde – wenn auch erst postum. Goethe geht davon aus, daß – und dies wäre der eben genannte Gedanke ins Aktive gewendet – die richtigen Komponenten
101 Die Gedichtbände der ›Ausgabe letzter Hand‹ waren schon 1827 abgeschlossen. Die Frage, weshalb Goethe das ›Beinhaus-Gedicht‹, das bereits 1826 entstanden war, 1829 »sogleich« ver öffentlicht sehen wollte, beantwortet Viëtor damit, »daß Goethe dem Gedicht wirklich erst ›zu dieser Zeit‹, also 1829, die letzte Form gegeben hat.« (Viëtor, Karl: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel. In: Ders.: Geist und Form. Aufsätze zur Literaturgeschichte. Bern 1952. S. 194–233. Hier: S. 223). 102 Vgl. FA I 2, S. 1199. Auch Schöne weist darauf hin, das ›Beinhaus‹-Gedicht sei der Leserschaft »entschieden rätselhaft« vorgekommen (Schöne, Albrecht: Schillers Schädel. München 2002. S. 103). 103 FA I 2, S. 1199.
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herausgelesen, gesammelt und zusammengetragen werden. Die Gedichte fanden in den folgenden Ausgaben dann tatsächlich den Weg in die Gedichtbände und wurden in den ›Wanderjahren‹ oft weggelassen. Vielleicht ist es einfach zu naheliegend und wird deshalb in der Forschung nicht erwähnt, dennoch möchte ich darauf hinweisen, daß Goethe mit seiner Anordnung dem Gedichttitel ›Vermächtnis‹ im unemphatischsten, wenn man so will, im prosaischsten Sinn gerecht wird. Es geht ums Ordnen eines Nachlasses, um eine Anweisung über den eigenen Tod hinaus in die Zukunft.104 Ein Vermächtnis hat mit der Zeit aber auch noch auf andere Art zu schaf fen. Bereits die Eingangspassage (›Kein Wesen kann zu nichts zerfallen‹) läßt sich als Hinweis darauf lesen, daß »die Dauer für die Zukunft, mithin ein wei teres besonderes Archivkennzeichen, gesichert ist.«105 Dieses Fazit zieht Flach aus Goethes Äußerungen über das Archiv, das er ab 1822 einrichten ließ und welches seine sämtlichen gedruckten und ungedruckten Schriften sowie Tage bücher und eingegangenen und abgeschickten Briefe enthielt.106 So gesehen ist es ein Vorausverweis in die Zukunft und zugleich eine Anweisung auf Produkti vität, denn Goethe war es wichtig, daß dasjenige, was er darin niederlegte, von anderen, Jünger(e)n weitergeführt werden konnte.107 Dieses Archiv betrachtete er zeitlebens nie als fertig. Es stand also nicht als sakrosankter monolithischer Textkorpus in der literarischen bzw. wissenschaftlichen Landschaft des 19. Jahr hunderts, sondern an ihm wurde weitergearbeitet: »[L]aufend erhielt es, wie sein Endzustand zeigt, bis zu Goethes Tod und noch darüber hinaus, Zugang an schriftlichem Niederschlag von Goethes Tätigkeit.«108 Auf diesem Archiv basiert nun dezidiert die Gesamtausgabe von Goethes Werken, die ›Ausgabe letzter
104 Man hat zeigen können, daß es bei Goethe eine »immer wiederkehrende Verbindung der beiden Ausdrücke literarischer Nachlaß und Archiv« gibt. (Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 66). Ulrich Raulff spannt in anderem Zusammenhang gar einen Bogen zwischen Nachlaß, Grab und Archiv. Er beruft sich auf Wilhelm Diltheys Aufruf (in ›Archive zur Literatur‹, Dt. Rundschau LVIII/1 (1889), S. 360–375) zur Gründung eines pantheonartigen Literaturarchivs. »Hinter allem Geschriebenen steht ein vergangenes Leben, hinter den Spuren der Hand zeigt sich die Hand aus Knochen. Das Beinhaus der toten Autoren gibt der Papierwährung des Archivs ihre knöcherne Deckung.« (Raulff: Sie nehmen gern von den Lebendigen, S. 227. Hervorhebungen: M. B.). 105 Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 65. 106 Vgl. Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 65. 107 »Das Archiv ist damit auch nach der Seite der Auswertungsmöglichkeit hin wirklich ein Ar chiv geworden, nämlich eine Sammlung von Quellenmaterial für literarische und wissenschaft liche Arbeiten, eine Fundgrube für die historische Erforschung seines Lebens und seiner Leis tung.« (Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 69). 108 Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 69.
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Hand‹. Der Logik von Goethes Archiv folgend, scheint nun auch die Einschaltung der beiden erwähnten Gedichte unternommen worden zu sein. Für sie dient die ›Ausgabe letzter Hand‹ selbst als eine Art Archiv, denn sie sollten dem breiten Publikum zugänglich aufbewahrt werden. Die Gedichtbände waren schon her ausgegeben, als die beiden Gedichte fertiggestellt wurden. Goethe schaltet sie in die zweite Fassung der ›Wanderjahre‹ ein, in einen Prosaband also, und scheint sich dabei auf sein Archivverständnis zu berufen. So, wie sein Archiv nie fertig gestellt war und er ihm auch nach seiner Erstellung weiterhin Texte beigab, so spricht er durch sein Vorgehen auch den ›Wanderjahren‹ ein endgültiges Fertig sein ab und fügt die beiden Gedichte ohne weitere fiktionsinterne Vermittlung nachträglich ein. Die ›Wanderjahre‹ erhalten auf diese Weise den pragmatischen Charakter eines Textspeichers, eines Archivbehälters. Goethe statuiert nicht zuletzt eine (Zeit-) Ordnung – ein Vermächtnis ist dem Tod und damit dem Beinhaus temporal vorgängig. Dementsprechend ver ankert er dem ›Vermächtnis‹ zeitlich nachfolgend das ›Beinhaus‹ im Text; inso fern haben die beiden Gedichte auch einen gemeinsamen thematischen Bezug. Gleichzeitig unterläuft er diese Zeitordnung, indem er die Reihenfolge zwar einhält, die Gedichte an exponierten Stellen der ›Wanderjahre‹ jedoch vorab erscheinen läßt.
Zwischenbilanz Die Gedichte sind also erstens, trotz unterschiedlicher Entstehungszeit, eng mit einander verwandt, man könnte sogar sagen, sie gehören zusammen. Sie haben zweitens die Gemeinsamkeit, zuerst in den ›Wanderjahren‹ publiziert worden zu sein. Drittens stehen sie dort jeweils hinter einer der Spruchsammlungen, also hinter einem Archiv. Viertens endet mit ihnen je ein Buch der ›Wanderjahre‹. – Und zwar das zweite und das dritte. Eigentlich würden ja die Spruchsammlungen die Bücher zwei und drei beschließen.109 Fünftens schließlich liebäugeln sie mit dem Topos der Ordnung (fürs ›Vermächtnis‹ habe ich das gerade angedeutet – es ordnet einen Nachlaß, fürs ›Beinhaus‹ werde ich es noch nachweisen). Ich möchte die beiden Gedichte nun genauer in den Blick nehmen.
109 Das letzte Wort im ersten Buch hat bezeichnenderweise der alte Pfandleiher, ausgerechnet ein Archivar von Berufswegen.
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›Vermächtnis‹
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Kein Wesen kann zu nichts zerfallen, Das Ew’ge regt sich fort in allen, Am Sein erhalte dich beglückt! Das Sein ist ewig, denn Gesetze Bewahren die lebend’gen Schätze, Aus welchen sich das All geschmückt. Das Wahre war schon längst gefunden, Hat edle Geisterschaft verbunden, Das alte Wahre, faß es an. Verdank es, Erdensohn, dem Weisen, Der ihr die Sonne zu umkreisen Und dem Geschwister wies die Bahn.
15
Sofort nun wende dich nach innen, Das Zentrum findest du da drinnen, Woran kein Edler zweifeln mag. Wirst keine Regel da vermissen, Denn das selbständige Gewissen Ist Sonne deinem Sittentag.
20
Den Sinnen hast du dann zu trauen, Kein Falsches lassen sie dich schauen, Wenn dein Verstand dich wach erhält. Mit frischem Blick bemerke freudig,
Und wandle, sicher wie geschmeidig, 25 Durch Auen reichbegabter Welt. 30
Genieße mäßig Füll’ und Segen, Vernunft sei überall zugegen, Wo Leben sich des Lebens freut. Dann ist Vergangenheit beständig, Das Künftige voraus lebendig, Der Augenblick ist Ewigkeit.
35
Und war es endlich dir gelungen, Und bist du vom Gefühl durchdrungen: Was fruchtbar ist, allein ist wahr; Du prüfst das allgemeine Walten, Es wird nach seiner Weise schalten, Geselle dich zur kleinsten Schar.
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Und wie von alters her, im stillen, Ein Liebewerk, nach eignem Willen, Der Philosoph, der Dichter schuf; So wirst du schönste Gunst erzielen: Denn edlen Seelen vorzufühlen Ist wünschenswertester Beruf.110
Ordnung im ›Vermächtnis‹ ›Vermächtnis‹ ist gegliedert in zwei zu drei zu zwei Strophen, die Satzgrenzen entsprechen den Strophengrenzen. Es handelt, so liest die Frankfurter Ausgabe es, von der Proklamation der von edlen Geistern gefundenen Gesetzlichkeit des Kosmos, der Anwendung auf die Seelen- und Erkenntniskräfte und schließlich von den sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Soziale.111 Im ersten Teil des Gedichts ist aber auch Ordnung ein Thema. Es geht dort um (An-)ordnungen. So wird etwa ein Auseinanderfallen von Ordnung erwähnt (›zerfallen‹, V. 2). Die angesprochenen Gesetze (V. 5 f.) stehen für eine Ordnung der Aufbewahrung, die sie gleichzeitig gewährleisten und legitimieren. Auch die Ordnung im All, jene der Sterne wird angesprochen. Sie ›umkreisen‹ (V. 12) die
110 Goethe: ›Wanderjahre‹, RUB 7827, S. 336 f. 111 Vgl. FA I 2, S. 1203.
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Sonne auf einer ihnen angeordneten ›Bahn‹ (V. 13). Im ›Zentrum‹ (V. 15) wird man, so der Text zuversichtlich, fast tröstend, ›keine Regel‹ (V. 17) vermissen.
›Vermächtnis‹ und ›Eins und Alles‹ ›Vermächtnis‹ weist Analogien auf zu Versen aus Goethes Gedicht ›Eins und Alles‹. Diese Verse, die nach Goethes eigenen Worten dumm […] [sind] und welche [s]eine Berliner Freunde, bei Gelegenheit der naturforschen den Versammlung, zu [s]einem Ärger [weil aus dem Kontext gerissen] in goldenen Buchsta ben ausgestellt haben,112
lauten: »Das Ewige regt sich fort in allen:/Denn alles muß in Nichts zerfallen,/ Wenn es im Sein beharren will.«113 Genau dort, wo ›Eins und Alles‹ endet, beginnt nun ›Vermächtnis‹: »Kein Wesen kann zu nichts zerfallen,/Das Ew’ge regt sich fort in allen« (V. 1). Der scheinbare Widerspruch zwischen dem Angeführten löst sich bei genauerem Hinsehen schnell auf. Was nicht im Sein beharren will, sondern sich als wandlungsfähig erweist, wird auch am Ewigen teilhaben. Indem ›Vermächtnis‹ die letzten zwei Zeilen von ›Eins und Alles‹ alludiert und so in den Kontext (der Rezeption) der ›Wanderjahre‹ rückt, findet eine Art paraphrastischer Archivierung statt.
›Im ernsten Beinhaus war’s …‹ Die Versform im ›Beinhaus‹-Gedicht ist die von Goethe nur selten in Anspruch genommene Terzine; sie ist wohl von seiner Dante-Lektüre Ende September 1826 beeinflußt.114 Das Gedicht ist vom vorangegangenen, in Fraktur gesetzten Text, durch Antiqua-Druck, Seitenwechsel und einen Freiraum von ca. sieben Zeilen abgesetzt.115 Es beginnt unvermittelt ohne Überschrift und endet mit der einge klammerten Sequenz ›Ist fortzusetzen‹.
112 Eckermann, Gespräch vom 12. 2. 1829; zit. nach: Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Insel Verlag. Bd. 1. Gedichte. Versepen. Frankfurt am Main 1965. S. 495. 113 Goethe: Werke. Insel Verlag. Bd. 1: Gedichte. Versepen, S. 195. Vgl. auch FA I 2, S. 1084 ff.: Handschriftl.: Jena, 6. 10. 1821; Erstdruck 1823 in ›Zur Naturwissenschaft überhaupt‹ (!) II 1, als Abschluß des Heftes. 114 Vgl. auch den Anfang von ›Faust II‹, V. 4679–4727. »Inhaltlich ist jedoch kaum eine Brücke [zum ›Faust II‹] zu finden.« (FA I 2, S. 1200). Zum ›Durchschimmern‹ der ›Divina Commedia‹ vgl. Schöne: Schillers Schädel, S. 69 f. Zu einer Paraphrase des Gedichts vgl. Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 198 f. 115 Vgl. FA I 2, S. 1200.
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Im ernsten Beinhaus war’s, wo ich beschaute, Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten; Die alte Zeit gedacht’ ich, die ergraute. Sie stehn in Reih’ geklemmt, die sonst sich haßten, Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen, Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten. Entrenkte Schulterblätter! was sie trugen, Fragt niemand mehr, und zierlich tät’ge Glieder, Die Hand, der Fuß zerstreut aus Lebensfugen. Ihr Müden also lagt vergebens nieder, Nicht Ruh im Grabe ließ man euch, vertrieben Seid ihr herauf zum lichten Tage wieder, Und niemand kann die dürre Schale lieben, Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte. Doch mir Adepten war die Schrift geschrieben, Die heil’gen Sinn nicht jedem offenbarte, Als ich in Mitten solcher starren Menge Unschätzbar herrlich ein Gebild gewahrte, Daß in des Raumes Moderkält’ und Enge Ich frei und wärmefühlend mich erquickte, Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge. Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte! Die gottgedachte Spur, die sich erhalten! Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte, Das flutend strömt gesteigerte Gestalten. Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend, Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten? Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen, Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend. Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare? Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen, Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre. (Ist fortzusetzen.)116
Dieser Zusatz wurde unterschiedlich gedeutet und wechselweise auf das Gedicht allein, auf die Aphorismensammlung und das Gedicht und auf den Roman als Ganzes bezogen. Gräf sieht darin ausdrücklich einen Hinweis auf eine Fortset zung des Romans, der einen dritten Teil (nämlich ›Meisterjahre‹) fordere.117 Max
116 Goethe: ›Wanderjahre‹, RUB 7827, S. 525. 117 Vgl. Gräf, Hans Gerhard: Goethe über seine Dichtungen. 1. Teil. Die epischen Dichtungen. Bd. 2. Darmstadt 1968. S. 908.
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Wundts Eingrenzung der Aufforderung rein auf das Gedicht wurde bis heute nicht schlüssig widerlegt.118 Von Wilpert ist der Ansicht, es bleibe unklar, ob der Passus sich auf den Roman oder das Gedicht beziehe.119 Dieser Auffassung schließe ich mich an, scheinen doch Deutungsfreiräume und das Im-Schweben-Halten von Bedeutungszuweisungen Konstituenten der ›Wanderjahre‹ zu sein. So bleibt das Gedicht meiner Lesart nach sowohl zum Anfang als auch zum Schluß hin pro grammatisch offen. Doch nicht nur der Zusatz hält es anschlußfähig, auch die Beschaffenheit der letzten Verse trägt dazu bei. Der Kommentar der Frankfurter Ausgabe spricht von einer metrischen wie inhaltlichen Sonderstellung, welche die letzten vier Verse des Gedichts einnähmen: [M]etrisch deshalb, weil die Terzinen durch einen zusätzlichen Vers zum Vierzeiler abge rundet werden, inhaltlich, weil hier ein sentenzenhafter Abschluß im Allgemeinen formu liert wird.120
Viëtor attestiert dem ›Beinhaus‹ gar einen »Weisheitsschluß«, der »das Ergeb nis einer lebenslangen Bemühung um ein bestimmtes Phänomen«121 sei. Und Schöne pointiert in seiner minutiösen Analyse: Als rhetorische Frage gefaßt, die in sich selber ihre bekenntnishafte Antwort enthält, steht am Ende des Gedichts der vierzeilige [!] Lehrsatz, der die Terzinenfolge machtvoll beschließt (y z y z).122
Für Müller ›erhellt‹ sich gar das gesamte Gedicht von der Schlußstrophe her;123 Viëtor spricht von ›mächtigen Schlußworten‹ von großer, ›dynamischer Gewalt‹.124 Der Tenor dieser Forschungsstimmen ist die Feststellung der Geschlossenheit des Gedichts und seines eindeutigen, gelungenen Abschlusses.125 Dem muß man nicht unbedingt zustimmen. Viëtor konstatiert nämlich auch einen »lapidare[n]
118 Vgl. FA I 10, S. 1272. 119 Vgl. Wilpert: Goethe-Lexikon, S. 89. 120 FA I 2, S. 1203. 121 Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 204. 122 Schöne: Schillers Schädel, S. 72. 123 Vgl. Müller, Günther: Goethe, Schillers Reliquien. In: Gedicht und Gedanke. Hg.: Burger, Heinz Otto. Halle 1942. S. 140–151. Hier: S. 148. 124 Vgl. Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 228. 125 In der Frankfurter Ausgabe findet sich auch die These, das ›Beinhaus-Gedicht‹ sei so ge schlossen gebaut, daß es kaum eine Fortsetzung vertrüge. Allenfalls sei unter Berufung auf den ›Freund‹ eines Terzinen-Fragments ein Schiller-Zyklus denkbar aber unwahrscheinlich (vgl. FA I
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Schluß«126 und wie »großartig eindrucksvoll in seinem Lakonismus«127 das Gedicht dastehe. Das scheint mindestens ebenso legitim zu sein wie die referier ten Positionen Schönes und Müllers. Der Schluß ist nicht nur lapidar, das Gedicht nicht nur großartig lakonisch, sondern ein Schluß ist, wie ich finde, überhaupt schwer auszumachen. Die beiden letzten Verse sind keine vollständigen Sätze oder brauchen wenigstens nicht obli gatorisch als solche gelesen zu werden. Sie erlauben auch eine andere Lesart. Das Gedicht ist also wenn schon nicht unabgeschlossen, so doch wenigstens am Ende offen. Auch inhaltlich bleibt es am Schluß nicht stehen, sondern bezeichnet etwas Prozessuales, das auf ein Unendliches verweist: ›Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen/Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre‹ (V. 34).
Ordnung im ›Beinhaus‹ Mehr noch als das ›Vermächtnis‹ interessiert sich das ›Beinhaus-Gedicht‹ für Topoi der Ordnung. Dabei lassen sich zwei Ordnungsbereiche ausmachen, die nicht trennscharf auseinanderzuhalten sind. Zum einen, als ›Mikrostruktur‹, der menschliche Körper, dessen Überreste nach dem Tod als Skelett firmieren. Zum andern das Beinhaus selbst als ›Makrostruktur‹, das als Aufbewahrungs-, Ordnungs- und Unordnungshaus für die Gebeine dient. Damit rückt es wieder in unmittelbare Nähe des Aggregats und, berücksichtigt man seinen Gebäude charakter, auch in die Nähe des Magazins und in die von Derridas ›Arché‹; bzw., wenn man Ernst folgen möchte, gar in die Nähe des Archivs: »Der Ort, wo Sig nifikanten gleich Knochen und Texte gleich Skeletten liegen, die buchstäblich darauf warten, zusammengelesen zu werden, ist das Archiv als Sammlung.«128 Auf der Makroebene dieser Spielart von Archivierung also – denn um eine solche handelt es sich – trifft man bereits ab dem zweiten Vers auf Ordnungsfi gurationen. Es ist dort die Rede von einem Nebeneinanderstehen, nämlich davon ›Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten‹.129 Eine Formulierung, die performa
2, S. 1201). Zu diesem schwer zu entziffernden Fragment vgl. Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 226. 126 Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 228. 127 Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 233. 128 Ernst: Rumoren der Archive, S. 36. 129 Viëtor weist nach, daß ›passen‹ auch intransitiv gebraucht werden könne. Dann hätte es die Bedeutung von »müßig zuwarten, harren«; »[a]ber auch die andere, dem modernen Leser nä herliegende Bedeutung: ›aneinander gefügt sein‹ (congruere) ist nicht ausgeschlossen. […] Ein Doppelsinn mag sehr wohl beabsichtigt sein.« (Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 340. Anmerkung 7).
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tiven Charakter hat, figuriert sie dieses Nebeneinanderstehen doch sprachlich in praxi, indem sie die zwei Substantive ›Schädel Schädeln‹ unvermittelt einan der nebenordnet bzw. indem sie dem Dativobjekt ›Schädeln‹ das ihm zugehörige grammatische Subjekt ›Schädel‹ direkt zur Seite stellt.130 In diesem Kontext verwendet der Text auch explizit den Terminus der Reihe, um einer Anordnung von Dingen (der Schädel) Ausdruck zu verleihen (›sie stehn in Reih’ geklemmt, die sonst sich haßten‹; V. 4). Der Tod hat über die Individu alität gesiegt, im Ossarium gilt eine andere Ordnung als im Leben. Die Schädel werden dicht nebeneinander ›geklemmt‹, gleich, welche Gefühle ihre Träger zu Lebzeiten füreinander hegten. Trotz der früheren eventuellen Inkompatibilitä ten zwischen den nun Verstorbenen kann man von den Überresten ihrer Köpfe sagen, daß ›Schädel Schädeln angeordnet passen‹ und so als eine – wenn auch unfreiwillige – überindividuelle Reihe firmieren. Der Tod scheint die Macht zur Umcodierung zu haben. Was sich früher ›tödlich schlug[ ]‹ ›lieg[t] […] [jetzt] zahm allhier zu rasten‹ (V. 5 ff.). Es ist aber nicht nur ausdrücklich von einer ›Reih[e]‹ zu lesen, sondern auch von einer ›Menge‹ (V. 17). Neben diesen Hinweisen auf Ordnungen wird zugleich auch das Wieder-disparat-Werden der geordneten Elemente, ihr Durcheinander geraten, zur Sprache gebracht. Es geht um Knochen, die ›kreuzweis‹ (V. 6) liegen, um Hände und Füße, die ›zerstreut‹ (V. 9) sind. Zudem geht es um eine Struktur, die geheimnisvolle Wirkung hat (V. 22): ›Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte!‹ und um das Auffinden versteckter Ver bindungen, ums Spurenlesen (V. 23: ›gottgedachte Spur‹) – beides sind Aktivitä ten, die der Leser der ›Wanderjahre‹ auf Schritt und Tritt zu vollführen hat. Die ›entrenkte[n] Schulterblätter‹ (V. 7) verweisen indes auf die Mikrostruktur des menschlichen Körpers. Sie sind ihrem Kontext entwunden, Verbindungen, konkret beispielsweise Sehnen, fehlen.131 Im ›Beinhaus‹ findet man aber nicht nur Einsprengsel über Ordnung, sondern auch solche übers Archiv vor. Die ›Schulterblätter‹ rücken die Ausfüh rungen in das semantische Feld von Schriftlichkeit (es ist ja explizit von ›Schrift‹ die Rede; V. 15), in das natürlich auch das Deuten von Sinn (V. 16) und das Lesen von ›Spuren‹ (V. 23) gehört. Spur und Archiv bringen archivtheoretische Trak tate bis heute in einen Zusammenhang: »Die Spur, welche die Epoche der Schrift
130 Das Original des Gedichts ist »schon 1837 durch Eckermann aus Goethes Nachlaß in Privat besitz gelangt (im Tausch gegen ein Schädelbein!)« … (Schöne: Schillers Schädel, S. 102). 131 Anders, nämlich als vereinzelte Träger und Voraussetzung menschlicher Formen, liest Azzouni die im Gedicht aufgeführten Körperrelikte (vgl. Azzouni: Kunst als praktische Wissen schaft, S. 95).
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hinterläßt, ist das Archiv.«132 Mehr noch: die goethezeitliche Archivterminologie kannte das Substantiv ›Anfuge‹ (dies in Anspielung auf die rätselhaften ›Lebens fugen‹, V. 9). Im Kontext des Umgangs mit Akten bedeutete es »Beilage zu einem Schriftstück«.133 – Genau in diesem Wortsinn wurden die beiden Gedichte ›mate rialiter‹ gehandhabt: sie wurden den ›Wanderjahren‹ nachträglich hinzugefügt. Diese wiederum mußten es als Text aushalten, daß zwei Gedichte in der Logik einer Aktenanlage ›nachgereicht‹ wurden. Die für die ›Wanderjahre‹ so wichtige Rede übers Archiv ist also erstens fachterminologisch im ›Beinhaus-Gedicht‹ fla grant und zweitens als Verfahren nachweisbar.
Schiller im ›Beinhaus‹ Einen Schädel in einem Gedicht zu erwähnen war für Goethe untypisch; das Motiv der Betrachtung eines solchen findet man nur ein einziges Mal, nämlich im ›Beinhaus‹.134 Zu dem Titel, unter dem das Gedicht bekannt wurde, merkt die Frankfurter Ausgabe an: Den Zusammenhang mit den sterblichen Überresten Schillers, den Goethe anzusprechen in seinem Gedicht selber vermeidet, stellten Eckermann und Riemer später her, mit der von ihnen formulierten Überschrift ›Bei Betrachtung von Schillers Schädel‹.135
So besehen könnte es sich um ein Gelegenheitsgedicht handeln. Die ›Gelegenheit‹ jedoch wird schon am Gedichteingang verändert. Schiller wurde 1805 in einem Tannensarg im Kassengewölbe des Jacobifriedhofs beigesetzt. Dieses Gewölbe mußte 1826 geräumt werden. Man suchte aus dem mittlerweile durchs Verrot ten der Särge entstandenen Wirrwarr die Gebeine Schillers heraus (oder das was man fälschlicherweise dafür hielt … wie wir heute dank DNA-Analyse ›wissen‹). Später wurden die Überbleibsel in der Fürstengruft bestattet. Goethe selbst war, so weit man weiß, jedenfalls nie in besagtem Gewölbe und dieses war eben auch kein Beinhaus, kein »Haus auf den Kirchhöfen, in welchem die ausgegrabenen Gebeine verwahret werden«.136 Immerhin hat die Wendung ›Dich höchsten Schatz
132 Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 44. 133 FA I 27, S. 1158. 134 Vgl. Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 218. 135 FA I 10, S. 1272. 136 Adelung, Teil 1: A–E, Sp. 823 f. Wahrscheinlich codiert Goethe es in ein Beinhaus um. Ein reales ›Beinhaus-Erlebnis‹ schildert er während seiner zweiten Schweizer Reise am 9. Oktober 1779 in einem Brief an Charlotte von Stein: »Wir kamen tüchtig im Regen nach Murten ritten aufs Beinhaus und ich nahm ein Stükgen Hinterschädel von den Burgundern mit.« (Zit. n. Schöne: Schillers Schädel, S. 56).
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aus Moder fromm entwendend‹ (V. 28), wie Viëtor zeigt, eine nahezu wörtliche Vorlage in jener Rede, die August von Goethe anläßlich der Neuanordnung von Schillers Gebeinen hielt.137 Man sollte dennoch die biographische ›Gelegenheit‹ nicht überbewerten; es ist nirgends explizit von Schiller die Rede. Trotzdem ist er präsent – und zwar weniger in persona, sondern vielmehr in Form eines seiner Texte, wie nun aufgezeigt wird.138 Der ›Moder‹ (V. 28) und die ›Moderkält’‹ (V. 19) im Gedicht scheinen auf Schillers erstes bürgerliches Trauerspiel ›Luise Millerin‹ hinzudeuten.139 Dort äußert Ferdinand von Walter, bevor er sich und seine Luise mit ›in der Hölle gewürzter‹ Limonade vergiftet, in der siebten Szene des fünften Akts: Toren sinds, die von ewiger Liebe schwatzen, ewiges Einerlei widersteht, Veränderung nur ist das Salz des Vergnügens – Topp, Luise! Ich bin dabei – Wir hüpfen von Roman zu Romane, wälzen uns von Schlamme zu Schlamm – Du dahin – Ich dorthin – Vielleicht, daß meine verlorene Ruhe sich in einem Bordell wiederfinden läßt – Vielleicht, daß wir dann nach dem lustigen Wettlauf, zwei modernde Gerippe, mit der angenehmsten Überraschung von der Welt zum zweitenmal aufeinanderstoßen […].140
Das ›ewige[ ] Einerlei‹ und die ›Veränderung‹ aus dem Schillertext erinnern an das wie bereits dargelegt ja auch zum Kontext des ›Beinhaus-Gedichts‹ gehörende Gedicht ›Vermächtnis‹, wo es heißt: ›Das Ew’ge regt sich fort in allen‹; die ›ver lorne Ruhe‹ findet ihre Entsprechung im ›Beinhaus‹ im Vers ›Nicht Ruh’ im Grabe ließ man euch‹ (V. 11); das ›Bordell‹ in seiner Eigenschaft als Gebäude, in dem das Leben pulsiert, scheint das gegenläufige Äquivalent eines Überreste von Toten beherbergenden Beinhauses zu sein; zwei ›modernde Gerippe‹ klingen an in der ›Moderkält‹ (V. 19) und in dem Passus ›Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend‹ (V. 28). Ferdinands Idee vom ›zum zweitenmal aufeinanderstoßen‹, die ja eine Spekulation in die Zukunft ist, wendet das Gedicht in ihr Gegenteil um, in eine Erinnerung an die Vergangenheit: ›Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte‹ (V. 24). Die Äußerung ›Wir hüpfen von Roman zu Romane‹ ähnelt schließlich frappierend einer Formulierung aus dem ersten Buch der ›Wander
137 Vgl. Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 198. 138 Martens’ sehr präziser motivgeschichtlicher Analyse entgeht die Reminiszenz an Schiller (vgl. Martens, Wolfgang: Goethes Gedicht ›Bei Betrachtung von Schillers Schädel‹, motivge schichtlich gesehen. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. Hgg.: Martini, Fritz et al. Stuttgart 1968. S. 275–295). 139 Der Titel ›Kabale und Liebe‹ stammt von Iffland, die Erstaufführung war in Mannheim 1782/3. 140 Schiller, Friedrich von: Kabale und Liebe. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Band I. Hgg.: Fricke, Gerhard und Herbert C. Göpfert. München 1966. S. 263–343. Hier: S. 337 f.
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jahre‹, welche lautet: Felix »freute sich über sein erworbenes Wissen, daß er nun von Granit zu Granit hüpfe« (52). Schiller ist im ›Beinhaus‹ also doch präsenter, als man es vermuten würde. Es findet ein Sprechen über einen Text Schillers statt qua Verweis.
Exkurs Ordnungsphantasie III: Kontignation Die ›kreuzweis‹ liegenden Knochen (V. 6) befinden sich strukturell (von ihrer Anordnung her) in der Nähe eines seltenen Begriffs, der in den ›Wanderjahren‹ auftaucht. Es ist die Kontignation. Odoard hält im zwölften Kapitel des dritten Buchs eine Rede, mit der er zum Bleiben »in der alten Welt« (441) animieren will. Die Handwerke möchte er »für Künste erklärt« (444) wissen und geht dann näher auf sie ein: Zählen wir sie her in der Folge, wie sie den Bau in die Höhe richten und nach und nach zur Wohnbarkeit befördern. Die Steinmetzen nenn ich voraus, welche den Grund- und Eckstein vollkommen bearbeiten, den sie mit Beihülfe der Maurer am rechten Ort in der genaues ten Bezeichnung niedersenken. Die Maurer folgen hierauf, die auf den streng untersuch ten Grund das Gegenwärtige und Zukünftige wohl befestigen. Früher oder später bringt der Zimmermann seine vorbereiteten Kontignationen herbei, und so steigt nach und nach das Beabsichtigte in die Höhe. Den Dachdecker rufen wir eiligst herbei; im Innern bedürfen wir des Tischers, Glasers, Schlossers, und wenn ich den Tüncher zuletzt nenne, so geschieht es, weil er mit seiner Arbeit zur verschiedensten Zeit eintreten kann, um zuletzt dem Ganzen in- und auswendig einen gefälligen Schein zu geben. (444)
Es wird ›hergezählt‹, die ›Folge‹ wird eingehalten. Dem Bau ist ein sukzessives Fortschreiten (›nach und nach‹) beschieden. An der Kontignation ist auffällig, wie sie die strenge temporale Abfolge des Baus durchbrechen kann, denn sie wird ›früher oder später‹ gebracht. Sie kann auch schon ›vorbereitet‹ sein. Es handelt sich um eine Konstruktion, um eine vorgefertigte Anordnung, die in die Bauord nung eingefügt wird. Nach Zedler heißt ›Contignatio‹ »die Zusammenfügung derer Hölzer oder Balcken […], ingleichen das Stockwerck an einem Hause.141 Die ›Wanderjahre‹ benutzen den Begriff ›Kontignation‹ also in dem ihm angestamm ten Wortfeld des Errichtens eines Gebäudes.142 Sie reflektieren damit auch eine
141 Zedler, Bd. 6, S. 581, Sp. 1127. 142 Vgl. auch die phonologische Nähe zu Derridas ›Konsignation‹, die ebenfalls im Umfeld von Bauwerken ›zu Hause‹ ist: »Kein Archiv ohne einen Ort der Konsignation« […] »Die Konsignation strebt an, ein einziges Korpus zu einem System oder zu einer Synchronie zusammenzufügen, in dem alle Elemente die Einheit einer idealen Konfiguration bilden.« (Derrida: Dem Archiv ver schrieben, S. 13. Kursivierungen im Original).
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Ordnungsidee, deren Grundeigenschaft die Verschränkung bereits vorgefertigter Elemente ist. Der Terminus wird aber durchaus auch im übertragenen Sinn verwendet. Ein Beispiel dafür findet sich wiederum in einem Text Goethes. Eine Medaille, die Hegel zu seinem sechzigsten Geburtstag bekommen hatte, wurde Goethe auf Hegels Wunsch hin durch Zelter überbracht.143 Sie lag ihm vor, als er am 27. Januar 1832 an Zelter schrieb:144 Im Gefolg dessen darf ich nicht aussprechen, wie sehr mir die Rückseite von Hegels Medaille mißfällt. Man weiß gar nicht was es heißen soll. Daß ich das Kreuz als Mensch und als Dichter zu ehren und zu schmücken verstand, hab ich in meinen Stanzen bewiesen; aber daß ein Philosoph, durch einen Umweg über die Ur- und Ungründe des Wesens und NichtWesens, seine Schüler zu dieser trocknen Kontignation hinführt, will mir nicht behagen. Das kann man wohlfeiler haben und besser aussprechen.145
Goethe stört sich an dem einfallslosen Kreuzsymbol. Er entkleidet es seiner reli giösen Eigenschaften und reduziert es auf den Charakter seiner Konstruktion, indem er es als ›trockne Kontignation‹ bezeichnet. Aus dem christlichen Bild der Erlösung wird so ein banales Zimmerwerk, ein Holzgebälk, dem als Symbol zugleich Einfallslosigkeit und Defizienz im Ausdruck attestiert wird (›Das kann man wohlfeiler haben‹). ›Trockne Kontignation‹ verweist aber auch auf den menschlichen Körper, genauer auf das Skelett, das seine Herkunft hat im griechi schen »skeletós ›ausgetrocknet‹, zu gr. skéllesthai ›austrocknen, ausdörren‹.«146 Auch denke man an den allgemeinen Sprachgebrauch; so redet man im Zusam menhang mit Körpern auch vom Knochen-/Körperbau.147 Die Eigenschaften der zwischengeschobenen, eher abgelegenen Ordnungsidee Kontignation sind fol gende: Es handelt sich um einen Fachterminus aus dem Handwerk. Ihm liegt die Idee einer vorgefertigten kleineren Ordnung zugrunde, die als Teil in die größere
143 Die Medaille zeigt »auf der Vorderseite sein [Hegels] Bildnis und auf der Rückseite eine alle gorische Darstellung […]: zur Linken liest eine männliche Figur sitzend in einem Buch, hinter ihr befindet sich eine Säule, auf der eine Eule hockt; zur Rechten steht eine Frauengestalt, die ein sie überragendes Kreuz festhält; zwischen beiden befindet sich, dem Sitzenden zugewandt, ein nackter Genius, dessen erhobener Arm nach der andern Seite auf das Kreuz hinweist.« (Löwith, Karl: Von Hegel zu Nietzsche. Stuttgart 1950. S. 28). 144 Vgl. Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 669. 145 Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 469. 146 Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 851. 147 In den ›Wanderjahren‹ wie in der ›Farbenlehre‹ spielt die Baumetapher ebenso wiederholt eine Rolle wie in Moritz’ ›Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde‹ und in dessen ›Vorrede zum Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹. Sie wäre eine eigene sie kontextua lisierende Studie wert.
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(Konstruktions-) Ordnung eingefügt werden kann und auf diese Weise eins wird mit dem Ganzen. Ähnlich dem Aggregat wird der Begriff Kontignation ebenfalls auf anderen, ›fachfremden‹ Gebieten eingesetzt; dort ist er – auch das ist eine Analogie zur Verwendung des Aggregats – eher negativ konnotiert. Das Haupt unterscheidungsmerkmal zum Aggregat wiederum ist die Geordnetheit, wenn man so will die ›Vorsortiertheit‹ der Kontignation. Sie läuft zu keiner Zeit Gefahr, der Formlosigkeit oder Formbedrohung des Haufens anheimzufallen. Das liegt nicht zuletzt an ihrer Machart. Sie ist immer eine von Menschen aktiv hergestellte Anordnung, während das Aggregat auch ›nur‹ eine Ansammlung, ein Häufchen vom Wind zusammengewehten Sandes sein könnte.
Scharnier und ›Beinhaus‹ Der Begriff Beinhaus eröffnet den Blick auf eine weitere Bedeutungsdimension des Gedichts. Das französische Wort für Beinhaus lautet ›charnier‹ und enthält Anklänge an frz. ›charnière‹ (dt.: Scharnier) und an ›charnel‹, was fleischlich, leiblich bedeutet.148 Im Gedicht werden die Vergänglichkeit und Überreste dieser Leiblichkeit wie gezeigt thematisiert. Heinz Günther Müller schreibt – wenn auch in ganz anderer Intention – sogar von einem »Sprachleib«149 dieses Gedichts. Darüber hinaus aber läßt sich das Scharnier-Sein, das Gelenkhafte, Verbindende, Bewegliche innerhalb des Gedichts an den ›Entrenkte[n] Schulterblätter[n]‹ und den ›Lebensfugen‹150 konkret nachweisen. Übersetzt man das Gedicht als ganzes
148 Der Hinweis auf diese Ähnlichkeit findet sich in einer Fußnote der Übersetzerin Susanne Lüdemann zur deutschen Fassung von Derridas ›Marx’ Gespenster‹. In einem ganz anderen Zu sammenhang – es geht um Marx’ Kritik an Max Stirner – verwendet Derrida den Begriff Schar nier, der im französischen Original mehrdeutig ist. Lüdemann merkt an, das französische Wort ›charnière‹ (Scharnier) enthalte Anklänge an ›charnier‹ (Beinhaus, Leichengrube) und an ›char nel‹ (fleischlich, leiblich). Von hier aus drängt sich der Transfer in umgekehrter Reihenfolge auf das ›Beinhaus-Gedicht‹ geradezu auf: von ›charnier‹ (Beinhaus) zu ›charnière‹ (Scharnier). (Vgl. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Interna tionale. Aus dem Französischen von Susanne Lüdemann. (= stw 1659). Frankfurt am Main 1995. S. 197). 149 Es geht ihm dabei um den Gedanken einer Ganzheit, die in einen solchen »gebannt worden ist.« (Müller: Goethe, Schillers Reliquien, S. 144). 150 Ob es wohl hieße, den intertextuellen Bogen zu überspannen, lauschte man den ›Lebensfugen‹ aus dem ›Beinhaus‹ bis in Celans Gedicht ›Todesfuge‹ (1945) nach, das freilich unter an deren historischen Umständen und Erfahrungen entstanden ist? – Landfester hingegen liest die Fugen als Verletzungsmetaphern, die »zur Wiederherstellung […] nach dem Bauplan der medi zinischen Körpermatrix zu verlangen scheinen.« (Landfester, Ulrike: Unverbundenes. Die Ord nung des Blutes in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹ (1829). In: Hamacher, Bernd und Rüdiger Nutt-Kofoth (Hgg.): Johann Wolfgang Goethe. Romane und theoretische Schriften. Neue Wege
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als ›charnier‹ und nimmt die Anklänge an ›charnière‹ ernst, so scheint eine Inter pretation des ›Beinhauses‹, das sich ja ganz exponiert am Ende der ›Wander jahre‹ befindet, als Scharnier nicht ohne Reiz zu sein. Es könnte gelesen werden als das beweglich bleibende Gelenk, zwischen dem Text der ›Wanderjahre‹ und dem, was der Leser zu leisten hat. Diese Konstellation implizierte dann eine enorme Asymmetrie: auf der einen Seite wären die gesamten ›Wanderjahre‹ ange schlagen und auf der anderen der potentielle Raum, als ein (vielleicht mit Text oder Deutungen) noch zu füllender. Das hieße, die Annahme der konstitutiven Wirkung des Unverknüpften und Offengelassenen für die ›Wanderjahre‹ ist nicht nur innerhalb des Texts haltbar, sondern auch noch über ihn hinaus. Es ließe sich im Anschluß an diesen Gedanken die zugegebenermaßen etwas gewagte jedoch nicht uninteressante These formulieren: Die ›Wanderjahre‹ als ein Ganzes greifen dezidiert über sich selbst hinaus und versuchen sich einzuschreiben in die kon krete Realität des Rezipienten, und das wiederum ist nur möglich ex negativo, über die Fiktion einer immensen Leerstelle. Auf diese Art stellen sie das Bewußt sein über ihre Anschlußfähigkeit aus.151 Dafür kann man sich sogar auf einen kur renten Theorietext berufen: Nahezu so, als hätte er sich an Goethes ›Beinhaus‹ orientiert, verwendet Iser in seiner Leerstellentheorie das semantische Feld von Gelenk und Scharnier: Durch sie [die Leerstellen] ist die im Text ausgesparte Anschließbarkeit seiner Segmente signalisiert. Folglich verkörpern sie die ›Gelenke des Textes‹, denn sie funktionieren als die ›gedachten Scharniere‹ der Darstellungsperspektiven und erweisen sich damit als Bedin gungen der jeweiligen Anschließbarkeit der Textsegmente aneinander.152
Leerstellen sind nun aber über diese Gelenkassoziationen hinaus auch noch ›konstitutiv für das Archiv‹ und bilden so eine gedankliche Brücke zwischen ihm und den ›Wanderjahren‹: Der Mangel und das Lückenhafte sind geradezu konstitutiv für das Archiv […]. Das Archiv ist auf Leerstellen angewiesen, deren imaginäre Supplementierbarkeit Geschichtsbegehren erst triggert. ›Der eine findet ein Vergnügen, Archive durchzuwühlen, der andere hält das vor leer.‹ [Kant]153
der Forschung. Darmstadt 2007. S. 97–126. Hier: S. 123). 151 Renner folgert aus seiner Lektüre der ›Wanderjahre‹, »daß Goethes Roman einem textüber greifenden Zeichenfeld angehört, das den auf literarische Zeugnisse fixierten Begriff von Inter textualität überschreitet.« (Renner: Text, Bild und Gedächtnis, S. 162). Allerdings meint er hier »autobiographische Spur[en]« im Text (Renner: Text, Bild und Gedächtnis, S. 164). 152 Iser: Der Akt des Lesens, S. 284. 153 Ernst: Archiv als Gedächtnisort, S. 187.
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Zur Einordnung der Gedichte Was hat es mit den Gedichten nun also auf sich? Sind sie im Kontext der ›Wander jahre‹ zu lesen als Gedichte von Goethe und damit als solitär aus der Topologie des Texts herausragende Selbstzitate bzw. Vorausverweise?154 Oder sind sie einzuord nen in die Archivfiktion? Auf jeden Fall scheint es sich in diesem Zusammenhang um eine neue Qualität von Poesie zu handeln. In den ›Lehrjahren‹ galt ja noch, daß Wilhelm z. B. Mignons Lieder übersetzt und sie damit nahtlos in den Kontext einge fügt hatte. Jetzt – in der zweiten Fassung der ›Wanderjahre‹ – werden die Gedichte ohne eine solche erzählperspektivische Klarheit präsentiert. Sie sind mit dem vorigen Text nicht verknüpft, wie wenigstens noch ansatzweise die Spruchsamm lungen es sind.155 Daß zwei so bedeutende Gedichte156 des alten Goethe an derart herausgehobenen Stellen stehen, ist, wie dargelegt, inhaltlich nicht aus dem Text heraus motiviert. Sie stehen an ihrem Ort nicht mehr durch die Archivfiktion oder kraft einer Erzählerfigur, sondern kraft des nun unverkennbar heraustretenden Dichters und Urhebers der ›Vollständigen Ausgabe letzter Hand‹: Goethe. Sowohl in Band 23 jener Ausgabe als auch in der 1830 erschienenen Cottaschen ›Octav ausgabe letzter Hand‹ erschien das ›Beinhaus-Gedicht‹ mit dem unmittelbar an es anschließenden, in der Handschrift H178 nicht enthaltenen Vermerk ›(Ist fortzuset zen.)‹, »dem 1830 [sogar] noch die Namensabkürzung »G.« folgte«.157 Wenn ausgerechnet eine per definitionem so geschlossene Textgattung wie die des Gedichts den Schluß nicht nur offen läßt, sondern sich darüber hinaus noch explizit als unfertig und damit fortsetzbar klassifiziert, dann ist das ein Deutungsaspekt, der aufgrund der Seltenheit dieses Falls von Interesse ist.158 Diesen Eindruck verstärkt Lederers Diktum sogar noch contre coeur: Die »letzten
154 Denn im Gegensatz zu den intertextuellen Anspielungen etwa in der ›Verräter-Erzählung‹ handelt es sich hier ja nicht um versteckte und zu ›findende‹ Hinweise oder Zitatfragmente, son dern im Gegenteil um Gedichte, die unreduziert in ihrem vollen Umfang in den Text eingeschaltet werden. 155 Eben nur ansatzweise. Bereits bei Viëtor kann man nachlesen: »›Integrierende Bestandteile‹ des Romans (wie Wundt sie [die Sammlungen] nennt) waren sie ohnehin nicht, sondern noch loser mit dem Ganzen verknüpft als einige der eingeschobenen Novellen.« (Viëtor: Goethes Ge dicht auf Schillers Schädel, S. 223). 156 Viëtor bezeichnet das ›Beinhaus‹ als »das letzte von Goethes großen Naturgedichten. Er selbst hat es nicht mehr den andern, gleichartigen zugeordnet.« (Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 232). 157 Schöne: Schillers Schädel, S. 103. 158 Viëtor stellt etwas verwundert fest: »Aber daß ein Gedicht ›fortzusetzen‹ wäre, ist als ästheti sche Vorstellung unbehaglich, als Ereignis gewiß nicht häufig, wenn auch nicht unbekannt. […] [E]ine große Seltenheit wird er [der Zusatz] stets bleiben.« (Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schädel, S. 220).
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zwei Zeilen: […] müssen unter der Voraussetzung, daß das Gedicht kein Fragment ist, als ein abgeschlossener Satz gelesen werden.«159 – Lederer weist aus, daß er präponiert, das Gedicht sei kein Fragment; wo man aber so etwas als Prämisse setzen muß, ist doch immer auch das Gegenteil impliziert. Das Gedicht kann mit ebensoviel Berechtigung als Fragment gelesen werden, denn es hat weder einen Titel noch hat es einen eindeutig auszumachenden Schluß. Die unfertig klingen den letzten Sätze ebenso wie der Zusatz ›Ist fortzusetzen‹ dürfen als Belege dafür verstanden werden.
Die Gedichte als Antwort auf ein Sprachproblem Die besprochenen Gedichte hängen nicht nur thematisch zusammen, sondern enthalten in der äußersten Konzentration der dichterischen Sprache einen Anspruch – oder besser einen Verweis – auf ein Ganzes. Über ›Eins und Alles‹ äußert Goethe am 28. Oktober 1821 in einem Brief an Riemer: [D]iese Strophen enthalten und manifestieren vielleicht das Abstruseste der modernen Philosophie. Ich werde fast des Glaubens, daß es der Dichtkunst vielleicht allein gelingen könnte, solche Geheimnisse gewissermaßen auszudrücken, die in Prosa gewöhnlich absurd erscheinen, weil sie sich nur in Widersprüchen ausdrücken lassen, welche dem Menschen verstand nicht einwollen.160
Mit ›gewissermaßen‹ darf man in diesem Zusammenhang wohl ›bildhaft‹ oder ›uneigentlich‹ assoziieren. So gesehen wären die ›Wanderjahre‹ der Versuch, das in den Gedichten Kondensierte in Prosa auszudrücken. ›Vermächtnis‹ und ›Im ernsten Beinhaus war’s …‹ könnten dann eine Art Ergänzung oder gar Steigerung der ›Wanderjahre‹ sein. Das ›Ganze‹ läßt sich aber eben nicht abbilden oder einfach erzählen. Es ist zu verstehen als Prozeß einer sich steigernden Reihe sich aufeinander beziehender Texte. Zu haben ist es ausschließlich im Modus des Verweisens, nie in einer direkten sprachlichen Entsprechung. Wie Klaus-Peter Philippi im Kontext von Goethes spätem Gedicht ›Dornburg 1828‹ festgestellt hat, gehöre es zu Goethes Selbstverständnis als Dichter, die Wahrheit »nur in der Sprache des Verweisens, der Beziehungsstiftung, der vernetzenden, aber nicht definierenden und festlegenden Symbolik aussprechen zu können.«161
159 Lederer, Max: Noch einmal Schillers Reliquien. In: MLN 62 (1947). S. 7–12. Hier: S. 10. Her vorhebungen: M. B. 160 Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 18. 161 Philippi, Klaus-Peter: Natur: Gedichtetes Leben. Zu Goethes Gedicht Dornburg September 1828. In: Ironische Propheten. Hg.: Markus Heilmann. Tübingen 2001. S. 187–217. Hier: S. 206. Kursivierung im Original.
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2.7 Fazit Archivalisches Schreiben Die Einschaltung der Gedichte sowie die Andeutungen zur Herkunft der Erzäh lungen und der ihrem Erscheinen zugrundeliegenden Publikationspraxis machen auch deutlich, daß am Text die Produktionsbedingungen und Eckermann als eine Art Co-Autor mitgewirkt haben. Dies legt die abstrakte aber theoretisch interes sante These nahe, die ›Wanderjahre‹ seien als ästhetisches Produkt nicht nur ein ›Roman von Goethe‹, wie es auf dem Titelblatt der ersten Fassung von 1821 heißt und wie im 21. Band der ›Vollständigen Ausgabe letzter Hand‹ 1829 durch den Titel des Ganzen ›Goethes Werke‹ suggeriert wird. Sie sind vielmehr erkennbar ein Produkt ihrer Zeit, der Arbeitsbedingungen, des Zufalls und mehrerer ›Redak teure‹ – auch wenn die Texte nur einen ›Verfasser‹ haben: Goethe. Das Konzept allmächtiger Autorschaft jedenfalls erweist sich als beschädigt oder nicht weiter dominant; Goethe schreibt am 2. September 1829 an Boisserée, er hätte sich noch länger mit dem Text beschäftigen können, »allein man muß zu endigen wissen; ja diesmal hat mich der Setzer genötigt abzuschließen; vielleicht zum Vorteil des Ganzen«.162 Diese Äußerung ist ein offen ausgesprochener Beleg dafür, daß der Setzer den Abschluß des Texts mit beeinflußt hat und daß dessen Drängen beinahe dankbar akzeptiert wurde. Von einem Geniegedanken oder einem ganz heitlichen ›Werk‹ mit dem Impetus ›hier steh’ ich und kann nicht anders‹ kann im Fall der ›Wanderjahre‹ nicht die Rede sein. Auf ähnliche Weise wurde auch die äußere Form des Romans beeinflußt. Aus der Textgeschichte, welche den Zeitgenossen verborgen war, läßt sich schließen, daß die Aufteilung in drei Bände erst spät (am 16. Februar 1828) beschlossen wird; ursprünglich hat Goethe den Roman zweibändig konzipiert.163 Da aber die Bogenzahl für die ›Ausgabe letzter Hand‹ vermindert werden mußte, wurde die Dreiteilung des Romans notwendig, welche offensichtlich nicht künstlerischen, sondern primär drucktechnischen Erfordernissen entsprungen ist. Wiederholt werden Abschnitte umgestellt und die beiden Aphorismensammlungen einge schaltet.164 Doch damit nicht genug. Weil das Manuskript den Drucker zu spät erreichte, wurde ›Aus Makariens Archiv‹ nicht wie vorgesehen an das Ende des ersten, sondern mit Goethes Zustimmung erst an das dritte Buch angeschlos
162 Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 340. Hervorhebung: M. B. Zum Drucker als »eigenwillige – und unzuverlässige – Instanz« in Texten mit Herausgeberfiktion vgl. Wirth: Die Geburt des Autors, S. 17 f. 163 Vgl. FA I 10, S. 786 ff. Vgl. auch Düntzer: »[D]as Vorhandene schien so umfangreich, daß die Wanderjahre jetzt statt in zwei in drei Bänden erscheinen sollten.« (Wilhelm Meister’s [sic] Wanderjahre. Hg.: Düntzer. Berlin 1870, S. XXI. Sperrung im Original). 164 Vgl. FA I 10, S. 1144 ff. und S. 1247 ff.
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sen. Die Gedichte ›Vermächtnis‹ und ›Im ernsten Beinhaus war’s …‹ erreichten den Drucker ebenso verspätet wie die gesamte Lieferung vom 21. Februar 1829. Schließlich hat zu alledem auch noch Eckermann sein Scherflein beigetragen, indem er zwischen Dezember 1828 und März 1829 »aus ungeordneten Paketen von Notizen«165 die beiden Sammlungen zusammengestellt hat. Die ›Wanderjahre‹ sind durchsetzt von Stellen, bei denen sich nicht eindeutig sagen läßt, wer (Goethe, Eckermann, Cotta, der Drucker?) für ihre merkwürdige Form (z. B. für die Auslassungen, Einschübe, abrupten Übergänge) zuständig ist. Insofern sind sie in der Tat eine kollektive Arbeit.
165 FA I 10, S. 996 f.
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XIII. Archivroman Die Studie hat das Archiv im Text konsequent verfolgt und macht es nun für das Textverständnis produktiv. Das Archiv ist nachweisbar in den unterschiedlichs ten Ausprägungen (z. B. in Form von Sammlungen, Aufzählungen, Reihen, Listen und Bibliotheken). Zudem ist es auch sprachlich von Bedeutung. Man findet in den ›Wanderjahren‹ stellenweise eine regelrechte Archivterminologie am Werk. Der Begriff und seine Bedeutung werden nicht einfach klischiert, sondern vari iert, modifiziert und nicht selten den zeitgenössischen Begriffskonventionen entgegenlaufend verwendet, auch das hat die Arbeit am Text gezeigt. Zur Veran schaulichung werden die Textbefunde zum Archiv nun exemplarisch im Über blick gegeben. An diese Rekapitulation schließt sich eine Auseinandersetzung mit dem ›Enzyklopädischen Erzählen‹ an. Schließlich wird das Verständnis von ›Archivroman‹ entwickelt, das sich aus den ›Wanderjahren‹ kondensieren läßt.
1. Rekapitulation der Textbefunde Die Textbefunde betreffen sowohl die inhaltliche als auch die strukturelle Ebene der ›Wanderjahre‹. Zunächst geht es um die inhaltliche: Das erste konkrete Text phänomen ist ein ganz basales. Das Kompositum Archivroman läßt sich in die Komponenten Archiv und Roman zerlegen. Die ›Wanderjahre‹ registrieren beides wörtlich. Sie sagen ›Archiv‹ obwohl das für zeitgenössische Texte, zumal mit ästhetischem Anspruch, nicht gang und gäbe war, da der Begriff eine eindeutige Schlagseite hin zum Offiziösen hatte.1 Gleichzeitig bezeichnet der Text sich selbst als einen Roman. Das zweite Textphänomen läßt sich umschreiben als eines des Interesses an Vielfalt. Der Text zeigt sich fasziniert von Pluralität, oder, in seiner eigenen Ter minologie ausgedrückt, ›Mannigfaltigkeit‹.2 Er demonstriert seine Kompetenz auf diesem Gebiet variantenreich. Man könnte ganze Listen mit Textbelegen anfüh ren. Dabei dient ihm die Idee des Archivs als ästhetisches Bewältigungsinstru ment bzw. als Bewältigungsform einer schieren Masse, sei es nun der Empirie, oder sei es der Topoi, die mit herkömmlichen narratologischen Mitteln weder erfaßbar, geschweige denn darstellbar wäre. Der Rekurs aufs Archiv ist zugleich
1 Vgl. Kap. III.1. 2 Vgl. Kap. VI.
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ein Versuch der Generierung und Aufrechterhaltung der Komplexität des textuell Verhandelten, während er komplementär dazu einen Ordnungsgestus figuriert. Textphänomen drei besteht im Liebäugeln des Texts mit Ordnungsmodi, die auf Disparatheiten reagieren. Das heißt, er experimentiert mit ihnen, facettiert und durchdenkt sie. In den ›Wanderjahren‹ ließen sich Ordnungsphantasien bzw. Ordnungsideen ausmachen: z. B. das Aggregat, das Magazin, das Queck silber, die Kontignation oder eben auch das Archiv. Diese sind unterschiedlich tief durchdacht. Teils werden sie nur angerissen oder registriert, teils haben sie Bedeutung bis in die Anlage des Texts hinein. Ersteres gilt z. B. für das von vorlie gender Studie als Erzählte Archive deklarierte Phänomen.3 Man könnte hier auch von Benennungen von Archiven sprechen. Darunter fallen einerseits Aufbewah rungsorte wie die Galerie, die Sammlung, der Saal, die Abteilung, die Kammer, das Haus und das Lager. Andererseits Aufbewahrungsmodi wie der Katalog, das Verzeichnis, das Kompendium, das Jahrbuch, das Tagebuch, der Bericht, das Briefbündel, bis hin zur Speisekarte. Darüber hinaus stößt man auf Aufbewah rungsarten wie den Vorrat, das Magazin oder den Misthaufen, von dem es heißt »sorgfältig war er gesammelt und gewissermaßen zierlich aufbewahrt« (295). Weiter findet man Stellen, an denen der Umgang mit Archiven und mit Archivierung thematisiert wird.4 Dort geht es um Entstehung und Nutzungsformen von Archiven sowie um Zugriffsarten auf dieselben (z. B.: St. Joseph II, der Einsiedler im ›Verräter‹, der alte Pfandleiher, der Oheim oder Felix und Montan mit ihrer Gesteinssammlung). Außerdem kann man das Archiv, mit den Worten Schillers als ›ordentlich eine mitspielende Person‹ verstehen.5 D. h. auch die Figuren sind bis hinein in ihre Namen kontaminiert vom Archiv. So läßt sich derjenige der Archivarin Angela anagrammatisch leicht in den Archivterminus ›Anlage‹ verwandeln, welchen man laut Wörterbuch als ›planmäßige Ordnung‹ verstehen darf. In diese Tendenz zur Anthropomorphisierung von Teilen des Archivs stimmt auch Friedrich mit ein: »Und ich bin, wo’s not tut, gleich eine ganze Kanzlei […].« (364) Der Text gesteht den Romanfiguren das Sensorium und die Terminologie zu, einen Meta diskurs über das Archiv zu eröffnen – den über die Rolle, die es zu spielen vermag. Die Sammlung wird auf diese Weise ganz konkret zur ›mitspielenden Person‹ auf gewertet und, mehr noch, ›ordentlich‹ in die Erzählung integriert. Hier ist der Übergang von einem inhaltlich zu einem strukturell orientierten Archivgedanken anzusetzen, denn diese Textbefunde zur Rolle der Sammlung
3 Vgl. Kap. X.5. 4 Vgl. Kap. XI. 5 Vgl. Kap. IX.1.
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Rekapitulation der Textbefunde
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und des Archivs ließen sich korrelieren mit den Erkenntnissen aus einer von Neumann erarbeiteten Problematisierung von Autorschaftskonzepten. Dessen Überlegungen von einem »Medium[ ] als Helden des Geschehens«6 weiterfüh rend, sieht meine Analyse das Archiv als das die ›Wanderjahre‹ dominierende Konstrukt an; sie deklariert es also auch als tonangebend für die Textorgani sation. Es operiert im Hintergrund, wird nicht sofort eingangs des Texts erwähnt, bildet stumm die Vorlage für die Textstruktur und tritt nur sporadisch deutlich hervor. Als ›Held‹ des Texts ist es nicht angewiesen auf einen allwissenden Erzäh ler. Es ist jedoch formal nachweisbar als das, was vorliegende Arbeit Archivalisches Erzählen und Archivalisches Schreiben nennt.7 Das Archivalische Erzählen ist inszeniert, ist Textstrategie. Der Text ist sich dessen bewußt und teilt es explizit mit. Er nominiert sogar eine dafür verantwortliche Figur, den Redaktor. Es läßt sich über die Lektüre von Textstellen nachweisen, an denen Erzählen im Kontext des Archivs problematisiert wird. Dies sind solche des Auslassens, des Zusammenfassens, des raffenden Erzählens, des Auswählens, der Unwissenheit des Redaktors, durch ihn eingeleitete Kapitelanfänge sowie Hinweise, die sich auf die technische Seite von Archivierung beziehen. Beim Archivalischen Schreiben hingegen macht der Text ernst mit dem Archiv. Er lehnt sich real daran an. Es wurden Phänomene herausgearbeitet, derer die Figuren sich nicht bewußt sind. Diese Beobachtung ist deshalb von Bedeutung, weil sie eindeutig über Neuhaus’ Archivfiktion hinausgeht. Letztere setzte noch voraus, daß der Redaktor die Anordnung übernehme. Daher Archivfiktion. Nun ist es aber keine Fiktion auf der Figurenebene mehr, sondern eine Mimikry des Texts an die Struktur eines Archivs. Das Archivalische Schreiben manifestiert sich z. B. in Lücken (Leerstellen, fehlende Überleitungen), Unentscheidbarkeiten in der Erzählperspektive und narrativer Pathologie. Ebenso umfaßt es materia liter in die Textgenese hineinspielende Faktoren wie etwa das Zitieren ohne zu markieren oder realiter ›eins zu eins‹ also nicht in Anspielungen Archiviertes. Nach dieser Zusammenfassung ist eine Abgrenzung des sich abzeichnenden Verständnisses eines Archivromans von Christoph Brechts Enzyklopädischem Erzählen geboten.
6 Neumann: Mannigfache Wege gehen die Menschen, S. 82. 7 Vgl. Kap. XII.
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2. Enzyklopädisches Erzählen Hier soll einem möglichen Einwand gegen den Archivroman schon vorab begeg net werden. Man könnte vorbringen, das von Christoph Brecht herausgearbeitete Konzept des Enzyklopädischen Erzählens trage den Besonderheiten der ›Wan derjahre‹ bereits Rechnung.8 Daß dem nicht so ist, zeigt ein Blick auf jene Texte Brechts, die sich für den Einfluß der Enzyklopädie auf narratologische Verfahren interessieren. Aus ihnen läßt sich herausdestillieren, wie das Enzyklopädische Erzählen zu verstehen und wie der Archivroman davon abzugrenzen ist. Zunächst einmal ist zu klären, was Brecht als ein enzyklopädisches Verfahren bezeichnet. Man kann bei ihm nachlesen, »jeder Lexemgebrauch [setze] einen Überschuß an enzyklopädischem Weltwissen« frei. Daher sei »jeweils nach Maßgabe des Textes« zu entscheiden, was davon brauchbar und was auszuschlie ßen sei. Es gehe dabei um einen »semiotischen Prozeß«,9 in den ein Textverfah ren, vor allem ein literarisches, eingreife. Dies geschehe, freilich unterschiedlich stark ausgeprägt, grundsätzlich in jedem Text. Um darzulegen, was er unter einer literarischen Enzyklopädie versteht, behauptet Brecht, Flauberts Roman ›Bouvard et Pécuchet‹ sei ein besonderer Text, der nicht einfach mit Erzählungen gleichge setzt werden dürfe, die nur wegen ihrer Ausmaße als enzyklopädisch angesehen werden. Eine solche sich nicht auf die Textstruktur berufende Kategorisierung lehnt er als unterkomplex ab. Brecht geht es um die Frage, was und wie Texte wie ›Bouvard et Pécuchet‹, die formal und inhaltlich aus Wiederholungen und Zitaten bestehen, repräsentieren. Er möchte sie deshalb »aus einer spezifischen Beziehung zu den Schriften der eigentlichen Enzyklopädisten […] begreifen.«10 Seine Ausführungen zusammenfassend, könnte man das Enzyklopädische Erzählen als ein Schöpfen aus Lexika verstehen. Die Texte sind so angelegt, daß
8 Wollte das Enzyklopädische Erzählen die ›Wanderjahre‹ erfassen, müßte es wegen der großen Zeitdifferenz wohl modifiziert werden. Vgl. aber einen kryptischen Tagebucheintrag Goethes vom 19. April 1808 (einige Tage zuvor, am 11. April, notiert er seine Arbeit an den ›Wahlverwandt schaften‹ und am ›Mann von funfzig Jahren‹): »Abends Hofrat Meyer. Museum der AltertumsWissenschaft 2. Heft. Über die Memoire enzyklopädische Romane [sic] die Rezension der Hei delberger Annalen usw.« (Goethe: Gesamtausgabe der Werke und Schriften in zweiundzwanzig Bänden. Zweite Abteilung Schriften. Elfter Band. Tagebücher Bd. I. 1770–1810. Hg.: Baumann, Gerhart. Stuttgart 1956. S. 809. Hervorhebungen: M. B.). Es läßt sich leider nicht rekonstruieren, was Goethe mit den ›enzyklopädische[n] Romane[n]‹ gemeint haben könnte. Weder in einem Kommentarteil der einschlägigen Goethe-Werksausgaben noch in einem der in diesem Zitat ge nannten Texte werden sie erwähnt. Die Frankfurter Ausgabe verzeichnet diese Äußerung nicht. 9 Alle drei Zitate: Brecht: Enzyklopädie, S. 298. 10 Brecht: Enzyklopädie, S. 304.
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die Lektüre selbst wiederum auf die Enzyklopädie angewiesen ist, um sie zu ver stehen. Man kann zuspitzen: sowohl der Autor als auch der Leser haben ständig die Enzyklopädie im Rücken. Sie dient als generatives Vorbild und als Deutungs muster für die Verzweigungen der Texte und ihre Anreicherung mit semiotischen Potentialen. Für das Erzählen in ›Bouvard et Pécuchet‹ stellt Brecht fest, es folge dem Prinzip enzyklopädischer Reihen: Seine wesentlichen Charakteristika bestehen in der Reduktion der Narration auf ein dis kursives Gerüst, das aufgrund der Kontingenz der gewählten Anordnung der einzelnen Episoden zwar im ganzen einem durchaus erkennbaren Schematismus gehorcht, in dem jedoch die Sukzession des Erzählens einem teleologisch nicht ableitbaren Wechsel der Gegenstände [!] folgt. Da Bouvard und Pécuchet ohnehin nicht aus ihren Fehlern lernen, ist es, aus enzyklopädischer Perspektive, eigentlich gleichgültig, in welcher Reihenfolge sie Geschichte, Archäologie, Gartenbau etc. studieren. Der Roman, der von ihnen erzählt, darf ruhig wie ein Nachschlagewerk gelesen werden.11
Es ist festzuhalten, daß dieses ›diskursive Gerüst‹ im Text selbst aber offenbar unreflektiert bleibt. In ›Bouvard et Pécuchet‹ stößt man auf keine Autoreflexion etwa des Erzählers z. B. in Gestalt der Formulierung eines Darstellungsproblems. Flauberts Roman antizipiere jedoch den Text der klassischen Moderne nicht, so Brecht.12 Er antworte vielmehr auf eine Flut von Fragen, die niemand gestellt habe (Was ist Chemie, Medizin, Landwirtschaft, Geologie, Erziehung, Politik?), könne darauf jedoch keine neuen Antworten geben, sondern nur solche referie ren, die in anderen Texten stehen. Resümierend kann man sagen, daß es sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede zwischen den beiden narratologischen Mustern ›Enzyklopädisches Erzählen‹ und ›Archivroman‹ gibt. Zuerst zu den Übereinstimmungen. Die ›Wanderjahre‹ sind ebensowenig modern, wie ›Bouvard et Pécuchet‹ nach Brecht es sind. Beide Texte betreiben eine Relativierung, ein Nebeneinanderstehen der Themen und betonen deren jeweiligen Eigenwert. Weiterhin besteht die Möglichkeit der Reorganisation des
11 Brecht, Christoph: Mädchen für alles. Enzyklopädisches Erzählen in Carl Sternheims Chro nik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn. In: Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne. DFG-Symposium 1997. Stuttgart 1999. (Germanistische Symposien-Berichtsbände. 20), S. 268–283. Hier: S. 271 f. 12 »Die Qualität des Buches liegt nicht darin, daß hier, wie ein verbreitetes Mißverständnis meint, der Text der klassischen Moderne bereits antizipiert wäre, sondern in der durch ein litera risches Arrangement sui generis ermöglichten Analyse zeitgenössisch ›herrschender‹ Diskurse.« (Brecht: «Jamais l’histoire ne sera fixée.», S. 433. Kursivierungen im Original).
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Stoffs, ohne den Zusammenhang zu gefährden und beide Textformen sind nicht gezwungenermaßen an eine chronologische Abfolge gebunden.13 Die Unterschiede jedoch scheinen zu überwiegen. So konzentriert sich Brecht vor allem auf ›Bouvard et Pécuchet‹, einen verglichen mit den ›Wanderjahren‹ recht jungen Text.14 Möchte man Brechts Erörterungen nachvollziehen, so stellt sich bei erneuter Lektüre seines Referenztexts für das Enzyklopädische Erzählen heraus, daß eine Romanenzyklopädie offensichtlich kein Herausgeberroman zu sein braucht. Brecht betont, ›Bouvard et Pécuchet‹ sei eine »literarische Universalenzy klopädie«, die ohne einen starken Erzähler die »Verschleifung der erlebten Rede zur Zitatmontage«15 praktiziere. Man darf man dieses Diktum dahingehend prä zisieren, daß dort trotzdem ein allwissender Erzähler am Werk ist, eine recht kon ventionelle Erzählinstanz also. Dieser Erzähler hat das Material fest im Griff, es scheint als habe er eine ganze Enzyklopädie intus. Nur aus einer solchen Haltung heraus ist es ihm möglich, die Figuren Bouvard und Pécuchet zu ironisieren und zu berichtigen. Insofern ist er, anders als Brecht es sieht, doch ein starker, wer tender Erzähler. Eine weitere Differenz besteht darin, daß es ›Bouvard et Pécuchet‹ auf der Figurenebene mehr um Wissen geht, denn um Anordnung.16 Anders formuliert: Der Text ›Bouvard et Pécuchet‹ ist interessiert am zeitgenössischen Wissensbe stand, vielleicht auch noch an der genüßlichen Verballhornung einer dümmli chen, da unterkomplexen Rezeption. Die ›Wanderjahre‹ hingegen sind mehr von verschiedenartigen Ordnungsprinzipien und (Un-)Ordnungsmöglichkeiten angetan. Der Inhalt ist ihnen, zugespitzt gesagt, zweitrangig. Sie weisen daher noch eine Ebene mehr auf als das Enzyklopädische Erzählen; sie benennen Archive und Archivierungstechniken, arbeiten mit Unverknüpftem und Mimikry. Hier ist sich der Text seiner Anlage in der Nähe des Archivs bewußt, die Figuren nicht. Der Redaktor in den ›Wanderjahren‹ glaubt durchweg, einen gelingenden Roman zu schreiben. Bouvard und Pécuchet hingegen sind sich ihrer Abschreibe rei und ihres Scheiterns bewußt.17
13 Heinz vermerkt, man könne die ›Wanderjahre‹ »zur Not auch, mit nur geringen Einschränkun gen des Verständnisses, von hinten nach vorn lesen.« (Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 528). 14 ›Bouvard et Pécuchet‹ ist entstanden 1872–80 und erschien postum 1881, also 50–60 Jahre nach den ›Wanderjahren‹. Die anderen von Brecht zur Veranschaulichung herangezogenen Texte sind noch weitaus jünger. 15 Beide Zitate: Brecht: Mädchen für alles, S. 280. 16 Vgl. Brecht: «Jamais l’histoire ne sera fixée.», S. 417 ff. 17 Sie versuchen zwar ebenfalls ausdrücklich, einen Roman zu verfassen, und thematisieren zentrale Topoi wie ›verbinden‹ und ›verknüpfen‹ (vgl. Flaubert: Bouvard und Pécuchet, S. 165 f.),
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Das Hauptunterscheidungsmerkmal aber ist wohl folgendes: ›Bouvard et Pécuchet‹ ist ohne Repräsentationsproblem, ohne eine explizite Sprachreflexion auf der Metaebene. Weder die Figuren noch der Erzähler oder eine autorähnliche Instanz äußern sich dazu. Zu keiner Zeit ringt jemand mit dem Material bzw. um eine ihm adäquate Anlage des Texts.18 Der Autor (oder der Text? – das ist nur schwer zu entscheiden) scheint eine Organisationsform für seine Daten gefun den zu haben und jongliert souverän mit dem Material. Das entspricht genau Friedrich Balkes Diktum vom noch ungebrochenen »Vertrauen [der Enzyklopä disten] des klassischen Zeitalters in die Bezeichnungskapazität der Sprache«.19 Vor diesem Hintergrund kann der Text sich ganz auf das von ihm verhandelte Wissen konzentrieren, denn die Anordnung scheint qua Enzyklopädie gesichert, nach ihr muß nicht mehr gesucht werden. Verschiedene Anordnungsmodi und das Experimentieren mit ihnen sind kein den Text beschäftigender Topos. Die Frage nach dem passenden Organisationskonzept und seiner adäqua ten formalen Umsetzung stellen die ›Wanderjahre‹ hingegen in Permanenz. Sie geben eine Antwort darauf im terminologischen, thematischen und ästhetischen Rekurs aufs Archiv.20 Die Form stellen sie ständig zur Disposition. Damit werden sie auch uneindeutiger als ›Bouvard et Pécuchet‹. Stellte man nun Enzyklopädie und Archiv einander gegenüber, so könnte man behaupten, letzteres sei ambi valenter, da es oszilliere zwischen offiziösem und pragmatischem Archiv; es sei der Enzyklopädie vielleicht vorgängig, ohne Querverweise und nicht so sehr auf Vollständigkeit aus – was die Enzyklopädie ja per definitionem ist.
verfolgen den Plan aber nach einigen Anstrengungen nicht mehr weiter. Außerdem ist das Roma neverfassen nur eine unter vielen nacheinander ausprobierten Aktivitäten. 18 Einziges Gegenbeispiel: »Ihre Stoffülle [die der regionalen Geschichte] ist so verwirrend, daß man nur die Höhepunkte herausgreifen darf.« Und: »Dabei lag es Pécuchet fern, ihn [seinen Schüler Victoir] in scharfsinnige Betrachtungen zu stürzen, die Masse der Fakten allein ist schon ein wahres Labyrinth.« (beide Zitate: Flaubert: Bouvard und Pécuchet, S. 320). Pécuchet reagiert auf diese Feststellung jedoch ohne den Hauch eines methodologischen Zweifels und greift ihm einleuchtende ›Höhepunkte‹ oder »Namensverzeichnisse« (ebda.) nach Belieben heraus. 19 Er beruft sich dabei auf Diderots Artikel ›Enzyklopädie‹ in dessen und D’Alemberts ›Ency clopédie‹ (Balke, Friedrich: Die Enzyklopädie als Archiv des Wissens. Von Diderot zu Hegel. In: Theile, Gert (Hg.): Das Archiv der Goethezeit. Ordnung – Macht – Matrix. München 2001. S. 45–62. Hier: S. 48). 20 Diese Verfahrensweise kann man lesen als die spezifische Antwort der ›Wanderjahre‹ auf eine von Blanckenburg gestellte Frage: »[W]enn ein Roman sehr abgesonderte, von einander sehr verschiedene und mancherley Begebenheiten enthalten kann: so fragt es sich, wie, und auf welche Art wird der Romanendichter unter diesen Begebenheiten die innre anschauende Verbindung, die genaue Beziehung der einen auf die andre erhalten können, so daß ein Ganzes daraus werde, wie es vorher charakterisiert worden ist? –« (Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 317).
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Archivroman
›Bouvard et Pécuchet‹ ist wohl auch deshalb ein enzyklopädischer Roman, weil die Übergänge zwischen den disparaten Themen nachweislich eben doch sehr wohl motiviert werden.21 Das deutet auf die in einer Enzyklopädie üblichen Querverweise hin.22 Diese konzeptionelle Diskrepanz läßt sich an der jeweiligen Titelei der Bezug stexte illustrieren. Der Titel ›Bouvard und Pécuchet‹ weiß genau, was er will. Er betreibt eine feste Setzung: zwei individuelle Namen, eine Summe. Im Gegensatz hierzu steht der unentschiedener klingende Doppeltitel ›Wilhelm Meisters Wan derjahre oder Die Entsagenden‹.23 Das ›oder‹ läßt die Entscheidung im Schweben. Dazu gesellt sich die Ambivalenz des Namens ›Meister‹, der als ›wirklicher‹ Nach name Wilhelms oder aber als Bezeichnung eines Absolventen einer (beruflichen) Meisterschule oder einer Geheimloge gedeutet werden kann. Um diese Überlegungen abzuschließen, sei noch ein Hinweis Brechts berück sichtigt, wonach man ausgehen könne »von prinzipiell differierenden Lösungen im Rahmen einer historisch je verschiedenen diskursiven Tradition.«24 Hieran läßt sich anschließen. Historisch-konkret bot sich um 1829 der Archivroman an und eben nicht das Enzyklopädische Erzählen.25
21 »Die Tomaten und die grünen Erbsen waren verdorben«, heißt es nach den mißlungenen Kon servierungsversuchen. Die Folgerung wird sofort mitgereicht: »Das mußte von den Verschlüssen kommen. Nun beschäftigte sie das Problem der Verschlüsse.« (S. 65) Es lassen sich auch Beispie le für weitgespannte Verknüpfungen finden. Dies gilt etwa für Pécuchets Kokosnuß, die zuerst im vierten Kapitel auftaucht; erst das zehnte spielt dann wieder darauf an (vgl. Flaubert: Bouvard und Pécuchet, S. 114 & S. 331). 22 Vgl. dazu Neumann: Der Grundgedanke der Enzyklopädie sei »eine systematische Ver knüpfung der Wissenschaften […]. In dem so zu konstruierenden System des Wissens spielen die ›Querverweise‹ eine entscheidende Rolle.« (Neumann: Naturwissenschaft und Geschichte, S. 475). 23 Übrigens steckt sogar im Untertitel ›Die Entsagenden‹ ein Ordnungsgedanke. Wenn man so weit gehen möchte, ›entsagen‹ mit ›Mäßigung‹ zusammenzulesen, so gerät man auf das seman tische Feld der ›temperentia‹, deren ursprünglicher Wortsinn, so Helmut Bachmaier in den An merkungen zu Stifters ›Bunte Steine‹, »ordnende Verständigkeit« sei (Bachmaier, Helmut: An merkungen. In: Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Erzählungen. (= RUB 4195). Stuttgart 2010. S. 339). »Aus verschiedenartigen Teilen ein einiges geordnetes Ganzes fügen – das ist der erste und ei gentliche Sinn von temperare; und erst auf dem Untergrunde dieser umfassenden Bedeutung kann temperare – negativ – ›zügeln‹ und ›Einhalttun‹ besagen, wie übrigens anderseits auch positiv – ›schonen‹ und ›verschonen‹«. (Piper, Josef: Das Viergespann. Klugheit – Gerechtigkeit – Tapferkeit – Maß. München 1964. S. 199–283. Hier: S. 203 f. Zit. n. Bachmaier: Anmerkungen, S. 339. Kursivierungen im Original). 24 Brecht: Enzyklopädie, S. 305. 25 Interessant ist auch, daß die Texte, an denen Brecht das Enzyklopädische Erzählen veran schaulicht, allesamt nicht aus der ›Hoch-Zeit‹ des Enzyklopädismus, aus dem 18. Jahrhundert,
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Enzyklopädisches Erzählen
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Beim Archivroman geht es auch um das Wissen vom Archivieren, ums AnsLicht-Bringen dieses Wissens. Vor allem aber ist das Archiv historisch kontingent. Das Archivverständnis, das aus dem Kontext der ›Wanderjahre‹ herausgearbei tet wurde, muß für einen früher oder später entstandenen Text nicht unbedingt gelten. Die Komponente Archiv im Kompositum Archivroman ist immer konkret anhand von Beispielen zu erklären und auseinanderzulegen. Abstrahiert man etwas, so stellt sich das Verhältnis von Enzyklopädischem Erzählen und Archiv roman folgendermaßen dar. Das Enzyklopädische Erzählen orientiert sich explizit an einem Ordnungsmodus, das ist die Enzyklopädie als dominierendes Ordnungsmedium des sogenannten ›enzyklopädischen Jahrhunderts‹, all den verschiedenen Enzyklopädien aus dieser ›Epoche‹ voran dient Diderots und d’Alemberts ›Encyclopédie‹ dem Enzyklopädischen Erzählen als generatives Vorbild. Das Archiv, soviel machte die Untersuchung deutlich, erweist sich im Ver gleich hierzu als das variantenreichere Konzept und damit auch – je nach his torischem Kontext immer wieder von Neuem – als aushandlungsbedürftig. Dem Aggregat kommt dabei aber nicht die Rolle einer provisorischen Vorstufe zu, die man in teleologischer Hinsicht überwinden und danach zugunsten des Archivs als obsolet betrachten und vergessen dürfte. Vielmehr bleibt es, auch wenn das Archiv die Ordnungshoheit im Text zu behaupten scheint, nach wie vor in glei chem Maße virulent wie verdächtig. Virulent, da es die Disparatheit der Elemente und ihr unverknüpftes Nebeneinanderstehen verbürgt; verdächtig, da es gleich zeitig immer das potentielle Umschlagen in eine nicht mehr textuell handhab bare Unordnung in sich trägt. Der Furcht vor dem amorphen Haufen begegnet der Archivroman, indem er beide, Aggregat und Archiv, nebeneinander existieren und im Gespann agieren läßt. Er verlegt sich auf ein Schwanken zwischen mehreren Ordnungsideen. Der Archivroman begibt sich in den Bannkreis des ihn brennend interessierenden Desiderats, eine immer auszuufern drohende Pluralität ästhetisch durch das Aggregat zu verwirklichen, sichert sich jedoch ab im Rekurs auf die durch das Archiv gewährleistete Minimalordnung. Hier ist das Archiv gleichzeitig mehr und weniger als die Enzyklopädie. Mehr, denn in seiner zu diesem historischen Zeitpunkt gültigen Definition schwingt schon das Wissen über Herstellung, Macht- und Zugriffsfragen, also über seine Grundlagen mit. Und es ist graduell weniger, da es nicht unbedingt geordnet zu sein braucht. Insofern steht es, vom materialen Gesichtspunkt her betrachtet, der
stammen. Es scheint, als griffen sie erst auf das Muster der Enzyklopädie als narratives Gerüst zurück, nachdem diese selber historisch geworden ist.
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Archivroman
Sammlung näher als die Enzyklopädie. In diesem Sinn verwendet Goethe es und so spiegeln es die ›Wanderjahre‹ wider. Bei all seiner Devianz vom locus classicus des Archivs ist Goethes Archivverständnis eben auch Teil des historischen Archivdiskurses aus der Zeit um 1820, 1830. Im Vergleich dazu hält sich ›Bouvard et Pécuchet‹ fünfzig Jahre später erstaunlich brav an das vergleichsweise starre Konzept der Enzyklopädie.
3. Überlegungen zu einer Definition des Archivromans Nach der Verortung des Enzyklopädischen Erzählens wird nun die Antwort auf die Frage gegeben, inwiefern sich die ›Wanderjahre‹ als Archivroman verstehen lassen bzw. aus welchen Bausteinen ein Archivroman besteht. Um es erneut und gleich vorweg zu sagen: Letztgültig ›definieren‹ kann man den Terminus nicht; das liegt in seiner Logik, denn die erste Silbe ist ja diskussionsbedürftig und variabel sowie vom historischen Kontext abhängig. Liest man jedoch die inhaltlichen und forma len Besonderheiten der ›Wanderjahre‹ als Konstituenten des ›Konzepts Archivro man‹, so lassen sich sieben Aspekte konturieren, welche den Begriff ausmachen: 1. Komponente: der Text bezeichnet sich als einen Roman26 und kennt das Wort Archiv. 2. Komponente: Die von Neuhaus herausgearbeitete Archivfiktion läßt sich feststellen, d. h.: a. Der vorliegende Text wird dargestellt als eine Überarbeitung von seman tischem Material; b. dieser Prozeß der Textgenese wird über eine Figur Teil der Romanhand lung; c. der Roman inszeniert sich ›bis zur Kenntlichkeit‹ als Selektion, Kombi nation und Transformation ihm vorausliegender Texte.27 3. Komponente: Der Text zeigt sich fasziniert von Vielfältigkeit oder Pluralität. Er drückt dies aus in Reihen, Aufzählungen, Listen und Sammlungen unter schiedlichster Art. Solche tauchen sowohl als Bezeichnungen auf als auch performativ (d. h. der Text sammelt, listet, reiht, zählt auf). Einschränkend ist zu vermerken: Diese Aufzählungen sind, verglichen
26 Oder er reflektiert zumindest explizit zeitgenössiches Wissen über die Verfertigung von Ro manen. 27 Dem entspricht weitestgehend das Archivalische Erzählen, d. h. der Text thematisiert fikti onsintern (!) expressis verbis Topoi des Zusammenfassens, Auslassens, Auswählens etc.
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6. 7.
Überlegungen zu einer Definition des Archivromans
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mit denen in Texten des 20. Jahrhunderts, recht ›zahm‹, d. h. sie neigen an keiner Stelle zur Exzessivität, zum Sprengen der Form. Daher sind sie auch schwerer auszumachen und zu identifizieren. In diesem Sinn ist der Archiv roman nicht ›modern‹, er antizipiert die Texte der klassischen Moderne nicht. Ebensowenig findet eine Stillstellung der Semiose statt.28 Komponente: Zu der Vielheit und der Disparatheit von Elementen werden immer auch Vereinigungsschemata parallel gedacht (z. B. Aggregat, Kon tignation). Zugleich bekundet der Text sein starkes Interesse an Unordnun gen, inszenierter Formlosigkeit und Provisorischem. Komponente: Der Text äußert sein Zutrauen in das Sich-selbst-Arrangieren des Materials; er spricht ihm eine Selbstanordnungskraft zu (z. B. Quecksil ber, Magazin). Komponente: Ein Nachdenken über bzw. Weiterdenken von Archivierung findet statt (vgl. die dargelegte Engführung von Figuren und Archiv). Komponente: ist das Archivalische Schreiben, d. h. der Text lehnt sich formal an ein Archiv an. Diese Anlage muß nicht notwendigerweise reflektiert sein. Die Mittel dazu sind: a. Das Zitieren ohne auszuweisen sowie das Einschalten ganzer Texte ohne ihren Urheber zu markieren (nicht zwingendermaßen Erzählun gen und Gedichte). b. Dazu kommt das nicht Verbergen-Wollen der Herkunft von verwendeten Texten,29 einhergehend mit dem Vorenthalten einer eindeutigen Klärung der Verantwortung fürs Erzählen. c. Der gezielte Einsatz des erzählerischen Mittels fehlender Überlei tungen hat nicht zuletzt das Nebeneinanderstehen von Inhalten zur Folge.30 Dieses Konstruktionsmerkmal ermöglicht es dem literarischen Text, Nonlinearität für sich beanspruchen.31 Ein weiterer bedeutender Aspekt in diesem Kontext ist die Tatsache, daß die Möglichkeit des nachträglichen Hinzufügens besteht und genutzt wird.32 Damit tut sich
28 Wie die Lexemautonomie nach dem Autorenkollektiv um Gotthart Wunberg sie bewirken kann (vgl. Baßler, Brecht, Niefanger, Wunberg (Hgg.): Historismus und literarische Moderne). 29 Das geht über Schneider hinaus, der sich auf die Recodierung von Wissen konzentriert. Diese Recodierung muß gar nicht gänzlich gelingen bzw. konsequent zu Ende geführt werden. Daß der Text sie nicht vollständig leistet oder nicht leisten will, macht ihn so einzigartig. 30 Wichtig ist dabei, daß der Text die Übergänge zwischen den Einzelteilen gar nicht zu glätten versucht, was ihn auch an seiner Oberfläche dem Archiv annähert. 31 Auch dies immer in Grenzen; der Begriff Archivroman deutet ja darauf hin, daß man es mit einem literarischen Text und nicht etwa mit einem Zettelkasten zu tun hat. 32 Schneider bezeichnet das Archiv zwar als eine »strukturierte Form der Vorläufigkeit« (Schnei der: Archivpoetik, S. 29) und betont die mit der Aufbewahrungsfunktion des Archivs einherge
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die Perspektive auf eine implizite Unabschließbarkeit und damit auch Unendlichkeit des Projekts auf – und dies nicht nur durch dem Text post festum Zugeschriebenes, sondern ganz konkret nachweisbar durch und als seine strukturelle Anlage.
hende Möglichkeit einer Umgehung der Linearität der Zeit; er konfiguriert ›Vorläufigkeit‹ aber in dem Sinn, daß man später wieder auf etwas zurückgreifen kann. Mir scheint dagegen die von ihm nicht angesprochene (vielleicht aber stillschweigend implizierte?) Perspektive auf eine prin zipielle Unabschließbarkeit des Archivs, die mit dem Gedanken des nachträglich etwas Hinzufü genkönnens einhergeht, in vorliegendem Zusammenhang von größerer Bedeutung zu sein. Wirft man einen Blick auf die erste Fassung der ›Wanderjahre‹, so wird deutlich, wieviel Unterschied liches in die zweite Fassung eingefügt wurde.
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XIV. Ça veut dire quoi? [M]an kann einen gewissen Kreis des Wissens darstellen, man kann seine Anschauungen zur Gewißheit und Vollständigkeit erheben, und das, dächte ich, wäre schon genug. Folgerungen hingegen zieht jeder für sich daraus; beweisen läßt sich nichts dadurch, besonders keine Ibilitäten und Keiten. Alles, was Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an, und wir wissen nur zu sehr, daß die Überzeugung nicht von der Einsicht, sondern von dem Willen abhängt; daß niemand etwas begreift, als was ihm gemäß ist und was er deswegen zugeben mag. (Goethe: Farbenlehre. Polemischer Teil. Der Newtonischen Optik erstes Buch. Erster Teil. Erste Proposition. Erstes Theorem. Beweis durch Experimente)
Nachdem klar geworden ist, was unter einem Archivroman verstanden werden kann, stellt sich die Frage, worauf ein so angelegter Text denn reagiert. Man könnte auch anders fragen: Weshalb sieht er ästhetischen Handlungsbedarf und worauf gründet er ihn? Es wäre reduktionistisch, sich bei einem so »ungewöhnliche[n] Buch«,1 bei einem Text vom Format der ›Wanderjahre‹ auf ein Ereignis, auf eine Problemstel lung festlegen zu wollen. Verschiedene einleuchtende Vorschläge aus der For schung sind: (1) der Text reagiere auf eine epistemologische Neuordnung aus der Zeit um 1800, wie sie bei Foucault Erwähnung finde (Bahr, Schneider). Alternativ dazu könnte man argumentieren, er reflektiere (2) ein Abbildungsproblem, lasse sich auf eine Mimesisfrage ein.2 Und (3): Es gehe in den ›Wanderjahren‹ um ein Sprachproblem, also um die Frage, was sich zur Zeit um 1830 in einem Roman noch auf welche Art sagen lasse.3 Außerdem gibt es (4) eine Position, die davon ausgeht, der Text agiere ein Totalitätsbegehren aus, das sich von Hegels ›Ästhe tik‹ her schreibe (Bahr).4
1 Karnick: Die Kunst des Mittelbaren, S. 7. 2 Vgl. Schneider: Archivpoetik, S. 64. 3 Vgl. z. B.: Karnick: Die Kunst des Mittelbaren. 4 Vgl. auch: Pleister, Michael: Zu einem Kapitel vergessener Rezeptionsgeschichte: Heinrich Gustav Hotho. Rezension der Wanderjahre von Goethe, analysiert unter Einbeziehung der Hegel schen Epos- und Romantheorie. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Bd. 87. 1993.
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Ça veut dire quoi?
Nach der Lektüre der ›Wanderjahre‹ überrascht es wenig, daß sich eine ein deutige Antwort verbietet. Indem der Text das Archiv aufruft, braucht er sich nicht mehr auf einen Topos zu beschränken. Dies gilt ebenso für die Wahl der ›richti gen‹ Ausdrucksform. Die »[s]prachliche Regsamkeit und Kommunikationslust«,5 die Karnick eigentlich für die Figuren aus dem Oheimbezirk nachgewiesen hat, können auch als Attribute der ›Wanderjahre‹ verstanden werden. Dieses Sichnicht-Beschränken wirkt wie ein lustvolles Nicht-Entsagen des Texts.6 Er möchte sich nicht bescheiden müssen, sondern sammelt, ordnet, löst Ordnungen wieder auf, geht auf Pluralität ein und gesteht dem verarbeiteten Material eine Art Eigen leben zu. Dabei will er weder einfach zur Liste verkommen noch nur schöne oder archivierungswürdige Dinge herableiern. Er orientiert sich vielmehr an Goethes Sammlungsverständnis: »Goethe sammelte nicht (oder nur ausnahmsweise) ein zelne schöne und wertvolle Stücke.« Seine Sammlungen waren ihm vielmehr Material. Sie sollten vor allem, wie etwa seine Steinsammlung, »die großen Zusammenhänge zeigen, den geologischen Aufbau von Thüringen, von Deutsch land, von Europa.«7 Es gilt auch für die ›Wanderjahre‹, daß das in ihnen angelegte und ästhetisierte Material weiterführen und auf Zusammenhänge weisen soll, die der Text nicht nennt oder deren Nennung ein endliches Medium wie einen Text formal spren gen würde. An einem historisch genau festlegbaren Punkt, im Jahr 1829, demon strieren sie nicht zuletzt, daß sich mit der Materialfülle aus dem Archiv Dichtung machen läßt und daß das Archiv selbst zur Strukturierung einer solchen komple xen, da facettenreichen Dichtung nicht nur taugt, sondern notwendig ist. Dieser
S. 387–407. – Der angebliche Hegel-Bezug entpuppt sich als ein nicht sehr belastbares Indiz. Ein Exemplar der ›Phänomenologie des Geistes‹ aus dem Jahr 1807 fand man zwar nach Goethes Tod in dessen Bibliothek, allerdings unaufgeschnitten (vgl. Bahr: Nachwort, S. 553). Vereinzelt wird auch behauptet, Goethe habe mit den ›Wanderjahren‹ auf den von Hegel geprägten Romanbe griff der vielzitierten ›moderne bürgerliche Epopöe‹ reagiert. Diese Sichtweise ist problematisch. Hegels Vorlesungen über Ästhetik wurden zwar schon 1817/18 gehalten, veröffentlicht wurden sie aber erst nach Hegels Tod (1831) – aus studentischen Mitschriften (vgl. Höffe, Otfried: Kleine Geschichte der Philosophie. München 2001. S. 217). Die zweite Fassung der ›Wanderjahre‹ war zu diesem Zeitpunkt längst publiziert und kann nicht von der Hegelschen ›Ästhetik‹ beeinflußt wor den sein. Auch taucht die ›Ästhetik‹ in Goethes Bibliothek nicht auf (vgl. Ruppert, Hans: Goethes Bibliothek. Katalog. Weimar 1958. S. 447 f.). 5 Karnick: Die Kunst des Mittelbaren, S. 70. 6 Die »Lösung« für die »Antinomien und ironisch-kritischen Vorbehalte des Textes der Wanderjahre« wie Voßkamp in einem »Konzept der ›Entsagung‹« zu sehen, halte ich für problematisch, da hierbei vor allem auf inhaltliche Phänomene bezug genommen wird (Voßkamp: Utopie und Utopiekritik, S. 242. Kursivierung im Original). 7 Beide Zitate: Trunz: Goethe als Sammler, S. 75.
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Modus der Darstellung scheint darauf aus zu sein, etwas auszudrücken, was sich einer Wiedergabe durch seine Eigenschaften widersetzt. Meine These dazu ist, der Text wage den Versuch, ›Leben‹ zu inszenieren.8 Daß dies nur annäherungsweise möglich ist, offenbart er, indem er nicht mehr auf eine einfache Repräsentations logik rekurriert, sondern sich aufs Archiv beruft, welches selbst ambivalent und deutungsbedürftig ist. Wie in den ›Wanderjahren‹ wiederholt Kapellen als säku larisierte dargestellt werden, so wird das Archiv zwar nicht ›säkularisiert‹, aber doch seiner rein formell-offiziösen Dimension entkleidet. Analog zur abgewan delten Verwendung der Kapellen als »Gerichtssaal« (118)9 im ›Verräter‹ und als Sammlungsraum bei ›St. Joseph dem Zweiten‹ (vgl. 22 f.), setzt der Text das Archiv auf einem viel breiteren Gebiet ein, als es dem ursprünglichen Verständnis zufolge möglich gewesen wäre. Es wird, ähnlich wie auch das Aggregat, aus dem ihm angestammten Bedeutungshorizont herausgelöst. Beide dienen nun sowohl zur Beschreibung als auch zur Generierung eines ästhetischen Produkts.
1. Leben und Unendlichkeit 1.1 Leben Mit dem Versuch, ›Leben‹ ausdrücken, lädt sich der Text ein nicht unerhebliches Darstellungsproblem auf. Er möchte etwas inszenieren, was sich aus mehre ren Gründen nicht darstellen läßt. Goethe betritt hier wieder den Boden einer zeichentheoretischen Problematik, die ihn schon im Kontext der ›Farbenlehre‹ beschäftigt hat. Dort bleibt er in seiner Reflexion auf Sprache beim Gedanken der Polarität stehen.10 Es geht um Prozessuales, um das Problem, etwas textuell ausagieren zu wollen, das durch den Buchstaben ›getötet‹ würde. Diese Schwie rigkeit haftet nicht etwa erst der ästhetischen Umsetzung des ›großen Ganzen‹ an, sondern beginnt schon im Kleinen, nämlich beim Zeichen. Goethe verwirft »[m]echanische Formeln«, weil sie »das Lebendige in ein Totes [verwandeln]; sie töten das innere Leben, um von außen ein unzulängliches heranzubringen.«11 Er sucht nach einer anderen Lösung und muß feststellen:
8 Zum Problem der wissenschaftlichen Erfassung sowie Darstellung des Lebendigen vgl. zzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 16 f. A 9 Weiter heißt es, »daß hier eine alte, stattliche Hauskapelle zum Dienste der Themis, bei verän derten Religionsbegriffen, verwandelt sei.« (118). 10 Vgl. dazu: Weizsäcker: Nachwort, S. 628. 11 Beide Zitate: Goethe: Zur Farbenlehre. Schlußbetrachtung über Sprache und Terminologie. FA I 23/1, S. 245.
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Jedoch wie schwer ist es, das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer lebendig vor sich zu haben und es nicht durch das Wort zu töten. […] Astronomie, Kosmologie, Geologie, Naturgeschichte, ja Religion werden zu Hülfe gerufen.12
Allein es führt nicht weiter. Das Elementare wird durch Abgeleitetes mehr zugedeckt und verdunkelt, als aufgehellt. […] Am wünschenswertesten wäre jedoch, daß man die Sprache, wodurch man die Einzelnheiten eines gewissen Kreises bezeichnen will, aus dem Kreise selbst nähme; die einfachste Erscheinung als Grundformel behan delte und die mannigfaltigern von daher ableitete und entwickelte. Die Notwendigkeit und Schicklichkeit einer solchen Zeichensprache, wo das Grundzeichen die Erscheinung selbst ausdrückt, hat man recht gut gefühlt, indem man die Formel der Polarität, dem Magneten abgeborgt […] hat.13
Bei diesem repräsentationslogischen Problem und dessen vermeintlicher Lösung – denn es ist nur eine theoretische – bleibt der alte Goethe stehen. Er formuliert die Notwendigkeit einer Zeichensprache, bei der Signifikant und Sig nifikat in eins fallen, gar identisch sind und alles weitere aus dieser Grundformel abgeleitet wird. Noch schärfer konturiert er dieses Desiderat in einem Brief an Zelter vom 6. März 1810 über dessen Vertonung der ›Johanna Sebus‹. Dort werde der behandelte Gegenstand weder nachgeahmt noch gemalt, sondern in der Imagination auf eine ganz eigene und unbegreifliche Weise hervorgebracht […], indem das Bezeichnete mit dem Bezeichnenden in fast gar keinem Verhältnisse zu stehen scheint.14
Auch Zelter scheint in dieser Komposition mit einer Variante von Leerstellen zu arbeiten, denn Goethe findet, natürlich könne Musik »Donner rollen« und »Wellen brausen lassen«,15 aber – und das ist interessant: »Wie glücklich Sie aber die Negation [!] kein Damm, kein Feld durch den abgerissenen unterbroch nen Vortrag ausgedruckt haben, ist überraschend«. Goethe kann nur seine Rat losigkeit über diese Vorgehensweise ausdrücken; Zelter habe von »demjenigen Gebrauch gemacht, wofür ich keinen Namen habe, das man aber Nachahmung, Malerei und ich weiß nicht sonst wie nennt«.16
12 FA I 23/2, S. 245. Hervorhebungen: M. B. Das sind allesamt Topoi, die auch in den ›Wanderjah ren‹ verhandelt werden, ohne sie jedoch letztlich als ›erledigt‹ abzutun – sie sind eben nur Teile von etwas Ganzem, das sie nicht erschöpfend zu erklären vermögen. 13 FA I 23/1, S. 246. Hervorhebungen: M. B. 14 Goethe: Briefe der Jahre 1805–1821. München 1988, S. 120. 15 Beide Zitate: Goethe: Briefe der Jahre 1805–1821. München 1988, S. 120. 16 Beide Zitate: Goethe: Briefe der Jahre 1805–1821. München 1988, S. 120. Sperrungen im Ori ginal.
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Wie Vergleichbares in Texten geleistet werden könnte, bleibt offen. Realiter ›geschafft‹ oder besser: geschaffen hat Goethe ›nur‹ eine asymptotische Lösung. Mit den ›Wanderjahren‹ nähert er sich an die genannte sprachtheoretische Fra gestellung an, indem er mit den Leerstellen das scheinbar Defizitäre produktiv werden läßt. Insofern kann man die in der Forschung monierte »beispiellose Nachlässigkeit der Verknüpfungen«17 in den ›Wanderjahren‹ ins Aktive wenden und als eine Textstrategie verstehen, die sich wohl am ehesten als eine ›Poetik des Unverknüpften‹ bezeichnen läßt.18 Das demonstrativ offen Gelassene und das Unverknüpfte in den ›Wanderjahren‹ darf als ein Tribut an den Versuch gelesen werden, das Leben zu formulieren, ohne es durch Definitionen totzuschlagen – wohlgemerkt das Leben im Sinn von ›das Lebendige‹.19 Repräsentationslogisch bedeutet das eine Absage an unterkomplexe mimetische Konzepte. Die Abkehr hiervon und zugleich auch vom Muster der Repräsentanz zieht nicht zuletzt nach sich, daß es keine Beispiele, nichts Exemplarisches mehr gibt. Im Zusammenhang mit Goethes Verständnis des Lebendigen ist Geulens Erkenntnis von Bedeutung, wonach jenes »not limited to organisms in the con ventional sense«20 sei. Das Lebendige läßt sich vielmehr auch auf literarische Produktionen übertragen, so meine These. Man kann es bei Goethe über zwei Kriterien definieren: Erstens ist das Lebendige Gegenstand einer Veränderung über die Zeit hinweg. D. h. es geht nicht um eine vollendete Gestalt, sondern um Formveränderung und vor allem um die Übergänge zwischen Formen – wie auch immer jene beschaffen sein mögen, ob sie nun feststellbar sind oder verweigert werden. Im Aggregat sind solche Übergänge, so paradox es klingen mag, ein ›Nichts‹. Sie sind Leerstellen und Lücken. Das zweite Konstituens des Lebendigen ist eine unhintergehbare Pluralität:21 Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst insofern es uns als Indi viduum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen […]. Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils finden und vereinigen sie
17 Karnick: Die Kunst des Mittelbaren, S. 167. 18 Die einer ›Poetik des Unverknüpften‹ zugrundeliegenden Phänomene kann man mit Heinz so zusammenfassen: Der Text läßt »wirklich Lücken« und »dem Leser [werden] sogar Informa tionen vorenthalten. Eine Spannung wird zwar aufgebaut, aber nicht aufgelöst; Geheimnisse werden angedeutet, aber nicht aufgeschlüsselt […].« (Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 374). 19 Für die Form der ›Wanderjahre‹ stellt Heinz fest, daß sie »der polaren Struktur alles Leben digen, den Beschränkungen und Freiheiten menschlicher Tätigkeiten geschuldet [sei]« (Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 500). 20 Geulen: Serialization, S. 4. 21 Vgl. Geulen: Serialization, S. 4.
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Ça veut dire quoi?
sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und bewirken so eine unendliche Produk tion auf alle Weise und nach allen Seiten.22
Die Masse, die Menge, kurz: die Häufung bürgt für das Auszusagende – n. b. nicht für eine eventuelle Richtigkeit oder Validität; es geht dezidiert nicht um Evidenz. Erstaunlicherweise ist es ausgerechnet das Archiv, dem man intuitiv ja nicht gerade pausbäckige Lebenstüchtigkeit und Gesundheit zuschreiben würde, das eine asymptotische Annäherung an die Möglichkeit der ästhetisierten Wieder gabe des Lebendigen bietet.23 Lebendigkeit ist, so könnte man schließen, eben nicht zu haben im Rekurs auf eine konventionell erzählte Biographie, auf einen Entwicklungsroman etwa, sondern nur um den Preis – und vielleicht auch: die Errungenschaft – der Sub jektlosigkeit: Archivdenken ist […] keine Absage an das Lebendige im Zeichen steinerner Zeugnisse, sondern es hält solcherart den Zugang zum Leben offen und verweist vielmehr auf den Aus schlußakt des Subjektdenkens.24
Was Ebeling und Günzel in ganz anderem Kontext formulieren, scheint auch auf die ›Wanderjahre‹ zuzutreffen. Es gilt dort vor allem für die Anlage des Texts.25 Als Archivroman begibt dieser sich so weit als für einen literarischen Text möglich in die Nähe des Archivs – inhaltlich, konzeptionell und unter Machtas pekten ebenso wie in Fragen der narrativen Innovationen im Licht des Archivs. Vor allem durch Lücken und Unentscheidbarkeiten halten die ›Wanderjahre‹ sich anschluß- und reorganisationsfähig.
22 Goethe: Die Absicht wird eingeleitet (FA I 24, S. 391–395. Hier: S. 392). Erschienen 1817 in den Heften zur Morphologie (Bd. 1, Heft 1). Vgl. auch: »Schon früher sprachen wir getrost den Satz aus alles Lebendige als ein solches ist schon ein Vieles« (Goethe: Nachträge zur Metamorphose der Pflanzen. In: FA I 24, S. 700–714. Hier: S. 708 f.); sowie ein Gedicht, das 1820 in den Heften zur Morphologie (Bd. 1, Heft 2) erschienen ist: »Freuet euch des wahren Scheins,/Euch des ernsten Spieles./Kein Lebendges ist ein Eins,/Immer ist’s ein Vieles.« (FA I 24, S. 440). 23 Vgl. dazu augenzwinkernd Raulff: »Die Stille und eine generelle Armut sensueller Reize sowie die Klimatisierung des Archivs tun das ihre, um d[ ]en Eindruck einer gruftigen Atmosphäre zu verstärken.« (Raulff: Sie nehmen gern von den Lebendigen, S. 227). 24 Ebeling & Günzel: Einleitung, S. 19. 25 Archivästhetik und Leben stellt Ernst nebeneinander: »Diskretisierung korrespondiert […] mit der diskontinuierlichen Ästhetik des Archivs im Unterschied zur Unkalkulierbarkeit des Kon tinuierlichen namens Leben. Niklas Luhmann beschreibt Realität als ›Anschlußwert‹; dement sprechend ist ihm vergangene Realität ein Archiv-Aggregat [!]« (Ernst: Archiv als Gedächtnisort, S. 198).
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Wer einem Text aus guten Gründen nun grundsätzlich nicht zutraut, dem Leben nahe zu kommen – er könnte Prousts ›Recherche‹ zitieren: »Alles das ist ja doch das wirkliche Leben nicht.«26 – wird ihm spätestens seit der Romantik wenigstens zugestehen, sich dem Unendlichen annähern zu können. Eine die ›Wanderjahre‹ betreffende vielzitierte Äußerung Goethes hierzu lautet: Mit solchem Büchlein aber ist es wie mit dem Leben selbst: es findet sich in dem Komplex des Ganzen Notwendiges und Zufälliges, Vorgesetztes und Angeschlossenes, bald gelun gen, bald vereitelt, wodurch es eine Art von Unendlichkeit erhält, die sich in verständige und vernünftige Worte nicht durchaus fassen noch einschließen läßt.27
Goethe bringt in dieser Sequenz Leben und Unendlichkeit zusammen. Das Frag ment ist im Kontext der ›Wanderjahre‹ nicht als defizitär und beschädigt zu ver stehen, sondern vielmehr als die Voraussetzung für das Unentscheidbare und Offenbleibende, was wiederum erst die Deutungs- und Kombinationsfreiräume für den tätigen Leser ermöglicht.28 ›Belohnt‹ wird der ›verständige‹, ›treue‹ Leser oder ›Forscher‹ mit einem Kunstwerk in seinem ganz eigenen Sinn, mit dem Gefühl, selbst etwas erschaffen zu haben. Die Indienstnahme des ›geneigten Lesers‹ ist hier mehr als nur eine konventionalisierte Phrase.29 Hiermit und mit der von Goethe immer wieder geäußerten Zuversicht, der Leser werde etwas Sinn haftes (wenn auch auf seine Art) herausbilden, eröffnet sich die Perspektive auf das Unendliche, besser auf ›eine Art von Unendlichkeit‹.
1.2 Unendlichkeit Es geht dem Text um das Ausprobieren und Vorführen von Erfahrungsbereichen. Das vorherrschende Grundphänomen ist das Suchen, permanent werden Mög lichkeiten ausgelotet, ohne einen übergeordneten Sinn zu formulieren. Ebenso wenig bekommt man ›das Ganze‹ einfach ›mitgeliefert‹. Es bleibt als ein Ziel in
26 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 3. Die Gefangene. Die Entflohene. Die wiedergefundene Zeit. Übers. von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt am Main 2000. S. 3441. 27 Goethe an Rochlitz, 23. November 1829. (Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 356. Hervorhebungen: M. B.). 28 Wenn die ›Wanderjahre‹ Unendlichkeit unter Zuhilfenahme von Lücken und Unabgeschlos senem zu inszenieren versuchen, greifen sie zu einem Mittel, das dem von der ›gängigen‹ Ro mantheorie empfohlenen genau entgegengesetzt ist. Blanckenburg empfiehlt nämlich dezidiert, Unendlichkeit über Verknüpfungen (und eben gerade nicht über Unverknüpftes) herzustellen (vgl. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 313). 29 So auch Karnick: Die Kunst des Mittelbaren, S. 175.
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der Ferne stehen. Die ungelösten Probleme werden offen gehalten, daran soll von der Seite des Lesers fortgewirkt werden. Die ›Wanderjahre‹ sind die Bemühung, diesen Widerspruch zwischen dem Wunsch nach dem ›Einen Sinn‹ und dessen Unaussprechlichkeit nicht einzuebnen. Die Konsequenz ist eine immer wieder von vorn beginnende Anstrengung – sowohl textintern für die Figuren als auch für den Leser, der sich um Verständnis zu bemühen hat. Der Kern des Ganzen ist eine Art Unendliches, das man sich denken kann als eine vollständige Existenz [...], welche außer der Fassungskraft eines beschränkten Geistes [liegt]. Man kann nicht sagen, daß das Unendliche Teile habe. Alle beschränkten Existen zen sind im Unendlichen, sind aber keine Teile des Unendlichen, sie nehmen vielmehr teil an der Unendlichkeit.30
Doch selbst diese Unendlichkeit bleibt undefiniert und undefinierbar. Sie tritt in den ›Wanderjahren‹ zu Tage an Bildern wie dem von Kastor und Pollux, die in ihrer Kreisbewegung an den Tagesablauf gebunden sind und sich nur noch im Aneinander-Vorbeischrammen begegnen und gipfelt in den Gedichten ›Ver mächtnis‹ und ›Im ernsten Beinhaus war’s …‹. Weder Wilhelm noch eine andere Figur begreift diesen ewigen Prozeß. Wie nahe Wilhelm einmal daran ist, ihn zu entschlüsseln, zeigt sich in seiner finalen Äußerung über Felix: »Wirst du doch immer aufs neue hervorgebracht, herrlich Ebenbild Gottes! [...] und wirst sogleich wieder beschädigt, verletzt von innen oder von außen« (495). Den letzten Schritt jedoch, den Rückschluß vom Einzelphänomen aufs Ganze, vermag er nicht zu tun. Darin erinnert er an Lucidor aus der ›Verräter-Erzählung‹, der ja Julies Andeutung eines ebensolchen Kreislaufes schon nicht verstanden hat. Der Text bleibt also unabgeschlossen, das nach ihm stehende Gedicht ›Im ernsten Beinhaus war’s …‹ am Ende ebenso; die beiden letzten Verse sind keine vollständigen Sätze.31 Direkt nach dem Gedicht-Text steht in gleicher Typogra phie und ohne eine Zeile Abstand: »(Ist fortzusetzen.)« (525). Worauf sich die For mulierung bezieht ist, wie gezeigt wurde, unentscheidbar. Mit ihr wird auch der Lese- und Zeichendeutungsprozeß als ein unendlicher ausgewiesen, die Semiose als eine unabschließbare. Damit endet der Text der ›Wanderjahre‹ auf dem Papier; das ›Projekt Wanderjahre‹ ist – wie klar geworden sein sollte – damit keineswegs
30 Goethe: Studie nach Spinoza. In: Ders.: Schriften zur Naturwissenschaft, S. 25–28. Hier: S. 25. 31 Ganz anders Viëtor: »Das Gedicht ist metrisch geschlossen, an eine Fortsetzung um der Stro phenform willen war nicht zu denken. Weder seine architektonische noch die metrische Form kann den Zusatz [›Ist fortzusetzen‹] rechtfertigen.« (Viëtor: Goethes Gedicht auf Schillers Schä del, S. 231. Kursivierung im Original).
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am Ende: er ›ist fortzusetzen‹, der Versuch, das ›unbegreifliche Leben‹ zu begrei fen.32 Bleibt noch die Frage zu beantworten, wie dieses Desiderat mit dem Archiv zusammengeht. Ein Blick auf einen Text Groys’ ist hier aufschlußreich. Er spricht darin von der »Sehnsucht der Archive nach der Unendlichkeit des Lebens, die allerdings, wie gesagt, erst im Archiv überhaupt entstehen kann.«33 Groys bringt Archiv und Unendlichkeitsbegehren sowie -generierung zusammen und führt näher aus: Das Erlebnis der Unendlichkeit entsteht, wie gesagt, allein in dem Falle, in dem der außer kulturelle Raum innerhalb der kulturellen Archive repräsentiert wird. Die Archive als solche sind offensichtlich endlich. Und der außerkulturelle Raum der Wirklichkeit ist zwar groß, aber auch nicht unendlich. Diese Tatsache wird übrigens oft übersehen, sodaß man immer wieder meint, es würde genügen, aus der Enge der Archive, der Institutionen, der Hoch kultur, der Bibliotheken, der Museen auszubrechen, um endlich die unendliche Weite des Lebens zu entdecken. Aber das ›wirkliche Leben‹ ist gerade der Ort des Endlichen, Vergäng lichen und Uninteressanten. […] Das Erlebnis des Unendlichen kann man nur innerhalb der Archive der Hochkultur haben, so wie Goethes Faust ein solches Erlebnis bekanntlich in der Bibliothek gehabt hat, um es dann später im wirklichen Leben zu verlieren. Der Effekt der Unendlichkeit ist ein durch und durch künstlicher Effekt, der durch die Repräsentation des Äußeren im Inneren erzeugt wird. Weder das Äußere noch das Innere sind als solche unendlich. Allein durch die Repräsentation des Äußeren im Inneren wird der Traum von der Unendlichkeit erzeugt – und allein dieser Traum ist wirklich unendlich.34
Um einen solchen hochgradig artifiziellen ›Traum von der Unendlichkeit‹ als Inszenierung verwirklichen zu können, darf man vielleicht doch den abbilden den, mimetischen Charakter des Texts stark machen. Abgebildet soll jedoch nicht das Unendliche selbst, sondern die Perspektive aufs Unendliche werden. Erstgenanntes bleibt unabbildbar. Daher darf man schließen: Die Anlehnung ans Archiv ist die eigentliche mimetische Leistung des Texts. Mit einer Abbildung der Wirklichkeit hingegen hat er nichts zu schaffen. Wenn schon Mimikry, so der Befund, dann eine solche an das technische Bewältigungsinstrument für die
32 Die einleitenden Sätze im ›Versuch einer Witterungslehre‹ lauten: »Das Wahre, mit dem Gött lichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbe greifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.« (Goethe, Johann Wolfgang von: Versuch einer Witterungslehre 1825. In: Ders.: Schriften zur Naturwissen schaft. Hg.: Michael Böhler. (= RUB 9866). Stuttgart 1977. S. 237–248. Hier: S. 237). 33 Groys: Der submediale Raum des Archivs, S. 145. 34 Groys: Der submediale Raum des Archivs, S. 143. Hervorhebungen: M. B.
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Erfassung von Wirklichkeit, an das historisch kontingente und interpretations bedürftige Archiv. Ein solches Verfahren hat wiederum einen hochgradig experi mentellen Charakter.
2. Der Archivroman als Experiment Folgt man Pethes’ plausibler Feststellung, wonach die in seiner Arbeit behandel ten Texte an der Form des Experimentierens selbst interessiert seien, so gelangt man zu einer Antwort auf die Frage, was für einen Text wie die ›Wanderjahre‹ noch zu tun ›übrig bleibt‹, d. h. wofür er sich interessiert und was ihn motiviert. Wenn man davon ausgehen darf, daß die ›Wanderjahre‹ den literarischen Men schenversuch nicht mehr ernsthaft betreiben können, daß sie also nicht mehr ausschließlich am im Text verhandelten Subjekt35 und seiner Entwicklung bzw. Beobachtung interessiert sind, so stellt sich die Frage, was sie dann beschäf tigt. Oder, anders formuliert, wofür fahren sie das Aggregat, die Sammlungen, das Archiv etc. auf? Welches Ziel hat sich der in dieser Arbeit herausgearbeitete Archivroman auf die Fahnen geschrieben? Schwingen in ihm die Ordnungsmodi und überkommenen experimentellen Anordnungen nur noch nach? Wohl eher nicht. Eine Antwort auf diese Fragen offeriert wiederum Pethes’ Untersuchung – wenn auch in Modifikation und vielleicht unfreiwillig. Sie geht davon aus, daß die untersuchten Texte nach 1800 ihr eigenes Experimentieren ironisieren und daß dieses Experimentieren dann nach und nach ausläuft, bis nach 1850 der Faden »zwischen Literatur und Naturwissenschaft gekappt«36 sei. Demnach könnte das Experimentieren ab diesem Zeitpunkt ebensogut aufhören, weil es nicht mehr im Stand ist, valide Ergebnisse zu liefern. Die Analyse der ›Wanderjahre‹ hat aber gezeigt, daß sie mehr sind, als ein (literarischer) Experimentalraum, in dem mit einem Subjekt hantiert wird. Sie können gelesen werden als eine Art ›aktiver‹ Prüfstein: Der Text experimentiert mit seiner Leserschaft. Diese wiederum kann sich an ihm bewähren oder ihn ver werfen. Der Archivroman stellt die Frage, wie weit man mit einem solchen Expe riment gehen kann. Sein Experimentieren richtet sich nicht mehr nach innen, auf ein im Text agierendes (fiktionales) Subjekt, sondern nach außen. Der Text greift über sich hinaus, er experimentiert mit der Wirklichkeit. Und genau hier bietet
35 Blanckenburg fordert 1774 in seinem ›Versuch über den Roman‹, die Charakterentwicklung eines Subjekts bzw. einer Figur müsse nachvollziehbar geschildert und motiviert werden in einer »Kette von Ursach und Wirkung« (Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 10). 36 Pethes: Zöglinge der Natur, S. 388.
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sich eine zwar etwas schiefe aber reizvolle analoge Verwendung von Pethes’ Struktur an. Der von ihm herausgearbeitete experimentelle Ablauf lautet: iso lieren; irritieren; observieren; protokollieren; interpretieren.37 Dieses sukzessive Vorgehen läßt sich auch auf den Text münzen. Als Isolieren kann man Goethes Praxis der Vorabpublikation einzelner Teile der ›Wanderjahre‹ verstehen. Als Irritieren das Irritierende und Provozierende des Archivs: »Das Archiv ist die latente Provokation der Narration«.38 Das Observieren und Protokollieren liegt wiederum in Goethes Hand. Wie Bunzel gezeigt hat, beobachtete er genau, wie die Vorab drucke in Cottas ›Taschenbuch für Damen‹ sowie seine vereinzelten Lesungen von Manuskriptteilen rezipiert wurden. Protokolliert hat er die Reaktionen auf die ›Wanderjahre‹ in Briefen und anderen Äußerungen; außerdem hat er sich Notizen der Lesenden ausdrücklich erbeten, wollte über deren Eindrücke ebenso infor miert sein wie über beim Lesen aufkommende Assoziationen, über das, was den Lesern ›gemäß‹ war, wie er es nannte. Und das Interpretieren schließlich liegt allein bei den ›normalen‹ und natürlich auch ›professionellen‹ Lesern des Texts und entzieht sich glücklicherweise jedweder Steuerung, wie nun in einem Aus blick noch angesprochen wird.39 Anzumerken bleibt, daß die lange Entstehungszeit der ›Wanderjahre‹ schluß endlich auch als Indiz dafür gelesen werden kann, daß der Text jahrzehntelang um eine adäquate Anlage gerungen hat. Das Einsetzen von Goethes Archivie rungsbemühungen um den eigenen Nachlaß und ihr Parallellaufen mit der Über arbeitung der ›Wanderjahre‹ scheint den Initialfunken für die Fertigstellung des Texts und die Inspiration für seine Form geliefert zu haben. Die ›Wanderjahre‹ sind in den »Bannkreis«40 des Archivs geraten, das sie nicht mehr losgelassen
37 Nach Pethes geht es um »die Isolation der Versuchspersonen von unkontrollierbaren Einflüs sen, ihre gezielte Irritation durch Reizzuführung oder -entzug, die Observation ihrer Reaktionen auf diese Eingriffe, das Protokoll dieser Beobachtungen und schließlich die Interpretation der gewonnenen Daten.« (Pethes: Zöglinge der Natur, S. 11. Kursivierungen im Original). 38 Ernst: Archiv als Gedächtnisort, S. 189. Provoziert und irritiert haben die Leserschaft, wie wiederholt deutlich wurde, ja sogar die Phänomene der Häufung, des Aggregats, summarisch: die Konstituenten des Archivromans. 39 Dieser Ansatz ist sich, wie gesagt, bewußt, daß er ein wenig schief ist. Denn Pethes weist ja nach, daß die Texte die in ihnen beschriebenen Subjekte isolieren, irritieren, observieren, pro tokollieren und interpretieren. Es ist also eine Instanz, die diese Aktionen an einem Klienten ausführt, die experimentiert. Das eben Skizzierte hebt diese Einsträngigkeit auf: Goethe isoliert die Textteile, um sie zu publizieren; der Text irritiert die Leserschaft; Goethe wiederum observiert und protokolliert diese und ihre Reaktionen; die Nachwelt schließlich interpretiert den Text, das Experiment – man sieht, diese Konstellation ist recht verschlungen, hat aber dennoch ihre Be rechtigung. Streng genommen hat sie mit Pethes’ Konzeption nichts zu tun. 40 Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 389.
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hat. Von da an bedienten sie sich konsequent am und eben nicht nur im Archiv. Erst dort und ab diesem konkreten Zeitpunkt konnte der Text ›zu Ende‹ und in jene Gestalt gebracht werden, welche die ›Wanderjahre‹ ausmacht, in die des Archivromans.
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XV. Ausblick Die ›Wanderjahre‹ wurden – und dies ist nur ein magerer Auszug aus einem bunten Strauß von Charakterisierungs- und Vereinnahmungsversuchen – wahl weise mit einer Nudelsuppe1 oder mit Ariosts ›Rasendem Roland‹2 verglichen, als »freche Formschlamperei«,3 Aggregat,4 Phänomen der Dummheit,5 sklero tisches Sammelsurium6 und »Kranz aneinandergerückter Einzelgeschichten«7 verstanden oder – je nach gusto bzw. Perspektive – mißverstanden. Trotz oder vielleicht eher wegen ihrer formalen Einzigartigkeit sind sie jedoch auffällig folgenlos geblieben. Man kann höchstens ein schüchternes Sich-amText-Bedienen feststellen. Oft geschieht das in Form von Zitaten aus den ›Wan derjahren‹. Seltener sind Texte, die sie einfach nennen,8 und nie findet man, soweit ich sehen kann, Zitate oder Filiationen auf formaler Ebene. Die ›Wanderjahre‹ bilden also einen Referenzpunkt immer inhaltlicher, nie formaler Prägung, und fordern ein breites Spektrum an Reaktionen heraus, die so agitatorisch ausfallen können wie die Pustkuchens, der sich die Mühe macht, anonym einen ganzen Roman unter dem Titel ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ zu
1 Therese Huber, Herausgeberin des Cottaschen ›Morgenblatts‹ stellt in einem Brief an Karl Phillip Konz vom 17. Juni 1821 (also einen Monat nach Erscheinen der Erstfassung) fest: »Das [›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹] ist nun etwas breit wie eine gute Nudelsuppe, aber gediegen voll Menschenverstand und auf der wahrhaftigen Breite funkeln einzelne herrliche Sprüche wie Lichtfunken.« (Geiger, Ludwig: Therese Huber über Goethe 1783–1824. In: Goethe Jahrbuch 18 (1897) S. 132 f. Zit. n.: Bunzel: Das ist eine heillose Manier, S. 68.). – Eine Äußerung Hubers zur zweiten Fassung des Texts ist leider nicht überliefert. 2 Sulpiz Boisserée erinnerte die ›Wanderjahre‹-Lektüre 1829 an Ariosts ›Orlando Furioso‹ (1532), wie er in einem Brief vom 25. 8. 1829 formuliert (vgl. MA 17, S. 988). 3 Schmidt, Arno: Aus dem Leben eines Fauns. Kurzroman. (= Fischer TB 9112). Frankfurt am Main 2005. S. 97. 4 Vgl. Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 628. 5 Vgl. D’Aurevilly: Gegen Goethe, S. 54 f. 6 Vgl. Mann: Selbstkommentare, S. 57. 7 Wolff: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wanderjahren, S. 171. Kursivierungen im Original. 8 Die Figur Graf Brandenstein aus Tiecks Text ›Die Verlobung‹ bezeichnet Pustkuchens ›Wander jahre‹ als ein »verwirrte[s] und schwache[s] Buch[ ]« und echauffiert sich über die Deutschen, die ihm Beifall zollen. Dadurch komme zum Vorschein, daß sie »unsern großen Dichter« bei allem nie verstanden haben, selbst dann nicht und gerade dann nicht, als sie ihm »zujauchzte[n]«. Sein Gesprächspartner erwidert: »›Sie meinen Göthe […] und die sogenannten unächten Wan derjahre.‹« (Tieck: Die Verlobung, S. 145 f.).
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schreiben.9 Ähnliches gilt für Schmidts ›Das Leben eines Fauns‹, wo – über die Hauptfigur perspektiviert – eine Reflexion zu den ›Wanderjahren‹ eingeflochten wird, um ihre angebliche Inferiorität zu markieren: bei Goethe ist die Prosa keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste […]: gewaltsam anein andergepappte divergente Handlungsfragmente; grob an den Hauptfaden geknotete Novel len; Aforismensammlungen [sic]; Waidsprüchlein aller Art – todsicher den ungeeignetsten Personen in den Mund gelegt […]! – Das demonstrativste Beispiel ist der »Wilhelm Meister«, zumal die »Wanderjahre«: was er sich hier, z. B. an Kapitelübergängen leistet, ist oft derart primitiv, daß ein wohlgeratener Primaner, der n bißchen was auf sich hält, sich ihrer schämen würde. Eine freche Formschlamperei; und ich mache mich jederzeit anheischig, den Beweis anzutreten (wenn ich nicht meine Arbeitskraft ernsthafteren Dingen schuldig wäre: Goethe, bleib bei Deiner Lyrik! Und beim Schauspiel!). –10
Andere Rekurse auf den Text sind wohlwollend und eher spielerisch, wie bei Arnim11 oder gar versteckt wie bei Mann, der im ›Felix Krull‹ mit ›unterirdischen‹ Bezügen zu arbeiten scheint, indem er ganze Wortfelder und Beziehungsgefüge aus den ›Wanderjahren‹ reaktiviert.12 Die ›Wanderjahre‹ scheinen also ›literarisch‹ nicht weit auszugreifen. Breiter streut der Text interessanterweise, wenn es um Archive geht. Als Archiv oder Wis senskonglomerat verstanden, stellt er einen fruchtbaren Nährboden dar. So wird er beispielsweise von Nachschlagewerken wie dem Grimmschen Wörterbuch her angezogen, wenn es darum geht, Nachweisstellen für eher abgelegene Themen zu zitieren. Dies ist etwa der Fall beim ›Katzengold‹, für das die ›Wanderjahre‹ den einzigen Textbeleg im ›Grimm‹ stellen;13 hier schließt sich ein Kreis, indem
9 Pustkuchens ›falsche Wanderjahre‹ reagieren eigentlich nicht auf Goethes ›Wanderjahre‹, sondern handeln als ein den Titel der ›Lehrjahre‹ folgerichtig weiterdenkender und sie modifi zierender Text. Sie erscheinen, wie Wolf betont, vor Goethes ›Wanderjahren‹ und verstellen also eigentlich eine unvoreingenommene Rezeption des Goetheschen ›Originals‹ (vgl. Wolf, Thomas: Pustkuchen und Goethe. Die Streitschrift als produktives Verwirrspiel. Tübingen 1999). 10 Schmidt: Aus dem Leben eines Fauns, S. 97. 11 Arnim: Wunder über Wunder. 12 Z. B. »Strackheit« (S. 357); »Faultier« (S. 351); Mythologie (vgl. S. 283); »Mignon [!] in Livrée« (S. 202); »Kästchen« (S. 156); »Jünger des Äskulap« (S. 49). Auch Topoi, die in den ›Wanderjah ren‹ verhandelt werden, tauchen dort auf: der schöne Arm der jungen Frau (vgl. S. 311 f. & pas sim); die Bildungsreise (vgl. S. 278 und passim); Anatomie (vgl. S. 340); Malerei (vgl. S. 296) und, schließlich, ohne den intertextuellen Bogen überspannen zu wollen: der Vorname des ›Helden‹ Krull: Felix … (die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf: Mann, Thomas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil. Frankfurt am Main 1954). Auch entste hungsgeschichtlich lassen sich Parallelen zwischen den ›Wanderjahren‹ und dem ›Krull‹ nach weisen. – Doch das wäre Stoff für eine andere Studie. 13 Darauf wurde im ›Exkurs Katzengold‹ in dieser Arbeit hingewiesen (vgl. Kap. V.8).
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das literarisch vermittelte Archiv zur zitierfähigen Belegstelle für ein Wörterbuch avanciert. Schließlich gibt es noch Texte, die zwar nicht direkt auf die ›Wanderjahre‹ zugreifen, sich jedoch ebenfalls für Sammlungen und Archivierung interessieren. Dazu zählt beispielsweise Stifters ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹. Die Lektüre offenbart hier indessen ein merkwürdiges Mißverhältnis. Hält man den Schluß des Texts gegen den Anfang, so fällt auf, daß er sich zu Beginn ausführlich um Archivierung kümmert, die Mappen und materiellen Vorgänge des Archivierens stark macht. Das Ende jedoch erweist sich als konventionell, oder, um es in den Worten des Texts zu sagen ›gewöhnlich‹: So weit habe ich, der Urenkel, aus dem Lederbuche des Doktors ausgezogen, und so weit ist alles an ihm, der uns immer wie ein Wundermann erschienen war, gewöhnlich, wie bei allen andern Leuten, und wird auch in dem ganzen Buche fort gewöhnlich sein. Es ist noch recht viel übrig; aber das Lesen ist schwer. Oft ist kein rechtes Ende, oft deutet sich der Anfang nur an, manchmal ist die Mitte der Ereignisse da, oder es ist eine unverständliche Kranken geschichte. Ich habe in den mit dem Messer verwundeten Blättern geblättert.14
Der Leser des urgroßväterlichen Texts relativiert die anfängliche Entdeckereu phorie. Die Lektüre ist ihm zu anstrengend geworden und er mutmaßt über den Rest des vorliegenden Materials, ohne es genau gelesen zu haben (›geblättert‹). Über diese »Dichtung des Plunders«15 versucht er sich regelrecht zu trösten: »Wie gewöhnlich, und nur für ihn [den Urgroßvater] geschrieben manches auch ist, so ist wieder vieles lieb und schön und oft wahrhaft erhebend.«16 Gegen Ende wirkt Stifters Text merkwürdig desillusioniert, in seiner formalen Anlage hat das Archiv keinen Niederschlag gefunden.17 Es existiert jedoch auch ein Text, bei dem genau dies der Fall ist. Er orientiert sich tatsächlich an einem Lexikon als struktureller Vorlage. Dieses Extrem hin
14 Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 217. Hervorhebungen: M. B. 15 Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 12. 16 Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 217. 17 Auch in Stifters ›Nachsommer‹ bleibt es ohne formale Resonanz. Inhaltlich jedoch wimmelt der Text von Magazinen, Sammlungen, Zerstreutheit, Zersplitterung, Vorratskammern, Galeri en, Mengen, Aufzählungen etc. Außerdem interessiert er sich für Fragen der Ordnung und Un ordnung, das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem sowie für Lückenhaftigkeit. Eine Lektüre des ›Nachsommers‹ mit dem am Archivroman geschärften Blick dürfte sich als vielversprechend erweisen. Vgl. auch Möseneders Denkanstoß, einmal über die ästhetische Integration und den Sinn der ›Kollektionen‹ im Rosenhaus nachzudenken (Möseneder, Karl: Stimmung und Erdle ben. Adalbert Stifters Ikonologie der Landschaftsmalerei. In: Laufhütte, Hartmut & Karl Mösen eder: Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk. Tübingen 1996. S. 18–57. Hier: S. 43).
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sichtlich seiner Ausrichtung am Archiv verkörpert der 1970 erschienene und erst 2008 wiederaufgelegte ›Lexikon-Roman‹ Okopenkos. Dessen Untertitel ›Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden‹ spielt unübersehbar auf die ›Sentimental Journey‹ an, deren Autor, Laurence Sterne, in den ›Wander jahren‹ mehrfach namentlich erwähnt wird. Okopenkos Text ist derart rigoros am Lexikon orientiert, daß er jeglicher zusammenhängenden Form zu spotten scheint. Er ist unterteilt in Lemmata; der Autor schickt dem Text dieser Konstruktionsweise wegen eine ›Gebrauchsanwei sung‹ voraus. Darin setzt er ausdrücklich auf den Leser, »denn es wäre hübsch, wenn Sie sich aus ihm [dem Buch] einen Roman basteln wollten.«18 Okopenkos Text lebt denn auch von einer zufallsgesteuerten Lesebewegung. Dieses Verfah ren illustriert er am Beispiel der Lektüre in einem Nachschlagewerk: Wer hat nicht schon im Lexikon, Goldschminke nachschlagen wollend, erst einmal den Artikel über Goldoni, dann den über Goldregen gelesen, dort auf Laburnum verwiesen, die Einrichtung von Laboratorien gestreift, Interesse an der Herstellung des Chlorkalziumröhr chens gefaßt, das Glasblasen erlernt, dabei den Wangenriß erlitten, pflasterbeklebt einem Clown geähnelt, nachgedacht, was zum Clown noch fehlte, dabei Blanc und Rouge auf gefunden und so den Gedanken zurückgewonnen, daß er ja Goldschminke nachschlagen wollte – was er nun endgültig tat.19
Diese Stelle hat sowohl einen Bezug zu den ›Wanderjahren‹ als auch zu Flauberts Roman ›Bouvard et Pécuchet‹. Zu den ›Wanderjahren‹, da sie genau das ausagiert, was Angela Wilhelm im Angesicht des Archivs mit ihrer Rede vom Quecksilber verdeutlichen will: Man geht ins Archiv, bedient sich und wird – so man es zuläßt – ad infinitum von einer Archivalie zur nächsten weiterverwiesen.20 Die Parallele zu ›Bouvard et Pécuchet‹ ist die Übereinstimmung eines Prozesses sowie einer mißglückenden Versuchskonstellation. Okopenko mutmaßt, der Leser schlage im Lexikon etwas nach, komme dabei nicht nur vom hundertsten ins tausendste, sondern versuche auch noch, etwas dort Archiviertes nachzuahmen. Über Umwege gelangt er zum Glasblasen, welches mißlingt. Seiner komischen Lage bewußt (ihm ist die Versuchsanord nung um die Ohren geflogen, seine Wange ist gerissen und verpflastert) reflek tiert der Leser, so denkt der Text es sich genüßlich, übers Clownsein, überlegt,
18 Okopenko, Andreas: Lexikon-Roman. Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtref fen in Druden. Wien 2008. S. 5. 19 Okopenko: Lexikon-Roman, S. 6 f. 20 »[B]ei welcher Gelegenheit denn wieder auf eine merkwürdige Weise tausend Einzelnheiten hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber fällt und sich nach allen Seiten hin in die vielfachsten unzähligen Kügelchen zerteilt.« (138).
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was zu einem Clown noch gehört und kommt über die Schminkfarben schließlich zurück zur Goldschminke. Die Schleife schließt sich. Jetzt, nach dem fehlgeschla genen Experiment, besinnt er sich wieder auf seine ursprüngliche Intention: ›Goldschminke‹ nachzuschlagen. Ähnlich ergeht es auch Bouvard und Pécuchet. Grosso Modo kommen sie beruflich vom Schreiben her, ackern eine halbe Enzyklopädie in praxi durch, scheitern in Permanenz und gelangen am Schluß – sofern man bei einem Roman fragment von einem solchen sprechen kann – zu der Einsicht, die Schreibarbeit, das Kopieren sei doch das, wobei man bleiben könne.21 Darüber hinaus fühlt man sich bei Okopenkos Schilderung an das klägliche Ende von Bouvards und Pécuchets Destillationsversuchen erinnert. Im zweiten Kapitel mißglückt den beiden die Herstellung der ›Bouvraine‹, ihres ›edlen‹ Likörs: Plötzlich zersprang das Destilliergefäß mit dem Knall einer Granate in tausend Stücke, die bis an die Decke spritzten, die Töpfe durchlöcherten, die Schaumlöffel platt schlugen, die Gläser zerschmetterten; Kohlensplitter flogen durch die Gegend, der Ofen war kaputt – und am nächsten Tag fand Germaine im Hof ein Rührscheit. Der Dampfdruck hatte das Gerät zum Platzen gebracht, um so mehr, weil der Helm des Destillierkolbens zugeschraubt war. Pécuchet hatte sich sofort hinter den Bottich gekauert und Bouvard sich wie vernichtet auf einen Hocker fallen lassen. Zehn Minuten lang harrten sie in dieser Stellung aus und trauten sich nicht, die geringste Bewegung zu machen, bleich vor Schrecken, umgeben von Scherben.22
Das Mißgeschick führt die beiden Leidgeprüften, von denen Okopenkos ver schrammter Leser-Clown gar nicht so weit entfernt zu sein scheint, wieder zurück ins Archiv. Von dort aus stürzen sich ins nächste Fachgebiet … Die Filiationen der ›Wanderjahre‹ sind also zwar vielfältig, Bezüge zu ihnen sind in mehrerer Hinsicht vorhanden. Doch die bis hierher aufgeführten Texte haben eine Gemeinsamkeit. Sie bleiben entweder bei Zitaten aus den ›Wander jahren‹ bzw. der Nennung des Romans stehen oder betonen, wie Okopenkos Text, das Archiv so konsequent, daß die vermittelnde und die Genese reflektierende Instanz und damit auch die Archivfiktion nicht mehr nachweisbar ist.
21 So Flaubert in Notizen zu einem Entwurf über den Fortgang und das Ende des Texts: »Eine gute Idee, von jedem insgeheim gehegt. Sie verbergen sie voreinander. – Von Zeit zu Zeit lä cheln sie, wenn sie daran denken; – dann offenbaren sie sich gleichzeitig: kopieren. […] Kauf von Eintragbüchern – und Utensilien, Sandarak, Radiermesser etc. Sie machen sich an die Arbeit.« (Flaubert: Bouvard und Pécuchet, S. 351 f.). 22 Flaubert: Bouvard und Pécuchet, S. 66 f.
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Eine genauere Betrachtung verdient vor diesem Hintergrund Jakob Wassermanns Text ›Etzel Andergast‹ (1931). Wie die sich anschließende – wenn auch notwendigerweise kursorisch bleibende – Lektüre des Texts vor der Folie des erarbeiteten Verständnisses des Archivromans zeigt, ›ist‹ auch er kein solcher, jedoch kommt er dem Konzept beachtlich nahe.23 Im ›Etzel Andergast‹ tauchen Sammlungen, Haufen, eine Aufhäufung, ein Magazin,24 Aufzählungen, Listen und Rubriken auf, d. h. der Text beschäftigt sich mit den Themen Pluralität, Sammlung und Ordnung(-en). Besonders deut lich macht das folgende Passage, die ein Aus-den-Fugen-Geraten des Lebens beschreibt, als dessen mögliches Resultat die bedrohliche Unordnung des Haufens antizipiert wird. Zur Illustration dieses Gedankens zieht der Text als Vergleichspunkt interessanterweise die Textgattung des Dramas heran, der er wohl ein Höchstmaß an Struktur und Ordnung unterstellt. Er zeigt, wie selbst ein durch die Gattungstradition in seinen Formen anscheinend gesichertes Stück in ein heilloses Durcheinander umzuschlagen vermag: Dadurch [durch die Krankheit der Figur Irlen] hörte das Leben auf, ein Gefüge zu sein, es zerstückte sich in eine Summe einzelner Sekunden und Augenblicke, als wären sämtliche Buchstaben eines Dramas durcheinander geschüttelt und man hätte an Stelle einer geistbe stimmten Form einen Haufen von hunderttausend Alphabeten vor sich.25
Eine andere Figur greift, um sich ihren möglichen Niedergang auszumalen, dezi diert auf die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ zurück.26 Irlen hingegen, einer der ›Helden‹ des Texts, begibt sich sprachlich auf das Feld von Zerstreuung und Sammlung bzw. Gruppierung. Er schneidet sogar Goethesche Terminologie an, indem er auf ›Wahlverwandte‹ zu sprechen kommt.27
23 Skizzenhaft muß die Betrachtung auch deswegen bleiben, weil die definitionsgemäß gefor derte Historisierung des Archivbegriffs für die Entstehungszeit des Texts in einem Ausblick nicht geleistet werden kann. 24 Etzel sei, so der Erzähler, bemüht gewesen, »ein wenig Ordnung in sein Inneres zu brin gen. Es war sehr notwendig. Es sah aus da drin wie in einem Magazin vor einer Versteigerung.« (Wassermann, Jakob: Etzel Andergast. München 1988. S. 403). 25 Wassermann: Etzel Andergast, S. 101. 26 »Wenn es noch ein paar Jahre so fortgeht, sagte sie [Marie] sich manchmal, bin ich mit vierzig ein schrulliges Original aus einem Roman von Dickens.« (Wassermann: Etzel Andergast, S. 311). 27 Er sammelt einen Kreis junger Menschen um sich, »alle diese Leute lebten da und dort ver streut, trafen einander da und dort, in zwanglosen Gruppen, als geistige Wahlverwandte.« (Wassermann: Etzel Andergast, S. 120). Wassermann hat auch einen Text mit dem Titel ›Der Mann von vierzig Jahren‹ (1913) verfaßt …
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Weiter reflektiert der Text die Bedrohlichkeit des Überbordens einer Stoff menge. Was Etzel Andergast widerfährt, ähnelt der Lesetechnik von Bouvard und Pécuchet. Er glaubt, eine Wissenschaft nach der anderen durcharbeiten zu können, versinkt dabei aber in der Überfülle des Materials, um schließlich inmit ten seiner Exzerpte der Orientierungslosigkeit anheimzufallen: Er liest und liest, in brennenden Nächten ohne Schlaf. Aber da verdurstet das lebendige Sein in Meinung und Deutung, der Geist der Bejahung schreit hü, der Geist der Verneinung hott, der Wagen, an dem sie ziehen, rührt sich nicht vom Fleck. Er treibt Philosophie, Reli gionsgeschichte, Sozialwissenschaft, lernt und lernt, häuft Berge von Notizen an, gewinnt keinen Überblick, verirrt sich im Gestrüpp. Er stürzt sich in die Biologie, ungeheures Feld […]. Wo aber ist die Aufgabe? Wie soll er das Gemeinsame fassen […]?28
Etzel Andergast scheitert daran, den Einzelteilen ein ihnen übergeordnetes, sie integrierendes Ganzes entgegenzustellen. Zudem läßt der Text seine Figuren auch Reflexionen über Sprache anstellen. Der Arzt Kerkhoven etwa zweifelt vor einem Kollegen nicht nur an seiner eigenen Arbeit, sondern ebenso an der sie flankierenden Fachterminologie: Es ist da ein Punkt … Bisweilen will mir scheinen, daß wir durch zuviel Behandlung sündi gen. Durch all das Zugeben und Nachgeben, Zuhören und Verstehen. Das Harte wird auf geweicht, das Verschlossene gesprengt, die Tiefe entgeheimnist. Die Terminologie, die wir erfunden haben, vergewaltigt unser Urteil und unser Auge.29
Kerkhoven beschließt seine Ausführungen mit dem auffälligen Satz: »Ich kämpfe gegen eine Hydra, der hundert Köpfe nachwachsen, wo ich einen abgeschlagen habe.« – Erneut eine terminologische Überschneidung mit Goethe.30 Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß der Text Ordnung und Unordnung auf der Figurenebene wiederholt durchdenkt und gar chiastisch verschränkt. Die Figuren rekurrieren auf Ordnungsideen, um sich gegenseitig zu charakteri
28 Wassermann: Etzel Andergast, S. 335. 29 Wassermann: Etzel Andergast, S. 423. Hervorhebung: M. B. Vgl. Goethes briefliche Äußerung an Zelter vom 26. Juli 1828 über den ›Faust II‹. Dort findet sich eine ähnlich abgelegene Variante des Begriffes ›Geheimnis‹: »Wenn dies Ding nicht fortgesetzt auf einen übermütigen Zustand hindeutet, wenn es den Leser nicht auch nötigt, sich über sich selbst hinauszumuten, so ist es nichts wert. Bis jetzt, denk ich, hat ein guter Kopf und Sinn schon zu tun, wenn er sich will zum Herrn machen von allem dem[,] was da hineingeheimnisset ist.« (Goethe: Briefe der Jahre 1821–1832. München 1988, S. 292. Hervorhebung: M. B.). 30 Wassermann: Etzel Andergast, S. 424. Vgl. Goethes Rede von der »millionenfachen Hydra der Empirie« (Brief an Schiller vom 17. August 1797. In: Schiller/Goethe: Briefwechsel. Band 1, S. 449).
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sieren. So mutmaßt beispielsweise Kerkhoven über Andergasts Studentenbude, die bestimmt »eine kleine Nervenhölle« sei: »etwas vom Etzelwesen und vom Etzelgesicht mußte sich doch darin spiegeln. Und so war es auch. Mischung von achtlosem Durcheinander und peinlichster Ordnung.«31 Andersherum themati siert auch Andergast Ordnung, um seinen Antagonisten Kerkhoven (er-)faßbar zu machen. Nachdem er dessen innere Organisation bewundernd umschrieben hat, weist er sie vor Kerkhovens Frau Marie als überholt aus. Er schaltet seinen Mentor als Nebenbuhler unkaschiert nebenbei aus, indem er ihn als einen solitär dastehenden Anachronismus klassifiziert: In seinem [Kerkhovens] Kopf ist eine Ordnung wie in einem Planetarium. Fehlerlos. Alles auf dem richtigen Platz. Alles in seiner Folge und seinem Rang. Wo gibt es das noch? Es kommt nicht mehr vor.32
Der Erzähler wiederum schreibt Andergast einen »bauernhafte[n] Trieb zur Ordnung« zu.33 Ebendieser Erzähler gibt über den Text verteilt immer wieder Kommentare en parenthèse von sich. Dem Redaktor aus den ›Wanderjahren‹ ver gleichbar äußert er sich über die (Nicht-)Darstellbarkeit von Geschehenem, weist auf eine »Lücke [hin], die noch auszufüllen ist«34 und kommt auf die notwen dige Auswahl von Begebenheiten zu sprechen. Darüber hinaus schaltet er einmal in der Manier des Redaktors der ›Wanderjahre‹ ein ›Blatt‹ ein; fast hört es sich an, als handle es sich um einen Partikel aus Makaries Archiv. Selbst die Themen passen dazu; es geht um Mathematik, Astronomie und den Vergleich des Weltalls mit dem Menschen.35
31 Beide Zitate: Wassermann: Etzel Andergast, S. 411. 32 Wassermann: Etzel Andergast, S. 496. Vgl. Goethes Äußerung über die ›Lokulamente‹ und ›Fächer‹ in seinem Kopf im Zusammenhang mit Alexander von Humboldts Schriften. 33 Wassermann: Etzel Andergast, S. 553. 34 Wassermann: Etzel Andergast, S. 489. 35 Etzel findet unter Kerkhovens Papieren ein Blatt folgenden Inhalts: »›Menschen sind wie Sterne, bewegen sich in vorgeschriebenen Bahnen wie Sterne. Die Astronomie lehrt, Sternen bahnen zu berechnen. Ähnlich könnte ich mir eine Mathematik der Schicksale und der mensch lichen Handlungen denken. Immer kreisen um einen Zentralkörper Planeten, um den Planeten die Trabanten. Asteroiden geistern wild durch die Systeme, Meteore durchbrechen zigeunerisch die Ordnung. Die Frage ist: Wo bist du gebunden? Wo bindest du? Gibst du Licht, oder borgst du Licht? Davon hängt der Rang ab, den du einnimmst. Es ist das Bestimmende.‹« (Wassermann: Etzel Andergast, S. 467).
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Daß im Text in unterschiedlichen Kontexten die Begriffe »Sandkarren«,36 »Sandkorn«37 und »Sand«38 fallen, muß man zunächst nicht unbedingt als Hinweis auf die Formlosigkeit des Aggregats lesen. Eine Bemerkung des Erzäh lers zur Form seines Buchs und zu seiner Erzähltechnik jedoch zitiert erstaunli cherweise genau das Bild des Sandhaufens, um eine drohende Ordnungslosigkeit zu illustrieren: Ich muß mich hier auf das Notwendigste beschränken. Wollte ich bei jeder Station dieses Rekognoszierungsganges verweilen, so würde dieses Buch formlos wie ein Sandhaufen werden und aufhören, der Spiegel zu sein, als den ich es geträumt habe.39
Auch Neuhaus’ Archivfiktion scheint sich im ›Etzel Andergast‹ nachweisen zu lassen, denn das vorliegende Material (etwa Briefe), aus dem der Roman ent steht, wird explizit genannt. Zum Archivroman ›fehlt‹ ihm jedoch der ganze Cluster ›Archivalisches Schreiben‹, d. h. die formale Anlehnung des Texts an ein Archiv. ›Etzel Andergast‹ ist unübersehbar auf eine stringente Kausalmotivation ausgerichtet, ein Umstellen des Texts ist nicht möglich, ohne sein ›Funktionieren‹ schwerwiegend zu beeinträchtigen. Obwohl er aus dem 20. Jahrhundert stammt, wirkt es, als orientiere sich Wassermanns Text ›brav‹ an der aus Blanckenburgs Sicht für einen Roman konstitutiven ›Kette von Ursach und Wirkung‹. Insofern ist er, ähnlich wie ›Bouvard et Pécuchet‹, erzählerisch weit weniger innovativ als Goethes Archivroman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden‹.
36 Wassermann: Etzel Andergast, S. 60. 37 Wassermann: Etzel Andergast, S. 456. 38 Wassermann: Etzel Andergast, S. 125. 39 Wassermann: Etzel Andergast, S. 441. Das Aggregat findet im Text sogar Erwähnung, wenn auch als Aggregatzustand. Der Begriff wird explizit im Kontext der Anhäufung eines unermeßli chen Stoffes und der Analyse herangezogen (vgl. Wassermann: Etzel Andergast, S. 281).
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Abbildungsnachweis: Abb. 1: Die Keyserliche Bibliothec. Ausschnitt aus: Zedelmaier, Helmut: Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkasten. In: Pompe, Hedwig und Leander Scholz (Hgg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln 2002. S. 38–53. Hier: S. 39.
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XVII. Register 1. Stichwortregister Abbildungsproblem 267 Abenteuerroman 154 Accumulatio 144 Acerra Philologica 128 Aderlaß 129, 130 Aggregat 2, 5, 7, 9, 22, 49–69, 71–74, 76–78, 80, 90, 92, 100, 103–105, 107–110, 112, 118, 131, 147, 163 f., 185–187, 198, 243, 249, 256, 263, 265, 269, 271, 276 f., 279, 287 Aggregatbegriff 62, 65, 78, 104 Aggregatio 53 Aggregation 51 f., 57 f., 61, 63 f., 76–78, 167 Aggregatkonzept 2, 67 Aggregatskonzeption 65 Aggregatsteilchen 131 Aggregatverständnis 55, 57, 60, 65–67, 69, 185 Aggregatzustand 5, 9, 119, 287 Akkumulation 169 Allegorie 58, 72 Amerika 126 Anatom 166, 172 Anhäufung 5, 39, 64, 75 f., 100, 109, 111, 136, 145–147, 167, 287 Anlage 126, 256 Anordnungsmodus 131, 261 Anordnungsmöglichkeit 149 Anschlußfähigkeit 19, 69 Anthropomorphisierung 121, 210, 256 Aphorismensammlung 224, 227, 253 Äquivalenzstruktur 30, 33 Arché 30, 179, 243 Archivalisches Erzählen 196, 206, 214, 257 Archivalisches Schreiben 196, 214, 218, 253, 257, 265, 287 Archivanalyse 26 Archivartigkeit des Texts 79 Archivästhetik 272 Archivdiskurs 13, 47 Archivexistenz 8
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Archivfiktion 9, 10, 12–16, 20, 101, 112, 204, 221 f., 232, 235, 251, 257, 264, 283, 287 Archivgedanke 223 Archividee 50 Archivierung paraphrastische 240 Archivierungsart 13, 37 Archivierungsmethode 194 Archivierungsmodus 37 Archivierungsphantasie 125 Archivierungssorte 37 Archivierungsspleen 5 Archivierungstechnik 48, 101, 260 Archivierungsverständnis 44 Archivkonzept 2, 9, 13, 22 Archivkonzeption 27 Archivmetaphorik 40, 209 Archivpoetik 17, 18 Archivpolitik 14 Archivroman 3, 9, 13–16, 21 f., 72, 147, 255, 257–259, 262–265, 267, 272, 276–278, 281, 284, 287 Archivterminologie 40, 104, 255 Archivtheorie 2, 20, 26 Archivverständnis 3, 22, 24 f., 30 f., 33, 41, 49, 78, 110, 115, 124, 232, 264 Archivwissenschaft 23 Archont 46 Arztbesteck 59 Astronom 126, 128, 155, 191 f., 226 Astronomie 286 Aufbewahrungsmodus 173 Aufbewahrungsort 173 Aufbewahrungstheorie 42 Aufklärung 19, 90 Aufzählung 50, 62, 71, 75, 97–99, 101, 110, 112, 115, 122, 124, 129, 131, 133, 135–160, 163 f., 168, 229, 255, 264, 281, 284 Aufzählungsraum 148 Ausbildungsroman 130
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Auslassung 104, 112 Auswahlkriterium 130 Auswandererbund 146, 156 Auswandererrede 96 Auswanderungsbund 116 Autopsie 189 Autorposition 94 Autorschaft 122, 187, 253 kollektive 196 unverbürgte 94 wandernde 94 Autorschaftskonzept 122, 257 Banane 47 Baukasten 153 f. Baukastenprinzip 135 Baumetapher 248 Beglaubigungsfunktion 24 Beschreibungsmodus 145 Bevorratungswahn 177 Beziehungsvermeidung 2, 68, 72 Bibliothek 23, 35 f., 38 f., 46 f., 49, 171, 178, 255, 268, 275 Bildungsziel 129 Bouvraine 283 Breccie 61 Briefoptimismus 154 f. Briefpessimismus 155 Briefroman 12, 14 f. Bücherschatz 38 Bündel 103 f. Chaos 74–76 Co-Autor 253 Comic-Strip 143 Consignation 176 Darstellungsproblem 151, 259, 269 Datenbank 26, 27, 33 Datenexplosion 19 Datenlöschung 34 Datenmenge 180 Datenträger 30 Deformationsinszenierung 66 Dekonstruktion 30 Dekontextualisierung 96 Depositenkammer 125
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Stichwortregister
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Depositenkasten 125 Deutungsfreiräume 242 Dichtung des Plunders 281 Digitalisierung 33 Digression 164, 217 f. Dilemma 110 Diskurs 29 f., 33, 61, 193 Diskursanalyse 17 Diskursangebot 187 Diskursbegriff 29 Diskursbündel 51 Diskurs der Menge 59 Diskurswechsel 65 Disparatheit 4, 73, 114, 118 f., 256, 263, 265 Disparatheitsbegehren 135 Dissemination 192 Ebenbild Gottes 274 effet de réel 158 Einbildungskraft 85, 87, 89–92, 99, 124, 127, 132, 150, 154, 216, 223 Einseitigkeit 1 Einzelnheit 7, 69 Einzelnheiten 74, 114, 118, 172, 270, 282 Ekel 125, 172 Emotion 103 f., 139 f. Empfindsamkeit 92 Entsagen 268 Entsagung 1, 196 Entwicklungsroman 272 Enzyklopädie 35, 49, 258–264, 283 literarische 258 Enzyklopädisches Erzählen 255, 257–260, 262–264 Enzyklopädismus 262 Enzyklopädist 258 Epigenese 64 Epopöe, bürgerliche 268 Erinnye 200 Erkenntniskritik 230 Erzählen archivalisches 110 enzyklopädisches 112, 153 modernes 19 multiperspektivisches 14–16 Erzähler 67 Erzählhaltung 15
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Register
Erzählinstanz 3, 7, 10 f., 18, 218, 222, 260 Erzählökonomie 157 Erzählprinzip 6, 100 Erzählte Archive 131, 173, 256 Erzähltechnik 287 Erzählverfahren 154 Ethik der Liste 162 Europa 145 Evidenz 16, 24 f., 124, 126, 130, 192, 210 Evidenzdilemma 212 Evolution 64 Experiment 69, 186, 276, 283
Harmonie und Wohlklang 74 Haufen 51, 53, 56, 58, 65, 75–77, 167, 171, 249, 263, 284 Haufendiskurs 59, 76 Häufung 74 f., 131, 144, 163, 272, 277 Haufwerk 53, 72 Heilige Schrift 166 Herausgeberfiktion 235 Herausgeberroman 196 Himalaja 120 Hydra 285 Hypochondrist 161
Fabulierfreude 144 Faszikel 25, 101–104, 107, 218 Faszination 81, 103, 196 Faszinosum 103, 111 Filiation 127 Findebuch 128 Fischerjunge 129, 133 Fischerknabe 129 Fischerknabenepisode 141 f., 165, 167 Folge 99, 133–135 Formbedrohung 77, 249 Formierung 5, 73, 77 Formlosigkeit 19, 65, 249, 265, 287 Formprinzip 10, 12, 17, 64 Formschlamperei 279 Formulare des Erzählens 153 Forschungsethik 231 Fragmentarische 24 Fragmenthaftigkeit 19, 25 Furie 199 f. Ganzheitsbegehren 181 Ganzheitsinszenierung 72 Gattungstradition 284 Gehäuftes 70 Geheimarchiv 46 Gelegenheitsgedicht 245 Genealogie 133 Geniegedanke 253 Gerümpelkammer 38 f. Gestaltungsprinzip 83 Gestaltungsproblem 58 Gesteinskunde 105 Gewissensdiätetik 150
Idealbesetzung 152 Imagination 90, 103, 197, 270 Imaginationskraft 230 Informationsdosierung 9 Informationsmangel 81, 84, 104 Informationspolitik 79 Informationspraxis 9 Informationsverweigerung 84 Interpretationsmasche 13 Interpretationsspielraum 97 Inventar 152, 154 Irrtum 178, 184 Italiensehnsucht 142
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Kalkstein 61 Kalligraphie 195 Kalokagathie 195 Kammermädchen 211 f. Kanzlei 88, 102, 121, 256 Kassation 34 Kassenzettel 34 Kästchen 37, 96, 97, 125 f., 128, 171, 190, 280 Katzenerz 106 Katzenglas 106 Katzenglaube 106 Katzenglimmer 106 Katzengold 105–107, 117, 280 Katzenkorn 106 Katzenminze 106 Katzenpeterlein 106 Kausalmotivation 287 Kognition 139 f. Kollektiv 6, 9
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Kollektivwesen 228 Komik 82 Kommunikation fehlgeleitete 78 verweigerte 78 f. Kommunikationslosigkeit 82 Kommunikationslust 268 Kommunikationsmodell 93 Kompatibilität 19 Konglomerat 61 Konsignation 30, 247 Konstruktionsprinzip 119, 153 literarisches 2 Kontignation 156, 247–249, 256, 265 Kontingenz 17, 44, 109, 187, 211, 217 f., 259 Kontingenzinszenierung 66 Kontingenzsystem 66 Konzipient 101 Kreuzsymbol 248 Krystallisation 64 Kulturpoetik 22, 26, 31, 35, 49, 51 Kunstideal, klassisches 67 Kunstkammer 37 Kunstwort 64 Lago Maggiore 12, 134, 141, 161, 212, 216, 218, 223 Leben 7, 66, 92, 126, 132, 170, 176, 239, 269, 271–273, 275, 284 Lebendiges 269, 271 f. Lebendigkeit 119, 272 Lebendigwerden 183 Lebensfuge 240, 245, 249 Lebensquell 241 Lebenstüchtigkeit 272 Leerstelle 63, 72, 96 f., 104, 183, 197 f., 215, 219, 250, 257, 270, 271 Legitimationsstrategie 25 Legitimationsverfahren 129 Lehrbrief 223, 226 Lektüreeffekt 152 Leseexperiment 186 Lesegeschwindigkeit 130 Leser-Clown 283 Lexemautonomie 157, 265 Lexikon 281, 282 Lexikon-Roman 282
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Stichwortregister
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Liebesdiskurs 140 Liste 36, 101, 112, 124, 131, 137, 158–164, 181, 188, 255, 264, 268, 284 Listenethik 162 Listenlogik 163 Logik der Liste 163 Lokulament 40, 120 Lücke 7, 67, 76, 79, 91 f., 97, 100, 105, 109, 123, 163, 183, 185 f., 198 f., 208 f., 211, 215 f., 218, 234, 257, 271–273, 286 Lückenhaftes 73, 78, 250 Lückenhaftigkeit 206, 216, 281 Lückenlosigkeit 67 Lusthebel 106, 161 Lustspiel 85 Lustspielcharakter 81 Lustspielhaftes 80 Machtdispositiv 34 Machtfrage 25, 30 f. Machtinstrument 31 Machtmechanismus 32 Magazin 173, 176–179, 182, 185, 187, 243, 256, 265, 281, 284 Mannigfaltiges 55, 70, 182, 211 Mannigfaltigkeit 59, 67, 112, 157, 178, 255 Mannigfaltigsten 227 Marginalie 47, 51, 179 Mäßigung 262 Mathematik 225, 286 Mathematiker 78, 126 Mauerschau 156 f. Medienwechsel 35, 194 Meiler 59 Menschenversuch 276 Metamorphose 60 Methode de Bascule 70 Mimesisfrage 267 Mimikry 257, 260, 275 Minimalordnung 109, 263 Misthaufen 166 f., 256 Moderne 19, 122, 164 klassische 157, 259, 265 Modernität 19, 158 Monolog 84–88, 93, 117 Muggengarn 193, 222 Multiperspektivik 123
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Register
Museum 38, 40, 47, 57, 166, 168, 171, 178, 258, 275 Nachlaß 45, 180, 236–238, 277 Narkotisierung 29 Narratio interrupta 100 Narration 123, 145, 156, 162, 182, 215, 259 Narrationsmuster 154 Narrenspektakel 71 natura vexata 230 Nebeneinander 4, 32, 62 f., 100 f., 105, 135 Nebeneinanderstehen 37, 104, 106, 163, 223, 227, 243, 259, 263, 265 Phänomen des 37 Negation 92, 270 New Historicism 77 Nonlinearität 48, 265 Novellendefinition 84 Nudelsuppe 279 Objektbereich Text 31 Oheimbezirk 5, 132, 143, 150, 172, 173, 268 Okkurrenz 33, 117 Ordnung 2 f., 34, 43–46, 48, 55 f., 71, 77, 99–101, 107, 110, 125 f., 133, 137, 139, 141, 167, 186, 193, 217, 235, 238 f., 243 f., 249, 256, 268, 281, 284–286 Ordnungsbegehren 191 Ordnungsbetrag 71 Ordnungsexperiment 110 Ordnungsfiguration 243 Ordnungsfunktion 17 Ordnungsgedanke 262 Ordnungsgrad 163 Ordnungshoheit 263 Ordnungsidee 119, 211, 248, 256, 263, 285 Ordnungsinstrument 116, 123 Ordnungskonzept 9, 178 Ordnungslosigkeit 135, 287 Ordnungsmedium 263 Ordnungsmodus 3, 135, 256, 263, 276 Ordnungsmuster 5, 45, 136 Ordnungsparadigma 187 Ordnungsphantasie 2, 117, 177, 247 Ordnungsprinzip 107, 218, 260 Ordnungsschema 173, 196 Ordnungssystem 38, 66, 71, 77, 110, 124 Ordnungsterminus 156
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Organisation 130 Organisationsform 131 Organisationskonzept 261 Organisationsprinzip 20 Originalität aus dem Archiv 185 Originalitätstopos 185 Ossarium 244 Pädagogische Provinz 90, 132, 134, 150, 166, 198, 223 Paradigma 27, 158 Paraphrase 98, 148, 171, 195, 205, 222, 223 paraphrastic container 148 Pathologie, narrative 196, 220, 221, 257 Pawlowscher Effekt 142 Personenverzeichnis 152 Plagiat 185, 227 plotting 153 Pluralisierung 68, 94 Pluralität 2, 59, 107, 110–113, 118, 131, 135, 155, 157 f., 164 f., 176, 181, 187, 196, 255, 263, 268, 271, 284 leerlaufende 110 Pluralitätsbefund 180 Pluralitätsbegehren 110 Pluralitätsphänomen 135 Poetik des Unverknüpften 271 Polarität 269 Porphyr 61 Privatarchiv 128 Provenienzprinzip 124 Provokation der Narration 277 Publikationsmedium 236 Publikationspraxis 253 Publikationsstrategie 236 Publikationsverfahren 235 Pyrit 106 Quecksilber 114, 117–119, 126, 183, 256, 265, 282 Quecksilberkugel 118 Quecksilberkügelchen 118 Quecksilbermetapher 115, 117, 213 Querverbindung 159 Querverweis 261, 262
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Randdiskurs 20 Raritätenkabinett 37 Raritätensammlung 36 Redaktor 6, 10–12, 14, 16–19, 50, 59, 70, 94–96, 99–101, 109, 115 f., 122, 128, 134, 145, 151 f., 161 f., 176, 192 f., 196, 198–207, 209 f., 212–214, 217 f., 222, 257, 260, 286 Redaktorfigur 115 Redaktorinstanz 11 Reflexion auf Sprache 269 Regenbogen 62 Regest 97, 98 Registratur 23 Reihe 37, 68, 72, 76, 97–101, 110, 112, 131–135, 163 f., 180, 224, 244, 252, 255, 259, 264 Reihenbildung 68, 163 Reihung 122, 131 Reisebericht 98 Reisebeschreibung 99 Reiseerzählung 98 Reliabilität 24, 124 Reorganisation 44, 45, 259 Repositur 45, 101, 102 Repräsentationsproblem 261 Rezept 140, 153 Rezeptionstheorie 186 Roman historischer 152 moderner 164 Romanenzyklopädie 260 Romanfragment 283 Romaninventar 152 Romanpersonal 152 Romantheorie 273 Romantik 19, 273 Rubrik 16, 25, 40, 45, 56, 98, 101 f., 121, 126, 182, 208 f., 284 Rutenbündel 103 Sachprosa 10, 11 Sammelstrategie 6 Sammelsurium 18, 98, 279 Sammeltheorie 164 Sammlung 9, 17, 19, 22 f., 25 f., 32 f., 35–39, 42–44, 47, 49 f., 56, 64, 69, 71,
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Stichwortregister
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91, 97–101, 107, 110–112, 121 f., 124, 131, 147, 150, 164–177, 180, 183, 187, 190, 198, 223, 226–228, 237, 254–256, 264, 268, 276, 281, 284 Sammlungsmodus 124 Sammlungsorganisation 44, 185 Sammlungsort 174 Sammlungsraum 39, 269 Sammlungsverständnis 44, 268 Sand 53, 64, 76, 249, 287 Sandarak 283 Sandhaufen 63–66, 78, 186, 287 Sandkarren 287 Sandkorn 64, 287 Sandstein 61 Sattelzeit 8 Scharnier 249, 250 Schatzkammer 36, 38 f. Schatzkästlein 125 Schaukel 70, 146 Schaukelei 70, 161 Schaukelrad 70, 161 Schaukelsystem 70, 145 Scheingenauigkeit 112, 140 Schmuckschatulle 126 Schreibautomat 193 Schreibgeschwindigkeit 130 Schwanken 3, 70 f., 77, 110, 145, 148, 185, 263 Schwebe 72 Schweben 70, 218, 242, 262 Schwebendes 34 Schwebezustand 43, 77 Segmentierung 136 Selbstanordnungskraft 265 Selbstgespräch 86, 88, 93 Selektion 33, 35, 158, 191, 199, 201, 204, 209, 264 Selektionskriterium 34 Selektionslogik, gelockerte 158 Semiose 27, 265, 274 Serialisierung 68 Signifikant 146 f., 270 Signifikat 146 f. Spannung 153 Speicherung, neutrale 25 Speisekarte 173, 175 f., 256
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Register
Spinnerei 146 Sprachmodus 84 Sprachproblem 252, 267 Sprachreflexion 146, 261 Sprachskepsis 8, 183 Spruchsammlung 4, 13, 20, 25, 48, 50, 67, 122, 127, 176 f., 203, 223 f., 226–228, 236, 238, 251 Spur 34 Stapelstadt 136 Sternenall 128 Straußkranz 103 Strukturidee 112 Strukturmerkmal 113 Strukturmodell 9 Strukturprinzip 109 Subjektdenken 272 Subjektlosigkeit 272 Subtext, medialer 18 Summe 27 f., 33, 38, 49, 53, 58, 62, 65, 138, 142, 149 f., 262, 284 Summierung 150 f. Summierungsimpetus 148 Symbol 58, 275 Symbolbegriff 75 Symboldiskussion 72 Symbolik 252 Syntagma 27, 158 Synthese 63, 65 Tableaux 134, 143 Tabulettkrämer 152 Teichoskopie 156 temperentia 262 terra incognita 100 Terzine 240, 242 Textgattung 154 Textkorpus 237 Textlücke 199 Textorganisation 12 Textsammlung 220 Textspeicher 238 Textstrategie 271 Topos der Ordnung 238 Totalität 11 Totalitätsbegehren 17 Transsubstantiation 120
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Traum von der Unendlichkeit 275 Trivialliteratur 153 Trödelladen 71 Trümmerhaufen 65 Turmgesellschaft 101, 202 Unabschließbarkeit 69 Undsoweiter 160 Unendlich 27, 243 Unendliches 133, 273–275 Unendlichkeit 69, 160, 221, 266, 273–275 Unendlichkeitsbegehren 275 Unordnung 2, 43, 51, 71, 169, 218, 263, 265, 281, 284 f. Unordnungshaus 243 Unschärfe 161 Unschärfefaktor 110, 150 Unterbrechung 100 f., 217 f. Unverbundenes 72, 104 Unverknüpftes 66, 72, 81, 97, 104 f., 107, 216, 250, 260, 271, 273 Vacuo 62 f. Vakuum 63 Venus 155 Verlebendigung von Ordnung 71 Versuch 69 Vielfalt 110, 255 Vielheit 69, 75, 109, 113, 165, 183, 202, 265 Vielzahl 69, 75, 112 f., 131, 162 f., 177 Vollkommenheitsästhetik 71 Vollkommenheitsbegehren 180 Vollkommenheitsdiskurs 67 Vollständigkeitsimpetus 148 Volltext-Datenbank 26, 32 Vorrat 173, 177, 256 Wahlverwandte 284 Wandern 1, 130, 209 Weberstube 146 Werkbegriff 67, 122 Wildheuer 212 f. Wissensanordnung 20 Wissensbestand 20, 260 Wissensdispositiv 31 Wissenskonglomerat 280 Wissensstruktur 20
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Wundarzt 129, 130 Wundarztbesteck 204 Zahlenexzeß 112 Zeichen 269, 270 Zeichensprache 270 Zentralfigur 51
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Stichwortregister
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Zerstreuung 147, 156, 164, 183, 190, 193, 284 Zettelkasten 35–37, 229, 265 Zitationspraktik 148 Zitrone 142 Zitronenlied 222, 223 Zwischenraum 62 f., 65, 67, 73, 77, 99–101
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Register
2. Namen-/Werkverzeichnis Adelung, Johann Christoph 38, 53, 65, 75, 88, 102, 106, 117 f., 159, 178, 179 Adolf 133, 182 Adorno, Theodor Wiesengrund 12 Aischylos 200 Alfieri, Vittorio 88, 229 Ananette 211, 212 Andergast, Etzel 285, 286 Angela 114 f., 117 f., 126, 128, 183, 191–193, 213, 216, 256, 282 Antoni 74, 85 f., 89, 99, 117, 155 f. Ariost, Ludovico 279 Orlando Furioso 279 Aristoteles 60, 229 Arnim, Achim von 89, 280 Wunder über Wunder 89, 280 Assmann, Aleïda 165 Augustinus, Aurelius 96 Confessiones 96 Azzouni, Safia 6, 7, 9, 12, 18 f., 111, 123, 126, 191, 205, 244, 269 Bachmaier, Helmut 262 Bacon, Francis 230 Bahr, Ehrhard 13–15, 19 f., 48, 80, 208, 219 f., 267, 268 Balke, Friedrich 261 Barthes, Roland 158 Baßler, Moritz 21 f., 26 f., 29–35, 47–51, 56, 71, 77 f., 107, 122, 157, 173, 265 Beccaria, Caesare 229 Benjamin, Walter 31, 39, 137, 170 f., 175, 189, 190, 277 Berndt, Frauke 58 Bischof von Laodicea 229 Blanckenburg, Friedrich von 53, 67, 261, 273, 276, 287 Blasche, Siegfried 60 Blechschmidt, Stefan 7–9, 23 Bloch, Ernst 80 Blumenbach, Johann Friedrich 61 Boettger, Johann Gottlieb 59 Boisserée, Sulpiz 42, 253, 279 Bouvard 152, 260, 262, 283, 285
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Brandenstein, Graf 85, 279 Brecht, Christoph 112, 142, 152–154, 157, 257–260, 262, 265 Bredekamp, Horst 37 Brentano, Clemens 137 Gustav Wasa 137 Breuer, Ulrich 6 Brown, Edward 35, 36 Durch Niederland/Teutschland/ Hungarn/Serbien/Bulgarien/ Macedonien/Thessalien/ Oesterreich/Steirmarck/Kaernthen/ Carniolen/Friiaul etc. [!] gethane gantz sonderbare Reysen 35 Buffon, Georges Louis Leclerc Comte de 39 f. Les Epoques de la Nature 40 Bunzel, Wolfgang 14, 187, 233, 234, 277, 279 Byron, Lord 88, 229 Cahn, Michael 130 Calderon de la Barca, Pedro 229 Celan, Paul 249 Todesfuge 249 Cotta, Johann Friedrich 137, 180, 234, 254, 277 Taschenbuch für Damen 233 f. Curtius, Ernst Robert 40 D’Alembert, Le Rond Jean 53, 89, 261, 263 Encyclopédie 261, 263 Danneberg, Lutz 65 f. Dante, Alighieri 240 Divina Commedia 240 D’Aurevilly, Jules Barbey 71, 279 Gegen Goethe 71, 279 Derrida, Jacques 21, 27, 30–34, 179, 243, 247, 249 Dickens, Charles 284 Diderot, Denis 53, 89–92, 261, 263 Rêve d’Alembert 91 f. Dilthey, Wilhelm 237 Dotzler, Bernhard J. 75
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Drews, Jörg 131 Drügh, Heinz 58, 73 Düntzer, Heinrich 11, 95, 196, 227, 253 Ebeling, Knut 22, 123, 272 Eckermann, Johann Peter 236, 240, 244 f., 253 f. Eco, Umberto 8, 29, 100, 159 f., 162, 176 Eisler, Rudolf 55 Ernst, Wolfgang 17, 22 f., 28, 34, 38, 45, 60, 64, 127, 189, 215, 243, 245, 250, 272, 277 Eumeniden 199 Eybl, Franz M. 35, 38 Felix 5, 59, 94 f., 105 f., 109, 125, 130, 134, 143 f., 152, 168–170, 247, 256, 274 Filangieri, Gaetano 229 Fink, Gonthier-Louis 12, 51, 71, 94, 214 Fitz 59 Flach, Willy 22, 41 f., 48, 127, 181, 237 Flaubert, Gustave 152 f., 258–262, 282 f. Bouvard et Pécuchet 152, 258–262, 264, 282 f. Flavio 129, 148, 194 f., 199 f. Florine 152 Fohrmann, Jürgen 31 Förster, Eckart 67 Foucault, Michel 17, 21, 27, 28, 29, 30, 31, 34, 267 Friedrich 96, 121, 129, 194, 256 Friedrich der Große 229 Frommann, Carl Friedrich Ernst 136 Fues, Wolfram Malte 153, 219 Gehring, Petra 28 Geiger, Ludwig 279 Genette, Gérard 196, 208, 220 f. Geßner, Salomon 142, 229, 231 Idyllen 142, 229 Geulen, Eva 2, 19, 64, 68–70, 72, 163, 271 Gidion, Heidi 10, 100, 101, 112, 197, 209 Goethe, August von 246 Goethe, Johann Wolfgang von Analyse und Synthese 63 f. Archiv des Dichters und Schriftstellers 42–46
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Namen-/Werkverzeichnis
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Atroismus 64 Aus Makariens Archiv 13, 24, 48, 50, 115, 127, 146, 176, 203, 223 f., 226–228, 236, 253, 286 Betrachtungen im Sinne der Wanderer 13, 48, 50, 177, 224, 226–228, 236 Betrachtung über Morphologie 61 Das nußbraune Mädchen 233 f. Der Lilienstengel 109 Der Mann von funfzig Jahren 81, 108, 123, 129, 132, 140, 148, 153, 171, 176, 193, 196, 199, 205–207, 211, 216, 219, 234, 258, 284 Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt 67–69, 183, 187 Dichtung und Wahrheit 43, 231, 233 Die Absicht wird eingeleitet 272 Die gefährliche Wette 108, 207 Die italienische Reise 223 Die Leiden des jungen Werther 11, 14, 122 Die neue Melusine 108, 168, 176 f., 233, 234 Die pilgernde Törin 82, 108, 140, 144, 213, 233 Die Wahlverwandtschaften 8, 64, 71, 82, 101, 153, 258, 284 Durchgewachsne Nelke 60 Eins und Alles 240, 252 Entwurf einer Farbenlehre 68 Farbenlehre 46 f., 62, 67, 82, 100, 183 f., 186, 225, 248, 267, 269 Faust 12, 17, 275 Faust II 17, 214, 240, 285 Hefte zur Morphologie 6, 272 Im ernsten Beinhaus war’s 13, 20, 45, 232, 235 f., 238, 240–247, 249–252, 254, 274 Kunst und Alterthum 42 f., 46 Lebensbekenntnisse im Auszug 42, 46 Nachträge zur Metamorphose der Pflanzen 70, 272 Nachtrag zu Philostrats Gemälde 75 Nicht zu weit! 134, 152, 217 Propyläen 223 Scheinbare Breccien 61–63, 65 f., 74 Selbstbiographie 42
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Register
St. Joseph der Zweite 82 Studie nach Spinoza 274 Theatralische Sendung 1, 57, 122 Über Laokoon 223 Über Mathematik und deren Mißbrauch 225 Vermächtnis 13, 20, 45, 232, 235–240, 243, 246, 252, 254, 274 Versuch einer Witterungslehre 275 Wer ist der Verräter? 73, 78–85, 93–99, 103–107, 116 f., 126, 132 f., 150, 155, 160, 188 f., 228, 232, 235, 251, 256, 269, 274 Wilhelm Meisters Lehrjahre 1, 5, 51, 108, 121, 128, 221, 223, 226, 232–234, 251 Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821) 85, 95, 96, 107, 187, 206, 211, 219, 232–234, 253, 266, 279 Winckelmann 39 Zur Naturwissenschaft überhaupt 240 Zwischenrede 198, 208–210, 219 Graczyk, Annette 143 Gräf, Hans Gerhard 241 f. Greiner, Bernhard 66 Gretchen 193 Gries, Johann Diederich 136 Griffith, Richard 227 The Koran or Essays, Sentiments, Characters, and Callimachies of Tria Juncta in Uno 227 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoph von 73 Simplicissimus 73 Grimm, Jacob und Wilhelm 52 f., 102, 106 f., 118, 175 f., 178 Groys, Boris 30 f., 181, 275 Günzel, Stephan 22, 30 f., 50, 123, 272 Gutjahr, Ortrud 67 Hadrian 229 Hahnemann, Andy 81 Haller, Albrecht von 142, 229–231 Alpen 142, 229 f. Irritabilitätslehre 230 Hamm, Ernst P. 168–170 Hárs, Endre 111, 229
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Haupt, Gertrud 81–85, 94 Hederich, Benjamin 199 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 248, 267 f. Ästhetik 267 f. Phänomenologie des Geistes 268 Heinz, Jutta 7, 9, 58, 63, 87, 93, 105 f., 114, 116, 154, 212, 219, 229, 260, 271 Herder, Johann Gottfried 111, 229 Adrastea 111, 229 Hersilie 5, 88, 94 f., 121, 125 f., 151–154, 167, 175, 203, 206, 213, 217, 219 Herwig, Henriette 4, 5, 9, 67, 82 f., 85, 87, 93, 94 Hesse, Hermann 18 Hilarie 123, 133, 194, 200, 211, 218, 223 Hippokrates 226 De aëre aquis et locis 226 Peri diaites. To proton 226 Höffe, Otfried 268 Holz, Arno 120 Homann, Johann Baptist 98, 101, 229 Homer 229 Huber, Therese 279 Humboldt, Alexander von 120, 286 Fragments de Géologie 120 Ilgen, Carl David 137 Iser, Wolfgang 72, 112, 197 f., 219 f., 250 Jakobson, Roman 158 Jarno 59, 106, 169 Jauch, Ursula Pia 230 Joseph 140, 155 Julie 84–86, 89, 91–93, 98, 103, 117, 150, 155, 160, 274 Juliette 94, 151, 167, 175 Julius, Albert 227 Kafka, Franz 104 Kant, Immanuel 5, 51, 55–57, 60, 65, 69, 72, 77, 90, 229, 250 Karnick, Manfred 66, 80, 85, 87, 106, 115, 267, 268, 271, 273 Kastor 274 Kleist, Ewald von 142, 229–231 Frühling 142, 229 f.
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Kluge, Friedrich 52, 59, 76, 119, 126, 174, 175 Knigge, Adolph Freiherr von 92 Über den Umgang mit Menschen 92 Konz, Karl Phillip 279 Kräuter, Friedrich Theodor David 45 Krünitz, Johann Georg 136 La Fontaine, Jean de 92 Der verliebte Löwe 92 Lagrange, Joseph Louis de 229 Landfester, Ulrike 249 Lauremberg, Peter 128 Lederer, Max 251 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 90 f. Agenda 91 Lenardo 10, 48, 96, 112, 121, 123, 132, 142, 146 f., 149, 162 f., 166 f., 174, 176 f., 193 f., 216, 220–222, 230, 233 Lenardos Tagebuch 176 Lenz, Jakob Michael Reinhold 136 Lessing, Gotthold Ephraim 225, 229 Leverkühn, Adrian 12, 232 Littell, Jonathan 200 Die Wohlgesinnten 200 Liu, Alan 77 Lobwasser, Ambrosius 229 Loder, Justus Christian 136 Lothario 201 Löwith, Karl 248 Lucidor 73 f., 82, 84–93, 95, 99–104, 116 f., 126, 150, 155 f., 274 Lucinde 74, 82, 84–87, 89, 91 f., 117, 155 f. Lüdemann, Susanne 249 Ludwig der Vierzehnte 188, 229 Luhmann, Niklas 272 Lutz, Bernd 231 Maass, Johann Gebhard Ehrenreich 90 Versuch über die Einbildungskraft 90 Mahoney, Dennis F. 9, 67 Mainberger, Sabine 71, 75 f., 98, 112, 122 f., 133, 137–140, 144, 159 f., 168, 190, 208 f., 228 f. Makarie 94, 114 f., 124, 126, 128, 133 f., 167, 169, 191 f., 194 f., 199, 203, 207, 216, 233 Mann, Golo 80
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Namen-/Werkverzeichnis
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Mann, Thomas 12, 18, 280 Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull 280 Doktor Faustus 12, 18, 279 Marie 155 Martens, Wolfgang 246 Martini, Friedrich Heinrich Wilhelm 178 Marx, Karl 249 Medem, Friedrich Ludwig Baron von 23, 103, 215 f. Über die Stellung und Bedeutung der Archive im Staate 23, 103 Meier, Georg Friedrich 90 Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften 90 Melusine 168 Menninghaus, Winfried 90 Meyer, Johann Heinrich 212 Michelangelo, Buonarroti 189 Michel, Sascha 66, 187, 217, 218 Mignon 222 f., 251, 280 Miklautsch, Lydia 102 Mikoletzky, Hanns Leo 200 Mikoletzky, Lorenz 38 Mittelstraß, Jürgen 60 Mittermüller, Christian 8, 97, 105, 128, 155, 197 Montan 70, 106, 169 f., 192, 194, 201, 204, 226, 256 Moog-Grünewald, Maria 66 Moritz, Karl Philipp 51, 73–77, 178–185, 187, 248 Anton Reiser 73–77 Magazin für Erfahrungsseelenkunde 185, 248 Vorrede zum Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 248 Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde 74, 178–184, 248 Möseneder, Karl 281 Müller, Heinz Günther 242 f., 249 Müller, Kanzler von 52, 225 Müller, Klaus-Detlef 10–12, 19 Muschg, Adolf 4, 64, 67, 115, 153, 214, 217, 219
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Register
Natalie 149, 154 f., 182, 205, 219, 226 Neroulo, Jacovaky Rizo 225 Histoire moderne de la Grèce 225 Neuhaus, Volker 9, 10–20, 112, 202, 232, 235, 257, 264, 287 Neumann, Gerhard 19, 20, 58, 122, 257, 262 Niefanger, Dirk 157, 265 Nußbraune Mädchen 149, 162 f., 216 Odoard 147, 156, 205, 247 Oellers, Norbert 233 Okopenko, Andreas 282 f. Lexikon-Roman 282 Opitz, Martin 77 Oranien, Wilhelm von 188, 229 Orest 129, 199 Ovid (Publius Ovidius Naso) 205 Paul, Jean 16, 217 Siebenkäs 217 Pécuchet 152, 260–262, 283, 285 Penn, William 229 Pestalozzi, Karl 81, 97 Pethes, Nicolas 67 f., 183 f., 186, 276 f. Pfister, Manfred 92 Pfotenhauer, Helmut 72 Philibert, Jean Charles 137 Philippi, Klaus-Peter 252 Dornburg 1828 252 Piper, Andrew 133, 148, 171, 205 Piper, Josef 262 Plato 229 Pleister, Michael 267 Plener, Peter 160 Plinius 40 Plotin 226 Enneaden 226 Pollux 274 Pompe, Hedwig 22 Pongs, Hermann 88 Pornschlegel, Clemens 101 Professor N. 84 Proust, Marcel 220, 273 Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 273 Pustkuchen, Johann Fredrich Wilhelm 85, 234, 279 f.
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After-Wanderjahre 85 Wanderjahre 85 Racine, Jean Baptiste 189 Raffael (Raffaelo Santi) 189 Raulff, Ulrich 44, 237, 272 Reiser, Anton 74–77, 117 Reiser, Philipp 75 Reiss, Hans 10, 20, 83, 130 Rembrandt Harmensz van Rijn 189 Renner, Rolf Günter 134, 211, 250 Revanne, Herr von 140 Rieger, Monika 35, 125, 165 Riemer, Friedrich Wilhelm 245, 252 Ritzenhoff, Ursula 64 Rochlitz, Johann Friedrich 52, 69, 273 Röntgen, David 229 Rotteck, Karl von 22 Ruoff, Michael 28 f. Ruppert, Hans 268 Schillemeit, Jost 225 Schiller, Friedrich von 40, 47, 51, 54 f., 57–60, 74, 118, 121, 136, 232 f., 235, 242, 245–247, 256, 285 Kabale und Liebe 246 Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? 54, 74 Schlegel, Friedrich 136, 178 Schmidt, Arno 279 f. Aus dem Leben eines Fauns 279 f. Schnabel, Johann Gottfried 227 Insel Felsenburg 227 Schneider, Steffen 8, 14, 17, 19, 39–41, 49, 78 f., 102, 105, 202, 214, 265, 267 Scholz, Leander 22 Schöne, Albrecht 67, 236, 240, 242–245, 251 Schößler, Franziska 4, 5, 82, 85, 93 f., 113 Schrettinger, Martin 38, 47 Handbuch der Bibliothek-Wissenschaft 38 Schütz, Friedrich Karl Julius 107 Schwanke, Martina 112 Schweikle, Günther und Irmgard 93, 157 Scott, Walter 152 Segeberg, Harro 67
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Seneca, Lucius Annaeus 40 Setzler, Markus 104 Shakespeare, William 189, 229 Simmel, Georg 184 Sokrates 229 Sommer, Manfred 6, 98, 113, 137 f., 156, 159, 164–166, 171, 177, 198 Sophokles 189 Soret, Fréderic 228 Spary, Emma C. 46 Spieß, Philipp E. 24, 200 Von Archiven 24 Staiger, Emil 19 St. Christoph 207 Stein, Charlotte von 41, 245 Sterne, Laurence = Sterne, Lawrence = Sterne, Lorenz 164, 227, 229, 282 Sentimental Journey 282 Tristram Shandy 164 Stifter, Adalbert 53 f., 99, 262, 281 Bunte Steine 262 Die Mappe meines Urgroßvaters 53 f., 281 Nachsommer 281 Turmalin 99 Stirner, Max 249 St. Joseph der Zweite 139, 175, 256, 269 Strobel, Jochen 12, 14, 154 f., 171 Susanne 142 f., 147, 193, 220, 229 f. Te Heesen, Anke 46 Terenz (Publius Terentius Afer) 224 Themis 269 Therese 201 Thomson, James 230 The Seasons 230 Thums, Barbara 94 Tieck, Ludwig 85, 136, 279 Die Verlobung 85, 279 Trunz, Erich 19, 111, 189, 268 Vaget, Hans Rudolf 51 Valerine 121 Veltheim, August Ferdinand von 137 Viëtor, Karl 236, 240, 242–246, 251, 274 Virgil (Publius Vergilius Maro) 229 Voltaire (François-Marie Arouet) 136
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Namen-/Werkverzeichnis
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Voßkamp, Wilhelm 19, 78, 268 Warburton, William 229 Wassermann, Jakob 284–287 Etzel Andergast 284–287 Weimar, Klaus 97, 178 Weingart, Brigitte 103, 104 Weizsäcker, Carl Friedrich von 68, 186, 269 Welcker, Friedrich Gottlieb 22 Werner 115, 193 Wetzel, Michael 123 Weyand, Björn 81 Wieland, Christoph Martin 229 Wiethölter, Waltraud 1, 52, 81 Wilhelm 8, 51, 59, 70, 78, 88, 93–96, 105 f., 108 f., 114 f., 122, 124, 126–130, 132–134, 139, 141, 143, 149, 151 f., 154 f., 161, 165 f., 169–176, 182 f., 188, 190 f., 194, 198, 201, 203–205, 207, 212, 216, 218 f., 221–224, 226, 262, 274, 282 Wilpert, Gero von 231, 242 Winckelmann, Johann Joachim 39, 100 Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst 100 Wirth, Uwe 235, 253 Wolff, Eugen 107–109, 232, 233, 279 Wolf, Friedrich August 54, 56 f., 178 f. Idee zur Anordnung einer Encyclopädie u. Methodologie der AlterthumsWissenschaft 54 Museum für Alterthums-Wissenschaft 57 Wolf, Thomas 85, 234, 280 Wunberg, Gotthart 157, 265 Wundt, Max 241 f. Yamamoto, Kayo 14 Zedelmaier, Helmut 35 f. Zedler, Johann Heinrich 22–25, 48, 52 f., 58, 62, 65, 73, 89 f., 102 f., 106, 117, 125 f., 129, 176, 178 f. Zelter, Carl Friedrich 120, 225, 248, 270 Johanna Sebus 270 Zenker, Markus 1, 4, 8, 20, 97
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